Tropus und Erkenntnis: Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik 9783737003346, 9783847103349, 9783847003342


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German Pages [512] Year 2015

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Tropus und Erkenntnis: Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik
 9783737003346, 9783847103349, 9783847003342

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Palaestra Untersuchungen zur europäischen Literatur

Band 341

Begründet von Erich Schmidt und Alois Brandl Herausgegeben von Bernd Auerochs, Heinrich Detering, Dieter Lamping, Gerhard Lauer und Maria Moog-Grünewald

Editorial Board: Irene Albers, Elisabeth Galvan, Julika Griem, Achim Hölter, Karin Hoff, Frank Kelleter, Katrin Kohl, Paul Michael Lützeler, Per Øhrgaard

Yvonne Al-Taie

Tropus und Erkenntnis Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0334-9 ISBN 978-3-8470-0334-2 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Von der Friedrich-Schiller-Universität Jena als Dissertation angenommen im Jahre 2012. Ó 2015, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Athanasius Kircher : Oedipus Aegyptiacus, Tomus Secundus, Rom 1653 (Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena, Sign.: 2 Gl.II,43:2, fol. 287) Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil A: Sprache und Bild im philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs des 18. Jahrhunderts Sprache und Bild im philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts . . . . . . 1. Sprachursprungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Johann Peter Süßmilch – der göttliche Ursprung der Sprache . 1.1.1 Bild – Begriff – Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1.2 Abstraktion als Paradigma in Süßmilchs Sprachtheorie . 1.2 Johann Gottfried Herder – das menschliche Sprachvermögen . 1.2.1 Die Entwicklungsstadien der Sprachentstehung . . . . . 1.2.2 Sprachentstehung und Poesie . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.3 Mündlichkeit oder Schriftlichkeit – Sprache oder Bild? . 2. Erkenntnistheoretische Grundlagen der Sprach- und Bildtheorie . 2.1 Immanuel Kant – Das Bild zwischen Vorstellung und Anschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Der Bildbegriff der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . 2.1.2 Darstellbarkeit versus Begrifflichkeit in der Kritik der Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.3 Kants erkenntnistheoretischer Bildbegriff . . . . . . . . 2.2 Johann Gottlieb Fichte – Das Bild als Bindeglied zwischen Subjekt und Objekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Die Grundkonzeption der Wissenschaftslehre von 1794/95 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Das Bild als Schaltstelle zwischen Ich und Nicht-Ich . . .

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Inhalt

2.2.3 Erkenntnistheoretische Kunstphilosophie – Über den Geist und Buchstab in der Philosophie . . . . . . . . . . 2.2.4 Fichtes erkenntnistheoretischer Bildbegriff . . . . . . . . 2.3 Fichtes Sprachursprungsaufsatz zwischen Erkenntnistheorie und Zeichentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild . . 1. Semiotische und mediale Differenz zwischen Wort und Bild – natürliche und willkürliche Zeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Platons Kratylos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Augustinus’ De doctrina christiana . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der semiotische Diskurs in Sprach- und Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Zeichentheorie in Mendelssohns religionsphilosophischer Schrift Jerusalem . . . . . . . . 1.3.2 Mendelssohns sprachtheoretische Schriften . . . . . . . 1.3.3 Zeichentheorie in Mendelssohns kunsttheoretischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.4 Die Zeichentheorie in Lessings Laokoon . . . . . . . . . 2. Hieroglyphen als Hybride zwischen Wort und Bild . . . . . . . . . 2.1 Schriftgenese – William Warburtons zeichentheoretische Analyse der ägyptischen Hieroglyphen . . . . . . . . . . . . . 2.2 Schöpfungshieroglyphe – Herders religionsphilosophischer Hieroglyphenbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Hieroglyphische Bilder – Lessings und Mendelssohns kunsttheoretischer Hieroglyphenbegriff . . . . . . . . . . . . 3. Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild . . . . . . . . . . 3.1 Annäherung der Malerei an die Dichtung: Die Allegorie bei Johann Joachim Winckelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Differenz zwischen Malerei und Dichtung: Die Allegorie in den kunsttheoretischen Schriften Lessings und Mendelssohns III. Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kabbalistische Schriftspekulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sprachmagie in der christlichen Kabbala Johannes Reuchlins . 1.2 Bildliche und bildanaloge Elemente im kabbalistischen Sprachverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Signaturenlehre Jacob Böhmes . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Teil B: Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik . . . . . . . . . . I. Gemälde und Gedichte – Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das neue Interesse am Bildlichen – Wilhelm Heinrich Wackenroder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Begriffliche Sprache der Wissenschaft versus bildliche Sprache der Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Bildgedichte – poetisches Sprechen und bildliches Darstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Kunst als Symbolsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis zwischen bildender Kunst und Sprache – A. W. Schlegels Die Gemählde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Rolle der Sprache in den Künsten . . . . . . . . . . . . 2.2 Sprachliche Adaption der Malerei – Die Ekphrasis . . . . . 2.3 Dichtung als angemessenes Übersetzungsorgan – Die Bildgedichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die romantische Kunsttheorie bei A. W. Schlegel . . . . . 3. Späte Kunsttheorie – Friedrich Schlegels Europa-Beiträge . . . 3.1 Zur Rolle der Sprache in Friedrich Schlegels Ekphrasen . . 3.2 Das kunsttheoretische Programm der Europa-Beiträge . .

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II. Zwischen Erkenntnistheorie und Tropik – Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik . . . . . . . . . . . 1. Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sprachursprungstheorie als Poetologie – Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 »Symbolische Darstellung des Unendlichen« – Das kunstphilosophische Programm der Jenaer und Berliner Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Tropisch-symbolische Sprache als Welterkenntnis – Die Sprachtheorie der Jenaer und Berliner Vorlesungen . . . . . 2. Wort und Bild als Paradigmen der Weltdeutung – Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Begriffe und Bilder – Friedrich Schlegels Überlegungen zum Sprachursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.2 Unendliche Progression der Sprache – Sprache und Bild in den philosophischen und poetologischen Fragmenten- und Notizensammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Tropen in Philosophie und Poesie: Die Vorlesungen über Sprache und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Allegorische Gestalt der Welt – Die Jenaer Vorlesungen zur Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Wort und Bild als Grundtermini des Schlegelschen Idealismus – Die Kölner Vorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Philosophie als Kunsttheorie – Vorlesung über die Philosophie der Sprache und des Worts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Bildtheorie als Bewusstseinstheorie – Die Fichte-Studien . . . 3.2 Symptom, Medium, Tropus – Die philosophischen und poetologischen Aufzeichnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Zwischen Sprachskepsis und Inspiration – Der Monolog . . . 3.4 Das Bild als erkenntnistheoretisches Paradigma . . . . . . . . 4. Alternative Zeichenmodelle – Kombinatorik in Kabbala und Mathematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Algebra als alternatives Zeichenmodell . . . . . . . . . . . . . 4.2 Friedrich Schlegel und die Kabbala . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Historische Rekonstruktion der Kabbala in Friedrich Schlegels philosophiegeschichtlichem Entwurf . . . . . . 4.2.2 Kabbala und Magie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Kombinatorik als erkenntnistheoretische Erweiterung ästhetischer Zeichenmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Bildbegriff als Paradigma der frühromantischen Sprachtheorie 1. Die poetologische Sprachtheorie der Frühromantik . . . . . . . 2. Gegenwärtige bildtheoretische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . 3. Der frühromantische Bildbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Darstellung: das semiotische Paradigma der romantischen Sprach- und Bildtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Schlussbemerkung: Tropus und Erkenntnis: Sprach- und Bildtheorie als Kern romantischer Poetologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Epilog: Poesie als Erkenntnistheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung

Mit seinem 1757 erschienenen Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst legte Georg Friedrich Meier eine Aufklärungshermeneutik vor, deren Anspruch es war, über die Textauslegung im engeren Sinne hinaus jegliche in der Welt vorfindbaren Gegenstände zum Objekt der Hermeneutik zu erheben. Grundlage dieses Ansatzes ist eine bis in die Antike zurückreichende Zeichenlehre, die am Anfang von Meiers »Auslegungskunst« steht. So definiert er in § 2 seiner Abhandlung: »Die allgemeine Auslegungskunst (hermeneutica universalis) ist die Wissenschaft der Regeln, welche bey der Auslegung aller oder wenigstens der meisten Gattungen der Zeichen beobachtet werden müssen.«1 Neben den »willkührlichen Zeichen«, solchen Zeichen also, die konventionell festgelegt sind und in der Regel Sprache und Schrift meinen, nennt Meier auch die sogenannten »natürlichen Zeichen«, die nicht auf menschlicher Entwicklung und Verabredung beruhen. Über die natürlichen Zeichen hält er – dem Weltverständnis aus Leibnizens Theodicee folgend – fest: In dieser Welt ist, weil sie die beste ist, der allergrößte, allgemeine bezeichnende Zusammenhang, der in einer Welt möglich ist. Folglich kan ein jedweder würklicher Theil in dieser Welt ein unmittelbares oder mittelbares, entfernteres oder näheres natürliches Zeichen eines jedweden andern würklichen Theils der Welt sein.2

Als Zeichen wird damit potentiell jeder Gegenstand der Wirklichkeit betrachtet. Urheber und Garant dieses universalen Zeichenverständnisses ist Gott, dessen Schöpfungsplan sich in den Gegenständen der Schöpfung selbst zu erkennen gibt.3 1 Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1757, mit einer Einleitung v. Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1965, S. 1 f. 2 Ebd., S. 18. 3 »GOtt ist der Urheber des bezeichnenden Zusammenhangs in dieser Welt, und es ist also ein jedwedes natürliches Zeichen eine Würkung GOttes, und in Absicht auf GOtt ein willkührliches Zeichen.« (Ebd., S. 19).

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Einleitung

Die Ausdehnung des Bereichs der Hermeneutik von der Textauslegung hin zu jedwedem sinnlich wahrnehmbaren Phänomen der Wirklichkeit, wie sie charakteristisch für die Poetik der Frühromantiker werden wird, ist damit in Meiers Hermeneutik vorgezeichnet. So schließt sein knapper, zweiter Teil, der sich mit der »praktischen Auslegungskunst« beschäftigt, mit einem recht umfassenden Blick auf die Mantik und die Gegenstände ihrer Auslegung. Nach umfangreichen Ausführungen über die Auslegung der Rede wird so der Blick noch einmal geweitet auf Gegenstandsbereiche, die Astrologie und Traumdeuterei ebenso mit einschließen wie Hieroglyphen, Gemälde und Fossilien. Eine Zusammenstellung, wie sie ähnlich in den Schriften der Romantik wiederbegegnen wird. Die Romantiker greifen dieses bereits aus der Aufklärung tradierte Modell einer universalen Hermeneutik auf, wenn sie ihre eigenen poetologisch-erkenntnistheoretischen Positionen entwickeln. Waren die natürlichen Zeichen und ihre Auslegung einerseits sowie die willkürlichen Zeichen und ihre Hermeneutik andererseits bei Meier noch zwei, obgleich miteinander zusammenhängende, doch jeweils für sich bestehende und entsprechend getrennt abgehandelte Bereiche, so lösen die Romantiker diese Trennung auf. Die natürlichen Zeichen – indem sie zugleich göttlichen Ursprungs und den menschlichen Zeichen vorgängig sind – werden zum leitenden Paradigma des Verständnisses der sprachlichen Zeichen erhoben und als deren Ursprung angesehen, den es wieder freizulegen, beziehungsweise wiederzubeleben gilt. Diese Fusion sprachlich-willkürlicher und gegenständlich-natürlicher Zeichen soll in der Poesie gelingen. Bindeglied dieser Poetik als einer »allgemeinen Auslegungskunst«, die sprachliches Produkt und natürlichen Gegenstand gleichermaßen umfassen soll, ist – so soll im Verlauf dieser Studie gezeigt werden – das Bild. Solch ein weitgefasstes Zeichenverständnis kommt der Frühromantik nicht zuletzt dadurch entgegen, dass sie nicht als ein literarisches Phänomen im eingeschränkten Sinne zu verstehen ist, sondern eine Bewegung darstellt, die nahezu alle Bereiche des kulturellen Lebens erfasst und unter dem Paradigma der Poesie zu vereinigen versucht. Schon ein flüchtiger Blick in die Handbücher zu dieser Epoche zeigt, dass es sich bei der Romantik um ein kulturgeschichtliches Phänomen handelt, das – bei Literatur, Musik und bildender Kunst angefangen, über Philosophie, Geschichte und Politik bis hin zur Theologie und den Naturwissenschaften – nahezu alle (seinerzeit wirksamen) Disziplinen einschließt.4 Zugleich belegt der Blick in 4 Vgl. z. B. Schanze, Helmut (Hrsg.): Romantik-Handbuch, Tübingen 1994, das nahezu alle Wissenschaftsbereiche abdeckt, oder Kremer, Detlef: Romantik, Stuttgart 2001. Auch Schmitz-Emans’ Lehrbuch Einführung in die Literatur der Romantik kommt nicht ohne einen einführenden Überblick über die romantischen Positionen benachbarter Disziplinen (etwa Philosophie, Naturwissenschaft und Psychologie) aus. (Schmitz-Emans, Monika: Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt 2004). Ebenso führt die 2007 in Saarbrücken ge-

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diese Werke aber auch, dass die Romantik in erster Linie ein literarisches Phänomen ist. So nehmen die Kapitel zur romantischen Literatur und Poetik den weitaus größten Raum ein und dokumentieren die Komplexität des Phänomens durch die detaillierte Binnengliederung.5 In der Einleitung seines unter dem Titel Literarische Romantik herausgegebenen kleinen Handbuchs macht Helmut Schanze bereits darauf aufmerksam, dass er die Literatur als das Kernstück einer multidisziplinär wirksamen kulturgeschichtlichen Epoche versteht: »Er [der vorliegende Band, Y.A.] stellt die These zur Diskussion, dass ›Literatur‹, materialisiert im ›Buch‹, im Zentrum des Selbstverständnisses jener ›Sattelzeit‹ der europäischen Kulturgeschichte stehe, die wir mit dem Begriff ›Romantik‹ beschreiben.«6 So hält er weiterhin fest: »Das romantische Buch als Lebensbuch nimmt sich zwei Vorbilder, und nicht geringe: die Bibel, das Buch der Bücher, und die Enzyklopädie, die Summe allen menschlichen Wissens.«7 Und hinsichtlich der Bezugnahme und Anwendung des literarischen Paradigmas auf den gesamten Kanon der im 18. Jahrhundert disziplinär institutionalisierten Wissenschaften stellt er fest: »Die Ausbreitung der Romantik in den Künsten und Wissenschaften war also eine Expansion, die in exzentrischen Kreisen stattfand, aber sie war systematisch begründet. Wer Leben und Buch zusammenbringt, wer eine ›progressive‹ Universalpoesie fordert, wird keinen Bereich des Könnens und Wissens auslassen können.«8 Dabei werden die verschiedenen disziplinären Spielarten der Romantik durchaus nicht nur von unterschiedlichen, in den jeweiligen Disziplinen beheimateten Protagonisten getragen. Es sind auch und gerade die Vertreter der literarischen Romantik, die das Feld der reinen Literaturkritik und Poetik ununterbrochen überschreiten, um sich im gesamten Spektrum der im 18. Jahrhundert herrschenden Disziplinen Anregung für ihr Nachdenken zu suchen. Am deutlichsten und am weitreichendsten findet sich diese Arbeitsweise bei Friedrich von Hardenberg und Friedrich Schlegel, die beide – das ist sicher kein Zufall – enzyklopädische Projekte verfolgten. So interessiert im Kontext dieser Arbeit weniger der Niederschlag der Epoche in den unterschiedlichen Disziplinen und die damit einhergehende personelle Scheidung, als dass das Au-

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haltene Tagung Einheit der Romantik? und der gleichnamige Sammelband zur Tagung die Diskussion des Zusammenhangs der Makroepoche im interdisziplinären Dialog. (Vgl.: Auerochs, Bernd; Petersdorff, Dirk von (Hrsg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, Paderborn 2009). Vgl. z. B. Helmut Schanze (Hrsg.): Literarische Romantik, Stuttgart 2008, oder das ebenfalls bereits erwähnte Lehrbuch von Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. Schanze, Literarische Romantik, S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 15.

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Einleitung

genmerk auf die disziplinäre Pluralität innerhalb der literarischen Romantik gerichtet ist. Es ist wohl kaum der Erwähnung wert, dass der Poesiediskurs im Zentrum der literarischen Romantik steht und den Dreh- und Angelpunkt der unterschiedlichsten romantischen Debatten bildet. Gleichzeitig artikuliert sich in den poetologischen Texten – auch das ein Gemeinplatz der Frühromantikforschung – ein deutlicher Anspruch, mehr umfassen zu wollen als den eingeschränkten Gegenstand der Dichtung. Es besteht ein dezidierter Anspruch, die verschiedenen, getrennt voneinander stehenden Disziplinen in der Poesie zu vereinigen. Der zentrale Gegenstand der Poetik wiederum ist die Sprache – genauer : die dichterisch geformte Sprache. Zum einen wird diese geformte Sprache aber nicht selten und insbesondere bei den Romantikern mit dem Begriff der Bildlichkeit belegt. Zum anderen wird der Begriff der Poesie bei den Frühromantikern im Zuge ihrer universalistischen Bestrebungen zunehmend zu einem Synonym für »Kunst« und schließlich sogar für die Zusammenhänge des Weltganzen hin erweitert. Dadurch erfährt auch der Begriff der Sprache zunehmend eine Erweiterung hin zum allgemeinen Zeichenbegriff. Dass der Sprachtheorie eine Schlüsselfunktion innerhalb der romantischen Theoriebildung zukommt, hat schon Winfried Menninghaus herausgestellt: »Mit großer Konsequenz nämlich könnte die ganze romantische Philosophie als Theorie des Zeichens oder der Sprache gelesen werden.«9 Wie aber sieht diese Sprache aus und wie muss sie beschaffen sein, dass sie zum universalen Moment der romantischen Philosophie avancieren kann? Schon in dem Zitat von Menninghaus klingt an, dass diese Sprachtheorie zu einer allgemeinen Zeichentheorie erweitert wird. Welche Rolle aber spielt in diesem System das Bild? Während die Sprachtheorie zur Zeit der Frühromantik bereits eine eigenständige Disziplin in der Philosophie bildete – noch dazu eine äußerst weit verbreitete – existierte die Bildtheorie als eigene Fragestellung noch nicht. Zwar wurden bildtheoretische Fragen behandelt, doch gab es kein eigenes, begrifflich gefasstes Problembewusstsein zu diesem Themenkomplex. Den Kontext, in dem sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das Bild als Untersuchungsgegenstand zu etablieren beginnt, bilden in erster Linie die Anfänge der modernen Kunstgeschichte, die allgemein mit den Schriften Winckelmanns in Verbindung gebracht werden. Behandelt werden hier Bilder 9 Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdoppelung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt am Main 1987, S. 96. Mit der sprachtheoretischen Fundierung ihrer Theorie knüpfen die Frühromantiker zugleich auch an die rege sprachtheoretische Debatte des 18. Jahrhunderts an.

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im Sinne von Gemälden unter formal-ästhetischen, ikonographischen und – etwas später, seit Lessing – medienspezifischen Gesichtspunkten. Dennoch gibt es daneben auch einen anderen Diskurs des Bildes oder der Bildlichkeit, der subkutan in der Sprachtheorie, der Erkenntnistheorie, der Zeichentheorie oder der Mystik geführt wird und gerade in der romantischen Theoriebildung stark an Bedeutung gewinnt. Diese Ungleichgewichtung eines bereits im 18. Jahrhundert etablierten sprachtheoretischen Diskurses, dem eine implizit bleibende Bildtheorie gegenübersteht, hat auch ihren Niederschlag in der literaturwissenschaftlichen Forschung gefunden. Die Aufmerksamkeit, die den sprachtheoretischen Diskursen in der Literaturwissenschaft allgemein zuteilwurde, spiegelt sich auch in der Frühromantikforschung wider. So sind die sprachtheoretischen Ansätze der wichtigsten Vertreter der Frühromantik an verschiedener Stelle bereits untersucht worden.10 Dabei rückt in jüngster Zeit zunehmend in den Blick, dass das poetologische Sprachverständnis von den philosophischen Sprachtheorien abweichend, um einen – je nach Autor oder Autorengruppe variierenden – Aspekt erweitert ist, der die Besonderheit poetischen Sprechens beschreiben soll. Diesen Ansatz verfolgt etwa die vor wenigen Jahren erschienene Studie von Dirk Oschmann zum Konzept des Dynamischen in den poetologischen Sprachtheorien der Aufklärung oder Barbara Naumanns Untersuchung zur Bedeutung des Musikalischen in der Sprachtheorie der Frühromantik.11 Während mit Naumanns Studie der musikalische Aspekt in der Theorie der Romantik damit schon gut aufgearbeitet worden ist, haben die – weniger offen zu Tage tretenden – bildtheoretischen Diskurse bisher ungleich geringere Beachtung gefunden. Zwar ist 1999 ein Tagungsband zu dem Themenfeld Bild und Schrift in der Romantik erschienen, die darin enthaltenen Aufsätze beschäftigen sich jedoch ausnahmslos mit Autoren der Spätromantik, wobei es fast in allen Beiträgen um intermediale und wahrnehmungstheoretische Fragen geht. So wird häufig das Verhältnis von (literarischem) Text und – imaginierten oder konkreten – bildkünstlerischen Phänomenen untersucht oder es wird nach der rhetorischen Bildlichkeit der Poesie gefragt. Die meisten Aufsätze haben eine kulturwissen10 Bereits 1939 erschien die Dissertation von Heinrich Fauteck: Die Sprachtheorie Fr. v. Hardenbergs (Novalis), Berlin 1939. In den 1960er Jahren sind weitere monographische Studien zur Sprachtheorie Friedrich Schlegels und Novalis’ entstanden. Jüngst ist eine Dissertation von Franziska Struzek-Krähenbühl über Novalis’ Sprachphilosophie erschienen, deren Ziel es ist, erstmals die vielfältigen, zum Teil äußerst disparaten Ansätze in Novalis’ Sprachdenken in einer Studie zu berücksichtigen und in ihrem Zusammenhang zu betrachten. Aus linguistischer Sicht hat J. A. Baer eine Untersuchung der frühromantischen Sprachtheorie vorgelegt. 11 Vgl. Oschmann, Dirk: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München, Paderborn 2007; Naumann, Barbara: Musikalisches Ideen-Instrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühromantik, Stuttgart 1990.

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schaftliche Ausrichtung und stellen ihre Beobachtungen unter eine soziologische oder genderpolitische Perspektive. Der Bildbegriff wird hier also auf die sinnlich wahrnehmbare, visuelle Erscheinung – häufig konkretisiert im Begriff des Gemäldes – bezogen. Es geht in erster Linie um eine intermediale Fragestellung, die zwischen Literatur- und Kunstwissenschaft angesiedelt ist. Jedoch geraten weder das Bild als mentale Vorstellungsform im Erkenntnisprozess noch die unterschiedlichen Qualitäten von Sprache und Bild als Repräsentationsformen von Erkenntnis in den Blick. Es ist aber gerade diese Bildkonzeption, die der frühromantischen Poetik und ihren sprach- und erkenntnistheoretischen Implikationen zugrunde liegt und in der vorliegenden Arbeit untersucht werden soll. So nimmt diese Arbeit in einem doppelten Ansatz sowohl die frühromantische Sprachtheorie als auch die frühromantische Bildtheorie in den Blick. Sprachtheorien für sich genommen sind schon lange ein beliebter Untersuchungsgegenstand; ebenso seit jüngster Zeit auch das Bild und Bildtheorien. Beide aber zusammen und gleichzeitig in den Blick zu nehmen, ist eine Betrachtungsweise, die vielleicht vor allem der poetologischen, literaturwissenschaftlichen Perspektive entspringt. So wählt auch Ralf Simon, der als erster jüngst eine literaturwissenschaftliche Bildtheorie vorgelegt hat, diese doppelte Frage nach Bild und nach Sprache als den Ausgangspunkt seiner Überlegungen. Der Impuls für eine solche Betrachtung geht dabei durchaus von dem bildtheoretischen Diskurs aus. Sprachtheorien auf ihr bildkritisches Potential hin zu untersuchen, ist, wie Ralf Simon in seinem Entwurf einer bildkritischen Literaturwissenschaft schreibt, »zweifelsohne eine Fragestellung, die einer bildtheoretischen Perspektive entspringt«12. Gleichwohl legen die frühromantischen Schriften, die Gegenstand dieser Arbeit sind, eine solche Betrachtung selbst schon nahe, da sie immer wieder poetische Sprachtheorien entwerfen, die am Konzept des Bildlichen orientiert sind. Es lässt sich somit vermuten, dass es eine Qualität des Poetischen oder – um es mit zeitgenössischer Terminologie auszudrücken – der Literarizität eines Textes ist, die eine dem Bildlichen analoge Struktur aufweist und es ermöglicht, den poetischen Text und das Bild unter gemeinsamem Vorzeichen zu betrachten. Eine vorläufige Antwort auf diese Beobachtung ließe sich mit Ralf Simon geben, der auf die Konkretheit poetischer Rede verweist und damit die Dichte und die mit ihr einhergehende Individualität als das gemeinsame Merkmal von Dichtung und Bild bestimmt.13 Das Verhältnis von Sprache und Bild soll in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht rein abstrakt-strukturalistisch betrachtet werden; vielmehr bilden in 12 Simon, Ralf: Der poetische Text als Bildkritik, München 2009, S. 113. 13 Ebd., S. 176.

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historischer Perspektive die konkreten Schriften der Frühromantiker den Untersuchungsgegenstand, deren individuelle Annäherung an den Problemkomplex ›Bild-Sprache‹ und ihre daraus hergeleiteten, je eigenen poetologischen Modelle analysiert werden. Um die beobachteten Sprach- und Bildkonzeptionen in einer einheitlichen, abstrahierenden und systematisierenden Terminologie beschreiben und analysieren zu können, soll die hermeneutische Betrachtung des individuellen Einzeltextes und seines Sprach-Bild-Modells um strukturalistische Beschreibungsmodelle von Sprache und Bild ergänzt werden. Vorab sollen einige methodologische Überlegungen die hier gewählte Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand präzisieren und begründen.

Methodik Aufgrund ihres multidisziplinären Anspruchs begnügen sich die Frühromantiker nicht damit, ihre poetologisch ausgerichtete Theorie in Anknüpfung an tradierte dichtungstheoretische und ästhetische Konzeptionen zu entwickeln, sondern sie versuchen, ihre Poetik durch die Adaption von Denkmodellen benachbarter Disziplinen anzureichern und zu erweitern. Zwei Grundkonzeptionen der Dichtungs- und Kunsttheorie – die Sprache und das Bild – erweisen sich als hierfür besonders geeignet. Einerseits stehen sie im Zentrum kunsttheoretischer Diskurse, andererseits finden sie als zwei zentrale Kommunikations- und Darstellungsmedien auch Eingang in die Theorien benachbarter Disziplinen. Die Romantiker greifen die Sprach- und Bildkonzeptionen, die in den unterschiedlichsten Diskursen zum Tragen kommen, auf und amalgamieren sie in ihrer Poetik zu einer höchst komplexen, bisweilen widersprüchlich anmutenden Theorie, die die Poesie zu einem Organ umfassender Welterkenntnis hin erweitern soll. Dies hat eine gewisse Unübersichtlichkeit zur Folge. Die einzelnen Sprachund Bildmodelle, bei denen die Romantiker Anleihen nehmen, werden in ihren Texten nicht mehr unterschieden; die damit verbundenen philosophischen oder theoretischen Konzeptionen schwingen nicht selten allenfalls implizit mit. Deren Kenntnis aber ist unentbehrlich zum Verständnis der Sprach- und Bildtheorie, die die Frühromantiker entwickeln. Aus diesem Grund sollen im ersten Teil der Arbeit die sprach- und bildtheoretischen Konzeptionen der für die Frühromantik wichtigsten Diskurse des 18. Jahrhunderts herausgearbeitet werden. Dabei wird es sich in erster Linie um die philosophischen und kunsttheoretischen Diskurse handeln – namentlich um Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie, medien- und zeichentheoretische Abhandlungen sowie um die sprachspekulativ-mystischen Vorstellungen des 17. Jahrhunderts. Sollen diese unterschiedlichen Verstehensweisen von Sprache und Bild in den

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verschiedenen Diskursen präzise erfasst und beschrieben werden, ist dazu eine geeignete, disziplinär übergreifende Terminologie unentbehrlich. Es empfiehlt sich, hierfür auf die bereits etablierten Terminologien aus der Semiotik und der Linguistik zurückzugreifen. Die Semiotik bietet den Vorteil, dass sie – anders als die Linguistik – nicht nur sprachliche Phänomene, sondern zeichenvermittelte Phänomene insgesamt in den Blick nimmt. So fallen nicht nur Sprache und Schrift unter ihren Gegenstandsbereich, sondern auch Bilder insofern sie als Zeichen verstanden werden. Damit erhält man ein terminologisches Beschreibungsinstrument, das auf beide der hier untersuchten Phänomene – sowohl die Sprache als auch das Bild – gleichermaßen angewandt werden kann. Erst diese disziplinübergreifende Terminologie erlaubt es, Gemeinsamkeiten, Unterschiede und mögliche Verbindungen zwischen sprachlichen und bildlichen Phänomenen aufzuzeigen. Semiotische Grundkonzeptionen werden dabei in heuristischer Weise herangezogen, um Sprach- und Bildmodelle, wie sie in den untersuchten Texten zu finden sind, terminologisch präzise beschreiben zu können. Dabei geht es nicht darum, die romantischen Schriften im Sinne der Semiotik als geschlossene Zeichensysteme zu deuten, deren immanente Kommunikationsmechanismen es zu untersuchen gelte. Ebenso wenig ist es Ziel dieser Arbeit, die frühromantische Theorie als Vorläufer der modernen Semiotik zu beschreiben, wie dies bereits verschiedentlich geschehen ist. Konkret soll zur formalen Erfassung der Sprach- und Bildkonzeptionen in erster Linie ein Zeichenmodell gemäß dem semiotischen Dreieck sowie die Einteilung der Zeichenklassen hinsichtlich ihres Objektbezugs nach Charles Sanders Peirce zugrunde gelegt werden. Zur Beschreibung der Zeichenrelation wird Ferdinand de Saussures Terminologie des Signifikanten als der Zeichengestalt sowie des Signifikats als des bezeichneten mentalen Konzepts verwendet, wobei de Saussures Terminologie gemäß der triadischen Zeichenrelation um das Referenzobjekt ergänzt wird. De Saussures Terminologie wird zum einen aus pragmatischen Gesichtspunkten gewählt, da sie schlicht auch in der Literaturwissenschaft sehr gebräuchlich ist. Zum anderen gehen etwa mit Peirces Unterscheidung der Zeichenrelation in »Repräsentamen«, »Interpretant« und »Objekt« weitreichende philosophische Überlegungen einher, die nicht übernommen werden sollen. Um Missverständnisse zu vermeiden, wird daher auf diese Terminologie gänzlich verzichtet. Aus Peirces hochkomplexem, zehngliedrigem System der Zeichenklassen interessiert für diese Arbeit sein Unterscheidungsmodell der Zeichen hinsichtlich ihres Objektbezugs. Mit Hilfe der Peirceschen Einteilung der Zeichen in indexikalische, ikonische und symbolische Zeichen lässt sich etwa die Unterscheidung der Zeichenklassen, wie sie im 18. Jahrhundert gebräuchlich ist, präzise beschreiben. So bietet die Semiotik Peirces – anders als der zeichentheoretische Ansatz de Saussures – die Möglichkeit, auch nicht-intentionale

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Phänomene als Zeichen zu beschreiben. Jedoch soll, um Missverständnissen vorzubeugen, der von Peirce verwendete Begriff des »symbolischen Zeichens« durch den des »arbiträren Zeichens« ersetzt werden, da der Symbol-Begriff im rhetorisch-poetologischen Bereich bereits mit anderer Semantik geläufig ist. Darüber hinaus bietet die allgemeine Semiotik – anders als die auf das sprachliche Zeichen beschränkten Zeichenmodelle wie etwa dasjenige de Saussures – die Möglichkeit, die mystischen Naturschriftmodelle, die in der romantischen Theorie eine wichtige Rolle spielen, in die Beschreibung mit einzubeziehen. Während die Sprache immer und notwendig als Zeichen zu fassen ist, wird der Bildbegriff höchst unterschiedlich und keinesfalls immer im semiotischen Sinn verwendet. Die mental-materielle Doppelstruktur der Sprache oder der Schrift ist im Zeichenmodell und seinen Komponenten des Signifikanten und des Signifikats bereits angelegt. Der Bildbegriff hingegen ist in seinen äußerst vielfältigen und heterogenen Verwendungsweisen, anders als die Sprache, nicht auf ein Moment der zeichenvermittelten Mitteilung festgelegt. Zur Beschreibung der untersuchten Bildphänomene reicht das terminologische Instrumentarium der Semiotik daher nicht aus. Seit circa zwei Jahrzehnten hat sich unter dem Begriff der »Bildtheorie« oder der »Bildwissenschaft« eine eigene Fragestellung etabliert, die es sich – unter anderem – zur Aufgabe gemacht hat, die bildtheoretischen Implikationen und Ansätze in der Philosophie- und Geistesgeschichte aufzuspüren und zu rekonstruieren. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Gegenstandsbereich der Bildtheorie, anders als jener der Sprachtheorie, der allenfalls in seinen Grenzbereichen bisweilen Diskussionen aufwirft, noch nicht fest umrissen ist. In der aktuellen bildtheoretischen Debatte gibt es durchaus unterschiedliche Auffassungen darüber, welche der höchst heterogenen Phänomene, die mit dem Bildbegriff belegt werden, als ihr Forschungsgegenstand zu betrachten sind. Man könnte nun von einer bildtheoretisch ausgerichteten Arbeit erwarten, dass sie zunächst ihren Bildbegriff bestimmt und vor Beginn der Untersuchung festlegt, welche Bildphänomene unter den von ihr zu untersuchenden Gegenstandsbereich fallen und welche sie ausklammert. Für eine rein systematische Arbeit hätte dieses Vorgehen durchaus Plausibilität. In diesem Fall einer Untersuchung aber, die in historischer Perspektive die Bildtheorie der Frühromantik zu rekonstruieren versucht, wäre ein solches Vorgehen methodisch problematisch. Eine Festlegung – und damit Einengung – des Bildbegriffs auf einen bestimmten Gegenstandsbereich, etwa denjenigen artifizieller und materieller Bilder, hätte zur Folge, dass womöglich bestimmte Phänomene, die in der Romantik als Bild betrachtet werden und für das romantische Bildverständnis eine entscheidende Rolle spielen, in der Untersuchung überhaupt keine Berücksichtigung fänden. Man würde ein begriffliches Raster schaffen, durch

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das alle Redeweisen vom Bild hindurch fielen, die nicht mit der Begriffsdefinition korrelieren. Es soll der Untersuchung daher kein fertiger Bildbegriff als Schablone zugrunde gelegt werden, da ein solcher den Blick auf die bildtheoretische Rede der Frühromantiker bereits vorab lenken und gegenüber bildtheoretischen Phänomenen, die außerhalb seiner Semantik liegen, einschränken würde. Stattdessen soll das gesamte Bedeutungsspektrum, das dem Begriff des Bildes in den frühromantischen Schriften zugeschrieben wird, erfasst und die sich darin zeigenden bildtheoretischen Implikationen erschlossen werden. Ergänzt werden soll die Terminologie zur strukturellen Beschreibung der untersuchten Bildphänomene daher zunächst lediglich um eine Systematik philosophischer Bildbegriffe, wie sie von den Philosophen Steinbrenner und Winko herausgearbeitet worden sind, die zwischen dem materiellen, dem mentalen, dem sprachlichen, dem metaphysischen und dem ethischen Bildbegriff unterscheiden. Für diese Arbeit werden vor allem die ersten drei Verwendungsweisen des Bildbegriffs relevant sein. So soll auch die Einordnung der vorliegenden Arbeit in die derzeitige bildtheoretische Debatte vorerst noch zurückgestellt werden. Erst in einem abschließenden Kapitel soll aufbauend auf den Ergebnissen, die aus den Untersuchungen an den frühromantischen Schriften gewonnen worden sind, der romantische Bildbegriff zusammenfassend rekonstruiert und innerhalb der unterschiedlichen Positionen der gegenwärtigen bildtheoretischen Debatte verortet werden.

Aufbau der Arbeit Da sich der Facettenreichtum des romantischen Sprach- und Bilddenkens – wie bereits angedeutet wurde – nicht ohne die vielschichtigen Einflüsse der sprachund bildtheoretischen Konzeptionen benachbarter Disziplinen verstehen lässt, werden diese in einem ersten Hauptteil der Arbeit umfassend rekonstruiert. So findet sich der entscheidende Doppelbezug zwischen semiotisch-kunsttheoretischen und erkenntnistheoretischen Sprach- und Bildkonzeptionen, der für die frühromantische Theorie charakteristisch ist, in den Sprach- und Bilddiskursen des 18. Jahrhunderts wieder. Da diese für das romantische Sprachund Bildverständnis von zentraler Bedeutung sind, sollen sie im ersten Hauptteil der Arbeit untersucht und rekonstruiert werden. Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildet ein Blick auf die Sprachursprungsdebatten des 18. Jahrhunderts. Die Schrift des Pfarrers Johann Peter Süßmilch, Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe, die sehr theologisch-

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konventionell die Gottesursprünglichkeit der Sprache propagiert, wird als Kontrastfolie zu Herders Sprachursprungsschrift herangezogen. Entwickelt Herder bereits eine sehr differenzierte Sprachursprungstheorie, in der er den Bildbegriff zur Beschreibung vorsprachlicher Anschauungen einerseits und einer poetischen – ursprünglichen – Sprachgestalt andererseits verwendet, finden sich bei Süßmilch noch keinerlei Differenzierungen zwischen Bild und Sprache auf semiotischem, medialem oder gattungstheoretischem Gebiet. Im Anschluss an die sprachphilosophische Debatte werden die Sprach- und Bilddiskurse auf dem Gebiet der idealistischen Erkenntnistheorie betrachtet. Die beiden, auch für die Frühromantiker wichtigsten Vordenker des Idealismus, Immanuel Kant und Johann Gottlieb Fichte, entwickeln sowohl im Rahmen ihrer Erkenntnistheorie als auch in ihrer darauf basierenden Kunsttheorie eine detaillierte Bildkonzeption. Sprachtheoretische Überlegungen spielen hingegen bei ersterem überhaupt keine, bei letzterem eine nur äußerst untergeordnete Rolle. Eine wichtige Position im Sprach-Bild-Diskurs nehmen weiterhin die zeichentheoretischen Reflexionen ein. Untersucht wird die Verwendungsweise des Begriffspaares der ›natürlichen‹ und der ›willkürlichen‹ Zeichen, das wiederholt zur Markierung der Differenz zwischen Schrift und Bild herangezogen wird. Es werden zunächst zwei Schlüsseltexte für diese Zeichenkonzeption aus der Antike und dem Frühmittelalter unter Berücksichtigung der ihnen innewohnenden Bildkonzeption gelesen: Platons Kratylos und Augustinus’ De doctrina christiana. Damit ist die Basis für die Betrachtung dieser Zeichenkonzeption im 18. Jahrhundert gelegt. Exemplarisch werden dazu die Schriften Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings untersucht. Während Mendelssohn dieses Begriffspaar im sprach- und kunsttheoretischen ebenso wie im religionsgeschichtlichen Kontext verwendet, steht es bei Lessing im Zentrum seiner kunsttheoretischen Schrift Laokoon, in welcher der Unterschied zwischen den sprachlichen und den bildenden Künsten erstmals intensiv diskutiert wird. In Mendelssohns und Lessings Schriften kündigen sich subkutan bereits zwei weitere Diskurse an, in denen die Differenz zwischen Sprachlichkeit und Bildlichkeit zum tragenden Moment wird: Der eine ist schrift- bzw. zeichentheoretischer Natur und befasst sich mit den Hieroglyphen, der andere ist in der Kunsttheorie angesiedelt und behandelt die Allegorie. In diesen Diskursen kommen zunehmend poetologische Fragestellungen ins Spiel. Eine von den unterschiedlichen philosophischen Ansätzen gänzlich verschiedene Möglichkeit Sprache und Bild zu denken, bietet die Mystik, besonders in ihren Ausprägungen der Naturmystik und der kabbalistischen Sprachspekulation. Sie legt – im Fall der Kabbala – eine Hermeneutik vor, die sich jenseits der Semantik bewegt und weitet – im Fall der Naturmystik – den Gedanken des Zeichensystems auf den gesamten Bereich der sinnlich-wahrnehmbaren Ge-

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genstände aus. Diese Theorien eröffnen Denkmodelle, die ein universell angewandtes Zeichenverständnis zu einem Instrument von Welterkenntnis erheben. Sie bilden damit die Grundlage für das romantische Poesieverständnis. Im zweiten Hauptteil wird die frühromantische Sprach- und Bildtheorie untersucht. Eröffnet wird er von einem Kapitel, in dem die frühromantischen Schriften zur bildenden Kunst betrachtet werden. Zum einen erlaubt dies einen Einstieg in das romantische Bilddenken über die Analyse ihres materiellkünstlerischen Bildbegriffs. Zum anderen kontrastieren die Romantiker die Bildkunstwerke in ihren Ausführungen immer mit der Sprache und entwickeln aus dieser Gegenüberstellung eine Differenzierung der sprachlichen Darstellungsformen in eine diskursiv-begriffliche und eine poetisch-bildliche. Damit ist die Grunddifferenz bestimmt, die sowohl den gesamten sprachtheoretischpoetologischen als auch den bildtheoretischen Diskurs der Frühromantik prägt. Darauf folgen im umfangreichsten Teil der Arbeit drei Kapitel zu den poetologischen Schriften August Wilhelm Schlegels, Friedrich Schlegels und Novalis’. Sie sind nicht nur die wichtigsten Vertreter des Frühromantikerkreises, auch gründen sie alle – jeder von ihnen auf seine eigene Art und Weise – ihre poetologischen Konzepte auf weitreichende sprach- und bildtheoretische Überlegungen. Anders als im ersten Hauptteil werden die sprach-, erkenntnis-, und zeichentheoretischen, die poetologischen und mystischen Reflexionen nicht mehr getrennt voneinander betrachtet, da die Romantiker die unterschiedlichen Diskurse zu einer hochkomplexen Theorie amalgamieren, die mit durchaus universalem Anspruch zwischen Poesie und Philosophie angesiedelt ist. Das erste Kapitel betrachtet August Wilhelm Schlegels Poetik, die ganz in einer bildtheoretisch aufgeladenen Sprachtheorie aufgeht. Diese Konzeption findet sich bereits in seinen frühen Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache und zieht sich wie ein roter Faden durch alle seine kunstphilosophischen Vorlesungen. Während August Wilhelm Schlegels Überlegungen zu Bild und Sprache noch ganz dem poetologisch-kunsttheoretischen Diskurs verhaftet bleiben, holt sein jüngerer Bruder Friedrich Schlegel deutlich weiter aus. Seine vielseitigen sprachund bildtheoretischen Konzeptionen sind in den unterschiedlichsten disziplinären Kontexten angesiedelt und werden – besonders in seinem Spätwerk – mehr und mehr zur Grundlage eines umfassenden philosophischen Systems. Die Rede von Sprache und Bild in Novalis’ Werk ist durch einen gewissen Bruch gekennzeichnet, der zwischen philosophisch-erkenntnistheoretischen Betrachtungen und mystisch-poetologischen Spekulationen verläuft. Beide Ansätze werden gleichermaßen berücksichtigt und die zwischen ihnen verlaufenden Kontinuitäten und Diskontinuitäten aufgezeigt. Spuren naturmystischen und kabbalistischen Denkens, die sich durch No-

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valis’ gesamtes Werk ziehen, finden sich auch in Friedrich Schlegels Schriften wieder. Da sie – besonders bei letzterem – in gewisser Unabhängigkeit zu den sprachtheoretischen, philologischen und philosophischen Studien stehen, werden sie in einem eigenen Kapitel gesondert betrachtet. In einem abschließenden Kapitel wird der frühromantische Bildbegriff zusammenfassend rekonstruiert und mit den Positionen der gegenwärtigen Bildtheorie in Dialog gebracht. Die leitende Frage dieses Kapitels wird sein, welche Eigenschaften den frühromantischen Bildbegriff prägen und welche Rolle sie für die Verbindung zwischen frühromantischem Sprach- und Bilddenken spielen. Es wird sich zeigen, dass das grundlegende Paradigma der frühromantischen Theorie – die Forderung nach einer Verbindung von Poesie und Leben, Poetik und Erkenntnistheorie – in einer bildtheoretisch fundierten Sprachtheorie gründet.

Teil A: Sprache und Bild im philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs des 18. Jahrhunderts

Sprache und Bild im philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs des 18. Jahrhunderts

Das 18. Jahrhundert ist durch eine Vielzahl von Umbrüchen gekennzeichnet, nicht nur auf politischem Gebiet, etwa durch die Französische Revolution oder – für die deutschen Künstler von ungleich geringerer Auswirkung – die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika. Auch auf ästhetischem und philosophischem Gebiet kam es zu entscheidenden Umwälzungen und Neuorientierungen. Dies betrifft zum einen sprach- und erkenntnistheoretische Überlegungen. So gilt das 18. Jahrhundert als das Jahrhundert der Sprachursprungstheorien. Neben den Sprachtheorien sind es vor allem erkenntnistheoretische Fragestellungen, die die Philosophen des 18. Jahrhunderts beschäftigen. Mit Kants Kritiken und Fichtes daran anschließendem Entwurf der idealistischen Philosophie entstehen zwei philosophiegeschichtlich wirkmächtige Neuansätze. Das Interesse dieser erkenntnistheoretischen Ansätze gilt weniger dem menschlichen Sprachvermögen; beide Philosophen rekurrieren hingegen auf den Begriff des Bildes, den sie zu einer zentralen Denkfigur ihrer Philosophie ausbauen. Obwohl ihre Verwendung dieses Begriffs keine unmittelbar kunstphilosophische Ausrichtung hat, fließt über ihn sowie den daran anschließenden, von Kant verwendeten Begriff der Hypotypose kunsttheoretische Terminologie in diese Philosophien ein, die sie in die Nähe ästhetischer Konzeptionen treten lässt. Auf dieser Grundlage wird der Idealismus romantischer Prägung, insbesondere in Schellings Schriften, in eine Kunstphilosophie überführt. Auch dichtungstheoretisch treten entscheidende Neuerungen ein. Mit Bodmer und Breitinger erleben die Regelpoetiken ihren Endpunkt und mit Klopstock tritt zunehmend eine neue poetologische Sicht an deren Stelle. Der dichtungstheoretische Innovationsschub erfasst zunehmend auch die anderen Künste. Durch Winckelmanns archäologische Schriften wird ein neues Interesse an den bildenden Künsten, insbesondere jenen der Antike, geweckt und das klassizistische Kunstideal der Aufklärung geprägt. Zur gleichen Zeit entstehen auch die bedeutenden europäischen Gemäldesammlungen, namentlich der Dresdner Gemäldegalerie und des Louvre in Paris.

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Sprache und Bild im philosophischen und kunsttheoretischen Diskurs des 18. Jhs.

Gotthold Ephraim Lessings epochemachende Schrift Laokoon läutet schließlich das Ende des unreflektierten Gebrauchs des Horazschen Diktums ut pictura poesis ein und schafft ein neues Bewusstsein für die Differenz zwischen bildenden und sprachlichen Künsten. Lessings Argumentation stützt sich ebenso wie viele sprachursprungstheoretische Schriften auf zeichentheoretische Überlegungen. Die Grundopposition dieser Zeichentheorie wird durch die – in immer wieder leicht varrierender Bedeutung verwendete – Unterscheidung von ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen konstituiert. Auf diese beiden Zeichenformen rekurrieren die Schrift- und Sprachentstehungsmodelle des Hieroglyphendiskurses ebenso wie die Abhandlungen zur Allegorie. Sie bilden damit gewissermaßen die Basis für die kunst- und medientheoretischen Diskurse der Zeit. All diese Diskurse gruppieren sich in der einen oder anderen Weise um sprach- und bildtheoretische Fragestellungen. Sie bilden damit einen reichen Fundus an Sprach- und Bildmodellen, aus dem die Frühromantiker gegen Ende des Jahrhunderts schöpfen und eine hochkomplexe, eigene Poetologie entwerfen konnten. Dieses vielfältige disziplinäre Spektrum an sprach- und bildtheoretischen Konzeptionen, das das 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, wird im ersten Hauptteil dieser Arbeit systematisiert. Dabei werden auch die Interdependenzen, die sich innerhalb dieses Diskursgefüges entfalten, sichtbar gemacht. Mit dieser systematischen Erschließung der Sprach- und Bildmodelle wird die Grundlage für die im zweiten Hauptteil anschließende Analyse der frühromantischen Sprach- und Bildtheorie geschaffen. Ergänzt wird diese Betrachtung um die nicht erst im 18. Jahrhundert entstandenen, für die Theoriebildung der Romantik aber ebenso wirkmächtigen, naturmystischen und kabbalistischen Sprachspekulationen des 16. und 17. Jahrhunderts.

I.

Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts

1.

Sprachursprungstheorien

Den Einstieg in diese Untersuchung sollen die Sprachursprungstheorien bilden. Exemplarisch für die Fülle an sprachursprungstheoretischen Schriften, die das 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, sollen hier die beiden antagonistisch zueinander stehenden Texte Johann Peter Süßmilchs und Johann Gottfried Herders betrachtet werden. An den Schriften zum Sprachursprung lassen sich die wesentlichen Merkmale des im 18. Jahrhundert vorherrschenden Sprachverständnisses demonstrieren. Zugleich fließen sprachursprungstheoretische Überlegungen auch immer wieder in die nachfolgend zu betrachtenden Schriften zur Erkenntnis-, Kunst- oder Zeichentheorie mit ein. Ein gewisser Fokus auf bildtheoretische Momente innerhalb der Sprachursprungstheorien soll dabei die Analyse der Texte leiten.

1.1

Johann Peter Süßmilch – der göttliche Ursprung der Sprache

In seiner 1766 in Berlin erschienenen Schrift Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer erhalten habe versucht der Pfarrer Johann Peter Süßmilch die empiristischen und empiristisch gefärbten Theorien vom Ursprung der Sprache zu entkräften und ihnen eine für den göttlichen Sprachursprung plädierende Argumentation entgegenzusetzen. Der Text wurde von Süßmilch bereits 1756 vor der Berliner Akademie verlesen und beförderte nach seiner Veröffentlichung erneut die Sprachursprungsdebatte, die schließlich in der 1770 durch die Akademie ausgeschriebenen Preisfrage gipfelte.14 Der aus diesem Wettbewerb als Gewinner14 Vgl. Haßler, Gerda: Sprachtheorien der Aufklärung. Zur Rolle der Sprache im Erkenntnisprozeß, Berlin (Ost) 1984, S. 69.

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Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts

schrift hervorgegangene Text Johann Gottfried Herders soll im folgenden Kapitel besprochen werden. Ausgangspunkt der Argumentation Süßmilchs ist die These, dass der Verstand dem Menschen nur als Vermögen angeboren sei, dessen Entwicklung und Gebrauch als Erkenntnisorgan dem Zeichensystem der Sprache bedürfe, welches das Denken erst ermögliche. Die von Süßmilch wohl bei Leibniz gefundene These,15 dass dem Menschen Denken ohne Zeichen nicht möglich sei, ergänzt er um die Überlegung, dass Zeichen ohne die Fähigkeit zu denken ebenso wenig entwickelt werden können. Daraus folgert er die Gleichursprünglichkeit von Sprache und Verstand. Und so heißt es bei Süßmilch: Sprache und Vernunft sind daher als eine Ursach und Wirkung unzertrennlich verknüpfet und wir haben es dem Gebrauch der Sprache zu danken, daß der Mensch aus seiner thierischen Niedrigkeit zu den Vorzügen erhaben wird, womit ihn der gütige Schöpfer begabet hat.16

Die wichtigsten Vertreter des englischen Empirismus, gegen die Süßmilch seine Schrift richtet, sind Hobbes und Locke, denen zufolge sich die Sprache aus dem gesellschaftlichen Leben heraus allmählich entwickelt habe.17 Süßmilch dürfte vor allem an der Überzeugung der Empiristen Anstoß genommen haben, es handele sich bei dem Geist, respektive der Vernunft, um ein »leeres« Erkenntnisinstrument, das erst der von den Sinnesorganen gelieferten Informationen bedürfe, um in Tätigkeit versetzt zu werden.18 Etwas näher stehen ihm die Überlegungen des Engländers Brian Walton, der zumindest der Vernunft der sinnlichen Wahrnehmung gegenüber einen höheren Stellenwert einräumt. Allerdings ruft Waltons Annahme, der Mensch habe die Sprache mit Hilfe der von Gott gegebenen Vernunft selbst entwickeln können, Süßmilchs Kritik hervor.19 Diese Vorstellung, so Süßmilch, setze voraus, dass dem Menschen der Gebrauch der Vernunft angeboren sei. So setzt Süßmilchs Kritik an dem Problem des Vernunftgebrauchs an, welcher notwendig an Sprache gebunden sei: »Allein dieses [der Gebrauch der Vernunft, Y. A.] findet 15 Leibniz hat seine Überzeugung, dass Denken ohne Zeichen nicht möglich sei, in seinem Dialog von 1677 niedergelegt. Vgl.: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Schriften, Darmstadt 1965ff, hier : Bd. 4, hrsg. u. übersetzt v. Herbert Hering, S. 23 – 37. Womöglich hat Süßmilch diese Unterscheidung von ›cognitio symbolica‹ und ›cognitio intuitiva‹ auch von Wolff übernommen, in dessen Konzeption von der ›figürlichen‹ und der ›anschauenden‹ Erkenntnis sie ihre Entsprechung gefunden haben. (Vgl. auch Kim, Dae Kweon: Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. Herder, Condillac und Süßmilch, St. Ingbert 2002, S. 92). 16 Süßmilch, Johann Peter : Versuch eines Beweises, daß die erste Sprache ihren Ursprung nicht vom Menschen, sondern allein vom Schöpfer habe, in der academischen Versammlung vorgelesen und zum Druck übergeben von Johann Peter Süßmilch, Berlin 1766, S. 5. 17 Vgl. ebd., S. 13. 18 Vgl. Kim, Dae Kweon: Sprachtheorie im 18. Jahrhundert, S. 46. 19 Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 8.

Sprachursprungstheorien

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ohne den Gebrauch der Sprache nicht statt. Kann er nicht sprechen, so kan er auch nicht vernünftig denken, nicht erfinden und keine Sprache machen, […].«20 Die beiden notwendigen Voraussetzungen, die Süßmilch seiner Argumentation zugrunde legt – Sprachentwicklung setzt die Tätigkeit der Vernunft voraus einerseits und Vernunftgebrauch setzt Sprache voraus andererseits – münden in einen Zirkelschluss, den er nur durch die Setzung Gottes als den Urheber der Sprache zu lösen vermag. Der im Anschluss an diese Kritik der empiristischen Positionen folgende Beweis, »daß der Ursprung der Sprache nicht von Menschen herrühre«21, welcher nicht historisch oder biblisch, sondern »aus der Beschaffenheit der Sprache selbst« begründet werden soll,22 zeigt, dass die These, trotz ihrer theologischen Bedingtheit, doch nicht leichthin unter Berufung auf die biblische Autorität begründet wird, sondern eine philosophische Argumentation unter Rückgriff auf die durch die Aufklärung etablierte Hochschätzung der Vernunft angestrebt wird.23 Nur so konnte Süßmilchs Schrift das Interesse vieler zeitgenössischer Philosophen wecken und deren eigene Auseinandersetzung mit der Sprachursprungsthematik herausfordern.24 Bei seiner Beweisführung rekurriert Süßmilch auf die Ordnung und Regelhaftigkeit der menschlichen Sprache. Im Gegensatz zu den Lauten der Tiere sei deren Grammatik veränderlich und die Signifikant-Signifikat-Relation willkürlich. Eine zufällige Entstehung dieser arbiträren Zeichen schließt Süßmilch aus.25 Er argumentiert also nicht mit einer anfänglichen – wie auch immer gearteten – Natursprache, sondern geht vom Ist-Zustand der positiven Sprachen aus. Statt die diachrone Sprachentwicklung zu untersuchen, argumentiert er auf einer synchronen, systematischen Ebene.26 Aufgrund dieser Betrachtungen folgert er : 20 21 22 23

Ebd., S. 10. Ebd., S. 13. Ebd., S. 13 f. Gessinger spricht in diesem Zusammenhang vom »rationalistischen Metaphysiker«, ein Begriff der – zumindest im Hinblick auf die Sprachursprungsschrift – durchaus zutreffend ist, auch wenn Gessinger dieses Urteil selbst mit Blick auf Süßmilchs demographische Statistiken relativiert. (Vgl. Gessinger, Joachim: Johann Peter Süßmilch. Göttliche Ordnung und universale Struktur der Sprachen, in: Formen der Aufklärung. Festschrift zum 70. Geburtstag von Ulrich Ricken, hrsg. v. Reinhard Bach, Roland Desn¦, Gerda Haßler, Tübingen 1999, S. 271 – 283, hier S. 272). Zu Gessingers Untersuchung über das Verhältnis zwischen Süßmilchs statistischen Arbeiten und dem Versuch eines Beweises siehe dieses Kap. Anm. 15. 24 Zu den in Auseinandersetzung mit Süßmilch verfassten Schriften seiner Zeitgenossen vgl. Haßler, Sprachtheorien der Aufklärung, S. 70. 25 Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 15 f. 26 Vgl. auch Gessinger, der grundlegend bezüglich aller Schriften Süßmilchs feststellt: »Süßmilch kennt keine historische Entwicklung, keine Genese«. (Gessinger, Johann Peter Süßmilch, S. 277).

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Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts

Hat nun aber die Vernunft daran [an der menschlichen Sprache, Y.A.] nothwendig Anteil haben, und alles nach Gründen und Regeln bestimmen sollen, so haben sich die ersten Erfinder der Sprache nothwendig im vollkommenen Gebrauch der Vernunft bereits müssen befunden haben, sie haben müssen reflectieren, abstrahiren und rationieren können. Dieses aber kann der Mensch nicht ohne Gebrauch der Zeichen, der Sprache oder der Schrift, folglich hat auch der Mensch nichts zur Bildung des künstlichsten Meisterstücks des menschlichen Verstandes beytragen können[…].27

So geht Süßmilch im ersten Abschnitt seiner Abhandlung auf die jeder Sprache zugrunde liegende grammatische Struktur ein, die, so die These, ohne den Vernunftgebrauch nicht hätte entwickelt werden können.28

1.1.1 Bild – Begriff – Zeichen Ausgehend von dieser Grundthese, dass Sprache und Denken nicht unabhängig voneinander existieren können, stellt Süßmilch nähere Betrachtungen über die Funktionsweise der Sprache an, wobei er dem Verhältnis zwischen Zeichen und Begriffen besondere Aufmerksamkeit schenkt. Zunächst definiert er »Worte« und deren Funktionsweise: »Worte sind also bestimmte Schalle und Zeichen, wodurch die damit willkührlich verknüpfte Begriffe in uns oder bey andern sollen hervorgebracht werden. Wir sprechen, wenn wir unsre Gedanken durch Worte bezeichnen.«29 Wörter sind, das ist Süßmilchs Definition zu entnehmen, phonetische, willkürliche Zeichen, die Vorstellungen denotieren und diese dadurch kommunizieren. Die Verwendung solcher Sprachzeichen für Begriffe des Verstandes setzt einen auf der menschlichen Geistestätigkeit beruhenden Abstraktionsprozess voraus: 27 Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 16. 28 Joachim Gessinger legt in seinem Artikel über Süßmilchs Sprachtheorie dar, wie sehr dessen sprachtheoretisches Denken von seinen statistischen Untersuchungen geprägt ist. So vergleicht er die Konzeptionen seiner wichtigsten Schrift Die Göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts, aus der Geburt, Tod, und Fortpflanzung desselben erwiesen von Johann Peter Süßmilch von 1741 mit dem Versuch eines Beweises. Das Grundprinzip aller wissenschaftlichen Überlegungen Süßmilchs ist die Ordnungsstruktur der Welt, die er mit seinen Statistiken ebenso belegt, wie er sie zur Grundlage seiner Sprachtheorie macht. Gessinger belegt auch, dass Süßmilch in seinen sprachtheoretischen Studien ähnlich vorgeht wie bei seinen Bevölkerungsstatistiken und so im Vorfeld der Sprachursprungsschrift unter anderem mit Wortlisten arbeitete. So etwa in »frühen Studien zum Keltischen, zu den germanischen und zu den orientalischen Sprachen« (Gessinger, Johann Peter Süßmilch, S. 276). In seiner Sprachursprungstheorie argumentiert Süßmilch mit der Regelmäßigkeit der grammatischen Ordnung, die in allen positiven Sprachen wiederkehrt. Den menschlichen Verstand als Urheber dieser durchgehenden Übereinstimmung schließt Süßmilch aus, um an dessen Stelle den göttlichen Schöpfer zu setzen. (Vgl. Gessinger, Johann Peter Süßmilch, S. 275 – 278). 29 Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 20.

Sprachursprungstheorien

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Wer ein Wort zu einem Zeichen eines allgemeinen Begriffes machen will, der muß vorher nothwendig gedacht, und das Aehnliche in vielen einzelnen Gegenständen, die Arten oder Geschlechter durch eine angestrengte Attention und Reflexion bemerket und zusammen gefasset haben.30

Während Süßmilch den sinnlichen Empfindungen und dem zu dieser Zeit traditionell noch geringgeschätzten Geistesvermögen der Einbildungskraft – in seiner Schrift an verschiedenen Stellen noch als Imagination bezeichnet – wenig Aufmerksamkeit schenkt, gilt sein Interesse in erster Linie den Vermögen der Vernunft und des Verstandes31 sowie deren Beteiligung an der Bildung von Begriffen. Um zu beschreiben, wie »sinnliche Vorstellungen der Seele« entstehen, operiert er mit der Unterscheidung zwischen den ›Ideis materialibus‹ und ›Ideis intellectualibus‹, die in Bezug zueinander stehen und nicht unabhängig voneinander auftreten. Erstere bezeichnen die auf unmittelbarer Wahrnehmung beruhende, sinnliche Anschauung, letztere die geistige Vorstellung des zuvor sinnlich angeschauten Gegenstands.32 Zur Vorstellung eines Gegenstandes bedarf es demnach zunächst dessen sinnlicher Wahrnehmung, wodurch die Geisteskräfte in Tätigkeit versetzt werden: »Soll ein Bild von einem Gegenstande in unserer Seele geschildert werden, so muß solches vorher die Werkzeuge der Sinne rühren und die erforderliche Bewegung hervorbringen«33 Die geistige Vorstellung von einem Gegenstand wird bei Süßmilch als dessen »Bild« bezeichnet; zugleich wird dieses Bild in Übereinstimmung mit der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung des Gegenstandes beschrieben, in deren Anschauung letztlich das mentale Bild gründet. Der Bildbegriff wird hier also in doppelter Weise gebraucht, einmal im Sinne von »geistiger Vorstellung« und ein weiteres Mal für die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung eines Gegenstands, so wie er durch die Sinnesorgane erfasst werden kann. Süßmilch nimmt damit eine Analogie zwischen der Vorstellung eines angeschauten Gegenstands und dessen visueller Erscheinung an. Zwar liefert Süßmilch keine nähere Bestimmung des Bildes, in Abgrenzung zu den folgenden Ausführungen über die Begriffe lässt sich aber implizit ein durch Konkretion 30 Ebd., S. 26. 31 Süßmilch unterscheidet nicht zwischen Vernunft und Verstand, sondern verwendet die Begriffe synonym. Diese Handhabung ist durchaus symptomatisch, da sich die klare Unterscheidung der beiden Begriffe erst im 18. Jahrhundert in Deutschland herausbildet und sie bis dahin in wechselnden Bedeutungen und bisweilen auch synonym gebraucht wurden. Noch Descartes verwendet die Begriffe nahezu bedeutungsgleich. Vgl. Bickmann, Claudia: Art.: Vernunft/Verstand V, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 748 – 863. 32 Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 35. Der Begriff der ›idea materialis‹ war im 18. Jahrhundert bei Baumgarten und Wolff gebräuchlich. Vgl. hierzu: Halbfass, W.: Art.: Idee III, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 102 – 113, hier Sp. 105. 33 Ebd., S. 35.

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Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts

und Individualität ausgezeichneter Bildbegriff rekonstruieren, der auf einer vollständigen, jedoch nicht analytisch-differenzierten Wiedergabe eines angeschauten Gegenstands beruht. Das Bild scheint also der vorreflexiven geistigen Wiedergabe eines angeschauten empirischen Gegenstands zu entsprechen, es kann jedoch nicht einem durch die Abstraktionstätigkeit des Geistes gebildeten Begriff korrespondieren.34 Anders als der Bildbegriff ist der Zeichenbegriff bei Süßmilch von seiner Funktion her bestimmt und dadurch weiter gefasst. Ausgangspunkt für seine Überlegungen zum Zeichen ist die Beobachtung, dass sich Vorstellungen von einem Gegenstand auch evozieren lassen, wenn dessen Erscheinung den Sinnen nicht unmittelbar gegeben ist. Die Voraussetzung, dass es zur Tätigkeit von Vernunft und Verstand kommen kann, liegt damit in dem Vermögen des Gedächtnisses begründet, sich auch abwesende Dinge vorzustellen. Werden die empirischen Gegenstände den Sinnen jedoch über längere Zeit entzogen, schwächt dies die geistigen Vorstellungen von denselben, weswegen Zeichen als Stimulantia der Sinne fungieren müssen, um die Vernunft in Tätigkeit zu versetzen. Die Erfahrung lehret nun aber weiter, daß, wenn man das der Seele eingedruckte Bild oder einen Theil desselben folglich mit etwas verbindet, das auch wieder die Sinne rühret, und dessen Gebrauch in unserer Gewalt ist, so daß wir uns es vorhalten können, wenn wir wollen, wir alsdann durch dessen Vorhaltung auch den damit verknüpften Begriff leichter und klarer wieder hervorbringen, und auch länger in seiner Klarheit erhalten können. […] Die sinnliche Sache, mit der man eine Vorstellung verbindet, wird ein Zeichen der Gedanken genannt, und man siehet heraus wie es ein Hülfsmittel der Seele und der Kraft zu denken sey.35

Der Zeichenbegriff wird an dieser Stelle noch sehr unspezifisch gebraucht und umschreibt zunächst einen Ersatz für die Erscheinung des Gegenstands, mit dessen Hilfe die Vorstellung – die Wiedergabe der Wahrnehmung dieser Erscheinung – im Geiste erzeugt wird. Diese Zeichen können akustischer oder graphischer Natur sein36 und haben die Eigenschaft, »die Einbildungskraft [zu] befestigen und von ihrem gewöhnlichen Herumschweifen ab[zu]halten.«37 Zeichen können aber auch zur Ordnung und Fixierung mentaler Gegenstände, 34 Dieses Verständnis des Bildes als einer vorsprachlichen, am wahrgenommenen Gegenstand orientierten Vorstellung geht auf die rationalistische Zeichentheorie und deren gegenstandstheoretischen Vorstellungsbegriff zurück. Vgl. Schmidt, Horst-Michael: Sinnlichkeit und Verstand. Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung. Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten, München 1982, S. 34 f. 35 Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 39. 36 Als Beispiele führt er einen bestimmten Schall oder eine Linie im Sand an. 37 Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 39.

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etwa moralischer oder religiöser Vorstellungen, herangezogen werden: »wenn wir uns dann auch von unmateriellen, geistlichen, moralischen und anderen Dingen Begriffe machen wollen, wie weit würden wir wohl alsdenn ohne die sinnliche Hülfsmittel kommen?«38 Süßmilch differenziert auch zwischen verschiedenen Zeichenklassen. In Auseinandersetzung mit der Hypothese, es habe eine andere Art von Zeichen gegeben, die die Vernunfttätigkeit des Menschen dergestalt befördert hätten, dass er selbstständig die Sprache entwickelt habe, führt Süßmilch die Unterscheidung zwischen ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen als den beiden einzig möglichen Zeichenformen ein.39 Dieses Begriffspaar, das sich schon in der griechischen Philosophie herausgebildet hat, gebraucht er jedoch nicht im Sinne einer Klassifizierung der verschiedenen artifiziellen Zeichen, wie sie etwa in Lessings zeitgleich erschienenem Laokoon Verwendung findet, sondern er fasst unter den Begriff der ›willkürlichen‹ Zeichen alle mit Hilfe der Geistestätigkeit entwickelten Zeichensysteme. Die ›natürlichen‹ Zeichen hingegen versteht er im Sinne des Natursprachegedankens. Nach Peirces Klassifikation würde man sie den indexikalischen Zeichen zuordnen. Sie werden einem Ursache-WirkungsZusammenhang gemäß als die unwillkürlichen Regungen des Menschen betrachtet, die auf emotionalen und somatischen Vorgängen beruhen: Alle Zeichen, die der Seele können mitgeteilet werden, sind entweder natürlich, oder willkührlich und künstlich. Zu den natürlichen Zeichen gehören die Gliedmassen des Leibes, die Augen, die Hände, Finger, die Füsse, die Züge und Farbe des Gesichts, wie auch die Laute, das Lachen, Heulen und die ganze Stellung des Leibes.40

Bei dieser Form der Mitteilung, die Menschen und Tieren gemeinsam ist und nicht auf den Reflexionen des Verstandes beruht, sondern »Empfindungen, Begierden und Leidenschaften«41 artikuliert, handelt es sich um nicht-intentionale Zeichen. 38 Ebd., S. 42. Die sich hier bei Süßmilch bereits abzeichnende Überlegung, dass die Ideen der Vernunft, die ohne Referenz auf sinnliche Anschauung bestehen, der Beigabe eines sinnlichen Zeichens bedürfen, wird im Symbolbegriff in Kants Kritik der reinen Vernunft noch differenzierter betrachtet und findet ihren Niederschlag ebenso in den zeitgenössischen Abhandlungen zur Allegorie. 39 Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 55. 40 Ebd., S. 55. Kim weist darauf hin, dass diese Definition von ›natürlichen Zeichen‹ der langage d’action in der Sprachtheorie Condillacs entspricht. Vgl. Kim, Sprachtheorie im 18. Jahrhundert, S. 93. 41 Nach der Peirceschen Unterscheidung handelt es sich bei dieser Definition von ›natürlichem Zeichen‹ um Indices, Zeichen, die zu dem Bezeichneten in einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang stehen. Im Gegensatz dazu entspricht Lessings Verwendung des Begriffs nach Peirces Klassifikation den ikonischen Zeichen, welche auf einer Ähnlichkeitsrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetem beruhen.

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Unter die ›willkürlichen‹ Zeichen subsumiert Süßmilch »vornehmlich Schrift und Sprache«42. Innerhalb dieses Paares dominiert die Sprache, zu der die Schrift, die die gesprochene Lautfolge graphisch denotiert, als ergänzendes Phänomen hinzutritt: »Es ist […] nothwendig, daß das Wort älter seyn müsse als dessen Zeichen oder Gemählde, das Signatum muß eher gewesen seyn, als dessen willkürliches Signum.«43 Damit rekurriert Süßmilch auf eine in der Aufklärung geläufige Dichotomie von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die letztere zugunsten der verbalen Kommunikation als zu dieser in einem Abbildverhältnis stehend beschreibt.44 Die Schrift ist demnach nur sekundäres Phänomen der Sprache und dient erst in zweiter Instanz als Zeichensystem für die Begriffe. Sie wird von Süßmilch insofern als willkürliches Zeichensystem betrachtet, als sie durch Verstandesgebrauch vom Menschen hervorgebracht wird. Der Sprache als dem wichtigsten semiotischen Medium räumt Süßmilch eine nähere Betrachtung ein und erläutert deren Funktion in Anlehnung an die Leibnizsche Terminologie. So unterscheidet er unter Rückgriff auf die von Leibniz etablierte und von Wolff fortgeführte Systematisierung45 zwischen kla42 Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 57. 43 Ebd., S. 56 f. 44 Christiane Frey interpretiert dieses bei Süßmilch zu beobachtende Primat der Mündlichkeit im Kontext der Geist-Buchstabe-Dichotomie, die als Argumentationsgrundlage für eine durchgängige Vertauschung der Valenz von Schrift und Sprache diene: »Aus der heiligen Schrift wird die heilige Sprache, aus der Urschrift die Ursprache, aus dem Bild der Laut, aus dem Buchstaben der Geist.« Vgl. Frey, Christiane: Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur, S. 159. Neben dem ideologischen Aspekt dieser Annahme einer chronologischen Vorrangigkeit der Mündlichkeit vor der Schriftlichkeit, muss aber auch der empirische Gehalt dieser Position berücksichtigt werden, die heute in der Linguistik als common sense gilt. Vgl. z. B. Art.: »Mündlichkeit« in: Metzler Lexikon Sprache, hrsg. v. Helmut Glück, Stuttgart, Weimar 32005. 45 So heißt es bereits bei Leibniz in den Meditationes de Cognitione, veritate et ideis: »Dunkel ist ein Begriff, der zum Wiedererkennen der dargestellten Sache nicht ausreicht, wie wenn ich mich zum Beispiel irgendeiner Blume oder eines Tieres, die ich einst gesehen habe, erinnere, jedoch nicht in dem Maße, daß es genug ist, um das Vergessene wiedererkennen und von etwas ihm Nahestehenden unterscheiden zu können […] Klar ist also die Erkenntnis, wenn ich sie so habe, daß ich aus ihr die dargestellte Sache wiedererkennen kann, und sie wiederum ist entweder verworren oder deutlich. Verworren ist sie, wenn ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden, wenn auch jene Sache solche Kennzeichen und Merkmale tatsächlich besitzt, in welcher ihr Begriff aufgelöst werden kann […]. Ein deutlicher Begriff aber ist ein solcher, den die Münzwardeine vom Golde haben, auf daß sie die Sache durch Merkmale und ausreichende Prüfungen von allen anderen ähnlichen Körpern unterscheiden[.]« (Leibniz, Gottfried Wilhelm: Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen [Meditationes de Cognitione, veritate et ideis], in: ders.: Philosophische Schriften, hrsg. u. übers. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965, Bd.1, S. 35). Wolff schreibt ganz ähnlich über den klaren Begriff: »Wenn der Begriff, den wir haben, zureichet, die Sachen, wenn sie vorkommen, wieder zu erkennen, als wenn wir wissen, es sey eben diejenige Sache, so diesen oder einen

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ren und dunklen Begriffen und teilt erstere wiederum in deutliche und undeutliche ein. Grundlage für diese Unterscheidung von Begriffsklassen bildet die Fähigkeit des menschlichen Verstandes, die wahrgenommenen Gegenstände miteinander zu vergleichen und dadurch zu kategorisieren. Dieses Herausarbeiten von Differenzen kann sich sowohl auf den Vergleich von verschiedenen Gegenständen beziehen als auch die Merkmalsstruktur eines einzelnen Gegenstands im Blick haben.46 Dieser Klassifikation von Begriffen entspricht Süßmilchs Unterscheidung der Geistestätigkeiten, die an der Begriffsbildung beteiligt sind. Er beschreibt sie in einem Dreischritt als Attention, Reflexion und Comparation.47 Die beiden letzten wiederum erläutert er mit einiger Ausführlichkeit. Mittels der Reflexion werden mehrere Gegenstände in einer Zusammenschau betrachtet, wodurch Ähnlichkeitsbeziehungen und Unterschiede zwischen verschiedenen Gegenständen aufgezeigt werden können. So lässt sich die Individualität eines Gegenstands – von Süßmilch als dessen ›Charakter‹ bezeichnet – beschreiben. Auf der nächst höheren Ebene bildet die Reflexion mit Hilfe der Komparation Gegenstandsmengen, deren Elemente in bestimmten Merkmalen miteinander übereinstimmen und unter abstrakten Begriffen zusammengefasst werden. Diese allgemeinen Begriffe sind wiederum unentbehrlich für das Urteilen und für Vernunftschlüsse.48 Anders als der Begriff, der eine deutliche Differenzierung erfährt, gebraucht Süßmilch den Terminus des Bildes oder des Gemäldes gänzlich unreflektiert. Indem Süßmilch die Schrift als »Gemählde der Worte« bezeichnet, löst er den Gemäldebegriff aus seinem Kontext der Malerei und verwendet ihn in völlig andern Namen führet, die wir in diesem oder in jenem Orte gesehen haben; so ist er klar : hingegen dunckel, wenn er nicht zulangen will, die Sache wieder zu erkennen.« (Wolff, Christian: Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit, in: ders.: Gesammelte Werke, hrsg. u. bearb. v. Hans Werner Arndt, Hildesheim 1965ff, 1. Abt. Bd. 1, § 9, S. 126). Weiterhin unterscheidet er den deutlichen von dem undeutlichen Begriff: »Ist unser Begriff klar; so sind wir entweder vermögend, die Merckmahle, daraus wir eine Sache erkennen, einem andern herzusagen, oder wenigstens uns selbst dieselbe besonders nach einander vorzustellen, oder wir befinden uns solches zu thun unvermögend. In dem ersten Falle ist der klare Begriff deutlich; in dem andern aber undeutlich.« (Wolff, Abt. 1, Bd. 1, § 13, S. 128). 46 Dunkle Begriffe stellen dabei die am wenigsten differenzierte Kategorie dar und scheinen weitestgehend mit der unmittelbaren Vorstellung eines angeschauten Gegenstandes übereinzustimmen. Von einem klaren Begriff wird gesprochen, wenn man den wahrgenommenen Gegenstand von anderen zu unterscheiden, Ähnlichkeiten mit diesen zu erkennen oder ihn gar mit ihnen zu identifizieren vermag. Als deutlich wird ein klarer Begriff wiederum verstanden, wenn er auch den einzelnen Gegenstand selbst in seiner Gesamterscheinung zu differenzieren – seine einzelnen Eigenschaften zu erfassen, seine Teile zu unterscheiden und jeweils zu identifizieren – vermag. (Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 36 f.). 47 Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 37 f. 48 Vgl. ebd., S. 40 f.

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unspezifischer Weise.49 Dabei unterlässt er es auch, die Schrift einer näheren Analyse hinsichtlich ihrer semiotischen oder medialen Qualitäten zu unterziehen. Weder berücksichtigt er den von der gesprochenen Sprache zur Schrift vollzogenen Wechsel von einem phonetischen in ein graphisches Zeichensystem, noch konfrontiert er die Alphabetschrift mit möglichen am Naturvorbild orientierten, mimetischen Zeichensystemen, die das Verständnis von bildlichikonischen Zeichen in den zeitgenössischen sprach- und kunsttheoretischen Diskursen – etwa bei Lessing, Mendelssohn oder Winckelmann – bestimmen. Süßmilch möchte lediglich darauf hinweisen, dass es sich bei der Schrift um die optische Repräsentation des zunächst nur phonetisch gegebenen Wortes handelt. Daran lässt sich ablesen, dass Süßmilch Sprache und Schrift nicht zeichentheoretisch, sondern ausschließlich erkenntnistheoretisch und anthropologisch thematisiert. So befasst er sich, anders als seine Zeitgenossen, nicht mit den unterschiedlichen Repräsentationsformen verschiedener Zeichensysteme. Das Verhältnis zwischen Zeichen und seinem Bezeichneten wird nicht problematisiert, wenn der Begriff »Gemälde« homonym für (ab)bildhafte Darstellungen und für die arbiträre, phonographische Buchstabenschrift verwendet wird. Diese unspezifische Verwendungsweise des Gemälde-Begriffs zeigt auch, dass das Symbolsystem der bildenden Kunst noch gar nicht als mögliches konkurrierendes Zeichensystem in den Blick gerät. Die geringe Bedeutungsbeimessung, die Süßmilch den Farben zuteilwerden lässt, ergänzt diese Beobachtung. Er betrachtet sie in keinem Moment aus einer ästhetisch-bildkünstlerischen, sondern ausschließlich aus einer erkenntnistheoretischen Perspektive. Die Geringschätzung der Farben als nicht-propositionalen Wissens hängt einerseits mit der Fokussierung auf die Abstraktionsleistungen der Vernunft zusammen: Da sich in ihnen keine einzelnen Merkmale abgrenzen lassen, so erläutert Süßmilch, können sie auch nicht zu deutlichen Begriffen erhoben werden.50 Andererseits steht dieser Gedanke in der kunsttheoretischen Tradition der Abwertung des Kolorits zugunsten des Disegnos. 1.1.2 Abstraktion als Paradigma in Süßmilchs Sprachtheorie Süßmilchs Argumentationszusammenhang begründet den göttlichen Ursprung der Sprache mit der Unentbehrlichkeit der Sprache für den Gebrauch der Vernunft, die ihrerseits geläufiges Merkmal der göttlichen Ebenbildlichkeit des 49 Ein solch unspezifischer Gebrauch der Begriffe ›Gemälde‹ und ›malen‹ ist für das 17. und 18. Jahrhundert durchaus nicht unüblich. Besonders in den Poetiken meinte der Begriff des ›Malens‹ eine konkret-anschauliche Sprache. Vgl. hierzu Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 210 f. 50 Vgl. Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 37.

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Menschen ist. Sprache wird auf diese Weise ausschließlich in ihren auf Verstandestätigkeit gründenden Funktionszusammenhängen erfasst. So interessiert an der Sprache die auf Abstraktion beruhende Begriffsbildung. Explizit ausgenommen werden auf emotionalen Prozessen beruhende Artikulationen. Diesen Interjektionen entspricht die Klasse der bereits besprochenen ›natürlichen‹ Zeichen, derer sich auch die Tiere bedienen. Die Einbildungskraft ist das Erkenntnisvermögen, das dieser Form der Mitteilung korrespondiert und ebenfalls den Tieren zugesprochen wird: Ohne abgezogene und allgemeine Begriffe sind keine Schlüsse möglich, ohne Schlüsse aber und ohne Verbindung vieler Schlüsse kan man nicht zur Einsicht in den Zusammenhang der Wahrheiten d. i. zur Vernunft gelangen. Wenn wir also eine große Anzahl Wörter hätten, womit wir einzelne Gegenstände bezeichnen könten, wir hätten aber nicht allgemeine und abgezogene Wörter, so würden wir gleichsam an der Thüre der Vernunft müssen stehen bleiben. […] Die Thiere haben sinnliche Empfindungen wie wir, wir können ihnen auch die Einbildungskraft und einen geringen Grad des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit nicht absprechen.51

Süßmilchs Sprachursprungstheorie beruht auf der dichotomen Unterscheidung von Vernunft einschließlich der mit ihr als gleichursprünglich gesetzten Sprache einerseits und der ihr entgegengesetzten Einbildungskraft, als einer auf emotionalen Prozessen basierenden, niederen Erkenntnisform, andererseits. So sind Süßmilchs Erklärungsmuster zur Verteidigung der Hypothese vom göttlichen Sprachursprung gänzlich dem vernunftzentrierten Diskurs der Aufklärung verpflichtet. Aspekte eines sprach- oder zeichentheoretischen Denkens, das von einer sukzessiven Entwicklung von Sprache und Schrift ausgeht und das Verhältnis zwischen Zeichen und bezeichnetem Gegenstand als Grundlage der kognitiven Prozesse des Bezeichnens im Blick behält, spielen in Süßmilchs Konzeption keinerlei Rolle. Alle theoretischen Ansätze hingegen, die von einer sukzessiven Sprachentwicklung ausgehen, kommen nicht umhin, entweder die Interjektionen oder die einen Gegenstand nachahmenden Zeichen als Ausgangspunkt der Entwicklung anzunehmen. Gerade zeichentheoretische Betrachtungen aber, die auf der Basis des zu bezeichnenden, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstands einen mimetischen Zeichenbegriff entwickeln, rücken die akustischen Qualitäten der Sprache ebenso wie die bildlich-visuellen Aspekte der Schrift in den Blick. Damit heben sie rhetorisch-formale Gestaltungsweisen und tropisch-uneigentliche Redeweisen – zwei Schlüsselaspekte der romantischen Sprachtheorie – in den Fokus des Interesses. So verwundert es nicht, dass sich Süßmilchs Argumentation ausschließlich auf die abstrakt-begriffliche Sprache bezieht, während poetischtropische Redeweisen keinerlei Berücksichtigung finden. 51 Süßmilch, Versuch eines Beweises, S. 101.

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Johann Gottfried Herder, ein Vorläufer der Romantik, der in anderen Schriften die poetische Sprache zu seinem ausschließlichen Gegenstand macht, behebt diesen Mangel auch in seiner Sprachursprungsschrift zumindest zu einem gewissen Grad. Seiner deutlich differenzierteren sprachtheoretischen Abhandlung ist das nächste Kapitel gewidmet.

1.2

Johann Gottfried Herder – das menschliche Sprachvermögen

Unter den vielen Abhandlungen zum Ursprung der Sprache, die das 18. Jahrhundert hervorgebracht hat, etwa von Rousseau52, Michaelis53 oder Condillac54, um nur einige der wichtigsten Namen zu nennen, soll Herders Beitrag zu dieser Debatte exemplarisch herausgegriffen werden.55 Die Entscheidung fällt zum einen darum auf Herder, weil sein Text als Antwort auf die vorangegangenen Diskussionen entstanden ist und sich diese darin widerspiegeln, zum anderen, weil sich in Herders Werk zugleich auch äußerst wichtige Ausführungen zur Hieroglyphik sowie zum biblisch-religiösen und poetischen Sprachverständnis finden, die die Spannung zwischen den unterschiedlichen sprachphilosophischen Diskursen besonders deutlich zu Tage treten lassen. Im Zentrum von Johann Gottfried Herders Schrift Abhandlung über den Ursprung der Sprache, die 1770 als Beitrag zu dem von der Berliner Akademie ausgeschriebenen Wettbewerb56 verfasst und mit dem ersten Preis bedacht wurde,57 steht die These des auf Verstandestätigkeit beruhenden menschlichen 52 Rousseau, Jean Jacques: Essai sur l’origine des langues: O¾ il est parl¦ de la M¦lodie & de l’imitation musicale, 1781. 53 Michaelis, Johann David: De l’influence des opinions sur le langage et du langage sur les opinions, Breme 1762. 54 Condillac, Etienne Bonnot de: Essai sur l’origine des connaissances humaines: Ouvrage o¾ l’on r¦duit — un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain, Amsterdam 1746. 55 Herders Text nimmt innerhalb dieser Debatte insgesamt einen bedeutenden Stellenwert ein und ist seit seiner Veröffentlichung immer wieder Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen gewesen. Paul Salmon hat diese Rezeptionsgeschichte skizziert. Vgl. Salmon, Paul: Abhandlung über den Ursprung der Sprache: Reception and Reputation, in: »Das unsichtbare Band der Sprache. Studies in German Language and Linguistic History, hrsg. v. John L. Flood, Paul Salmon, Oliver Sayce u. Christopher Wells, Stuttgart 1993, S. 253 – 277. 56 Die Preisfrage, auf die Herders Schrift antwortet, wurde 1769 von der Berliner Akademie der Wissenschaften gestellt und lautet: »En supposant les hommes abandonn¦s — leurs facult¦s naturelles, sont-ils en ¦tat d’inventer le langage? Et par quels moyens parviendront-ils d’euxmÞmes — cette invention? On demande une hypothÀse qui explique la chose clairement et qui satisfait — toutes les difficult¦s – chez M. Formey Secr¦taire perp¦tuel jusque — I. Janvier 1771. Le jugement 31. Mai 1771.« (Vgl. Gaier, Ulrich: Kommentar, in: Herder, Werke, Bd. 1, S. 1274). 57 Zu einer eingehenden Betrachtung einiger ausgewählter Abhandlungen aus dem Korpus der eingereichten Schriften vgl. Salmon, Paul B.: Also Ran. Some rivals of Herder in the Berlin

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Sprachursprungs. Dabei argumentiert Herder, der sich 1770 bereits seit einigen Jahren in unterschiedlichen Kontexten mit sprachphilosophischen Fragen beschäftigt hat,58 in erster Linie auf erkenntnistheoretischer und, in noch weit höherem Maße, anthropologischer Ebene. In seiner Sprachursprungsschrift formuliert er einige grundlegende Thesen über Funktion und Voraussetzung von Sprache, wodurch ihre Bedeutung sowohl für das Denken als auch für die intersubjektive Kommunikation klar konturiert wird. Mag es in Herders Schrift auch in erster Linie um die gesprochene Sprache gehen, so wird die Sprachentstehung doch angesichts der visuellen Wahrnehmung und der kognitiven Verarbeitung derselben betrachtet. Dadurch werden wichtige Thesen über die Sprache in Abgrenzung zum Bild entwickelt und es lassen sich somit – trotz der Tatsache, dass dem Bild keine eigene Betrachtung zuteilwird – wichtige Aussagen, nicht nur über Sprache, sondern auch über Bildlichkeit aus Herders Text herausdestillieren. 1.2.1 Die Entwicklungsstadien der Sprachentstehung Herder beginnt seine Argumentation mit der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch, die er auf den zu verhandelnden Gegenstand der lautlichen und gestischen Artikulation bezogen entwickelt. Der erste Satz seiner Abhandlung: »Schon als Tier, hat der Mensch Sprache«59 postuliert ein Menschen und Tieren gemeinsames Artikulationsmedium. Diese als natürliche Sprache60 bezeichnete Ausdrucksform sieht er in den unwillkürlichen akustischen Äußerungen gegeben, die als Reaktion auf Empfindungen (Schmerz, Trauer, Freude, etc) entstehen. Bei der natürlichen Sprache handelt es sich also ausschließlich um Interjektionen. Jedoch relativiert Herder seine Aussage nochmals, indem er diese Artikulationsform zwar als eine Vorstufe von Sprache anerkennt, sie jedoch vom menschlichen Sprechen qualitativ unterscheidet.61 Dezidiert menschlich wird

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Academy’s 1770 eassy competition on the Origin of Language, in: Historiographia Linguistica 16 (1989), S. 2 – 48. Eine umfassende Darstellung von Herders vielfältigen Beschäftigungen mit Fragen der Sprachphilosophie findet sich in Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, S. 34 – 74. Einen Überblick über Herders Auseinandersetzung mit Sprache gibt auch: Trabant, Jürgen: Herder and Langauge, in: A Companion to the Works of Johann Gottfried Herder, hrsg. v. Hans Adler u. Wulf Koepke, Rochester, New York 2009, S. 117 – 139. Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Werke in zehn Bänden, hrsg. v. Martin Bollacher u. a., Frankfurt am Main 1985 ff., hier : Bd. 1, Frühe Schriften 1764 – 1772, hrsg. v. Ulrich Gaier, S. 697. Ebd., S. 701. Ebd., S. 701. Ulrich Gaier unterscheidet hier bereits drei »Ursprungs- oder Sprachbegriffe«, die jedoch allzu konstruiert erscheinen. (Vgl. Gaier, Ulrich: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, Stuttgart-Bad Cannstatt 1988, bes. S. 87 – 95). Wie weiter unten noch in einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Thesen Gaiers erörtert werden soll, stellt

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die Sprache erst, wenn sie mit Hilfe des Verstandes willkürlich gebildet wird. Den Grund für diesen qualitativen Sprung zwischen tierischer und menschlicher Artikulation erklärt Herder anthropologisch.62 Sowohl Aktionsraum als auch Aktionsweise sind den Tieren deterministisch vorgegeben. Ihre Sphäre, so Herder, ist eine begrenzte. Der Aktionsradius des Menschen aber durchmisst die ganze Welt, was ihm die Freiheit eröffnet, sich innerhalb derselben einzelne Betätigungsfelder und -weisen zu suchen:63 Wenn der Mensch Vorstellungskräfte hat, die nicht auf den Bau einer Honigzelle und eines Spinngewebes bezirkt sind, und also auch den Kunstfertigkeiten der Tiere in diesem Kreise nachstehen: so bekommen sie eben damit ›weitere Aussicht‹. Er hat kein einziges Werk, bei dem er also unverbesserlich handle; aber er hat freien Raum, sich an vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben damit kanns sein eigen Werk werden.64

Während die lautliche Kommunikation bei Tieren durch den Instinkt gesteuert ist – es sich also um eine angeborene Fähigkeit handelt – wird Sprache vom Menschen in einem Akt der Freiheit durch die Vernunft selbstständig entwickelt.65

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Herder eine sukzessive Sprachentwicklung dar, die insgesamt unter den Begriff des Ursprungs zu subsumieren ist. Der Ursprung – das ist das entscheidende an Herders Argumentation, die im Laufe dieses Kapitels herausgearbeitet wird – wird nicht statisch gedacht, als ein plötzliches, zu einem bestimmten Zeitpunkt sich ereignendes Gegeben-Werden der fertigen Sprache, sondern – und darin unterscheidet sich die Argumentation gerade von den Konzeptionen eines göttlichen Sprachursprungs – der Ursprung selbst ist ein Prozess, aus dem erst die positiven Sprachen hervorgegangen sind. Nur durch diese Argumentation ist es Herder möglich, die Vorstellung vom göttlichen Sprachursprung zu widerlegen. Ganz auf dieses anthropologische Moment der Sprache, worin sich Tier und Mensch essentiell unterscheiden, ist Manfred Maengels Aufsatz fokussiert. Daraus leitet er auch die Differenz zwischen Zeichen, derer sich auch die Tiere bedienen, und Worten, die nur der Mensch hervorbringen kann, ab. Im Zentrum seiner Argumentation steht dabei Herders Kritik an Rousseau, der es versäumte, eine solche Grenzziehung zwischen Tier und Mensch aufzuzeigen. So relevant dieser Aspekt auch ist, so verkürzt die ausschließliche Konzentration darauf doch die Intention von Herders Preisschrift. Vgl. Maengel, Manfred: Zeichen, Sprache, Symbol. Herders semiologische Gratwanderung – mit einem Seitenblick auf Rousseaus Schlafwandeln, in: Theorien vom Ursprung der Sprache, hrsg. v. Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden, Berlin u. New York 1988, Bd. 1, S. 375 – 389. Das von Herder als Kunstfertigkeit bezeichnete Herstellen von Objekten, welches auf angeborenen Fertigkeiten beruht und keinerlei Vorstellungen bedarf, die aus freier Verstandestätigkeit gewonnenen wurden, ist an den Überlegungen zur Kunstfähigkeit bei den Tieren aus Reimarus’ Schrift Allgemeine Betrachtungen über die Triebe der Thiere, hauptsächlich über ihre Kunsttriebe orientiert. (Vgl. Gesche, Astrid: Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen, Würzburg 1993, S. 114 ff.) Die Produkte der Kunstfertigkeit werden von Herder als formal perfekte Objekte verstanden, zu deren Fertigung allein eine mechanische, angeborene Geschicklichkeit gehört und zu deren vollkommener Gestalt die freie Geistestätigkeit weder formal noch funktional etwas hinzuzufügen vermag. Herder, Werke, Bd. 1, S. 716. Ebd., S. 717. Herder schreibt: »Man nenne diese ganze Disposition seiner Kräfte, wie man

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Wie sich dieser Sprachentstehungsprozess im Detail vollzogen haben soll, erläutert Herder auf Grundlage einer erkenntnistheoretischen Argumentation. Indem die Sprache des Menschen weit über bloße Interjektionen hinausgeht, ermöglicht sie die durch Vernunft geleitete, freie Interaktion des Menschen mit seiner Umwelt. Die Entwicklung der Sprache ist wesentlich auf Reflexion gegründet, wodurch der Mensch sich seiner Umgebung denkend nähert: Der Mensch, in den Zustand von Besonnenheit gesetzt, der ihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum erstenmal frei würkend, hat Sprache erfunden. […] Diese Besonnenheit ist ihm charakteristisch eigen, und seiner Gattung wesentlich: so auch Sprache und eigne Erfindung der Sprache. Erfindung der Sprache ist ihm also so natürlich, als er ein Mensch ist!66

Herder setzt die Reflexionsfähigkeit, die Fähigkeit zur Kognition, als entscheidendes ontologisches Merkmal des Menschen, woraus sich die Sprachfähigkeit notwendig ableitet. Der scharfe Gegensatz, in dem die Reflexion zur Empfindung steht, zeigt sich für Herder in dem Umstand, dass sie sich – auf Grundlage des freien Willens – die Objekte ihrer Betrachtung selbst bestimmen kann und zu einer Analyse derselben fähig ist: Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ozean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt sein kann, daß sie aufmerke. Er beweiset Reflexion, wenn er aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen, sich in ein Moment des Wachens sammeln, auf Einem Bilde freiwillig verweilen, es in helle ruhigere Obacht nehmen, und sich Merkmale absondern kann, daß dies der Gegenstand und kein anderer sei. Er beweiset also Reflexion, wenn er nicht bloß alle Eigenschaften, lebhaft oder klar erkennen; sondern eine oder mehrere als unterscheidende Eigenschaften bei sich anerkennen kann: der erste Aktus dieser Anerkenntnis giebt deutlichen Begriff; es ist das Erste Urteil der Seele […] Dies Erste Merkmal der Besinnung war Wort der Seele! Mit ihm ist die menschliche Sprache erfunden!67

In diesen Überlegungen lassen sich wesentliche Übereinstimmungen mit den Thesen Süßmilchs nachweisen: Reflexion wird als die Fähigkeit des Fixierens verstanden, die es erlaubt, die schwebende Einbildungskraft und die mit ihr gegebenen Bilder der Gegenstände festzuhalten. Auf diese Weise lassen sich aus diesen Bildern einzelne Merkmale separieren und bestimmen, wodurch – mit wolle, Verstand, Vernunft, Besinnung u.s.w. […] Es ist die ›ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur ;‹ oder vielmehr – Es ist die Einzige positive Kraft des Denkens, die mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden bei den Menschen so Vernunft heißt, wie sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird: die bei ihm Freiheit heißt, und bei den Tieren Instinkt wird.« (ebd., S. 717). 66 Herder, Werke, Bd. 1, S. 722. 67 Ebd., S. 722 f.

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einem Leibnizschen Terminus gesprochen – deutliche Begriffe der Gegenstände gewonnen werden können. Mit dieser Unterscheidungsfähigkeit der visuellen Wahrnehmung ist für Herder die Sprache bereits mental konstituiert. Sprache nimmt in diesem Sinne ihren Ausgang beim Bild.68 Jedoch besteht die erste Sprache nicht in dem Bild selbst; vielmehr ist es die mit Hilfe der Reflexion erfolgende Strukturierung des undifferenzierten Wahrnehmungsbildes, mit der Sprache beginnt. Süßmilch und all jene Verfechter eines göttlichen Ursprungs der Sprache unterscheiden sich von Herder in der Annahme, dass jegliche Abstraktions- und Reflexionsprozesse nicht ohne sinnlich wahrnehmbare Zeichen auskämen, auf deren gedächtnisunterstützende Funktion die Vernunft angewiesen sei. Diese These wird von Herder mit der Begründung angezweifelt, dass die Verwendung von sinnlichen Zeichen durch die Vernunft noch nicht die generelle Unmöglichkeit der Abstraktion ohne sinnliche Zeichen bedeute.69 Auch Herder bezieht sich hier implizit auf die Leibnizsche Unterscheidung zwischen ›cognitio intuitiva‹ und ›cognitio symbolica‹, allerdings nimmt er eine weniger radikale Position als Süßmilch ein und hält auch dem Menschen ein gewisses Maß an Abstraktionsfähigkeit ohne Zeichen für möglich: So wie wir mit wenigen Abstraktionskräften, nur wenige Abstraktion ohne sinnliche Zeichen denken können: so können andere Wesen mehr darohne denken; wenigstens folgt daraus noch gar nicht, daß an sich selbst keine Abstraktion ohne sinnliches Zeichen möglich sei.70

Dieser Gedanke erlaubt es Herder, gegen Süßmilch die Möglichkeit einer menschlichen Sprachentwicklung anzunehmen, in der die ersten Abstraktionsprozesse ohne das Hilfsmittel der Sprache auskommen. Auf diese Weise lassen sich bereits einzelne Merkmale aus der sinnlichen Anschauung separiert betrachten, die daraufhin sogleich an sprachliche Merkzeichen geknüpft werden. So konnte sich die Sprache allmählich herausbilden und sich –mit deren Entwicklung einhergehend – eine immer größere Abstraktionsfähigkeit etablieren. Es ist die auf Reflexion beruhende Sprache, die den Menschen erst als Menschen auszeichnet und ihn davor bewahrt, eine – wie Herder es formuliert – »atmende Maschine« zu sein. Sprache ist also Voraussetzung, dass der Mensch 68 Auch Ralf Simon zieht in seiner poetologischen Bildkritik exemplarisch Herders Sprachursprungsschrift heran, um die bildliche Konzeption der Sprachursprungstheorien – und damit die gegenseitige Bedingtheit von Sprache und Bild – zu belegen. So weist Simon bezüglich der oben zitierten Passage darauf hin, »dass die gesamte Interpretationsgeschichte beharrlich über das wiederholte Auftauchen des Wortes Bild in dieser Szene hinweggelesen hat.« (Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 124). 69 Herder, Werke, Bd. 1, S. 725 – 727. 70 Ebd., S. 726.

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kein Wesen ist, das nach vorgegebenen Mechanismen unwillkürlich funktioniert, sondern zu einem auf freiem Willen beruhenden Handeln befähigt ist. Wie aber beginnt der Mensch aufgrund seiner Reflexionstätigkeit erste sprachliche Zeichen zu bilden und wie lässt sich deren semiotische Beschaffenheit beschreiben? Die menschliche Sprache zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus Zeichen besteht, mit deren Hilfe eine Erinnerung an die »Idee« (Vorstellung) des Objekts hervorgerufen wird. Für Herder besteht in der gesprochenen Sprache die erste linguistische Ausprägung, da er die visuelle Erscheinung der Gegenstände in ihrem Zusammenspiel aus räumlicher, gestaltlicher und farblicher Dimension für zu komplex hält, als dass sie dem Herauspräparieren eines zum Zeichen dienenden, wesentlichen Merkmals hätte Vorschub leisten können. Vielmehr sieht er in der phonetischen Erscheinung der Dinge – als Beispiel führt er das Blöken des Schafes an – diejenige Eigenschaft gegeben, die es erlaubt, durch die menschlichen Sinne klar wahrgenommen und durch die Vernunft als Zeichen eingesetzt zu werden. So ist es das Gehör, mit dessen Hilfe der Mensch sich eine Sprache zu bilden beginnt.71 Herder argumentiert auch mit der unterschiedlichen Beschaffenheit der menschlichen Sinne. Das Gehör, von Herder als »mittlerer Sinn« bezeichnet, grenzt er nach zwei Richtungen sowohl vom Tastsinn als auch vom Gesichtssinn ab. Während ersterer ausschließlich nach innen gerichtet sei und letzterer hauptsächlich auf die Außenwelt hingeordnet bleibe, habe das Gehör aufgrund seiner Mittelstellung zum Ausgangspunkt der Sprachentwicklung avancieren können: Cheselden’s Blinder zeigt, wie langsam sich das Gesicht entwickelte? Wie schwer die Seele zu den Begriffen, von Raum, Gestalt und Farbe komme? Wie viel Versuche gemacht, wie viel Meßkunst erworben werden muß, um diese Merkmale deutlich zu gebrauchen: das war also nicht der füglichste Sinn zu Sprache. […] Da ist z. E. das Schaf. Als Bild schwebet es dem Auge mit allen Gegenständen, Bildern, und Farben auf Einer großen Naturtafel vor – wie viel, wie mühsam zu unterscheiden! Alle Merkmale sind fein verflochten, neben einander – alle noch unaussprechlich! Wer kann Gestalten reden? Wer kann Farben tönen? Er nimmt das Schaf unter seine tastende Hand – das Gefühl ist sicherer und voller ; aber so voll, so dunkel in einander. Wer kann, was er fühlt, sagen? Aber horch! das Schaf blöcket! Da reißt sich ein Merkmal von der Leinwand des Farbenbildes, worin so wenig zu unterscheiden war, von selbst los: ist tief und deutlich in die Seele gedrungen.72

In dieser Darstellung der Sprachentstehung aus der Naturbeobachtung heraus wird der phonetischen Sprache gerade in Abgrenzung zu der mit dem Bildbegriff belegten, visuellen Erscheinungsform der Vorzug gegeben. Die akustischen Merkmale der Gegenstände, so die Argumentation, sind dem menschlichen 71 Ebd., S. 734 f. 72 Ebd., S. 734.

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Erkenntnisvermögen leichter zu fassen und demgemäß bildet der Mensch auch wieder phonetische Zeichen für diese Gegenstände. Die ersten Sprachzeichen waren nach diesem Modell Onomatopöien. Wie aber erklärt Herder den Übergang von diesem onomatopoetischen Bezeichnen zur Benennung von nicht akustisch wahrnehmbaren Gegenständen? Hier nimmt er eine metaphorische Übertragung von Lexemen aus einem akustisch geprägten semantischen Feld auf Gegenstände an, deren phänomenologische Gestalt durch andere Sinne des Menschen perzipiert wird. Als Bedingung der Möglichkeit einer solchen Übertragungsleistung bestimmt er das Gefühl als allen Sinneseindrücken zugrunde liegendes Vermögen. So können über unterschiedliche Sinnesorgane transportierte Wahrnehmungen ähnliche Gefühle hervorrufen, die es erlauben, diese Wahrnehmungen synästhetisch zueinander in Beziehung zu setzen.73 In einer weiteren metaphorischen Übertragungsleistung werden schließlich die auf sinnlichen Wahrnehmungen beruhenden Konkreta zur Bezeichnung abstrakter Vorstellungen herangezogen. 1.2.2 Sprachentstehung und Poesie Diese Entwicklung von der mimetischen Bezeichnung hin zur abstrakten Begriffssprache zeichnet Herder nach. Dabei gilt ihm – ebenso wie später vielen Romantikern – die naturnachahmende Darstellungs- und Artikulationsweise, bei der die Sprache ihren Anfang nimmt, als Poesie: »Denn was war die erste Sprache als eine Sammlung von Elementen der Poesie? Nachahmung der tönenden, handelnden, sich regenden Natur!«74 Damit schließt sich Herder jener Tradition an, die Poesie gegenüber der Prosa als die ältere Form sprachkünstlerischen Ausdrucks betrachtet.75 In der Poesie ist noch die Natur, nicht der 73 Vgl. Herder, Werke, Bd.1, S. 744 f. Der Begriff des Gefühls wird hier, wie Ralf Simon in seinem Aufsatz Die Nachträglichkeit des Ursprungs darlegt, in der Bedeutung von ›Tastsinn‹ verwendet. Gleichzeitig scheint bei Herder mit dem Begriff des Gefühls jedoch auch ein Geistesvermögen konnotiert zu sein, wodurch er auf eine Verwendungsweise des Begriffs rekurriert, die in den erkenntnistheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts zunehmend relevant wurde. (Vgl. zum Begriff des Gefühls als konkurrierendes Geistesvermögen zum Verstand im 18. Jahrhundert: Frank, Manfred: »Selbstgefühl«. Vorstufen einer präreflexivistischen Auffassung von Selbstbewusstsein im 18. Jahrhundert, in: Athenäum 12 (2002), S. 9 – 32). So heißt es bei Herder etwa: »denn was sind alle Sinne anders, als bloße Vorstellungsarten Einer positiven Kraft der Seele« (Herder, Werke, Bd. 1, S. 744) und weiter unten argumentiert er, dass: »alle Sinne, insonderheit im Zustande der menschlichen Kindheit nichts als Gefühlsarten einer Seele sind« (Herder, Werke, Bd. 1, S. 746). 74 Herder, Werke, Bd. 1, S. 740. 75 Vgl. ebd., S. 750. Er dürfte diese Position wohl bei Hamann entlehnt haben, dessen Aesthetica in nuce er seine Dithyrambische Rhapsodie von 1765 gewidmet hat. (Vgl. Gaier, Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik, S. 36 f.) So heißt es in der Dithyrambi-

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Verstand, der leitende Gesetzgeber der Sprachbildung. Die eingangs als natürliche Sprache bestimmten Artikulationen der »tönenden, handelnden, sich regenden Natur« werden in der Poesie zum Vorbild einer auf Naturnachahmung beruhenden Gestaltung sprachlicher Zeichen. Ausschließlich in diesem Naturzustand, in dem der Verstand des Menschen noch nicht als eigenständiges und dominantes Geistesvermögen ausgebildet ist, sieht Herder die Möglichkeit der Sprachentstehung gegeben. Den Grund hierfür verortet er in dem ursprünglichen Zusammenspiel von kognitivem und sinnlich-emotionalem Geistesvermögen, mit dessen Hilfe allein Sprache hat entwickelt werden können: Wissen wir denn nicht, daß eben in den Winkeln der Erde, wo noch die Vernunft am wenigsten in die feine, gesellschaftliche, vielseitige, gelehrte Form gegossen ist, noch Sinnlichkeit und roher Scharfsinn, und Schlauheit, und mutige Würksamkeit, und Leidenschaft und Erfindungsgeist – die ganze ungeteilte menschliche Seele am lebhaftesten würke? […] Da, nur da zeigt sie Kräfte, sich Sprache zu bilden und fortzubilden! da hat sie Sinnlichkeit und gleichsam Instinkt genug, um den ganzen Laut und alle sich äußernde Merkmale der lebenden Natur so ganz zu empfinden, wie wir nicht mehr können: und wenn die Besinnung alsdenn eins derselben lostrennet, es so stark und innig zu nennen, als wirs nicht nennen würden. Je minder die Seelenkräfte noch entwickelt und jede zu einer eignen Sphäre abgerichtet ist: desto stärker würken alle zusammen: desto inniger ist der Mittelpunkt ihrer Intensität; nehmet aber diesen großen unzerbrechlichen Pfeilbund auseinander und ihr könnt sie alle zerbrechen, und denn läßt sich gewiß nicht mit einem Stabe das Wunder tun, gewiß nicht mit der einzigen kalten Abstraktionsgabe der Philosophen je Sprache erfinden […].76

So ist es gerade der enge Naturbezug, der nicht nur die Poetizität dieser ersten Sprache ausmacht, sondern Sprachentstehung überhaupt erst ermöglicht. Der engen Orientierung an der Natur steht eine künstliche Gestaltung der Sprache in der Gegenwart gegenüber. Waren in ihrem Ursprung noch die bezeichneten Gegenstände und Vorstellungen in der sprachlichen Bezeichnung präsent, so hat sich die Sprache im Zuge ihrer fortwährenden Tradierung zunehmend zum Instrument von Mitteilung entwickelt, das eines unmittelbaren Gegenstandsschen Rhapsodie: »Ist Poesie Muttersprache: so ist unsere Prose. […] Unser Volk, die Antipoden der Menschheit, hat seine Muttersprache verlernt, da es aus dem Garten Gottes verstoßen wurde, um hinter dem Pfluge auf dem Bauch zu kriechen, und Erde zu essen sein Leben lang.« (Herder, Werke, Bd. 1, S. 31). Die Überordnung der Poesie über die Prosa ist dabei nicht zu überhören. Hans Dietrich Irmscher weist in seiner Analyse der Dithyrambischen Rhapsodie allerdings auch darauf hin, dass Herder seine Gedanken in einer gewissen Differenz zu Hamann entwickelt, die vor allem in der Überzeugung besteht, dass das gegenwärtige Zeitalter von der prosaischen und philosophischen Sprache geprägt ist, in der sich die zeitgenössische Ästhetik artikulieren müsse. (Vgl. Irmscher, Hans Dietrich: Herders Dithyrambische Rhapsodie, in: Aufklärung als Problem und Aufgabe. Festschrift für SvenAage Jørgensen, hrsg. v. Klaus Bohnen u. Per Øhrgaard, München 1994, S. 144 – 157 [Text und Kontext, Sonderreihe Bd. 33]). 76 Herder, Werke, Bd. 1, S. 781 f.

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bezugs ermangelt. In Anlehnung an die paulinische Geist-Buchstaben-Dichotomie diagnostiziert Herder unter seinen Zeitgenossen eine Verwendungsweise von Sprache, bei der mit den Wörtern operiert wird, ohne ihre Bedeutung – ihren Geist – zu verstehen. Es ist für mich unbegreiflich, wie unser Jahrhundert so tief in die Schatten, in die dunkeln Werkstätten des Kunstmäßigen sich verlieren kann, ohne auch nicht einmal das weite, helle Licht der uneingekerkerten Natur erkennen zu wollen. Aus den größesten Heldentaten des menschlichen Geistes, die er nur im Zusammenstoß der lebendigen Welt tun und äußern konnte, sind Schulübungen im Staube unsrer Lehrkerker ; aus den Meisterstücken menschlicher Dichtkunst und Beredsamkeit Kindereien geworden, an welchen greise Kinder und junge Kinder Phrases lernen und Regeln klauben. Wir haschen ihre Formalitäten und haben ihren Geist verloren; wir lernen ihre Sprache und fühlen nicht die lebendige Welt ihrer Gedanken.77

Dieser wehmütigen Feststellung ungeachtet, geht Herder davon aus, dass die gegenwärtigen, positiven Sprachen gegenüber der poetisch beschaffenen Ursprache einen höheren Grad an Vervollkommnung erreicht haben – allerdings mit der Einschränkung, dass der poetische, von der Natur gespeiste Gehalt der Sprache darüber Schaden genommen hat: Die Kette einer gewissen Vervollkommnung der Kunst geht über alles fort, (obgleich andre Eigenschaften der Natur wiederum dagegen leiden) und so auch die Sprache. Die arabische ist ohne Zweifel hundertmal feiner, als ihre Mutter im ersten rohen Anfange: unser Deutsch ohne Zweifel feiner, als das alte Celtische: die Grammatik der Griechen konnte besser sein und werden, als die morgenländische, denn sie war Tochter : die römische philosophischer als die griechische, die französische als die römische: – ist der Zwerg auf den Schultern des Riesen nicht immer größer, als der Riese selbst?78

Die auf einen seit dem Mittelalter weitverbreiteten Aphorismus79 zurückgehende Metapher vom Zwerg auf den Schultern des Riesen suggeriert, dass die zeitgenössischen Sprachen der Ursprache gegenüber eine vollkommen unscheinbare Bedeutung besitzen. Wohl bezieht sich diese Beobachtung aber allein auf die Leistung, die ihrer Hervorbringung jeweils zugrunde liegt. Der zweite Teil der Metapher, der nahelegt, dass die gegenwärtigen, ausgebildeten Sprachen der Ursprache überlegen seien, bildet den eigentlichen Kern ihrer Aussage. Diese Überlegenheit ist zugleich aber nur mit Hilfe der Grundlage möglich, die die Ursprache bildet. Erste auf den Schultern des Riesen, vermag der Zwerg weiter zu blicken als der Riese selbst. Diese Metapher wird um den Vergleich zwischen 77 Ebd., S. 782. 78 Ebd., S. 807. 79 Vgl. hierzu die detailreiche Studie von Robert K. Merton: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt am Main 1980.

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einer Hütte und einem Palast ergänzt, der die Überlegenheit der positiven Sprachen gegenüber den Anfängen der Sprache überdeutlich herausstellt: Nun sieht man auf einmal, wie trüglich der Beweis für die Göttlichkeit der Sprache aus ihrer Ordnung und Schönheit werde. – Ordnung und Schönheit sind da, aber wenn? wie und woher gekommen? Ist denn diese so bewunderte Sprache, die Sprache des Ursprungs? Oder nicht schon das Kind ganzer Jahrhunderte, und vieler Nationen? Siehe! an diesem großen Gebäude haben Nationen, und Weltteile und Zeitalter gebauet; und darum konnte jene arme Hütte nicht der Ursprung der Baukunst sein? Darum mußte gleich ein Gott die Menschen solchen Palast bauen lehren? Weil Menschen gleich solchen Palast nicht hätten bauen können – welch ein Schluß! Und welch ein Schluß überhaupt ists: Diese große Brücke zwischen zwo Bergen begreife ich nicht ganz, wie sie gebauet sei – folglich hat sie der Teufel gebauet! Es gehört ein großer Grad Kühnheit oder Unwissenheit dazu, zu leugnen, daß sich nicht die Sprache mit dem menschlichen Geschlecht nach allen Stufen und Veränderungen fortgebildet: das zeigt Geschichte und Dichtkunst, Beredsamkeit und Grammatik, ja, wenn alles nicht, so Vernunft. Hat sie sich nun ewig so fortgebildet und nie zu bilden angefangen? oder immer menschlich gebildet, so daß Vernunft nicht ohne sie, und sie ohne Vernunft nicht gehen konnte – und mit einmal ist ihr Anfang anders, wie wir anfangs gezeigt? In allen Fällen wird die Hypothese eines göttlichen Ursprungs in der Sprache – versteckter feiner Unsinn!80

In dieser Darstellung der sukzessiven Entwicklung der menschlichen Sprache von der Interjektion über die Naturnachahmung und deren metaphorischübertragener Verwendungsweise bis hin zur rein abstrakten Begriffssprache hat Herder die Möglichkeit der menschlichen Sprachentwicklung beschrieben. Dennoch schließt dies ein – indirektes – göttliches Wirken bei der Sprachentstehung nicht schon kategorisch aus. Und so lässt er seinen Aufsatz mit einer Pointe enden, der die göttliche Sprachursprungshypothese auf geschickte Weise mit der These von der menschlichen Sprachentwicklung versöhnt: Der menschliche [Ursprung der Sprache, Y.A.] zeigt Gott im größesten Lichte: sein Werk, eine menschliche Seele, durch sich selbst, eine Sprache schaffend und fortschaffend, weil sie sein Werk, eine menschliche Seele ist. Sie bauet sich diesen Sinn der Vernunft, als eine Schöpferin, als ein Bild seines Wesens. Der Ursprung der Sprache wird also nur auf eine würdige Art göttlich, so fern er menschlich ist.81

Die Vorstellung, dass der Mensch von Gott das Vermögen zur Bildung von Sprache erhalten habe, bietet keinen Raum mehr für die Annahme einer vom ersten Moment an vollendeten Sprache. Das Modell von der göttlich gegebenen, fertigen Sprache muss einem historisch-anthropologischen Denken weichen, das die Sprachentstehung als allmähliche Entwicklung beschreibt. Wie sich gezeigt hat, definiert Herder somit auch nicht einen Sprachursprung, 80 Ebd., S. 807 f. 81 Ebd., S. 809.

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sondern zeichnet unterschiedliche Entwicklungsstadien nach, die durch Sprünge und deutliche Abgrenzungen voneinander unterschieden sind. Diese Beobachtung veranlasst Ulrich Gaier, von »Ursprüngen« der Sprache in Herders Schrift zu sprechen. Auf dieser Grundlage versucht er, unter Rückgriff auf die Schöpfungshieroglyphe der Ältesten Urkunde, ein an der Siebenzahl orientiertes, streng durchgehaltenes, dialektisches Konstruktionsprinzip des Textes zu rekonstruieren.82 Was Gaier als »Inszenierung« abtut, die es Herder erlaubt habe, mit seiner Preisschrift die Vertreter ganz unterschiedlicher Positionen für sich einzunehmen,83 ist vielmehr als Stadienmodell der Sprachentwicklung zu verstehen. Dieses spiegelt den unterschiedlichen Einfluss der Verstandestätigkeit und der Emotionen auf die Hervorbringung der artikulierten Zeichen wider und geht somit auf eine unterschiedlich bestimmte Zeichenqualität zurück, die zwischen einer als Bild gedachten, vorreflexiven Referenz auf das Bezeichnete und einer kognitiven Aneignung des Bezeichneten unterscheidet.84 Der eigentliche Unterschied zwischen den beiden von Gaier herangezogenen Texten besteht vielmehr in der Verschiebung des chronologischen Primats

82 Vgl. Gaier, Ulrich: Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als »Schrift eines Witztölpels«, in: Literarische Formen der Philosophie, hrsg. v. Gottfried Gabriel, Stuttgart 1990, S. 155 – 165, bes. S. 159 – 161. Kritisch gegenüber einer allzu stringenten Glättung von Widersprüchen und heterogenen Aussagen in Herders Werken zugunsten einer systematischen Interpretation äußert sich auch Daniel Weidner, der bei seiner Untersuchung von Vom Geist der Ebräischen Poesie in dem Text »eine Vielzahl von Stimmen« unterscheidet, »die nicht einfach miteinander verbunden werden können und die auch jede für sich betrachtet wieder einigermaßen komplex sind.« Was hier exemplarisch an einem Werk beobachtet wird, hat durchaus Gültigkeit für das gesamte Œuvre: »Dieser Befund« heißt es weiter »ist in gewisser Weise charakteristisch für Herders Schreibweise als solche« und so heißt es mit durchaus skeptischem Unterton über bestimmte Ansätze in der Herder-Forschung: »Herders Schreibweise bringt es mit sich, dass seine Interpreten oft recht weit ausgreifen, entweder, indem sie ihre Belege von ganz verschiedenen Werkstellen zusammentragen, oder sich auf das vermeintliche systematische Gerüst hinter den Texten konzentrieren.« (Weidner, Daniel: Ursprung und Wesen der Ebräischen Poesie. Zu Figuren und Schreibweisen des Ursprünglichen bei Herder, in: ders. [Hrsg.]: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«, Berlin 2008, S. 113 – 151, hier S. 113 f.). 83 Vgl. Gaier, Ulrich: Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache als »Schrift eines Witztölpels«. S. 161. 84 Auf den prozessualen Charakter des Sprachursprungs und dessen kulturphilosophischen und anthropologischen Implikationen sowohl hinsichtlich einer individuellen als auch einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung bei Herder verweist auch Cord Friedrich Berghahn. Er arbeitet die anthropologische Komponente der Sprachursprungsschrift als den entscheidenden Aspekt heraus, durch den sie Moses Mendelssohns Interesse fand. So betont bereits Mendelssohn den Aspekt der Prozessualisierung der Sprachbildung in seiner Rezension der Sprachursprungsschrift. Vgl. Berghahn, Cord Friedrich: »Mythologische Nationalgesänge vom Ursprunge«. Biblische Poesie, Judentum und europäische Gegenwart bei Johann Gottfried Herder und Moses Mendelssohn, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 57 (2007), S. 113 – 133, hier S. 117 f.

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von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, die im Folgenden näher betrachtet werden soll. 1.2.3 Mündlichkeit oder Schriftlichkeit – Sprache oder Bild? Sprache ist in ihrem Ursprung – das wird hier ganz unmissverständlich klar – für Herder gesprochene Sprache, zu der sich die Schrift als sekundäres, ergänzendes Phänomen verhält. Damit argumentiert er von der gleichen Grundprämisse aus wie sein Kontrahent Süßmilch. Es gibt jedoch noch einen anderen Text Herders, der um die Ursprungsthematik als solche kreist und dabei auch das Thema des Sprachursprungs nicht unberücksichtigt lässt: Die Rede ist von der oben bereits erwähnten Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts. Zu der Sprachursprungskonzeption, wie sie in der Abhandlung über den Ursprung der Sprache entworfen wird, steht das Modell der Ältesten Urkunde in einem eigentümlichen, nicht zu übersehenden Spannungsverhältnis. Vergleicht man die auf Mündlichkeit beruhende Konzeption des Sprachursprungs aus der Preisschrift mit dem Schriftlichkeitsprimat, wie Herder es in der Ältesten Urkunde propagiert, so lässt sich eine Bruchstelle in Herders Denken aufdecken. In seiner Sprachursprungsschrift sieht Herder noch ganz dezidiert die sich auf der Grundlage von akustischen Zeichen entwickelnde phonetische Sprache als den Beginn menschlichen Sprechens an. In der Ältesten Urkunde hingegen erscheint die auf dem Bildschriftmodell beruhende Schöpfungshieroglyphe als Ausgangspunkt der Sprachentstehung, die wiederum eine gleichzeitige und gemeinsame Ausbildung von Sprache und Schrift nach sich gezogen haben soll.85 Es ist zu bemerken, dass beide Texte nahezu parallel entstanden sind. Wie Ralf Simon nachweisen konnte, hat Herder bereits in einem Brief vom 15. Oktober 1770 an Johann Heinrich Merck von seiner Entdeckung der Schöpfungshieroglyphe berichtet, die Sprachursprungsschrift aber wohl erst am 20. Dezember 1770 bei der Berliner Akademie eingereicht.86 Auf das von Derrida geprägte, dekonstruktivistische Verständnis von Schrift rekurrierend und in Anwendung dekonstruktivistischer Textauslegung, versucht Simon in seinem Aufsatz detailliert und schlüssig nachzuweisen, dass dem auf Reflexion und Merkmalsunterscheidung beruhenden Konzept von gesprochener Sprache, wie Herder es im Sprachursprungsaufsatz entwickelt, bereits subkutan eine ihr systematisch vorausgehende Schrift zugrunde gelegt wird. Ein Argument, das, wie Simon es selbst ausdrückt, aus der »Textlogik und gegen die Textrhetorik« 85 Vgl. Herder, Werke, Bd. 5, S. 276. 86 Vgl. Simon, Ralf: Die Nachträglichkeit des Ursprungs. Zu Herders ›Sprachursprungsschrift‹, Älteste Urkunde, Theorie der Ode, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 45 (2000), S. 217 – 242, hier S. 232.

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angeführt wird. Mag es auch plausibel sein, dass der Mündlichkeit des Sprachursprungsaufsatzes von ihrer argumentativen Logik her eine inhärente Schriftlichkeit inne wohnt, so vermag dieses Argument eines nicht: das auffällige Spannungsverhältnis zwischen Herders These von der Vorzeitigkeit der gesprochenen Sprache aus der Sprachursprungsschrift und der nahezu zeitgleich entwickelten These vom Primat der Schriftlichkeit aus der Ältesten Urkunde zu erklären. Auch gelingt es dieser Argumentation nicht, die unterschiedlichen thematischen Kontexte in den Blick zu nehmen, in die die Sprachursprungsschrift einerseits und die Hieroglyphenkapitel der Ältesten Urkunde andererseits eingebettet sind. Bei der erstgenannten Schrift handelt es sich um eine philosophische Abhandlung, in der es um die anthropologischen Voraussetzungen der Sprachentwicklung geht. Die letztgenannte aber ist ein religionswissenschaftlicher Text, in dem es um weit mehr geht als bloß um den Ursprung der Sprache: Es geht um die Aufdeckung des Ursprungs jeglicher menschlicher Kultur und Wissenschaft, begründet aus der Religion heraus. Daneben gibt es einen weiteren Aspekt innerhalb dieser beiden Sprachursprungsdiskurse, der die Grundlage für die unterschiedliche Bewertung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit bildet: gemeint ist das durchaus unterschiedliche Bildverständnis. Wie aber operiert Herder in seiner Preisschrift mit dem Bildbegriff ? Bild oder Bilder zeigen, ohne selbst näher analysiert zu werden, den scheinbar vorreflexiven und vorsprachlichen Wahrnehmungszustand an, der eng an das Empfinden gekoppelt ist, in dem der Mensch aber noch nicht über – nach dem Leibnizschen Modell – deutliche Erkenntnis verfügt. Die Bilder bieten sich in einem »schwebenden Traum«87 dar ; sie markieren damit einen vorbewussten Zustand, in dem es nicht möglich ist, bestimmte Merkmale eines Gegenstands festzuhalten. Das Festhalten »eines Bildes« hingegen markiert den Übergang zum reflexiven Denken, welches jedoch letztendlich über Sprache zu erfolgen hat. Der Gesichtssinn, der dem Geist die Bilder der visuellen Wahrnehmung zuführt, erweist sich für die Sprachentwicklung – wie oben bereits erläutert wurde – als wenig geeignet. Begründet wird dies mit der Überkomplexität von Bildern: Das Bild zeichnet sich, wie auch später noch in Lessings Kunsttheorie zu sehen sein wird, durch die Simultaneität und Synthetizität der sich in ihm darbietenden Eigenschaften und Merkmale der Gegenstände aus. Diese hohe Komplexität des Bildes erschwert das Differenzieren zwischen einzelnen Merkmalen, da sich diese gerade innerhalb eines hochkomplexen, vielschich87 Vgl. Herder, Werke, Bd.1, S. 722; Während in der Sprachursprungsschrift davon die Rede ist, dass es von Reflexion zeugt, wenn der Mensch es vermag »aus dem ganzen schwebenden Traum der Bilder, die seine Sinne vorbeistreichen« einzelne Merkmale abzusondern, der Bildzustand also zu überwinden ist, heißt es in der Ältesten Urkunde durchaus positiv konnotiert über die Hieroglyphen: »Und da sind wir im wahren Land der Träume«. (Herder, Werke, Bd. 5, S. 365).

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tigen Relationsgefüges darbieten. Somit liefert das Bild eine Informationsfülle, die sich einem Kategorisieren durch den menschlichen Geist immer wieder aufs Neue zu entziehen scheint. Aus diesem Grund setzt das am Beginn der Sprachentwicklung stehende Unterscheiden von einzelnen Merkmalen, so die These der Sprachursprungsschrift, bei den akustischen – nicht bei den visuellen – Erscheinungen der Gegenstände ein. Im Entwurf der Schöpfungshieroglyphe hingegen, wie Herder ihn in der Ältesten Urkunde entwickelt, wird die Komplexität des Bildes gerade als strukturell geordnete gedacht, wodurch sie als Träger eines in höchst komprimierter Form konzentrierten Wissens erscheint.88 Diesem epistemischen Zeichen wohnt das Potential inne, der menschlichen Sprach- und Schriftentwicklung Modell zu stehen. Diese Schöpfungshieroglyphe, die sich aus den Grundelementen der Natur zusammensetzt und – wie Ralf Simon äußerst plausibel herausgearbeitet hat – auf einer Konzeption von Schriftlichkeit beruht, wird von Herder als dem menschlichen Sprechen und Schreiben vorausgehendes, göttliches Zeichensystem gedacht. Herder ist es möglich, in der Ältesten Urkunde diese Konzeption der Hieroglyphe zu entwickeln, indem er die Natur in ihrer visuell-wahrnehmbaren Erscheinung nicht mehr als ungeordnetes, vorreflexives »Traumbild« bestimmt, sondern ihr eine ebenso komplexe wie vollkommene Ordnungsstruktur unterstellt. Die Natur, die sich in der Sprachursprungsschrift dem Menschen als undifferenzierte sinnliche Erscheinung darbietet, wird in der religionsgeschichtlichen Abhandlung zum Ort göttlicher Offenbarung. Der Bildbegriff wird von Herder für beide Erscheinungsweisen bemüht – für das vorreflexive »Traumbild« der Sprachursprungsschrift ebenso wie für die Schöpfungshieroglyphe der Ältesten Urkunde. Diese beiden unterschiedlichen Verwendungsweisen des Bildbegriffs treffen in Herders Schrift Über Bild, Dichtung und Fabel unmittelbar zusammen. Auch hier beschreibt Herder wieder ganz ähnlich wie in der Sprachursprungsschrift, dass die vorreflexive, visuelle Wahrnehmung noch keinerlei Erkenntnisse biete. Lediglich seine Terminologie zur Beschreibung des reflexiven Erkennens eines wahrgenommenen Gegenstands variiert. Was in der Sprachursprungsschrift als »Wort«, als Beginn der Sprache bezeichnet wird – das Festhalten und Strukturieren eines Bildes – belegt Herder in seiner Schrift Über Bild, Dichtung und Fabel ebenfalls mit dem Bildbegriff. Auch hier beschreibt er ausführlich den

88 Vgl. zum strukturalen Ordnungsmuster der Schöpfungshieroglyphe als »bildlich-figuralem Grundschema« auch Ralf Simons Ausführungen in seinem Versuch einer bildkritischen Literaturwissenschaft: Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 134 – 140. Allerdings folgt die Argumentation dieser Arbeit nicht Simons Vorschlag, die Sprachursprungsschrift mit Hilfe der Schöpfungshieroglyphe zu deuten, sondern verweist auf die Differenzen der jeweiligen Bildkonzeption der beiden Schriften.

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Übergang von der vorreflexiven visuellen Wahrnehmung zum durch das menschliche Denkvermögen strukturierten Bild: In dem Walde sinnlicher Gegenstände, der mich umgibt, finde ich mich nur dadurch zurecht und werde über das Chaos der auf mich zudringenden Empfindungen Herr und Meister, daß ich Gegenstände von andern trenne, daß ich ihnen Umriß, Maß und Gestalt gebe, mithin im Mannigfaltigen mir Einheit schaffe und sie mit dem Gepräge meines inneren Sinnes, als ob dieser ein Stempel der Wahrheit wäre, lebhaft und zuversichtlich bezeichne. Unser ganzes Leben ist also gewissermaßen eine Poetik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen Bilder. Die Gottheit hat sie uns auf einer großen Lichttafel vorgemalt; wir reißen sie von dieser ab und malen sie uns durch einen feinern, als den Pinsel der Lichtstrahlen in die Seele. Denn das Bild, das sich auf der Netzhaut deines Auges zeichnet, ist der Gedanke nicht, den du von seinem Gegenstande dir zueignest; dieser ist bloß ein Werk deines innern Sinnes, ein Kunstgemälde der Bemerkungskraft deiner Seele.89

Es ist dieses reflexiv verarbeitete und damit erst eigentlich hervorgebrachte Bild, das sich mit der Erkenntnis des Gegenstandes deckt. Das, was Herder in der Preisschrift (nicht zuletzt sicher der Fragestellung nach dem Sprachursprung geschuldet) als erstes Wort, als Beginn der Sprache bezeichnet, belegt er hier mit dem Bildbegriff. Es ist diese Vorstellung von einem in sich strukturierten, geordneten Bild, die auch dem Bildbegriff der Schöpfungshieroglyphe inne wohnt. Führt man diese beiden Textstellen aus der Sprachursprungsschrift und aus Über Bild, Dichtung und Fabel zusammen, so scheinen Bild und Wort bei Herder zur Deckung zu kommen, oder, anders ausgedrückt: die Logik der Schöpfungshieroglyphe findet sich bestätigt – beim Bild nimmt die Sprache in Herders Denken ihren Anfang.

2.

Erkenntnistheoretische Grundlagen der Sprach- und Bildtheorie

Neben der Sprachtheorie ist die Erkenntnistheorie die zweite philosophische Disziplin, die für die Fragestellung dieser Arbeit relevant ist. Spielt die Sprache, die etwa in der Erkenntnistheorie des Engländers John Locke eine zentrale Stellung einnahm, bei den für die Frühromantiker wichtigen Philosophen des Idealismus, Kant und Fichte, nur eine untergeordnete bis gar keine Rolle, so ist es in ihren Schriften das Bild, das zum tragenden Konzept avanciert. Diese erkenntnistheoretisch-mentalen Bildmodelle sollen nachfolgend rekonstruiert werden. Den Abschluss des Kapitels bildet Fichtes Sprachursprungsaufsatz, der 89 Herder, Werke, Bd. 4, S. 635.

Erkenntnistheoretische Grundlagen der Sprach- und Bildtheorie

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als Bindeglied zwischen erkenntnistheoretischen und zeichentheoretischen Konzeptionen zu lesen ist.

2.1

Immanuel Kant – Das Bild zwischen Vorstellung und Anschauung

In der gesamten Kantischen Philosophie spielen Reflexionen über Sprache so gut wie keine Rolle – Kant hat nie eine zusammenhängende Sprachtheorie oder ausführliche sprachtheoretische Betrachtungen niedergelegt. Ein bemerkenswertes Phänomen, wenn man bedenkt, dass er eine äußerst umfangreiche und nachhaltig prägende Erkenntnistheorie hinterlassen hat und Sprache nicht nur das Medium ist, in dem Erkenntnis intersubjektiv kommunizierbar wird, sondern bei vielen seiner Vorgänger und Zeitgenossen auch als die Grundvoraussetzung jeglicher reflexiver Operationen im menschlichen Geist überhaupt gilt – etwa bei Leibniz, Locke oder Herder. Gerade in seinen Kritiken aber wird das Phänomen der Sprache überhaupt nicht problematisiert.90 Einzelne Textstellen aus Kants Schriften, in denen Sprache zum Thema wird, sind verschiedentlich in der Forschung zusammengestellt und untersucht worden.91 Die zentrale Beobachtung, die aus diesen Studien hervorgeht, besteht in der Feststellung, dass für Kant Sprache und Begriffe deutlich voneinander unterschieden sind, wobei die Sprache die Gedankeninhalte – die Begriffe also – häufig recht unzureichend bezeichne. Markis legt in seiner Untersuchung der kantischen Philosophie dar, dass es Kant darum ging, die Philosophie und ihre Kategorien unabhängig von Sprache zu erklären. Die Veranschaulichung ebenso der Vernunft- wie der Verstandesbegriffe soll hingegen über eine visuelle Darstellung geleistet werden.92 Ein Aspekt, der in der folgenden Betrachtung das zentrale Thema bilden 90 Vgl. Gipper, Helmut: Das Sprachapriori, Sprache als Voraussetzung menschlichen Denkens und Erkennens, Stuttgart-Bad Cannstatt 1987, S. 96. 91 Vgl. ebd., S. 95 – 115. Aus der schmalen Forschung zu diesem Thema stellt Gipper die wichtigsten Werke zusammen und skizziert deren Inhalt in seiner eigenen Studie knapp. 92 Vgl. Markis, Dimitrios: Das Problem der Sprache bei Kant, in: Dimensionen der Sprache in der Philosophie des deutschen Idealismus, hrsg. v. Brigitte Scheer u. Günter Wohlfahrt, Würzburg 1982, S. 110 – 154. Problematisch erscheint allerdings Markis’ methodisches Vorgehen, wonach er nach dem Vorbild der Tiefenpsychologie eine als verdrängt postulierte Kantische Sprachtheorie zu rekonstruieren versucht: »Kant hat keine explizite Sprachphilosophie hinerlassen. Kants philosophischer Diskurs beruht auf einer mißglückten Verdrängung der Sprache. Kants Äußerungen über Sprache sind ›Spuren‹, Symptome dieser Verdrängung. Kants ›implizite‹, ›unbewußte‹, ›verdrängte‹ Sprachphilosophie rekonstruieren, heißt, diese Verdrängung rückgängig machen.« (Markis, Das Problem der Sprache bei Kant, S. 111). Legt Markis wichtige Beobachtungen zu Kants (bildlicher) Zeichenkonzeption vor, die seinem Modell der Vorstellungen zugrunde liegt, so sind seine daraus abgeleiteten Ausführungen über Kants ›implizite‹ Sprachphilosophie kritisch zu hinterfragen. Der von Markis übersehene, entscheidende Aspekt scheint darin zu bestehen, dass – wie sich noch

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wird. Kant problematisiert nicht das Zeichensystem, in dem der Mensch seine Begriffe repräsentiert, wohl aber ist für ihn das Verhältnis zwischen Begriff und sinnlicher Anschauung von zentraler Bedeutung. 2.1.1 Der Bildbegriff der Kritik der reinen Vernunft Zunächst soll der erkenntnistheoretische Bildbegriff der Kritik der reinen Vernunft herausgearbeitet werden. Eine zentrale erkenntnistheoretische Frage, die Kant in seiner ersten Kritik behandelt, befasst sich mit der Verbindung zwischen der sinnlichen Anschauung und den geistigen Begriffen. Für Kant muss es eine Relation zwischen den durch die unteren Erkenntnisvermögen der Sinne und der Einbildungskraft hervorgebrachten Anschauungen einerseits und den abstrakten Begriffen der oberen Erkenntnisvermögen der Vernunft und des Verstandes andererseits geben. Die Kompatibilität beider sieht er durch die ästhetischen Kategorien von Raum und Zeit gewährleistet, denen die Anschauungen ebenso unterliegen wie die Begriffe.93 Zur Beschreibung dieser Relation zwischen Anschauung und Begriff arbeitet Kant mit dem Konzept des Schematismus,94 welches wiederum mit dem Bildbegriff operiert. In der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft von 1781 gibt er noch – anders als in der zweiten Auflage – eine Bestimmung dessen, was er unter »Bild« versteht. Das Bild stellt für ihn demnach die durch die Einbildungskraft bewirkte Synthese des Mannigfaltigen der Anschauung dar.95 Demnach ist die gegebene sinnliche Anschauung nicht an sich schon Bild, sondern sie muss erst durch das Erkenntnisvermögen des Menschen in der Vielfältigkeit ihrer Relationen und Zusammenhänge als Einheit erfasst werden. Diese Einheit erst ist das Bild: Das erste, was uns gegeben wird, ist Erscheinung, welche, wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt […]. Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüthe an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nöthig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. Es ist also in uns ein thätiges Vermögen der zeigen wird – das Bild in Kants Kritiken im Gegensatz zur Sprache und im Gegensatz zu seinen Ausführungen zum Bezeichnungsvermögen in seiner Anthropologie weniger als Zeichen, denn als ein Erkenntnisvermögen verstanden wird. 93 Der Begriff der ›Ästhetik‹ wird in der Kritik der reinen Vernunft noch ganz in seiner ursprünglichen Bedeutung von sinnlicher Wahrnehmung gebraucht und wird hier – anders als in der dritten Kritik – noch nicht auf Phänomene und Gegenstände der Kunst angewandt. 94 Kants Schematismus-Kapitel ist in der Forschung vielfach kontrovers diskutiert worden. Für die Frage nach dem Bildbegriff bei Kant ist diese Debatte allerdings weniger von Interesse. Einen Überblick über die Schematismus-Debatte liefert die Dissertation von Stamatios Gerogiorgakis: Die Rolle des Schematismuskapitels in Kants Kritik der reinen Vernunft, Krumbach (Schwaben) 1998. 95 Vgl. Kant, KrV, A 120 f.

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Synthesis dieses Mannigfaltigen, welches wir Einbildungskraft nennen, und deren unmittelbar an den Wahrnehmungen ausgeübte Handlung ich Apprehension nenne. Die Einbildungskraft soll nämlich das Mannigfaltige der Anschauung in ein Bild bringen; vorher muß sie also die Eindrücke in ihre Thätigkeit aufnehmen, d.i. apprehendiren.96

Dieser im Bild als Einheit erkannten sinnlichen Anschauung, so Kant, korrespondiert ein Begriff. Auch den Verstandesbegriff definiert Kant als die »reine synthetische Einheit des Mannigfaltigen überhaupt«97. Diese Übereinstimmung zwischen Verstandesbegriff und Anschauung wird dadurch gewährleistet, dass auch die Verstandesbegriffe an den formalen Bedingungen der Sinnlichkeit a priori orientiert sind, ohne die sie nicht auf irgend einen Gegenstand der Anschauung angewendet werden könnten.98 Die Vermittlung erfolgt durch die Schemate, bei denen es sich – anders als beim Bild – nicht um einzelne Anschauungen handelt, sondern um die Regel der formalen Bedingung der Sinnlichkeit, die den Verstandesbegriffen zugrunde liegt: »Wir wollen diese formale und reine Bedingung der Sinnlichkeit, auf welche der Verstandesbegriff in seinem Gebrauch restringiert ist, das Schema dieses Verstandesbegriffs […] nennen.«99 Während also das Schema, das durch die Einbildungskraft hervorgebracht wird, nur die reinen, formalen Bedingungen der Sinnlichkeit enthält, ist das Bild auf der konkreten (empirischen) sinnlichen Anschauung gegründet. Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Product der Einbildungskraft; aber indem die Synthesis der letzteren keine einzelne Anschauung, sondern die Einheit in der Bestimmung der Sinnlichkeit allein zur Absicht hat, so ist das Schema doch vom Bilde zu unterscheiden. […] In der That liegen unsern reinen sinnlichen Begriffen nicht Bilder der Gegenstände, sondern Schemate zum Grunde.100

Kant gibt ein Beispiel: Unter den Begriff der Triangel lassen sich eine Vielzahl von Gegenständen subsumieren, die in ihren individuellen Ausprägungen höchst verschieden sind, aber dennoch die Grundregeln des Gegenstandes »Triangel« erfüllen. Diese Grundregeln können in ihrer Allgemeinheit allein im Schema festgelegt werden, welches als rein geistiger Gegenstand an den formalen Bedingungen der Sinnlichkeit orientiert ist, ohne eine konkret sinnlichempirische Gestalt zu haben. Das Bild hingegen gründet in einer solchen konkreten, empirischen Erscheinung; es ist daher immer individuell und eignet sich somit nicht zur Repräsentation einer durch allgemeine, gemeinsame sinnliche

96 97 98 99 100

Kant, KrV, A 119 f., Hervorhebung Y.A. Vgl. KrV, B 177. Vgl. KrV, B 178 f. KrV, B 179. KrV, B 179 f.

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Regeln bestimmten Klasse von Gegenständen, die der Begriff – hier der Triangel – bezeichnet. Dem Begriffe von einem Triangel überhaupt würde gar kein Bild desselben jemals adäquat sein. Denn es würde die Allgemeinheit des Begriffs nicht erreichen, welche macht, daß dieser für alle, recht- oder schiefwinklichte u. gilt, sondern immer nur auf einen Theil dieser Sphäre eingeschränkt sein. Das Schema des Triangels kann niemals anderswo als in Gedanken existiren, und bedeutet eine Regel der Synthesis der Einbildungskraft in Ansehung reiner Gestalten im Raume.101

Damit kann ein Bild auch nur den sinnlichen Verstandesbegriffen entsprechen. Von den drei Arten von Verstandesbegriffen, die Kant unterscheidet – den empirischen, den reinen sinnlichen (darunter fallen etwa Begriffe der Geometrie) und den reinen Verstandesbegriffen, gibt es für letztere, da sie keine sinnliche Komponente haben, kein Bild, das ihnen entspricht.102 Deren Schema macht allein möglich, dass sie auf sinnliche Gegenstände angewendet werden können, ohne dass es für sie ein Bild auf der Ebene der sinnlichen Anschauungen gäbe. [D]as Bild ist ein Product des empirischen Vermögens der productiven Einbildungskraft, das Schema sinnlicher Begriffe (als der Figuren im Raume) ein Product und gleichsam ein Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Begriffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, verknüpft werden müssen und an sich demselben nicht völlig congruiren. Dagegen ist das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas, was in gar kein Bild gebracht werden kann[.]103

Das Bild kann nach Kants Erkenntnistheorie also lediglich auf die sinnlichen (empirischen wie reinen sinnlichen) Verstandesbegriffe angewandt werden. Dennoch ist die Vermittlung zwischen Verstandesbegriff und sinnlicher Anschauung, repräsentiert durch das Bild, in seiner Erkenntnistheorie ein zentrales Anliegen. Diese Vermittlung wird durch die Einbildungskraft geleistet und es wird noch zu zeigen sein, dass mit der Höherbewertung der Einbildungskraft auch eine Höherbewertung des Visuellen gegenüber dem sprachlichen Zeichen einhergeht. Die Lehre vom Schematismus bezieht sich wohlgemerkt nur auf die Verstandesbegriffe. In Bezug auf die Ideen der Vernunft operiert Kant mit dem Symbolbegriff. Da den Ideen der Vernunft keine sinnliche Anschauung entsprechen kann, bezieht die Urteilskraft vermittels der Analogie eine Anschauung dergestalt auf die Ideen der Vernunft, dass die gleiche Regel der Reflexion auf beide angewendet werden kann: Die Urteilskraft wendet »die bloße Regel der 101 KrV, B 180. 102 KrV, B 181. 103 KrV, B 181.

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Reflexion über jene Anschauung auf einen ganz anderen Gegenstand, von dem der erstere nur das Symbol ist«104, an. Kants erkenntnistheoretischer Symbolbegriff entspricht dem literatur- und kunstwissenschaftlichen Begriff der Allegorie, die mit Hilfe von Analogiebeziehungen abstrakten Begriffen eine bildliche Darstellung zuführt. Als Beispiel dient ihm die Handmühle, die zur symbolischen Darstellung eines despotischen Staates herangezogen wird. Die Kunstwissenschaft bezeichnet diese Art und Weise der Versinnbildlichung einer abstrakten Idee durch einen konkreten, dinglichen Gegenstand, dessen Eigenschaften analogisch auf jene der Idee bezogen werden, als Allegorie.105 Von den zwei Formen der »Hypotypose« (versinnlichende Darstellung), die Kant beschreibt, der schematischen und der symbolischen,106 ist es allein letztere, die für die ästhetische Urteilskraft sowie für die Veranschaulichung des Schönen und Erhabenen eine Rolle spielt. Während die Vernunftidee als reiner Begriff aufgefasst wird, dem keine Anschauung entsprechen kann, entwirft Kant in der Kritik der Urteilskraft mit der ästhetischen Idee das Pendant dazu. Diese lässt sich nur darstellen, ohne dass ihr ein Begriff je völlig korrespondieren könnte.

2.1.2 Darstellbarkeit versus Begrifflichkeit in der Kritik der Urteilskraft Während Kant in der Kritik der reinen Vernunft den Begriff der Ästhetik noch ganz in seiner ursprünglichen Bedeutung als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung gebraucht,107 entfaltet er in der Kritik der Urteilskraft unter dem Begriff der Ästhetik seine Kunsttheorie. Zunächst soll die Urteilskraft in das philosophische System der Kritiken 104 KU, B 256. 105 Fragt man nach der kognitiven Leistung der Kunst – ihrem Vermögen also, im Rahmen ihrer bildlichen Darstellungsform abstrakte Begriffe oder Ideen zur Anschauung zu bringen – so ist es in der Tat die Allegorie, die – wie weiter unten noch zu sehen sein wird – auch bei den führenden Kunsttheoretikern des 18. Jahrhunderts, etwa bei Winckelmann, Lessing oder Mendelssohn, zur Beschreibung der Begriff-Darstellungs-Relation in der Kunst herangezogen wird. 106 KU, B 254 f.: »Alle Hypotyopose (Darstellung, subjectio sub adspectum) als Versinnlichung ist zweifach: entweder schematisch, da einem Begriffe, den der Verstand faßt, die correspondierende Anschauung gegeben wird; oder symbolisch, da einem Begriffe, den nur die Vernunft denken und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche unterlegt wird, mit welcher das Verfahren der Urtheilskraft demjenigen, was sie im Schematisieren beobachtet, bloß analogisch ist, d.i. mit ihm bloß der Regel dieses Verfahrens, nicht der Anschauung selbst, mithin bloß der Form der Reflexion, nicht dem Inhalte nach übereinkommt.« (KU, B 254 f.). 107 Vgl. Wieland, Wolfgang: Die Erfahrung des Urteils. Warum Kant keine Ästhetik begründet hat, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 604 – 623, hier S. 607 f.

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eingeordnet werden. Die Urteilskraft stellt das noch fehlende Bindeglied zwischen den beiden in den ersten Kritiken untersuchten Bereichen der Philosophie dar : dem praktischen und dem theoretischen, oder anders gesprochen, dem Verstand und der Vernunft. Während der Verstand Aufschluss über die sinnlich wahrnehmbaren Dinge der Natur gibt und sie durch Naturbegriffe beschreibt, hat die Vernunft, deren Erkenntnisvermögen sich auf Freiheitsbegriffe gründet, nur »übersinnliche«,108 also geistige Ideen zum Gegenstand. Das Bindeglied zwischen diesen beiden Bereichen der Erkenntnis besteht für Kant in der Urteilskraft. In der Kantischen Erkenntnistheorie werden diese drei Erkenntnisvermögen (Vernunft, Verstand, Urteilskraft) auf drei grundlegende Vermögen des Geistes bezogen (bei Kant Seelenvermögen oder Vermögen des Gemüts genannt). Diese unterscheidet er in Erkenntnisvermögen (im engeren Sinn), Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungsvermögen. Die Erkenntnisvermögen ordnet er jeweils als gesetzgebendes Vermögen einem solchen Geistesvermögen zu: dem Verstand das Erkenntnisvermögen, der Vernunft das Begehrungsvermögen und der Urteilskraft das Gefühl der Lust und Unlust.109 Kant beginnt seine Kritik der Urteilskraft mit einer Differenzierung des zentralen Untersuchungsgegenstands selbst – der Urteilskraft. Er unterscheidet zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft und entwickelt ausgehend von der letzteren eine fortlaufende Deduktion, die in mehreren Schritten das jeweilige Geistesvermögen oder dessen Gegenstand wiederum in binäre Oppositionen aufteilt. Als deren Unterscheidungsgrundlage dient ihm die Zweckbezogenheit, also die Abhängigkeit von einem Begriff. Diese Deduktion entwickelt sich als eine fortschreitende Emanzipation vom Begrifflichen. Insofern die ästhetische Urteilskraft sowie die ihr korrespondierenden Gegenstände der Kunst vom Begrifflichen unabhängig sind, stellen sie den Zielpunkt dieser Deduktion dar. Die Grundunterscheidung in reflektierende und bestimmende Urteilskraft beruht auf der Richtung der kognitiven Operation, in der Allgemeines und Besonderes miteinander in Beziehung gesetzt werden. Subsumiert die Urteilskraft ein Besonderes unter das gegebene Allgemeine, so ist sie bestimmend; ist aber das Besondere gegeben, wozu das Allgemeine gefunden werden soll, so ist sie reflektierend.110 Letztere wird wiederum in ästhetische und teleologische

108 Die Kant’sche Wortwahl bietet den Vorzug, bereits am Wortstamm den Gegensatz zur Sphäre der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände anzuzeigen. 109 Vgl. KU, B XXII – XXV. Problematisch ist die doppelte Verwendung des Begriffs des Erkenntnisvermögens – einmal beschreibt er eine übergeordnete Kategorie, daneben meint er auch das dem Verstand zugeordnete Vermögen des Gemüts allein. 110 Vgl. KU, B XXVI. Zur Unterscheidung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft

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Urteilskraft unterschieden.111 Das Unterscheidungskriterium liegt, wie bereits erwähnt, in der Abhängigkeit beziehungsweise Unabhängigkeit vom Begrifflichen. So ist es die ästhetische Urteilskraft, die allein auf die Form des Gegenstands, nicht auf dessen Existenz, dessen Zweck als Ding an sich, gerichtet ist. Das Gemütsvermögen, das mit ästhetischen Urteilen einhergeht, ist das Gefühl der Lust und Unlust. Ihr Bestimmungsgrund ist damit, insofern er auf einem Gefühl beruht, subjektiv. Innerhalb der ästhetischen Urteile differenziert Kant erneut zwischen empirischen und reinen ästhetischen Urteilen. Wieder ist die Abhängigkeit bzw. Unabhängigkeit vom Begrifflichen das Unterscheidungskriterium. Während erstere auf sinnlicher Wahrnehmung beruhen – also Sinnesurteile sind – und eine Aussage über Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit eines Gegenstandes machen, sind letztere allein auf die Form des Gegenstands bezogen und machen damit eine Aussage über die in ihm in Erscheinung tretende Schönheit. Nur die reinen ästhetischen Urteile sind Geschmacksurteile im engeren Sinn.112 Das Geschmacksurteil zeichnet sich dadurch aus, dass es die Vorstellung nicht mit Hilfe des Verstandes mit einem Objekt abgleicht – also Begriff und Objekt miteinander in Beziehung setzt –, sondern sie durch die Einbildungskraft auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, das durch dieselbe erregt wird. Dieses mit dem subjektiven Urteil einhergehende Gefühl der Lust oder der Unlust kann nie zu einer Erkenntnis erhoben werden; es drückt allein die Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes aus, ohne auf einen bestimmten Zweck gerichtet zu sein.113 Das Geschmacksurteil ist also nicht auf Erkenntnis gerichtet.114 Insofern setzt es auch keinen Begriff von dem Objekt voraus. Da der

111 112 113

114

vgl. Feger, Hans: Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers, Heidelberg 1995, S. 91 – 114. Zur Unterscheidung von ästhetischer und teleologischer Urteilskraft vgl. ebenfalls Feger, Die Macht der Einbildungskraft in der Ästhetik Kants und Schillers, S. 114 – 126. Vgl. KU, B 39. Eine ausführliche Darstellung von Kants Analytik des Geschmacksurteils findet sich bei Hans Feger, Die Macht der Einbildungskraft, S. 142 – 174. Vgl. Kant, KU, B XLIII: »Dasjenige Subjective aber an einer Vorstellung, was gar kein Erkenntnißstück werden kann, ist die mit ihr verbundene Lust oder Unlust; denn durch sie erkenne ich nichts an dem Gegenstande der Vorstellung, obgleich sie wohl die Wirkung irgendeiner Erkenntniß sein kann. Nun ist die Zweckmäßigkeit eines Dinges, sofern sie in der Wahrnehmung vorgestellt wird, auch keine Beschaffenheit des Objects selbst (denn einen solche kann nicht wahrgenommen werden), ob sie gleich aus einem Erkenntnisse der Dinge gefolgert werden kann. Die Zweckmäßigkeit also, die vor dem Erkenntnisse eines Objects vorhergeht, ja sogar, ohne die Vorstellung desselben zu einem Erkenntniß brauchen zu wollen, gleichwohl mit ihr unmittelbar verbunden wird, ist das Subjective derselben, was gar kein Erkenntnißstück werden kann. Also wird der Gegenstand alsdann nur darum zweckmäßig genannt, weil seine Vorstellung unmittelbar mit dem Gefühle der Lust verbunden ist; und diese Vorstellung selbst ist eine ästhetische Vorstellung der Zweckmäßigkeit.« Vgl. KU, B 3 f.

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Bestimmungsgrund nicht im Objekt selbst liegt, spielt dessen Existenz auch keine Rolle, sondern ausschließlich dessen Beurteilung in der Betrachtung (Anschauung oder Reflexion).115 Die Betrachtung gründet also auf keinem Interesse an der Existenz des Gegenstands und wird somit als interesselos bezeichnet. Der Bestimmungsgrund des ästhetischen Urteils wird als subjektiv angenommen. Der Gemütszustand, der für das ästhetische Urteil leitend ist, beruht auf dem Zusammenspiel der Vorstellungskräfte, das entsteht, wenn die Vorstellung von einem Gegenstand auf Erkenntnis als solche, nicht aber auf eine begrifflich bestimmte Erkenntnis bezogen wird. Durch die Vorstellung werden Erkenntniskräfte in Bewegung versetzt, die aber nicht sogleich wieder durch eine begriffliche Festlegung im Zaum gehalten werden, sondern sich in freiem Spiel entfalten können. Dieses freie Spiel der Erkenntniskräfte vollzieht sich zwischen der Einbildungskraft, die das Mannigfaltige der Anschauung zusammenfügt, einerseits und dem Verstand, der die Vorstellungen mit Hilfe von Begriffen vereinigt, andererseits.116 Obwohl das ästhetische Urteil subjektiv ist, erhebt es dennoch Anspruch auf Allgemeingültigkeit, die sich aus dem Spiel der Erkenntnisvermögen herleitet, welches durch den Gegenstand in Gang gesetzt wird: Eben so macht derjenige, welcher in der bloßen Reflexion über die Form eines Gegenstandes ohne Rücksicht auf einen Begriff Lust empfindet, obzwar dieses Urtheil empirisch und ein einzelnes Urteil ist, mit Recht Anspruch auf Jedermanns Bestimmung: weil der Grund dieser Lust in der allgemeinen obzwar subjectiven Bedingung der reflectierenden Urtheile, nämlich der zweckmäßigen Übereinstimmung eines Gegenstandes (er sei Product der Natur oder der Kunst) mit dem Verhältniß der Erkenntnißvermögen unter sich, die zu jedem empirischen Erkenntniß erfordert werden (die Einbildungskraft und des Verstandes), angetroffen wird.117

Die Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, die in dem freien Spiel der Erkenntniskräfte hervortritt, wird mit dem Prädikat »schön« belegt.118 So werden auch die Geschmacksurteile nochmals in zweifacher Weise von 115 116 117 118

Vgl. KU, B 5 f. KU, B 28 f. KU, B XLVI f. Neben dem Schönen wird auch das Angenehme und das Gute als auf das Gefühl der Lust und der Unlust bezogen beschrieben – beide aber sind nicht interesselos. Das Angenehme ist mit Interesse verbunden, da es auf einer Empfindung beruht, die auf den Gegenstand bezogen ist, so dass an diesem Gegenstand als solchem Interesse besteht. Das Gute hingegen gefällt, weil es vermittels der Vernunft als auf einen Begriff bezogen wird – somit ist auch hier der Gegenstand selbst, insofern er mit einem Begriff in Übereinstimmung gebracht wird, relevant und das Wohlgefallen beruht auf einem bestimmten Interesse (Vgl. KU, B 7 – 11).

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dem Wohlgefallen am Angenehmen und am Guten unterschieden, welches jeweils mit einem Interesse am Gegenstand verbunden ist.119 Das Geschmacksurteil im engeren Sinn ist auf das Schöne gerichtet. Auch das Schöne differenziert Kant erneut nach dem bereits geläufigen Kriterium der Begriffsbezogenheit. Freie Schönheit setzt keinen Begriff von dem Gegenstand voraus, auf den sie sich bezieht. Anhängende Schönheit hingegen setzt einen solchen Begriff voraus; ihr Maßstab ist die Vollkommenheit des Gegenstandes diesem Begriff entsprechend.120 »In der Beurtheilung einer freien Schönheit […] ist das Geschmacksurtheil rein«121. Die Einbildungskraft wird nicht durch die Bezogenheit auf einen Begriff in ihrer freien Tätigkeit eingeschränkt. Sobald ein Zweck des Gegenstandes in dem Urteil Berücksichtigung findet, ist es von einem Begriff des Gegenstands abhängig und damit kein reines Geschmacksurteil mehr.122 Soweit ist herausgestellt worden, dass der Geschmack und das Schöne nicht von Begriffen abhängen. Solange es bei dieser Definition ex negativo von Geschmack und Schönem bleibt, erscheinen sie unbestimmt. Kant führt jedoch ein dem Begriff entsprechendes, gegenläufiges Prinzip in seine Abhandlung ein: die Darstellung. Mit Hilfe der Darstellung konkretisiert er die Beschaffenheit des Schönen. Da ein reines Geschmacksurteil von keinem Begriff abhängt, kann auch kein auf Begriffen beruhendes Prinzip des Geschmacks gefunden werden. Das höchste Muster, das »Urbild des Geschmacks«, kann nur Idee sein. Hier diffe119 120 121 122

Vgl. KU, B 7 – 14. Vgl. KU, B 48 f. KU, B 49. Vgl. KU, B 50 – 52. Es ist wichtig zu beachten, dass die Interesselosigkeit auf den Zweck des Gegenstands bezogen ist. Kulenkampff wird Kants Konzept der Interesselosigkeit nicht gerecht, wenn er schreibt: »Gegen den Gedanken einer interesselosen Lust am Schönen kann sich schon im Ansatz folgendes Bedenken melden: Ist es wirklich so, daß unser Wohlgefallen am Schönen ein solches interesseloses Wohlgefallen ist? Ist es nicht vielmehr so, daß das Wohlgefallen am Schönen den Betrachter durchaus dazu motiviert, die Betrachtung fortzusetzen oder zu wiederholen?« (Kulenkampff, Kants Logik des ästhetischen Urteils, S. 77) Kulenkampff lässt hier völlig unberücksichtigt, dass es bei der Interesselosigkeit um den Bezug des Gegenstandes auf einen bestimmten Zweck geht. Der Gegenstand wird nicht als schön bezeichnet, weil er einem bestimmten Zweck dient und damit einem bestimmten Begriff entspricht, sondern lediglich aufgrund seiner Zweckmäßigkeit ohne Zweck, durch die die Erkenntnisorgane bei seiner Betrachtung in Harmonie versetzt werden. Das Gefühl der Lust oder des Wohlgefallens entsteht durch die Betrachtung des Gegenstands, diese Lust beruht jedoch auf der Zweckmäßigkeit des Gegenstands, nicht auf einem bestimmten Zweck. Dass Kulenkampffs Interpretation, die eher an einem psychologischen Lustbegriff orientiert ist, Kants Verständnis des interesselosen Wohlgefallens verfehlt, belegt schon die Tatsache, dass er die Problematik des Zwecks und der Zweckmäßigkeit überhaupt nicht berücksichtigt und in seiner Darstellung des ästhetischen Urteils gänzlich unerwähnt lässt. (Vgl. Kulenkampff, Jens: Kants Logik des ästhetischen Urteils, Frankfurt am Main 21994, bes. S. 65 – 87).

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renziert Kant wiederum die Begriffe Idee und Ideal: »Idee bedeutet eigentlich einen Vernunftbegriff und Ideal die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens.«123 Da das Urbild des Geschmacks nicht durch Begriffe, sondern nur durch Darstellungen vorgestellt werden kann, schlägt Kant vor, vom Ideal des Schönen zu sprechen. Hervorgebracht wird dieses durch die Einbildungskraft.124 Entsprechend wird die Einbildungskraft als dem zentralen, im Urteil wirksamen Erkenntnisvermögen, neben den beiden begrifflichen Vermögen der Vernunft und des Verstandes als das Vermögen der Darstellung bezeichnet. Kant fragt nun nach dem methodischen Weg, über den ein solches Ideal gefunden werden kann – empirisch oder a priori? Um diese Frage zu klären, erläutert Kant das Wirken der Einbildungskraft beim Vollzug eines ästhetischen Urteils. Aufgrund ihres Vermögens sowohl Zeichen für Begriffe als auch Bilder für Gegenstände zu reproduzieren, ist es der Einbildungskraft möglich, diese nebeneinander zu stellen und so das Mittelmaß, welches als Ideal gilt, zu finden. Innerhalb des Ideals aber differenziert Kant wiederum zwischen der ästhetischen Normalidee als einer Anschauung der Einbildungskraft von der Gestalt des Gegenstandes und der Vernunftidee, die dessen Zweck festlegt. Die Normalidee ist damit das vom Zweck unabhängige Moment des Ideals, das aus der Erfahrung rekonstruiert werden muss. Das Bild, das dieser Normalidee entspricht, wird als ästhetische Idee bezeichnet: Die Normalidee muß ihre Elemente zur Gestalt eines Thiers von besonderer Gattung aus der Erfahrung nehmen; aber die größte Zweckmäßigkeit in der Construction der Gestalt, die zum allgemeinen Richtmaß der ästhetischen Beurtheilung jedes Einzelnen dieser Species tauglich wäre, das Bild, was gleichsam absichtlich der Technik der Natur zum Grunde gelegen hat, dem nur die Gattung im Ganzen, aber kein Einzelnes abgesondert adäquat ist, liegt doch bloß in der Idee des Beurtheilenden, welche aber mit ihren Proportionen als ästhetische Idee, in einem Musterbilde völlig in concreto dargestellt werden kann.125

Zwar kann kein einzelnes Exemplar der Gattung dieser ästhetischen Idee entsprechen, jedoch ist es möglich, sie in einem »Musterbild« konkret darzustellen. Kant skizziert recht ausführlich, wie die Einbildungskraft ein solches Bild entwirft: Es ist anzumerken: daß, auf eine uns gänzlich unbegreifliche Art die Einbildungskraft nicht allein die Zeichen für Begriffe gelegentlich, selbst von langer Zeit her, zurückzurufen; sondern auch das Bild und die Gestalt des Gegenstandes aus einer unaussprechlichen Zahl von Gegenständen verschiedener Arten aber auch einer und der123 KU, B 54. 124 Vgl. KU, B 54 f. 125 KU, B 56.

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selben Art zu reproducieren; ja auch, wenn das Gemüth es auf Vergleichungen anlegt, allem Vermuthen nach wirklich, wenn gleich nicht hinreichend zum Bewusstsein, ein Bild gleichsam auf das andere fallen zu lassen und durch die Congruenz der mehrern von derselben Art, ein Mittleres herauszubekommen wisse, welches allen zum gemeinschaftlichen Maß dient.126

Im Rahmen des Erkenntnisprozesses parallelisiert Kant das Bild zunächst mit Zeichensystemen, die Begriffe denotieren – im weitesten Sinne also mit Schrift. Diesem einfachen Bild korrespondiert ein bestimmter, individueller Gegenstand. In Vergleichung dieser Bilder – durch Herausarbeiten ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschiede – vermag die Einbildungskraft ein neues Bild hervorzubringen, das keinen Gegenstand repräsentiert, sondern als künstlich generiertes Bild dem Mittelwert von einer Vielzahl von Einzelbildern entspricht, bei denen es sich um die Abbilder verschiedener Einzelgegenstände handelt. Dieses als Ideal bezeichnete Bild versteht Kant als das »Urbild« der Gegenstände, das diesen tatsächlich zugrunde liegen würde: Diese Normalidee ist nicht aus von der Erfahrung hergenommenen Proportionen, als bestimmten Regeln, abgeleitet; sondern nach ihr werden allererst Regeln der Beurteilung möglich. Sie ist das zwischen allen einzelnen, auf mancherlei Weise verschiedenen, Anschauungen der Individuen schwebende Bild für die ganze Gattung, welches die Natur zum Urbilde ihren Erzeugungen in derselben Species unterlegte, aber in keinem einzelnen völlig erreicht zu haben scheint.127

Die Vorstellung von der Normalidee, wie Kant sie hier entwirft, oszilliert eigentümlich zwischen platonischer Ideenlehre und aristotelischer Substanzenlehre. Mit der Vorstellung vom »Urbild«, das den einzelnen Individuen zugrunde liegt, ohne je ganz mit diesem übereinzustimmen, orientiert sich die Erklärung an den platonischen Ideen, die den Gegenständen der Wirklichkeit vorausgehen und diese übertreffen. Die Rekonstruktion dieser Normalidee durch den menschlichen Geist hingegen erfolgt nach dem Modell der aristotelischen Substanzenlehre, die das Wesen eines Gegenstands unter Abzug der Akzidenzien aus den Einzelerscheinungen abstrahiert. Im Ideal des Gegenstands muss hingegen diese ausschließlich auf das Formale des Gegenstands bezogene Normalidee um die Vernunftidee, die seinen Zweck angibt, ergänzt werden: Von der Normalidee des Schönen ist doch noch das Ideal desselben unterschieden, welches man lediglich an der menschlichen Gestalt aus schon angeführten Gründen erwarten darf. An dieser nun besteht das Ideal in dem Ausdrucke des Sittlichen, ohne

126 KU, B 57. 127 KU, B 58 f.

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welches der Gegenstand nicht allgemein und dazu positiv (nicht bloß negativ in einer schulgerechten Darstellung) gefallen würde.128

Von einer reinen Schönheit kann es daher kein Ideal geben, lediglich von einer anhängenden Schönheit, da die ihr inhärente Zweckmäßigkeit zur Bestimmung des Ideals erforderlich ist.129 Der einzige Gegenstand aber, der seinen Zweck voll und ganz in sich selbst trägt und daher zu einem Ideal der Schönheit fähig ist, ist für Kant der Mensch. Nach der Betrachtung des einzigen Gegenstands, der eines Ideals des Schönen fähig ist – des Menschen also – wendet sich Kant den beiden anderen zentralen Gegenstandsbereichen von Geschmacksurteilen zu: der Natur und der Kunst. Erst an dieser Stelle geht seine philosophische Ästhetik in eine Kunstphilosophie im engeren Sinne über. Kant unterscheidet hinsichtlich ihrer zweckmäßigen Gebundenheit zwischen Geschmacksurteilen bezüglich der Naturschönheit und solchen bezüglich der Kunstschönheit. Seine Unterscheidung zwischen anhängender und freier Schönheit weist an dieser Stelle einige Inkonsequenzen auf. War die Zweckgebundenheit eines Urteils bezüglich der Naturschönheit zuvor nicht stark genug, um eines Ideals fähig zu sein,130 so spricht er hier – von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, bei denen Natur als Zier und damit als Kunst erscheint – von einem das Geschmacksurteil des Naturschönen begleitenden Interesse am Gegenstand selbst.131 Schließt ein Geschmacksurteil bezüglich eines Gegenstands der Natur neben dem Gefallen an der Form auch ein Gefallen am Dasein des Gegenstandes mit ein, so entfällt letzteres bezüglich des Kunstschönen. Daher verbindet sich bei der Naturanschauung ein moralisches Gefühl mit dem Geschmacksurteil; es wird ein Urteil des moralischen Sinns gefällt, welches vom Geschmacksurteil bedingt ist. Das mit der Betrachtung der Natur einhergehende Interesse ist auf das moralisch Gute gerichtet.132 In diesem Zusammenhang spricht Kant auch von der Chiffrenschrift der Natur, durch welche »die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht.«133 Deren Deutung beruht genau auf jener Verbindung von Geschmacksurteil und moralischem Urteil. Die Kunst134 zieht kein solches Interesse nach sich, da sie entweder auf Nachahmung der Natur beruht oder ihrem Zweck nach zum Wohlgefallen des 128 129 130 131 132 133 134

KU, B 59 f. KU, B 55 f. Vgl. KU, B 54 f. KU, B 166 – 168. Vgl. KU, B 166 – 69. KU, B. 170. Kunst differenziert Kant wiederum in Handwerk und Kunst im eigentlichen Sinn, wobei sich letztere in freiem Spiel entfaltet, während ersteres auf einem beschwerlichen Entstehungsprozess beruht. (KU, B 175 f.).

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Menschen geschaffen wurde und somit kein weiteres Interesse bedingen kann. Indem die Kunst die Natur (der Form nach) nachahmt, reproduziert sie allein deren ästhetischen Gehalt; die Sache selbst, die das moralische Urteil bedingt, ist in der Nachahmung – da es sich eben um Nachahmung und nicht um die Sache selbst handelt – nicht mehr von Belang. Das Kunstschöne wird also in einem reinen ästhetischen Urteil bewertet. Der entscheidende Unterschied zwischen der Naturschönheit und der Kunstschönheit besteht jedoch darin, dass die Kunst ein vom Menschen geschaffenes Produkt ist. Damit genügt es nicht, dass der Mensch über die Fähigkeit verfügt, diese zu beurteilen; es bedarf überdies eines Vermögens, Kunst hervorzubringen. Zur Beurteilung schöner Gegenstände genügt Geschmack. Die Hervorbringung schöner Gegenstände aber erfordert Genie. Erneut widerspricht sich Kant an dieser Stelle hinsichtlich der Zweckbezogenheit ästhetischer Urteile über Gegenstände der Natur und der Kunst. So heißt es jetzt, dass in der Naturschönheit die schöne Form ohne Kenntnis des Zwecks gefällt, man also keinen Begriff von dem Gegenstand zu haben braucht, um ihn zu beurteilen. Bei der Beurteilung des Kunstschönen hingegen muss sein Begriff bekannt sein, da die Hervorbringung des Kunstschönen selbst mit in die Beurteilung einbezogen werden muss, die Hervorbringung eines Gegenstandes aber nicht ohne einen Begriff von demselben möglich ist.135 Kant sucht daraufhin nach einem Vermögen des Gemüts, welches das Genie ausmacht. Ein solches Vermögen ist für ihn der Geist. Geist wiederum in ästhetischer Bedeutung versteht er als das belebende Prinzip des Gemüts. Und dieses Prinzip ist das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen.136 Nun behaupte ich, dieses Princip sei nichts anders, als das Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen; unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. – Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer Vernunftidee sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine Anschauung (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein kann.137

Geist – oder Genie138 – besteht demnach in dem Vermögen, eine ästhetische Idee zur Darstellung zu bringen. Der ästhetischen Idee, die sich aufgrund ihrer Unabhängigkeit von einem Gegenstand durch Zweckfreiheit auszeichnet, wird so 135 136 137 138

KU, B 187 f. Vgl. KU, B 192. KU, B 192 f. Das Genie wiederum gilt Kant als keine Fähigkeit, die erworben werden könnte, es ist für ihn ein von Natur gegebenes Talent. Demgemäß stellt er die These auf, dass im Genie die Natur der Kunst die Regeln gibt. Genie ist dabei dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegengesetzt. (Vgl. KU, B 181).

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nachträglich in der Darstellung ein Zweck beigegeben. Kunstschönheiten sind also nichts anderes als Darstellungen ästhetischer Ideen. Das Kunstschöne ist damit der einzige Gegenstand, der nicht auf einem festen Begriff beruht. Darüber hinaus trifft Kant im obigen Zitat auch eine klare Unterscheidung zwischen ästhetischer Idee und Vernunftidee bezüglich ihrer medialen Repräsentierbarkeit. Neu ist bei Kant, dass er auch die visuelle Komponente eigens würdigt und feststellt, dass die ästhetische Vorstellung eine Eigendynamik hat, die sich nicht vollends in begrifflicher Sprache fassen lässt, während im Gegenzug der Vernunftbegriff einer vollkommenen Veranschaulichung entbehren muss. Die Einbildungskraft wird als produktive Erkenntniskraft beschrieben, die fähig ist, eine andere Natur aus dem Stoff zu schaffen, die die erste Natur ihr vorgibt. Kant spricht in diesem Zusammenhang von Ideen der Einbildungskraft. Der Dichtkunst schreibt er das Vermögen zu, Vernunftideen sinnlich darzustellen, womit es die Dichtkunst ist, in der sich das Potential ästhetischer Ideen am besten entfalten kann. Damit erinnert Kants Verständnis von Dichtkunst an die Konzepte der Allegorie, die in der Aufklärungsästhetik vor allem auch für die Malerei von Belang wurden. Auch Kant spricht von den – für die Allegorie so wesentlichen – Attributen eines Gegenstands, die die Einbildungskraft der Vernunftidee hinzufügt, um sie in einem Gegenstand adäquat darstellen zu können. Anwendung finden diese Attribute nach Kant sowohl in der Dichtkunst als auch in der bildenden Kunst.139 Hier zeigt sich, dass Kant noch klar zwischen der Vernunftidee einerseits und den Elementen eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes andererseits unterscheidet. Die Attribute erfüllen in dem von ihm vorgelegten Konzept alleine eine Funktion in Bezug auf die sinnliche Darstellung des Gegenstandes, ohne die dieser unvollkommen wäre; nicht aber stehen sie für ihn in Bezug zu der Vernunftidee und deren Visualisierung. Ein Verständnis von Attributen, das in den bereits drei Jahrzehnte früher erschienenen kunsttheoretischen Schriften Winckelmanns und – in dessen Nachfolge – bei Mendelssohn und Lessing ein grundlegend anderes ist und die Funktion der Attribute für die Verbildlichung abstrakter Ideen bereits deutlich herausarbeitet.140 Für Kants erkenntnistheoretischen Zugang zur Bildlichkeit spielt das Verhältnis zwischen den durch die Vernunft hervorgebrachten, klar umrissenen Begriffen einerseits und der nie ganz festlegbaren, mit Hilfe der Einbildungskraft hervorgebrachten, ästhetischen Idee andererseits die zentrale Rolle: Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine einem gegebenen Begriffe beigestellte Vorstellung der Einbildungskraft, welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit der Theilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein 139 KU, B 195. 140 Vgl. Kap. II.3: Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild.

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Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzu denken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnißvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet.141

Die Sprache als bloßer Buchstabe ist dem bestimmten Begriff zuzuordnen, während in der ästhetischen Idee derselbe in einer Weise erweitert wird, die sich sprachlich nicht fassen lässt. Im Genie wirken daher Verstand als begriffsgebende Instanz und Einbildungskraft als den Begriff erweiternde Instanz zusammen. Bei dem auf einer ästhetischen Idee beruhenden, schönen Gegenstand als Pendant zur Vernunftidee ist die symbolische Relation zwischen Anschauung und Begriff im Vergleich zur Vernunftidee und der ihr symbolisch zugeordneten Anschauung genau entgegengesetzt. Wie oben bereits gezeigt wurde, entspricht der Vernunftidee keine Anschauung, während der ästhetischen Idee als reiner Darstellung kein Begriff entspricht. In der Kritik der reinen Vernunft hat Kant die Lösung des Problems für die Idee der Vernunft bereits dahingehend aufgezeigt, dass ihr symbolisch – qua Analogie – eine Anschauung zugeordnet wird. Auf ebensolche Weise wird der Darstellung des Schönen als reiner Anschauung vermittels eines analogen Bezugs ein Begriff zugeordnet. Dieser Begriff kommt, so Kant, aus dem Bereich des Sittlichen.142 Neben dieser allgemeinen Bestimmung der ästhetischen Ideen und des Schönen, nimmt Kant in seiner Kritik der Urteilskraft auch eine Einteilung der Künste vor. Dabei knüpft er an den durch Lessings Laokoon-Schrift bereits allgemein verbreiteten Bruch mit dem ut-pictura-poesis-Prinzip an. Er nimmt seine Einteilung jedoch weniger aus kunsthistorischen, denn aus erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten vor. Kant teilt die Künste nach dem verwendeten Kommunikationsmedium – Sprache, Gebärde, Ton – in redende Kunst, bildende Kunst und »Kunst des Spiels der Empfindungen« ein.143 Mit moderner philosophischer Terminologie gesprochen beziehen sich die beiden erstgenannten Gattungen auf intentionale Gegenstände, während sich in letztgenannter Qualia artikulieren.144 Diesen drei Kunstformen werden in einer Binnendifferenzierung verschiedene Gattungen zugewiesen. Unter die redenden Künste subsumiert Kant die Rhetorik und die Dichtkunst. Während der Verstand in ersterer die Vorrangstellung hat und ihm die Einbildungskraft Hilfsmittel ist, so ist in letzterer die 141 142 143 144

KU, B 197. Vgl. KU, B 258. Vgl. KU, B 204 f. Kant schlägt auch eine alternative Einteilung vor, die zwischen solchen Künsten unterscheidet, die Gedanken ausdrücken (redende Künste) und Künsten der Anschauung. Letztere würden wiederum nach ihrer Form oder ihrer Materie (Empfindungen) eingeteilt.

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Einbildungskraft das dominante Geistesvermögen, das sich den Verstand dienstbar macht.145 In der Dichtkunst wirkt das freie Spiel der Einbildungskraft. Die bildenden Künste, welche die Ideen in sinnlich wahrnehmbaren Anschauungen ausdrücken, unterteilt Kant in jene der Sinnenwahrheit, zu welchen er die Plastik und die Architektur zählt,146 und jene zweite des Sinnenscheins – die Malerei.147 Zur dritten Gattung, der Kunst des schönen Spiels der Empfindungen, rechnet Kant sowohl die Musik als auch die Farbe. Auffallend ist, dass er in Fortsetzung der Unterscheidung von Disegno und Kolorit die Malerei selbst in zwei Gattungen unterteilt, wobei er nur die Zeichnung unter die bildenden Künste rechnet, während die Farbe, der kein intentionaler Ausdruckswert beigemessen wird, mit der Musik unter die dritte Gattung fällt.148 Schließlich wirft Kant noch einen Seitenblick auf die Künste, die eine Kombination verschiedener Gattungen darstellen und ein synästhetisches Moment bergen. Hierzu rechnet er die Oper, den Tanz oder das Schauspiel, ohne ihnen jedoch nähere Aufmerksamkeit zu schenken.149 Ihre Bewertung bemisst sich danach, inwiefern sie als Darstellung sittlicher Ideen zu verstehen sind, oder aber nur der Zerstreuung dienen. Sodann nimmt Kant auch eine Hierarchisierung unter den verschiedenen schönen Künsten vor, wobei er der Dichtung eindeutig den Vorrang zuspricht, während Musik und bildende Künste je nach Perspektive den zweiten und dritten Platz untereinander aufteilen. Die Vorrangstellung der Dichtkunst begründet er damit, dass in ihr in höchstem Maße das Genie wirksam würde. In ihr erlangt die Einbildungskraft die Freiheit, in den Schranken eines gegebenen 145 Kant schreibt über das Verhältnis von Rhetorik und Poesie: Die »Beredsamkeit ist die Kunst, ein Geschäft des Verstandes als ein freies Spiel der Einbildungskraft zu betreiben; Dichtkunst, ein freies Spiel der Einbildungskraft als ein Geschäft des Verstandes auszuführen.« (KU, B 205). 146 Der Gattung der Plastik ordnet er sowohl die Skulptur als auch die Architektur zu. Die Skulptur (Bildhauerkunst) ist für Kant die Kunst, die »Begriffe von Dingen, so wie sie in der Natur existieren könnten, körperlich darstellt«, während die Architektur »Begriffe von Dingen, die nur durch Kunst möglich sind, und deren Form nicht die Natur, sondern einen willkürlichen Zweck zum Bestimmungsgrund hat, zu dieser Absicht, doch auch zugleich ästhetisch-zweckmäßig, dar[stellt].« (KU, B 207 f.). Architektur ist also im Gegensatz zur Skulptur an einen Zweck gebunden. 147 Der Malerei rechnet Kant auch die – heute zur Architektur zählende – Gartenkunst zu. Er begründet dies ausgehend von seiner Beschreibung der Malerei als »Sinnenschein« damit, dass in der Gartenkunst die Pflanzen nicht ihrem naturgemäßen Zweck entsprechend verwendet werden, sondern nur zum Schmuck – also zum »Schein« – dienen. Ebenso subsumiert er die angewandten Künste – das Design von Gebrauchsgegenständen – unter die Malerei. 148 Der Vergleich der Farbenlehre mit dem Notensystem der Musik hat ebenfalls eine lange Tradition, die sich bis in die Moderne, etwa in der Kunsttheorie Kandinskys, fortsetzt. 149 Vgl. KU, B 213 f.

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Begriffs Assoziationen zu bilden, die den begrifflich-sprachlichen Ausdruck erweitern und den Begriff so zu einer ästhetischen Idee erheben. Nimmt man zur Kenntnis, dass die Musik als Tonkunst der Sprache am nächsten steht, so folgt sie der Dichtkunst unmittelbar auf dem zweiten Rang. Hinsichtlich ihrer Wirkung auf die Erkenntnisvermögen muss sie diesen jedoch an die auf diesem Gebiet wesentlich effektiveren bildenden Künste abtreten, innerhalb deren Gattungen es die Malerei ist, die die Vorrangstellung einnimmt.150

2.1.3 Kants erkenntnistheoretischer Bildbegriff Das Bild ist bei Kant eine erkenntnistheoretische Kategorie – zwar beruht es auf den Anschauungen sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände, es wird jedoch erst durch die Geistestätigkeit hervorgebracht. Das Bild ist also ein Produkt des menschlichen Geistes. Während in der Anschauung die Wahrnehmungen noch unstrukturiert im Geist vorliegen, ordnet die Einbildungskraft dieselben im Bild zu einem zusammenhängenden, in sich strukturierten und durchgängig bestimmten mentalen Gegenstand. Dem Bild stehen die Produkte von Verstand und Vernunft – Begriffe und Ideen – gegenüber, denen es nur mit Hilfe der zwischengeschalteten Mittlerinstanz des Schemas oder des Symbols zugeordnet werden kann. In der Kritik der Urteilskraft verwendet Kant den Bildbegriff darüber hinaus auch für ein Phänomen, das von der empirischen Anschauung eines Gegenstands verschieden ist: So bezeichnet er die ästhetische Normalidee, die von der Einbildungskraft als das Mittlere aus sämtlichen Bildern der unter eine Gattung subsumierten Gegenstände herausgearbeitet wird, als Muster- oder Urbild. Dieses Bild, dem zunächst kein empirischer Gegenstand entspricht, kann durch das Vermögen des Genies zur Darstellung gebracht werden. Ein Begriff kann diesem Bild jedoch nie völlig korrespondieren. Die Unmöglichkeit, der ästhetischen Idee einen Begriff zuzuordnen, liegt in ihrer hohen Komplexität begründet. Aus den obigen Untersuchungen lassen sich einige grundlegende Merkmale des Bildes rekonstruieren, die zeigen, dass Kants Bildbegriff – obwohl er einen rein mentalen Gegenstand bezeichnet – am materiellen Bild orientiert ist: Aus der Kritik der reinen Vernunft lässt sich zunächst rekonstruieren, dass das Bild der individuellen Anschauung eines Einzelgegenstandes entspricht. Das Bild ist damit konkret und individuell. Die für die ästhetische Idee beschriebene Man150 Vgl. KU, B 215 – 222. Anders als in den kunsttheoretischen Abhandlungen, etwa eines Lessing, eines Mendelssohn oder eines Salomon Maimon, spielen die Zeichenstrukturen, die diesen unterschiedlichen Bezug auf die Geisteskräfte ermöglichen, für Kant noch keine Rolle.

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nigfaltigkeit, die ihre begriffliche Bestimmung verunmöglicht, ist ebenfalls an der Komplexität und durchgängigen Bestimmtheit eines (materiellen) Bildes orientiert, welches einen Gegenstand – anders als die Sprache – nie unter einen Begriff subsumiert, sondern ihn in seiner ganzen Fülle von individuell bestimmten Eigenschaften repräsentiert. Es ist diese Qualität der ästhetischen Idee, die sich einer begrifflich-sprachlichen Bezeichnung immer wieder entzieht und nur in einer (konkreten) Darstellung wiedergegeben werden kann. Den mentalen Gegenständen, die Kant mit dem Bildbegriff belegt, sind also grundlegende Merkmale eigen, die auch das materielle Bild auszeichnen. Zeichentheoretische Überlegungen spielen bei Kant hingegen keinerlei Rolle. Schon die Vorrangstellung, die der Dichtkunst hinsichtlich der Darstellungsmöglichkeiten der im Bild gründenden ästhetischen Ideen zugesprochen wird, belegt, dass es Kant bei seiner Rede vom Bild nicht um die medialen Qualitäten empirischer Gegenstände oder Zeichensysteme geht. In Fichtes früher idealistischer Philosophie findet sich ein ähnlicher, erkenntnistheoretisch verwendeter Bildbegriff, der bei Fichte aber eine ungleich bedeutendere Rolle innerhalb seines philosophischen Systems einnimmt. Ebenso rückt auch Fichtes Kunsttheorie das Bild noch einmal deutlicher ins Zentrum der Argumentation. Beide Verwendungsweisen des Bildbegriffs in Fichtes philosophischen Schriften der 1790er Jahre werden im nächsten Kapitel untersucht.

2.2

Johann Gottlieb Fichte – Das Bild als Bindeglied zwischen Subjekt und Objekt

Der Angelpunkt von Fichtes philosophischem Denken – seine Lehre vom Bild inbegriffen – ist das in den verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehre zugrunde gelegte transzendentalphilosophische System des Idealismus. Zwar gewinnt der Bildbegriff in der letzten Fassung der Wissenschaftslehre von 1812/13 erheblich an Bedeutung, da diese jedoch zunächst nur in einer Reihe von Vorlesungen einer Berliner Hörerschaft mündlich bekannt war und erst 1845, nach Fichtes Tod, publiziert und damit allgemein zugänglich gemacht wurde,151 soll hier allein der Bildbegriff rekonstruiert werden, wie er sich in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 sowie in weiteren in den 1790er Jahren entstandenen Texten zeigt. 151 Vgl. Rohs, Peter : Johann Gottlieb Fichte, München 22007, S. 136 – 138, sowie Fuchs, Erich; Schneider, Peter K.: Einleitung, in: GA II/15, S. VII. Die erste Veröffentlichung dieser letzten Wissenschaftslehre findet sich in den von Immanuel Hermann Fichte herausgegebenen Sämmtlichen Werken von 1845/46. In der Gesamtausgabe findet sich der Text der Wissenschaftslehre von 1812/13 in Band II/15.

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Zentral ist in diesem Zusammenhang eine nur ein Jahr nach Erscheinen der frühen Fassung der Wissenschaftslehre verfasste, ergänzende Schrift, deren Fokus auf der detaillierten Herleitung der Geistesvermögen der Empfindung, der Anschauung und des Bildes liegt. Diese Schrift erscheint im Juli 1795 unter dem Titel Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre in Rücksicht auf das theoretische Vermögen mit dem Zusatz als Handschrift für seine Zuhörer bei Christian Ernst Gabler in Jena und Leipzig.152 Der Grundriß des Eigenthümlichen setzt bei jenen bereits in der Grundlage geklärten Annahmen über das Verhältnis von Ich und Nicht-Ich an, um im Folgenden das Verhältnis von Ich und Objekt näher zu bestimmen und zu erläutern. In dieser Ergänzung spielt das Bild, welches zur tragenden Denkfigur der späten Wissenschaftslehre werden wird, bereits eine entscheidende Rolle. Es ist Fichtes frühe, bereits ausführlich formulierte Konzeption des Bildes, die von den Romantikern rezipiert werden konnte und deren Denken – wie noch zu zeigen sein wird – beeinflusste. Da das Bild bei Fichte ein Geistesvermögen innerhalb seines idealistischen Systems darstellt, kann es nicht ohne die Kenntnis der Grundzüge seiner Philosophie verstanden werden. Eine Untersuchung der Bildthematik kommt daher nicht ohne die Darstellung der Grundprämissen seiner Philosophie aus.

2.2.1 Die Grundkonzeption der Wissenschaftslehre von 1794/95 Fichtes transzendentalphilosophisches System des Idealismus basiert auf einem einzigen Grundsatz. Diesen Grundsatz findet er im Ich und seiner Selbstidentität – das Ich wird als seine eigene Ursache gedacht. Fichtes gesamte Philosophie ließe sich komprimieren in dem Satz: »Das Ich sezt sich selbst«153. Scheint hier auch alles in die Subjektivität gelegt zu sein, so hält Fichte dennoch an dem kanonischen Dualismus von Subjekt und Objekt – Ich und Welt – fest, an dem sich die unterschiedlichsten philosophischen Strömungen über die Jahrhunderte in verschiedenster Weise abgearbeitet haben. Er steht damit vor dem Problem, ein dualistisches Weltbild durch ein einziges Grundprinzip erklären zu wollen. Zu dieser Erklärung hält er ein Set von Begriffen bereit, die alle in dem von ihm konsequent angewendeten »synthetischen Verfahren« gründen. Obwohl er das Ich zum Ausgangspunkt seines Denkens erhebt, distanziert sich Fichte doch explizit von einem empirischen Ansatz – und damit von der unter 152 Vgl. Lauth, Reinhard; Jacob, Hans: Vorwort, GA I/3, S. 131. 153 GA I/2, S. 159. Eine ausführliche Erörterung dieses ersten Grundsatzes findet sich bei Schäfer, Rainer : Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794, Darmstadt 2006, S. 19 – 53. Schäfer diskutiert auch die verschiedenen philosophischen Ansätze, die Fichte als Vorläufer seines idealistischen Systems dienten – so etwa Kant, Reinhold, Spinoza oder Leibniz.

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seinen Zeitgenossen beliebten psychologischen Methode.154 Stattdessen nimmt er den Ausgangspunkt bei der Logik. Da Fichte das Ich als Erklärungsgrundlage seines gesamten idealistischen Systems dienen soll, darf dieses nicht durch ein von ihm unterschiedenes Prinzip verursacht sein. Daraus folgt, dass das Ich sich selbst setzt. Formallogisch wird dies in dem »schlechthin gesetzten Satz« »Ich bin Ich«155 (entsprechend der Formel A=A) ausgedrückt. Dieses »schlechthin Gesetzte« wird als Grund einer Handlung des menschlichen Geistes beschrieben; es muss gesetzt sein und doch auch gesetzt werden. Dies fällt im Ich als dem ersten Grund in eins. Es ist zugleich handelnd und Produkt der Handlung.156 Darüber hinaus muss auch das Setzen der Außenwelt erklärt werden. Auf diese Außenwelt, auch als Nicht-Ich bezeichnet, zielt der zweite von Fichte bestimmte unbedingte Grundsatz, der formallogisch durch die Formel -A ¼ 6 A ausgedrückt wird. In seinem transzendentalphilosophischen System heißt das, Ich und NichtIch sind einander entgegengesetzt. Ein Gegensetzen, welches hier postuliert wird, bedarf aber der Beziehung auf ein Setzen, sonst könnte es kein Gegensetzen sein. Daraus wird gefolgert, dass dem Ich als dem setzenden Prinzip grundsätzlich ein Nicht-Ich entgegengesetzt ist.157 Da es sich bei dem Ich um das einzige tätige Grundprinzip handelt, ist es auch das Ich, das sich das Nicht-Ich entgegensetzt. Diese beiden Grundsätze enthalten bereits die beiden zentralen Elemente der Fichteschen Philosophie – das Ich und das Nicht-Ich – und definieren deren Verhältnis zueinander. Um das Ich als einziges Prinzip zu erhalten, einen sekundären Dualismus also zu verhindern, müssen die beiden Entgegengesetzten – Ich und Nicht-Ich – im Ich wieder vereinigt werden. Im Folgenden stellt sich die Frage, wie sich Ich und Nicht-Ich zusammen denken lassen, ohne dass sie sich gegenseitig aufheben. Dieses Problem wird zunächst durch den logischen Schluss gelöst, dass sowohl das Ich als auch das Nicht-Ich als teilbar gesetzt werden, und zwar im Ich selbst. Auf eine Formel 154 Vgl. z. B. Karl-Philip Moritz’ Schriften zur Erfahrungsseelenkunde; grundlegend z. B. Moritz, Karl-Philipp: Vorschlag zu einem Magazin einer Erfahrungs-Seelenkunde, in: ders.: Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Heide Hollmer u. Albert Meier, Frankfurt am Main 1999, hier: Bd. 1: Dichtungen und Schriften zur Erfahrungsselenkunde, S. 791 – 809. Moritzens Bemühungen um eine Grundlegung der empirischen Psychologie, die insbesondere durch die von ihm herausgegebene Zeitschrift CMYHI SAUTOM oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde befördert werden sollte, wird noch heute in der Fachgeschichtsschreibung als ein wichtiger Wegbereiter der modernen Psychologie betrachtet. Vgl. Schönpflug, Wolfgang: Geschichte und Systematik der Psychologie, Weinheim 2000, S. 208 f. 155 GA I/2, S. 159. 156 GA I/2, S. 259 – 261. 157 GA I/2, S. 265 f. Fichte bezeichnet diese beiden ersten Grundsätze als dem Gehalt nach bedingt, während der folgende der Form nach bedingt sei. Vgl. auch hierzu ausführlich Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794, S. 54 – 104.

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gebracht heißt das: A zum Teil = -A. Möglich wird dieses im Ich gesetzte Verhältnis zwischen Ich und Nicht-Ich durch die beiden voneinander abhängigen Handlungen des Verbindens und des Entgegensetzens, die von Fichte als synthetisches und antithetisches Verfahren bezeichnet werden.158 In der Reflexion, in der die beiden Handlungen des Verbindens und Entgegensetzens ablaufen, sind sie untrennbar aneinander gekoppelt. Ziel ist es, zwei Entgegengesetzte so lange miteinander zu verbinden, bis absolute Einheit entsteht.159 Im Rahmen dieser Konzeption ist die Frage zu klären, wie Ich und Nicht-Ich aufeinander einwirken können. An dieser Stelle des Fichteschen Systems kommt nun das für sein gesamtes philosophisches Konzept zentrale Prinzip der Wechselwirkung und das mit ihr verbundene Geistesvermögen der Einbildungskraft ins Spiel. Im Zusammenhang mit der Konzeption der Wechselwirkung findet auch – wie noch im Einzelnen erläutert werden wird – das Vermögen des Bildes Eingang in Fichtes Philosophie. Das synthetische Verfahren der Wechselwirkung, der das geistige Vermögen der Einbildungskraft entspricht, synthetisiert auf unterschiedlichen Ebenen immer wieder die beiden entgegengesetzten Pole von Ich und Welt. Das Prinzip der Wechselwirkung beruht auf der Voraussetzung, dass ins Ich alle Tätigkeit gesetzt ist; dies schließt mit ein, dass das Ich auch sein Leiden, seine Einschränkung durch das Nicht-Ich also, selbst setzt. Innerhalb dieser einen Tätigkeit, die in sich ihre Gegenkraft birgt, findet damit die Wechselwirkung statt.160 Allerdings erkennt Fichte auch ein Leiden im Nicht-Ich an, das nicht durch eine Tätigkeit im Ich bestimmt wird und umgekehrt. In beiden finden sich demnach unabhängige Tätigkeiten, auf die der Begriff der Wechselwirkung somit nicht anwendbar ist. Von der Wechselwirkung unterscheidet Fichte ein Wechsel-Tun und -Leiden, durch die die unabhängigen Tätigkeiten mittelbar verbunden sind. Es muss also die Möglichkeit des Übergangs zwischen beiden – ein Beziehungsgrund – gegeben sein. Fichte führt an dieser Stelle die unabhängige Tätigkeit des Wechsels ein, die er als Einbildungskraft bestimmt.161 Der Grundgedanke ist, dass keines von beiden – weder Ich noch Nicht-Ich – allein das andere bestimmen soll, sondern beide sich gegenseitig bestimmen. 158 Vgl. GA I/2, S. 267 – 273. Im antithetischen Verfahren werden durch Vergleichen die Merkmale gesucht, in denen sich A und B unterscheiden; das synthetische Verfahren sucht nach Merkmalen, die zwei Entgegengesetzten gleich sind. 159 GA I/2, S. 274 – 276. 160 Vgl. GA I/2, S. 288 – 298. Einen ausführlichen Kommentar dieser Konzeption legt Schäfer vor (Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre‹ von 1794, S. 127 – 130). 161 Vgl. GA I/2, S. 302 – 315. Vgl. auch hier Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794, S. 130 f.

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Die absolute Totalität definiert Fichte als »A bestimmt durch A+B« (nicht A, auch nicht A+B).162 Ich und Nicht-Ich sollen gleichzeitig und ganz gedacht werden – zu denken ist also ihr Zusammentreffen, das zugleich ihren Vereinigungspunkt bildet. Diese Grenze zwischen beiden wird von der Einbildungskraft zu einem Moment ausgebaut. Allerdings setzt die Einbildungskraft dadurch keine feste Grenze, denn sie hat keinen festen Standpunkt. Sie schwebt in der Mitte zwischen zwei zu vereinenden Entgegengesetzten und macht dadurch deren Vereinigung erst möglich.163 Die Einbildungskraft setzt überhaupt keine feste Grenze, denn sie hat selbst keinen festen Standpunkt; nur die Vernunft setzt etwas festes, dadurch, daß sie erst selbst die Einbildungskraft fixiert. Die Einbildungskraft ist ein Vermögen, das zwischen Bestimmung, und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem, und Unendlichem in der Mitte schwebt; […].164

Da das Schweben das konstitutive Moment der Einbildungskraft ist und diese sich nie in einem anderen als diesem Zustand befindet, bringt sie auch ihr Produkt durch die Schwebe und in der Schwebe hervor.165 Dieses Produkt ist die Vereinigung von Ich und Nicht-Ich.166 Der Geist kann alleine im Zustand des Schwebens die Paradoxie einer Synthese der Entgegengesetzten (Ich und Nicht-Ich), die doch entgegengesetzt bleiben sollen, verwirklichen. Dieser Schwebezustand, in dem das Vermögen der produktiven Einbildungskraft wirkt, wird von Fichte als Zustand des Anschauens bezeichnet.167 Mit der Anschauung ist bereits der nächste Problemkreis angeschnitten. Ist in der Konzeption der Wechselwirkung das Zusammenspiel von Subjekt und Objekt grundlegend geklärt, so stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, welche Produkte die Einbildungskraft im Moment der Vereinigung hervorbringt. In der Anschauung selbst gründet wiederum ein dichotomes Verhältnis 162 163 164 165

GA I/2, S. 345 f. GA I/2, S. 352 – 360. Vgl. GA I/2, S. 360. Das Konzept der schwebenden Einbildungskraft übte auf die Romantiker eine starke Attraktivität aus und wurde von ihnen vielfach rezipiert. Vgl. dazu Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794, S. 156 f. 166 Im Grundriss des Eigenthümlichen formuliert Fichte über die Funktion der Einbildungskraft: »auf Veranlassung eines bis jetzt noch völlig unerklärbaren, und unbegreiflichen Anstoßes auf die ursprüngliche Thätigkeit des Ich produciert die zwischen der ursprünglichen Richtung dieser Thätigkeit, und der durch die Reflexion entstandene[n] [Richtung, Y.A.] – schwebende Einbildungskraft etwas aus beiden Richtungen zusammengesetztes.« (GA I/3, S. 143). 167 Vgl. GA I/2, S. 367.

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zwischen dem Nicht-Ich des Angeschauten und dem Ich als Anschauendem. Von der Anschauung, die er als ein produktives Vermögen bestimmt, unterscheidet Fichte wiederum die Reflexion. Die Anschauung wird allerdings erst zur Anschauung, indem sie fixiert wird. Die Handlung des Fixierens geht von der Vernunft aus, der es gelingt, die Einbildungskraft festzuhalten. Der Verstand ist schließlich das Vermögen des Festhaltens zwischen Vernunft und Einbildungskraft. Von ihm allein geht Realität aus. In ihm wird das Ideale zum Realen. Dieses Fixieren der schwebenden Einbildungskraft bestimmt Fichte im Grundriß des Eigenthümlichen als das Setzen des Widerstreits im Ich.168 Löst sich dadurch auch der Widerstreit auf, so bleibt doch seine Spur in Form des »Produkt[es] der Vereinigung entgegengesetzter Thätigkeiten«169 übrig. Mit dem Produkt löst sich aber auch etwas vom Ich ab. Die Beziehung, die zwischen dem Ich und dem von ihm getrennten Produkt entsteht, bezeichnet Fichte als Empfindung.170 Fichte bestimmt die Empfindung als »eine Handlung des Ich, durch welche dasselbe etwas in sich aufgefundenes fremdartiges auf sich bezieht, sich zueignet, in sich sezt.«171 Im Grundriss des Eigenthümlichen holt Fichte zur Erklärung der aus dem Gegensatz von Ich und Nicht-Ich resultierenden Phänomene – namentlich der Empfindung, der Anschauung und des Bildes – weiter aus, wo er mit der Denkfigur der Begrenzung operiert, mittels derer das NichtIch im Ich vom Ich unterschieden wird. Erst durch die Begrenzung wird die Reflexion ermöglicht, die als Grundlage des korrelativen Konzepts von Bild und Ding dient.172 Auf diesen als C bezeichneten Grenzpunkt bleiben alle Wechselwirkungen, durch die jegliche geistige Vermögen bewirkt werden, hingeordnet. Die Vermögen der Empfindung, der Anschauung und des Bildes werden sodann nacheinander deduziert, wobei sich eines aus dem anderen ableitet und sie eine graduelle Höherentwicklung von Bewusstseinsstufen darstellen. In der Empfindung wird allein das Faktum der Grenze ins Bewusstsein gehoben – das Ich erfährt sich als begrenzt. Hier setzt die Reflexion des Ich auf sich selbst ein, wodurch es sich »fühlt«. Auf dieser Überlegung basiert die Bestimmung des Gefühls als erster Geistestätigkeit.173 168 Vgl. GA I/3, S. 147. 169 GA I/3, S. 148. 170 Die dadurch aufgehobene Tätigkeit des Ich wird als das Empfundene bestimmt. Das Ich jedoch ist in einer abgeleiteten Handlung des Beziehens tätig, warum es als das Empfindende bezeichnet wird. Vgl. GA 1/3, S. 147 – 150. 171 GA I/3, S. 151. 172 »In C. wird es [das Ich, Y.A.] begrenzt; demnach tritt in C. mit der Begrenzung zugleich die Reflexion des Ich auf sich selbst ein; es kehrt in sich zurück, es findet sich selbst, es fühlt sich, offenbar aber noch nichts ausser sich.« (GA 1/3, S. 167). 173 Fichte unterscheidet die Momente des Strebens und des Gefühls. Beide, das Streben und das Gefühl, gründen in einem Trieb. Der ursprüngliche Trieb ist auf Realität gerichtet. Somit ist das Ich – insofern es durch den Trieb bestimmt ist – durch das Nicht-Ich, die Realität,

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2.2.2 Das Bild als Schaltstelle zwischen Ich und Nicht-Ich Die Anschauung, die »innigst« mit der Empfindung »vereint« ist, bezieht sich auf das Nicht-Ich als den Gegenstand, durch den das Ich begrenzt wird. In der Anschauung wird allein die Tätigkeit des Nicht-Ich als Produkt erfasst, während das Ich sich in der Anschauung als ausschließlich passiv erfährt. Obwohl die Handlung der Anschauung vom Ich ausgeht, ist es ihm nicht möglich, auf die Handlung selbst zu reflektieren. Es reflektiert lediglich auf das Produkt seiner Handlung, und dieses ist das Nicht-Ich, durch welches es sich als begrenzt erfährt. Die Anschauung des Nicht-Ich geht mit einem Gefühl des Zwangs im Ich einher.174 Beide, das angeschaute Nicht-Ich und das fühlende und gefühlte Ich, sollen synthetisch aufeinander bezogen werden, wodurch sie als einander gegenseitig sich bestimmend gesetzt werden. Während sich das Ich in der Empfindung und in der Anschauung noch als rein passiv erfährt, stellt die durch Reflexion zum Bild erhobene Anschauung die Bewusstwerdung des Ich dar, in der es seine aktive Position dem Objekt gegenüber zurückgewinnt. Fichte erklärt dies mit dem Bestreben des Ich, die Beschaffenheit der Dinge durch sich selbst zu begründen. Es fordere Kausalität zwischen seiner geistigen Tätigkeit und den außenstehenden Dingen. An dieser Stelle bringt Fichte eine dritte Stufe der Reflexion ins Spiel, die für das Vermögen des Bildes die entscheidende darstellt: Es entstehe, so Fichte, eine Reflexion des Ich auf eine als bestimmt gegebene Realität, die nur durch die ideale Tätigkeit des Ich, das Vorstellen oder Nachbilden, aufgefasst werden kann.175 Zwischen diesem frei produzierenden Ich einerseits und dem gezwungenen, fühlenden Ich andererseits muss sich ein Beziehungsgrund aufzeigen lassen. Die Pointe liegt für Fichte darin, dass das Ich sowohl das Beziehende als auch der Beziehungsgrund selbst ist, wodurch erst ein endgültiges synthetisches Vereinigen der beiden zu Stande kommen kann. beschränkt (Vgl. GA I/2, S. 430). Die Forderung der praktischen Vernunft zielt nun darauf, dass alles mit dem Ich übereinstimmt, alle Realität durch das Ich gesetzt sein soll. Es geht bei der Bestimmung des Triebes also um die Beziehung der im Ich gegebenen Tendenz einer reinen Tätigkeit auf ein Objekt. Fichte beschreibt dies als das Grundproblem, von dem aus er sein Verständnis vom Gefühl entwickelt: »Alles Setzen des Ich ginge demnach aus vom Setzen eines bloß subjektiven Zustandes; alle Synthesis von einer in sich selbst nothwendigen Synthesis eines Entgegengesetzten im bloßen Subjekte. Dieses bloß und lediglich subjektive wird sich tiefer unten als das Gefühl zeigen.« (GA I/2, S. 401). 174 Vgl. hierzu auch Virginia Lûpez-Dom†nguez, die eine eingehende Analyse des Gefühls in der Grundlage vorgelegt hat: »Das Bewußtsein wird hervorgerufen durch das Gefühl der Begrenztheit des Ich gegenüber der Welt, und in ihm wird das aufgenommen, was das Ich in der vorhergehenden Reihe produziert hat.« (Lûpez-Dom†nguez, Virginia: Die Deduktion des Gefühls in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, in: Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794/95 und der transzendentale Standpunkt, hrsg. v. Wolfgang H. Schrader, Amsterdam, Atlanta 1997, S. 209 – 218, hier S. 210). 175 GA I/3, S. 174.

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Das Ich produziert das Nicht-Ich durch freie Tätigkeit, es kann jedoch nicht zugleich produzieren und auf dieses Produzieren reflektieren. Daher unterbricht es selbsttätig dieses Produzieren, um auf das Produkt dieser Tätigkeit zu reflektieren. Die erste Handlung des Produzierens bricht damit ab, sie ist jedoch noch als Substrat (Produkt) erhalten. Die Form, in der diese beendete Handlung dem Ich vorliegt, ist die einer unmittelbar auf das Objekt gerichteten Anschauung.176 Die Reflexion bedient sich der Anschauung des bis dahin noch unbestimmten Objekts und setzt durch freies Handeln Merkmale, die dieses näher bestimmen. Das anschauende Vermögen schwebt noch zwischen vielen möglichen Bestimmungen, durch die Setzung einzelner dieser möglichen Bestimmungen entsteht das Bild. Fichte fasst diesen Dreischritt von der Selbstreflexion in der Empfindung, über die Anschauung des Objekts bis hin zum Bild präzise zusammen, um letzteres genauer zu erläutern: Ich bin in der ersten Anschauung, der producirenden, verloren in ein Objekt. Ich reflektire zuförderst auf mich selbst, finde mich, und unterscheide von mir das Objekt. Aber noch ist in dem Objekte alles verworren, und unter einander gemischt, und es ist weiter auch nichts, denn ein Objekt. Ich reflektire jetzt auf die einzelnen Merkmale desselben z. B. auf seine Figur, Größe, Farbe, u.s.f. und setze sie in meinem Bewußtseyn. Bei jedem einzelnen Merkmale dieser Art bin ich anfangs zweifelhaft, und schwankend, lege meiner Beobachtung ein willkürliches Schema der Figur etwa zu einem Würfel, das der Größe etwa zu dem einer Faust, da der Farbe etwa zu dem der dunkelgrünen. Durch dieses Uebergehen von einem unbestimmten Produkte der freien Einbildungskraft zu der völligen Bestimmung in einem und eben demselben Akte wird das, was in meinem Bewußtseyn vorkommt, ein Bild, und wird gesezt, als ein Bild. Es wird mein Produkt, weil ich es als durch absolute Selbstthätigkeit bestimmt setzen muß.177

Das Bild entsteht dadurch, dass das Ich auf die Anschauung, in der ihm das Objekt als rein Gegebenes vor Augen steht, zu reflektieren beginnt. Im Prozess dieses Reflektierens nimmt das Ich das Objekt nicht mehr einfach als ein ihm Entgegenstehendes, Unbestimmtes hin, sondern eignet es sich durch Herausarbeitung seiner Eigenschaften aktiv an. Zur Erläuterung dieser Geistestätigkeit operiert auch Fichte mit dem – wohl bei Kant entlehnten – Begriff des Schemas. Das Schema liefert modellhafte, ideale Eigenschaften, die im Abgleich mit dem Objekt diesem zugeschrieben oder abgesprochen werden. Das Bild ist eine durch Urteilen selbsttätig erschlossene Vorstellung von dem Objekt in seiner konkreten Gestalt. Wie oben bereits angedeutet wurde, soll dem vom Ich gesetzten Bild ein bestimmtes, vom Ich unabhängiges, wirkliches Ding entsprechen, an dem sich 176 Schäfer definiert das Objekt bei Fichte als »ein vom Ich als Totum getrennter, entgegengesetzter und entäußerter Teil der Handlung.« (Schäfer, Johann Gottlieb Fichtes ›Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre‹ von 1794, S. 136). 177 GA I/3, S. 179.

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das Ich im Bilden orientiert. Obwohl es sich bei diesem Ding um das Produkt der vorausgehenden Handlung des Ich handelt, ist es in Beziehung auf das Bild nicht mehr als solches zu verstehen. Das zwar ursprünglich vom Ich produzierte Objekt hat mit Abbruch der Produktionshandlung seine Autonomie erlangt. So soll dem Bild, das ebenso vom Ich hervorgebracht wird, »etwas unabhängig von demselben und nach seinen eigenen Gesetzen existierendes entsprechen.«178 Der – auch hier wieder gesuchte – Beziehungsgrund zwischen Bild und Ding ist in einer »völlig bestimmten aber bewußtseynslosen Anschauung des Dings« zu suchen.179 Diese Anschauung, die – wie bereits gesagt wurde – nach Abbruch der Handlung des Produzierens entsteht, wird als »Grund aller Harmonie zwischen Vorstellung und Ding« betrachtet. Sie bildet das Mittelglied zwischen Ding und Bild, nach der das Ich das Bild des Nicht-Ich entwirft.180 Obwohl einerseits festgelegt wurde, dass das Ich das Bild frei bestimmt, soll andererseits auch der Umstand gelten, dass das Bild einem Ding völlig entspricht. Um diesen Widerspruch zwischen frei wirkendem Ich im Bilden und Ding als Maßstab des Bildes aufzulösen, arbeitet Fichte mit folgendem Gesetz: »Es müste ein Bild gar nicht möglich seyn, ohne ein Ding; und ein Ding müste wenigstens in der Rücksicht, in welcher hier davon die Rede seyn kann, d. i. für das Ich, nicht möglich seyn, ohne eine Bild.«181 Das Bild, das das Ich auf das Objekt bezieht, ist vollkommen bestimmt; das Objekt jedoch ist zunächst noch gänzlich unbestimmt. Die einzige Information, die dem Ich durch die Anschauung über das Objekt vorliegt, ist dessen reine Existenz. Dem Objekt kommt damit zunächst nur Sein zu. Erst durch das Beziehen des Bildes auf das Ding wird dieses näher bestimmt: Auf diese Art wird das Ding gesetzt, inwiefern das vollkommen bestimmte Bild darauf bezogen wird. Es ist da ein vollkommen bestimmtes Bild, d. i. eine Eigenschaft, z. B. die rothe Farbe. Es muß ferner, wenn die geforderte Beziehung möglich seyn soll, da seyn ein Ding. Beide sollen synthetisch vereinigt werden durch eine absolute Handlung des Ich; das letztere soll durch die erstere bestimmt werden. […] Das seiner Beschaffenheit nach zufällige Ding aber entdekt sich eben dadurch als ein vorausgesetztes Produkt des Ich, dem nichts zukommt, als das Seyn. Die freie Handlung, und die Nothwendigkeit, daß eine solche freie Handlung vorkomme, ist der einzige Grund des Uebergangs vom unbestimmten zum bestimmten, und umgekehrt.182

Diese Bestimmung des Objekts durch das Bild betrifft die Eigenschaften des Objekts. Das Bild, so verstanden, ist eine Konkretion des Objekts, indem es in allen seinen Qualitäten festgelegt wird. Die Bestimmung dieser Qualitäten wird durch die Einbildungskraft geleistet, die aus dem Pool möglicher Eigenschaften 178 179 180 181 182

GA I/3, S. 181. Vgl. GA I/3, S. 180. Vgl. GA I/3, S. 180 f. GA I/3, S. 182. GA I/3, S. 183.

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durch den Vollzug eines Urteils dem Ding nur die eine bestimmte, ihm zukommende, zuspricht. Das Bild ist also die in allen seinen Eigenschaften bestimmte Vorstellung von dem Objekt: (Wir suchen diesen wichtigen Punkt noch etwas deutlicher zu machen. – In dem Urtheile: A ist roth, kommt vor zuförderst A. Dies ist gesezt; inwiefern es A. seyn soll, gilt von ihm der Satz: A = A; es ist, als A, durch sich selbst vollkommen bestimmt; etwa seiner Figur, seiner Größe, seiner Stelle im Raume nach u.s.f. wie man es sich in dem gegenwärtigen Falle denken kann; ohngeachtet, wie wohl zu merken ist, dem Dinge von welchem wir oben redeten, da es noch gänzlich unbetimmt seyn soll, gar nichts zukommt, als das, daß es ein Ding ist d. h. daß es ist. – Dann kommen im Urtheile vor roth. Dies ist gleichfalls vollkommen bestimmt, d. h. es ist gesezt, als ausschließend alle übrigen Farben, als nicht gelb, nicht-blau, u.s.w. [gerade wie oben und wir haben daher hier ein Beispiel, was durch die vollkommne Bestimmung der Eigenschaft, oder wie wir es auch genannt haben, des Bildes gemeint werde.] Wie ist nun in Rücksicht der rothen Farbe A. vor dem Urtheile? Offenbar unbestimmt. Es können ihm alle Farben, und darunter auch die rothe zukommen. Erst durch das Urtheil, d.i. durch die synthetische Handlung des Urtheilenden vermittelst der Einbildungskraft, welche Handlung durch die Copula ist ausgedrückt wird, wird das unbestimmte bestimmt; es werden ihm alle möglichen Farben, die ihm zukommen konnten, die gelbe, die blaue, u.s.w. durch Uebertragung des Prädikats nicht-gelb nicht-blau, u.s.w. = roth, abgesprochen. – A ist bestimmt, so gewiß geurtheilt wird. Wäre es schon bestimmt, so würde gar kein Urtheil gefällt, es würde nicht gehandelt.)183

Im Rahmen seiner Erläuterung dieser im Ich konstituierten Verbindung zwischen subjektivem Bewusstsein und objektiver Realität rekurriert Fichte bereits in seiner frühen Wissenschaftslehre von 1794/95 auf die Denkfigur des Bildes. Schon hier bestimmt er die Einbildungskraft als das verbindende Vermögen. Hergestellt wird die Verbindung im durch die Einbildungskraft entworfenen Bild. Darüber hinaus wird eine weitere, nur wenigen Menschen zukommende Fähigkeit vorausgesetzt, die darüber entscheidet, ob es möglich ist, dieses flüchtig erkannte Bild zu fixieren: Dies ist nun das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft, und diese – ist ganz gewiß allen Menschen zu Theil geworden, denn ohne sie hätten dieselben auch nicht eine einzige Vorstellung, aber bei weitem nicht alle Menschen haben dieselbe in ihrer freien Gewalt, um durch sie zwekmäßig zu erschaffen, oder, wenn auch in einer glüklichen Minute das verlangte Bild wie ein Blitzstrahl vor ihre Seele sich stellte, dasselbe fest zu halten, es zu untersuchen, und es sich zu jedem beliebigen Gebrauche unauslöschlich einzuprägen. Von diesem Vermögen hängt es ab, ob man mit, oder ohne Geist philosophiere. Die Wissenschaftslehre ist von dieser Art, daß sie durch den bloßen Buchstaben gar nicht, sondern daß sie lediglich durch den Geist sich mittheilen läßt; weil

183 GA I/3, S. 183 f.

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ihre Grundidee in jedem, der sie studiert, durch die schaffende Einbildungskraft selbst hervorgebracht werden müsse […].184

An die paulinische Geist-Buchstabe-Dichotomie anknüpfend, bestimmt Fichte die Einbildungskraft aufgrund ihres Vermögens, das Bild zu fixieren, als Voraussetzung des Geistes. Dieser Grundüberlegung folgt eine 1795 für Schillers Horen in drei Briefen verfasste Abhandlung, in der die Rolle der Denkfigur des Bildes für Fichtes Konzeption des Geistes noch einmal präzisiert wird. 2.2.3 Erkenntnistheoretische Kunstphilosophie – Über den Geist und Buchstab in der Philosophie Ehe diese in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre noch in ganz konzentrierter Form dargebotene Verwendung des Bildbegriffs in der späten Wissenschaftslehre eine weit zentralere Stellung in der Argumentation einnehmen wird, wird das Bild in einem bereits 1795 für die Horen abgefassten, jedoch erst Anfang 1800 im Philosophischen Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten erschienenen Aufsatz185 bereits zu einem weit wichtigeren Argumentationsmoment. Der Titel dieses Aufsatzes, der zwar lautet Über den Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen, kann dennoch nicht 184 GA I/2, S. 414 f. 185 Vgl. GA I/6, S. 315. Zu Schillers Ablehnung des Beitrags für die Horen und dem daran anschließenden Konflikt zwischen Schiller und Fichte, der in einem Briefwechsel dokumentiert ist, vgl. GA I/2, S. 315 – 331. Rüdiger Görners Aufsatz: Poetik des Wissens. Zur Bedeutung der Kontroverse zwischen Schiller und Fichte über ›Geist und Buchstab‹ sowie die ›Grenzen beim Gebrauch schöner Formen‹, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 51 (1999), S. 342 – 360, betrachtet die Kontroverse zwischen Fichte und Schiller als von »richtungsweisender Bedeutung« (S. 343) für die Frage »welche Funktion das Wissen im schöpferischen Akt habe« (S. 342). Dabei geht es ihm nicht um eine erschöpfende Untersuchung dieser Kontroverse, sondern »vielmehr interessiert in unserem Themenzusammenhang der Gegensatz zwischen zwei Grundpositionen: Zum einen Fichtes Konzeption eines aufgrund seines produktiven Vorstellungsvermögens bildentwerfenden Ichs, das, über den bloßen ›Buchstaben‹ hinausgehend, sich gleichzeitig durch das Empfinden konstituiert. Zum anderen Schillers dichterisches Denken, das auf den Wechselbezug von Bild und Buchstaben setzt und dabei die für Fichte zentrale Frage der Subjektivität und Identität des Ichs im Bereich des Ästhetischen erheblich relativiert. Das erworbene, aber reflexionsbedürftige Wissen wies Schiller dem Bereich der Vernunft zu, wobei Fichte vom sich selbst bewußten Ich ausgeht, das auch im Reflektieren Bilder entwirft.« (S. 344). Den Bildbegriff, auf den Görner hier rekurriert, diskutiert er nicht eigens, es wird jedoch deutlich, dass er das Bild dabei als bildlich-metaphorische Darstellungsweise im Gegensatz zur begrifflichen Darstellungsweise versteht. (S. 246). Dabei blendet er aus, dass der Bildbegriff in Fichtes Bewusstseinstheorie zunächst eine mentale Struktur bezeichnet, nicht tropisch-uneigentliche Rede. Ausgehend von der Problembestimmung des Wissensbezugs poetischer und philosophischer Darstellungsweisen, zeichnet Görner im weiteren Verlauf seines Aufsatzes diese Problemkonstellation in den poetologischen Abhandlungen des 19. und 20. Jahrhundert nach.

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darüber hinweg täuschen, dass sich dieser – wohlgemerkt unvollendet gebliebene – Text in dem vorliegenden ersten Teil beinahe ausschließlich auf dichterische Werke bezieht. Ausgangspunkt dieses Aufsatzes ist die auf Paulus zurückgehende und im 18. Jahrhundert stark rezipierte Unterscheidung zwischen »Geist und Buchstabe«, der sich Fichte anschließt.186 Im ersten der in drei Briefe eingeteilten Abhandlung wird allein das Problem umrissen. Ehe er sich der Frage nach dem »Geist in der Philosophie« zuwendet, versucht Ficht zunächst eine Bestimmung dessen zu geben, was er generell unter »Geist« versteht. Er beginnt seine Ausführungen zum Geist mit dem Beispiel der unterschiedlichen Verständlichkeit verschiedener Lektüren. Während es Bücher gibt, auf deren Inhalt – obwohl sie als wichtig erscheinen oder ausgewiesen sind – man sich nur schwer konzentrieren kann, gibt es andere, in deren Lektüre man ohne Mühe versinkt. Letzteren allein spricht er Geist zu. Diese Wirkung resultiert nach Fichtes Ansicht aus dem Umstand, dass die Darstellung eines solchen Textes mit den Denkprozessen des menschlichen Verstandes übereinstimmt, so dass sich ihr Inhalt problemlos erschließt: Im ersten Falle denkt unser Verstand, oder dichtet unsere Einbildungskraft von selbst mit dem Künstler zugleich, und so wie er es will, ohne daß wir ihr gebieten; die gehörigen Begriffe, oder die beabsichtigten Gestalten bilden und ordnen sich vor unserem geistigen Auge, ohne daß wir die Hand daran gelegt haben glauben.187

Und daraufhin folgt klar die Aussage: »Wir nennen diese belebende Kraft an einem KunstProdukte Geist, den Mangel derselben Geistlosigkeit […].«188 Der erste Brief endet mit der Frage, woher manchem Künstler dieser Geist gegeben sei, wie er diesen in das Kunstprodukt inkorporieren könne und wie eine Übereinstimmung zwischen dem im Kunstwerk zum Ausdruck kommenden Geist und den Empfindungen des Rezipienten möglich sei. Fichte macht an dieser Stelle bereits deutlich, dass er diese Fähigkeit nicht mit dem – den Menschen auszeichnenden – Vermögen zu denken in Verbindung bringt. Er schließt mit der Frage »Wo liegt der unbegreifliche Zusammenhang dieser Mittel mit jenem Zwecke, und durch welche Kunst hat er [der Künstler, Y.A.] errathen, was durch kein Nachdenken sich dürfte finden lassen?«189 Der zweite Brief hat sich die Beantwortung dieser Frage zur Aufgabe gemacht. 186 Eine knappe Skizze dieser Tradition von Paulus bis zu Luther, aus dessen Schriften sie der protestantische Theologe Fichte wohl rezipiert haben dürfte, gibt Liliane Weissberg: A Philosopher’s Style: Reading Fichte’s »Geist und Buchstab«, in: Fictions of Culture. Essays in Honor of Walter H. Sokel, hrsg. v. Steven Taubeneck, New York u. a. 1991, S. 117 – 132, hier S. 117 f. 187 GA I/6, S. 336. 188 GA I/6, S. 336. 189 GA I/6, S. 337.

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Fichte geht davon aus, dass der Künstler diesen sich in seinem Werk niederschlagenden Geist nicht in der Außenwelt aufgefunden haben kann, sondern ihn aus seinem inneren Geistesvermögen schöpft. Dieses Vermögen bestimmt Fichte jedoch nicht als etwas Individuelles, sondern als den »UniversalSinn der gesammten Menschheit«190. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass es in der Konstitution des menschlichen Geistes unter den einzelnen Individuen »VereinigungsPunkte« gibt. Die Möglichkeit der menschlichen Kommunikation untereinander gibt davon Zeugnis. Dem Künstler ist nun nicht daran gelegen, seine Individualität darzustellen, stattdessen macht er »jene VereinigungsPunkte, die in allen Einzelnen sich wiederfinden, zum individuellen Charakter seines Geistes und seines Werkes«.191 Fichte schließt die Möglichkeit aus, die Erkenntnis auf dem Wege des Nachdenkens und durch die Hilfsmittel der Begriffe, also – anders gesagt – mit Hilfe des Verstandes zu erlangen. Stattdessen geht er von einer Erfahrung aus, allerdings nicht von einer empirischen, äußeren Erfahrung, sondern von einer »eigne[n], innere[n] Erfahrung«192. Dieses Vermögen, das weder mit dem etwa durch Kant favorisierten Erkenntnisvermögen des Verstandes noch mit der von den Empiristen hochgeschätzten sinnlichen Wahrnehmung identisch ist, bestimmt Fichte als Trieb: Vollkommen unabhängig von aller äußern Erfahrung, und ohne alles fremde Hinzuthun soll der Künstler aus der Tiefe seines eignen Gemüths entwickeln, was Aller Augen verborgen, in der menschlichen Seele liegt; er soll nur unter Anleitung seines DivinationsVermögens VereinigungsPunkte für die gesammte Menschheit aufstellen, die sich in keiner bisherigen Erfahrung als solche bewährt haben. Aber das einige Unabhängigkeit, und aller Bestimmung von außen völlig Unfähige im Menschen nennen wir den Trieb.193

In diesem Trieb liegt für Fichte das den Menschen auszeichnende Vermögen, da er durch ihn erst seine »Selbstthätigkeit«, seine Fähigkeit zum selbstständigen Handeln, erlangt.194 Die äußeren Dinge hingegen schließt Fichte als Ursache des 190 191 192 193 194

GA I/6, S. 338. GA I/6, S. 338. GA I/6, S. 339. GA I/6, S. 340. Diese Unterscheidung von drei Trieben im Menschen dürfte wohl an Schillers ebenfalls in den Horen erschienenen Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen orientiert sein. Zugleich erfährt das Modell bei Fichte aber eine grundlegende Neuausrichtung. Fichte geht von dem Trieb schlechthin aus, dessen drei Ausformungen sich komplementär ergänzen, während bei Schiller der sinnliche Trieb und der Formtrieb einander entgegengesetzt sind und erst durch den ästhetischen Trieb miteinander in Einklang gebracht werden müssen, um den Menschen zur Freiheit zu führen. (Vgl. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen, hrsg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Weimar 1943ff, hier Bd. 20, S. 309 – 412). Nichtsdestotrotz ist es auch für Fichte die Sphäre

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menschlichen Vermögens zu Handeln aus. Dieser Trieb ist zugleich auch Grundlage der menschlichen Erkenntnisvermögen, durch welches es dem Menschen überhaupt erst möglich ist, Vorstellungen zu haben. So argumentiert Fichte gegen die Empiristen, dass – mag der Stoff der Vorstellungen auch aus der empirischen Außenwelt kommen – es eines davon unabhängig wirkenden Erkenntnisvermögens des Menschen bedarf, um diese Sinneseindrücke zu Vorstellungen verarbeiten zu können: Lediglich durch den Trieb ist der Mensch vorstellendes Wesen. Könnten wir ihm auch, wie einige Philosophen wollen, den Stoff seiner Vorstellung durch die Objecte geben, die Bilder durch die Dinge von allen Seiten her ihm zuströmen lassen, so bedürfte es doch immer der Sebstthätigkeit, um diesselben aufzufassen, und sie auszubilden zu einer Vorstellung, dergleichen die leblosen Geschöpfe im Raume um uns herum, denen die durch das ganze Weltall herumschweifenden Bilder sowohl als uns zuströmen müssen, nicht besitzen. Es bedarf dieser Selbstthätigkeit, um diese Vorstellungen nach willkürlichen GesichtsPunkten zu ordnen; jetzt die äußere Gestalt einer Pflanze zu betrachten, um sie wieder zu erkennen, und von allen ähnlichen zu unterscheiden; […].195

Dieser Trieb scheint genau jene Funktionen zu erfüllen, die bei anderen Philosophen dem Verstand zugeschrieben werden – er fasst die »Bilder« der Außenwelt, die sich den Sinnen darbieten, auf und bildet sie zu einer Vorstellung. Dies schließt deren Ordnen und Kategorisieren aufgrund von bestimmten, zunächst zu erfassenden Eigenschaften ein. Aufgaben, die in Herders Sprachursprungsschrift in Anlehnung an die Terminologie Leibnizens dem Verstand zugeschrieben wurden. Fichte nennt diesen Trieb Erkenntnistrieb. Hier findet auch der Bildbegriff bereits in einer ersten Bedeutung Verwendung. Fichte unterscheidet zunächst zwei Formen des Triebes: den Erkenntnistrieb und den praktischen Trieb. Ersterer ist alleine auf die Erkenntnis der Beschaffenheit eines Gegenstandes gerichtet und zielt auf eine Vorstellung, die diesem Gegenstand möglichst angemessen ist. Auf diese Weise schafft der Erkenntnistrieb eine Vorstellung, die ganz am äußeren Gegenstand orientiert ist. Dem praktischen Trieb hingegen liegt eine Vorstellung zugrunde, deren Inhalt nicht an einem angeschauten Gegenstand orientiert ist, sondern durch Selbsttätigkeit des Geistes bestimmt wird. Dieser Trieb zielt darauf, ein dieser Vorstellung entsprechendes Produkt in der Sinnenwelt hervorzubringen. Dem Erkenntnistrieb und dem praktischen Trieb ist gemeinsam, dass sie nie nur einseitig entdes ästhetischen Triebes, wo die »zur Freiheit erzogene Einbildungskraft zur völligen Freiheit« gelangt. (Vgl. Fichte, GA I/6, S. 352). Zur Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schiller hinsichtlich des gesamten Aufsatzes Über Geist und Buchstabe in der Philosophie in einer Reihe von Briefen, die in einem Briefwechsel dokumentiert ist, siehe das ausführliche Vorwort zum Text von Reinhard Lauth und Hans Gliwitzky, GA I/6, S. 315 – 332. 195 GA I/6, S. 340.

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weder auf eine Vorstellung oder einen Gegenstand gerichtet sind, sondern beide in Harmonie zueinander bringen. Sie sind lediglich darin unterschieden, dass sich im ersteren Fall die Vorstellung nach dem Gegenstand, im letzteren der Gegenstand nach der Vorstellung richtet.196 Von diesen zwischen empirischer und mentaler Welt korrespondierenden Formen des Triebes wird der »ästhetische Trieb« deutlich unterschieden. Statt auf eine Wechselwirkung zwischen sinnlich erfahrbarer Welt und geistigen Vorstellungen gerichtet zu sein, bewegt er sich ausschließlich im Bereich des Geistigen. Die Vorstellung wird im ästhetischen Trieb zu ihrem eigenen Zweck. Hier kommt der Bildbegriff ein weiteres Mal, jedoch in veränderter Verwendungsweise ins Spiel: Er [der ästhetische Trieb, Y.A.] zielt auf eine Vorstellung, und auf eine bestimmte Vorstellung, lediglich um ihrer Bestimmung, und um ihrer Bestimmung als bloßer Vorstellung willen. Auf dem Gebiete dieses Triebes ist die Vorstellung ihr eigener Zweck; sie entlehnt ihren Werth nicht von ihrer Uebereinstimmung mit dem Gegenstande, auf welchen hierbei nicht gesehen wird, sondern sie hat ihn in sich selbst; es wird nicht nach dem Abgebildeten, sondern nach der freien unabhängigen Form des Bildes selbst gefragt. Ohne alle WechselBestimmung mit einem Objecte steht eine solche Vorstellung isoliert, als letztes Ziel des Triebes, da, und wird auf kein Ding bezogen, nach welchem sie, oder welches nach ihr sich richte.197

Mit dem ästhetischen Trieb wird die Vorstellung autonom. Hier, könnte man sagen, ist der Idealismus an seinen äußersten Punkt getrieben, wo kein empirischer Gegenstand mehr mit der geistigen Vorstellung korrespondieren muss. An dieser Stelle bestimmt Fichte auch klar den Unterschied zwischen (unabhängigem) Bild und Abbild. Aus seinen Ausführungen lässt sich schließen, dass Vorstellungen – sind sie vom Erkenntnistrieb oder vom praktischen Trieb bestimmt – Abbildcharakter haben, da sie stets auf einen Gegenstand als dem Abgebildeten bezogen bleiben. Erst im ästhetischen Trieb wird das Bild zur eigenständigen Größe. Die Umsetzung des durch den ästhetischen Trieb entworfenen Bildes in einen empirischen Gegenstand (in ein Kunstobjekt also) ist durch den ästhetischen Trieb nicht intendiert. Hier greift der praktische Trieb ein und bedient sich der durch den ästhetischen Trieb vorgegebenen Vorstellung, zu der er den Gegenstand in der Außenwelt sucht: Es ist möglich, daß eine Darstellung des ästhetischen Bildes in der SinnenWelt gefordert werde; aber das geschieht nicht durch den ästhetischen Trieb, dessen Geschäft mit der bloßen Entwerfung des Bildes in der Seele vollkommen geschlossen ist, sondern durch den praktischen, der dann aus irgend einem Grunde in die Reihen-Folge der 196 Vgl. GA I/6, S. 341 f. 197 GA I/6, S. 342.

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Vorstellungen eingreift, und einen möglichen äußerlichen, und fremden Zweck jener Nachbildung in der Wirklichkeit, aufstellt. So kann es gleichfalls geschehen, daß die Vorstellung eines wirklich vorhandenen Gegenstandes dem ästhetischen Triebe vollkommen angemessen sey ; nur bezieht sich die dann eintretende Befriedigung dieses Triebes schlechterdings nicht auf die äußere Wahrheit der Vorstellung, das entworfne Bild würde nicht minder gefallen, wenn es leer wäre, und es gefällt nicht mehr, weil es zufälliger Weise zugleich Erkenntniß enthält.198

Der ästhetische Trieb schafft sich seine Vorstellungen als reinen Selbstzweck; da sie nicht auf einen Gegenstand außerhalb dieser Vorstellung gerichtet ist, ist die ästhetische Vorstellung unabhängig von Erkenntnis. Allerdings ist sie nicht ohne allen Erkenntnistrieb möglich. Denn auch die ästhetische Vorstellung kann sich nur aufgrund von Erfahrung entwickeln, Erfahrung aber ist auf Erkenntnis ausgerichtet.199 Allein über den Ausgangspunkt der Erfahrung, so Fichte, ist es dem Menschen möglich, zur freien, geistigen Tätigkeit zu gelangen.200 Während der auf Erfahrung basierende Erkenntnistrieb die empirische Wirklichkeit betrachtet und bei dieser Betrachtung verweilt, obwohl die gesuchte Erkenntnis bereits erlangt wurde, so wird die fortdauernde Betrachtung ohne allen Zweck erfolgen und den Geist in seinem Vorstellungsvermögen schulen. Auf diese Weise bildet sich das Vermögen der Hervorbringung von Vorstellungen ohne allen Zweck – eben der ästhetische Trieb. Zur Beschreibung der Art und Weise, wie der ästhetische Trieb seinen Anstoß bei der empirischen Wirklichkeit nimmt, um sich dann frei zu entwickeln, wechselt Fichte – das sei zu bemerken – von der abstrakt philosophischen Sprache seiner Abhandlung in figürliche Rede, die sich poetischer Mittel bedient.201 Die Passage soll hier zunächst komplett 198 199 200 201

GA I/6, S. 343. Vgl. GA I/6, S. 347. Vgl. GA I/6, S. 350. Schiller kritisiert diesen Stil Fichtes und nennt ihn als einen der Gründe für die Ablehnung des Beitrags für die Horen. So schreibt Schiller : »Von einer guten Darstellung fordere ich vor allen Dingen Gleichheit des Tons, und wenn Sie aesthetischen Werth haben soll, eine Wechselwirkung zwischen Bild und Begriff, keine Abwechslung zwischen beyden, wie in Ihren Briefen häufig der Fall ist. Daher das unschickliche, daß man unmittelbar von den abstrusesten Abstraktionen unmittelbar auf Tiraden stößt, ein Fehler, woran man schon in Ihren früheren Schriften Anstoß genommen, und der hier vergrößert wiederkehrt.« (Schiller, 24. Juni 1795, dritter Entwurf seines Schreibens an Fichte, in: Fichte, GA I/6, S. 318). Dass Fichte diese Methode seines Schreibens sehr bewusst und reflektiert angewendet hat, belegt eine Passage aus seiner Antwort an Schiller, in der er seinen Stil rechtfertigt. Dort schreibt er : »Nachdem die streng philosophische Disposition fertig ist, mache ich eine nach ganz andern Grundsätzen: knüpfe an eine sehr gemeine Erfahrung an, und führe so den Faden, scheinbar nach der bloßen Ideen=Aßociation, über die aber unsichtbar das System wacht, fort, bestimme nirgends schärfer, als vor der Hand nöthig ist, bis zuletzt die scharfe Bestimmung sich von selbst ergiebt. Bei mir steht das Bild nicht an der Stelle des Begriffs, sondern vor oder nach dem Begriffe, als Gleichniß« (GA I/6, S. 322). Eine äußerst präzise Untersuchung des bildlich-metaphorischen Sprachgebrauchs in Fichtes Wissen-

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zitiert werden, ehe sie einer eingehenden, auch philologische Aspekte beachtenden Analyse unterzogen wird: Unter dieser ruhigen und absichtslosen Betrachtung der Gegenstände, indeß unser Geist sicher ist und nicht über sich wacht, entwickelt sich ohne alle unser Zuthun, unser ästhetischer Sinn an dem Leitfaden der Wirklichkeit. Aber nachdem der Pfad beider eine Strecke weit zusammen gegangen ist, reißt sich am Scheidewege wohl auch der erstere los, und geht seinen Gang unabhängig, und ungeleitet von der Wirklichkeit. So ruhte oft Ihr Auge auf der Gegend an der Abendseite Ihrer ländlichen Wohnung. Wenn sie dieselbe, nicht um zu sehen, wie sie den nächtlichen Anfällen des Raubgesindels entfliehen könnten, sondern ohne alle Absicht betrachteten, erkannten Sie nicht bloß die grüne Saat, und hinter ihr die mancherlei Kleearten, und hinter diesen das hohe Korn, und fassten in das Gedächtniß, was da wäre; sondern Ihre Betrachtung verweilte mit Vergnügen auf dem frischen Grün des erstern, und verbreitete sich über die mannichfaltigen Blüten des zweiten, und gleitete sanft über die kräuselnden Wellen des dritten die Anhöhe hinan. Es sollte, sagten Sie dann, dort auf der Höhe ein Dörfchen unter Bäumen, oder ein Hain liegen. Sie begehrten nicht in dem erstern eine Wohnung zu haben, oder in dem Schatten des letztern zu wandern; und es würde Ihnen gerade so viel gewesen seyn, wenn man, ohne daß Sie es eben wüssten, durch ein optisches Kunststück Ihnen nur den Anschein dessen hervorgebracht hätte, was Sie wünschten.202

Wenn es – ganz im Sinne Kants – nur noch um die völlig zweckfreie Übereinstimmung zwischen einem sinnlich wahrgenommenen Gegenstand und der geistigen Vorstellung geht, kann die Einbildungskraft völlig frei wirken. Auch Fichte übernimmt implizit die Unterscheidung von produktiver und reproduktiver Einbildungskraft, wenn er zwischen den Naturdingen und deren Übereinstimmungen mit den Vorstellungen des Geistes einerseits spricht und andererseits der Einbildungskraft das Vermögen zuschreibt »Gestalten dar[zustellen], wie sie gar nicht sind, aber nach der Forderung jenes Triebes [des ästhetischen, Y.A.] seyn sollten.«203 Allerdings bedient er sich in diesem Text nicht der kantischen Terminologie. Hier nun ist Fichte in seiner Deduktion bis zu dem Begriff des Geistes vorgedrungen, den er im Folgenden näher zu bestimmen versucht. Diese Fähigkeit der Einbildungskraft, nach den Vorgaben des ästhetischen Triebs selbst Vorstellungen zu schaffen, »dieses freie SchöpfungsVermögen«, bezeichnet er als »Geist«.204 Vom Geschmack, der das Gegebene schaftslehre aus analytisch-philosophischer Perspektive hat Holger Jergius vorgelegt. Jergius führt in seiner Untersuchung vor, dass bei Fichte auch die scheinbaren Begriffe, wie etwa der des »Gegenstands« auf das ihnen inhärente Potential der Bildlichkeit (hier : die Tätigkeit des Entgegenstehens) zurückgeführt werden. Vgl. Jergius, Holger : Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik. Bemerkungen zu Fichtes Wissenschaftslehren, Freiburg, München 1975, S. 226 – 249. 202 GA I/6, S. 350 f. 203 Vgl. GA I/6, S. 352. 204 GA I/6, S. 352.

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beurteilt, ist der Geist durch sein produktives Vermögen unterschieden – »der Geist erschafft.«205 An dieser Stelle ist Fichte bei seinem Ausgangsproblem – den Werken mit und ohne Geist – angelangt. Denn die Produkte des Geistes sind Kunst und liefern dem Geschmack neue Gegenstände. Anknüpfend an dieses Ergebnis unterscheidet er zwischen Idee und Ideal: »Das unendliche, unbeschränkte Ziel unsers Triebes heißt Idee, und in wiefern ein Theil desselben in einem sinnlichen Bilde dargestellt wird, heißt dasselbe ein Ideal. Der Geist ist demnach ein Vermögen der Ideale.«206 Hier übernimmt Fichte nicht nur Kants Unterscheidung von Idee und Ideal, sondern beschreibt auch wie Kant das innere Verhältnis dieses Begriffspaares mit Hilfe des Bildbegriffs. So versteht er das Ideal als das Bild der Idee – als deren Repräsentation in einer sinnlichen Vorstellung. Nachdem er sein Verständnis von Geist geklärt hat, diskutiert Fichte im Dritten Brief die Bedeutung von Geist und Buchstabe in – wohlgemerkt – Kunstwerken. Die titelgebende Philosophie soll in einer Fortsetzung behandelt werden, die jedoch nie abgefasst worden ist. Fichte eröffnet seinen dritten – und letzten – Brief mit dem »Sinn für das Ästhetische«, welcher dem Menschen »in [seinem] Innern« den ersten festen Standpunkt gibt. Dieser ästhetische Sinn scheint mit dem »Geist« identisch zu sein, der für die Ausbildung jenes zuvor bereits eingehend besprochenen Triebes des Menschen verantwortlich ist. Dieser Trieb konstituiert den Menschen als intelligentes Wesen und macht ihn dadurch von der empirischen Welt unabhängig. Allerdings kann Fichte den Bezug des Menschen zur sinnlich erfahrbaren Außenwelt nicht leugnen. So wendet Fichte den Dualismus zwischen Allgemeinheit und Individualität auf den Dualismus zwischen Geist und Körper an. Bezogen auf den Geist sind alle Menschen gleich, insofern sie aber auch auf die empirische Welt bezogen sind, sind sie als einzelne Individuen voneinander unterschieden: Der Geist ist auf die Entwicklung eines Innern in dem Menschen, des Triebes, und zwar eines Triebes, der ihn als Intelligenz über die ganze SinnenWelt erhebt, und von dem Einflusse derselben losreist. Aber die SinnenWelt allein ist mannichfaltig, und nur insofern wir durch einen uns schlechterdings unsichtbaren Berührungspunkt mit derselben zusammenhangen, und ihren Einwirkungen offen stehen, sind wir als Individuen verschieden; der Geist ist Einer, und was durch das Wesen der Vernunft gesetzt ist, ist in allen vernünftigen Individuen dasselbe.207

Diese Unterscheidung zwischen Geist und empirischem Körper überträgt Fichte auf das Kunstwerk. Im echten Kunstwerk drückt der Künstler seinen Geist aus. 205 GA I/6, S. 352. 206 GA I/6, S. 352. 207 GA I/6, S. 354.

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Dieser Geist wird von Fichte als »Begeisterung« und »Gefühl« beschrieben, in dem sich der »Gemeinsinn des gesammten Geschlechts« artikuliere.208 Um dieses Gefühl – über das es prinzipiell unter den Menschen eine gleiche Meinung geben kann – anderen mitzuteilen, muss der Mensch ihm eine sinnlich wahrnehmbare Gestalt verleihen. Diese ist die materielle Ebene des Kunstwerks, die Fichte als dessen »Buchstaben« bezeichnet: »Die innere Stimmung des Künstlers ist der Geist seines Products; und die zufälligen Gestalten, in denen er sie ausdrückt, sind der Körper oder der Buchstabe desselben.«209 Dieser materiellen Gestalt des Kunstwerks haftet jedoch immer ein Unvermögen an, dem Geistigen adäquat Ausdruck zu verleihen. Fichte erörtert dieses Problem anhand der Wortsprache: Was in der Seele des Künstlers vorgeht, die mannichfaltigen Biegungen und Schwingungen seines innern Lebens und seiner selbstthätigen Kraft sind nicht zu beschreiben; keine Sprache hat Worte dafür gefunden, und wenn sie gefunden wären, so würde die gedrungne Fülle des Lebens in der allmäligen, und zu einem einfachen Faden ausgedehnten Beschreibung verhauchen.210

Mit der zum »einfachen Faden ausgedehnten Beschreibung« hat Fichte eine Metapher für die Linearität und Sukzessivität sprachlicher Darstellung gefunden. Der »gedrungenen Fülle des Lebens« scheint die visuelle Repräsentation des Bildes in ihrer Simultaneität und Komplexität besser gerecht zu werden. Bild und Buchstabe stehen in dieser kunstphilosophischen Abhandlung Fichtes jedoch nicht für zwei unterschiedliche Medien künstlerischer Gestaltung. Vielmehr spannt er sie in den Antagonismus von Geist und Körper ein, wobei das Bild zum Stellvertreter der geistigen Vorstellung avanciert, während dem Buchstaben allein die materielle Repräsentation geistiger Vorstellungen vorbehalten bleibt. Es wird also nicht zwischen dichterischer und bildkünstlerischer Darstellung unterschieden. Der Buchstabe steht generell für die sinnlich wahrnehmbare Gestalt des Kunstwerks. Diese empirische Ebene des Kunstwerks bezeichnet Fichte als die »mechanische Kunst«. Seine Kritik ist gegen diejenigen Künstler gerichtet, die – wie nach einem mechanischen Bauplan – ihre Werke schaffen, ohne die materielle Gestalt an zuvor gefassten, geistigen Vorstellungen zu orientieren. Damit richtet er sich deutlich gegen die noch bis ins 18. Jahrhundert hinein wirksamen Regelpoetiken:211 208 209 210 211

GA I/6, S. 354. GA I/6, S. 356. GA I/6, S. 355 f. Vgl. Peters, Günter : Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1982, bes. Kap. II: Das Genie in der Aufklärung. Schöpfungsästhetik zwischen Poesie und Politik, S. 53 – 120. Thomas Anz hingegen stellt diese tradierte Dichotomie zwischen Regelpoetik versus Genieästhetik aus sozialhistorischer Perspektive in Frage. Vgl. Anz, Thomas: Literarische Norm und Autonomie. Indi-

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Die Regeln der Kunst, die sich in den Lehrbüchern finden, beziehen sich meist auf das Mechanische der Kunst. Sie müssen im Geiste gedeutet werden, und nicht nach dem Buchstaben. So lehren sie uns, wie wir die Fabel erfinden, mittheilen, allmälig entwickeln sollen, und es thut dem Künstler allerdings Noth, dies zu verstehen. Versteht er aber auch nichts weiter, als die Beobachtung dieser Regeln, so hat er am Ende eine gute Fabel, die die Neugier reizt, unterhält, befriedigt; aber wir forderten noch etwas mehr von ihm. Die Einheit der geistigen Stimmung, die in seinem Werke herrscht, und die dem Gemüthe des Lesers mitgetheilt werden soll, ist die Seele des Werks […].212

Fichte, der diesen Aufsatz in Auseinandersetzung mit den Gedanken Goethes und Schillers entwickelte, verfasste hier ein Plädoyer für die Genieästhetik. Die subjektive Begeisterung des Künstlers, die zur Grundlage seines Schaffens wird, deckt sich mit den Konzeptionen des Ich in seiner idealistischen Philosophie und wird mit Hilfe der Denkfigur des Bildes erklärt. Die Einbildungskraft und das Gefühl, die in dieser Konzeption größere Bedeutung für das künstlerische Schaffen erlangen, werden mit einem geistigen Vermögen in Verbindung gebracht, das als Bild bezeichnet wird und damit dem Verstand – der traditionell mit der Sprache in Beziehung gesetzt wird – entgegen steht.

2.2.4 Fichtes erkenntnistheoretischer Bildbegriff Fichtes Bildkonzeption ist vor dem Horizont seiner idealistischen Philosophie zu verstehen. Deren Grundgedanke besteht darin, dass sie versucht, die – noch immer angenommene – Dichotomie von Subjekt und Objekt in einer Synthese aufzulösen. Das Grundprinzip dieser Synthese bildet das Ich. Zur theoretischen Erklärung dieses philosophischen Modells nimmt Fichte die Denkfigur des Bildes zu Hilfe, die als Dreh- und Angelpunkt dieser Synthese fungiert. Da der materielle Gegenstand für Fichte nur in Bezug auf das Ich gedacht werden kann, von welchem er für die menschliche Erkenntnis gleichsam erst hervorgebracht wird, kann dieser auch nicht Quelle des Bildes im Sinne empiristischer Theorien sein. Das Bild beruht in Fichtes Verwendungsweise des Terminus’ also nicht auf der Anschauung eines sinnlich wahrnehmbaren Gegenstands der Außenwelt, dem es als Abbild korrespondiert, sondern wird als vom Ich frei hervorgebrachte Vorstellung verstanden. Fichte legt hier eine Verwendung des Bildbegriffs vor, die das Bild zum zentralen erkenntnistheoretischen Vermögen macht. Dass ihm Kants Erkenntnistheorie dabei über weite Strecken Pate stand, ist offensichtlich. Das Bild beruht auf der Anschauung des Gegenstands, die durch die Geistestätigkeit im vidualitätsspielräume in der modernisierten Literaturgesellschaft des 18. Jahrhunderts, in: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung, hrsg. v. Wilfried Barner, München 1989, S. 71 – 88. 212 GA I/6, S. 360.

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Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts

Bild erst differenziert erfasst und so als Entität ins Bewusstsein gehoben wird. Mit diesem Bild operiert der menschliche Verstand. Hier aber verlässt Fichte die Fährte Kants, um seinem eigenen Konzept Form zu geben. Während Kant das Bild noch in Relation zum Begriff setzt, wird der Begriff in Fichtes früher Wissenschaftslehre an keiner Stelle problematisiert. Geht es bei Kant in erster Linie um das Verhältnis von Bild und Begriff, so geht es bei Fichte um das Verhältnis von Bild und Objekt. Problematisiert wird dieses Verhältnis bei Fichte deshalb, weil das Objekt nicht mehr als eine gegebene Außenwelt verstanden, sondern selbst zum Produkt des Ich erhoben wird und sich Bild und Objekt damit das Ich als gemeinsamen Urheber teilen. Indem Fichte Kants philosophische Unterscheidung von Anschauung und Bild übernimmt, gelangt er zu einem Bildbegriff, der weitestgehend die Funktion übernimmt, die Herder in seinem Sprachursprungsaufsatz der Sprache zuschreibt. Bilder gehören – wie in Kapitel I.1.2 dargelegt – für Herder zu einem vorbewussten Zustand, in dem sich die sinnliche Wahrnehmung dem Geist undifferenziert darbietet. Aus der Fülle der mannigfaltigen Erscheinungen sind noch keine einzelnen Gegenstände geschieden. Die Differenzierung tritt erst mit der Reflexion ein – und die Reflexion geht einher mit Sprache. Fichte hingegen kennt zwei Modelle sinnlicher Vorstellungen. Die Anschauung ist vorreflexiv und damit unbestimmt. Indem der unreflektierte Wahrnehmungszustand mit dem Begriff der Anschauung belegt wird, steht der Bildbegriff für die auf Reflexion gründende, bestimmte sinnliche Vorstellung zur Verfügung. Das Scheiden von Eigenschaften, das Bestimmen von Qualitäten eines Gegenstands, wodurch dieser erst – um es mit Leibnizscher Terminologie zu sagen – klar und deutlich erkannt werden kann, was in Herders Denken dem Menschen erst durch die Sprache möglich wird, ist bei Fichte in einem auf der visuellen Ebene operierenden geistigen Vermögen gegründet. Das Bild der frühen Wissenschaftslehre nimmt erkenntnistheoretisch bei Fichte die Stelle ein, die bei Herder der Sprache vorbehalten bleibt. Nicht ganz leicht ist die Frage zu klären, ob das Bild bei Fichte einen abbildhaften Charakter hat oder nicht. Schon die Wissenschaftslehre verstrickt sich hier in eine Paradoxie, wenn sie die vollkommene Übereinstimmung des Bildes mit dem Gegenstand fordert, von dem das Bild jedoch gänzlich unabhängig entworfen werden soll. Der Gegenstand selbst wird im Bild erst bestimmt. Das bedeutet, dass die klare und deutliche Anschauung des Gegenstands ohne das Bild gar nicht gegeben sein kann. Das Bild ist insofern nicht Abbild eines Gegebenen. Vielmehr ist es Produkt einer Erkenntnisleistung, in der die Eigenschaften des Gegenstands erst erfasst und festgehalten werden. Klarer fällt die Antwort in seinen Briefen über Geist und Buchstab in der Philosophie aus. Während der Erkenntnistrieb und der produktive Trieb Bilder hervorbringen, die einem empirischen Gegenstand korrespondieren, entwirft

Erkenntnistheoretische Grundlagen der Sprach- und Bildtheorie

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der ästhetische Trieb, der als die »Königsdisziplin« gilt, Bilder als völlig autonome Vorstellungen. Diese Fähigkeit, von der empirischen Welt gänzlich unabhängige Bilder zu entwerfen, ist es auch, die Fichte als Geist bezeichnet. Bei dem Bild in dieser Form handelt es sich also um das höchste Produkt des menschlichen Geistes. Wie bei Kant beschreibt auch Fichtes Bildbegriff einen rein mentalen Gegenstand. Seine Bestimmung ist nichtsdestotrotz an den Eigenschaften des empirischen Bildes orientiert. Zum einen korrespondiert es den phänomenologischen Qualitäten eines Objekts, es entspricht damit dem Abbildmodell. Auch das durch den ästhetischen Trieb hervorgebrachte autonome Bild kann als Modell für den Entwurf eines materiellen Objekts – eines Kunstwerks – dienen. Zum anderen zeichnet sich das Bild bei Fichte generell durch die Simultaneität und durchgängige Bestimmtheit aus, welche bereits Lessing in seinem Laokoon als zwei grundlegende Merkmale des künstlerisch-materiellen Bildes bestimmte. Dieser Entwurf eines rein mentalen Bildbegriffs, der deutlich an den Qualitäten des materiellen Bildes orientiert bleibt, wird sich in variierter Form in den Texten der Romantiker wiederfinden. Allen voran ist es Novalis, der die Bildlehre Fichtes adaptiert und weiterentwickelt.

2.3

Fichtes Sprachursprungsaufsatz zwischen Erkenntnistheorie und Zeichentheorie

Neben den späteren, in den Reden an die deutsche Nation enthaltenen Abhandlungen über die Sprache aus den Jahren 1807/08 ist der 1795 in Niethammers Philosophischem Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten213 erschiene Aufsatz Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache das bedeutendste Dokument zu Fichtes sprachphilosophischen Reflexionen. Bei den darüber hinaus vorliegenden Texten Von der Sprachfähigkeit und Über den Ursprung der Sprache überhaupt handelt es sich lediglich um Vorlesungsnotizen zu Fichtes Jenaer Vorlesungen, die an Ernst Platners Philosophischen Aphorismen orientiert waren. Diese Notizen sind wohl auf das Jahr 1794/95 zu datieren und als Vorstufen zu dem in Niethammers Journal veröffentlichten Aufsatz zu sehen.214 Die späteren Texte aus den Reden an die deutsche Nation lassen keinen unmittelbaren Wort-Bild-Bezug mehr erkennen und unterscheiden sich in dem 213 Philosophisches Journal einer Gesellschaft Teutscher Gelehrten, hrsg. von Friedrich Immanuel Niethammer, Professor der Philosophie zu Jena. Fichtes Aufsatz ist im Ersten Band in zwei Teilen erschienen – im dritten Heft, S. 255 – 273 und im vierten Heft, S. 287 – 326. Vgl. GA I/3, S. 93. 214 Fichte, Johann Gottlieb: Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache, in: GA I/3, S. 94.

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Sprachverständnis, das sie zugrunde legen, deutlich von den früheren Texten.215 Für die Frühromantik war der Aufsatz von 1795 von Bedeutung, der trotz Friedrich Schlegels zunächst euphorischer Rezeption und darauf folgender rascher Enttäuschung216 als ein wichtiger Anstoß für die Sprachreflexionen des Schlegelkreises gesehen werden kann. Fichte behandelt in seinem Aufsatz Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache sowohl die gesprochene als auch die geschriebene Sprache, von denen er annimmt, dass sie beide ihren Ausgang bei der Natur nehmen, welche sich wiederum dem Menschen durch Gesicht und Gehör offenbart.«217 Den eigentlichen Sprachursprung vermutet Fichte jedoch – anders als etwa Herder – in der Schrift, aus der sich die phonetische Sprache erst entwickelt habe.218 Ehe sich Fichte aber der Entstehung der positiven Sprache(n) zuwendet, fragt er – ganz im Sinne seiner Transzendentalphilosophie – nach der Bedingung der Möglichkeit von Sprache überhaupt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Sprachentstehung ist das Aufzeigen eines Geistesvermögens, aus dem sich die Sprachfähigkeit notwendig erklären lässt.219 Fichte weist das – in seinen Augen recht beliebige – Spekulieren über mögliche Szenarien der Sprachentstehung als unfruchtbar zurück und meint stattdessen, dass der Sprachursprung nur dann geklärt werden könne, wenn man »aus der Natur der menschlichen Vernunft die Nothwendigkeit dieser Erfindung«220 abzuleiten vermag. Fichte verortet so – ähnlich wie Süßmilch – den Ursprung der Sprache in der menschlichen Vernunft, nimmt jedoch keine bereits kongenital in der Vernunft angelegte Sprache an. Vielmehr bildet die Vernunft erst die Voraussetzung, die eine Sprachentwicklung ermöglicht. Entscheidend ist weiterhin, dass Fichte grundlegend zwischen Sprechen und Handeln unterscheidet – sei es auch, dass einzelne Handlungen im Sinne der Pragmatik als zeichenhaft begriffen werden können. Sprache wird für Fichte erst dann notwendig, wenn Gedanken mitgeteilt werden sollen. So hält er schon in einem der ersten Abschnitte fest: »Sprache […] ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen«221. Die Suche nach Artikulationsmöglichkeiten für die kognitiven Prozesse der Vernunft bildet damit die Grundlage der Sprachentstehung.222 Die Vernunft zum Ausgangspunkt seiner sprachphiloso215 216 217 218 219 220 221

Vgl. auch Barbari’c, Damir : Fichtes Gedanken vom Wesen der Sprache, S. 218. Briefe Schlegels vom Dezember 1795 und Januar 1796. GA I/3, S. 103. GA I/3, S. 98. GA I/3, S. 97. GA I/3, S. 97. GA I/3, S. 97. Ähnlich findet sich diese Bestimmung der Sprache auch bei Salomon Maimon, Kant und später Hegel. Vgl. Janke, Wolfgang: Vom Bilde des Absoluten. Grundzüge der Phänomenologie Fichtes, Berlin, New York 1993, S. 138. 222 So weist auch Jergius darauf hin, dass Sprache für Fichte lediglich der Mitteilung von

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phischen Überlegungen zu erheben, entspricht Fichtes Ansatz einer idealistischen Philosophie, wonach der Ursprung der Welt als reine Subjektivität erklärt wird. Wie aber erläutert Fichte die Sprachentstehung konkret und welche Folgen hat dies für seine Sprach- und Zeichenkonzeption? In seiner anthropologisch begründeten Sprachursprungstheorie unterscheidet Fichte das Handeln hinsichtlich seiner Bezugsobjekte: der Natur gegenüber verhält sich der Mensch anders als einem anderen Menschen gegenüber. Fichte betrachtet es als anthropologische Konstante, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunftfähigkeit danach bestrebt ist, sich die Natur zu unterwerfen und sie nach seinen Zwecken zu modifizieren. Dieses Bestreben des Menschen, alles seiner Vernunft entsprechend anzupassen, erklärt er mit dessen Bedürfnis, Einklang zwischen den Vorstellungen der Vernunft und den Gegenständen der Natur herzustellen.223 Anders verhält es sich, wenn eine freie Subjektivität auf eine andere freie Subjektivität trifft, wenn sich also zwei Menschen begegnen.224 Während der Mensch die Natur seiner Vernunft erst unterwerfen und anpassen muss, so ist der andere Mensch schon ein ihm gleiches, vernunftbegabtes Wesen. Diese Vernunftbegabung des anderen erkennt er zunächst am »Handeln nach Zwecken.«225 Je nach der Art und Weise, wie ein Mensch auf einen anderen einwirkt, wird dieser sein Handeln anpassen und dementsprechend verändern – der andere reagiert auf die ihn konfrontierende Handlung. Ein vernunftbegabtes Wesen ist demnach in der Lage, mit einem anderen in Kommunikation zu treten. Fichte bezeichnet dies als »Wechselwirkung zwischen mir und diesem Wesen« und rekurriert dabei auf einen Schlüsselbegriff der Wissenschaftslehre.226 In erster Linie erfolgt diese Wechselwirkung zwischen zwei Menschen vermittels der Wechselwirkung zwischen ihrem Handeln, welches in stetiger Interaktion aufeinander bezogen bleibt. Jedoch kann es Missverständnisse bei der Deutung einer solchen Handlung geben. Der Handlung haftet hinsichtlich ihres Motivs eine gewisse Ambivalenz an. Kommt es aber beim Gegenüber zu einer

223

224 225 226

Gedanken diene, nicht dem Denken selbst. (Vgl. Jergius, Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik, S. 128). So erläutert Fichte: »Denn da er [der Mensch, Y.A.] ein vorstellendes Wesen ist, und in einer gewissen Rücksicht, die wir hier nicht zu bestimmen haben, die Dinge vorstellen muß, wie sie sind, so geräth er dadurch, daß die Dinge, die er vorstellt, mit seinem Triebe nicht übereinstimmen, in einen Widerspruch mit sich selbst. Daher der Trieb, die Dinge so zu bearbeiten, daß sie mit unsern Neigungen übereinstimmen, daß die Wirklichkeit dem Ideal entspreche. Der Mensch geht nothwendig darauf aus, alles, so gut er weiß, vernunftmäßig zu machen.« (GA I/3, S. 100 f.) GA I/3, S. 99. GA I/3, S. 101. GA I/3, S. 101. Zum Begriff der »Wechselwirkung« in Fichtes Wissenschaftslehre vgl. Kap. I.2.2.

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solchen Fehlinterpretation, so wird seine Reaktion nicht der erwarteten entsprechen. Daraus erwächst das Bedürfnis, seine Gedanken in weniger zweideutiger Weise mitteilen zu können. Das Instrument einer solchen Mitteilung besteht, so Fichte, in der Sprache. Sie ermöglicht eine Wechselwirkung zwischen den Gedanken zweier Menschen.227 Aus dieser Herleitung der Sprachentstehung aus der menschlichen Vernunft lässt sich auch Fichtes Zeichentheorie erklären. So verwendet er den Begriff des »willkürlichen Zeichens« zunächst nicht auf die Zeichenstruktur bezogen, sondern verweist damit auf die willentliche, reflektierte Hervorbringung der Zeichen durch den Menschen: Darunter [willkürliche Zeichen] verstehe ich hier solche Zeichen, welche ausdrücklich dazu bestimmt sind, diesen oder jenen Begriff anzudeuten. Ob diesselben mit dem Bezeichneten natürliche Ähnlichkeit haben, oder nicht, das ist hier völlig gleichgültig.228

Zeichen dienen also laut Fichte dazu, Vorstellungen des menschlichen Geistes – Begriffe – zu denotieren. Dementsprechend schließt Fichte auch Interjektionen, die gerne als »natürliche, unwillkürliche Zeichen« des Menschen betrachtet werden, von Sprache vollkommen aus.229 Auf dieser Stufe der Argumentation spielt es für Fichte keine Rolle, ob die Zeichen in einem arbiträren oder mimetischen Verhältnis zu ihrem Referenzobjekt stehen. Zeichen, seien sie abbildhaft oder arbiträr, haben für Fichte ihren Ursprung in der Tätigkeit des menschlichen Geistes; primär wird nicht deren Bezug zum bezeichneten Gegenstand problematisiert, sondern deren Verhältnis zu den kognitiven Vermögen des Menschen. Erst in einem zweiten Schritt wendet sich Fichte der Form der verwendeten Zeichen und ihrer Genese zu. So geht auch er davon aus, dass das abbildhafte Nachzeichnen von sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen den Ursprung der Schrift darstellt. Tatsächlich findet sich auch bei Fichte die Vorstellung von einer Natursprache, zu der die (ursprüngliche) menschliche Sprache in Analogie gebildet ist: »So wie die Natur den Menschen etwas durch Gehör und Gesicht bezeichnet, gerade so mußten sie es einander durch Freiheit bezeichnen – Man könnte eine auf diese Grundregel aufgebaute Sprache die Ur- oder Hierogly227 GA I/3, S. 103. Auch in seiner Grundlage des Naturrechts beschreibt Fichte die Sprache als Verständigungsmedium zwischen zwei Individuen. In diesem thematischen Kontext geht es ihm dabei jedoch in erster Linie um die sinnlich-physische Beschaffenheit der Sprache – um die Schwingungen der Luft – die als ein Medium fungieren, mittels dessen die Menschen mittelbar miteinander in Kommunikation treten können (da eine unmittelbare Verständigung nicht möglich ist). Vgl. dazu Jergius, Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik, S. 69 f. 228 GA I/3, S. 98. 229 Vgl. hierzu auch: Jergius, Philosophische Sprache und analytische Sprachkritik, S. 126 f.

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phensprache nennen.«230 Auch Fichte spricht in diesem Sinne von »natürlichen Zeichen«, deren Zeichengestalt den sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen der Natur nachgebildet ist: Die ersten Zeichen der Dinge waren, nach diesen Grundsätzen, hergenommen von den Wirkungen der Natur : sie waren nichts weiter, als eine Nachahmung derselben. Hier war die Mittheilung der Gedanken selbst willkürlich, wie sie es bei jeder Sprache sein muss, aber nicht die Art dieser Mittheilung: es stand in meiner Willkür, ob ich dem andern meine Gedanken bezeichnen wollte, oder nicht; aber im Zeichen selbst war keine Willkür.231

Fichte gebraucht den Begriff des ›willkürlichen Zeichens‹ damit auf zweierlei Weise: Zum einen verwendet er ihn erkenntnistheoretisch, wobei er auf Funktion und Bildung des Zeichens innerhalb der menschlichen Geistesvermögen verweist und zum anderen gebraucht er den Begriff im zeichentheoretischen Kontext, um sich auf die Struktur der Zeichen zu beziehen.232 Schließlich betrachtet auch Fichte die Sprachentwicklung, die sich von der Bezeichnung durch ›natürliche‹ Zeichen hin zur Verwendung arbiträrer Sprachzeichen bewegt. Er erklärt sie als einen fortwährenden Vereinfachungsprozess, der zugleich einen sukzessiven Entfremdungsprozess darstellt. Die Onomatopoetika werden – so die These – im beständigen Gebrauch zunehmend verkürzt, um ihre Aussprache zu erleichtern, bis das ursprüngliche lautliche Vorbild nicht mehr zu erkennen ist. Ist eine solche vom nachgeahmten Gegenstand unabhängige Sprache einmal ausgebildet, beginnt man allmählich auch Gegenstände, die nicht durch eine akustische Eigenschaft wahrgenommen werden können, phonetisch zu bezeichnen.233 Daneben stellt Fichte die Frage, wie der Schritt von der Bezeichnung »einzelner Gegenstände« hin zur »Bezeichnung allgemeiner Begriffe« vollzogen werden konnte. Diesen Entwicklungsschritt versucht er ebenfalls aus der menschlichen Geistestätigkeit zu rekonstruieren. So nimmt er einen stufenweisen Abstraktionsprozess an, der von Gattungsbezeichnungen zu Ge230 GA I/3, S. 103, Hervorhebung im Original. 231 GA I/3, S. 103 f. 232 In dieser auf der Zeichenstruktur beruhenden Unterscheidung von ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen steht er ganz in der Tradition der Zeichentheorie eines Mendelssohn oder Lessing, dennoch behält er stets die Aufmerksamkeit dafür, dass ein Zeichen seinem Ursprung nach grundsätzlich willkürlich ist. Bemerkenswert ist auch der Umstand, dass Fichte der Natur, indem er von der durch sie bezeichneten Hieroglyphensprache spricht, einen eigenen, vom Subjekt unabhängigen Ausdruckswert zuspricht. Auf die unterschiedliche Bedeutung des Begriffs des ›willkürlichen Zeichens‹ verweist auch Janke und betont, dass Fichte damit nicht einem Konventionalismus das Wort redet, sondern sich lediglich auf den »Akt des Zeichengebens« bezieht. (Vgl. Janke, Vom Bilde des Absoluten, S. 139 f.). 233 Vgl. GA I/3, S. 107 f.

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schlechtsbegriffen führt. So seien zuerst alle in Gestalt und Geruch einander ähnlichen Blumen unter die Gattung der Rosen subsumiert worden, ehe man für die unterschiedlichen Blumenarten eine eigene Geschlechtsbezeichnung – die der »Blume« – gefunden habe.234 Auf diesem Weg der Abstraktion werden schließlich auch Begriffe für unsinnliche Gegenstände gefunden. Fichte geht von einer erst später einsetzenden Entwicklung abstrakter, geistiger Ideen aus. So wie der Mensch aber in der Lage ist, geistige Ideen zu entwickeln, erwächst auch das Bedürfnis, diese mitzuteilen.235 Die Bezeichnung dieser Ideen kann jedoch nicht auf dem gleichen Weg erfolgen, wie die Bezeichnung physischer Gegenstände, die – der These von den ›natürlichen Zeichen‹ gemäß – zunächst auf Nachahmung ihrer sinnlichen Erscheinung beruht. Zur Bezeichnung geistiger Vorstellungen rekurriert der Mensch, so Fichte, auf diese bereits vorhandenen Bezeichnungen materieller Gegenstände. Er erklärt diese Übertragungsleistung mit Hilfe der bei Kant entlehnten Konzeption der Schemate. Die von der Einbildungskraft hervorgebrachten Schemate stellen ein abstrahiertes Modell der materiellen Gegenstände dar, das deren Eigenschaften abzüglich der individuellen Gestalt beinhaltet. Dieses abstrahierte Modell lässt sich nun, so der Gedanke, analog auch auf mentale Gegenstände beziehen: Es mussten also auch Zeichen für jene Vorstellungen aufgefunden werden. Diese Zeichen finden sich, bei übersinnlichen Ideen aus einem in der Seele des Menschen liegenden Grunde, sehr leicht. Es giebt nämlich in uns eine Vereinigung sinnlicher und geistiger Vorstellungen durch die Schemate, welche von der Einbildungskraft hervorgebracht werden. Von diesen Schematen wurden Bezeichnungen für geistige Begriffe entlehnt. Nämlich das Zeichen das der sinnliche Gegenstand, von welchem das Schema hergenommen wurde, in der Sprache schon hatte, wurde auf den übersinnlichen Begriff selbst übertragen.236

Während Kant mit Hilfe des Schematismus-Konzepts erklärt, wie einer sinnlichen Anschauung eine geistige Vorstellung zugeordnet werden kann, wendet Fichte dieses Modell auch auf die Erklärung der Sprachentstehung an. Der Ge234 Vgl. GA I/3, S. 109 f. Pietro Perconti kritisiert den zweiten Teil der Abhandlung, in dem Fichte die Entwicklung der grammatikalischen Strukturen beschreibt, mit dem Argument, es ginge Fichte um eine Transzendentalgeschichte der Sprache, nicht um eine empirische Untersuchung der natürlichen Einzelsprachen. Aufgrund dieser vorschnellen Ablehnung des Fichteschen Ansatzes entgehen ihm die philosophisch interessanten Aspekte von Fichtes sprachtheoretischer Konzeption. (Vgl. Perconti, Pietro: J.G. Fichte’s Essay on the origin of language, in: Fichte und die Literatur, hrsg. v. Helmut Girndt, Amsterdam 2002, S. 223 – 229). 235 Vgl. GA I/3, S. 113: »So wie sich nun bei einem Menschen diese Ideen mehr und mehr aufklären, regte sich auch in ihm der Trieb, andere mit dem, was er erforscht hatte, bekannt zu machen.« 236 GA I/3, S. 113.

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dankengang ist dabei folgender : Das Schema etabliert eine Verbindung zwischen einem sinnlich-wahrnehmbaren Gegenstand und einer geistigen Vorstellung. Für materielle Gegenstände aber existieren bereits Zeichen. Dieses Zeichen, das für den materiellen Gegenstand bereits vorhanden ist, wird nun auch zur Bezeichnung der mentalen Vorstellung angewendet, die vermittels des Schemas diesem Gegenstand zugeordnet wird. Fichte liefert so mit Hilfe des Schematismus-Konzepts eine Erklärung tropisch-metaphorischer Sprache. Allerdings sieht Fichte diese Bezeichnungsart durchaus skeptisch: Die Übertragung sinnlicher Zeichen auf übersinnliche Begriffe ist indeß Ursache einer Täuschung. Der Mensch wird nämlich durch die Bezeichnungsart leicht veranlasst, den geistigen Begriff, welcher auf eine solche Weise ausgedrückt worden ist, mit dem sinnlichen Gegenstande, von welchem das Zeichen entlehnt wird, zu verwechseln.237

Um diese metaphorische Redeweise zu verstehen, muss der Rezipient selbst bereits über die mentalen Vorstellungen verfügen, was weitestgehend den Gebildeten vorbehalten bleibt. Die Ungebildeten hingegen denken die geistigen Gegenstände aufgrund dieser materiell konnotierten Sprache physisch-konkret: Die Täuschung war aber unvermeidlich; man konnte jene Begriffe nicht anders bezeichnen. Wer demnach seine Denkkraft noch nicht genug geübt hatte, um dem gebildeten Geiste des Forschers, der zuerst jene geistigen Ideen in sich entwickelte, in seinen schärfern Abstractionen folgen zu können, der konnte auch unmöglich den Sinn fassen, in welchem jener die bildlichen Ausdrücke verstand. Ein solcher glaubte also, es wäre bloß von den sinnlichen Gegenständen, von welchen die vorgetragenen Zeichen entlehnt waren, die Rede, und dachte sich also die geistigen Gegenstände sehr materiell.238

So sieht Fichte in dieser Bezeichnungsweise auch die Ursache für den Aberglauben, der daraus resultiert, dass das Reden über das Transzendente nicht metaphorisch, sondern wörtlich verstanden und so das Geistige mit den materiellen Dingen identifiziert wird, von deren Bezeichnungen die Begriffe für die abstrakt-geistigen Vorstellungen entlehnt worden sind.239 Der entscheidende Aspekt von Fichtes sprachphilosophischem Ansatz besteht darin, dass er den erkenntnistheoretischen mit dem tropisch-poetologischen Aspekt verbindet. Die metaphorische Redeweise wird auf diese Weise nicht mehr als eine 237 GA I/3, S. 114. 238 GA I/3, S. 114. 239 Die Romantiker werden wenig später diesen Umstand nicht als Aberglaube abtun, sondern in der Bezeichnung des Geistigen durch das Materielle einen Hinweis sehen, dass Geistiges und Materielles tatsächlich im Stile einer solchen metaphorischen Bezeichnungsweise miteinander zusammenhängen und so die Unterscheidung in materielle und geistige Welt aufgeben. Vgl. z. B. Teil B, Kap. II.1 und 2 zur Poetologie und Philosophie August Wilhelm und Friedrich Schlegels.

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Sprache und Bild in der Philosophie des 18. Jahrhunderts

Sonderform poetischen Sprechens verstanden, sondern zu einem konstitutiven Moment des Sprechens über das Mentale erklärt, das sich aus der Struktur der menschlichen Geistesvermögen herleitet. Die tropische Sprache wird so von einem Gegenstand der Poetik zu einem Gegenstand der Erkenntnistheorie. Fichtes Sprachtheorie steht damit an der Schnittstelle zwischen zeitgenössischer Erkenntnistheorie, zeichentheoretischen und poetologischen Reflexionen. Die Rolle, die zeichen- und sprachursprungstheoretische Fragen in den kunsttheoretischen Konzepten des 18. Jahrhunderts spielen, soll im nachfolgenden Kapitel untersucht werden.

II.

Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

In den Sprach- ebenso wie in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts – und das ist von entscheidender Bedeutung für die Interdependenzen von Sprach- und Bildverständnis – spielen tropische Redeweisen im Allgemeinen und die Allegorie im Besonderen eine entscheidende Rolle. In den nachfolgenden Betrachtungen zur Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts, die mit dem ut-pictura-poesisPrinzip bricht und die verschiedenen Künste unter komparatistisch-semiotischem Vorzeichen betrachtet, wird sich die Brauchbarkeit der Allegorie hinsichtlich der Unterscheidung von Zeichenklassen erschließen, ehe ihre Funktion innerhalb von Sprach-Bild-Relationen in einem eigenen Kapitel untersucht werden soll. Unter den zahlreichen – teilweise weitaus bedeutenderen – sprachtheoretischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts fällt die Auswahl der hier exemplarisch zu betrachtenden Positionen auf Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing, die sich dadurch auszeichnen, dass sie ihre zeichentheoretischen Überlegungen nicht allein im Kontext einer Sprachtheorie entfalten, sondern sie für ihre komparatistische Kunsttheorie fruchtbar zu machen verstehen. Dass die zeichentheoretischen Überlegungen innerhalb der sprachphilosophischen Ansätze immer schon einen Seitenblick auf die bildenden Künste mit einschließen, ließ sich an den beiden Beispielen von Platon und Augustinus belegen. Zugleich zeigte sich auch, dass die semiotische Darstellungsweise der Bildkünste mit erkenntnistheoretisch begründeten, negativen Vorurteilen besetzt ist und damit – ehe eine nähere Untersuchung derselben überhaupt erfolgen könnte – vorschnell abgetan wird. Diese Haltung wird sich im 18. Jahrhundert ändern. Drei Problemkomplexe lassen sich sowohl in Platons als auch in Augustinus’ Abhandlung unterscheiden: die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit von Sprache, die Frage nach der Sprachentstehung und die Frage nach dem Verhältnis der (bildenden) Künste zur Sprache. Alle drei schließen auf die eine oder andere Weise die Frage nach der Bildlichkeit mit ein. In diesen beiden, vielleicht wirkungsmächtigsten Texten zur Sprachphilosophie der Antike und des Frühmit-

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

telalters sind damit schon die wesentlichen Grundfragen berührt, die die lebhaften sprachtheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts prägten. Alle drei Fragen behandelt auch Moses Mendelssohn. Er handelt sie jedoch in verschiedenen Texten, weitestgehend getrennt voneinander ab. Dadurch wird jedes einzelne Problem präziser behandelt, zugleich schleichen sich dadurch jedoch auch Divergenzen ein. Ehe die kunsttheoretischen Schriften Mendelssohns und Lessings in den Blick genommen werden, soll Mendelssohns circa zehn Jahre zuvor entstandener sprachtheoretischer Traktat hinsichtlich der Unterscheidung der Zeichen betrachtet werden, da die darin getroffenen Differenzierungen sowohl die Reaktion auf die seinerzeit vielbeachteten sprachkritischen Schriften darstellen als auch den Grundstein für die späteren Vergleiche der Künste bilden.

1.

Semiotische und mediale Differenz zwischen Wort und Bild – natürliche und willkürliche Zeichen

Bereits in Herders und Süßmilchs Abhandlungen zum Sprachursprung fand sich die Unterscheidung verschiedener Zeichenklassen, die in diesen Texten jedoch nicht Gegenstand der Diskussion war, sondern lediglich zur Erläuterung einzelner Stadien der Sprachentstehung herangezogen wurde. Die Rede von den natürlichen Zeichen wird etwa bei Süßmilch zur Abgrenzung von Tier- und Menschensprache verwendet. Entsprechend versteht man unter natürlichen Zeichen die unwillkürlichen, auf Empfindungen beruhenden lautlichen und gestischen Artikulationen. Es handelt sich also um Interjektionen. Herder belegt diese Form der Äußerung mit dem Begriff der »natürlichen Sprache« und verwendet den Terminus der natürlichen Zeichen in davon abweichender Bedeutung. So erklärt er in seinem Sprachursprungsaufsatz das Alphabet, aus dessen Buchstaben sich die willkürlichen Zeichen der Worte zusammensetzen, in Kontrast zu den »Bilder[n] von Sachen« als den »weit natürlichern Zeichen«.240 In diesem Sinne gebraucht, verweist der Begriff des natürlichen Zeichens auf eine andere Signifikant-Signifikat-Relation als in Süßmilchs Verwendungsweise. Beruht Süßmilchs Verständnis auf der Annahme eines Kausalzusammenhangs zwischen der Wirkursache und dem von ihr hervorgebrachten physischen Zeichen, so nimmt Herder eine ikonisch-mimetische Relation zwischen Gegenstand und Zeichen an. Für Herder sind natürliche Zeichen nachahmende Zeichen. Nach Süßmilchs Verwendungsweise des Begriffs sind natürliche Zei-

240 Vgl. Herder, Werke, Bd. 1, S. 804.

Semiotische und mediale Differenz zwischen Wort und Bild

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chen die zumeist unwillkürliche Reaktion auf Sinneseindrücke. Nur nach erster Definition beruht das natürliche Zeichen auf kognitiven Prozessen. Eine dementsprechend variierende Bedeutung findet sich auch bei der Verwendungsweise des analogen Begriffs des willkürlichen Zeichens. In Korrelation zur Verwendungsweise des Begriffs des natürlichen Zeichens im Sinne der Interjektionsthese meint der Begriff des willkürlichen Zeichens all jene Zeichenformen, die aufgrund von kognitiven Prozessen vom Menschen hervorgebracht werden. Demgemäß würde man auch das ikonisch- oder onomatopoetischnachahmende Zeichen unter die Klasse der willkürlichen Zeichen subsumieren. Die Vertreter der zweiten Position siedeln hingegen die Unterscheidung zwischen willkürlichem und natürlichem Zeichen auf Ebene der Signifikant-Signifikat-Relation an. Der Begriff des natürlichen Zeichens wird demnach für solche semiotischen Systeme verwendet, die durch eine mimetisch-abbildhafte Darstellungsweise auf den bezeichneten Gegenstand Bezug nehmen. In erster Linie handelt es sich dabei um graphisch-bildliche Zeichen, ebenso gehören aber auch onomatopoetische Zeichen zu dieser Klasse.241 Willkürlich hingegen sind all diejenigen Zeichen, bei denen die Signifikant-Signifikat-Relation einzig auf Konvention beruht; es handelt sich also um arbiträre Zeichen. Heuristisch lassen sich die drei von Peirce unterschiedenen – noch heute in der Semiotik rezipierten242 – Zeichenklassen heranziehen, um die Bedeutungsverschiebung präzise zu bestimmen. Während die sogenannten willkürlichen oder konventionellen Zeichen der Zeichenklasse entsprechen, die Peirce mit dem Begriff der symbolischen Zeichen belegt, so beruht die uneinheitliche Verwendungsweise des Begriffs des natürlichen Zeichens auf der Unterscheidung zwischen indexikalischen Zeichen, die auf einen Kausalzusammenhang zurückgehen, und ikonischen Zeichen, die den Gegenstand abbildhaft repräsentieren. Besonders in den kunsttheoretischen Abhandlungen, in erster Linie in solchen, die – nach Aufgabe des ut-pictura-poesis-Prinzips – den Paragonestreit ins Zentrum ihres Interesses rücken, gewinnt die Unterscheidung zwischen abbildhaften und arbiträren Zeichenklassen an Bedeutung und wird auf die Untersuchung der unterschiedlichen medialen Qualitäten von bildlichen und sprachlichen Zeichensystemen hin erweitert. Hier rückt die mediale Repräsentationsform des Zeichens ins Zentrum des Interesses. Das Zeichenverständnis zweier grundlegender Texte – einem aus der griechi241 Nach aktuellem linguistischem Verständnis werden Onomatopoetika allenfalls als relativ motiviert betrachtet, da sie in unterschiedlichen Sprachen variieren. Vgl. Art.: Arbitrarität, in: Metzler Lexikon Sprache, S. 55. 242 Vgl. z. B. Art.: Semiotik, in: Metzler Lexikon Sprache, S. 585 f. Hier wird darauf hingewiesen, dass sich besonders die »›Poststrukturale‹ Semiotik […] auf die interpretative Zeichentheorie von Peirce [beruft], dessen Werk seit den 1980er Jahren eine zweite, gründl. Rezeptionsphase erfährt.« (ebd., S. 586).

102

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schen Antike und einem weiteren aus dem frühen Mittelalter – die im Zusammenhang mit der Unterscheidung von natürlichen und willkürlichen Zeichen immer wieder angeführt werden, soll zu Anfang dieses Kapitels vorgestellt werden: Die Rede ist von Platons Kratylos und Augustinus’ De doctrina christiana. Platons Kratylos dürfte einer der ältesten Texte sein, der die Verwendung der Begriffe der ›natürlichen‹ und der ›konventionellen‹ Zeichen dokumentiert. Die im 18. Jahrhundert übliche Verwendungsweise des Begriffspaares wird jedoch meist auf die durch Augustinus festgelegte Definition von ›signa data‹ und ›signa naturalia‹ zurückgeführt.243 Eine Untersuchung der Verwendungsweise der Begriffe, wie sie sich in diesen beiden zentralen Quellen findet, soll ein Verständnis für deren semantischen Spielräume schaffen und ein damit einhergehendes Problembewusstsein schärfen. Daneben soll der Bedeutung des Bildes innerhalb der argumentativen Begriffsbestimmungen besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Im Zentrum dieses Kapitels sollen schließlich die – an unterschiedlicher Stelle und zu unterschiedlichen Anlässen geäußerten – zeichentheoretischen Überlegungen Moses Mendelssohns stehen, anhand derer sich nahezu das gesamte Spektrum von Verwendungsweisen des Begriffspaares der ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen nachvollziehen lässt. Verglichen werden die Positionen wie sie sich in den – im zeitlichen und thematischen Kontext voneinander deutlich unterschiedenen – Texten der Literaturbriefe, des Sendschreibens und des religionsphilosophischen Traktats Jerusalem finden. Mit Hilfe dieser Texte lassen sich alle drei hier relevanten Bereiche zeichentheoretischer Spekulation – Sprachtheorie, Schriftursprungstheorie einschließlich der Hieroglyphik und Kunsttheorie – erfassen und beleuchten. Die Zeichentheorie steht damit im Zentrum der Sprach- und Bildtheorie und bildet eine Art Scharnierstelle zwischen den verschiedenen Diskursen, in deren Rahmen sprach- und bildtheoretische Probleme verhandelt werden. Lessings zeichentheoretische Ausführungen aus dem Laokoon, in dem er die semiotische Debatte von der Sprach- in die Kunsttheorie überträgt, bilden schließlich den Abschluss des Kapitels.

1.1

Platons Kratylos

Wenn in der Literatur häufig recht allgemein darauf verwiesen wird, dass die Opposition zwischen ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen auf Platons Kratylos zurückgeht, wird dabei meist außer Acht gelassen, dass das Begriffspaar in Platons Schrift noch einen anderen Gegenstandsbereich hat. Wird der Begriff 243 Vgl. Meier-Oeser, Stephan: Art.: Zeichen I, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12, Sp. 1155 – 1171, hier Sp. 1159.

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des ›natürlichen Zeichens‹ in den Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts entweder auf Interjektionen oder auf mimetische Zeichen angewandt, während die arbiträren Buchstaben des Alphabets sowie die aus ihnen gebildeten Wörter unter die Klasse der willkürlichen Zeichen subsumiert werden, so wird im Kratylos der Begriff des ›natürlichen Zeichens‹ ebenso auf die bildliche Darstellung der Dinge wie auf die Wortsprache und ihre Buchstaben bezogen. Der zur Debatte stehende Gegenstand ist die Wortsprache samt ihrer Buchstabenschrift. Diskutiert wird, ob und inwieweit es sich bei den Wörtern um auf Konvention beruhende, willkürliche oder aber motivierte, mimetische Zeichen handelt. Als Platon seinen Kratylos verfasste, lagen die unterschiedlichen Vorstellungen von motivierten, natürlichen Zeichen einerseits und der Arbitrarität sprachlicher Zeichen andererseits bereits vor, die in verschiedenen Schulen in unterschiedlicher Weise diskutiert und bewertet wurden.244 Diese beiden Extrempositionen werden von den Kontrahenten des Dialogs – Hermogenes und Kratylos – vertreten. Die Sokratische Deduktion des Problems im Dialog mit den beiden Protagonisten führt schließlich auf eine vermittelnde Position.245 Diese vermittelnde Position lässt sich so beschreiben, dass zwar grundsätzlich eine motivierte Relation zwischen Zeichen und Bezeichnetem angenommen wird, diese jedoch niemals zu einer vollständigen Adäquatheit getrieben werden kann, mithin die Worte immer auch arbiträre Anteile haben.246 Im Kratylos, in dem Platons Sprachtheorie grundgelegt ist, wird die Frage verfolgt, ob die – in arbiträrer (griechischer) Buchstabenschrift gegebenen – Worte auf Konvention beruhen oder ein begründeter Zusammenhang zwischen der bezeichneten Sache und dem Wortzeichen besteht. Hermogenes vertritt in 244 Gaiser und Derbolav diskutieren verschiedene Zuschreibungen, mit welchen Schulen Platon sich in dem Dialog auseinandergesetzt haben könnte. (Vgl. Gaiser, Konrad: Name und Sache in Platons ›Kratylos‹, Heidelberg 1974, S. 11 – 20 und Derbolav, Jospef: Platons Sprachphilosophie im Kratylos und in den späteren Schriften, Darmstadt 1972, S. 27 – 38). Derbolav argumentiert, es sei sinnvoller, statt von Schulen oder Philosophen auszugehen, die im Kratylos verkörpert werden, von einzelnen sprachtheoretischen Positionen zu sprechen, die im Kratylos verhandelt werden. Andreas Eckl verweist ausschließlich auf die Sophistik, die die Frage nach einer natürlichen oder willkürlichen Benennung als Entweder-Oder-Debatte führte. (Vgl. Eckl, Andreas: Sprache und Logik bei Platon. Erster Teil: Logos, Name und Sache im KRATYLOS, Würzburg 2003, S. 14). 245 Vgl. hierzu z. B. Eckl, Sprache und Logik bei Platon, S. 14 – 20. 246 Die im Kratlylos vertretene sprachphilosophische Position ist in der Forschung noch immer umstritten. Vgl. Rudolf Schrastetter, der zu diesem Problem schreibt: »Bis heute scheint es noch nicht gelungen, sich Klarheit über seine [Platons, Y.A.] Meinung im Dialog ›Kratylos‹ zu verschaffen. Hält er den Menschen oder die Natur für den Ursprung der Sprache, vertritt er den Konventionalismus oder den Naturalismus? […] Neigt Platon überhaupt zu einer der beiden Richtungen, oder wertet er die Sprache ab zugunsten der über ihr stehenden Idee?« (Schrastetter, Rudolf: Die Sprachursprungsfrage in Platons »Kratylos«, in: Theorien vom Ursprung der Sprache, hrsg. v. Joachim Gessinger u. Wolfert von Rohden, Berlin u. a. 1988, Bd. 1, S. 42 – 64, hier S. 44.)

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dem Dialog eindeutig die konventionalistische These: »Denn kein Name eines Dinges gehört ihm von Natur, sondern durch Anordnung und Gewohnheit derer, welche die Wörter zur Gewohnheit machen und gebrauchen.«247 Kratylos hingegen argumentiert für die Motiviertheit der Sprachzeichen. Der Dialog arbeitet Schritt für Schritt die beiden Hypothesen und die ihnen jeweils inhärenten Probleme ab. Nachdem der extreme Konventionalismus widerlegt wurde,248 wird die Frage nach der natürlichen Wortrichtigkeit mit weit größerer Ausführlichkeit behandelt. In der Forschung wird kontrovers diskutiert, ob die eingehende Debatte um die natürliche Wortrichtigkeit, in die längere Abschnitte zur etymologischen und lautphysiognomischen Argumentation mit einer Vielzahl von Beispielen eingearbeitet sind, als – ironische –Widerlegung der Position des Kratylos durch Sokrates zu verstehen ist oder ob sie als platonisch-sokratische Theorie der Sprache aufgefasst werden muss.249 Die Lösung dieser Kontroverse ist für die Fragestellung dieser Arbeit jedoch unerheblich. Entscheidend ist die Verwendungsweise der Begriffe der ›natürlichen‹ und der ›willkürlichen‹ Zeichen, die im Folgenden dargelegt werden soll. Das in Platons Dialog vertretene Grundverständnis von Zeichen geht davon aus, dass der Mensch – ungeachtet der Art des Zeichens, dessen er sich bedient – stets »die Natur des Dinges selbst nachzuahmen« bestrebt ist.250 Die verwendeten Zeichen können dabei durchaus unterschiedlich sein – Bilder der Gegenstände werden ebenso genannt wie mimische und gestische Zeichen.251 Die Wörter werden dadurch bestimmt, dass sie das Wesen der Dinge mit der Stimme nachahmen: »Das Wort also ist, wie mir scheint, eine ›Nachahmung der Stimme‹ dessen, was es nachahmt, und derjenige benennt etwas, der, was er nachahmt, mit der Stimme nachahmt?«252 Der Begriff der Nachahmung wird allerdings differenziert gebraucht. So wird zwischen der Nachahmung in den schönen Künsten und jener semiotischen Nachahmung unterschieden. Anders als etwa Herder das Blöken des Schafes als ein Prädikat des 247 Platon, Kratylos, in: Platon: Werke in acht Bänden Griechisch und Deutsch, hrsg. v. Gunther Eigler, 384d, ou ¨ c±q v¼sei ej\sty pevuj]mai |mola ou ¨ d³moudem_, akk± m|ly ja· ehei tym ehis\mtym jako¼mtym. 248 Vgl. zu dem Argumentationsgang ausführlich: Eckl, Sprache und Logik bei Platon, S. 22 – 29. 249 Diese Diskussion in der Kratylos-Forschung zeichnet Gaiser in seinem Kapitel »Scherz oder Ernst« seit ihren Anfängen bei Schleiermacher nach. (Vgl. Gaiser, Name und Sache in Platons ›Kratylos‹.) Eckls Arbeit ist ein Beispiel aus der jüngsten Kratylos-Forschung, die sich gänzlich auf die Ironie-These stützt und aus ihr heraus die sukzessive Widerlegung der naturalistischen These durch Sokrates erklärt, die auf das abschließende Argument der Wahrheitsdifferenz hinführt. (Vgl. Eckl, Sprache und Logik bei Platon). . 250 Platon, Kratylos, Nr. 423a, lilo¼lemoi autµm tµm q¼sim tou pq\cltor. 251 Platon, Kratylos, 423a–b. 252 Platon, Kratylos, 423b, mmol¨ \q¨ ¨ et_m, yr ]oije, l_lgla vymg ¨ eje_mou d lilitai ja· ¨ oml\fei o lilo¼lemo tg vymg ºtam lilgtai.

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Gegenstands beschreibt, an dem sich durch mimetisches Nachahmen die ersten Zeichen der gesprochenen Sprache orientierten, weist Platon diese Art von mimetischer Nachahmung den schönen Künsten zu: Die Dinge haben doch jedes seine Gestalt und Stimme, auch Farbe wohl die meisten? […] Mir scheint nun nicht, wenn jemand diese nachahmt, und nicht in Nachahmungen dieser Art die benennende Kunst zu bestehen. Denn diese gehören die einen zur Tonkunst, die anderen zur Malerei.253

Die Nachahmung der phänomenologischen Erscheinung der Gegenstände ist Aufgabe der schönen Künste. Die Sprache ist davon unterschieden, indem sie »durch Buchstaben und Silben« »das Wesen eines jeden Dinges« nachahmt und darstellt.254 Damit ist die Sprache auf die Erkenntnis der Dinge gerichtet. Das Nachahmen des Blökens des Schafes wird also gerade nicht mit der Entstehung der Worte in Zusammenhang gebracht – dieses mimische Nachahmen entspricht den (Ton-)Künsten, während das Benennen einen anderen Weg der Nachahmung wählt.255 Dieser Weg der Nachahmung bedarf jedoch einer näheren Erläuterung. Eine (göttliche) Autorität an den Beginn der Sprachentstehung zu setzen, die befähigt wäre, Buchstaben und Wörter dem Wesen der durch sie benannten Dinge gemäß einzusetzen, wird dezidiert zurückgewiesen.256 Stattdessen wird versucht, den Weg der logischen Argumentation zu beschreiten. Grundgelegt wird die Annahme von einer natürlichen Bedeutung der Buchstaben. Die Begründung sieht folgendermaßen aus: Der Buchstabe r also, wie ich sage, schien dem, welcher die Benennungen festsetzte, ein schönes Organ für die Bewegung, indem er sie durch seine Rührigkeit selbst abbildet; daher bedient er sich desselben hierzu auch gar häufig. Zuerst schon in »Strömen« und »Strom« stellt er durch diesen Buchstaben die Bewegung dar ; ebenso in »Trotz« und in »rau«, und in allen solchen Zeitwörtern wie »rasseln«, »reiben«, »reißen«, »zertrümmern«, »krümeln«, »drehen«, alle dergleichen bildet er größtenteils ab durch das r. Denn er sah, daß die Zunge hierbei am wenigsten still bleibt, sondern vorzüglich erschüttert wird, und daher gewiß hat er sich dessen hierzu bedient.257 253 Platon, Kratylos, 423d,¨ esti toir pq\clasi vymµ ja· wla easty, ja· wqyl\ ce pokkoir; […] =oij to_mum ou ¨ j ¨ eam tir tauta lilgtai, ou ¨ d³ peq· .ta¼tar t±r lil^seir g t´wmg ¨ omolatijµ eijai. Autai gm c\q ¨ eisim g l³m lusij^, g d³ cqavj^. 254 Platon, Kratylos, 423e. Diese Unterscheidung zwischen mimischen Zeichen und Buchstabenzeichen der Sprache in Platons Kratylos wird gerne übersehen, wenn der Begriff des natürlichen Zeichens in der Bedeutung von ›mimischem Zeichen‹ auf Platon zurückgeführt wird. Eckl weist darauf hin, dass der Text über die Frage, ob das Wesen überhaupt nachgeahmt werden kann, hinweggeht. Die Einführung der Rede vom Wesen des Begriffs deutet er allerdings als ein Indiz, das dem Leser die hier ablaufende Schein-Argumentation anzeigen soll. (Vgl. Eckl, Sprache und Logik bei Platon, S. 194). 255 Platon, Kratylos, 423c–d. 256 Platon, Kratylos, 425 d–e. 257 Platon, Kratylos, 426d–e, T¹ d³ oumqy t¹ stoiweiom, ¾speq k´cy, jakk¹m´onem |qcamom eimai

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Diese These der Wortbildung wird noch an ganz anderer Stelle dieser Arbeit, nämlich im Bereich des mystischen Sprachverständnisses, begegnen und wird hinsichtlich ihrer Implikationen in Kap. III.2, das sich mit Jacob Böhme befasst, näher diskutiert.258 Die Überlegungen bezüglich der Buchstaben beruhen auf einer These, die die Schrift in Analogie zur Malerei deutet: So wie die Elemente eines Gemäldes der phänomenologischen Erscheinung der dargestellten Dinge entsprechen müssen, so sollen auch die Buchstaben als Elemente der Sprache dem Wesen der bezeichneten Gegenstände korrespondieren: Wenn also nun das Wort dem Gegenstande ähnlich sein soll: so müssen notwendig auch von Natur den Gegenständen die Buchstaben ähnlich sein, aus denen man die Stammwörter zusammensetzen muß. Ich meine so: Könnte wohl jemand, wovon wir auch schon sprachen, ein Gemälde irgendeinem Dinge ähnlich ausarbeiten, wenn nicht schon von Natur die Färbemittel, aus denen das Gemälde zusammengesetzt wird, jenen Dingen ähnlich wären, welche die Malerei nachahmt. […] Ebenso demnach würden auch die Wörter nie irgendeinem Dinge ähnlich werden, wenn nicht zuvor jenes, woraus die Wörter zusammengesetzt werden müssen, eine gewisse Ähnlichkeit hatte mit dem, dessen Nachbildungen die Wörter sind. Zusammengesetzt aber müssen sie werden aus Buchstaben?259

Werden allerdings Bilder wie Worte gleichermaßen als Nachahmung der Dinge verstanden, so stellt sich die Frage, inwieweit beide Zeichenformen gegenseitig substituiert werden können? »Kann man wohl diese beiderlei Nachahmungen, die Bilder sowie die Wörter, unter die Dinge verteilen und ihnen zuschreiben, deren Nachahmungen sie sind, oder nicht?«260 Dem wird nicht nur zugestimmt, . tgr jim^seyr tyt±o ¨ mºlata tihel´my q¹r t¹ ¨ avoloium tg voqa pokawoucoum wgtai au ¨ ty eir . au ¨ t^m pqytom l³m ¨ em au ¨ ty ty ›qeim‹ ja· ›qog‹ di± to}tou tou cq²llator tµm voq±m lileita, eita ¨ em ty ›tq|ly‹, eita ¨ em ty ›tqaei‹, ¨ eti d³ ¨ em toir toioisde q^lasim oium ›jqo}eim‹, ›hqa}eim‹, ›e ¨ qe_jeim‹, ›hq}ptim‹, ›jeqlat_feim‹, ›quloeim‹, p\mta tauta t¹ pok» ¨ ape ij\fei di± tou qy. . E¾qa c\q, oilai, tµm ckyttam ¨ em to}ty ^jista l]mousam,l\kista d³ seiol]mgm di¹va_meta_ oi to}ty pq¹r tauta jatajewqgshai. 258 Die Verwendung dieser – leicht modifizierten – Argumentation im 17. und 18. Jahrhundert sowohl in der Mystik als auch bei Philosophen wie Leibniz, Wilkins und Comenius rekonstruiert Baxter in seiner Untersuchung über Platons Kratylos. Dabei weist er ausdrücklich auf Jacob Böhme als »one of the most important proponents of this doctrine« hin. (Vgl. Timothy M.S. Baxter : The Cratylus. Plato’s Critique of Naming, Leiden, New York, Köln 1992, S. 65 – 72). 259 Platon, Kratylos, 434a–b, Ou ¨ joum e_peq ]stai t¹ ¨ omola |loiom ty pq\clati, ¨ amacjaiom pevuj]mai t± stoiweia |loia toir pq\clasim, ¨ en ym t± pqyta ¨ omolat\ tir numh^sei ; yde . d³k]cy aq\ pot¨ ¨ am tir num]hgjem o mum dµ ¨ ek]colem fycq\vgla |loi|m ty tym |mtym, ei¨ lµv}sei upgqwe vaqlajeia |loia |mta,e ¨ n ym numt_hetai t± fycqavo}lema, ¨ eje_moira lileitai g cqavij^ ; […] Ou ¨ joum ysa}tyr jai ¨ omolata ou ¨ j ¨ am pote |loia c]moito ou ¨ dem_,ei¨ lµ up\qnei ¨ ejima pqtom oloi|tgt\ tima ¨ ewomta,e ¨ n ym numt_hetai t± ¨ om|lata,e ¨ je_moir ym ¨ esti t± ¨ om|lata lil^lata ; ¨ estid],e ¨ n ym sumhet]om, stoiweia. 260 Platon, Kratylos, 430b, ¨ esti diameilai ja·pqosemecjeim tauta ¨ alv|teqa t±lil^lata ,t\ te fycqav^lata j±jeima t± ¨ om|lata, toir pq\clasim ym lil^lat\ ¨ estim,g ¨ ou ¨ ;

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auch wird damit eine Hierarchisierung zwischen Wort und Bild hinsichtlich ihres Erkenntniswertes verknüpft: »Nämlich eine solche Verteilung beider Nachahmungen, der Bilder sowie der Wörter, nenne ich richtig, die der Wörter aber zugleich auch wahr.«261 Noch zu lösen bleibt bei dieser Argumentation das Problem, dass es keine einheitliche Universalsprache gibt, sondern man sich mit einem Pluralismus unterschiedlicher Sprachen konfrontiert sieht. Einerseits wird betont, dass auch zwischen den Buchstaben, hinsichtlich derer sich zwei Wörter aus zwei verschiedenen Sprachen unterscheiden, Ähnlichkeit bestehen kann.262 Andererseits wird aber auch eingeräumt, dass nicht alle Buchstaben eines Wortes dem Wesen der bezeichneten Sache entsprechen. Dass der Mensch diese Wörter dennoch verstehen kann, beruht auf Vereinbarung, so dass sich an dieser Stelle doch wieder die Arbitrarität und Konvention in die entfaltete Sprachtheorie einschleicht, allerdings nur graduell. »Denn auf das bestmögliche werden sie [die Wörter, Y.A.] wohl gebildet sein, wenn jedes ganz oder größtenteils aus ähnlichen Buchstaben besteht, denn das sind doch die gehörigen, und aufs schlechteste, wenn das Gegenteil eintritt.«263 Kein Wort kann also das Wesen der Dinge gänzlich erfassen. Daher, so endet der Dialog, sind eben auch die Worte – ganz im Sinne des platonischen Grunddiktums – nur Schatten der Dinge und eine wahre Erkenntnis vom Wesen der Dinge lässt sich besser durch Betrachtung der Dinge selbst erlangen als durch Betrachtung ihrer Namen.264

1.2

Augustinus’ De doctrina christiana

Augustinus hat in seiner Schrift zur Bibelauslegung, De doctrina christiana, eine Zeichentheorie entwickelt, die ihm zur Grundlage seiner Exegese dient.265 Er beginnt mit der Unterscheidung der Gegenstände, mit denen sich eine Abhandlung beschäftigt, und dem Medium, in dem diese Gegenstände behandelt werden. Der entscheidende Satz aus dieser Schrift, der beständig zitiert wird und 261 Platon, Kratylos, 430d. 262 Platon, Kratylos, 434c–d. 263 Platon, Kratylos, 435c,¨ Epe· _syr jat\ ce t¹ dumat¹m j\kkist¨ ¨ am k]cioto |tam ¨ g pasim ¨ g yr pke_stoir olo_oir k]cgtai, touto d¨ ¨ esti pqos^jousim, ai¨ swista d³ tou ¨ mamt_om. 264 Platon, Kratylos, 434a –439b. 265 Ausführliche Untersuchungen über die Sprach- und Zeichentheorie in Augustinus’ Gesamtwerk haben Ulrich Duchrow und Cornelius Petrus Mayer vorgelegt. (Duchrow, Ulrich: Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin, Tübingen 1965; Mayer, Cornelius Petrus: Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins. II. Teil: Die antimanichäische Epoche, Würzburg 1974). Keine der beiden Abhandlungen betrachtet jedoch die Zeichentheorie innerhalb eines breiteren semiotischen Diskurses oder analysiert sie unter modernen semiotischen Gesichtspunkten.

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quasi leitmotivisch das Thema dieser Abhandlung formuliert, lautet: »jede Unterweisung bezieht sich auf Dinge oder auf Zeichen, aber Dinge werden durch Zeichen gelernt.«266 Dabei gibt es ein Ungleichgewicht zwischen beiden: Während alles (also auch die Zeichen) ein Ding ist, ist aber nicht jedes Ding ein Zeichen. Augustinus kennt solche Dinge, die keine Referenz außerhalb ihrer selbst haben und zählt als Beispiele einige materielle Gegenstände wie Stein und Holz auf. Allerdings können individuelle Vertreter dieser Klassen zu Zeichen werden, die auf andere Dinge verweisen. Hier dient ihm das Holz als Beispiel, mit dem Moses aus einem bitteren Gewässer ein süßes machte (Ex 15,25). Daneben gibt es Zeichen, die ihre Funktion ausschließlich im Bezeichnen haben – darunter fallen die Wörter der Sprache.267 Während das erste Buch seines Traktats den Dingen gewidmet ist, befassen sich die darauffolgenden drei Bücher mit den Zeichen.268 Seinen Überlegungen zu den Zeichen schickt Augustinus die Klarstellung voraus, dass bei den Zeichen nicht so sehr ihre Existenz interessieren darf als vielmehr ihr Referenzobjekt – die bezeichnete Sache. Das Zeichen in seiner formalen Gestalt ist bei Augustinus, anders als bei den Mystikern, von untergeordnetem Interesse. Die Form des Zeichens ist für seine Bedeutung nicht relevant. Seiner Form nach ist das Zeichen sinnlich wahrnehmbar, diese empirische Gestalt ist aber nur die Hilfskonstruktion, die etwas im Nachdenken des Menschen bewirken soll. Das Zeichen ist also seiner Form nach auf die Sinne, seiner Bedeutung nach aber auf den Verstand oder – mit Augustinus’ Worten – auf die Seele gerichtet. Auch Augustinus trifft die Unterscheidung zwischen natürlichen und durch Konvention festgelegten Zeichen. Als natürliche Zeichen bestimmt er solche, die nach der Peirceschen Terminologie als Indices gelten würden: Es handelt sich um Dinge, aus denen sich Rückschlüsse auf andere Sachverhalte ergeben. So verwendet auch Augustinus das klassische Beispiel des Rauchs, der auf Feuer verweist, oder der Spur im Sand, die das vorbeigekommene Tier verrät. Diese Zeichen beruhen auf Ursache-Wirkungs-Relationen, die aus der Erfahrung gelernt werden. Natürliche Zeichen gehen nach Augustinus’ Definition nicht auf eine Intention des Bezeichnens zurück: »Natürliche Zeichen sind diejenigen, welche ohne den Willen und ohne irgendein Streben nach Bezeichnung bewir266 Augustinus, Aurelius: Die christliche Bildung (De doctrina christiana), Übersetzung, Anmerkungen u. Nachwort v. Karla Pollmann, Stuttgart 2002, Liber Primus, II.2. Die nachfolgend jeweils in Klammern gegebene lateinische Version ist entnommen aus: Augustinus, Aurelius: De doctrina christiana, in: ders.: Opera, Bd. IV,I, Turnholti 1962. [Corpus Christianorum, Series Latina]. (Omnis doctrina uel rerum est uel signorum, sed res per signa discuntur.). 267 Vgl. ebd., Liber Primus, II.2. 268 Den Aufbau der Schrift und die möglichen dahinter stehenden Kompositionsprinzipien und theologischen Erwägungen diskutiert Cornelius Petrus Mayer ausführlich. Vgl. Mayer 1974, S. 88 – 96.

Semiotische und mediale Differenz zwischen Wort und Bild

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ken, daß neben ihnen selbst noch irgend etwas anderes aus ihnen erkannt wird […]«269 Damit liegen lediglich der Interpretation der natürlichen Zeichen kognitive Prozesse zugrunde, nicht aber ihrer Bildung. Die konventionellen oder willkürlichen Zeichen hingegen beruhen auf einer vom ihrem Urheber intendierten Mitteilungsfunktion: Konventionelle Zeichen sind aber diejenigen, welche sich alle Lebewesen gegenseitig geben, um nach besten Kräften die Bewegungen ihres Geistes oder irgendwelcher Wahrnehmungen oder Gedanken anzuzeigen. Es gibt für uns nur einen Grund zu bezeichnen, d. h. Zeichen zu geben, nämlich um das hervorzuholen und in den Geist eines anderen Menschen hinüberzuleiten, was der im Sinn führt, der das Zeichen gibt.270

Hier zeigt sich, wie Augustinus noch weniger differenziert denkt als die Erkenntnistheoretiker des 17. und 18. Jahrhunderts. Er vermutet zumindest noch eine Sprachfähigkeit bei den Tieren, die der des Menschen ähnlich ist. Auch reduziert er die (Sprach-)Zeichen auf ihren Mitteilungswert. Die Bedeutung der Zeichen für kognitive Prozesse an sich wird noch nicht problematisiert. Die Einteilung der Zeichen, wie Augustinus sie vornimmt, bezieht sich demnach noch nicht auf den visuellen bzw. sprachlichen Charakter derselben. Obwohl Augustinus von der Willkürlichkeit der Buchstabenschrift ausgeht, räumt er dennoch eine den Zeichen inhärente Ähnlichkeit mit der bezeichneten Sache ein, die sich aber aufgrund der Vielseitigkeit der Dinge ganz unterschiedlich artikulieren kann, was die konventionelle Übereinkunft über die Bedeutung der Zeichen dennoch notwendig macht: Dennoch streben alle Menschen nach einer gewissen Ähnlichkeit beim Bezeichnen, so daß die Zeichen selbst, soweit möglich, den Dingen, welche bezeichnet werden, ähnlich sind. Aber weil ja auf vielerlei Weise etwas einer Sache ähnlich sein kann, stehen solche Zeichen unter den Menschen nur fest, wenn Übereinkunft hinzukommt.271

Hier scheint er eine ähnliche Argumentation zu wählen wie Platon in seinem Kratylos, allerdings ist seine Argumentation weniger logisch fundiert. Ebenso wie Platon unterscheidet er von der sprachlichen Ähnlichkeitsrelation zwischen 269 Augustinus, De doctrina christiana, Liber Secundus, I.2. (Naturalia sunt, quae sine uoluntate atque ullo appetitu significandi praeter se aliquid aliud ex se cognosci faciunt.). 270 Ebd., Liber Secundus, II.3. (Data uero signa sunt, quae sibi quaeque uiuentia inuicem dant ad demonstrandos, quantum possunt, motus animi sui uel sensa aut intellecta quaelibet. Nec ulla causa es nobis significandi, id est signi dandi, nisi ad depromendum et traiciendum in alterius animum id, quod animo gerit, qui signum dat.). 271 Ebd., Liber Secundus, XXV, 38. (Appetunt tamen omnes quandam similitudinem in significando, ut ipsa signa, quantum possunt, rebus, quae significantur, simila sint. Sed quia multis modis simile aliquid alicui potest esse, non constant talia signa inter homines, nisi consensus accedat.).

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

Zeichen und Bezeichnetem das bildkünstlerische, mimetische Verhältnis zwischen dargestellter Sache und Darstellung: Aber bei Bildern, Statuen und allen anderen mimetischen Werken dieser Art, besonders wenn sie von fähigen Künstlern angefertigt wurden, irrt niemand, wenn er ähnliche Dinge gesehen hat, so daß er wieder erkennt, welchen Dingen sie ähnlich sind. Und diese ganze Art des Bezeichnens muß unter die überflüssigen Einrichtungen der Menschen gerechnet werden.272

So ist die Kunst, da sie im Verständnis des Augustinus der Erkenntnis nichts Neues hinzuzufügen vermag, ohne Zweck und damit eindeutig negativ besetzt. In dem Passus, dem obiges Zitat entstammt, wird aus dem gleichen Grund neben der bildenden Kunst auch die Literatur (»erfundene Fabeln und fiktionale Geschichten«) verurteilt. Augustinus erkennt in der Kunst alleine ihren mimetischen Charakter.273 Ein weiterer, gerade im 18. Jahrhundert wiederholt für die Kunst in Anspruch genommener Modus des Bezeichnens, die uneigentliche, bildliche Rede, spielt in De doctrina christiana zwar eine wichtige Rolle, wird aber nicht mit der Kunst in Verbindung gebracht. Tropische Redeweise und ihr Pendant der Allegorese werden ausschließlich unter dem Vorzeichen der Auslegung der Heiligen Schrift betrachtet. »Dunkle Stellen« in der Bibel führt Augustinus teils – und das ist die simplere Erklärung – auf Unkenntnis (fremder) Sprachen und einzelner Begriffe zurück, teils sieht er sie jedoch auch in figürlicher Rede – das ist das interessantere Problem – begründet: »Es gibt zwei Gründe dafür, daß nicht verstanden wird, was geschrieben worden ist: entweder ist es durch unbekannte oder doppeldeutige Zeichen verhüllt.«274 Hier führt Augustinus zwei weitere Bestimmungen für Zeichen ein, die in der Forschung als eigene Zeichenklassen behandelt werden: die ›signa ignota‹ (unbekannte Zeichen) und die ›signa ambigua‹ (doppeldeutige Zeichen).275 Eine andere Unterscheidung differenziert 272 Ebd., Liber Secundus, XXV, 39. (In picturis uero statuis ceterisque huiusmodi simulatis operibus, maxime peritorum artificum, nemo errat, cum similia uiderit, ut agnoscat, quibus sint rebus similia. Et hoc totum genus inter superflua hominum instituta numerandum est.). 273 In den Untersuchungen zu Augustinus’ Zeichenverständnis, wie er es in De doctrina christiana niedergelegt hat, beachtet die Forschung weder diese Überlegungen zur Bedeutung der Nachahmung für die ›signa data‹ noch deren Abgrenzung von Werken der Kunst. (Vgl. hierzu etwa: Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins oder Duchrow, Sprachverständnis und biblisches Hören bei Augustin). 274 Augustinus, De doctrina christiana, Liber Secundus, X,15. (Duabus autem causis non intelleguntur, quae scripta sunt, si aut ignotis aut ambiguis signis abteguntur.). 275 Vgl. hierzu Gaetano Lettieri: De doctrina christiana (Über die christliche Wissensaneignung und Lehre), in: Augustin Handbuch, hrsg. von Volker Henning Drecoll, Tübingen 2007, S. 382, Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins, S. 102 f.

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die ›signa data‹ in ›signa propria‹ und ›signa translata‹. Letztere sind für die Interpretation der Bibel von eigentlichem Interesse. Für Augustinus haben die übertragenen Zeichen notwendig einen metaphysischen Bezug.276 Sie bilden die Grundlage der tropischen Redeweise: Es handelt sich um übertragene Zeichen, wenn sogar die Dinge selbst, die wir mit den entsprechenden Worten bezeichnen, dazu benutzt werden, um etwas anderes zu bezeichnen, wie wir z. B. Rind sagen und durch diese Silbe das Tier erkennen, das mit diesem Ausdruck gewöhnlich bezeichnet wird; aber dann erkennen wir wiederum durch jenes Tier den Evangelisten, den die Schrift nach der Auslegung des Apostels bezeichnet, wenn sie sagt: ›Du sollst ein dreschendes Rind nicht mit einem Zaum versehen‹277

Das Phänomen tropischer Redeweise stellt für Augustinus also in aller erster Linie ein interpretatorisches Problem dar. Zu deren Verständnis gelangt man »teils mit Hilfe der Kenntnis der Sprachen, teils mit Hilfe der Kenntnis der Dinge«.278 Verfügt man über ausreichendes Wissen über den Gegenstand, der als Bildspender dient, so erschließt sich meist die Aussage, die über den Bildempfänger gemacht wird.

1.3

Der semiotische Diskurs in Sprach- und Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts

1.3.1 Zeichentheorie in Mendelssohns religionsphilosophischer Schrift Jerusalem Moses Mendelssohns vielfältiges Nachdenken über Sprache und ihre mediale Vermittlung zeichnet sich vielleicht in besonderer Weise durch den erkenntnistheoretischen Horizont aus, in den es eingebettet ist. Neben einer – Entwurf gebliebenen – Abhandlung über die Sprachentstehung und den zeichentheoretischen Ausführungen in seinen kunstphilosophischen Schriften, beschäftigt sich Mendelssohn noch in einem anderen Kontext mit Schrift und Zeichenklassen: eine in diesem Kontext stets erwähnte Passage stammt aus seinem

276 Vgl. Mayer, Die Zeichen in der geistigen Entwicklung und in der Theologie Augustins, S. 102 f. 277 Augustinus, De doctrina christiana, Liber Secundus, X.15. (Translata sunt, cum et ipsae res, quas propriis uerbis significamus, ad aliquid aliud significandum usurpantur, sicut dicmus bouem et per has duas syllabas intellegimus pecus, quod isto nomine appellari solet, sed rursus per illud pecus intellegimus euangelistam, quem significauit scriptura interpretante apostolo dicens: bouem triturantem non infrenabis.). 278 Ebd., Liber Secundus, XVI, 23. (partim linguarum notita partim rerum inuestiganda sunt).

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

religionsgeschichtlichen Werk Jerusalem.279 Dass es in dieser Zeit keinesfalls unüblich ist, das Problem des Sprachursprungs in Abhandlungen zum Alten Testament bzw. zur jüdischen Bibel aufzugreifen, wird sich im nächsten Kapitel anhand von Herders Text Älteste Urkunde des Menschengeschlechts zeigen.280 Mendelssohns Herangehensweise an das Thema ist jedoch von der Herderschen grundlegend verschieden. Er leitet seine – in der Forschung wiederholt zitierten – Ausführungen zur Schriftentwicklung mit einer tiefgreifenden Schriftskepsis ein, die sich aus der jüdischen Tradition der Mündlichkeit speist. Die emphatische Hochschätzung der Mündlichkeit begründet Mendelssohn einerseits mit der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit mündlich überlieferter Lehren an veränderte Gegebenheiten, andererseits mit dem durch sie gegebenen persönlichen Kontakt und Austausch zwischen Schüler und Lehrer. Dabei handelt es sich bei dieser Tradition der Mündlichkeit, die Mendelssohn im frühen Judentum nachweist, nicht um ein Unvermögen des Schreibens. Das von Gott gegebene Gesetz liegt in schriftlicher Form vor. Von dieser Schriftlichkeit aber Gebrauch zu machen, die zugleich die Unveränderlichkeit des Niedergeschriebenen mit sich bringt, bleibt Gott vorbehalten.281 Die Verschriftlichung

279 Vgl. Engel, Eva J.: Die sprachwissenschaftlichen Schriften. Allgemeine Einführung zu Mendelssohns Beitrag, in: JubA, Bd. 6.2, S. XI – XIX. 280 Mendelssohn war es auch, der – neben dem Göttinger Orientalisten und Hebraisten Johann David Michaelis – die auf den englischen Theologen Robert Lowth zurückgehende literaturkritische Betrachtungsweise des Alten Testaments als neuen exegetischen Ansatz im deutschen Sprachraum bekannt machte. Zugleich legt Schorch in ihrem Aufsatz dar, dass neben Mendelssohn auch Herder eine bedeutende Rezeption der Lowthschen Schrift De sacra Poesie Hebraeorum vorgelegt hat. Insgesamt ist ihr Aufsatz als ein Vergleich dieser beiden Rezeptionsweisen angelegt. Vgl. hierzu Schorch, Grit: Das Erhabene und die Dichtkunst der Hebräer. Transformationen eines ästhetischen Konzepts bei Lowth, Mendelssohn und Herder, in: Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, hrsg. v. Christoph Schulte, Hildesheim 2003, S. 67 – 92. 281 So heißt es in seinen Ausführungen über die Anfänge des Judentums: »Ich habe nunmehr, zum Grundrisse des alten, ursprünglichen Judentums, wie ich mir solches vorstelle, die Außenlinien entworfen. Lehrbegriffe und Gesetze; Gesinnungen und Handlungen. Jene waren nicht an Worte und Schriftzeichen gebunden, die für alle Menschen und Zeiten, unter allen Revolutionen der Sprache, Sitten, Lebensarten und Verhältnisse immer dieselben bleiben, uns immer dieselbe steife Formen darbieten sollen, in welche wir unsere Begriffe nicht einzwängen können, ohne sie zu verstümmeln. Sie wurden dem lebendigen, geistigen Unterrichte anvertraut, der mit allen Veränderungen der Zeiten und Umstände gleichen Schritt halten, und nach dem Bedürfnis, nach der Fähigkeit und Fassungskraft des Lehrlings abgeändert und gemodelt werden kann. Die Veranlassung zu diesem väterlichen Unterrichte fand man in dem geschriebenen Gesetzbuche, und in den Zeremonialhandlungen, die der Bekenner des Judentums unaufhörlich zu beobachten hatte. Es war anfangs ausdrücklich verboten, über die Gesetze mehr zu schreiben, als Gott der Nation durch Mosen hat verzeichnen lassen. ›Was mündlich überliefert worden‹, sagen die Rabbinen ›ist dir nicht erlaubt niederzuschreiben.‹« (JubA, Bd. 8, S. 168 f.).

Semiotische und mediale Differenz zwischen Wort und Bild

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der Gesetzesauslegung wird damit auch als Zerstörung des Gesetzes gedeutet.282 So bedeutet die Ausbreitung der Schriftlichkeit einschließlich ihrer technischen Reproduktionsmöglichkeiten für Mendelssohn einen tiefgreifenden Wandel in der Menschheitsgeschichte. »Die Ausbreitung der Schriften und Bücher, die durch die Erfindung der Druckerey in unseren Tagen ins Unendliche vermehrt worden sind« beklagt Mendelssohn »hat den Menschen ganz umgeschaffen.«283 Die Auswirkung beschreibt er mit der durch Paulus etablierten Geist-BuchstabeDichotomie: »Alles ist todter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen Unterhaltung.«284 Er diagnostiziert für den gegenwärtigen Menschen »Mit einem Worte, wir sind litterati, Buchstabenmenschen.«285 Mit der Entwicklung und Ausbreitung der Schrift geht für Mendelssohn das Auseinanderfallen von Wissen und Leben einher, das auch die Romantiker in ihren Texten beklagen und durch ein neues, poetisches Verständnis von Schrift aufzuheben versuchen werden.286 So plädiert Mendelssohns Argumentation, die die im 18. Jahrhundert geläufige, auf der paulinischen Geist-Buchstabe-Dichotomie basierende Abwertung des Judentums konterkariert, jedoch nicht für eine Aufwertung der Schriftlichkeit, sondern bleibt dem in der Aufklärung tradierten Primat der Mündlichkeit verhaftet.287 282 283 284 285 286

Vgl. JubA, Bd. 8, S. 169. Ebd., S. 169. Ebd., S. 169. Ebd., S. 170. »Der Mensch war dem Menschen nothwendiger ; die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrachtung inniger mit Handlung verbunden.« (JubA, Bd. 8, S. 170). 287 So ist zwar generell Christiane Freys Beobachtung zuzustimmen, dass Mendelssohn in Jerusalem der mit dem Geist-Buchstabe-Argument operierenden Ausspielung der jüdischen Tradition gegen das Christentum entgegentritt, ihre Argumentation, Mendelssohn operiere dabei mit einer Aufwertung der Schriftlichkeit, die sie aus den bildlichen Komponenten seiner Sprach- und Schriftentstehungshypothese herzuleiten versucht, erweist sich aber nur in dem eingeschränkten Feld der Sprachtheorie als richtig. Im Rahmen der theologisch geprägten Diskussion um die Buchstabe-Geist-Dichotomie trägt dieses Argument nicht. Die diesen Ausführungen über die Sprachentstehung vorangehende, oben zitierte Passage zur Mündlichkeit spricht eine allzu deutliche, andere Sprache. Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch Mendelssohns – von Frey hervorgehobenes – Verständnis des Mosaischen Gesetztes als Handlungsanweisung, nicht als eines Sets von Vernunftwahrheiten, als welches es im christlichen Verständnis betrachtet wird. Ein Argument, das jedoch noch nicht für eine Aufwertung der Schriftlichkeit spricht. So verteidigt Mendelssohn das Judentum zwar gegen den Vorwurf, Buchstabenreligion zu sein, er adaptiert dabei jedoch die paulinische Geist-Buchstaben-Dichotomie, auf die die christlichen Diskurse rekurrieren, und rechtfertigt das Judentum davor, indem er die Relevanz der Mündlichkeit im Judentum herausstellt. Die von Frey beobachteten Erklärungen Mendelssohns zur Schriftentstehung, die vom Aufklärungsdiskurs abweichen, haben hingegen einige Relevanz für das Bildlichkeitsdenken in der Sprachtheorie. Vgl. Frey, Christiane: Gramma, Hieroglyphe und jüdisch-hebräische Kultur (Herder, Dohm, Mendelssohn), in: Die Ordnung der Kulturen. Zur Konstruktion ethnischer, nationaler und zivilisatorischer Diffe-

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Dieser nicht eben zugunsten der Schriftlichkeit ausfallenden Diagnose zum Trotz, wendet sich Mendelssohn einer detaillierten Analyse der Schriftentwicklung zu. Er leitet sie mit der Annahme ein, dass mit jedem Entwicklungsschritt, den die Schrift vollzogen habe, tiefgreifende Veränderungen in der menschlichen Erkenntnis einhergegangen seien, deren besonderer Niederschlag in den religiösen Überzeugungen zu Tage getreten sei.288 Die folgenden Ausführungen zur Schrift entbehren jedoch zunächst jedes theologischen oder biblischen Bezugs und sind rein anthropologischer und sprachtheoretischer Natur. Zeichen, so Mendelssohn zunächst allgemein, werden nötig, sobald der Mensch dazu übergeht, aus den Eindrücken der sinnlichen Wahrnehmung Begriffe zu bilden. Die Funktion der Zeichen bestimmt er mit den beiden aus der Sprachtheorie geläufigen Topoi der Mitteilung und der Erinnerung.289 Den Gang der Begriffsbildung erläutert er ebenfalls in Übereinstimmung mit den geläufigen Sprachentstehungstheorien als das durch Aufmerksamkeit erfolgende Isolieren einzelner Merkmale aus dem Wahrnehmungsganzen.290 Ebenso adaptiert er die Unterscheidung von natürlichem und willkürlichem Zeichen; die Ausführungen auf diesem Gebiet bleiben jedoch in Jerusalem hinter seinen zeichentheoretischen Reflexionen der sprach- und kunsttheoretischen Abhandlungen zurück: Sie [die Seele, Y.A.] heftet das abgezogene Merkmal, entweder durch eine natürliche, oder willkürliche Ideenverbindung an ein sinnliches Zeichen, das, so oft sein Eindruck erneuert wird, auch zugleich dieses Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleuchtet. So sind, wie bekannt, die aus natürlichen und willkürlichen Zeichen zusammengesetzen [sic!] Sprachen der Menschen entstanden, ohne welche sie sich nur wenig vom unvernüftigen Thiere hätten unterscheiden können; weil der renzen 1750 – 1850, hrsg. v. Hansjörg Bay u. Kai Merten, Würzburg 2006, S. 149 – 171, hier S. 171. 288 Vgl. JubA, Bd. 8, S. 171. 289 Ebd., S. 171. 290 Vgl. Leibnizens Theorie von den klaren und deutlichen Begriffen. Formuliert in: Leibniz, Gottfried Wilhelm: Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen [Meditationes de Cognitione, veritate et ideis], in: ders.: Philosophische Schriften, hrsg. u. übers. v. Hans Heinz Holz, Darmstadt 1965, Bd.1, S. 35. (Der Wortlaut ist bereits in Kap. I.1.1, Anm. 32 zitiert worden: »Dunkel ist ein Begriff, der zum Wiedererkennen der dargestellten Sache nicht ausreicht, wie wenn ich mich zum Beispiel irgendeiner Blume oder eines Tieres, die ich einst gesehen habe, erinnere, jedoch nicht in dem Maße, daß es genug ist, um das Vergessene wiedererkennen und von etwas ihm Nahestehenden unterscheiden zu können […] Klar ist also die Erkenntnis, wenn ich sie so habe, daß ich aus ihr die dargestellte Sache wiedererkennen kann, und sie wiederum ist entweder verworren oder deutlich. Verworren ist sie, wenn ich freilich nicht genügend Kennzeichen gesondert aufzählen kann, um die Sache von anderen zu unterscheiden, wenn auch jene Sache solche Kennzeichen und Merkmale tatsächlich besitzt, in welcher ihr Begriff aufgelöst werden kann […]. Ein deutlicher Begriff aber ist ein solcher, den die Münzwardeine vom Golde haben, auf daß sie die Sache durch Merkmale und ausreichende Prüfungen von allen anderen ähnlichen Körpern unterscheiden[.]«.

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Mensch, ohne Hülfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen kann.291

Ohne Zeichen, so Mendelssohn hier, kann der Mensch sich schwerlich von der sinnlichen Anschauung lösen. Von der sinnlichen Anschauung aber müssen auch die Zeichen, die – nicht zu vergessen – ebenfalls sinnlicher Natur sind, ihren Ausgang nehmen. Die mediale Unterscheidung von akustischen und graphischen Zeichen führt er auf den unterschiedlichen Adressaten, dem etwas bezeichnet werden soll, zurück. Dabei werden den beiden Funktionen der Sprache – Kommunikation und Erinnerung – je eine Zeichenform zugeordnet: akustische Zeichen eignen sich besser zur intersubjektiven Kommunikation, während die visuellen Zeichen zur persönlichen Erinnerung gebraucht werden. Interessanterweise geht auch Mendelssohn – ähnlich wie Augustinus – davon aus, dass es zunächst die Dinge selbst waren, die als Zeichen verwendet wurden.292 Diese Verwendungsweise konnte dabei schon durchaus allegorischer Natur sein und sich auf mentale Gegenstände beziehen.293 Von dieser Annahme ausgehend, muss sich eine Zeichenentwicklung logisch von der vollständigen Mimesis des Gegenstands hin zu einer sukzessiven Abstraktion von demselben vollzogen haben. Und genau dieser Logik folgt auch Mendelssohns Rekonstruktion der Zeichenentwicklung. So lässt er die Entwicklung der Zeichen beim Abbild ihren Anfang nehmen, das zunächst zur Umrisszeichnung vereinfacht wird, ehe diese – etwa einer ikonischen Synekdoche entsprechend – auf Details verkürzt wird, die wiederum den Prozess der Vereinfachung umkehrend, zu neuen Zeichenformationen kombiniert werden. Den vorläufigen Endpunkt bilden für ihn die Hieroglyphen.294 Neu ist an diesem Abriss über die Sprachentstehung im Vergleich zum drei Jahrzehnte früher entstandenen, unveröffentlichten Traktat Über die Sprache, dass Mendelssohn die ersten Sprachzeichen im Bereich der Hieroglyphen ansiedelt und seinen Überlegungen so eine konkrete historische Verankerung gibt, die auch als Begründungsmuster innerhalb der biblischen Betrachtungen trägt. Das eigentliche Problem bei der Erklärung der Schriftentwicklung liegt für Mendelssohn jedoch im Übergang von einer Bildschrift zur Alphabetschrift. 291 JubA, Bd. 8, S. 171 f. 292 Ebd., S. 173. 293 Vgl. die von Mendelssohn angeführten Beispiele des Löwen als Zeichen der Tapferkeit oder des Hundes als Zeichen der Treue. (JubA, Bd. 8, S. 174). 294 »Mit der Zeit kann man es bequemer gefunden haben, anstatt der Dinge selbst ihre Bildnisse in Körper oder auf Flächen zu nehmen; endlich der Kürze halber sich der Umrisse zu bedienen, sodann einen Theil des Umrisses Statt des Ganzen gelten zu lassen, und endlich aus heterogenen Theilen ein unförmliches, aber bedeutungsvolles Ganze zusammenzusetzen; und diese Bezeichnungsart ist die Hieroglyphik.« (JubA, Bd. 8. S. 174) Auch diese Bezugnahme auf die Hieroglyphen wird sich bei Herder wiederfinden, allerdings – wie zu zeigen sein wird – in ganz anderer, weit mystisch-spekulativerer Manier.

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Mendelssohn schließt die Annahme aus, dass die Zeichen der Buchstabenschrift ursprünglich phonographisch gewesen seien.295 Vielmehr geht er von einer parallelen Herausbildung der gesprochenen Sprache und der Schrift aus, die man erst allmählich aufeinander zu beziehen begann, bis schließlich die hieroglyphische Schrift soweit einer Modifikation unterzogen worden war, dass graphische und phonetische Zeichen weitestgehend einander zugeordnet wurden.296 Demgemäß sind die Buchstaben der Alphabetschrift nicht reine phonetische Zeichen, sondern bergen noch einen davon unabhängigen, aus ihrem hieroglyphischen Ursprung herrührenden, logographischen Rest.297 Diese These weist Mendelssohn am hebräischen Alphabet nach, das er zugleich als die erste – und damit als die Grundlage aller – Schrift postuliert.298 Aus einer religionsgeschichtlichen Perspektive heraus erhalten Mendelssohns Ausführungen zur Schriftentstehung eine kritische Stoßrichtung. Besonders bei der Verwendung der Dinge als Zeichen, in geringerem Maße aber auch bei bildlichen und hieroglyphischen Zeichen, warnt er vor der Gefahr, »die Zeichen nicht als blosse Zeichen an[zusehen, Y.A.]; sondern sie für die Dinge selbst [zu halten, Y.A.]«299 – ein Fehler, dem viele erliegen. Über dieses Problem wird sich auch Novalis Gedanken machen.300 Werden Gegenstände als Zeichen verwendet, so sieht Mendelssohn den Grund für Missdeutungen darin, dass »die Dinge […] ausser ihrer Bedeutung, auch ihre eigene Realität« haben.301 Diese Gefahr scheint bei den Hieroglyphen, die die repräsentierten Gegenstände in

295 Vgl. JubA, Bd. 8, S. 174. 296 »Indessen ist auch hier der Gang des Verstandes nicht ganz ohne Leitung gewesen. Da man sehr oft Gelegenheit gehabt, Schrift in Rede und Rede in Schrift zu verwandeln, und also die hörbaren Zeichen mit den sichtbaren zu vergleichen; so kann man gar bald bemerkt haben, daß sowohl in der Redesprache dieselben Laute, als in verschiedenen hieroglyphischen Bildern dieselben Theile öfters wiederkommen, aber immer in anderer Verbindung, wodurch sie ihre Bedeutung vervielfältigen. Endlich wird man gewahr worden seyn, daß die Laute, die der Mensch hervorbringt und vernehmlich machen kann, so unendlich an der Zahl nicht sind, als die Dinge, welche durch sie bezeichnet werden, daß man den ganzen Umfang aller vernehmlichen Laute gar bald umfassen und in Classen abtheilen könne. Und sonach kann man diese Eintheilung, Anfangs unvollständig versucht, mit der Zeit ergänzt und immer verbessert, und jeder Classe ein ihr entsprechendes Schriftzeichen aus der Hieroglyphik zugeeignet haben.« (JubA, Bd. 8, S. 174 f.). 297 JubA, Bd. 8, S. 174. 298 »Daß aber unser Alphabet aus einer Art von hieroglyphischer Schrift entlehnt worden, ist noch itzt an den mehresten Zügen, und Namen des hebräischen Alphabets zu erkennen, und aus diesen sind, wie aus der Geschichte offenbar ist, alle übrige uns bekannte Schriftarten entstanden.« (JubA, Bd. 8. S, 176). Und in einer Anmerkung führt er aus: »Als Rind, Haus, Thüre, Hacken, Schwerdt, Faust, Löffel, Stimulus, Fisch, Stütze, Unterlage, Auge, Mund, Affe, Zähne.« (JubA, Bd. 8, S. 176 Anmerkung). 299 JubA, Bd. 8, S. 176. 300 Vgl. Teil B, Kap. II.3. 301 JubA, Bd. 8, S. 176.

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abstrahierter und veränderter Form darstellen, zwar eingedämmt, jedoch wird diese Eigenschaft wiederum als eine Quelle anderer Fehldeutungen gesehen: Die hieroglyphische Schrift konnte zwar zum Theil diesen Irrtum benehmen, oder begünstigte ihn wenigstens so sehr nicht, als die Umrisse, denn diese waren aus heterogenen und übel passenden Theilen zusammengesetzt; unförmliche und widersinnige Gestalten, die kein eigenes Daseyn in der Natur haben, und also, wie man denken sollte, nicht für Schrift genommen werden konnten. Allein dieses räthselhafte und fremde in der Zusammensetzung selbst gab dem Aberglauben Stof zu mancherley Erdichtung und Fabel.302

Werden die piktoralen Zeichen mit dem dargestellten Gegenstand identifiziert, so evozieren die das Abbild modifizierenden, ideographischen Zeichen phantastische Gestalten, die für nicht minder real gehalten werden. Da sie in der empirischen Natur nicht zu finden sind, betrachtet man sie als Götterwesen. So führt Mendelssohn den Götzendienst auf das Missverstehen der hieroglyphischen Schriftzeichen zurück.303 Den Vorwurf der Förderung des Götzendienstes erleidet bei dem Aufklärer Mendelssohn die Mythologie ebenso wie die volkstümlichen Gattungen fiktionaler Texte: Indessen sieht man, wie hieraus hat Thierdienst, und Bilderdienst, Götzen und Menschendienst, Fabeln und Mährchen entstehen können, und wenn ich dieses schon nicht für die einzige Quelle der Mythologie ausgebe; so glaube ich doch, daß es zur Entstehung und Fortpflanzung aller dieser Albernheiten sehr viel hat beytragen können.304

Als wichtigstes Motiv wertet Mendelssohn dabei die Tierdarstellungen, die sich zur allegorischen Repräsentation der Tugenden besonders eignen. Im Kontext der mythologischen Götterwelten rekurrieren diese allegorischen Zeichen auf den Wirkkreis, der einem jeden Gott zugeschrieben wird. Diese Methode der Bezeichnung abstrakter Begriffe oder Eigenschaften durch bildlich-symbolische Zeichen hat sich in der bildenden Kunst bis in Mendelssohns Gegenwart tradiert: »Noch itzt können in den bildenden Künsten die Personen der Götter und Helden nicht besser angedeutet werden, als vermittelst der thierischen oder leblosen Bilder, die man ihnen zugesellt.«305 Und auch vor dem Dichter macht seine Kritik nicht Halt: »Auch der Dichter, wenn er von sittlichen Eigenschaften in Metaphern und Allegorien reden will, nimmt mehrentheils seine Zuflucht zu 302 Ebd., S. 177. 303 Carola Hilfrich, die das Verhältnis von Repräsentation und Idolatrie in Mendelssohns Schriften zum Judentum untersucht, weist bezüglich dieser Passagen aus Jerusalem darauf hin, dass für Mendelssohn der Ursprung der Idolatrie in der semiotischen Darstellung liegt. Vgl. Hilfrich, Carola: »Lebendige Schrift«. Repräsentation und Idolatrie in Moses Mendelssohns Philosophie und Exegese des Judentums, München 2000, S. 106 – 112, bes. 111. 304 JubA, Bd. 8, S. 177. 305 Ebd., S. 178.

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den Thieren.«306 Dies alles mündet in eine Kritik an Gottesdarstellungen und dem damit einhergehenden Götzendienst. Denn schnell, so Mendelssohn, wird das Bild, das göttliche Attribute veranschaulichen will, mit der Gottheit selbst verwechselt. Auch wenn er diesen Götzendienst für das Judentum selbst ausschließt, waren die figürlichen Darstellungen, die die Bundeslade dekorierten, nicht vor einer solchen Fehlinterpretation durch andere geschützt: Die Eroberer Jerusalems fanden bey Plünderung des Tempels die Cherubim auf der Lade des Bundes, und hielten sie für die Götzenbilder der Juden. Sie sahen alles mit barbarischen Augen, und aus ihrem Gesichtspunkte. Ein Bild der göttlichen Vorsehung und obwaltenden Gnade nahmen sie, ihrer Sitte nach, für Bild der Gottheit, für Gottheit selber […]307

Den Götzendienst und die Anbetung von Bildern deutet Mendelssohn dabei nicht als ursprüngliche Form der Religiosität, sondern betrachtet sie bereits als einen Verfallszustand, in dem das Verständnis für die ursprünglichen Bildzeichen verloren gegangen ist: Die Geschichte der Menschheit hat wirklich, wie bekannt, einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten zurückgelegt, in welchen ein wirklicher Götzendienst fast auf dem ganzen Erdboden zur herrschenden Religion geworden. Die Bilder hatten ihren Werth als Zeichen verloren. Der Geist der Wahrheit, der in ihnen aufbewahrt werden sollte, war verduftet, und das schale Vehikulum, das zurückblieb, in verderbliches Gift verwandelt.308

Dabei stehen seine Vorbehalte bildlichen Darstellungsweisen gegenüber ganz in der Tradition des auf den Dekalog zurückgehenden Bilderverbots. Indem er Sprache in mündliche und schriftliche unterscheidet und den Ursprung der Schrift im Bild verortet, das als Bild daherkommende Schriftzeichen aber zum Auslöser des Götzendienstes wird, wendet Mendelssohn das biblische Bilderverbot auf seine Schriftkritik an, wodurch sie an ungeheurer theologischer Schlagkraft gewinnt. An dieser Wendung vom Schriftursprungsdiskurs hin zu einer Kritik des Götzendienstes zeigt sich, dass Mendelssohns zeichentheoretische Ausführungen in seinem religionsgeschichtlichen Werk Jerusalem ganz unter theologischem Vorzeichen stehen. Ohne diese theologisch-metaphysische Aufladung kommen seine Ausführungen zur Sprachentstehung und zur Zeichentheorie in seinen sprachtheoretischen Schriften aus.

306 Ebd., S. 178. 307 Ebd., S. 180. 308 Ebd., S. 181.

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1.3.2 Mendelssohns sprachtheoretische Schriften Die Rekonstruktion des (wahrscheinlichen) Entstehungszeitraums von Mendelssohns undatiertem und Fragment gebliebenem Traktat zum Ursprung der Sprache wirft einige Schwierigkeiten auf. Die Herausgeber der Jubiläumsausgabe spielen in der Einleitung zu seinen sprachtheoretischen Schriften einige Möglichkeiten durch, um schließlich die Zeit kurz nach 1756 als terminus post quem und 1759, das Erscheinungsjahr von Formeys Aufsatz R¦union des principaux moyens employ¦s pour decouvrir l’origine du langage des id¦es et des connoissances de l’homme als terminus ante quem festzulegen.309 Dieser Datierung soll hier gefolgt werden. Während den Protagonisten der sprachtheoretischen Debatten des 18. Jahrhunderts große Aufmerksamkeit zuteilwird, konnte die recht knappe, aber dadurch keinesfalls weniger originelle Abhandlung zur Sprachentstehung von Moses Mendelssohn kaum Beachtung finden, da sie zu Lebzeiten Mendelssohns nicht veröffentlicht wurde.310 Dennoch lohnt es sich, an dieser Stelle einen Blick auf Mendelssohns sprachtheoretische Überlegungen zu werfen, die – nach Zeugnissen des Autors – in engem Dialog mit Lessing entstanden sind. Ein Dialog, der für die Fragen dieses Kapitels auch im Hinblick auf den Laokoon-Diskurs von zentraler Bedeutung ist. Mendelssohns sprachtheoretische Abhandlung zeichnet sich durch einen wesentlichen Aspekt aus, der in den oben besprochenen Sprachursprungstraktaten Süßmilchs und Herders zu kurz gekommen ist: Mendelssohn entwirft – auf Wolffschen Gedanken aufbauend – eine recht differenziert ausgeführte Zeichentheorie, die ihm zur Erklärung der Sprachentwicklung dient.311 Dies ermöglicht ihm, eine Verbindung zwischen sprach(ursprungs)theoretischen Überlegungen einerseits und kunsttheoretisch-komparatistischen Über309 Zur ausführlichen Diskussion der verschiedenen Möglichkeiten und der genauen Begründung dieser Hypothese vgl. JubA, Bd. 6.2, S. XI – XIX. 310 Trotz mehrfacher Aufforderung fertigte Mendelssohn sein Manuskript zum Sprachursprung nie aus und ließ es unveröffentlicht. (Vgl. Ricken, Ulrich: Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung, in: Moses Mendelssohn im Spannungsfeld der Aufklärung, hrsg. v. Michael Albrecht u. Eva J. Engel, Stuttgart Bad-Cannstatt 2000, S. 195 – 241, S. 225, vgl. auch Mendelssohn JubA, Bd. 13, S. 133: »Was ich übrigens darüber noch im Manuscript habe, ist allzu unvollständig, allzu flüchtig hingeworfen, als daß es ohne Weiteres vor die Augen des Publicums gebracht werden könnte. Es sind auch seit der Zeit ich diesen Aufsatz, davon Sie Meldung thun, geschrieben, verschiedene wichtige Werke, die dahin eingeschlagen, zum Vorschein gekommen, die bey einer Umarbeitung, im Falle der alte Aufsatz diese Mühe verdienen sollte, noch zu Rathe zu ziehen sind, und dieses dürfte, von mir wenigstens, so bald noch nicht geschehen können.«). 311 Bezüglich der Rezeption der Wolffschen Verwendungsweise der Begriffe vgl. Eva J. Engel: ›Die Freyheit der Untersuchung‹, Die Literaturbriefe 72 – 75 (13. und 20. Dezember 1759), in: Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit, hrsg. von Eva. J. Engel u. Norbert Hinske, Tübingen 1994, S. 249 – 268, hier S. 256 f.

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legungen andererseits herzustellen. Diese Zeichentheorie entwickelt Mendelssohn im Rahmen einer Sprachursprungshypothese. Mendelssohns Ausführungen beginnen – wie auch später Herders Überlegungen zu dem Thema – mit der Annahme einer gegenseitigen Abhängigkeit von Vernunftgebrauch und Sprache und der damit zusammenhängenden Frage, wie die Vernunft ohne das Mittel der Sprache dieselbe habe hervorbringen können. Dass Mendelssohn, in der Tradition der Aufklärung stehend, dem göttlichen Sprachursprung nicht das Wort redet, bedarf wohl kaum der Erwähnung. Stattdessen sieht er im Bedürfnis des Bezeichnens eine Vernunftanlage, die der Sprachentwicklung beim Menschen zugrunde liegt und ihn zugleich vom Tier unterscheidet.312 Die noch im Traktat Jerusalem diagnostizierte Unschärfe in der Begriffsbedeutung des ›natürlichen‹ Zeichens wird in seiner sprachtheoretischen Schrift durch ein dreigliedriges Zeichensystem behoben. Dieses auf Wolffs Zeichentheorie beruhende Schema findet sich ähnlich noch als Grundlage der Peircschen Semiotik. Die Zeichen, durch welche etwas angedeutet können von dreyerley Art seyn 1) Natürliche, wie die äusseren Bewegungen und Geberden Zeichen der innern Leidenschaft die Fußstapfen Zeichen der Tritte, der Rauch ein Zeichen des Feuers ist. Diese Zeichen stehen mit dem Bezeichneten in der Verbindung der Causalität, und führen als Wirkungen, die Seele auf ihre Ursache zurück […] 2) Nachahmende, wenn die natürlichen Zeichen der Dinge mit dem Vorsatz nachgemacht werden,die [sic] Dinge selbst ins Gedächtniß zurück zu bringen, wie in den mimischen Künsten die äußerlichen Formen, die Bewegung die Töne u. d. g. nachgeahmt zu werden pflegen. Diese stehen mit den bezeichneten Sachen in Verknüpfung der Aehlichkeit, und führen durch diesen Leitfaden die Sachen selbst in das Gedächtniß zurück. Endlich 3) willkürliche; dieses sind Zeichen, die mit dem Bezeichneten, in keiner objektiven Verbindung stehen, von uns aber mit denselben in der Absicht so ofte zusammen, aber aufeinander gedacht worden sind, daß sie eine subjektive Verknüpfung erlangt haben, und sich einer Kraft derselben wechselweise zurück führen.313

Diese klare Dreiteilung der Zeichenklassen ermöglicht es Mendelssohn, auf seinen beiden Ausgangsprämissen aufzubauen, die besagen, dass dem Menschen sowohl das Vermögen der Vernunft »anerschaffen« sei als auch der »Trieb zum gesellschaftlichen Leben«, der bewirkt, »die Sprachfähigkeit in Ausübung zu bringen.«314 Von diesen Prämissen ausgehend zeichnet Mendelssohn die schrittweise Sprachentwicklung anhand des Übergangs von einem Zeichensystem in ein anderes nach. Die Fähigkeit zur Vernunft und das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, veranlassen den Menschen, die natürlichen Zeichen, derer sich auch die Tiere bedienen, zu immer komplexeren Zeichensystemen auszu312 JubA, Bd. 6.2, S. 7. 313 JubA, Bd. 6.2, S. 10. 314 Ebd., S. 7 f.

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bauen. Die natürlichen Zeichen sind zu Beginn noch bloße unwillkürliche Interjektionen. Allerdings werden nicht nur die menschlichen Gefühlsäußerungen interpretiert, so Mendelssohn, sondern auch Tiere können anhand ihrer Stimmen zugeordnet werden, so dass sich »in der Seele des Wilden das sichtbare Bild eines Thieres mit dem Laute, den es hervorbringet, so feste verbinde[t], daß sich diese beiden Ideen wechselweise hervorbringen werden«315. In diesem frühen Stadium vermutet Mendelssohn bereits den Bezug des Zeichens auf eine geistige Vorstellung – nicht auf eine Empfindung. Ist diese Verknüpfung zwischen (natürlichem) Signifikant und Signifikat im menschlichen Denken einmal verankert, so können in einem nächsten Schritt diese natürlichen Zeichen mit den menschlichen Sprechwerkzeugen nachgeahmt werden, um die Vorstellung, die mit diesem akustischen Zeichen in Verbindung gebracht wird, hervorzurufen. Dieser Schritt vollzieht den Übergang vom natürlichen zum nachahmenden Zeichen.316 Den Übergang von den nachahmenden zu den willkürlichen Zeichen erklärt Mendelssohn mit Hilfe von Ideenassoziationen, zu denen der menschliche Geist befähigt ist. Das Blöken des Schafes, ein Topos in den sprachtheoretischen Schriften des 18. Jahrhunderts, hat auch Eingang in Mendelssohns Text gefunden: »Das würkliche oder nachgeahmte Blöcken eines Schafes wird nicht nur das Bild des Thieres zurückbringen; sondern auch an die Milch erinnern, die man aus seinem Euter gesogen.«317 Kleine lautliche Abwandlungen im nachgeahmten Begriff denotieren sodann die assoziierte Vorstellung. Die SignifikantSignifikat-Relation ist damit nur noch subjektiv begründet und so wird das Zeichen willkürlich – arbiträr.318 Schließlich wirft Mendelssohn die Frage auf, wie zunehmend komplexe Begriffe entstehen können, die eine sprachliche Unterscheidung nicht nur der einzelnen Gegenstände, sondern auch ihrer jeweiligen Eigenschaften erlauben. Zu deren Beantwortung betrachtet er die sinnliche Wahrnehmung und deren Organisation durch die Verstandestätigkeit. Im Rahmen dieser zunehmend komplexeren Gegenstandsdifferenzierung löst die visuell-optische Wahrnehmung die akustische ab, die noch für die ursprüngliche Zeichenentwicklung die wichtigste Rolle gespielt hat. Die optische Wahrnehmung bedarf erst einiger Schulung, ehe sie die Gegenstände unterscheiden kann: Das Criterium für die ersten Erfinder derselben [der Sprache, Y.A.] war der sinnliche [akkustische, Y.A.] Eindruk. Kamen ihnen Gegenstände nach und nach in die Augen, die auf eine deutlich verschiedene Weise in die Sinne fielen; so dachten sie auf verschiedene Namen; aber so bald der Eindruk nicht sinnlich verschieden war, die die 315 316 317 318

Ebd., S. 12. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Ebd., S. 14 f.

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Gegenstände auf sie machten, so wurden sie auch alle mit dem selben Namen benannt; nicht weil man ihre Aehnlichkeit einsahe; sondern weil man ihren individualen Unterschied nicht bemerken konnte, und auf die ausserliche Verschiedenheit der Oerter und der Umstände nicht Acht hatte.319

Auch Mendelssohn geht – ähnlich wie Herder in seiner Sprachursprungsschrift – davon aus, dass die Begriffsbildung ihren Ausgang bei den akustischen Zeichen nimmt, die es jedoch noch nicht ermöglichen, in einer Gruppe von Gegenständen die Einzeldinge zu unterscheiden oder gar die Teile eines Gegenstandes einzeln zu benennen. »Dem bloß Sinnlichen stellen sich viele Dinge zusammen unter einem ganz andern Bilde vor, und er erkennt in demselben die Theile nicht, aus welchem das Ganze bestehet.«320 Auf diese Art konnten lediglich die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände benannt werden. Ehe aber durch eine »andere Klasse von Hauptwörtern« die »Dinge der Vernunft angedeutet« werden konnten – gibt Mendelssohn zu bedenken –, mussten erst »Beywörter« gefunden werden, die es ermöglichten, die Prädikate der Gegenstände einzeln zu benennen: »Durch die Beywörter bezeichnen wir die Eigenschaften und Merkmale der Substanzen, oder vielmehr die Art und Weise, wie die Substanzen durch dieselben abgeändert werden.«321 Von dieser Feststellung ausgehend, spekuliert Mendelssohn über die Methoden, mit deren Hilfe es dem Menschen möglich gewesen sein könnte, die abgesonderten Merkmale zu erkennen. Hier unterscheidet er ganz im Sinne der Logik zwischen der analytischen und der synthetischen Methode. Die analytische Methode beruht auf den Operationen des »Ueberdenkens« und des »Vergleichens«, wobei letztere in den Anfängen der Sprachentstehung die geringere Mühe bereitet habe.322 Während die analytische Methode vom Ganzen des Gegenstands ausgehend seine Teile erschließt, unterscheidet sich davon die synthetische Methode, die von den Teilen ausgehend das Ganze entwickelt. Die synthetische Methode geht unmittelbar aus der »sinnlichen Erkenntniß« – der sinnlichen Anschauung der Gegenstände – selbst hervor. Sie kann nur dann zur Anwendung kommen, wenn sich ein Gegenstand sukzessive durch seine einzelnen Merkmale erschließen lässt. Die synthetische Methode der Begriffsbildung ist dadurch dem Gesichtssinn vorbehalten. Diese Feststellung gibt Mendelssohn zugleich Anlass, die optische Wahrnehmung generell als die für den Erkenntnisprozess wichtigste zu postulieren:323 319 320 321 322

Ebd., S. 15 f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 16. Ebd., S. 16 f. Auch hier zieht er wieder das Merkmal der Farben heran, um darzulegen, wie erst ein Vergleichen von Gegenständen es ermöglicht haben dürfte, die Farben als von den »Substanzen« der Dinge unabhängig zu erkennen. 323 Hierin stimmt er besonders mit den Sprachtheoretikern des englischen Empirismus überein, die jegliche Erkenntnis auf die sinnlich-(optische) Wahrnehmung zurückführen.

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Diese Methode auf eine synthetische Weise zu allgemeinen Begriffen zu gelangen, kan aber nur bey Gegenständen des Gesichts angebracht werden, welcher Sinn überhaupt in Absicht auf die Deutlichkeit der Erkenntnis vor allen andern große Vorzüge hat. Er zählet uns, wie vorhin erwähnt worden, die Merkmale gleichsam einzeln zu; zeigt uns zuerst die Materie, so denn Aussenlinien der Figur, hierauf Bewegung des Ganzen, deren Farbe, und endlich Lage und Bewegung der Theile. Alles dieses giebt er uns aus demselben Gesichtspunkte, in verschiedenen Standorten zu erkennen. Verändern wir den Gesichtspunkt; so bekommen wir an demselben Gegenstande andere Seiten der Figur und eine andere Abwechslung von Licht und Schatten zu sehen.324

Und weiter führt er über die besonderen Qualitäten des Gesichtssinns aus: Mit den übrigen Sinnen können wir niemals zween Gegenstände zugleich beachten, um sie mit einander zu vergleichen, denn alle Eindrücke des Gehörs, Geschmaks oder Geruchs, die wir zu gleicher Zeit empfangen, fallen gleichsam in einander, und machen zusammen einen einzigen Eindruk aus.325

Diese Ausführungen dokumentieren bereits ein deutliches Bewusstsein für die Merkmale optischer Wahrnehmung und für die unterschiedlichen Wirkweisen der verschiedenen sinnlichen Reize. Ein ganzes Set an Aspekten wird zusammengetragen, das auch in Lessings Laokoon wiederbegegnet: die Körperlichkeit (in Materie und Umriss zu erkennen), die räumliche Anordnung sowohl der Teile eines Gegenstandes als auch des Gegenstandes selbst in seiner Umgebung, endlich die Möglichkeit zur simultanen, vergleichenden Wahrnehmung mehrerer Gegenstände. Auch rein optische Erscheinungen, wie die der Farbe und des Lichts, werden berücksichtigt. Innerhalb der optischen Wahrnehmung differenziert Mendelssohn zwischen dem »Sehen der Figuren« und dem »Sehen der Farben«. Alleine die Farbwahrnehmung versteht er in Analogie zum Hören der Töne, wobei die Wahrnehmung und Unterscheidung von Tönen weit schneller von statten geht als das Farbensehen. Der Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung akustischer Reize entspricht jene des Formensehens. Mit Hilfe dieser Befunde erklärt Mendelssohn, warum sich in der menschlichen Kommunikation die semiotischen Systeme der auf akustischen Lauten beruhenden gesprochenen Sprache einerseits und der optisch wahrnehmbaren Gestalten der (Buchstaben-)schrift andererseits etablieren konnten.326 324 JubA, Bd. 6.2, S. 18 f. 325 Ebd., S. 19. 326 Vgl. ebd., S. 20. Die Unterscheidung zwischen Farb- und Gestaltwahrnehmung in die Argumentation der Sprachtheorie aufzunehmen scheint Mendelssohns Text gegenüber anderen Theorien auszuzeichnen. Hier führt er die aus humanistischen Traktaten zur bildenden Kunst bekannte Unterscheidung zwischen Disegno und Kolorit in den sprachtheoretischen Diskurs ein. Dies macht deutlich, wie differenziert er die jeweiligen medialen Qualitäten der einzelnen Zeichensysteme analysiert.

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Sein vergleichender Blick auf die Qualitäten der durch die einzelnen Sinne gelieferten Wahrnehmungen und deren geistige Verarbeitung führt ihn zur Diskussion synästhetisch verwendeter Wörter : Man wird hierauf durch einige Aufmerksamkeit wahrgenommen haben, daß auch die Eindrücke der übrigen [außer Geruch und Geschmack, Y.A.] Sinne in einigen transcendentalen Bestimmungen übereinkommen, und sich einander ähnlich ist. Diese Betrachtung bahnte den Weg, die Sprache des einen Sinnes in das Gebiet der übrigen Sinne zu übertragen […].327

Als Beispiele führt er Begriffe wie »Höhe« und »Tiefe« an, die auf Farben oder Töne Anwendung finden, oder »hart« und »sanft«, die zur Beschreibung von haptischen wie von akustischen Reizen verwendet werden.328 Diese Beobachtungen wiederum leiten über zur Erklärung der inhärent tropisch-metaphorischen Dimension, die allen Begriffen für Abstrakta eigen ist: […] man bemerkte, daß der innere Sinn in der That mit dem äussern mehr Verwandschaft hat, als diese unter sich. Kaum war diese Entdeckung gemacht, so diente sie so wohl zum Erfindungskunstgriff als zum Bezeichnungsmittel. […] So entstanden die Wörter Begriff, Vorstellung, Bild, Einsicht, Verstand, Höhe und Tiefe der Erkenntnis, Klarheit und Licht, Feinheit und Schärfe des Verstandes und alle übrigen Ausdrücke für die inneren Würkungen unserer Seele, die aus dem Gebiete der äussern Sinne entlehnt worden sind.329

Fünf Jahre später bietet ihm die Preisschrift des Göttinger Orientalisten J. D. Michaelis, die von der Berliner Akademie mit dem ersten Preis ausgezeichnet worden ist, erneut Anlass, sich mit sprachtheoretischen Fragen zu beschäftigen. Die von der Berliner Akademie am 31. Mai 1759 ausgeschriebene Preisfrage, auf die Michaelis antwortet, lautet: »Quelle est l’influence r¦ciproque des opinions du peuple sur le langage et du langage sur les opinions?«330 Mendelssohn bespricht den Text im Rahmen der Briefe die Neueste Litteratur betreffend im Dezember 1759. Mit den Literaturbriefen steht ihm dabei ein Genre zur Verfügung, das es ihm erlaubt, über die reine Rezension hinaus, in freier, unsystematischer Weise eigene Gedankengänge zu dem Thema mit einfließen zu lassen. Dabei diskutiert er einzelne sprachtheoretische Fragen aus Michaelis’ Abhandlung in einiger Ausführlichkeit. Zeichentheoretische Überlegungen fließen in diese Rezension jedoch nicht ein.

327 328 329 330

JubA, Bd. 6.2, S. 21. Vgl. ebd., S. 21. Ebd., S. 21 f. Vgl. Einleitung, zu »Ursprung der Sprache«, in: JubA, Bd. 5.3a, S. 118.

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1.3.3 Zeichentheorie in Mendelssohns kunsttheoretischen Schriften Das Bindeglied zwischen Mendelssohns sprachtheoretischen und kunsttheoretischen Schriften stellt seine Einteilung der Zeichenklassen dar. So ist nicht nur Mendelssohns sprachtheoretischer Ansatz semiotisch motiviert, auch seine Kunsttheorie basiert auf einer zeichentheoretischen Unterscheidung der Künste.331 Damit ist er zugleich der erste, der »eine zeichentheoretisch begründete Systematik der Künste« entwickelt hat.332 So finden die Begriffe des natürlichen und willkürlichen Zeichens Eingang in Mendelssohns kunsttheoretische Schriften, jedoch in leicht modifizierter Verwendungsweise. Da die Kunst als intentionale Handlung des Menschen niemals auf reflexartigen Emotionsäußerungen beruhen kann, können natürliche Zeichen im Sinne der Mendelssohnschen Sprachtheorie hier nicht vorkommen. Es ist allenfalls die Nachahmung solcher in der Natur gegebener Zeichenphänomene, die in der Kunst zur Anwendung kommen können. Dementsprechend unterschiedet Mendelssohn in seiner Kunsttheorie nur noch zwei Zeichenklassen – die natürlichen und die willkürlichen Zeichen. Den Terminus des natürlichen Zeichens verwendet er nun synonym zu dem des »nachahmenden Zeichens« aus dem Traktat Über die Sprache.333 Diese Verwendungsweise des Begriffs stimmt weitestgehend mit jener aus anderen kunsttheoretischen Abhandlungen überein, etwa von Salomon Maimon oder Gotthold Ephraim Lessing, mit dem Mendelssohn eine langjährige, enge Zusammenarbeit verband. Nachfolgend soll dargelegt werden, wie Mendelssohn in seinem Traktat Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften die Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen dazu heranzieht, eine Einteilung der Künste vorzunehmen und deren 331 Auch wenn die Kunsttheorie im Zentrum der frühesten Mendelssohn-Forschung stand (Vgl. Segreff, Moses Mendelssohn und die Aufklärungsästhetik des 18. Jahrhunderts, S. 1 – 3), so hat in jüngster Zeit eine Interessenverlagerung zugunsten geschichtsphilosophischer und judaistischer Fragestellungen stattgefunden. 332 Vgl. Ricken, Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung, S. 217. 333 Der unterschiedlichen Verwendungsweise des Begriffspaares bei Mendelssohn ist bisher keine Beachtung geschenkt worden. Die Schriften Eva. J. Engels befassen sich zwar eingehend mit der Sprachtheorie Mendelssohns und ihren theoretischen Wegbereitern, die semiotischen Aspekte seiner kunsttheoretischen Abhandlungen bleiben jedoch unberücksichtigt. Klaus-Werner Segreff erwähnt die Unterscheidung zwischen willkürlichen und natürlichen Zeichen in Mendelssohns Kunsttheorie zwar, betrachtet aber nicht die unterschiedliche Verwendungsweise des Terminus der natürlichen Zeichen in den sprachtheoretischen Schriften einerseits und in Jerusalem sowie den kunsttheoretischen Schriften andererseits. In dem kurzen Absatz, der den natürlichen Zeichen gewidmet ist, unterscheidet er auch nicht zwischen den sinnlichen Eigenschaften der Gegenstände selbst und deren Darstellung im nachahmenden Zeichen. Der Begriff bleibt so äußerst diffus. Vgl. Segreff, Klaus-Werner : Moses Mendelssohn und die Aufklärungsästhetik im 18. Jahrhundert, Bonn 1984, S. 69 f.

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unterschiedliche Ausdrucksmöglichkeiten und Gegenstandsbereiche mit Hilfe der medialen Qualitäten zu beschreiben, die den jeweils verwendeten Repräsentationssystemen anhaften. Ehe er sich den Detailfragen zuwendet, schafft er mit der Bestimmung des allgemeinen Zwecks der schönen Künste den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen sie zu behandeln sind. Dieser Zweck liegt für Mendelssohn in dem »sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit.«334 Zu dieser Bestimmung gelangt er durch die Modifizierung des von Batteux aufgestellten Diktums der Naturnachahmung als Ziel der schönen Künste. Dieses präzisiert Mendelssohn durch Hinzuziehung einer Annahme aus der »Seelenlehre«, wonach die Seele stets nach der Erkenntnis des Vollkommenen strebe. Die anschauende Form dieser Erkenntnis, so besagt die kombinierte These, ist die Schönheit: Ist nun die Erkenntniß dieser Vollkommenheit anschauend; so wird sie S c h ö n h e i t genannt. Man nennt aber eine Erkenntniß anschauend, wenn der Gegenstand derselben unsern Sinnen entweder unmittelbar gegenwärtig ist, oder durch solche Zeichen vorgestellt wird, die uns die Ideen des Bezeichneten deutlicher einsehen lassen, als des Zeichens selbst.335

Die auf Ähnlichkeit zielende Nachahmung muss zu diesem Zweck um das Streben nach Idealisierung – Vervollkommnung – ergänzt werden.336 Dieser allgemeinen Definition der schönen Künste folgt eine Einteilung ihrer Gattungen, basierend auf den in ihnen zur Anwendung kommenden Zeichenklassen: Die Zeichen, vermittelst welcher ein Gegenstand ausgedruckt wird, können entweder n a t ü r l i c h oder w i l l k ü r l i c h seyn. N a t ü r l i c h sind sie, wenn die Verbindung des Zeichens mit der [sic] begründet ist. Die Leidenschaften sind, vermöge ihrer Natur mit gewissen Bewegungen in den Gliedmaßen unsers Körpers, so wie mit gewissen Tönen und Geberden verknüpft. Wer also eine Gemüthsbewegung durch die ihr zukommenden Töne, Geberden und Bewegungen ausdrückt, der bedient sich der natürlichen Zeichen. Hingegen werden diejenigen Zeichen w i l l k ü r l i c h genannt, die vermöge ihrer Natur mit der bezeichneten Sache nichts gemein haben, aber doch willkürlich dafür genommen worden sind. Von dieser Art sind die artikulierten Töne aller Spra-

334 Mendelssohn, Über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften, JubA, Bd. 1, S. 170. »das Wesen der schönen Künste und Wissenschaften besteht in dem sinnlichen Ausdruck der Vollkommenheit.« 335 JubA, Bd. 1, S. 170. 336 »Sie [die Künstler, Y.A.] wollen einen gewissen Vorwurf so abbilden, wie ihn Gott vermöge seines vorgehenden Willens […] geschaffen haben würde, wenn ihn nicht wichtigere Endzwecke davon abgehalten hätten. Dieses ist die vollkommenste idealische Schönheit, die in der Natur nirgends anders als im Ganzen anzutreffen, und in den Werken der Kunst vielleicht nie völlig zu erreichen ist.« (JubA, Bd. 1, S. 173).

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chen, die Buchstaben, die hieroglyphischen Zeichen der Alten, und einige allegorische Bilder, die man mit Recht zu den Hieroglyphen zählen kann.337

Unter dem Begriff des ›natürlichen Zeichens‹ fasst Mendelssohn hier – wie oben bereits angedeutet – die nicht-intentionalen Zeichen der Gefühlsäußerungen sowie deren intentionale Nachahmung zusammen. Was in der Sprachtheorie noch in natürliche und nachahmende Zeichen unterschieden wurde, wird nun unter den einen Begriff des ›natürlichen Zeichens‹ subsumiert, wobei dessen Definition entsprechend an Schärfe einbüßt. Denn »begründet« ist die Verbindung zwischen Zeichen und bezeichneter Sache sowohl bei kausaler als auch bei nachahmender Zeichen-Gegenstand-Relation. Aus dem Text lässt sich jedoch rekonstruieren, dass mit ›natürlichen Zeichen‹ im Rahmen seiner kunsttheoretischen Überlegungen ikonische Zeichen gemeint sind – solche Zeichen also, die aufgrund von Nachahmung eine Ähnlichkeitsrelation zum dargestellten Gegenstand unterhalten.338 Der Unterscheidung dieser beiden Zeichenklassen entspricht die Einteilung in schöne Wissenschaften und schöne Künste. Nach Mendelssohns Verständnis sind sowohl die schönen Künste als auch die schönen Wissenschaften ihrem Ausdruck gemäß sinnlich und unterscheiden sich allein in dem Zeichensystem, auf dem sie basieren. Während sich die schönen Wissenschaften, zu denen er die Poesie und die Rhetorik zählt, der Sprache und damit der willkürlichen Zeichen bedienen, greifen die schönen Künste – Malerei, Skulptur, Musik, Tanz – auf die natürlichen Zeichen zurück. Unzweideutig wird dabei den schönen Wissenschaften der Vorzug gegeben, was mit der Breite ihres möglichen Gegenstandsbereichs begründet wird: Alle mögliche und wirkliche Dinge können durch willkürliche Zeichen ausgedruckt werden, sobald wir einen klaren Begriff von ihnen haben. Daher erstreckt sich das Gebieth der schönen Wissenschaften auf alle nur ersinnliche Gegenstände. Der Dichter kann alles ausdrücken, wovon sich unsere Seele einen klaren Begriff machen kann. […] Der Gegenstand der schönen Künste ist eingeschränkter. Diese bedienen sich vornehmlich der natürlichen Zeichen.339 337 Ebd., S. 174. 338 Umso erstaunlicher ist es, dass Mendelssohn, der noch in seinem sprachtheoretischen Traktat eine ganz andere Definition von »natürlichen« und »willkürlichen« Zeichen zugrunde legte, in seinen Anmerkungen zu einem Laokoon-Entwurf Lessings den Begriff des »nachahmenden Zeichens« durch den des »natürlichen« zu ersetzen empfiehlt. Vgl. Mendelssohn: Zu einem Laokoon-Entwurf Lessings, JubA, Bd. 2, S. 234. Der Einfluss dieser Empfehlungen auf die verschiedenen Fassungen des Laokoon ist mehrfach Gegenstand der Forschung gewesen. Hess-Lüttich wies jüngst darauf hin, dass Lessing seinen Begriff des »nachahmenden« Zeichens um Mendelssohns Empfehlung ergänzte, ihn jedoch nicht ersetzte. Vgl. Hess-Lüttich, Ernst W. B.: Kommunikation als ästhetisches Problem. Vorlesungen zur Angewandten Textwissenschaft, Tübingen 1984, S. 210. 339 JubA, Bd. 1, S. 175.

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Unter den schönen Künsten nimmt Mendelssohn erneut eine hierarchisierende Differenzierung vor. Die Poesie ist der Rhetorik darin überlegen, ihren Gegenstand in einer »vollkommen sinnliche[n] Rede« darzustellen.340 Innerhalb der Gattungspyramide nimmt damit die Dichtkunst den höchsten Rang ein. Der Grad des sich in willkürlichen Zeichen artikulierenden sinnlichen Ausdrucks wird somit zum Maßstab für die Hierarchisierung der einzelnen Gattungen. Die schönen Künste differenziert Mendelssohn wiederum nach den unterschiedlichen medialen Qualitäten der verschiedenen Formen von natürlichen Zeichen. So trifft er die Grundunterscheidung zwischen akustischen und visuellen Zeichen. Letztere werden wiederum danach eingeteilt, ob sie in zeitlicher Abfolge – also sukzessive – oder in räumlicher Ausdehnung – also simultan – erscheinen. Entspricht erstgenanntem Phänomen die Tanzkunst, so subsumiert er unter letztgenanntes Malerei, Plastik und Architektur.341 Diese Unterscheidung zwischen sukzessiven und simultanen Zeichen, die Lessing im Laokoon aufgreifen und deutlich ausbauen wird, hat Mendelssohn, wie Ricken darlegt, bereits bei Diderot finden können.342 1.3.4 Die Zeichentheorie in Lessings Laokoon Auch Lessing verwendet die Begriffe der ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen im kunsttheoretischen Kontext. Er unterscheidet jedoch nicht mehr zwischen schönen Künsten und schönen Wissenschaften. Seine leitende Fragestellung ist der Vergleich von Dichtung und bildender Kunst, wobei ihm die beiden Zeichenklassen als das am Anfang stehende, zentrale Unterscheidungskriterium dienen. So ist Lessings Laokoon für die Frage nach der Bedeutung der Bild-Schrift-Relation in der Zeichentheorie des 18. Jahrhunderts von besonderem Interesse, als diese Abhandlung die semiotische Diskussion basierend auf der Unterscheidung von Sprach- und Bildkunst führt.343 In dieser Abhandlung, die das Ende des ut-pictura-poesis-Diktums einläutet, zieht Lessing zum Vergleich zwischen Malerei und Poesie die Einteilung in natürliche und willkürliche Zeichen für seine Argumentation heran. Dabei verwendet er diese Begriffe, ohne sie von ihrem sprachtheoretischen Kontext her zu 340 Ebd., S. 175. 341 Ebd., S. 176 f. 342 Ricken verweist auf Diderots Lettres sur les sourds et muets von 1751, in denen er über die Möglichkeit nachdenkt, die Linearität der Sprache um die Simultaneität des Bildlichen zu erweitern. (Vgl. Ricken, Mendelssohn und die Sprachtheorien der Aufklärung, S. 217). 343 Vgl. Hess-Lüttich, Kommunikation als ästhetisches Problem, S. 206: »Lessings kunsttheoretische Absicht [weist] voraus auf die Möglichkeit einer semiotischen Explikation der ästhetischen Differenz zwischen Wort- und Bildkunst.« Hess-Lüttich ist einer der wenigen, der dem zeichentheoretischen Problem bei Lessing seine ganze Aufmerksamkeit widmet und die im Laokoon grundgelegte Semiotik zu rekonstruieren versucht.

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erläutern oder sie semiotisch explizit zu definieren. Jedoch lässt sich aus der Verwendungsweise der Begriffe rekonstruieren, dass sich Lessing hier der geläufigen Bestimmung der willkürlichen als den arbiträren und der natürlichen als den mimetischen Zeichen anschließt oder – mit heutigem Vokabular gesprochen – zwischen arbiträren und piktographischen Zeichen unterscheidet.344 Während die Sprachtheorien generell beide Zeichenformen auf sprachliche Phänomene anwenden, differenziert Lessing zwischen sprachlicher und bildlicher Darstellungsweise und nimmt eine grundsätzliche Zuordnung von sprachlich-willkürlichen und bildlich-natürlichen Zeichen vor. Von dieser medialen Differenz ausgehend, erschließt Lessing die wesentlichen Unterscheidungsmerkmale zwischen Literatur und Malerei anhand ihrer unterschiedlichen medialen Qualitäten. Neu bei Lessing ist, dass er in seiner Unterscheidung zwischen natürlichen und willkürlichen Zeichen deren je eigene, unterschiedliche Medienqualitäten berücksichtigt. Lessing stellt die Frage nach der möglichen Art der Beziehung zwischen Poesie und Malerei, indem er die gleichen Stoffe, mal in ihrer dichterischen, mal in ihrer bildkünstlerischen Behandlung, miteinander vergleicht. Die Frage nach der (chronologischen) Vorherrschaft einer der beiden Kunstgattungen – die zentrale Frage des Paragonestreits also345 – modifiziert er zur Frage nach den unterschiedlichen Wirk- und Funktionsweisen ihrer jeweiligen Zeichensysteme auf das menschliche Erkenntnisvermögen der Einbildungskraft: »Das nemliche Bild mag also in unserer Einbildungskraft durch willkürliche oder natürliche Zeichen wieder erregt werden.«346 Lessing beginnt seine Argumentation mit der Überlegung, dass sowohl die Malerei als auch die Dichtkunst ihre Gegenstände aus der sinnlich wahrnehmbaren Welt bezieht.347 Dennoch eignen sich nicht alle Gegenstände für eine bildkünstlerische Behandlung ebenso gut wie für eine literarische und vice versa. So stellt sich Lessing die Frage: »Woran liegt es, daß manche poetische Gemälde […], für den Maler unbrauchbar sind, und hinwiederum manche eigentliche Gemälde unter der Behandlung des Dichters den größten Teil ihrer Wirkung verlieren?«348 Seine Antwort lautet folgendermaßen: Der Knoten muß dieser sein. Ob schon beide Vorwürfe, als sichtbar, der eigentlichen Malerei gleich fähig sind: so findet sich doch dieser wesentliche Unterschied unter ihnen, daß jener eine sichtbare fortschreitende Handlung ist, deren verschiedene Teile 344 Vgl. Hess-Lüttich, Kommunikation als ästhetisches Problem, S. 209. 345 Während in der Paragone-Literatur allgemein der Vorrang einer Kunst diskutiert wird, formuliert Lessing den Paragonestreit als eine Frage der Abhängigkeit einer Kunst von der anderen. Zum Paragonestreit vgl.: Art: Paragone, in: Lexikon der Kunst, Bd. 3, S. 729 f. 346 Lessing, Laokoon, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 61. 347 Vgl. Lessing, Werke und Briefe Bd. 5/2, S. 114. 348 Ebd., S. 114.

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sich nach und nach, in der Folge der Zeit, eräugnen, dieser hingegen eine sichtbare stehende Handlung, deren verschiedene Teile sich neben einander im Raume entwickeln. Wenn nun aber die Malerei, vermögen ihrer Zeichen oder der Mittel ihrer Nachahmung, die sie nur im Raume verbinden kann, der Zeit gänzlich entsagen muß: so können fortschreitende Handlungen, als fortschreitend, unter ihre Gegenstände nicht gehören, sondern sie muß sich mit Handlungen neben einander, oder mit bloßen Körpern, die durch ihre Stellungen eine Handlung vermuten lassen, begnügen.349

Diese grundlegende Unterscheidung des Darstellungsmodus von Poesie und Malerei führt Lessing auf die unterschiedlichen medialen Qualitäten der von ihnen verwendeten Zeichensysteme zurück. Zur Bestimmung des medialen Unterschieds von willkürlichen und natürlichen Zeichen – hier gleichbedeutend mit Sprache und Bild – rekurriert Lessing auf die Kategorien von Raum und Zeit. Während der Sprache als eines in der Zeit wirkenden Mediums eine sukzessive Darstellungsweise inhärent ist, beruht das an die Kategorie des Raums gebundene Bild auf einer simultanen Darstellungsweise. Diese Beobachtung hat weitreichende Folgen für die Bestimmung des angemessenen Gegenstandsbereiches der jeweiligen Kunst: Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nemlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: So können neben einander geordnete Zeichen, auch nur Gegenstände, die neben einander, oder deren Teile neben einander existieren, auf einander folgende Zeichen aber, auch nur Gegenstände ausdrücken, die auf einander, oder deren Teile auf einander folgen.350

Körper, so geht die Argumentation weiter, sind räumlich bestimmt, Handlungen aber zeitlich. Während die Poesie mittels Sprache Handlungsabläufe, wie sie sich in der zeitlichen Abfolge sukzessive ereignen, darzustellen vermag, so ist der Malerei das Gebiet der räumlichen Anordnung von Gegenständen (oder Handlungen) vorbehalten. So sind für Lessing folglich Körper und ihre sichtbaren Eigenschaften Gegenstand der Malerei, während Handlungen Gegenstand der Poesie sind.351 349 Ebd., S. 115 f. 350 Ebd., S. 116. 351 Vgl. ebd., S. 116. Was Lessing nicht beachtet, ist die Tatsache, dass sich auch Maler der sukzessiven Darstellungsweise der Bilderzählung bedienen, indem Handlungsabläufe einer Leserichtung gemäß innerhalb eines Bildes dargestellt werden, welches nicht als simultane Einheit, sondern als sukzessive Entwicklung zu betrachten ist. So etwa in der Darstellung der Bestrafung der Rotte Korah von Sandro Botticelli in der Sixtinischen Kappelle in Rom. Eingebettet in eine durchaus als Einheit wahrzunehmende und innerhalb des Gemäldes einheitsstiftend wirkende Landschaft, sind verschiedene Stationen der biblischen Erzählung dargestellt. Dass es sich um verschiedene, aufeinanderfolgende Ereignisse im Leben einer Person handelt, die auf dem Gemälde mehrfach erscheint, wird dem Betrachter durch

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Jedoch ist diese Unterscheidung nicht absolut; auch die dargestellten Körper der Malerei sind in Handlungsabläufe eingebunden und die Handlungsträger der Dichtung sind körperlich. Dennoch bleiben Körper bzw. Handlung dem jeweiligen Repräsentationsmedium vorbehalten, so dass die Malerei Handlungen indirekt durch die Körper veranschaulicht, während in der Dichtung Körper allein durch die beschriebenen Handlungen impliziert werden: Doch alle Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern auch in der Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke ihrer Dauer anders erscheinen, und in anderer Verbindung stehen. […] Folglich kann die Malerei auch Handlungen nachahmen, aber nur andeutungsweise durch Körper. Auf der andern Seite können Handlungen nicht für sich selbst bestehen, sondern müssen gewissen Wesen anhängen. In so fern nun diese Wesen Körper sind, oder als Körper betrachtet werden, schildert die Poesie auch Körper, aber nur andeutungsweise durch Handlungen.352

Mit dieser Beobachtung schleicht sich die Frage ein, inwiefern die Zeichen der Malerei tatsächlich nur simultane Gegenstände darstellen können, während der Poesie allein die sukzessiven Gegenstände vorbehalten sind.353 Eine weitere Infragestellung der zunächst so klar dichotomisch argumentierenden Unterscheidung zwischen den beiden Zeichensystemen wird ebenfalls von Lessing selbst aufgeworfen: zur Debatte steht die kategorische Zuordnung der Zeichensysteme der natürlichen und der willkürlichen Zeichen zu je einer Kunstform. Ist der Malerei tatsächlich ausschließlich das System der natürlichen Zeichen vorbehalten, während die Poesie lediglich mit willkürlichen Zeichen operiert? Nicht nur in einem nachträglichen Brief an Nicolai spricht Lessing dieses Problem an, bereits im Laokoon verharrt er nicht in dieser statischen Trennung der Zeichensysteme, sondern untersucht auch die Transformation vordergründig natürlicher Zeichen in willkürliche. Seine Beobachtungen hierzu führt er anhand des Darstellungsproblems von Unsichtbarkeit aus. So wie in der antiken Poesie die Unsichtbarkeit einer Figur häufig durch die Metapher von deren Einhüllung in dichten Neben oder Wolken geschildert wird, so bedient sich auch der Maler dieser Wolke, um die Unsichtbarkeit einer Figur für die die Darstellungsweise der Figur (des Moses) angezeigt, die stets in gleichem Gewand und mit gleicher Physiognomie auftritt. 352 Lessings, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 116 f. 353 Diese strenge Zuweisung von Zeit und Literatur einerseits sowie bildender Kunst und Raum andererseits ist sowohl von literaturwissenschaftlicher als auch von kunstgeschichtlicher Seite wiederholt bestritten worden. Jeoraldean McClain stellt diese kritische Auseinandersetzung mit den Thesen des Laokoon in der Kunstgeschichte ausführlich dar. Dabei erörtert sie die Rolle der Zeitlichkeit in den bildenden Künsten anhand von Werken aus den unterschiedlichsten Epochen und Stilen. So illustriert sie ihre Thesen ebenso an Werken Poussins wie an Werken Cezannes oder Picassos. Vgl. McClain, Jeoraldean: Time in the Visual Arts: Lessing and Modern Criticism, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 44 (1985), S. 41 – 58.

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übrigen beteiligten Personen anzuzeigen. Was beim Dichter nur eine Metapher ist, wird im Gemälde zu einer materiell dargestellten Wolke. Jedoch steht diese Wolke nicht für eine natürliche Wolke; sie ist kein Abbild mehr, sondern wird zum »symbolischen Zeichen«, welches dem Betrachter anzeigt, dass die Unsichtbarkeit der Figur gemeint ist.354 Somit wird hier ein Vorgang geschildert, bei dem ein scheinbar natürliches Zeichen auf der Bedeutungsebene in ein willkürliches Zeichen transformiert wird, was Lessing als ein Heraustreten der Malerei aus ihren Grenzen bezeichnet.355 Dieses, auf formaler Ebene natürliche, auf referenzieller Ebene jedoch willkürliche Zeichen nennt Lessing »wahre Hieroglyphe«356, in der die Ähnlichkeit zum Naturobjekt einerseits und die Darstellung abstrakter Begrifflichkeit andererseits miteinander verbunden werden. Dabei ist diese Feststellung keineswegs wertneutral. Der allegorischen Darstellungsweise der Malerei kann Lessing nichts Positives abgewinnen. Dass dies aber keineswegs auf die Überzeugung zurückzuführen ist, dass die Gattungen sich generell nicht von der ihnen gemäßen Zeichenklasse entfernen sollen, zeigt die Passage aus einem Brief Lessings an Nicolai. Hier wird deutlich, dass es die natürlichen Zeichen selbst sind, die Lessing für die jeglichem Kunstwerk angemesseneren hält: Aber das ist gewiß, daß je mehr sich die Malerei von den natürlichen Zeichen entfernt, oder die natürlichen mit willkürlichen vermischt, desto mehr entfernt sie sich von ihrer Vollkommenheit: wie hingegen die Poesie sich um so mehr ihrer Vollkommenheit nähert, je mehr sie ihre willkürlichen Zeichen den natürlichen näher bringt. Folglich ist die höhere Malerei die, welche nichts als natürliche Zeichen im Raume brauchet, und die höher Poesie die, welche nichts als natürliche Zeichen in der Zeit brauchet.357

Hier eröffnet sich die Frage, inwieweit »Darstellungen im Raume« kongruent mit der Klasse der natürlichen Zeichen und »Darstellungen in der Zeit« mit jener der willkürlichen Zeichen sind. Oder anders gefragt: Sind die Begriffe »natürliche« 354 Herder allerdings zweifelt in seinem Ersten Kritischen Wäldchen diese These an. So schreibt er : »Wozu soll die Wolke bei dem Dichter und Maler? Zur Verhüllung. Wo sie also nicht verhüllen kann, da ist sie nicht Wolke mehr, da bleibe sie weg. So bei dem Maler. […] Aber die, daß die Wolke aus einem Dichter entlehnt, bei ihm nichts als eine poetische Redensart, bei dem Künstler hingegen eine wirkliche Wolke, und also ein poetischer Ausdruck auf eine befremdende Weise realisiert sei; die Ursache scheint minder Stich zu halten. Homers Nebel ist ein poetischer Nebel; ist er aber damit eine poetische Redensart, ein künstlischer Ausdruck, statt ›unsichtbar werden?‹« Diese Einschätzung teilt Herder, zumindest bezüglich Homer, in keiner Weise: »Nein! Homer weiß von Redarten nichts, die nichts als solche wären. Der Nebel, in den die Götter hüllen, ist bei ihm wirklicher Nebel, eine verhüllende Wolke, die mit zum Wunderbaren seiner Fiktion, mit zum Epischen luhor seiner Götter gehört.« Vgl. Herder, Werke, Bd. 2, S. 163 f. 355 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 106 – 108. 356 Ebd., S. 107. 357 Lessing, Brief an Nicolai vom 26. Mai 1769, in: ders. Werke und Briefe, Bd. 11/1, S. 608 f.

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und »willkürliche« Zeichen einerseits und »Darstellungen im Raume« und »Darstellungen in der Zeit« andererseits lediglich zwei alternative Bezeichnungen für zwei gegebene Zeichenklassen oder stellen sie zwei unterschiedliche Weisen der Kategorisierung von Zeichensystemen dar, die nicht aufeinander reduziert werden können?358 Demnach gäbe es zwischen den einzelnen Zeichenklassen verschiedener Kategorien lediglich verschieden große Schnittmengen. Jene Schnittmenge zwischen »Zeichen im Raume« und »natürlichen Zeichen« wäre bloß größer als jene zwischen »Zeichen im Raume« und »willkürlichen Zeichen«; ersteres Begriffspaar bezeichnete jedoch nicht die gleiche Zeichenklasse. Diese These vertritt Hess-Lüttich. Eine Passage aus dem bereits oben zitierten Brief an Nicolai scheint diese Position zu untermauern. An dieser Stelle gesteht Lessing einige Unschärfen seines Laokoon ein, die er darauf zurückführt, dass er kaum den Einen Unterschied zwischen der Poesie und Malerei zu betrachten angefangen habe, welcher aus dem Gebrauche ihrer Zeichen entspringt, in so fern die einen in der Zeit, und die andern im Raume existieren? Beide können eben sowohl natürlich, als willkürlich sein; folglich muß es notwendig eine doppelte Malerei und eine doppelte Poesie geben: wenigstens von beiden eine höhere und niedrige Gattung. Die Malerei braucht entweder coexistierende Zeichen, welche natürlich sind, oder welche willkürlich sind; und eben diese Verschiedenheit findet sich auch bei den consecutiven Zeichen der Poesie.359

Schaut man sich die weitere Argumentation des Briefes jedoch genauer an, so zeigt sich, dass Lessing selbst skeptisch zu sein scheint und seine eingangs so klar formulierte These zu relativieren beginnt. Denn bei einer anschließenden Erklärung heißt es deutlich zurückhaltender, dass die natürlichen Zeichen der Malerei den willkürlichen und die willkürlichen Zeichen der Poesie den natürlichen lediglich angenähert werden können: »Zwar sind diese Dinge eigentlich nicht in der Malerei willkürlich; ihre Zeichen sind in der Malerei auch natürliche Zeichen: aber es sind doch natürliche Zeichen von willkürlichen Dingen[.]«360 Und analog heißt es über die Poesie: Die Poesie muß schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen; und nur dadurch unterscheidet sie sich von der Prose, und wird Poesie. Die Mittel, wodurch sie dieses tut, sind der Ton, die Worte, die Stellung der Worte, das 358 Erstere Ansicht vertritt Monika Schrader, die vermutet, dass Lessing die natürlichen Zeichen durch »Gebundenheit an Körper, Flächen und Raum« definiert und die willkürlichen durch »Zeit, Sukzession, Handlung«. Vgl. Schrader, Monika: Laokoon – »eine vollkommene Regel der Kunst«. Ästhetische Theorien der Heuristik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Winckelmann, (Mendelssohn), Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Hildesheim 2005, S. 71. 359 Ebd., S. 608. 360 Ebd., S. 609, Hervorhebungen im Original.

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

Sylbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse u.s.w. Alle diese Dinge bringen die willkürlichen Zeichen den natürlichen näher, aber sie machen sie nicht zu natürlichen Zeichen[.]361

Doch das Argument geht weiter : oben genannter Mittel bedürfen nur die »niedern Gattungen der Poesie«, die »höchste Gattung der Poesie« aber »ist die, welche die willkürlichen Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen macht. Das ist aber die dramatische; denn in dieser hören die Worte auf willkürliche Zeichen zu sein, und werden natürliche Zeichen willkürlicher Dinge.«362 Nicht die Malerei, nicht die Poesie, sondern das Drama, und darin dürfte die Pointe dieses Briefes liegen, ist diejenige Gattung, in der die konsekutiven Zeichen der Poesie ganz in natürliche überführt werden, die zugleich – anders als die Malerei – Zeichen willkürlicher (nicht natürlicher) Dinge sind. So scheint dieses Argument ein Plädoyer für das Drama als höchste Gattung zu enthalten. Denn das Drama scheint den poetischen Wert der natürlichen Zeichen mit dem moralischen Wert, über willkürliche – also abstrakte, geistige – Dinge zu sprechen, zu vereinigen. Das Drama bildet damit auf Seiten der Poesie das positive Pendant zur Allegorie in der Malerei. Trotz aller Bekenntnisse zum Drama ist Lessings Laokoon geradezu als der Schlüsseltext der vergleichenden Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts zu betrachten. Dabei ist es der Rückgriff auf eine differenzierte Analyse der Zeichenstrukturen, die ihm methodisch die Argumentationsbasis seiner Unterscheidung von Malerei und Dichtung liefert. Die bereits in den sprachtheoretischen Diskursen etablierte und verbreitete Klassifizierung der Zeichen, die auch eine ikonische Dimension beinhaltet, wählen Mendelssohn und Lessing zum Ausgangspunkt ihrer vergleichenden Kunstbetrachtungen. Indem sie die unterschiedlichen semiotischen Qualitäten von dichterischen und bildkünstlerischen Werken in den Fokus ihrer Untersuchungen rücken, gelingt ihnen eine argumentativ fundierte Unterscheidung der beiden Kunstformen. Dabei geht Lessing in seinem Laokoon mit der Differenzierung von sukzessiver und simultaner Darstellungsweise noch einmal über die Überlegungen des Freundes hinaus. Indem sowohl Lessing als auch Mendelssohn die allegorischen Darstellungsweisen der Malerei unter Rückbezug auf die Analyse ihrer Zeichenstruktur kritisch betrachten, leisten sie einen wichtigen Beitrag zum zeitgenössischen Hieroglyphen- und Allegoriediskurs, in dessen Fokus die Übergänge zwischen einer abstrakt-begrifflichen und einer konkret-bildlichen Darstellungsweise stehen. Diesem Diskurs sind die beiden folgenden Kapitel gewidmet.

361 Ebd., S. 609 f. 362 Ebd., S. 610, Hervorhebung im Original.

Hieroglyphen als Hybride zwischen Wort und Bild

2.

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Hieroglyphen als Hybride zwischen Wort und Bild

Der Hieroglyphendiskurs des 18. Jahrhunderts bezieht sich nicht auf eine ägyptologische Entzifferung der Hieroglyphenschrift, sondern gründet in einer dem ägyptologisch-wissenschaftlichen Diskurs vorausgehenden, über mehrere Jahrhunderte hinweg überlieferten und modifizierten Tradition der spekulativen Auseinandersetzung mit den ägyptischen Schriftzeichen, die hier einleitend knapp skizziert werden soll. Dem Erkenntnisstand der neuesten Forschung zufolge sind die ägyptischen Hieroglyphen nur bedingt das, als was sie noch bis in die Zeit der Romantiker hinein galten – eine Bildschrift. In einer kulturhistorischen, nicht ägyptologischen Perspektive soll das Verständnis der Hieroglyphen als einer solchen Bildschrift vorgestellt werden, da nur dieses über die Vorstellung von der Schrift-Bild-Relation Aufschluss geben kann, wie sie den Hieroglyphendiskurs im 18. Jahrhundert prägte. Ehe exemplarisch das hieroglyphische Bildschriftverständnis einschließlich seiner poetologischen Implikationen dreier Vertreter des 18. Jahrhunderts untersucht wird, soll noch ein kurzer Blick auf die jüngsten Forschungsergebnisse erlaubt sein, um ein Bewusstsein für die – falsche – Perspektive zu erlangen, unter der die Tradition der Hieroglyphenforschung von der Spätantike bis ins frühe 19. Jahrhundert ihren Gegenstand behandelte. Neuere Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass die ägyptischen Hieroglyphen durchaus den Charakter einer phonetischen Schrift haben, die Verwendung der Zeichen aber nach den geläufigen linguistischen Kategorisierungen einer Art Mischform aus verschiedenen Zeichenfunktionen entspricht und daher nur schwer begrifflich zu fassen ist. Der Ägyptologe Jean FranÅois Champollion war der erste, dem es 1822 mit Hilfe des berühmten Rosetta-Steines gelang nachzuweisen, dass es sich bei den ägyptischen Hieroglyphen um phonetische Zeichen handelt.363 Heute weiß man, dass die Hieroglyphen, die zu dem hamito-semitischen Sprachstamm zählen, wie in den semitischen Sprachen üblich, nur Konsonanten notieren.364 Die hieroglyphischen Zeichen wurden jedoch anders als die Buchstaben einer Alphabetschrift nicht einheitlich als Grapheme zur Denotation von Phonemen verwendet; stattdessen handelt es sich um eine Kombination aus phonetischen und semographischen Zeichen.365 Dabei 363 Vgl. Keiner, Astrid: Hieroglyphengrammatik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie, Würzburg 2003, S. 21. 364 Ebd., S. 24. Bezüglich der grammatischen Besonderheiten des Ägyptischen vgl. Hornung, Erik: Einführung in die Ägyptologie. Stand, Methoden, Aufgaben, Darmstadt 1967, S. 23 – 42. 365 Vgl. Morenz, Ludwig D.: Bild-Buchstaben und symbolische Zeichen. Die Herausbildung der Schrift in der hohen Kultur Altägyptens, Göttingen 2004, S. 18.

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ist nicht allein die Zeichenform, sondern auch die Zeichenfunktion ausschlaggebend dafür, ob es sich um ein semantisches Bildzeichen oder ein phonetisches Schriftzeichen handelt. Das gleiche Zeichen kann in unterschiedlichen Kontexten mal bedeutungskodierend und mal lautkodierend verwendet werden.366 Dieser Funktionswechsel findet auch innerhalb von einzelnen Wörtern statt. Jedes einzelne Zeichen in einem Wort kann einen je eigenen Zeichentypus mit eigener Zeichenfunktion darstellen. Einzelne Bildzeichen können sowohl Dinge als auch Begriffe darstellen, ganze Wörter notieren oder einzelne Phoneme abbilden; bei dem altägyptischen Schriftsystem, so weiß man heute, handelt es sich um eine kombinierte Laut-, Bild- und Begriffsschrift.367 Ein Übergangsstadium von der semantischen zur phonetischen Notation stellt dabei die Rebusschreibung dar, die ursprünglich semantische Zeichen für eine phonetische Notation lautlich ähnlicher Wörter heranzieht. Die semographische Dimension des Zeichens wird dabei zugunsten der phonetischen Notation aufgegeben.368 Im Unterschied zu einer Bildschrift, für die sie lange gehalten wurden, sind die Hieroglyphen aber keine autonomen Zeichen, die ihre Semantik allein graphisch kodieren, sondern sie sind an eine gesprochene Sprache gebunden.369 Bedeutend für das Verständnis der Hieroglyphen aus heutiger Sicht ist, dass sie sprachliches Zeichen und Bild zugleich sind – phonetische und ideographische Dimension verschmelzen miteinander.370 Bis zu diesen Erkenntnissen aber, deren früheste Ansätze ins beginnende 19. Jahrhundert reichen, war eine Interpretation der Hieroglyphen als Bilderund Geheimschrift geläufig, deren Wurzeln bis in die Antike zurückreichen und die sich bis ins 18. Jahrhundert in Modifikationen tradierte und bemerkenswerterweise – den ägyptologischen Diskurs ignorierend – als eigene Tradition bis in die Moderne fortbestand.371 366 Vgl. Morenz, Bild-Buchstaben, S. 19 f, S. 39 f. 367 Vgl. Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Hieroglyphen: altägyptische Ursprünge abendländischer Grammatologie, in: dies. (Hrsg.): Hieroglyphen. Stationen einer abendländischen Grammatologie, München 2003, S. 9 – 25. 368 Vgl. Morenz, Bild-Buchstaben, S. 42 f: »Hier [bei der Rebusschreibung, Y.A.] wird also graphisch übertragen, wobei die Rebusschreibungen nicht den Sinn, sondern nur die Lautung kodieren. Zu den Zeiten, als noch keine phonetische Schrift zur Verfügung stand, erlaubte diese Art phonetischer Notation die erste Fixierung von nicht ohne weiteres bildlich eindeutig darstellbaren Wörtern aufgrund lautlicher Ähnlichkeit. Die Rebusschreibung hatte als Prinzip zur Gewinnung von Lautzeichen eine herausragende Bedeutung für die Herausbildung der Phonetisierung im Rahmen der visuellen Kommunikation im 4. und frühen 3. Jt. v. Chr. sowohl in Ägypten als auch in Mesopotamien.« 369 Keiner, Hieroglyphengrammatik, S. 24 ff. 370 Ebd., S. 26 f. 371 Vgl. Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Hieroglyphen, altägyptische Ursprünge abendländischer Grammatologie. Aleida und Jan Assmann, beide Ägyptologen und Literaturwissenschaftler, widmen den von ihnen herausgegebenen Tagungsband Hieroglyphen: Sta-

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Die Hieroglyphenfaszination der Renaissance aber – die Blütezeit der Hieroglyphenspekulation, an deren Traktaten sich auch die Romantiker orientierten – ist erst durch das Ineinandergreifen verschiedener Traditionsstränge zu erklären. Jan und Aleida Assmann unterscheiden in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes zur Hieroglyphik drei Traditionsstränge: 1. die christlich-platonisierende Topik vom »Buch der Natur«, die der scholastischen Theologie der Schriftoffenbarung eine »natürliche Theologie« der Schöpfung entgegenstellt, 2. [die] Auffindung der Hieroglyphenbücher des Horapollon im Jahre 1419 und 3. [das] Aufblühen der hermetischen Tradition im Zusammenhang der in den Westen gelangten und von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzten Traktate des Corpus Hermeticum.372

Es war vor allem der florentinische Platonismus, der über die Lektüre platonischer, neuplatonischer und hermetischer Schriften das Interesse an den Hieroglyphen beförderte. 1419 wurde das Manuskript des Horapollo – eine auf Griechisch abgefasste Abhandlung über die ägyptischen Hieroglyphen – durch den florentinischen Kleriker Cristoforo Buondelmonte auf einer seiner Reisen auf der griechischen Insel Andros gefunden. Es war schließlich der ebenfalls in Florenz ansässige Humanist Nicolo dei Nicoli, dem es gelang, den Zusammenhang zwischen diesem Manuskript und den eingravierten Zeichen der ägyptischen Obelisken aufzudecken. Wenige Jahrzehnte später, im Jahr 1463 veröffentlichte Ficino auf Anfrage Cosimo de Medicis eine Übersetzung des ebenfalls ursprünglich griechischen Textes des Corpus Hermeticum.373 In der Renaissance dienten die Hieroglyphen als Vorbild für den in dieser Zeit weit verbreiteten Gedanken der Universalsprache. Darüber hinaus erfreuten sie sich als Rätselschrift sowohl großer Beliebtheit als auch weiter Verbreitung und gewannen vor allem für das künstlerische Schaffen an Bedeutung.374 Auch in den weit verbreiteten mystischen Schriften der Zeit fanden die Hieroglyphen breite Rezeption. Bereits in der 1556 von Pierio Valeriano veröffentlichten Hieroglyphica, die eine Art lexikalische Sammlung der bekannten Hieroglyphen und deren Deutung im Sinne des Rätselschriftverständnisses beinhaltet, finden sich tionen einer abendländischen Grammatologie gerade diesem neuzeitlichen Hieroglyphendiskurs und seiner antiken Vorgeschichte. 372 Assmann, Aleida, Assmann, Jan: Hieroglyphen: altägyptische Ursprünge einer abendländischen Grammatologie, S. 13 f. 373 Vgl. Barasch, Moshe: Renaissance Hieroglyphics, in: Hieroglyphen. Stationen einer abendländischen Grammatologie, hrsg. v. Jan u. Aleida Assmann, München 2003, S. 165 – 190, hier S. 166 – 168. 374 Der Architekt Leon Battista Alberti rekurriert in seinen Zehn Büchern über die Baukunst ebenso auf die Hieroglyphen, die sich aufgrund ihres universalen Charakters besonders für Denkmals- und Monumentinschriften eigneten, wie auch Pomponius Gauricus in seiner Schrift Über die Skulptur (1504) die kunstgewerbliche Umsetzung der Hieroglyphen mit Verweis auf deren Doppelcharakter als Zeichnung und Zeichen befürwortet. (Vgl. Keiner, Hieroglyphengrammatik, S. 63; Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie, S. 28).

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Verweise auf biblische Psalmen aber auch – der Anregung Reuchlins geschuldete – Verweise auf die Kabbala.375 Hier wird auch der Beginn einer christlichen Verwendung des Begriffs gesehen, der nun nicht mehr ägyptisch konnotiert ist, sondern als christliches Symbol verstanden wird. In den christlichen Kontext übertragen gewinnt die Hieroglyphe auch allegorische Bedeutung, besonders in der Kunst. Die prominentesten Beispiele dürften Albrecht Dürers Holzschnitte darstellen.376 So entwickelt sich in der Renaissance durch die bildkünstlerische Anwendung der allgemein verbreiteten Hieroglyphenspekulationen neben einem eigenständigen Hieroglyphendiskurs auch ein eigenständiges Hieroglyphensystem, ehe die bildlichen Darstellungen mit Texten kombiniert in die Emblematik überführt werden, die rasch an Popularität gewinnt und die Hieroglyphen allmählich als bildkünstlerisches Darstellungsmedium verdrängt.377 Jan Assmann legt in seinem Aufsatz »Etymographie« ebenso eine differenzierte Analyse des semiotischen Status’ der Hieroglyphen vor, wie er die auf semiotischen Fehleinschätzungen beruhenden Missverständnisse des neuzeitlichen Hieroglyphendiskurses untersucht. Die von Assmann gegebene Bestimmung der hieroglyphischen Zeichen soll zunächst skizziert werden, um vor diesem Hintergrund die zeichentheoretischen Implikationen des kunsttheoretischen Hieroglyphenbegriffs darzulegen. Da es sich bei der altägyptischen Schrift um eine Mischform handelt, ist sie einer Fehlinterpretation ausgesetzt, die die von Assmann als solche bezeichnete etymographische Methode verabsolutiert. Diese Fehlinterpretation zeigt sich in der auf Horapollo zurückgehenden Interpretation, die die Hieroglyphen alleine aus der Bildbedeutung des Dargestellten heraus, ohne Rücksicht auf deren Bezug zu Sprachlauten, interpretiert.378 Assmann beschreibt das Schema der Horapollschen Hieroglyphendeutung als auf einem doppelten Bezug der Hieroglyphe beruhend, der daraus resultiert, dass das hieroglyphische Schriftzeichen einerseits Gegenstände abbildet, jedoch statt diese Gegenstände selbst zu denotieren, auf einen anderen, meist abstrakten Begriff verweist. Die Darstellung des Begriffs vermittels der Gegenstandsdarstellung wiederzugeben, ist dadurch möglich, dass es eine »natürliche« Verbindung zwischen Gegenstand und Begriff 375 Keiner, Hieroglyphengrammatik, S. 64 f. 376 Vgl. Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie, S. 20 – 25. 377 Zu dieser Entwicklung vgl. ausführlicher Barasch, Renaissance Hieroglyphics, S. 178 – 190 oder Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie, S. 25 – 32 sowie ausführlich zum Emblem und seinen Bezügen zur Hieroglyphik: Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie, S. 43 – 79. 378 Vgl. Assmann, Jan: Etymographie: Zeichen im Jenseits der Sprache, in: Hieroglyphen. Stationen einer abendländischen Grammatologie, hrsg. v. Jan u. Aleida Assmann, München 2003, S. 37 – 63, hier S. 43. Assmann illustriert diese Fehlinterpretation der Hieroglyphen anhand der Verabsolutierung einer anderen Methode: Böhmes Sprachmystik verabsolutiert die ethymologische Methode und legt jedes einzelne Sprachzeichen als motiviert aus.

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gibt. Die Verbindung besteht also nicht zwischen Zeichengestalt und Bezeichnetem (dies wäre lediglich dann der Fall, wenn es sich bei dem abgebildeten Gegenstand zugleich um das Signifikat handeln würde), sondern zwischen dem Bezeichneten und dem abgebildeten Gegenstand. Daher, so Assmann, sind Hieroglyphen Zeichen, »die in einem doppelten Bezug stehen: in symbolischem Bezug zu einem Begriff und in ikonischem Bezug zu einem Gegenstand.«379 Wagt man nun von dem humanistischen Hieroglyphendiskurs aus einen Blick zurück auf die bisher besprochenen, nahezu alle aus der Aufklärung stammenden, Abhandlungen über Sprache und die schönen Künste, so zeigt sich, dass der Begriff der Hieroglyphe – ohne je eine prominente Stellung einzunehmen oder gar zur Deutungsgrundlage eines theoretischen Konzepts zu werden – in nahezu jedem der Texte fällt, in den er sich meist jedoch lediglich über die ein oder andere Nebenbemerkung einschleicht. Ebenso, wie Kant mit der Erwähnung der Chiffrenschrift der Natur auf theologische Topoi von einer Offenbarung in der Natur verweist, bedient sich auch Fichte in seinem Sprachursprungsaufsatz der Vorstellung von den Hieroglyphen als bildhafter Ursprache. Aber auch in den kunsttheoretischen Schriften Lessings oder Mendelssohns wird die Hieroglyphe immer dann ins Spiel gebracht, wenn man sich mit Zeichen konfrontiert sieht, die sich weder eindeutig der Gruppe der ikonischen, ›natürlichen‹ Zeichen, noch jener der arbiträren Buchstaben zuordnen lassen. Ehe die Verwendung des Hieroglyphenbegriffs in den kunsttheoretischen Abhandlungen Mendelssohns und Lessings untersucht wird, sollen zunächst sowohl William Warburtons auf der Schwelle zwischen neuzeitlich-hermetischer Spekulation und wissenschaftlicher Untersuchung des ägyptischen Schriftsystems stehenden Ausführungen zu den Hieroglyphen betrachtet werden als auch das mystisch-theologische Hieroglyphenverständnis, wie es Herder in seinen religionsphilosophischen Schriften entwickelt.

2.1

Schriftgenese – William Warburtons zeichentheoretische Analyse der ägyptischen Hieroglyphen

Die ägyptischen Hieroglyphen wurden durch den englischen Bischof William Warburton im 18. Jahrhundert einer erneuten eingehenden Betrachtung unterzogen, die den Status einer wissenschaftlichen Untersuchung der hieroglyphischen Zeichenentstehung beanspruchte. Der im 17. Jahrhundert führende Gelehrte auf dem Gebiet der Hieroglyphik, Athanasius Kircher, der einen umfangreichen Deutungsversuch der Hieroglyphen vorgelegt hatte, vertrat die damals geläufige Ansicht, es handele sich bei diesen Bildschriftzeichen um eine 379 Assmann, J., Etymographie, S. 37.

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von den ägyptischen Priestern entwickelte Geheimschrift.380 William Warburton hingegen unterzog diese Annahme in seinem großangelegten theologischen Werk The Devine Legation of Moses einer Revision.381 Sein Ziel war es, die Entstehung der Hieroglyphen zu ihrem Ursprung zurückzuverfolgen, wobei seine Ausgangsthese besagt, dass die Menschen zwei Formen der Kommunikation gefunden hätten – jene mittels Lauten und jene mittels Zeichen. In seinen Ausführungen zu den ägyptischen Hieroglyphen wird er sich vorwiegend mit letzterer beschäftigen. Hieroglyphen zeichnen sich für Warburton gegenüber Buchstaben dadurch aus, dass sie Zeichen für Dinge – also piktographische oder ideographische Zeichen – sind, während es sich bei den Buchstaben um Zeichen für Worte – phonetische Zeichen – handelt. Diese Unterscheidung ist noch ganz der Fehlinterpretation der Hieroglyphen als einer von gesprochener Sprache unabhängigen Bilderschrift geschuldet. Die Geschichte des Schreibens entwickelte sich folglich nach Warburtons Auffassung vom Bild zum Buchstaben.382 Diese ursprüngliche Beziehung zwischen Malen und Schreiben versucht Warburton auch etymologisch anhand der Bedeutung zweier zentraler griechischer Begriffe zu belegen: Das erste Beispiel, »CQAVY«, bedeutet sowohl schreiben als auch zeichnen (malen); als zweites Beispiel zieht er das griechische Worte sgleiom (Zeichen) selbst heran, welches sowohl empirische Objekte als auch künstliche Zeichen benennt.383 Zunächst, so Warburton, wurden lediglich die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände durch Bilder dargestellt, während es einfacher gewesen sei, geistige Vorstellungen (mental conceptions) durch arbiträre Zeichen auszudrücken. Erst allmählich wurden analog verwendete bildliche Darstellungen zum Ausdruck von geistigen Vorstellungen herangezogen. Warburton räumt überdies ein, dass sich auch arbiträre Zeichen, vermischt mit Hieroglyphen, auf den Monumenten der Ägypter erhalten hätten. Damit weisen Warburtons Beobachtungen bereits in die Richtung, die ägyptischen Hieroglyphen als Mischschrift zu verstehen, was sich – in weit komplexerer Weise und vor allem unter Berücksichtigung der phonetischen Aspekte der Zeichen – etwa einhundert Jahre später durch

380 Vgl. z. B. Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie, S. 27 f. Ausführlich zu Kirchers Hieroglyphenverständnis vgl. Keiner, Hieroglyphengrammatik, S. 76 – 85. 381 Vgl. Warburton, William, The Divine Legation of Moses demonstrated on the Principles of a Religious Deist, From the Omission of the Doctrine of a Future State of Reward and Punishment in the Jewish Dispensation, (1741), New York u. London 1978, Bd. 2, S. 70 [British Philosophers and Theologians of the 17th & 18th Centuries. A Collection of 101 Volumes, hrsg. V. Ren¦ Wellek]. 382 Vgl. Warburton, The Devine Legation, S. 78. 383 Diese ethymologische Argumentation findet noch im heutigen wissenschaftlichen Diskurs Anwendung. Vgl. hierzu etwa Morenz: Bild-Buchstaben, S. 16 f.

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Champollion bestätigen soll.384 Warburton hingegen betrachtet auch die arbiträren Zeichen als von phonetischer Sprache autonome Schriftelemente. Allerdings, das gilt zu beachten, hält Warburton die wenigsten Hieroglyphen – auch wenn sie nicht genuin arbiträr waren – noch für wirkliche Bilder. Vielmehr stellen sie eine Vereinfachung der Zeichen dar. Gemäß den unterschiedlichen Formen der Vereinfachung, die zugleich ein zunehmendes Maß an Übertragungsleistung erfordern, teilt Warburton die Hieroglyphen in drei Gattungen ein. Die erste, als kuriologische Hieroglyphe bezeichnet, reduziert das Bild auf einen bedeutenden Teilaspekt des Gegenstands und entspricht damit der rhetorischen Figur der Synekdoche. Im nächsten Vereinfachungsschritt, der dem Stilmittel der Metonymie zuzuordnen ist, wird statt des Gegenstands selbst ein mit diesem in sachlichem Bezug stehendes Werkzeug gesetzt. Hier spricht Warburton von tropischer Hieroglyphe. Die letzte, als symbolische Hieroglyphe bezeichnete Form, entspricht der Metapher, die im Gegensatz zum Bild die unmittelbare Signifikant-Signifikat-Relation gänzlich aufgegeben hat und auf einer Analogiebildung zwischen dem in vereinfachter Form wiedergegebenen Gegenstand und der bezeichneten Sache selbst beruht.385 Auch Bergengruen legt anschaulich dar, wie sich in Warburtons Beschreibung die Optimierung der Schrift von der Pictographie zum Alphabet nach dem System der rhetorischen Tropik vollzieht, wobei er die Entwicklung von der noch ganz dem Gegenstand verhafteten Synekdoche, über die Metonymie hin zur Metapher aus Warburtons Gedankengang rekonstruiert.386 In einem weiter gefassten Blick unterscheidet Warburton vier Arten von ägyptischer Schrift, wobei nur die ersten beiden zu den Hieroglyphen gerechnet werden, während es sich bei letzteren beiden – epistolischer und hierogrammatischer Schrift – um alphabetähnliche Schriften handelt. Diese Systematik stellt eine Synthese aus den von Porphyrios und Clemens von Alexandrien vorgelegten Kategorisierungen dar, die jeweils nur drei Formen der ägyptischen Schrift unterscheiden. Die beiden hieroglyphischen Schriftarten – in hieroglyphische und symbolische Schrift unterschieden – sind jeweils in zwei Unterklassen eingeteilt. So gibt es kyriologische und tropische Hieroglyphen und tropische und allegorische Symbole.387 Warburton übernimmt von Porphyrios die Unterscheidung von hieroglyphischen und symbolischen Zeichen, in der

384 Vgl. Assmann, Jan u. Aleida: Einleitung, S. 9. 385 Warburton, The Divine Legation, S. 75 – 78. 386 Vgl. Bergengruen, Maximilian: Signatur, Hieroglyphe, Wechselrepräsentation. Zur Metaphysik der Schrift in Novalis’ Lehrlingen, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik, 14 (2004), S. 43 – 67, S. 58 f. 387 Vgl. Warburton, The Divine Legation, S. 121 f.

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Bestimmung der Unterklassen orientiert er sich jedoch weitestgehend an Clemens.388 Den Übergang von einer Zeichenform in die andere sieht Warburton an der Scharnierstelle zwischen tropischen Hieroglyphen und tropischen Symbolen gegeben, die er darin unterscheidet, dass die tropische Form der Hieroglyphe dazu dient, die Bedeutung aufzuschließen (to divulge) während sie beim Symbol dazu verwendet wird, die Bedeutung geheim zu halten (to secrete).389 Hier deutet sich bereits Warburtons Unterscheidung von sakralem und profanem Gebrauch der ägyptischen Schrift an. War die Unterscheidung zwischen hieroglyphischen und symbolischen Zeichen auf die Form des Zeichens bezogen, so sind die epistolischen und hierogrammatischen Zeichen für ihn dadurch unterschieden, dass sie in unterschiedlichen Kontexten Verwendung finden: Erstere im gesellschaftlichen Kontext, letztere im religiösen. Das hierogrammatische oder priesterliche Schreiben ist also dem Gebrauch, nicht der Zeichenstruktur nach vom epistolischen unterschieden. Beiden ist gemeinsam, dass sie gegenüber den Hieroglyphen – anders als nach den gängigen Annahmen – als spätere Form der Schrift betrachtet werden.390 Die epistolische Schreibweise liegt für Warburton an der Schnittstelle zwischen hieroglyphischen Zeichen und alphabetischen Buchstaben, da die epistolische Schrift bereits aus arbiträren Zeichen besteht wie die Buchstaben, diese aber noch Dinge denotieren, wie die Hieroglyphen.391 Damit haben sie der Zeichenstruktur nach Anteil an der Alphabetschrift, der Semantik nach Anteil an den Hieroglyphen. Schließlich wurden diese arbiträren Zeichen zur Notation der Laute der gesprochenen Sprache verwendet, was die eigentliche epistolische

388 Clemens kennt nur hieroglyphische Zeichen; diese teilt er in kyriologische und symbolische Hieroglyphen – eine Unterscheidung, die von Warburton zu ›kyriologisch‹ und ›tropisch‹ modifiziert wird. Statt Symbole als eigene Zeichenklasse zu benennen, bestimmt Clemens innerhalb der symbolischen Hieroglyphen weitere Unterklassen, die er in ›kyriologisch‹, ›tropisch‹ und ›allegorisch‹ auffächert. Hier hat Warburton allein letztere beiden übernommen. Vgl. Assmann, J., Etymographie, S. 48 f. 389 Vgl. Warburton, The Divine Legation, S. 140. 390 Ebd., S. 128. 391 Den Schritt hin zum arbiträren Zeichen sieht Warburton analog in der chinesischen Schrift vollzogen, wo man der Schrift das Bildhafte entzogen habe und nur noch dessen Marken (marks) zurück geblieben seien, die, einmal von ihrem Ursprung losgelöst, zu arbiträren Zeichen wurden. Dies betrachtet Warburton als den letzen Zwischenschritt hin zum Alphabet. Einen Schritt, den er auch bei den Ägyptern annimmt, deren arbiträre Zeichen jedoch durch die dominanten analogen Zeichen verdrängt worden seien. Dieser Entwicklung gemäß seien die Buchstaben aus den Hieroglyphen entstanden, die durch eine arbiträre Signifikant-Signifikat-Relation ausgezeichnet sind. Die Zeichen, so Warburton, hatten zunächst eine natürliche Form, die als nachgezeichnete (Ab)Bilder von Dingen zu verstehen sind. Die Ägypter entwickelten aus diesen Bildern schließlich durch Vereinfachung figürliche Zeichen. (Vgl. Warburton, The Divine Legation, S. 85 – 89).

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Schreibweise bezeichnet.392 Wird ein Bild zum Zeichen verfremdet, so Warburtons These, dann evoziert es irgendwann das Geräusch, das man mit der Sache verbindet, es wird zum Buchstaben für die Laute der gesprochenen Sprache.393 Ein besonders interessanter Aspekt in Warburtons Besprechung der Hieroglyphen besteht in dem Vergleich, den er zwischen den Hieroglyphen als den Anfängen der Schrift und den Anfängen der gesprochenen Sprache zieht. Letztere führt er nicht auf die Bildung erster phonetischer Lautzeichen zurück, wie etwa bei Herder zu beobachten, sondern verortet sie in literarischen Gattungen, die in ihren Ursprüngen die noch mündlich erfolgte Tradierung erzählter Stoffe darstellen. Er zieht die Gattungen der Fabel, des Apologs, des Sprichworts und des Gleichnisses ebenso heran wie die Allegorie, die Metapher und schließlich das Epitheton. Die zwischen den Gattungen schrittweise erfolgende Verkürzung durch zunehmende, vom Rezipienten zu leistende Bedeutungsübertragungen führt dazu, dass eine Entwicklung von narrativ angelegten Gattungen hin zur Reduktion auf die jedweder narrativer Elemente entbehrenden rhetorischen Tropen erfolgt. Die Fabel wird noch charakterisiert als »a kind of speech which corresponds, in all respects, to writing by hieroglyphics, each being the symbol of something else understood«394. Den Übergang vom Apolog zum Sprichwort deutet Warburton analog zur Hieroglyphe, deren ursprünglich spezifische Bedeutung mit der Zeit verloren ging, um durch eine allgemeinere ersetzt zu werden. Die Entwicklung der Sprache zu kunstvollen Formen überführte schließlich den Apolog ins Gleichnis. Das gleichnishafte Sprechen deutet Warburton in Analogie zu den »Marken« der chinesischen Schrift, deren Zeichen die Bilder verfremden und auf Bedeutungen übertragen, die vom abgebildeten Gegenstand unterschieden sind. Der Übergang von der »Marke« zum Buchstaben wird mit der Etablierung der Metapher gleichgesetzt, die einem konzentrierten Gleichnis entspricht. Man bedurfte der Metapher, da »men so conversant in matter still wanted sensible images to convey abstract ideas.«395 Der Endpunkt dieser Entwicklung besteht schließlich in der Reduzierung der Metapher zum Epitheton, wodurch sie ihres bildlich-semantischen Gehalts beraubt wurde.396 Hier zeigt sich deutlich, wie Warburton den einzelnen Ent392 Warburton, The Divine Legation, S. 148 f. 393 Diese erste Buchstabenschrift soll aber, laut Platon, durch König Thamus verboten worden sein, da sie die Aufmerksamkeit von den Dingen selbst ablenke und hin zu den Zeichen verschiebe, was dem Fortschritt im Wissen hinderlich sei. So sei tatsächlich die erste Buchstabenschrift – nicht die ersten Hieroglyphen – eine Geheimschrift gewesen. (Vgl. Warburton, The Divine Legation, S. 151). 394 Warburton, The Divine Legation, S. 91 f. 395 Ebd., S. 118. 396 Vgl. ebd., S. 117 – 119.

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wicklungsstadien einer Bildschrift ihre Entsprechungen in den Entwicklungsstufen der verschiedenen literarischen Gattungen zuordnet, deren gemeinsames Moment in der jeweils zunehmenden Vereinfachung und der damit einhergehenden zunehmenden semantischen Übertragungsleistung besteht. Die Anfänge der Schrift und die Anfänge der Literatur werden damit in Analogie zueinander gesetzt. Beiden ist gemeinsam, dass sie ihren Ursprung im Bild haben: Thus we see the common foundation of all these various modes of WRITING and SPEAKING, was a PICTURE or IMAGE, presented to the imagination thro’ the eyes and ears; which being the simplest and most universal of all kind of information, (the first reaching those who could not decypher the arbitrary characters of an alphabet; and the latter instructing those who where yet strangers to abstract terms) we must needs conclude to be the natural invention of rude necessity.397

Beiden Urformen – der Schrift wie der literarischen Gattungen – ist ihr Begründet-sein im Bild gemeinsam. Der Bildbegriff wird dabei in einem doppelten Sinn und vom Verständnis des Bildes als visuellem Gegenstand deutlich unterschieden gebraucht. So basiert laut Warburton nicht nur die Schrift, sondern auch die phonetische Sprache auf einem Bild. Dieses »Bild« – das sowohl visueller als auch akustischer Natur sein kann – wird als mentaler Gegenstand gedacht, der durch sinnliche Wahrnehmung der empirischen Außenwelt evoziert wird. Dass dieses Bild als einfachste und allgemeinste Form der Information betrachtet wird, impliziert einerseits seine Konkretheit, andererseits aber auch seinen Verzicht auf komplexitätserzeugende Differenzierung. Es ist weder abstrakt noch arbiträr und stellt eine unmittelbare Wiedergabe der sinnlichen Wahrnehmung durch die Einbildungskraft dar, die einer Bearbeitung durch den Verstand vorausgeht. Damit entspricht diese Verwendungsweise des Bildbegriffs weitestgehend Herders Rede von den vorreflexiv wahrgenommenen »Traumbildern«, die er in seiner Sprachursprungsschrift der Entwicklung von rationaler (Begriffs-)Sprache voranstellt. Zugleich wird in dem von Warburton beschriebenen Entwicklungsprozess von der abbildhaften Hieroglyphe über die verschiedenen Stufen der Tropik hin zum arbiträren Zeichen angedeutet, dass die literarische Sprache in ihren Tropen noch einen bildhaften Rest der Hieroglyphensprache mit hinübergerettet hat. Damit liefert Warburton zugleich indirekt eine Erklärung literarischer Sprachformen, die durch ihre Nähe zum bildlichen Urzeichen qualifiziert sind. Oder anders ausgedrückt: Die rhetorischen Tropen verbinden das ›willkürliche‹ Zeichen der arbiträren Sprache mit der Sphäre der ›natürlichen‹ Zeichen.

397 Ebd., S. 120.

Hieroglyphen als Hybride zwischen Wort und Bild

2.2

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Schöpfungshieroglyphe – Herders religionsphilosophischer Hieroglyphenbegriff

Herders Verwendung und Verständnis des Hieroglyphenbegriffs oszilliert zwischen Warburtons historischen Überlegungen zum Schriftursprung und dem mystisch-religiös aufgeladenen Hieroglyphendiskurs Athanasius Kirchers. Indem er diese Vermittlerposition einnimmt, präsentiert sich Herder in seinem Gedankengut als ein Vorläufer der Romantik. Umso folgenschwerer erscheinen seine Äußerungen über den Zusammenhang von Hieroglyphen und Sprachursprung, wenn man sie mit seinem nahezu zeitgleich entstandenen, oben bereits besprochenen und weitaus bekannteren Aufsatz Abhandlung über den Ursprung der Sprache vergleicht, in dem er den Ursprung der Sprache noch eindeutig und ausschließlich auf deren akustischen Wert zurückführt, hinter dem die visuell wahrnehmbare Schrift als sekundäres Phänomen zurücktritt. Zunächst ist relevant, in welchem Kontext und mit welcher Intention sich Herder den ägyptischen Hieroglyphen zuwendet: Zwei längere Texte sind von Herder überliefert, in denen er sich intensiv mit der Hieroglyphenthematik beschäftigt. Beide sind in seinem umfangreichen theologischen Werk Älteste Urkunde des Menschengeschlechts enthalten. Schon die Positionierung dieser Texte innerhalb einer großangelegten, theologisch motivierten Abhandlung zur Hebräischen Bibel lässt nicht im Unklaren darüber, dass Herder der Hieroglyphe religiöse Bedeutung beimisst. Dass Überlegungen zur Sprachentstehung, anders als in seiner Preisschrift, nur insofern von Interesse sind, als sie sich in die umfangreichen kulturhistorischen, theologischen und anthropologischen Ursprungsdiskurse einbetten lassen, ergibt sich aus dem religionsgeschichtlichen Ansatz des Werkes.398 Erst seit der Wiederentdeckung des Manuskripts Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. Einige Anmerkungen durch Günther Arnold im Jahr 1980 ist bekannt, dass bereits im Jahr 1769 ein ausgearbeiteter Entwurf der Ältesten Urkunde vorlag. Diese Tatsache lässt zusammen mit weiteren Dokumenten darauf schließen, dass die erste umfänglichere Niederschrift dieses bereits seit längerem von Herder geplanten Projekts wohl in die Zeit seines RigaAufenthalts fällt.399 Zwischen die Zeit dieser ersten Niederschrift und der ausgearbeiteten und veröffentlichten Textfassung aus dem Jahre 1774 fällt die Entstehung des Sprachursprungsaufsatzes. Interessanterweise, so legen die Herausgeber der beiden Textfassungen in ihrem Kommentar dar, ist es neben dem Thema der Morgenröte besonders das Konzept der Hieroglyphe, welches 398 Zum religionsgeschichtlichen Ansatz der Ältesten Urkunde vgl. einführend: Smend, Rudolf: Kommentar, in: Herder, Werke, Bd. 5, S. 1311 – 1336. 399 Vgl. Smend, Rudolf: Kommentar, in: Herder, Werke, Bd. 5, S. 1328.

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erst in der ausgearbeiteten Fassung Eingang in den Text findet.400 Die Abfassung der Berliner Preisschrift dürfte womöglich Herders Interesse an der Sprachentstehung geschärft haben, so dass ihm die Behandlung derselben in seiner umfassenden Abhandlung über die ersten Urkunden des Menschengeschlechts unerlässlich erschienen sein mag. Zugleich handelt es sich bei der Ältesten Urkunde als einer Geschichtsphilosophie und Bibelexegese um eine vom Sprachursprungsaufsatz deutlich unterschiedene Gattung. Hier kann Herder Entstehung von Sprache und Schrift nur insofern und insoweit erklären, als sie in einem Erklärungszusammenhang mit den von ihm ausgelegten biblischen Texten steht. Schrift und Sprache werden also in einem solchen Textzusammenhang immer schon im Rahmen theologischer Weltdeutung interpretiert werden. Es liegt auf der Hand, dass Herder in diesem Kontext nur schwerlich hätte mit dem Blöken des Schafes argumentieren können, das ihm im Sprachursprungsaufsatz noch so gute Dienste geleistet hat. Stattdessen wendet er sein Interesse zunächst gänzlich von der gesprochenen Sprache ab, um sein Augenmerk auf die Entstehung der Schrift zu richten, in deren Erklärungsmodell sodann die gesprochene Sprache als deren notwendiges Pendant mit hineingewebt wird, ohne dass ihr eine eigene Analyse gewidmet werden würde. Der Schrift wiederum nähert Herder sich über das Modell der Hieroglyphe, das es ihm erlaubt, an die bis in seine Zeit hineinwirkenden, überlieferten Hieroglyphenspekulationen der Renaissance anzuknüpfen, die eine theologische Interpretation quasi von selbst nahe legen. Der erste Teil der Ältesten Urkunde enthält einen Abschnitt mit der Überschrift »Hieroglyphe«, während im zweiten Teil, der den Titel »Schlüssel zu den heiligen Wissenschaften der Ägypter« trägt, ein Abschnitt der »ägyptischen Symbolik« gewidmet ist. Der erstgenannte Abschnitt hat erstaunlich wenig mit den eigentlichen ägyptischen Schriftzeichen zu tun. Lediglich in der einleitenden Passage äußert Herder sich recht allgemein über diese »dürftig[e], aber natürlich[e] und mächtig[e] Zeichen- und Bildersprache«, die er zugleich als Handlung versteht. Diese einleitenden Worte dienen ihm jedoch lediglich dazu, auf seine eigentliche Fragestellung hinzusteuern, die darauf angelegt ist, zu klären, ob die bisherigen Abhandlungen über die Hieroglyphen – seien sie Kircherscher oder Warburtonscher Natur (ein Antagonismus, der auch in seinem zweiten Text wiederkehrt) – es je ermöglicht haben, eine »würklich echte, alte Hierglyphe« zu sehen und zu verstehen.401 Und Herder lässt seine Leser auch nicht lange im Unklaren darüber, was er sich unter einer solchen Hieroglyphe vorstellt:

400 Vgl. ebd., S. 1363. 401 Herder, Werke, Bd. 5, S. 269.

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Hätte man nun, […] nicht große Lust, […] an ihr [der Hieroglyphe, Y.A.] zu bemerken, wie der Menschliche Verstand oder wie’s dem Menschlichen Verstande am leichtesten gefunden worden, zu symbolisieren? wie er sich an dem schweren Geschäfte geübt, Begriffe, Namen, Unterweisung, die unsichtbare Seele zu malen und zu gestalten? wie ihm etwa davon das erste Urbild worden, von dem man sich weiter versucht, an und nach welchem sich allmählich die ganze Schrift und Symbolik der Menschen also so viel Erfindungen, Künste und Wissenschaften gebildet?402

Herder knüpft hier an die humanistischen Hieroglyphendiskurse an und doch macht er zugleich unmissverständlich deutlich, dass er ein wie auch immer geartetes, umfängliches, von Altertums her überliefertes Wissen nicht in einem aus kryptischen Bildzeichen bestehenden Textkorpus erwartet, sondern von einer einzigen, ersten Ursprungshieroglyphe ausgeht, in der, einem Ur-Ei gleich, das gesamte spätere Weltwissen in höchst komprimierter und codierter Form bereits vorhanden ist.403 Mit dieser Vorstellung radikalisiert er zugleich das frühneuzeitliche Hieroglyphenverständnis. Herder nun, so lässt sich aus seiner Ausgangsfrage bereits erahnen, möchte auf diese lange gehegte Frage eine Antwort geben und diese »echte, alte Hieroglyphe« nicht nur benennen, sondern zugleich auch deuten. Die von Herder im Folgenden ausbuchstabierte Hieroglyphe bietet sich als Schöpfungshieroglyphe dar, die aus dem in Gen 1 – 2 überlieferten biblischen Schöpfungsbericht rekonstruiert wird.404 Die in der Genesiserzählung sukzessive geschaffenen Grundelemente eines jeden Tages, die mit jedem Tag um ein weiteres ergänzt werden, ordnet Herder als sieben Begriffe in einer Figur an, deren Gestalt vielfältige Verbindungsmöglichkeiten zwischen allen diesen Begriffen erlaubt. Das grundlegende Ordnungselement dieser Figur ist der Parallelismus, der die Werke der Schöpfung paarweise an402 Ebd., S. 269. 403 Cord-Friedrich Berghahn hat die Bedeutung der Schöpfungshieroglyphe und der sich aus ihr entwickelnden mosaisch-jüdischen Tradition innerhalb der kulturgeschichtlichen Konzeption Herders herausgestellt. (Vgl. Berghahn, Cord-Friedrich: »Mythologische Nationalgesänge vom Ursprunge«. Biblische Poesie, Judentum und europäische Gegenwart bei Johann Gottfried Herder und Moses Mendelssohn, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 57 [2007], S. 113 – 133). 404 In seiner Schrift Vom Geist der ebräischen Poesie von 1782/83 weist Herder eine solche – hier noch suggerierte – Verwandtschaft des Hebräischen, insbesondere der Konzeption des Schöpfungsberichts, mit der ägyptischen Hieroglyphik kategorisch zurück. So schreibt er etwa: »[D]ie Chamitischen und Semitischen Stämme scheinen sich so wie in Sitten, der Religion, der Denkart, der politischen Einrichtung; so auch in der Sprache völlig voneinander zu sondern. […] Es ist so fremde zu sagen, das Kapitel von der Schöpfung sei Aegyptisch gedacht; als daß es ursprünglich Mexicanisch verfaßt sei.« (Herder, Werke, Bd. 5, S. 905). Vgl. hierzu auch Andrea Polascheggs Ausführungen zum Hieroglyphendiskurs in Vom Geist der Ebräischen Poesie: Polaschegg, Andrea: Die Verbalwurzeln der Hierogylphe. Herders Vom Geist der Ebräischen Poesie als Text zwischen zwei wissensgeschichtlichen Paradigmen, in: Urpoesie und Morgenland. Johann Gottfried Herders »Vom Geist der Ebräischen Poesie«, hrsg. v. Daniel Weidner, Berlin 2008, S. 201 – 223, hier S. 211.

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ordnet und der Figur eine symmetrische Gestalt verleiht. Daniel Weidner hat ausführlich dargelegt, wie sich Herder in diesem Ordnungsprinzip an dem charakteristischen Stilmittel der orientalische Poesie – dem parallelismus membrorum – der 1753 erstmals von Robert Lowth analysiert und beschrieben wurde, orientiert.405 Diese Figur wird zugleich zur geometrischen Figur von magischer Bedeutung stilisiert: man kann sich nicht mehr Linien, Beziehungen und Proportionen denken, als hier, wie leicht erscheinen, und siehe es wird die spielenste, vollkommenste Figur : Aus sechs Triangeln, wo sich Alles auf einander bezieht, – jenes in allen Magien und Allegorien so berühmte Sechseck!406

Neben dem Parallelismus darf man jedoch nicht vergessen, dass Herders Schöpfungshieroglyphe über dieser Binnengliederung hinaus als ein System umfassender, vielschichtiger Relationen angelegt ist, die alle Elemente in einem multilateralen Wechselverhältnis zueinander in Beziehung setzen. In dieser kombinatorischen Ordnungsstruktur des Wissens dürfte er sich eher an kabbalistischen Traditionen orientiert haben. Seine Schöpfungshieroglyphe erinnert an die Anordnung der zehn Sefiroth, wie sie im Sohar dargestellt sind; ähnliche Tafeln konnte er bei dem bereits zitierten Athanasius Kircher finden.407 So spielt Herder hier auch deutlich auf die hermetische Tradition an, auf die er sich hinsichtlich der gleichen Figur, sie diesmal als »Hermesbuchstab« bezeichnend, in dem Abschnitt »Ägyptische Symbolik« explizit beruft.408 405 Vgl. Weidner, Daniel: Hieroglyphen und heilige Buchstaben: Herders orientalische Semiotik, in: Herder-Jahrbuch 7 (2004), S. 45 – 68, hier S. 57 – 60. 406 Herder, Werke, Bd. 5, S. 272. 407 Zur Ordnungsstruktur des Wissens bei Kircher vgl. z. B. Leinkauf, Thomas: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602 – 1680). Berlin 22009. Dieses Werk enthält allerdings keine Abbildungen. Zu den Tafeln vgl. die Werke Kirchers. 408 Herder, Werke, Bd. 5, S. 372. Die semiotische Paradoxie der Kombination hebräischer und ägyptischer Schriftmodelle, auf die Daniel Weidner mit Blick auf eine aus Herders Nachlass erhaltene Darstellung der Schöpfungshieroglyphe mit hebräischen Buchstaben verweist, löst sich zumindest bis zu einem gewissen Grad auf, wenn man berücksichtigt, dass Herder solche strukturellen Wissensfiguren, die um hebräische Buchstaben gruppiert sind, schon in kabbalistischen Abhandlungen finden konnte, wie etwa in der Konzeption der zehn Sefiroth, die zum Beispiel im Sohar tradiert ist. Eine ähnlich symmetrisch strukturierte Anordnung der zehn Sefiroth findet sich etwa in dem Holzschnitt Der Sefirot-Baum aus Paul Riccius’ Portae Lucis, Augsburg 1516. (Reprint in: Der Sohar. Das Heilige Buch der Kabbala. Nach dem Urtext ausgewählt, übertragen und hrsg. v. Ernst Müller, Köln 31986, S. 118). Darüber hinaus ist auch zu bedenken, dass in diesen Abhandlungen stets das hieroglyphische Moment der hebräischen Buchstaben selbst mitgedacht wurde, die jeweils ein Wort – einen Gegenstand – denotieren und die nach kabbalistischem Verständnis eine vielschichtige semantische Struktur aufweisen. (Zu Weidners Position vgl.: Weidner, Daniel: Hieroglyphen und heilige Buchstaben: Herders orientalische Semiotik, in: Herder-Jahrbuch 7 [2004], S. 45 – 68, hier S. 58 f.).

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Wie aber kann diese komplexe epistemische Figur semiotisch beschrieben werden? Sicher ist, Herders Schöpfungshieroglyphe unterscheidet sich deutlich von Warburtons Hieroglyphenverständnis, der die einzelnen Zeichen in einem Entwicklungsprozess vom ikonisch-abbildhaften zum symbolischen Zeichen beschreibt.409 Herders Hieroglyphe verhält sich nicht unmittelbar abbildhaftmimetisch zu dem repräsentierten Gegenstand (dessen Natur ebenfalls noch näher zu betrachten sein wird). Stattdessen handelt es sich um eine strukturelle Ähnlichkeit, die evoziert wird; die Relation zwischen Signifikant und Signifikat ist die der Analogie. Das bildhafte Moment an ihr, auf das Herder immer wieder verweist, besteht nicht in ihrer unmittelbaren Abbildhaftigkeit als vielmehr in ihrer komplexen Struktur der simultanen Ordnung. Bildlich an ihr ist ebenfalls das Moment einer Universalschrift, die von Ideomatik und Grammatik einer Einzelsprache unabhängig nicht die phonetische Gestalt von Wörtern denotiert, sondern in ihren Zeichen auf die Gegenstände selbst verweist.410 Aber auch der Gegenstandsbereich weicht deutlich von der Semantik anderer Zeichensysteme ab. Verbunden mit dem strukturellen Aufbau der Schöpfungshieroglyphe ist eine erhebliche Ausweitung des semantischen Feldes, welches durch das Zeichen abgedeckt wird. Weder wird bloß ein Einzelgegenstand bezeichnet noch umfasst die Semantik die Einzelaussage etwa eines Satzes. Vielmehr kodiert sie in höchst komprimierter Form den Wissensbestand eines ganzen – noch dazu des nach Herders Verständnis für die Menschheitsgeschichte vielleicht grundlegendsten – Textes: der Genesis. Die hochkomplexe semiotische Struktur der Herderschen Schöpfungshieroglyphe hat Daniel Weidner unter Zuhilfenahme der Peirceschen Semiotik äußerst detailliert und plausibel beschrieben.411 Betrachtet man die Funktionen, die diese erste Hieroglyphe zu erfüllen hat, so finden sich nahezu alle von Assmann aufgezeigten Bedeutungsebenen wieder : Heiligkeit, Natürlichkeit, Universalität und Geheimnis.412 Die Hieroglyphe, wie Herder sie präsentiert, erscheint als Träger göttlicher Offenbarung, die sich der Gestirne, Elemente und Lebewesen, also der Natur als ihrer Bildelemente be409 Ein Hieroglyphenverständnis, mit dem Herder wenig anzufangen weiß: »Menschen Jahrhunderte hindurch nur pinselnd! denn abkürzend! denn symbolisierend! denn weiß Gott wie und wo Buchstaben erfindend – welch ein Plan? welcher Grund? welche Fakta der Sprache und Geschichte?« (Herder, Werke, Bd. 5, S. 371). 410 Auf Herders Anknüpfen an diese Universalsprachmodelle, mit deren Hilfe er dem Hebräischen und der biblisch-hebräischen Überlieferung universelle Gültigkeit zu verleihen versucht, verweist Andrea Polaschegg in ihrer Untersuchung zu Vom Geist der Ebräischen Poesie: Polaschegg, Andrea: Die Verbalwurzeln der Hieroglyphe, S. 201 – 223, bes. S. 215. 411 Weidner, Hieroglyphen und heilige Buchstaben, bes. S. 48 f. 412 In der von Jan und Aleida Assmann vorgelegten Systematik des Hieroglyphenbegriffs werden fünf Bedeutungsschichten unterschieden, die in je unterschiedlicher Gewichtung den Hieroglyphendiskursen unterlegt werden. Diese werden bestimmt als Heiligkeit, Natürlichkeit, Geheimnis, Intermedialität und Universalität. Vgl. Assmann, Einleitung, S. 15 – 23.

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dient. Hat man diese Ursprungshieroglyphe einmal gefunden und entziffert, so erschließt sich aus ihr das gesamte Weltwissen. Dass ihre Deutung offensichtlich lange verborgen geblieben war, impliziert für die Erkenntnis, die Herder seinen Lesern aufschlüsselt, zumindest eine gewisse Affinität zum Geheimen. In dem Kapitel »Ägyptische Symbolik« wird der Unterschied zwischen der warburtonschen und der kircherschen Hieroglypheninterpretation zum zentralen Anknüpfungspunkt für Herders eigenes Hieroglyphenverständnis, in dem er versucht, eine vermittelnde Position zwischen beiden einzunehmen. So fragt er : »ob beide nicht Eins sagen könnten? Ob Symbole der Götter und der Natur nicht eben zugleich Versuch der ersten Schreibkunst gewesen?«413 Er schließt sich Warburtons Hypothese von dem in den Hieroglyphen gründenden Ursprung der Schrift an, zugleich ist er jedoch auch mit Athanasius Kircher der Überzeugung, dass es sich bei dem Gegenstand dieser ersten Schreibversuche um eine Götter- und Naturlehre handelte. Wenn sich die erste Schrift, so fragt er, dergestalt entwickelt habe, wie Warburton es uns vorführt, so bleibt zu klären, welche Gegenstände man zuerst mit einer solchen Schrift zu notieren und zu fixieren versuchte. In dieser Frage folgt er den Überzeugungen des Altertums, die in den Hieroglyphen die »Wissenschaft Hermes« überliefert sahen. Allerdings räumt er ein, dass das bisherige Verständnis der hieroglyphischen Tradierung des Hermetismus irreführend war und durch ein neues ersetzt werden muss: Wissenschaft Hermes! Und die Alle aus Einem Hieroglyphenbilde! – – Freilich wars, wie man das bisher nahm und verstand, der lauterste Unsinn. Sieben Wissenschaften auf Einmal? die verschiedensten, die schwersten, womit sich je Menschlicher Geist beschäftigen konnte, zu Anfange? dazu die unsichtbarsten und abstraktesten zur Schreibkunst die Ersten? Das wollte keinem in den Kopf. Man schrie Fabel! Fabel! oder fabelte selbst ärger, als es das Altertum je getan hatte. Mich dünkt, das verschwindet jetzt ziemlich: wir sind an der Schwelle des Ersten Versuchs der Hieroglyphenkunst, und sehet da das simple leichte Vorbild!414

Grundlage dieser neuen Kunst der Hieroglyphenauslegung sieht Herder in einer symbolischen Interpretation der hermetischen Wissenschaft. Herder spricht sich deutlich gegen Warburtons Annahme einer sukzessiven Schriftentwicklung aus, die vom Bild ausgehend, durch zunehmende Vereinfachung über die Stadien von Tropen und Symbolen schließlich den Status von Buchstaben erreicht. Stattdessen nimmt er eine gleichzeitige Entstehung von Sprache und Schrift an, die sich an dem Vorbild des Hermesbuchstabens bilden konnten, worin sie symbolisch bereits vorgeprägt seien. So ist für ihn »Der Buchstabe Hermes das 413 Herder, Werke, Bd. 5, S. 365. 414 Ebd., S. 367.

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Urbild aller leichten Symbolik des Menschlichen Geistes.«415 Schrift und Sprache nun sollen an »solchem Archetypus als Symbol entstehen«416. Dementsprechend schreibt er in seinem »Hieroglyphik«-Kapitel über die Hermesfigur : »Bilder, die auf welche Art auch sei, Zeichen von Sachen vorstellen sollten: sieh da den großen Beitrag Gottes zur Schrift und Sprache! Erstes Muster und Vorbild!«417 Damit geht auch Herder davon aus, dass Bilder und Hieroglyphen die Vorläufer der Buchstabenschrift darstellten und nähert sich so Warburtons These doch wieder an. Indem Herder die göttlichen Hieroglyphen als Vorbild der ersten menschlichen Schrift versteht, widerspricht er seiner These im Sprachursprungsaufsatz nur scheinbar. Denn hier wird nicht ausgeschlossen, dass die Menschen selbst Sprache und Schrift entwickelten, er schärft lediglich den Gegenstand, an dem sich diese Sprachentwicklung vollzog. Naturdinge sind es auch in Herders Preisschrift, von denen die Entstehung der Sprache ihren Ausgang nimmt. In der Ältesten Urkunde werden die Naturdinge lediglich symbolisch gefasst, um sich in diesem Symbol als Religion und Naturlehre zu präsentieren. Mit dem Konzept des Symbols knüpft Herder zugleich – wenn auch in veränderter Weise – an die bereits von Warburton bekannte These an, die im Bild den gemeinsamen Ursprung von Schrift und Sprache verortet. So gibt es ein wesentliches Charakteristikum, auf das es ihm bei der Rede von der Hieroglyphe anzukommen scheint – gemeint ist die Rede von der Bildschrift. Die Bildhaftigkeit der altägyptischen Schrift stellt für Herder ein entscheidendes Merkmal dar, auf das er wiederholt zu sprechen kommt und das auch die von ihm beschriebene Schöpfungshieroglyphe ausmacht. Wie wird diese Bildhaftigkeit bestimmt? Es fällt auf, dass ihre Bedeutung in dezidiertem Gegensatz zur linearen, sukzessiven Buchstabenschrift beschrieben wird. Im Vergleich zur Hieroglyphe heißt es in nüchternen Worten, die sich doch immerhin auf den Text der Heiligen Schrift beziehen: »Und was sind nun die zerstückten Verse unsres Bibeltexts? die Nummern unsrer Dogmatiken? die Paragraphen und Bücher unsrer Weltweisen darüber? Und endlich die schönen Leberreime, damit man den Kindern das kindlichste Bild zerflickt und zerflückt«418 Die Sprache, die sich in seinem Sprachursprungsaufsatz noch durch die Möglichkeiten des Differenzierens und Abstrahierens auszeichnete, scheint hier aufgrund der gleichen Eigenschaften abqualifiziert zu werden. Stattdessen ist es gerade der Hermesbuchstabe, der in seiner bildhaften Zusammenschau der Inhalte der Genesiserzählung, der Bedeutung des biblischen Textes viel besser gerecht zu werden 415 416 417 418

Ebd., S. 371. Ebd., S. 371. Ebd., S. 276. Ebd., S. 272.

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scheint und von Herder gar als Ersatz für die tradierten Textfassungen der Bibel vorgeschlagen wird: Eine Bibel, die allen bisherigen Notenkram voriger Jahrtausende mit Eins wegwürfe, nur die Tagwerke in Proportion und Parallele, als Bild gegen einander gäbe, simpel allein die Bilder erläuterte, auf die Namenspiele aufmerksam machte […] das Wort Gottes finge alsdann auch an mit Licht und Kraft, wie die Weltschöpfung!419

Herder richtet sich dezidiert gegen die Abstraktheit der Sprache und Begriffe, erneut mit dem Topos des lernenden Kindes argumentierend: »Setztet Statt der Naturbilder abstrakte Dinge – nichts wird einem Kinde schwerer, weil es ihm unnütz und unbegreiflich ist. Setztet Zeichen auf eine verkürzte, oder in einander geschobene Weise – man weiß, daß nichts das Lernen schwerer macht, als das in und durch einander.«420 Hier wird für die Anschaulichkeit und Allumfassendheit der ersten von ihm beschriebenen Schöpfungshieroglyphe plädiert. Die Eigenschaften der Anschaulichkeit und der synthetischen Zusammenschau scheint die Hieroglyphe mit dem Bild zu teilen. Allerdings wird ihr zugleich ein differenziertes Darstellungsmoment zugesprochen, welches – vergleicht man nur Herders Aussagen zum Bild im Sprachursprungsaufsatz – das Bild gerade zu ermangeln scheint. Das Operieren mit der Zahl Sieben als auch die dichotomen Paare des Schöpfungsberichts setzen die Fähigkeit zu Unterscheiden voraus, die dem Menschen mit der Vernunft gegeben ist. Das hieroglyphische Bild der göttlichen Schöpfung ist also deutlich unterschieden von den »Traumbildern«, die sich der vorreflexiven Wahrnehmung – auch jener der Tiere – darbieten.421 So betont Herder ebenso im Zusammenhang mit der Schöpfungshieroglyphe die Bedeutung von Sprache und Schrift für den Gebrauch der Vernunft: Da von der Sprache nun aller Gebrauch der Vernunft, und aller Unterscheidungscharakter der Menschheit […] abhängt! Mensch also nur durch Sprache das Geschöpf Gottes sein konnte, was er sein sollte – wird und muß ihn nicht diese weckende Kraft vom Ersten Augenblicke des Daseins belebt, geleitet, geführt haben? Und wie geführt? von innen? von außen? Mystisch? Physisch? welche Unterscheidung! ganz! Göttlich und Menschlich! nach Kräften von innen und Bedürfnissen von außen –also allwaltender Unterricht Gottes für sein Bild, den Liebling seines Herzens! seine sichtbare Ähnlichkeit in der Natur! Sprachlehre!422

Darüber hinaus stellt der symbolische Gehalt der Bilder, vermittels dessen sie auf einen semantischen Gehalt jenseits des mimetisch Dargestellten verweisen, den zentralen Aspekt dar, der sie erst zum Vorläufer oder gar zum Substitut für Schrift und Sprache werden lässt. »Nun diese Bildfigur symbolisch betrachtet: 419 420 421 422

Ebd., S. 273. Ebd., S. 277. Vgl. Herder, Werke, Bd. 1, S. 722 f. Herder, Werke, Bd. 5, S. 278.

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Bilder, die auf welche Art es auch sei, Zeichen von Sachen vorstellen sollten: sieh da den großen Beitrag Gottes zur Schrift und Sprache! Erstes Muster und Vorbild.«423Die Buchstabenschrift habe notwendig ihren Anfang in »Bilder[n], Runen, Hieroglyphen« nehmen müssen. Diese Bilderschrift ist an den Gegenständen der Natur orientiert, die sich dem Menschen in erster Linie durch visuelle Wahrnehmung erschließt. So lässt sich auch die Natur selbst – dem seit dem Mittelalter tradierten Diskurs vom Buch der Natur folgend – als die Sprache Gottes deuten: Siehe da, der erste Schriftversuch Gottes mit den Menschen, diese Hieroglyphe! Hier einige simple Naturbilder gewählt, ganz, wie sie sind! so ins Auge fallend! dem Auge unterschieden und abzeichnend gestellet! und so merkwürdig – nichts minder als – Schöpfung Himmels und Erden!424

So wie die Semantik des Hieroglyphenbegriffes vom ägyptischen graphischen Zeichen bei Herder eine Erweiterung hinsichtlich bildlich-symbolischer Darstellung göttlicher Weisheit erfahren hat, so erfährt auch der Bildbegriff bei ihm eine Bedeutungserweiterung. Verwendet Warburton in seiner Abhandlung über Hieroglyphen den Bildbegriff noch im Sinne von ikonisch-mimetischem Darstellungsmodus, so changiert der Bildbegriff Herders zwischen Bild als Medium abbildhaft-zeichnerischer Darstellung und Bild als Denkfigur der Kongruenz zwischen zwei Gegenständen. Alle Spekulation über die Schöpfungshieroglyphe mündet bei Herder schließlich in der Vorstellung von der menschlichen Ebenbildlichkeit Gottes: »Er [der Mensch, Y.A.] war selbst ein sich regendes Bild, ein daseindes Wesen: also Bild auch die beste Symbole der einzigen Abstrakten Beziehung, die ihm werden mußte: die Summe seines Daseins Bild Gottes! […] Er selbst ein Bild!«425 So wird das Bild hier von Herder zugleich als »Symbol« bezeichnet, das auf eine »abstrakte« Beziehung verweist, eine Beziehung also, die sich im reflexiven Erkenntnisprozess erschließt, nicht durch Anschauung aufgrund (visueller) Ähnlichkeit erkannt werden kann. Das Bild wird zur Denkfigur, die sich zugleich vom visuellen Bildbegriff löst und doch den Kategorien des visuellen Bildes gemäß funktioniert. So sind Symbol wie Bild beide Begriffe, die bei Herder Beziehungen – oder, mit einem Fichteschen Terminus gesprochen – Wechselwirkungen zwischen Gegenständen markieren. Es wird sich zeigen, dass diese Verbindung zwischen Bild und Symbol im Sprach- und Poesiediskurs der Romantik eine zentrale Stellung einnimmt.

423 Ebd., S. 276. 424 Ebd., S. 276 f. 425 Ebd., S. 280.

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

2.3

Hieroglyphische Bilder – Lessings und Mendelssohns kunsttheoretischer Hieroglyphenbegriff

Die Rede von der Hieroglyphe bei Lessing und Mendelssohn ist weit weniger ambitioniert als diejenige Herders. Ausgehend von den tradierten Verständnisparadigmen von Hieroglyphen verwenden sie den Begriff weitestgehend in heuristischer Weise zur Beschreibung transmedialer Phänomene in den sprachlichen und bildenden Künsten. Das so umschriebene Phänomen wird daraufhin zumeist mit dem kunsttheoretischen Terminus der Allegorie gefasst, der sodann ins Zentrum der Betrachtungen rückt. So geben weder Lessing noch Mendelssohn in ihren kunsttheoretischen Schriften eine nähere Bestimmung des von ihnen verwendeten Hieroglyphenbegriffs. Mendelssohn gebraucht den Hieroglyphenbegriff aber auch in den bereits betrachteten sprachtheoretischen Überlegungen, die seinem Werk Jerusalem eingegliedert sind. In Jerusalem rekurriert er auf ein tradiertes Hieroglyphenverständnis als ideographischer Schrift, das im Folgenden zunächst kurz skizziert werden soll, da sich dieses auch in seinen kunsttheoretischen Abhandlungen niederschlägt. In Jerusalem verwendet Mendelssohn ›Hieroglyphik‹ als Oberbegriff für die verschiedenen Abstraktionsformen, die die Zeichenentwicklung, ausgehend vom – ebenfalls semiotisch betrachteten – Gegenstand selbst, durch zunehmende Vereinfachung vollzogen hat: Mit der Zeit kann man es bequemer gefunden haben, anstatt der Dinge selbst, ihre Bildnisse in Körper oder auf Flächen zu nehmen; endlich der Kürze halber sich der Umrisse zu bedienen, sodann einen Theil des Umrisses Statt des Ganzen gelten zu lassen, und endlich aus heterogenen Theilen ein unförmiges aber bedeutungsvolles Ganze zusammenzusetzen; und diese Bezeichnungsart ist die Hieroglyphik.426

Das hier skizzierte Hieroglyphenverständnis basiert auf der Vorstellung von einer ikonischen bis ideographischen Schrift, die von der phonetischen Sprache gänzlich unabhängig ist. Deren sukzessive Entwicklung aus einer reinen Piktographie heraus, die durch einen zunehmenden Vereinfachungs- und Abstraktionsprozess des Zeichens erfolgt, scheint Mendelssohn von Warburton entlehnt zu haben. Die visuellen Zeichen dieser Schrift gehen gänzlich auf die visuelle Erscheinungsweise der Gegenstände zurück und haben lediglich ausgehend von einer reinen Bildschrift eine Entwicklung hin zu einem ideographischen Zeichensystem vollzogen, in dem einzelne Grapheme miteinander kombiniert werden können und ihre Semantik dabei bisweilen verändern. Diese aus mehreren Grundzeichen zusammengesetzte hieroglyphische Schreibweise 426 JubA, Bd. 8, S. 174.

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ermöglichte schließlich die Verbindung zwischen dem – zunächst gänzlich getrennt voneinander existierenden – phonetischen und graphischen Sprachsystem: Da man sehr oft Gelegenheit gehabt, Schrift in Rede und Rede in Schrift zu verwandeln, und also die hörbaren Zeichen mit den sichtbaren zu vergleichen; so kann man gar bald bemerkt haben, daß sowohl in der Redesprache dieselben Laute, als in verschiedenen hieroglyphischen Bildern dieselben Theile öfters wiederkommen, aber immer in anderer Verbindung, wodurch sie ihre Bedeutung vervielfältigen. Endlich wird man gewahr worden seyn, daß die Laute, die der Mensch hervorbringen und vernehmlich machen kann, so unendlich an der Zahl nicht sind, als die Dinge, welche durch sie bezeichnet werden, daß man den ganzen Umfang aller vernehmlichen Laute gar bald umfassen und in Classen abtheilen könne. Und sonach kann man diese Eintheilung, Anfangs unvollständig versucht, mit der Zeit ergänzt und immer verbessert, und jeder Classe ein ihr entsprechendes Schriftzeichen aus der Hieroglyphik zugeeignet haben.427

Den sedimentierten Rest eines solchen hieroglyphischen Ursprungs der Alphabetschrift belegt er mit der logographischen Bedeutungsebene, die jedem hebräischen Buchstaben zukommt.428 In Mendelssohns kunsttheoretischen Schriften finden die Hieroglyphen im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zur Allegorie Erwähnung. Den Ausführungen zur Allegorie ist in seinen Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen der schönen Künste und Wissenschaften die Unterscheidung zwischen ›natürlichen‹ und ›willkürlichen‹ Zeichen vorangestellt. Sowohl die »hieroglyphischen Zeichen der Alten« als auch »einige allegorische Bilder«, die er wiederum unter die Hieroglyphen subsumiert, zählt er zu den willkürlichen Zeichen.429 Allegorie und Hieroglyphe erscheinen damit als eine Sonderform der willkürlichen Zeichen. Mit Blick auf seine Definition eines willkürlichen Zeichens, wie sie im vorherigen Kapitel bereits detailliert rekonstruiert wurde, erschließt sich hier ein Verständnis der Hieroglyphe als eines Zeichens, das sich – wie auch die Alphabetschrift – dadurch auszeichnet, dass es seiner »Natur nach mit der bezeichneten Sache nichts gemein« hat. Nimmt man andererseits die Bestimmung der Hieroglyphen in seiner Schrift Jerusalem zur Kenntnis, so wird zugleich auch ihr bildhafter Charakter als ein konstitutives Element ihrer Zeichenstruktur deutlich. Die hieroglyphische Zeichenstruktur, so lässt sich daraus rekonstruieren, steht also zwischen den arbiträr-phonetischen Zeichen der Alphabetschrift und den motiviert-piktographischen Zeichen der bildenden Künste. Wie aber wird die Hieroglyphik in Mendelssohns Verständnis von den jeweils benachbarten Zeichensystemen abgegrenzt? Von der Alphabetschrift ist 427 Ebd., S. 174 f. 428 Vgl. ebd., S. 176. So entspricht der Name jedes hebräischen Buchstabens zugleich einem Wort für einen bestimmten Gegenstand. 429 JubA, Bd. 1, S. 174.

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

sie insofern unterschieden, als es sich bei ihr nicht um phonetische Zeichen handelt. Sie denotiert Gegenstände, keine Laute. Ihre Zeichen sind also piktographisch. Von den nachahmenden, motivierten Zeichen der bildenden Künste, insbesondere der Malerei, sind die hieroglyphischen Zeichen aber wiederum insofern unterschieden, als sie zwar piktographisch sind, jedoch anders als beim ikonischen Zeichen keine Ähnlichkeitsrelation zwischen dem Zeichen und dem bezeichneten Gegenstand besteht.430 Worauf Mendelssohn hier abzielt, ist genau jener doppelte Bezug der Hieroglyphe, den Jan Assmann herausgearbeitet hat: die Relation »Zeichen – bezeichnender Gegenstand« ist piktographisch, die Relation »Zeichen – bezeichneter Gegenstand« hingegen ist arbiträr. So sind die Hieroglyphen ihrer Form nach bildliche Zeichen; dennoch denotieren sie etwas anderes als den abgebildeten Gegenstand selbst. Sie stellen damit die Sonderform willkürlicher bildlicher Zeichen dar. Das arbiträre Moment schleicht sich in die bildliche Zeichenstruktur durch die tropische Umgestaltung und Verwendungsweise ein. So hat sich schon in den Ausführungen zur Hieroglyphik in Jerusalem gezeigt, dass die Hieroglyphen nach Mendelssohns Verständnis durch Reduktion und Modulation der ursprünglich rein abbildhaften Zeichen entstanden sind. Die transformierten Piktogramme werden daraufhin durch Kombination einzelner Elemente zu Ideogrammen umgestaltet. Darüber hinaus weicht ihr Referenzbereich zunehmend von dem im Bild dargestellten Gegenstand ab und wird stattdessen auf abstrakte Gegenstände bezogen, die eine Ähnlichkeitsrelation mit dem dargestellten Gegenstand verbindet. Hier erschließt sich die Nähe zur Allegorie. So liegt auch Mendelssohns Betrachtungen zur Allegorie die Überlegung zugrunde, dass es sich hierbei um eine tropische Form handelt, die eine Verbindung aus ›natürlichem‹ und ›willkürlichem‹ Zeichen etabliert. Die Allegorie ist also ihrer Zeichenstruktur nach als ›natürliches‹, ihrer Semantik nach jedoch als ›willkürliches‹ Zeichen aufzufassen.431 Einen ähnlichen Befund lieferte die Analyse der hieroglyphischen Zeichenstruktur. Allerdings lässt sich die Allegorie nicht einfach durch die Hieroglyphe substituieren. Mendelssohn trifft eine graduelle Unterscheidung zwischen beiden Zeichensystemen, deren Grundlage in der Verbindung zwischen ikonischem und symbolischem Zeichengehalt zu suchen ist. Da der abbildhafte Charakter des allegorischen Zeichens auf eine von diesem unterschiedene Semantik verweist, ist es für Mendelssohn von entscheidender Bedeutung, dass die Verbindung zwischen der ikonischen Zeichenebene und der semantischen – also der Bezug zwischen dargestelltem Gegenstand und intendierter Bedeutung – sich dem Betrachter problemlos erschließt und somit dessen Aufmerksamkeit auf der Bedeutung ruhen kann, statt 430 Vgl. Jan Assmanns Hinweis auf den doppelten Bezug der Hieroglyphe. 431 JubA, Bd. 1, S. 174.

Hieroglyphen als Hybride zwischen Wort und Bild

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durch den davon verschiedenen, ikonischen Gehalt des Zeichens abgelenkt zu werden.432 Der Hieroglyphe kann er jedoch diese evidente Beziehung zwischen der piktographischen und der semantischen Ebene nicht zusprechen und so bleibt sie bei ihm negativ besetzt. Gelungene Allegorien müssen sich damit von der Hieroglyphe deutlich unterscheiden: »Beziehen sich hingegen auch die Bilder des Künstlers wie die Hieroglyphen der Alten nur auf eine fast unmerkliche Ähnlichkeit mit dem Urbilde, so muß er undeutlich werden, weil der Zuschauer lebhafter an das Zeichen als an die bezeichnete Sache denket.«433 Auch bei Lessing findet der Hieroglyphen-Begriff im Hinblick auf die Transmedialität des Zeichens Verwendung. In seiner wichtigsten kunsttheoretischen Schrift Laokoon fällt der Begriff nur ein einziges Mal, jedoch an entscheidender Stelle, wo der Übergang zwischen dem Medium der Malerei ins Medium der Dichtung und damit der Wechsel vom ›natürlichen‹ (ikonischen) ins ›willkürliche‹ (arbiträre) Zeichensystem thematisiert wird. Es ist das zentrale Wolken-Beispiel, wo das gemalte, ikonische Zeichen der Wolke nicht mehr den Gegenstand der Wolke selbst, sondern den Begriff der Unsichtbarkeit denotiert.434 Insofern das Zeichen nicht mehr in abbildhaftem Bezug zu seinem Signifikat steht, wird es von Lessing als »symbolisches Zeichen« verstanden. Wie bei Mendelssohn ist die Hieroglyphe damit auch bei Lessing ihrer Form nach dem piktographischen Bereich der ›natürlichen‹ Zeichen zuzuordnen, ihrer Semantik nach aber nicht mehr auf die abgebildete Sache bezogen und so auf die arbiträre Zeichenebene überführt. Sie oszilliert zwischen Bild und Alphabetschrift, ›natürlichem‹ und ›willkürlichem‹ Zeichen. Bei Lessing findet sich jedoch eine Bedeutungsverschiebung des Begriffs gegenüber Mendelssohns Deutung – kommt es bei Mendelssohn darauf an, dass die »allegorischen Bilder« zugleich als ›natürliches‹ Zeichen zu lesen sind, als welches sie sich präsentieren und den darüber hinausweisenden, willkürlichen Sinn denotieren, so wird das vormals ›natürliche‹ Zeichen bei Lessing zum rein ›willkürlichen‹ Zeichen in bildlicher Gestalt. Allen dreien hier vorgestellten Positionen – Warburtons semiotischer Hieroglyphenbetrachtung, Herders theologischem Hieroglyphendiskurs und den kunsttheoretischen Ausführungen Mendelssohns und Lessings – ist der Bezug zum Bild einerseits und zu literarischen Sprachformen andererseits gemeinsam. Am nüchternsten nehmen sich dabei die Bemerkungen Lessings und Mendelssohns aus, denen die Hieroglyphen als Beispiel der Verbindung von bildlicher Darstellung und begrifflicher Bezeichnung in einem logographischen Zeichensystem dienen. Warburtons Analyse stellt sich deutlich differenzierter 432 Vgl. ebd., S. 180. 433 JubA, Bd. 1, S. 182. 434 Vgl. Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 106 – 108.

158

Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

und aufschlussreicher dar. Während Warburton derjenige ist, der die Hieroglyphe mit den ältesten literarischen Gattungen in Beziehung setzt, greift Herder auf hermetische und christlich-mystische Spekulationen zurück, um die Nähe der Hieroglyphik zur sinnlich wahrnehmbaren Natur zu betonen. Allen methodischen und erkenntnistheoretischen Unterschieden im Umgang mit der Hieroglyphen-Thematik zum Trotz, teilen die hier besprochenen Auseinandersetzungen mit der ägyptischen Hieroglyphik zwei wesentliche Überzeugungen, die den Hieroglyphendiskurs der Romantik bestimmen: die Verortung der Hieroglyphe im poetologischen Diskurs einerseits und die Betonung ihrer – mit der Bildhaftigkeit einhergehenden – Nähe zur sinnlich wahrnehmbaren Natur andererseits. Die Hieroglyphe wird damit am Beginn der Sprachentstehung verortet, der – den zeitgenössischen erkenntnistheoretischen Überzeugungen gemäß – seinen Ausgang bei den auf sinnlich-visueller Wahrnehmung beruhenden Anschauungen sowie deren bildlicher Repräsentation nimmt. Zugleich steht sie für den Beginn der poetischen Rede – und damit für den Ursprung der Kunst. So erstaunt es nicht, dass sie in den Diskursen der Romantiker, die, wie etwa August Wilhelm Schlegel, den – bildhaften – Beginn der Sprache mit der Geburt des Poetischen gleichsetzen, zu einer zentralen Denkfigur wird. In ähnlicher Weise fungiert die Allegorie, die im 18. Jahrhundert wiederholt in die Nähe der Hieroglyphe gerückt wird, als Stilmittel, das zwischen Begriff und Bild, Kunst und Natur vermittelt und mit der Sprachentstehung in Verbindung gebracht wird. Ihr wendet sich das folgende Kapitel zu.

3.

Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild

Handelt es sich bei dem im vorherigen Kapitel betrachteten Phänomen der Hieroglyphen um Wort-Bild-Relationen, die sich auf ein einzelnes Zeichen beziehen, so stellt die Allegorie die künstlerische Ausgestaltung einer solchen Begriff-Bild-Verbindung in einem dichterischen oder bildkünstlerischen Werk dar. Neben der Allegorie, die vor allem auf kunsttheoretischem Gebiet Anwendung fand, beginnt sich im 18. Jahrhundert zunehmend das Symbol als konkurrierendes Zeichensystem zu etablieren. So konnte der Symbolbegriff, der um die Jahrhundertmitte vorwiegend in erkenntnistheoretisch-philosophischen Schriften gebraucht wurde, in die kunsttheoretische Literatur importiert werden.435 In der Erkenntnistheorie war es wohl in erster Linie Kants Verwen-

435 Die wichtigsten Symboltheorien des 18. Jahrhunderts, die Eckard Rolf in seiner Überblicksdarstellung »Symboltheorien« vorstellt, verteilen sich ausschließlich auf die beiden

Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild

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dungsweise des Symbolbegriffs, der ihm zu allgemeiner Popularität verhalf und seine Übertragung auf das Gebiet der Kunsttheorie vorbereitete. In der Goethezeit bedient sich dann auch die Kunsttheorie zunehmend des Symbolbegriffs, wobei die ästhetischen Symbolkonzeptionen ihren Ausgangspunkt meist bei Kants Verwendung des Begriffs nehmen. Kants Symbolbegriff konnte darum so problemlos in die Kunsttheorie Eingang finden, da Kant ihn in zweifacher Weise verwendet – zum einen ist das Symbol in der Kritik der reinen Vernunft der Korrespondenzbegriff zum Schema, zum anderen wird in der Kritik der Urteilskraft die Schönheit als Symbol des sittlich Guten bestimmt.436 In der kunsttheoretischen Debatte geht es vor allem um eine Abgrenzung zwischen dem Symbol- und Allegoriebegriff.437 Unterschiedliche Versuche einer Definition und gegenseitigen Abgrenzung dieser beiden Begriffe finden sich – häufig eingebettet in ein umfassendes System von semantisch verwandten Begriffen – in erster Linie in den Schriften der philosophischen Ästhetik.438 Auf literarischem und poetologischem Gebiet finden diese Begriffe gleichfalls Verwendung, jedoch häufig in weitaus weniger differenzierter Weise. Es ist besonders auf kunsthistorischem Gebiet, wo der Allegoriebegriff, der stärker auf die Bildlichkeit des Zeichens abzielt als der des Symbols, vielfach Verwendung findet. Im 18. Jahrhundert wird die Allegorie in der Kunstgeschichte vor allem gegen den zunehmenden Bedeutungsverlust der Ikonographie und der Historienmalerei Rubriken des erkenntnistheoretischen und des kunsttheoretischen Symbolbegriffs. (Vgl. Rolf, Eckard: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext, Berlin 2006). 436 Rolf weist in seiner knappen Passage über Kants Symbolbegriff lediglich auf dessen Verwendungsweise in Relation zum Schema und damit als Veranschaulichung von Vernunftideen hin. Die Rolle des Begriffs in Kants Ästhetik der Kritik der Urteilskraft bleibt unerwähnt. (Vgl. Rolf, Eckard, Symboltheorien, S. 46 – 51). Tomberg hingegen legt in seinen »Studien zur Bedeutung des Symbolbegriffs« auf das Konzept des Schönen als Symbol des Sittlichguten bei Kant seinen Schwerpunkt. Dabei arbeitet er auch die Verwendung des Symbolbegriffs aus der Kritik der reinen Vernunft mit in seine Darstellung ein. (Vgl. Tomberg, Markus: Studien zur Bedeutung des Symbolbegriffs. Platon, Aristoteles, Kant, Schelling, Cassierer, Mead, Ricoeur, Würzburg 2001, S. 33 – 69). 437 Sørensen hat in seinem Aufsatz Die ›zarte Differenz‹. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe eine detaillierte Studie über die kunsttheoretischen Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Protagonisten der Weimarer Klassik um das Verständnis und die Unterscheidung des Symbol- und des Allegoriebegriffs vorgelegt. (Vgl. Sørensen, Bengt, Algot: Die ›zarte Differenz‹. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hrsg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 632 – 641). 438 Eine Systematisierung der unterschiedlichen Verwendungsweisen und Definitionen des Symbol- und Allegoriebegriffs in der Goethezeit hat Michael Titzmann vorgelegt. Sein strukturalistisches Vorgehen kommt dabei der Systematisierung und Klärung der höchst vielfältigen und unübersichtlichen Verwendungsweisen der Begriffe bzw. des Begriffspaares zu Gute. (Vgl. Titzmann, Michael: Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hrsg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 642 – 665).

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

unter den zeitgenössischen Künstlern beschworen.439 Winckelmanns eingehende Beschäftigung mit der Allegorie ist unter dem Aspekt dieser Bemühungen zu betrachten.440 Schon der Umstand, dass die Allegorie sowohl zur Beschreibung dichterischer als auch bildkünstlerischer Phänomene Anwendung findet, verweist auf ihr Potential als Bindeglied zwischen bildenden und sprachlichen Künsten zu fungieren. Während der Allegorie-Begriff in der bildenden Kunst auf Darstellungen bezogen wird, die einen abstrakten Begriff oder einen Vorstellungskomplex im piktographischen Darstellungsmodus des Bildes veranschaulichen,441 kennt die Literatur zwei Formen der Allegorie. Zum einen gibt es die eng mit den bildkünstlerischen Darstellungen verwandten Begriffs-Allegorien, die durch Konkreta auf abstrakte Begriffe verweisen. Sie beziehen sich nur auf eine einzelne Textpassage, ohne die Bedeutung der gesamten Textaussage zu affizieren und können in extrem konzentrierter Form sogar als Wortallegorie erscheinen. Zum anderen gibt es in der Literatur auch eine allegorische Schreibweise, die dem gesamten Text und seinen einzelnen Elementen eine zweite, allegorische Bedeutung unterlegt. Mit dieser Schreibweise geht das entsprechende hermeneutische Verfahren der Allegorese einher, wobei historisch die Auslegungsmethode der Allegorese dem rhetorischen Mittel der Allegorie vorangeht.442 Zunächst waren es Texte Homers und Hesiods, die bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. eine allegorische Interpretation erfahren haben, um ihrer wörtlichen Bedeutung eine als verborgen angenommene und im Kontext der eigenen Gegenwart angemessenere Bedeutung zu unterlegen, ehe der Begriff der Allegorie

439 So erschienen auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch – der zunehmenden Kritik an der Allegorie ungeachtet – weiterhin bedeutende ikonologische Werke. Dazu zählen etwa Boudards Iconologie tir¦e de divers auteurs. Ouvrage Utile aux Gens de Letters, aux Poets, aux Artistes & generalment — tous Amateurs des Baux-Arts von 1759 und Iconologie par figures ou trait¦ complet des all¦gories, emblÀmes, etc. — l’usage des artistes en 350 figures von Gravelot und Cochin aus dem Jahr 1765. Vgl. hierzu Kemp, Natura, S. 31. Die Wiederbelebung der Historienmalerei wird auch Friedrich Schlegel zu Beginn des 19. Jahrhunderts in seinen kunsthistorischen Beiträgen in der Zeitschrift Europa fordern. Vgl. hierzu Teil B, Kap. I.3. 440 Vgl. Fischer, Bernhard: Kunstautonomie und Ende der Ikonographie. Zur historischen Problematik von ›Allegorie‹ und ›Symbol‹ in Winckelmanns, Moritz’ und Goethes Kunsttheorie, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 247 – 77, hier S. 250 – 253. 441 Vgl. Warncke, Symbol, Emblem, Allegorie, S. 11, wo er grundlegend festhält: »Man versteht darunter [i. e. Symbole und Allegorien, Y.A.] einerseits sinnlich gegebene und fassbare, bildkräftige Zeichen, die auf einen höheren, abstrakten Bereich verweisen, andererseits die bildliche Veranschaulichung von Vorstellungen, Vorstellungs-Zusammenhängen und Begriffen, die an sich unanschaulich sind.« 442 Vgl. Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 52004, S. 48 f.

Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild

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selbst im ersten nachchristlichen Jahrhundert Verwendung fand.443 In der christlichen Bibelauslegung findet das Verfahren der Allegorese, mit dessen Hilfe die Inhalte der jüdischen Bibel typologisch auf das Neue Testament bezogen werden, weite Verbreitung.444 In der Folgezeit werden nicht nur Texte allegorisch interpretiert oder nach allegorischen Verfahren verfasst, sondern auch die bildende Kunst, die ihre Stoffe vornehmlich aus der Bibel und den Werken der antiken Mythologie bezieht, welche ihrerseits durchgängig allegorische Auslegungen erfahren haben, bedient sich der allegorischen Darstellungsweise. Gottfried Willems zeichnet in seiner Untersuchung zu Wort-BildFormen die Relevanz der sich ausbreitenden christlich-antiken Allegorese für die Entwicklung einer Bildkunst nach, die Bedeutungen jenseits der dargestellten Gegenstände transportiert. Diese Bedeutung definiert er prinzipiell als bereits sprachlich gefasste oder zumindest als potentiell sprachlich konstituierbare, deren Verbildlichung auf dem Umweg der – ebenfalls aus der sprachlichen Kunst der Literatur stammenden – Allegorese möglich wird.445 Allerdings setzen Willems’ Überlegungen bei den sich bereits als Kunst konstituierten, literarischen und bildkünstlerischen Formen an;446 sein Interesse gilt der Beziehung von bildenden und sprachlichen Kunstwerken, nicht einem ursprünglichen, vorkünstlerischen Verständnis der medialen Formen von Wort und Bild und deren Verbindung. Die von Willems eingenommene Perspektive auf die allegorischen Darstellungen der bildenden Künste findet sich auch bei den nachfolgend zu besprechenden Autoren Winckelmann, Mendelssohn und Lessing. Jedoch ist diese an der – sprachlichen wie bildenden – Kunst orientierte Betrachtungsweise, die immer schon den chronologischen Primat der sprachlichen vor der bildlichen Darstellung voraussetzt, nur eine mögliche Annäherungsweise an Wort-BildRelationen. Mit Blick auf vorkünstlerische Ausformungen von Sprache und Bild, wie sie etwa in Sprachursprungshypothesen Beachtung finden, ist es hingegen die piktographische Allegorie, die zur Erklärung einer am Beginn der Sprachentwicklung stehenden Verbindung zwischen Wort und Bild herangezogen wird. Besonders Winckelmann, aber auch Mendelssohn, ergänzen ihre Betrachtung zu literarischen und bildkünstlerischen Allegorien um einen solchen Blick auf 443 Vgl. Rudolf Suntrup: Art.: Allegorese, in: RLW, Bd.1, S. 36 – 40, hier S. 37. 444 Einen knappen Überblick über die Entwicklung der allegorischen Bibelauslegung findet sich z. B. bei Morgner, Ulrike: »Das Wort ist Fleisch geworden«. Allegorie und Allegoriekritik im 18. Jahrhundert am Beispiel von K. Ph. Moritz’ »Andreas Hartknopf. Eine Allegorie.«, Würzburg 2002, S. 12 – 14. Vgl. auch Ekkehard Mühlenberg: Art.: Schriftauslegung III, in: TRE Bd. 30, S. 472 – 488. 445 Vgl. Willems, Gottfried: Anschaulichkeit. Zur Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils, Tübingen 1989, S. 114 – 116. 446 So lässt Willems seine Untersuchung zu den Wort-Bild-Formen in der Karolingerzeit bzw. im frühen Mittelalter beginnen. (Vgl. ebd., S. 114).

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

Sprachursprungstheorien, die die bildkünstlerische Allegorie an die Schwelle zur Wortsprache treten lassen. Als Bindeglied, das von den kunsttheoretischen Betrachtungen zu allgemeinen sprachtheoretischen Ausführungen überleitet, fungiert dabei beinahe immer die Hieroglyphe. Auffällig häufig wird in den Abhandlungen zur Allegorie, die in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind, Bezug auf die ägyptischen Hieroglyphen genommen. Winckelmann ist dabei nicht nur derjenige, der die allegorischen Darstellungen der Malerei der sorgfältigsten und ausführlichsten kunsthistorischen Betrachtung unterzieht, er ist es auch, der über die Genese der (bildkünstlerischen) Allegorie reflektiert und ihren Ursprung bei den ägyptischen Hieroglyphen verortet.

3.1

Annäherung der Malerei an die Dichtung: Die Allegorie bei Johann Joachim Winckelmann

Insgesamt nimmt die Allegorie in den kunsttheoretischen Schriften des gemeinhin als Begründer der modernen Kunstgeschichte anerkannten Archäologen und Kunsthistorikers Johann Joachim Winckelmann äußerst breiten Raum ein. Allegorische Darstellungen in der Malerei zeichnen sich für ihn vor allem durch ihr Vermögen aus, abstrakte Begriffe sinnlich zu repräsentieren. Schon in den Gedanken über die Nachahmung griechischer Werke in der Malerei und Bildhauerkunst benennt Winckelmann die mit Hilfe der Allegorie mögliche Darstellung nichtsinnlicher Gegenstände als das höchste Ziel der Malerei.447 Diese Form der Darstellung setzt er mit der Dichtkunst gleich, wenn er schreibt: »Er [der Maler] suchet sich als einen Dichter zu zeigen, und Figuren durch Bilder, das ist, allegorisch zu malen.«448 Es erweckt geradezu den Anschein, dass die Möglichkeit der Darstellung begrifflich-abstrakter Gegenstände für ihn erst die Voraussetzung für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Werken der bildenden Künste schafft. Als leitendes Paradigma dient dabei die – allgemein als höchste Kunstform geltende – Dichtung, an der die bildende Kunst gemessen wird. Die beiden wichtigsten Schriften Winckelmanns, in denen er seine Überlegungen zur Allegorie niedergelegt hat, sind der Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst und seine bereits erwähnten Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Handelt es sich bei 447 Vgl. Winckelmann, Johann Joachim: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, 1755, in: ders.: Sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe, Neudruck der Ausgabe von 1825, hrsg. v. Otto Zeller, Osnabrück 1965, Bd. 1, S. 50. 448 Winckelmann, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 50.

Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild

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seinem Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst von 1766 auch um eine Abhandlung ausschließlich über die Allegorie, so stellt dieses Werk doch in erster Linie eine enzyklopädische Übersicht über die verschiedenen bekannten Allegorien dar, die in eine systematische Ordnung gebracht und innerhalb dieser Ordnung im Stile eines Lexikons in alphabetischer Reihenfolge abgehandelt werden. Da sich die Artikel hauptsächlich darauf beschränken, die unterschiedlichen Allegorien und ihre Darstellungsweise(n) vorzustellen, würde man, ausgenommen das erste Kapitel der Abhandlung, weite Teile dieses Werks heute eher einem ikonographischen Lexikon zuordnen. Die theoretischen Überlegungen zur Allegorie hat Winckelmann weitestgehend bereits in seinem zehn Jahre zuvor erschienenen Werk Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst niedergelegt, welches zugleich als seine bedeutendste Schrift gilt und in erster Auflage 1755 erschienen ist. Es ist hingegen die nur ein Jahr später folgende zweite Auflage, ergänzt um das Sendschreiben und Erläuterungen, die hinsichtlich der Ausführungen zur Allegorie von noch größerer Bedeutung ist.449 Als Einstieg in Winckelmanns Überlegungen eignet sich eine Betrachtung des ersten Kapitels aus seinem Versuch einer Allegorie, dessen Titel Von der Allegorie überhaupt bereits deutlich macht, dass es sich um ein systematisches, den Gegenstand bestimmendes Kapitel handelt. Hier wird zunächst eine Definition des Begriffs der Allegorie gegeben und ihre historische Entwicklung knapp umrissen. Bei genauer Betrachtung hält Winckelmann aber sogleich eine ganze Auswahl von Definitionen bereit, die sämtliche Aspekte seines Allegorieverständnisses versammeln und im Folgenden näher zu besprechen sein werden. Seine grundlegendste Definition bestimmt die Allegorie als »Andeutung der Begriffe durch Bilder, und also [als] eine allgemeine Sprache, vornehmlich der Künstler«450. Diese Definition, so knapp sie auch erscheinen mag, versammelt doch schon alle wesentlichen Merkmale der Allegorie: Sie stellt Begriffe bildlich dar, d. h. ihre Signifikate sind abstrakte Vorstellungen, bei ihren Signifikanten jedoch handelt es sich um bildlich-konkrete Darstellungen, die allgemein verständlich sein und damit einer Universalsprache entsprechen sollen. Die Verwendung dieser Sprache bleibt jedoch den Künstlern vorbehalten. Dem Künstler scheint es damit möglich zu sein, sich über die Arbitrarität und Kontingenz der auf Konvention beruhenden Sprachen hinauszuschwingen und an einer allgemeinen Universalsprache teilzuhaben, die der göttlichen Natursprache ähnlich ist. Da die Allegorie mit Hilfe von Bildern darstellt, scheint sie Winckelmann 449 Vgl. Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie, S. 249 f. 450 Winckelmann, Johann Joachim: Versuch einer Allegorie, besonders für die Kunst, 1766, in: ders.: Sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe, Neudruck der Ausgabe von 1825, hrsg. v. Otto Zeller, Osnabrück 1965, Bd. 9, S. 2.

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

besonders für die Malerei von Bedeutung, welche er – noch ganz der ut-picturapoesis-Tradition verhaftet – mit Simonides als »stumme Dichtkunst« bezeichnet.451 Hier denkt er besonders an die Personifikation, wenn er schreibt, sie solle mit Hilfe von »erdichteten Bildern« »Gedanken [in Figuren] persönlich machen«452. In einer weiteren Definition, in der er die Allegorie als uneigentliche Rede bestimmt, als »etwas sagen welches von dem was man anzeigen will, verschieden ist«,453 nimmt er auf die antike Einordnung der Allegorie innerhalb der rhetorischen Tropen Bezug. Neben diesen präziseren Bestimmungen des Begriffs lässt Winckelmann nicht unerwähnt, dass der Bedeutungshorizont des Begriffs der Allegorie in neuester Zeit auf jegliche Gegenstände hin erweitert wurde, die »durch Bilder und Zeichen angedeutet und gemahlt« werden.454 Sodann skizziert Winckelmann die Genese der Allegorie. An dieser Stelle findet ein entscheidender neuer Aspekt Eingang in seine Überlegungen: er bringt die Allegorie mit dem Ursprung der Sprache in Verbindung. Für Winckelmann liegen die Anfänge der Allegorie in Ägypten, wobei die Landesbezeichnung hier als Metonymie für die altägyptischen hieroglyphischen Schriftzeichen dient, deren Geburtsstunde die Entwicklung der Allegorie einleitete. Dabei geht auch er davon aus, dass die älteste Form der ägyptischen Zeichen in der abbildhaften Darstellung der Gegenstände bestanden hat. Diese Bildschrift, die zunächst nur die sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände einer semiotischen Repräsentation zuführte, wurde in der Folgezeit dazu nutzbar gemacht, auch geistige Vorstellungen und Begriffe semiotisch niederzulegen. Ihren Anfang habe diese Entwicklung bei den ägyptischen Hieroglyphen genommen, die in ihrer oben skizzierten semiotischen Struktur der Allegorie entsprechen. Aus diesem Grund möchte Winckelmann sie auch unter den Begriff der Allegorie subsumieren.455 In diesem Gedankengang kommt Winckelmann zu einem ganz ähnlichen Ergebnis wie Warburton, nur dass er sich der Frage aus entgegengesetzter 451 452 453 454

Vgl. ebd., S. 2. Vgl. ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Ebd., S. 2. Diese Verwendung des Begriffs der Allegorie setzt er mit dem Begriff der ›Iconologie‹ gleich, welche, in der heutigen Kunstgeschichte nach Parnofsky als Ikonographie bezeichnet, noch immer die Inhalte der folgenden Kapitel in Winckelmanns Buch beschreiben würde. 455 Vgl. Winckelmann, Erläuterung der Gedanken von der Nachahmung der griechischen Werke, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 159 f. So greift Bernhard Fischers Betrachtung zu kurz, wonach die »Hieroglyphen« für Winckelmann schlicht die »Gegenbilder der Allegorie« seien. (Vgl. Fischer, Kunstautonomie und Ende der Ikonographie, S. 251). Winckelmann deutet zwar die heute bekannten Hieroglyphen mit Kircher als nicht mehr entzifferbare, esoterische (Geheim-)sprache, er erkennt jedoch den bildhaften Charakter als wesentliches Moment der Hieroglyphen an und erklärt dieselben sogar zum Ursprung der Allegorie.

Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild

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Richtung nähert. Während Warburton den Ursprung der Schrift untersucht und eines der von ihm beschriebenen Entwicklungsstadien der Hieroglyphen mit dem Begriff der Allegorie belegt, nimmt Winckelmanns Untersuchung ihren Ausgangspunkt bei der Allegorie selbst, deren Ursprung er bei den Hieroglyphen verortet. Auch bei Winckelmann findet sich in diesem Zusammenhang wieder der Topos von der Natur als Vorbild der Sprache. Da die Allegorie dieser nachgebildet sei, stehe sie, aufgrund ihrer formalen Ähnlichkeit mit der natürlichen Gestalt der Gegenstände, der Natur näher als alle später entwickelten »Zeichen unserer Gedanken: denn sie ist wesentlich, und giebt ein wahres Bild der Sachen, welches in wenig Worten der älteren Sprachen gefunden wird, und die Gedanken mahlen, ist unstreitig älter als dieselben schreiben«456. So gehört auch Winckelmann zu der Gruppe derjenigen Wissenschaftler, die dazu tendieren, in der Schrift, nicht im gesprochenen Wort, das ursprüngliche Phänomen der Sprache zu sehen. Und obgleich er diese Frage als ungelöst bezeichnet, räumt er ein, dass die Natur, als das Vorbild menschlichen Sprechens, »in Bildern redet« und die »Spuren von bildlichen Begriffen«, die mit den ersten Worten verbunden worden waren, noch an einigen derselben erkennbar seien.457 Seine knappen Ausführungen zu den ägyptischen Hieroglyphen stützt Winckelmann vornehmlich auf Kircher, was zur Folge hat, dass er sie als heilige aber dunkle und unverständliche Schrift deutet, die mit dem Ende des ägyptischen Königtums ebenfalls ihr Ende gefunden hat. Aus dieser scheinbaren Unverständlichkeit heraus bezeichnet er die bis in seine Gegenwart hinein überlieferten Hieroglyphen als symbolische Sprache, deren Zeichen ebenso willkürlich seien, wie »die ältesten Buchstaben der Chinesen«.458 Trotz dieses kurzen Exkurses in die ägyptische Gedanken- und Bildwelt bleibt Winckelmann doch dem klassischen Ideal seiner Zeit verhaftet und gibt schließlich der Allegorie der Griechen den Vorzug, die sich gegenüber jener der ägyptischen Hieroglyphen – die er letztlich doch den willkürlichen Zeichen zurechnet – dadurch auszeichnet, dass in ihr Zeichengestalt und bezeichneter Gegenstand in einer notwendigen Ähnlichkeitsbeziehung stehen: »Die Griechen, welche mehr Witz und gewiß mehr Empfindung hatten [als die Ägypter, Y.A.], nahmen nur diejenigen Zeichen von jenen an, die ein wahres Verhältnis mit dem Bezeichneten hatten.«459 So gilt Winckelmanns eigentliches Interesse, ungeachtet dieser eingestreuten Überlegungen zu den Hieroglyphen, doch den griechischen – poetischen – Allegorien. Die Hieroglyphen dienen lediglich zur knappen Skizzierung der Entstehungsgeschichte der Allegorie und eignen sich 456 457 458 459

Winckelmann, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 3. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4 – 6. Winckelmann, Erläuterung, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 160 f.

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dazu, die Bedeutung der bildenden Kunst über den Umweg der bildlichen Grundlage der Sprachentstehung zu untermauern. Zur Kunst wird das allegorische Verfahren, das mittels Bildern Begriffe repräsentiert, jedoch erst bei den Griechen erhoben. Dass der Ursprung der Allegorie in Ägypten liegt, wird nicht bestritten, normgebend aber werden erst die Griechen. Die von den Griechen geleistete, poetische Verarbeitung allegorischer Bilder – die als Sprachzeichen durchaus schon vorhanden gewesen sein mögen – macht die Allegorie erst für die Kunstbetrachtung interessant. So lässt sich auch das klassische Ideal formulieren, das die griechische Kunst als Vorbild für die modernen Künstler empfiehlt. War auch die Natur Vorbild der ersten Bildsprache, so sei doch die Nachahmung der griechischen Kunstwerke der Naturnachahmung vorzuziehen, da diese Kunstwerke der sinnlichen Schönheit der Natur das »idealische« Moment des Göttlichen beigäben.460 Das normgebende Paradigma, auch für die bildkünstlerischen Allegorien, findet sich nach Winckelmanns Denken in den Werken der griechischen Poesie. Die Werke der antiken Dichtkunst dienen dem bildenden Künstler nicht nur als Vorbild und Lieferant von Stoffen, die literarischen Darstellungen werden sogar zum Maßstab der Beurteilung von bildkünstlerischen Allegorien. So betrachtet er die von ihm beschriebenen Allegorien der bildenden Kunst in einem ständigen Vergleich mit Werken der antiken Dichtkunst. Seiner normativen Unterscheidung zwischen ägyptischen und griechischen Allegorien legt Winckelmann vor allem deren Zeichenstruktur zugrunde. Die formale Ebene der Zeichen soll in der Allegorie in Übereinstimmung mit der semantischen stehen. Dieses »wahre« oder »natürliche« Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem, das er nur bei den Griechen zu finden glaubt, ist laut Winckelmann an der Natur orientiert, welcher ein zeichenhafter Charakter zugesprochen wird. Allerdings schließt jeglicher künstlerische Ausdruck immer schon eine gewisse Distanz zur Natur notwendig mit ein und damit ist auch die Allegorie in ihrem Darstellungsgehalt nicht eindeutig verständlich. So kehrt er auf diesem Umweg doch wieder zu einem auf die ägyptischen Hieroglyphen angewendeten Deutungsparadigma zurück, wenn er an der Allegorie, trotz der in ihr konstatierten Ähnlichkeitsbeziehung zum bezeichneten Gegenstand, etwas Rätselhaftes diagnostiziert, was er mit Platon als ein Charakteristikum der Dichtkunst insgesamt beschreibt.461 Die Allegorie soll damit auf Ebene des Kunstwerks das leisten, was von der Zeichenstruktur der Hieroglyphe bereits angenommen wird: Einerseits in ihrem Zeichencharakter eine Ähnlichkeitsbeziehung zu einem dargestellten Objekt der Natur unterhalten und so eine 460 Vgl. Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 18 – 24. 461 Vgl. Winckelmann, Erläuterung, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 186 f. und Winckelmann, Versuch einer Allegorie, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 7.

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gewisse Übereinstimmung von Signifikant und Signifikat gewährleisten, andererseits in ihrem Bedeutungsgehalt doch über die dargestellte Sache hinausweisen und abstrakten Vorstellungen und Begriffen zum Ausdruck verhelfen. Kurz, sie soll »natürliches« und »willkürliches« Zeichen zugleich sein und zwischen beiden oszillieren. Es ist damit der Zeichencharakter auf dem die – in erster Linie auf Allegorien der bildenden Kunst bezogene – Anlehnung des Allegorie-Begriffs an die Hieroglyphe beruht. Bezogen auf die Literatur gestaltet sich das Konzept von Allegorie komplizierter. Ihr Medium, die aus arbiträren Buchstaben bestehenden Wörter, steht aus semiotischer Perspektive betrachtet bereits am Endpunkt einer Entwicklung, die ausgehend von der nachahmenden Zeichnung über die tropische Hieroglyphe hin zur arbiträren Alphabetschrift beschrieben wird. Ihrem Zeichencharakter gemäß haben die Buchstaben somit nichts mit dem tropischen Charakter der Hieroglyphik gemein. Die Bildhaftigkeit der literarischen Allegorie bezieht sich vielmehr auf die Art der verwendeten Wörter, die als Konkreta zunächst einen Bezug zu einem materiellen Gegenstand herstellen, der auf einen uneigentlichen, abstrakten Bedeutungsgehalt zu beziehen ist. Auch wenn sich Winckelmanns Abhandlungen um die Allegorien der bildenden Künste drehen, bildet die dichterische, sprachlich verfasste Allegorie doch stets den Orientierungspunkt. Winckelmann betrachtet in seinen Ausführungen zur Allegorie Malerei und Dichtung unter gemeinsamem Vorzeichen, wobei die Dichtung der Malerei die Stoffe liefert. Dabei wird er durchaus konkret: Sein besonderes Interesse gilt der bildkünstlerischen Umsetzung der Werke Homers. Auch das Fehlen von bildlichen Darstellungen bestimmter Tugenden in den Werken der griechischen Antike führt er auf das Nicht-Vorhandensein der sprachlichen Zeichen (Worte) für solche Begriffe oder gar der Begriffe selbst zurück, was er an dem bei Homer noch nicht bekannten Begriff der Tugend belegt.462 Jedoch sind es nicht allein Begriffe, die in der Malerei dargestellt werden sollen, sondern auch erzählter Stoff und Handlung der Dichtung soll mit Hilfe der Allegorie in die Malerei übertragen werden. Winckelmann unterscheidet sogar zwischen einer höheren und einer gemeineren Form der Allegorie, wobei er unter erstere die bildliche Darstellung der »Fabelgeschichte [n]« rechnet, während die Verbildlichung einzelner Begriffe, etwa von Tugenden, zur letzteren Variante gehört.463 In seinen Gedanken über die Nachahmung ist Winckelmanns Bestreben noch darauf gerichtet, die Gleichwertigkeit und die gleichen Darstellungsmöglichkeiten der bildenden Kunst – insbesondere der Malerei – gegenüber der Literatur herauszustellen. So ist es kein Zufall, dass es, neben der Tragödie, die Ode sein 462 Winckelmann, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 8, 13. 463 Vgl. Winckelmann, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 164 f.

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soll, die allgemein als höchste Gattung der Dichtkunst gilt,464 von der behauptet wird, dass sie der bildende Künstler mit Hilfe der Allegorie einmal wird gänzlich bildlich darstellen können: »Wenn die Schätze der Gelehrsamkeit der Kunst zufließen, so könnte die Zeit erscheinen, daß der Maler eine Ode eben so gut als eine Tragödie schildern würde«465 Seine zehn Jahre später eher skeptische Einschränkung im Versuch einer Allegorie, wo er einräumt, eine Ode in Bildern wiederzugeben sei unmöglich,466 dokumentiert in seinem Denken einen – wenn auch noch recht zaghaft – einsetzenden Bewusstwerdungsprozess bezüglich des Unterschieds der Künste. Auch führt er in seinem späteren Text das Fehlen bildlicher Darstellungen bestimmter Begriffe nicht mehr auf das Nicht-Vorhandensein dieser Begriffe selbst zurück, sondern räumt die bildkünstlerische Undarstellbarkeit bestimmter Begriffe ein. Dies versucht er anhand des Beispiels der Tugend mit Platons Diktum, dass das Höchste kein Bild habe, zu erklären.467 Diese an das platonische Diktum angelehnte Überlegung gründet, wenn sie auch zum gleichen Ergebnis gelangen mag, doch in ganz anderen Voraussetzungen, als die Feststellung, dass es nicht möglich ist, literarische Werke unproblematisch und vollständig in eine bildkünstlerische Darstellung zu überführen. Während erstere Überlegung auf der erkenntnistheoretischen Überzeugung beruht, dass der Mensch (moralische) Begriffe haben kann, die auf keinerlei Weise mit einer sinnlichen Vorstellung in Beziehung gebracht werden können und damit auch jeglicher sinnlicher Darstellung entbehren – sei es nun eine anschauliche Beschreibung der Dichtung oder eine Darstellung der bildenden Künste – so bezieht sich letztere auf die unterschiedlichen Zeichensysteme von sprachlichen und bildenden Künsten und deren unterschiedliche Darstellungsmöglichkeiten. Geht es in ersterem Fall um eine absolute Undarstellbarkeit bestimmter Begriffe, so beschreibt letztere lediglich eine relative Undarstellbarkeit, die sich allein auf ein bestimmtes Darstellungsmedium – hier das der bildenden Kunst – erstreckt. In seinem letzten Kapitel des Versuchs einer Allegorie unterbreitet Winckelmann schließlich Vorschläge zu neuen Allegorien, die ebenfalls an literarischen Vorbildern orientiert sind. Soweit stimmen also Winckelmanns Allegorie-Beschreibungen der bildenden Kunst mit den Beobachtungen Willems überein, der die Literatur als Vorbild der allegorischen Darstellung in den bildenden Künsten bestimmt. Als eine besondere Quelle macht Winckelmann neben mythologischen Erzählungen der griechischen Antike die Stoffe der (christlichen) Religion aus. So 464 Die Ode gilt in der zweien Hälfte des 18. Jahrhunderts als höchste lyrische Gattung. (Vgl. Dieter Burdorf: Art.: Ode, Odenstrophe, in: RLW, Bd. 2, S. 735 – 739, hier S. 736). 465 Winckelmann, Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 178. 466 Vgl. Winckelmann, Sämtliche Werke, Bd. 9, S. 22. 467 Ebd., S. 14.

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nimmt er eine Verbindung von Allegorie und Religion an, die bedinge, dass die Allegorie, einhergehend mit dem Bedeutungsverlust der Religion, in der neueren Zeit an Verständlichkeit eingebüßt habe. Mit der Postulierung einer engen Verbindung zwischen der Allegorie und der Religion steht Winckelmann neben den Aufklärern Lessing und Mendelssohn allein. Die vielschichtigen Bezüge, die sich zwischen Religion und Allegorie, sei es in der Auslegungstradition der Allegorese, sei es in den bildkünstlerischen Darstellungen von Historiengemälden und Heiligenbildnissen ergeben, werden bei der Untersuchung des romantischen Bild- und Kunstverständnisses eine wichtige Rolle spielen. Ehe aber die Romantiker – allen voran Friedrich Schlegel – die Wiederbelebung der Historienmalerei fordern und damit der Allegorie wieder einen hohen Rang in der Gattungspyramide sichern, wird die Kunsttheorie der Aufklärung mit zwei ihrer Protagonisten – Moses Mendelssohn und Gotthold Ephraim Lessing – eine kritische Haltung der Historienmalerei und der Allegorie gegenüber einnehmen.468

3.2

Differenz zwischen Malerei und Dichtung: Die Allegorie in den kunsttheoretischen Schriften Lessings und Mendelssohns

Die Überlegungen Moses Mendelssohns und Gotthold Ephraim Lessings zur Allegorie in der Malerei sind in ihrem Ursprung an Johann Joachim Winckelmanns Abhandlungen zur Allegorie orientiert. Sie geben jedoch das Festhalten am ut-pictura-poesis-Prinzip auf und gelangen so zu einer neuen Bewertung der Allegorie. Mendelssohn und Lessing entwickeln einen Vergleich der Künste, der die prinzipielle Verschiedenheit von bildenden und sprachlichen Künsten zugrunde legt. Die Verschiedenheit wird aus den unterschiedlichen Qualitäten ihrer Zeichensysteme – der Worte und der Bilder – heraus begründet. Innerhalb dieser Differenzierung interessiert die Allegorie als Mischform, deren Zeichenform als eine Hybridbildung aus sprachlich-begrifflichem und piktographisch-konkretem Zeichensystem erscheint.469 Während sich Winckelmann mit der Möglichkeit der Darstellung abstrakter Begriffe durch die Malerei überhaupt beschäftigt, beziehen sich die Überlegungen Lessings und Mendelssohns be468 Vgl. hierzu auch die knappe Einführung Sørensens zu Mendelssohns Schriften, in: Allegorie und Symbol. Texte zur Theorie des dichterischen Bildes im 18. und 19. Jahrhundert. Ausgewählt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Bengt Algot Sørensen, Frankfurt am Main 1972, S. 48. Zur Abwertung der Allegorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. ders.: Nachwort, S. 262 f. 469 Auf die Bedeutung der von Baumgarten entwickelten ästhetischen Zeichenlehre für die Bewertung der Allegorie verweist auch Sørensen, vgl. Sørensen: Nachwort, in: ders. (Hrsg.): Allegorie und Symbol, S. 263.

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sonders auf den Doppelcharakter von ›natürlichem‹ und ›willkürlichem‹ Zeichen, der die Semiotik der bildkünstlerischen Allegorien ausmacht. Moses Mendelssohn gründet seine Einteilung der Künste, wie in Kap. II.1 bereits ausführlich besprochen wurde, auf das ihnen jeweils zugrunde liegende Zeichensystem. Nachdem er jene Unterscheidung der Zeichensysteme vorgenommen hat, die es ihm erlaubt, zwischen schönen Wissenschaften (die sich ›willkürlicher‹ Zeichen bedienen) und schönen Künsten (die auf ›natürlichen‹ Zeichen beruhen) zu unterscheiden, richtet er schließlich sein Augenmerk auf jene Fälle, bei denen diese Grenzziehung verwischt und sich Zeichencharaktere etablieren, die sowohl am ›natürlichen‹ als auch am ›willkürlichen‹ Zeichen Anteil haben. Aus der Dichtkunst führt er die Onomatopoesie an, die die arbiträren, sprachlichen Zeichen natürlichen Lauten annähert; in der bildenden Kunst sind es die allegorischen Bilder, von denen er sogleich aber wieder einschränkend meint, dass deren »Bedeutung öfters bloß symbolisch ist«470. Dennoch ist es das Phänomen der Allegorie in der bildenden Kunst, dem fortan sein Interesse gilt. Er rechnet »einige allegorische Bilder« den Hieroglyphen zu471 und subsumiert beide wiederum unter die ›willkürlichen‹ Zeichen: Wir wollen untersuchen, in wie weit dem Maler und dem Bildhauer der Gebrauch der willkührlichen Zeichen frey steht. Es ist ausgemacht, daß sich die Mahlerey nicht bloß mit solchen Gegenständen beschäfftige, die an und für sich selbst sichtbar sind. Auch die allersubtilsten Gedanken, die abstractesten Begriffe können auf der Leinwand ausgedruckt werden. […] Der Künstler kann dieses auf verschiedene Weise verrichten. Er kann entweder mit dem Fabeldichter eine gewisse allgemeine Maxime, einen abstracten Begriff auf ein besonderes Exempel zurückführen, und dadurch den subtilen Gedanken lebendig und anschauend vorstellen. […] Eine andere Art, die Gedanken zu malen, kann vermittelst der A l l e g o r i e ausgeführt werden. Man sammlet die Eigenschaften und Merkmaale eines abstracten Begriffs, und bildet sich daraus ein sinnliches Ganze, das auf der Leinwand durch natürliche Zeichen ausgedrückt werden kan.472

Entscheidend ist für Mendelssohn, dass »sich die Malerey nicht bloß mit solchen Gegenständen beschäftigt, die an und für sich selbst sichtbar sind.«473 So bilden die sichtbaren, »natürlichen« Zeichen zwar das Medium der Malerei, jedoch sind die von ihnen dargestellten Konkreta nicht ihr alleiniger Gegenstand. Men470 Mendelssohn, Betrachtungen über die Quellen und die Verbindungen, JubA, Bd. 1, S. 178. 471 Auch Mendelssohn rekurriert hier auf die Hieroglyphe, verwendet den Begriff jedoch lediglich in allgemeiner und pejorativer Weise, ohne eine zeichentheoretische Herleitung darauf aufzubauen, wie sie etwa aus Winckelmanns Schriften nachgezeichnet werden konnte. 472 Mendelssohn, JubA, Bd. 1, S. 179. 473 Ebd., S. 179.

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delssohn unterscheidet zwischen zwei möglichen Darstellungsformen abstrakter Begriffe im Medium der Malerei. Die recht knappe Feststellung über die Fabel, von der es heißt, dass sie Begriffe mit Hilfe eines Beispiels darstellt, suggeriert die Darstellung durch einen narrativ ausgebauten Handlungszusammenhang. Die Aussage, dass die Allegorie die »Eigenschaften und Merkmale eines abstrakten Begriffs« versammelt, deutet hingegen bereits ihren analytischkonstruierten Charakter an. Die Abstraktheit ihrer Semantik steht in antagonistischem Spannungsverhältnis zur Konkretheit ihres Zeichensystems. Die einzige Lösung, der Allegorie als bildkünstlerischer Form einen positiven Wert beizumessen, sieht Mendelssohn in der Möglichkeit, den eigentlichen semantischen Gehalt der ›natürlichen‹ Zeichen, mit denen die Allegorie operiert, in ihre abstrakte Semantik zu integrieren. Es kommt Mendelssohn darauf an, dass der im Bild repräsentierte Gegenstand in die Semantik der Allegorie mit eingeht. Die Allegorie soll demnach nicht als quasi-arbiträres Zeichen verwendet werden, bei dem zwischen Signifikant und Signifikat keinerlei motivierte Beziehung mehr zu erkennen ist; vielmehr soll die übertragene Bedeutung um die eigentliche Bedeutung des bildlichen Zeichens ergänzt werden: Indessen muß sich der Künstler hüten, daß seine Allegorien nicht allzu spitzfindig werden; sie müssen sowohl n a t ü r l i c h , als a n s c h a u e n d seyn, das ist; die Beschaffenheit des Zeichens muß in der Natur des Bezeichneten gegründet seyn, und wir müssen diese Übereinstimmung mit so leichter Mühe einsehen können, daß wir mehr an die bezeichnete Sache gedenken, als an das Zeichen. Der Künstler muß also betrachten, daß er zwar mit unserer Seele, aber nur mit ihren untern und sinnlichen Kräften reden soll; sobald Ueberlegung, Nachdenken und Anstrengung des Witzes erfordert wird, um die Bedeutung der Zeichen zu errathen, so hören sie auf sinnlich zu seyn.474

Beziehen sich Allegorien auch auf abstrakte Begriffe, so müssen diese doch zugleich bildlich veranschaulicht werden. »Er [der Künstler] muß also zwar hauptsächlich besorgt seyn, natürliche allegorische Zeichen zu gebrauchen; weil es aber selten thulich ist, alle Eigenschaften eines abstrakten Begriffs in ein

474 Mendelssohn, JubA, Bd. 1, S. 180. Ganz ähnliche Überlegungen finden sich bereits in der 1719 auf Französisch erschienenen Abhandlung R¦flexions critiques sur la po¦sie et al peinture von Jean Baptiste DuBos. So mahnt auch DuBos, dass die Allegorie der Malerei kein »dunkleres Rätzel« aufgeben soll, »als die, so Sphinx ehedem aufzulösen gab.« (S. 189, deutsche Übersetzung: 3. Bd. Kopenhagen 1760/61, zitiert nach Willems, Anschaulichkeit, S. 314). Der französische Text findet sich z. B. in: DuBos, Jean Baptiste: R¦flexions critiques sur la PoÚsie et sur la peinture, Nachdruck der Ausg. Paris 1770, GenÀve 1967. Vgl. zur Allegoriekritik im 18. Jahrhundert ausführlicher : Willems, Anschaulichkeit, S. 314 – 317.

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Kunst- und zeichentheoretische Überlegungen zu Wort und Bild

sinnliches Ganzes zu bringen, so muß er sich aller möglichen Hülfsmittel bedienen, seine Zeichen anschauend zu machen.«475 Als Modell solcher in der Malerei auszuführender Allegorien dienen – wie er mit Verweis auf Winckelmann darlegt – Beschreibungen aus literarischen Werken. Beschränkte sich Winckelmann auf die antiken Schriftsteller, so fügt Mendelssohn der Liste neuere Autoren wie Milton und Voltaire hinzu.476 Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sowohl Winckelmann als auch Mendelssohn die Bedeutung der Literatur als Vorbild für solche allegorischen Darstellungen in der Malerei erkennen und damit eingestehen, dass die poetischen Texte ein Potential bildlicher Darstellung in sich tragen. Woher aber rührt dieses? Es rührt aus der poetisch-tropischen Redeweise literarischer Texte, die, anders als die Philosophie, den Bedeutungsgehalt nicht mittels abstrakt-begrifflicher Sprache übermitteln, sondern auf bildlich-konkrete Sprache zurückgreifen, um – nicht unähnlich der Malerei – das Gemeinte in uneigentlicher Rede auszudrücken. Diese Bilder der Literatur werden aber im Medium der arbiträren Zeichen der Sprache artikuliert, welche dann von der Malerei in ihre eigentlichen ikonischen Zeichen rückübersetzt werden. Sowohl Winckelmann als auch Mendelssohn haben also ganz klar erkannt, dass die Literatur diese Bilder bereits vorgibt; umso erstaunlicher ist es, dass sie dieser Bildlichkeit der Literatur so wenig Aufmerksamkeit schenken – zumal sich gerade Mendelssohn intensiv mit Literatur beschäftigte und in seiner Abhandlung einen Gattungsvergleich anstrengt. Der Grund dafür dürfte bei dem Archäologen Winckelmann in seinem ausschließlichen Interesse an den bildkünstlerischen Werken der Antike zu suchen sein; bei Mendelssohn aber ist die Ausblendung der literarischen Allegorie seiner Fokussierung auf die verschiedenen Zeichensysteme geschuldet, in deren Betrachtung die Ausführungen zur Allegorie eingebettet sind. Gotthold Ephraim Lessing ist derjenige, der sich mit der Allegorie nicht nur im bildkünstlerischen sondern auch im literarischen Kontext beschäftigt hat. In seinem Essay Von dem Wesen der Fabel, in dem er die Fabel von der Allegorie abgrenzt, erfährt die Allegorie bereits auf literaturtheoretischem Gebiet eine Abwertung.477 Auch hat er sich noch intensiver als Mendelssohn mit der Überführung literarischer Exempla in die Malerei beschäftigt. In seiner kunsttheo475 Mendelssohn, JubA, Bd. 1, S. 180. Diese Forderung lässt sich in dem allgemeinen Trend eines veränderten Kunstverständnisses der Aufklärung verorten, wonach der Mimesischarakter der Kunst betont wird. Die Malerei soll nun in erster Linie illusionistisch wirken und eine möglichst täuschende Naturnachahmung geben. Die Folge dieses neuen Kunstverständnisses war eine sukzessive Zurückdrängung der allegorischen Darstellungsweise. Vgl. zu dieser Entwicklung im Kunstverständnis: Willems, Anschaulichkeit, S. 211 – 214; S. 282 – 296. 476 Vgl. Mendelssohn, JubA, Bd. 1, S. 179 f. 477 Vgl.: Lessing, Gotthold Ephraim: Vom Wesen der Fabel, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 4, S. 345 – 376, zur Allegorie bes. S. 347 – 355.

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retischen Schrift Laokoon, in der er dieses Thema behandelt, spricht er allerdings nur bezogen auf die Malerei von allegorischen Bildern.478 Die negative Auffassung von der Allegorie setzt sich auch in seiner Schrift zur bildenden Kunst fort. Während die Personifikation abstrakter Begriffe in der Dichtung mit dem Namen und der Handlung auskommt, so argumentiert Lessing, bedarf der Maler, da ihm diese Mittel fehlen, der Beigabe von Attributen, die auf den Begriff verweisen: Wenn der Dichter Abstracta personifieret, so sind sie durch den Namen, und durch das, was er sie tun läßt, genugsam charakterisieret. Dem Künstler fehlen diese Mittel. Er muß also seinen personifierten Abstractis Sinnbilder zugeben, durch welche sie kenntlich werden. Diese Sinnbilder, weil sie etwas anders sind und etwas anders bedeuten, machen sie zu allegorischen Figuren.479

Damit scheint es sich für Lessing nur dann um eine Allegorie zu handeln, wenn bildliche Elemente Eingang in die Darstellung finden, die auf der Darstellungsebene in keinem Bedeutungszusammenhang mit dem dargestellten Gegenstand stehen und sich erst im übertragenen Bedeutungsgehalt in die semantische Struktur einfügen. Diese von Gestalt und Handlung der dargestellten Person losgelösten Objekte machen sie zu »Sinnbildern« und damit erst zu »allegorischen Figuren«. Allerdings differenziert Lessing auch hier wieder : Nur Attribute der Figur, die in keinem vorstellbaren Handlungszusammenhang Anwendung finden könnten, machen sie zu eigentlichen Sinnbildern, während solche, derer sich die Figur durchaus bedienen könnte, als Werkzeuge zu betrachten sind – so etwa die Waage der Justitia oder Flöte und Leier in der Hand der Muse. Letztere Werkzeuge, die für sich genommen einer Metonymie entsprechen, sind nicht mehr ausschließlich allegorisch und können damit auch in der Dichtung Verwendung finden.480 Der pejorative Unterton, mit dem Lessing über die Allegorie in der bildenden Kunst spricht, wiederholt sich auch in dem oben bereits zitierten Brief an Nicolai, in dem er eine Rangordnung innerhalb der Gattungen der Malerei vorschlägt und diese folgendermaßen bewertet: Die Malerei braucht entweder coexistierende Zeichen, welche natürlich sind, oder welche willkürlich sind […]. Aber das ist gewiß, daß je mehr sich die Malerei von den natürlichen Zeichen entfernt, oder die natürlichen mit willkürlichen vermischt, desto mehr entfernt sie sich von ihrer Vollkommenheit […]. Folglich kann auch weder die

478 Vgl. Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 92. Hier führt er anhand von Beispielen aus: »Eine Frauensperson mit einem Zaum in der Hand; eine andere an eine Säule gelehnet, sind in der Kunst allegorische Wesen. Allein die Mäßigung, die Standhaftigkeit bei dem Dichter, sind keine allegorische Wesen, sondern bloß personifierte Abstrakca.« 479 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 92. 480 Vgl. Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2, S. 91 – 93.

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historische noch die allegorische Malerei zur höhern Malerei gehören, als welche nur durch die dazu kommenden willkürlichen Zeichen verständlich werden können.481

Lessing überwindet damit Winckelmanns Primat des Begrifflichen, der noch gänzlich der philosophischen Rangordnung der menschlichen Geistesvermögen verpflichtet ist, die von der Anschauung über die Begriffe des Verstandes zu den Ideen der Vernunft schreitet. Ist das Medium der Malerei auch der anschauenden Erkenntnis verpflichtet, so muss sich nach Winckelmanns Denken – quasi zur Ehrenrettung der Malerei – aufzeigen lassen, wie es dem bildenden Künstler möglich ist, durch die visuell-anschauliche Form hindurch Begriffe und Ideen zu transportieren. Lessings Verdienst ist es, an dieser Stelle auf die Bedeutung der visuell-bildlichen Elemente für den künstlerischen Ausdruck hinzuweisen. Für alle hier versammelten Theoretiker besteht das wesentliche Merkmal der bildkünstlerischen Allegorie darin, dass sie mit bildnerischen Mitteln gewöhnlich in Worte auszudrückende, abstrakte Begriffe darstellt, wobei auf semantischer Ebene sowohl der dargestellte Begriff als auch die zur Darstellung verwendeten Bilder relevant sind. Dass dabei eine deutliche Grenzziehung zwischen sprachlicher und bildlicher Darstellung eine entscheidende Grundüberzeugung bildet, belegt besonders anschaulich Lessings bereits oben erwähntes Wolken-Beispiel, in dem er spottet, dass die Wolke in der Malerei als »willkürliches« Zeichen der Unsichtbarkeit verwendet nicht besser sei, als »die beschriebenen Zettelchen, die auf alten gotischen Gemälden den Personen aus dem Munde gehen.«482 Diese Vorbehalte gegenüber der Verwendung von Textelementen in bildlichen Darstellungen, die sich auch bei Winckelmann finden, bei dem sie als eine Kritik an der besonders im Barock beliebten Emblematik zu verstehen sind,483 gewinnen bei Mendelssohn und Lessing insofern an Bedeu-

481 Lessing, Brief an Nicolai vom 26. Mai 1769, Brief Nr. 489, in: ders.: Werke und Briefe, Bd. 11/1, S. 608. 482 Lessing, Werke und Briefe, Bd. 5/2 S. 107. Diese Abwertung der Integration von Schriftzeichen in einem Gemälde findet sich in gleicher Weise auch bei Mendelssohn, der schreibt »nur Stümper [nehmen] in der Malerey ihre Zuflucht zu einem Zettel mit Worten, den sie aus dem Munde ihrer Person gehen lassen;« (Mendelssohn, Über die Quellen und Verbindungen, JubA, Bd. 1, S. 188). 483 Die Beigabe solcher Schriftbänder zu den Allegorien wurde weitestgehend bereits im 15. und 16. Jahrhundert aufgegeben. Vgl. Wolfgang Kemp, der schreibt: »Im 15. und 16. Jahrhundert – regional ganz verschieden – läßt sich ein Vorgang beobachten, dem die Kunstgeschichte noch eine eingehendere Darstellung schuldet. Die Legende oder Beischrift wird weitgehend vom Bild verbannt oder so umstilesiert [sic], daß sie die Fiktion nicht mehr beeinträchtigt. Das erläuternde Schildchen oder Schriftband hatte einer gewissen Lässigkeit bei der Ausbildung der Allegorie und ihrer Signifikantien Raum gegeben. Es verschwand, weil die neue realistische Bildauffassung es nicht länger duldete. In Italien hatte es sich früh zur Inschrift eines Sockels, eines Felsens […] reduziert, in Frankreich versuchte man noch lange, es möglichst unauffällig einzuverleiben.« (Kemp, Wolfgang:

Die Allegorie als Mittler zwischen Wort und Bild

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tung, als sie, anders als noch Winckelmann, das ut-pictura-poesis-Diktum aufgeben und damit die unterschiedlichen medialen Qualitäten und die mit diesen verbundenen unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten der verschiedenen Künste in ganz anderer Weise im Blick haben. Das zunehmende Unbehagen an der Allegorie hat zur Folge, dass sich im 18. Jahrhundert mit dem Symbol ein konkurrierendes Zeichensystem etabliert. Mit dem Symbol- und Allegoriebegriff beziehungsweise dem mit ihnen implizierten Problemfeld haben sich alle Protagonisten der Romantik bis in die Periode der Spätromantik hinein auf die eine oder andere Weise auseinandergesetzt.484

Natura, Ikonographische Studien zur Geschichte und Verbreitung einer Allegorie, Frankfurt am Main 1973, S. 14). 484 Vgl. hierzu Schwering, Markus: Symbol und Allegorie in der deutschen Romantik, in: Romantik-Handbuch, hrsg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 366 – 379.

III.

Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

1.

Kabbalistische Schriftspekulation

Wie sich bereits anhand einiger Überlegungen zur Allegorie und zu den Hieroglyphen gezeigt hat wird das bildhafte, am Gegenstand der Natur orientierte und damit allgemein verständliche Zeichen gerne mit Vorstellungen von einer heiligen Sprache oder Schrift in Verbindung gebracht. So spricht etwa Winckelmann von der heiligen Sprache der Ägypter, »in welcher die verständlichen Zeichen, das ist, die Bilder der Dinge, die ältesten schienen.«485 Und auch die Allegorie sieht er in engster Verbindung zur Religion. Die heilige Sprache, welche zugleich auch die ursprünglichste ist, ist an der Gestalt der Dinge, wie sie in der Natur gegeben sind, orientiert. Dies artikuliert sich in ihrem bildhaften Charakter und bedingt eine eindeutige Signifikant-Signifikat-Relation. Auch die kabbalistische Sprachspekulation geht von der Heiligkeit der (hebräischen) Sprache aus und nimmt eine notwendige Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat an. Anders als in den Bildschriftdiskursen liegt hier jedoch kein ikonisch-mimetischer Gegenstandsbezug zugrunde. Die Signifikant-Signifikat-Relation ist im kabbalistischen Denken als strukturelle Übereinstimmung angelegt. Die Kabbala, wie sie im 18. Jahrhundert für Nichtjuden in Deutschland rezipierbar war, war vor allem eine christlich vermittelte Kabbala.486 Die Anfänge 485 Winckelmann, Johann Joachim: Versuch über die Allegorie, besonders für die Kunst, 1766, in: ders.: Sämtliche Werke. Einzige vollständige Ausgabe, Neudruck der Ausgabe von 1825, hrsg. v. Otto Zeller, Osnabrück 1965, Bd. 9, S. 4. 486 Der Philosoph Franz Joseph Molitor war wohl der einzige Protagonist der deutschen Geistesgeschichte im beginnenden 19. Jahrhundert, der von jüdischen Gelehrten in den kabbalistischen Lehren unterwiesen wurde. Sein Buch Philosophie der Geschichte oder über die Tradition: in dem alten Bunde und ihre Beziehung zur Kirche des neuen Bundes. Mit vorzüglicher Rücksicht auf die Kabbala hatte er ab 1827 anonym und ohne Nennung seiner jüdischen Lehrer veröffentlicht, um diese vor Anfeindungen aus der eigenen Gemeinde zu schützen und seinen durch sie erteilten Unterricht nicht zu gefährden. Dennoch war der Verfasser dieser Schrift vielen bekannt und wurde auch in Rezensionen genannt. (Vgl.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

dieser Rezeption, die von Beginn an mit einer interpretatorischen Transformation der Lehren im Sinne der christlichen Religion einherging, reichen bis in die Renaissance zurück und werden allgemein mit den Schriften Ficinos und dessen Schülers Pico della Mirandola als ihren ersten bedeutenden Vertretern in Verbindung gebracht. Obwohl vereinzelt bereits Nachweise älterer christlicher Beschäftigung mit der jüdischen Mystik zu finden sind,487 war Pico doch nach heutigem Stand der Forschung der erste, der sein Wissen über die Kabbala verschriftlichte.488 Pico de la Mirandola, der, wie sich in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt hat, auch einer der Protagonisten der Hieroglyphen- und Emblematikdiskurse war, spielt also gleich in mehrerlei Hinsicht eine wichtige Rolle für die Tradierung universalistischer Denkmodelle fremder Kulturen in die christliche Renaissance. Jenseits der Alpen war es Johannes Reuchlin, der mit Pico in Kontakt stand und christlich-kabbalistische Schriften verfasste. Diese christliche Form der Kabbala unterscheidet sich teilweise erheblich von jüdisch-kabbalistischen Quellen. Sie greift unbewusst auf talmudisches Material zurück, amalgamiert genuin kabbalistische Quellen mit solchen, die im Judentum selbst nicht als kabbalistisch gelten, marginalisiert zentrale jüdisch-kabbalistische Konzepte und nimmt meist nur Details auf, die sie der übergeordneten, christlich-theologischen Deutungsstruktur inkorporiert. Joseph Dan plädiert aus diesem Grund auch dafür, den Begriff der »Kabbala« im christlichen Kontext gänzlich losgelöst von seinen aus dem jüdischen Kontext bekannten Konnotationen zu verwenden.489 Koch, Katharina: Franz Joseph Molitor und die jüdische Tradition. Studien zu den kabbalistischen Quellen der »Philosophie der Geschichte«, Berlin 2006, bes. S. 47 – 55). In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es vor allem der bedeutende pietistische Theologe und Hebraist Friedrich Christoph Oetinger, der zur Verbreitung einer christlich interpretierten kabbalistischen Lehre maßgeblich beitrug. Auch Oetinger stand nicht nur mit christlichen, sondern auch mit jüdischen Kabbalisten aus Frankfurt und Halle in Kontakt. Zu Oetinger vgl. Benz, Ernst: Die christliche Kabbala. Ein Stiefkind der Theologie, Zürich 1958. Obwohl der Titel dies nicht verrät, geht es in der Studie nahezu ausschließlich um die christlich-kabbalistische Lehre Oetingers. 487 Christliche Beschäftigung mit kabbalistischem Gedankengut ist schon älter, nach dem derzeitigen Stand der Forschung war sie jedoch bis dahin ausschließlich von jüdischen Konvertiten betrieben worden. Vgl. Scholem, Gershom: The Beginnings of the Christian Kabbalah, in: The Christian Kabbalah. Jewish mystical books and their Christian interpreters, hrsg. v. Joseph Dan, Cambridge, MA 1997, S. 17 – 51. 488 Mit der Aufnahme kabbalistischen Gedankenguts durch christliche Gelehrte setzte auch erstmals dessen Übersetzung und Verschriftlichung in einer anderen Sprache als dem Hebräischen ein. Nicht nur, dass die Kabbala so zum ersten Mal auf einer breiteren Basis einem nichtjüdischen Publikum zugänglich wird, auch die im Judentum essentielle Tradition der mündlichen Überlieferung, die an den persönlichen Kontakt zu einem Lehrer gebundenen ist, wird unterbrochen. 489 »The combination of these attitudes makes it imperative that we understand the meaning of the term ›kabbalah‹ within the framework of Christian kabbalah as independent of any definition or conception of the term ›kabbalah‹ within Jewish culture. The Christian

Kabbalistische Schriftspekulation

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Da es ausschließlich diese christlich vermittelte Form der Kabbala ist, die die Romantiker rezipierten, wird sich das folgende Kapitel auch alleine mit dieser beschäftigen. Es soll also nicht darum gehen, die eigentlichen jüdisch-kabbalistischen Quellen zu sichten, sondern darum, die kabbalistischen Quellen, auf die sich die Romantiker bezogen haben, in den Blick zu nehmen. So ist es auch gerade die christliche Kabbala, die das aus der jüdischen Kabbala übernommene Element der Schriftspekulation ins Zentrum ihrer mystischen Traktate rückt. Dabei ist hervorzuheben, dass sich auch das Sprachverständnis, wie es sich in den Texten der christlichen Kabbala findet, nur teilweise aus jüdisch-kabbalistischen Quellen speist. Generell handelt es sich dabei um eine aus der Talmudund Midraschexegese bekannte Methode der Schriftinterpretation. Die Verabsolutierung und Exklusivierung dieser sprachspekulativen Methoden finden sich jedoch weniger in Quellen der jüdischen Kabbala als in Quellen der aschkenasischen Chassidim,490 auf deren Texte – in erster Linie jene von Rabbi Eleazer von Worms – sich die christlichen Kabbalisten berufen.491 Während es sich bei der jüdischen Kabbala nicht um eine mystische Strömung handelt, sind es gerade die im 12. und 13. Jahrhundert verbreiteten Lehren der aschkenasischen Chassidim, die eine esoterische Strömung innerhalb des Judentums bilden.492 Die Chassidim leugnen die Möglichkeit einer rationalen Gotteserkenntnis und stellen dem Rationalismus und der Logik ihre ausschließlich auf Sprache konzentrierte Tradition mit ihren spezifischen Auslegungsmethoden gegenüber.493 Das zentrale Moment dieser Schriftspekulation, worin sie sich grundlegend

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scholars who read and commented on the Hebrew kabbalistic text formed their own set of emphases and selections, which created unique compilations of texts and ideas.« (Dan, Joseph: The kabbalah of Johannes Reuchlin and its historical significance, in: ders. (Hrsg.): The Christian Kabbalah. Jewish mystical books and their Christian interpreters. Cambridge, MA 1997, S. 55 – 87, hier S. 66). Vgl. Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 71: »These methodologies have nothing to do with the kabbalah or mysticism: they are part of midrashic exegesis, which is based on the belief in language as a divine instrument by which God created the world. […] Kabbalists adopted these methods and utilized them in eucidating ancient texts, though unlike midrashic exegetes they believed that they knew the ultimate, meta-linguistic divine meaning.« Vgl. Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 63. Vgl. Joseph Dan: The Ashkenazi Hasidic Concept of Language, in: ders.: Jewish Mysticism. The Middle Ages, Northvale u. a. 1998, S. 65 – 87, hier S. 65 f. Vgl. Joseph Dan: »Unlike their contemporaries among the Jewish philosophers in the sphere of influence of the Islamic civilization, the Ashkenazi Hasidim did not accept the notion that human logic, and therefore rational contemplation of divine truth, can serve as a way to achieve religious meaning. Their opposition to the ›dialectics‹ of the rationalists was vehement, and while Jewish-Spanish culture tried to build a religious culture on the twin pillars of tradition and (rational) wisdom, the Askenazi Hasidim recognized tradition alone as the source of religious truth. […] Tradition, in this sense, is completely identical with language.« (Dan: The Ashkenazi Hasidic Concept of Language, S. 65 f.).

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von den im Christentum bekannten exegetischen Methoden unterscheidet, liegt in der hermeneutischen Interpretation der nicht-semantischen Elemente der Sprache.494 Die drei wichtigsten Methoden, die sich wiederholt in kabbalistischen Texten finden und auch in Reuchlins De Arte Cabbalistica ausführlich behandelt werden, sind Gematria, Notarikon und Temurah. Die Methode Notarikon besteht darin, einzelne Buchstaben eines Wortes oder Verses (etwa alle Anfangs- oder alle Schlussbuchstaben der Wörter eines Verses) im Sinne eines Akrostichons zu neuen Wörtern und Versen zu ergänzen. Temurah meint den Austausch von Buchstaben zwischen zwei Textabschnitten. Die Gematria schließlich basiert auf der doppelten Verwendung jedes hebräischen Buchstabens zur Denotation eines Phonems und eines Zahlenwerts, was es ermöglicht, mit den Buchstaben Rechenoperationen durchzuführen. Diese besonderen Methoden der Schriftspekulation, die den kabbalistischen Texten innewohnt, stellt im Judentum keine spezifisch mystische Umgangsform mit Sprache dar. Auf gematrischen Überlegungen fußende Argumentationen kennt auch schon der Talmud, wenn sie dort auch in der Regel lediglich eine Randerscheinung darstellen, die ein mit den Mitteln der talmudischen Logik vorgetragenes Argument zwar stützen, ein solches aber nie gänzlich ersetzen können.495 Diese Sprachspekulation, die in der jüdischen Kabbala an Relevanz gewinnt, wird jedoch erst in der christlichen Kabbala zum tragenden Moment. Joseph Dan begründet dies schlüssig damit, dass es sich hierbei um das Element der jüdischen Texte handelt, das auf Christen aufgrund seiner Fremdartigkeit und Neuheit den stärksten Reiz auszuüben vermochte.496 Jedoch gibt es noch ein zweites, kulturhistorisches Argument, das bisher noch nicht in den Fokus der Forschung gerückt wurde, das aber gerade für den Gedankengang dieser Arbeit von entscheidender Bedeutung ist: Die christliche Rezeption der Kabbala fällt zeitlich, räumlich und personell mit der Blüte der Hieroglyphendiskurse und der Emblematik der Renaissance zusammen. Ausgangspunkt der Entwicklung einer christlichen Kabbala stellt, wie bereits erwähnt, die Schule um Marsilio Ficino Mitte des 15. Jahrhunderts in Florenz dar. Dieses kulturelle Zentrum des Humanismus versammelte Gelehrte, deren besonderes Interesse auf antike Geheimschriften gerichtet war, denen ein göttlicher Ursprung unterstellt wurde und – vielleicht noch wichtiger – von denen man annahm, dass sie codierte Informationen über den Ursprung und die Organisation der Welt enthielten und 494 Vgl. Joseph Dan: »One of the most striking characteristics of the Hebrew kabbalah, and one that had an impact on the Christian kabbalah, is the extension of meaning to non-semantic aspects of language.« (Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 70). 495 Auch Joseph Dan verweist darauf, dass die Methoden der nicht-semantischen Schriftinterpretation in der jüdischen Tradition bereits lange vor der chassidischen Mystik etabliert waren. Vgl. Dan, The Ashkenazi Hasidic Concept of Language, S. 74. 496 Joseph Dan: Die Kabbala. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2007, S. 87 f.

Kabbalistische Schriftspekulation

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als Universalsprache dienen könnten.497 Ein solches Modell ist die ägyptische Hieroglyphik, die, wie in Kap. II.2 bereits dargelegt wurde, ebenfalls im Florenz des 15. Jahrhunderts einer eingehenden Betrachtung unterzogen wurde und durch die verschriftlichte Form weitere Beschäftigungen und Publikationen auf diesem Feld nach sich zog. Zu diesem Kreis von Hieroglyphen-Forschern gehörten auch Marsilio Ficino und Pico della Mirandola, die in der Folgezeit zugleich zu den Protagonisten der frühesten christlichen Kabbala avancierten. Aus diesem Befund lässt sich schließen, dass die kabbalistische Sprachmystik ähnliche Interessen bedient wie die Bildschriftdiskurse. Im Detail soll diese These am Ende dieses Kapitels erörtert werden. Exemplarisch soll hier Reuchlins Schrift De Arte Cabbalistica einer genauen Betrachtung unterzogen und die Eigenschaften des in ihr artikulierten kabbalistischen Schriftverständnisses untersucht werden. Auf diesen Ergebnissen aufbauend, sollen die Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, die zwischen dem Verständnis von motivierten Zeichen, wie es in ikonisch-piktographischen Zeichendiskursen geläufig ist, einerseits und dem speziellen Verständnis einer motivierten Buchstabenschrift, wie die Kabbala es hervorbrachte, andererseits zu beobachten sind.

1.1

Sprachmagie in der christlichen Kabbala Johannes Reuchlins

Johannes Reuchlin (1455 – 1522) war der vermutlich bedeutendste Hebraist und christliche Kabbalist,498 der in persönlichem Kontakt zu Pico della Mirandola stand und dessen Schriften zur christlichen Kabbala die nachfolgende Rezeption dieser Lehren am nachhaltigsten prägten. Sein aus überlieferter christlicher Tradition, Neupytagoräismus sowie jüdisch-talmudischer und kabbalistischer Tradition amalgamiertes Verständnis von Christentum stieß auf heftige Anfeindungen vor allem durch seinen Kontrahenten Johannes Pfefferkorn und diente den Kölner Dominikanern als ein wesentliches Argument gegen seine Schriften.499 Diese Kritik traf bereits sein erstes kabbalistisch ausgerichtetes 497 Auf dieses Interesse der christlichen Kabbalisten an Sprachen im Allgemeinen und an »ancient, mysterious languages of the East« im Besonderen weist auch Joseph Dan hin. (Vgl. Dan, The kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 70). 498 Den Unterschied zwischen Hebraisten – christlichen Gelehrten, die den biblischen Text in seiner hebräischen Urfassung lesen und interpretieren, dabei das Hebräische aber ausschließlich in seinem semantischen Gehalt betrachten und ihn wie den lateinischen Text interpretieren – und den Kabbalisten, die, wie die jüdischen Exegeten, die nicht-semantischen Elemente des Textes in ihre Deutung einbeziehen, erläutert Joseph Dan. (Vgl. Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 72). 499 Vgl. hierzu ausführlich Rummel, Erika: The Case against Johann Reuchlin: Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany, Toronto u. a. 2002, S. 3 – 13.

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Werk De verbo mirifico von 1494, das um den Gottesnamen kreist.500 Zwischen dieser Veröffentlichung und seinem kabbalistischen Hauptwerk, De Arte Cabbalistica von 1517, hatte er Gelegenheit, weitreichende hebraistische Studien zu betreiben. In diese Zeit fiel auch der Bücherstreit, in dem Reuchlin vehement gegen die Konfiszierung jüdischer Bücher eintrat, wodurch er die bereits erwähnte Feindschaft der Kölner Theologen auf sich zog. Die sich in den folgenden Jahren zuspitzende Auseinandersetzung endete schließlich in einem Prozess vor dem päpstlichen Gericht und einer Verurteilung Reuchlins durch den Papst.501 Reuchlin lässt seine als Dialog aufgebaute kabbalistische Abhandlung De Arte Cabbalistica in Frankfurt spielen, wo ein christlicher Neupytagoräer namens Philolaus und ein muslimischer Gelehrter aus Konstantinopel, Marranus, zusammentreffen. Philolaus, so erfährt der Leser in dem einführenden Dialog zwischen diesen beiden Nebenfiguren, ist in die Stadt gekommen, um den Juden Simon ben Eleazar aufzusuchen, von dem er sich in der Kabbala unterweisen lassen möchte. Das Interesse an der Kabbala wird aus der Beschäftigung mit Pythagoras heraus begründet »This kind of knowledge [the cabbalistic one, Y. A.] most nearly approaches Pythaogorean teaching.«502 Dabei kommt der Lehre der Kabbala die größere Autorität zu, denn »They say that Pythagoras derived most of his ideas from this source.«503 Unzweideutig kommt in diesem Text die Verbindung zwischen dem Neupythagoreismus und der christlichen Kabbala zum Ausdruck.504 Es ist sogar das Interesse an den Schriften Pythagoras’, mit dem Reuchlin in seiner Widmung an Papst Leo X sein Werk über die Kabbala zu 500 Eine Ausführliche Darstellung der Deutung des Gottesnamens, wie Reuchlin sie in De verbo mirifico entwickelt, findet sich bei Wilhelm Schmidt-Biggemann. Vgl. Schmidt-Biggemann, Wilhelm: Christian Kabbala: Joseph Gikatilla (1247 – 1305), Johannes Reuchlin (1455 – 1522), Paulus Ricius (d. 1541), and Jacob Böhme (1575 – 1624), in: The language of Adam, hrsg. v. Allison P. Coudert, Wiesbaden 1999, S. 81 – 121, hier S. 102 – 108. Joseph Dan verweist darüber hinaus auf mögliche Einflüsse Joachim de Fiores auf Reuchlins Werk. (Vgl. Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 68 f.). 501 Die Entwicklung zwischen diesen beiden Schriften skizziert Charles Zika: Reuchlin und die okkulte Tradition der Renaissance, Sigmaringen 1998, S. 69 – 73. Ausführlich rekonstruiert Erika Rummel den sich über Jahre hinziehenden Konflikt und dokumentiert ihn anhand der wichtigsten Schriften: Rummel, Erika: The Case against Johann Reuchlin: Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany, Toronto u. a. 2002. Vgl. zur Verurteilung Reuchlins durch Papst Leo X, der ihn in einem Dokument gemeinsam mit Martin Luther veruteilte, sowie zu Reuchlins Bemühungen um die Gunst des Papstes auch: Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 58 f. 502 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 43. 503 Ebd., S. 43. 504 Joseph Dan bringt Reuchlins Verständnis der Zusammenhänge, die sich zwischen der kabbalistischen, der pythagoreischen und der christlichen Tradition ergeben, ebenso knapp wie präzise auf einen Punkt: »There is no boundary separating Pythagoras from the kabbalah, and there is no boundary separating both of them form the philosophy of the Christian religion.« (Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 60).

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rechtfertigen versucht:505 »I have therefore written of the symbolic philosophy of the art of Kabbalah so as to make Pythagorean doctrine better known to scholars.«506 Über den Schauplatz Frankfurt spielt Reuchlin zugleich auf ein Zentrum jüdischer Kabbalistik in Deutschland an, das noch drei Jahrhunderte später für den christlichen Hebraisten Franz Joseph Molitor, der vielleicht der bedeutendste Vertreter der romantischen Kabbala-Rezeption im ausgehenden 18. Jahrhundert war, seine Lehrstätte bildete.507 Die Wahl der Gattung des fiktionalen Gesprächs für seine kabbalistische Abhandlung dürfte wohl in Anlehnung an die sokratischen Dialoge getroffen worden sein. Simon übernimmt in diesem Dialog die Rolle der Hauptfigur, womit ihm die längsten und wichtigsten Redeanteile zukommen, in denen er die Geheimlehren der jüdischen Kabbalisten gegenüber seinen beiden außenstehenden, nicht-jüdischen Zuhörern erläutert.508 In gewisser Weise repräsentieren Philolaus und Marranus damit Reuchlins Leserschaft, denen die Lehren der Kabbala vorgestellt werden sollen. Die Kabbala wird dabei weder als System der Weltdeutung noch als esoterische Geheimlehre, sondern als philosophische Methode bezeichnet, wie in dem durch Philolaus und Marranus gemeinsam geäußerten Wunsch zum Ausdruck kommt »we should like you to explain to us the philosophical method of Kabbalah«509, der zugleich den Auftakt für Simons Ausführungen bildet und dem Leser markiert, als was er die folgenden Ausführungen zu verstehen hat. 505 Solche Widmungen dienten häufig dem Zweck, denjenigen, dem man das Werk widmete – einen Vertreter der kirchlichen der weltlichen Macht – für ein Vorhaben zu gewinnen und eine mögliche Zensur abzuwenden oder »ideelle und materielle Anerkennung« zu erhalten. Vgl. Art.: Widmung, in: Metzler Lexikon Literatur, S. 829 sowie Christian Wagenknecht: Art.: Widmung, in: RLW, Bd. 3, S. 842 – 845, hier : S. 843 f. Vgl. auch Schottenloher, der die Widmungsvorrede des 16. Jahrhunderts untersucht hat und diese Funktionen beschreibt. (Schottenloher, Karl: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts, Münster 1953, S. 1 – 4, 175 – 177). 506 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 39. 507 Frankfurt am Main war noch im 17. und 18. Jahrhundert ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, wo sich nicht nur eine der angesehensten Talmudschulen befand, sondern auch die kabbalistischen Lehren großen Einfluss hatten. (Vgl. Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, hrsg. v. Michael A. Meyer unter Mitwirkung v. Michael Brenner, München 1996, Bd. 1, S. 201 f. sowie 216 – 218). 508 Joseph Dan weist auf die durchgängig positive Zeichnung der Figur des Juden Simon hin, die in der Befolgung ihrer Religionsgesetze die Ernsthaftigkeit seiner beiden Dialogpartner übertrifft. Dan meint »It is doubtful whether there is in European literature a figure comparable to that of Simon, the Jewish kabbalist, as portrayed by Rechlin.« (Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 73). Falls er damit die Figur des jüdischen Kabbalisten meint, könnte er damit durchaus Recht haben. Geht es ihm aber um einen jüdischen Protagonisten im Allgemeinen, so ist an dieser Stelle an Lessings Nathan zu erinnern. 509 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 43.

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Ehe der Text im dritten Buch die Methoden der kabbalistischen Schriftspekulation detailliert erklärt, bieten die Ausführungen Simons im ersten Buch eine Art allgemeine Einführung in die Kabbala. Vorgestellt wird die kabbalistische Lehre als die höchste Weisheit, die dem Menschen zu erlangen möglich ist.510 Insofern ist das Anliegen der Kabbala ein erkenntnistheoretisches und damit – wie eingangs bereits erwähnt wurde – ein philosophisches. Die kabbalistischen Überlegungen zur menschlichen Erkenntnis basieren auf der Vorstellung von einer dreistufig hierarchischen Weltordnung, innerhalb derer der Mensch an zwei Ebenen partizipiert – der physischen und der intelligiblen Welt –511 während die dritte und höchste Sphäre den göttlichen Bereich markiert, der jenseits aller – für die beiden unteren Sphären bestimmenden – Unterscheidungen und Dualismen liegt. Sind jene vor allem durch den Dualismus von Form und Gestalt gekennzeichnet, so wird diese als allumfassende und vordifferenzielle Einheit vorgestellt. Die erkenntnistheoretischen Prozesse innerhalb des menschlichen Geistes erstrecken sich zunächst nur auf die ersten beiden Sphären.512 Die Stufen der Erkenntnis, die den Prozess menschlicher Geistestätigkeit nachzeichnen, lässt Reuchlin seinen Kabbalisten anhand eines Beispiels darlegen: To take an example: you see a bright fire some distance away : you view its shape through a lucent shimmer, called diaphane by the Greeks; and the shape finally reaches your physical eye. You receive it with your spiritual visual sense and perceive the shape to be that of the original object itself – you welcome it gladly as a near relation. By means of its »appearance« – phantasia, as you say in Greek – it is submitted by the spirit to the judgment of the brute senses; then the image is led to judgment again, human judgment, higher on the scale; then it moves a little higher to reason itself, and now finally, after this swift process, a refined and sifted abstraction of the actual fire is brought before the intellect.513

Hier beschreibt Reuchlin den Gang menschlicher Erkenntnis nach dem Modell, das seit der Antike mit gewissen Variationen tradiert wurde und noch im Mit-

510 Vgl. ebd., S. 45. 511 Über diese zweite Stufe heißt es: »The second world, the highest world of distinct intelligences, Kabbalists call the world of separate sechelim, and the Hebrew philosophers call the world of de’ot. This world contains types, forms, disembodied minds, and angels, and is enclosed, circumscribed, and ruled by the soul of the Messiah, which, according to the Kabbalists, is the idealized Idea of all living things, and applies to all life, individual, specific, and general.« (Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 119). 512 Diesen Grundgedanken übernimmt Reuchlin aus der jüdischen Kabbala, wie sie etwa in den Ausführungen zum Baum des Lebens und Baum der Erkenntnis des Sohar zu finden sind. (Vgl. Der Sohar. Das heilige Buch der Kabbala. Nach dem Urtext ausgewählt, übertragen und herausgegeben v. Ernst Müller. Düsseldorf, Köln 31986. S. 64 f.). 513 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 49.

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telalter und der Neuzeit seine Gültigkeit besaß.514 Grundlegend ist dabei die generelle Unterscheidung zwischen Wahrnehmen und Denken, wie es bereits bei Platon und Aristoteles formuliert wurde.515 Die visuelle Erscheinung des Gegenstandes wird zunächst von den Sinnen wahrgenommen, zur Anschauung verarbeitet, von Einbildungs- und Urteilskraft bewertet, die es zur Vernunft (Raison) überleiten, von wo aus der Erkenntnisprozess schließlich bis zu dem – zu dieser Zeit noch allgemein als höchstem menschlichen Erkenntnisvermögen geltenden – Verstand (Intellekt), aufsteigt, der eine abstrakte Vorstellung des Gegenstandes generiert.516 514 Vgl. Art.: Vernunft, Verstand, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 748 – 863. 515 Vgl. Christof Rapp, Christoph Horn: Art.: Vernunft; Verstand, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Sp. 750 – 752. Anders als bei Platon wird hier jedoch eine Bezogenheit von Wahrnehmen und Denken angenommen, sie werden nicht als unüberbrückbarer Gegensatz gedacht. 516 Im dritten Buch erläutert Simon seinen Zuhörern nochmals ausführlich die Stufen des Erkenntnisprozesses. »The image of that flame reaches our eyes and is staken up by the inner faculty of sense. We judge its value. Finally reason runs over it, making the return journey over the route of the present operation. Carefully it shows us how the inner images are carried through the animal spirit of the imagination and the seat of judgement, and how external images are received by the inner faculties, how the image is carried from the flame of the pupil across the atmosphere, how he flame arises from the glow of a concave mirror and the means by which the ray could set something on fire, and finally, how the brightness persists through several media which are not of the same nature, then what the relationship are between air and fire, fire and the sphere of the moon, and the rest of the spheres of each other. Reason considers these matters one by one on its journey of comparison and explanation, passing this side and that, and up and down, thinking it over now here, now there, and the rational process does not cease until it transfers its attention through the inner image to the outer image, reaching out towards the bright light and the source of the light until it returns to the sun of which we spoke. To begin with there is recognition of a luminous image; next the decision is made that this is the image of the piece of burning tow which the eyes had already seen and that the attention the eyes have been paying it has led it through the atmosphere to the eye and there received it on entry, and that the tow is of the earth, the brightness belongs to the air, the flame is of fire, and the radiance is a property inherent in the atmosphere – how it is carried across and through the luminous transparency (whether that be of air or fire, or something belonging to heaven) depends on the substantial form and the particular way in which it works. Then, on reflection, reason adjusts itself to nobler things. It leaves matter on one side and begins an inner discourse on form – not ›form‹ as discussed in art, better termed ›shape‹, but natural, higher form. Reason proceeds. It discovers that some forms are particular, here and now, while others are universal, always and everywhere. Some forms exist with particular bodies and make them what they are. Others again are altogether distinct from bodies, in capacity and operation. They thus lose the name ›forms‹ and are called gods, or angels, or intelligences, blessed spirits, minds, or anything else you like. Further, those that are universal are not called ›forms‹ at all, but ›ideas‹ or ›species‹, by those who have learned to use the proper terms. In this way reason climbs high while it can, but when it is exhausted by its perusal and cannot distinguish dwelling within bodies and dwelling beside them (not subject to nature) it soon summons intellect to its aid, while will abstract matter from form. […]It is easy to abstract

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Was am Beispiel erläutert wurde, fasst Simon nochmals in philosophischerkenntnistheoretischen Begriffen zusammen. Dabei ordnet er den drei Ebenen der menschlichen Erkenntnis drei kabbalistische Begriffe zu: These then are the three regions to be found on this ascent, with some state of abstraction belonging to each. In the first region are the object, the »shimmer«, and the outward sense. In the second are the inner sense, the appearance, and the brute judgement. In the third are human judgement, reason, and intellect. The mind is misstress of all of these, since with light from above it illumines and makes complete man’s intellect. This is what the Kabbalists taught on Sechel, Sandalphon, and Mettatron.517

Schon die Ausführlichkeit, mit der hier der Erkenntnisprozess beschrieben wird, zeigt, welches Gewicht Reuchlin in seiner Darstellung der Kabbala auf eine erkenntnistheoretische Fundierung legt. Die Kabbala verhält sich nun nach Reuchlin nicht in Konkurrenz zur philosophischen Erkenntnistheorie, sondern wird als deren Fortführung und Vollendung verstanden. Diese hier auf noch eher allgemeiner Ebene konstatierte Analogie führt er im Folgenden unter Bezugnahme auf die zehn Sephirot als dem allgemeinen Herzstück der jüdischen Kabbala detaillierter aus. So unterscheidet er neun am Erkenntnisprozess beteiligte Vermögen, denen er die ersten neun Sephirot zuordnet. Der zehnten Sephira, die auch in der jüdischen Kabbala als die allumfassendste gilt,518 ordnet er den menschlichen Geist zu, der den gesamten Erkenntnisprozess vereinigt: So my friends, there you have ten sephiroth by which man apprehends things: the object, the diaphane, outer sense, inner sense, phantasia, lower judgment, higher judgment, reason, and intellect. […] The highest thing in man – mind – is something else again. Just as God wears the Crown in the kingdom of the world, so is the mind of man chief among the ten sephiroth, and so it is rightly called ›The Crown‹.519

Auf diese Weise amalgamiert Reuchlin philosophische Erkenntnistheorie und traditionelle kabbalistische Lehre. Dies erfolgt allerdings auf Kosten der tradimatter from form, but not form from matter. To this end intellect raises itself up in a purer form, affording the mind an opportunity to flow into it. Relying on the clarity of the mind, it recognizes some forms completely free from the corporeal essence, nature and mechanism, and as a result not bounded in time or space. They should be thought of as being beyond the heavens, where motion and time cease. This brings us to the belief that there are certain beings outside the heavens leading lives that enjoy all eternity. There begins the second world, and with it, living luminaries and pure minds. By intense meditations the human soul can enter there, and can certainly do so more readily than the physical eye can get a clear picture scanning the sun’s disc.« (Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 245 f.). 517 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 49. 518 Bezüglich der zehn Sefiroth als der zehn Kräfte Gottes, ihrer Hierarchie sowie der Entwicklung dieser Konzeption vgl. Scholem, Gershom: Ursprung und Anfänge der Kabbala, Berlin 1962, S. 109 – 129. 519 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 51.

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tionellen jüdischen Interpretation der Sephirot, die zwar als strukturelles Konzept erhalten bleiben, inhaltlich jedoch zeitgenössischem philosophischen Denken angenähert werden. Jedoch begnügt er sich nicht mit der bloßen Einkleidung rationalistischer Philosophie in ein terminologisch kabbalistisches Gewandt. Vielmehr trägt die Unterfütterung mit kabbalistischem Denken zu einer prinzipiellen Neuorientierung des Erkenntnisprozesses bei. So wird eine höchste, göttliche Erkenntnis der Gegenstände angenommen, die dem Menschen allein durch seine Geistesvermögen nicht unmittelbar zugänglich ist. Die Lehre der Kabbala geht davon aus, dass Gott dem Menschen dieses Wissen offenbart hat, jedoch nicht in unmittelbarer, sondern lediglich in symbolisch vermittelter Form. Die Begründung hierfür wird aus der Bibel bezogen: »Kabbalah is a matter of divine revelation handed down to further the contemplation of the distinct Forms and of God, contemplation bringing salvation; Kabbalah is the receiving of this through symbols.«520 Dieses symbolische Zeichensystem wird als Kommunikationsweise Gottes mit dem Menschen verstanden. Gedeutet wird sie in Reuchlins Ausführung unter Bezugnahme auf den Schöpfungsbericht der Genesis als Ersatz für eine direkte Kommunikationsform Gottes mit seinen Geschöpfen: God no longer talked with him [Adam, Y.A.] face to face as he had done, a clear sign of his anger and his estrangement. God the Creator of all had once held conversation with all living things, both man and beast; now he disdained to talk face to face with the sinner man.521

Jedoch hat Gott dem Menschen zum Ersatz eine symbolische Sprache gegeben: »He [an angel sent by God, Y.A.] gave Adam divine words, to be interpreted allegorically, in the way of Kabbalah. No word, no letter, however trifling, not even the punctuation, was without significance.«522 Mit dieser Erklärung ist zugleich die gesamte kabbalistische Sprachmystik in ihrer Funktion und Herkunft durch eine am biblischen Bericht angelehnte mythologische Erzählung grundgelegt und ihre Methodik zumindest angedeutet. Das im hebräischen Alphabet verborgene und von den Kabbalisten sukzessive erschlossene Geheimwissen ist von Gott gegeben. Es wird interpretiert als Gottes Angebot an den Menschen, die in Folge des Sündenfalls über ihn verhängte Strafe auf diese Weise abzumildern und eine endgültige Aufhebung derselben bei erfolgreicher, vollständiger Entschlüsselung des verborgenen Wissens in Aussicht zu stellen.523 Dem biblischen Bericht folgend, lässt Reuchlin die Darstellung der Kabbala mit dem Genesis-Bericht beginnen. Die Sprachmystik dabei ins Zentrum zu 520 521 522 523

Ebd., S. 63. Ebd., S. 69. Ebd., S. 69. Vgl. ebd., S. 69.

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rücken, legt der biblische Quellentext selbst schon nahe. So bleibt die adamitische Benennung der Dinge auch in Simons Bericht nicht unerwähnt. Die Genesiserzählung abschreitend, deutet er die Sicherheit, mit der Adam die ihm an die Seite gestellte Frau als seines gleichen bezeichnet, als instinktive Handlung. Eine Handlung also, so könnte man in jüngere Begrifflichkeiten übersetzen, die durch spontanes Empfinden, nicht durch vernünftige Reflexion geleitet ist. In diesem vorreflexiven Zustand, so Simons Ausführungen, gab es noch keine Kabbala. Kabbala hingegen ist an die Geistestätigkeit des Menschen gebunden. Auch diese findet durch Adams Namensgebung der Dinge Eingang in die Schöpfungserzählung: When these two were alone in the world, natural instinct made man realize that woman was for him – and this was before there was Kabbalah. But this too shows singularly acute intelligence: the first man, now lord of the world, spontaneously gave a name to everything, which teaches us that this resulted from voluntary powers, not instinct.524

Im weiteren Fortgang seines Berichts über die Entstehung der Kabbala folgt Simon der biblischen Genesiserzählung, die er einer kabbalistischen Deutung zuführt. Bereits in diese Erläuterungen sind einzelne auf Gematria und Notarikon basierende Spekulationen bezüglich des Gottesnamens verwoben, ohne dass diese Methoden selbst bereits erläutert werden. Die Widergabe des biblischen Berichts zunehmend raffend, gelangt Simon zu den Propheten und vermittels dieser schließlich zu einer Genealogie von bedeutenden Kabbalisten, die den talmudischen Genealogien nicht unähnlich ist.525 Damit einhergehend stellt er die wichtigsten kabbalistischen Schriften vor, unter anderem den Zohar und Gikatillas The Nuts Garden.526 Simon beschließt diesen historischen Abriss der Tradierung der Kabbala mit der Herausstellung einiger wesentlicher Unterschiede zwischen Talmudisten und Kabbalisten, was zeigt, dass die christlichen Kabbalisten ein deutliches – wenn auch nicht unbedingt mit den jüdischen Quellen übereinstimmendes – Bewusstsein von der Unterscheidung dieser beiden jüdischen Traditionsstränge hatten. Diese das erste Buch dominierenden, einführenden Erläuterungen zur Kabbala werden im zweiten Buch auf christliche, insbesondere pythagoreische Grundüberzeugungen bezogen, ehe Simon im dritten Buch einzelne Methoden kabbalistischer Hermeneutik eingehend erläutert. Das zweite Buch bildet einen Einschub zwischen dem ersten und dem dritten Buch, in denen jeweils Simon seine beiden Schüler in der Lehre der Kabbala unterweist. Jedes der drei Bücher spielt an einem Tag, wobei der zweite Tag der Sabbat ist, an dem Simon seine Ausführungen unterbricht. Dieses Buch besteht 524 Ebd., S. 67. 525 Vgl. ebd., S. 87 – 89. 526 Vgl. ebd., S. 91 – 95.

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aus einem Dialog zwischen Philolaus und Marranus, die das neu Gelernte rekapitulieren und es in Beziehung zu den ihnen vertrauten philosophischen und theologischen Lehren aus ihrer eigenen Tradition setzen. Methodisch dient dieser Zwischenteil Reuchlin einerseits zur didaktischen Wiederholung der im ersten Buch vermittelten Grundlagen der kabbalistischen Lehre, andererseits dazu, diese kabbalistische Lehre, die auf einiges Misstrauen unter seinen christlichen Zeitgenossen stoßen musste, mit den tradierten christlichen Lehren und der im Christentum akzeptierten, griechisch-philosophischen Tradition in Verbindung zu setzen. Im Zentrum steht dabei die pythagoreische Lehre, die bereits in seiner Vorrede das Bindeglied zwischen traditionell christlicher Lehre und der jüdischen Kabbala bildet.527 So durchziehen Verweise und längere Ausführungen zu den Lehren des Pythagoras den gesamten Dialog. Philolaus etwa vertritt die These, dass Pythagoras derjenige gewesen sei, der die besondere Form der Zeichen der Hebräer in Griechenland bekannt gemacht habe: One thing I have wanted, however, and that was that you should know and not forget that nearly all Pythagorean philosophy is full of signs for words and cloaks for things, a form of communication that he, so it is believed, was the first to take to the Greeks from the Hebrews, as I have already said, and the Egyptians. The Egyptian priests used a special alphabet to convey sacred information among themselves, […]528

So schließt das zweite Buch mit Marranus’ Feststellung der Identität der pythagoreischen und der kabbalistischen Lehre: Well, I am coming to the conclusion from your chain of argument that Pythagoras drew his stream of learning from the boundless sea of the Kabbalah whose successful navigation is promised us by Simon; and that Pythagoras has led his stream into Greek pastures from which we, last in the line, can irrigate our studies. What Simon says and thinks about the Kabbalists and what you say and think about the Pythagoreans seem to me to be exactly the same. What other intention has either Pythagoras or a Kabbalist, if not to bring men’s minds to the gods, that is, to lead them to perfect blessedness? Another way in which they are similar lies in their means of passing on information, the equal interest they have in symbols, signs, adages and proverbs, numbers and figures, letters, syllables and words.529

Offensichtlich war Reuchlin darauf bedacht, nochmals in aller Deutlichkeit die (durchgängige) Übereinstimmung zwischen der pythagoreischen und der kabbalistischen Lehre zu betonen, ehe er im dritten Buch Simon die kabbalistische Auslegungsmethode im Detail und in ihrer Anwendung auf den Text erläutern lässt. Dies kann womöglich als ein Werben um Akzeptanz für die 527 Vgl. Dan, The Kabbalah of Johannes Reuchlin, S. 58 – 60. 528 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 225. 529 Ebd., S. 233.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

folgenden Lehren gedeutet werden, das mögliches Misstrauen gegenüber der kabbalistischen Exegese beim Leser abbauen soll. Im dritten Buch geht er schließlich zu einer detaillierten, mit vielen Beispielen angereicherten Erläuterung der verschiedenen Methoden kabbalistischer Schriftspekulation über. Als theologische Basis dieser kabbalistischen Schriftspekulation lässt Reuchlin Simon auf das von Gott in schriftlicher Form gegebene Gesetz verweisen. Damit ist zugleich eine Bindung an biblisch- und talmudisch-jüdische Tradition begründet. »›At first,‹ the Kabbalists assert, ›God wrote his Law onto a fiery globe, applying dark fire to white fire.‹ As Ramban says: ›It appears to us through Kabbalah, that Scripture came into being in black fire on white fire.‹«530 Talmudisch mutet auch die Berufung auf eine rabbinische Autorität, hier Rabbi Ramban, an. Auffällig ist jedoch besonders die Metaphorik, mit der Schrift belegt ist – dass es sich bei dem schwarzen Feuer, welches dem weißen eingebrannt wird, unmissverständlich um die schwarzen Buchstaben auf weißem Grund handelt, leuchtet unmittelbar ein. Interessant daran ist aber vor allem die Feuermetaphorik. Indem Buchstaben und Textträger als Feuer metaphorisiert werden, wird ihnen eine Wirkmacht auf die von ihnen affizierten Dinge zugeschrieben, die das magisch-kabbalistische Schriftverständnis bereits in seinem Kern erfasst. Entsprechend wird auch die Niederschrift des Gesetzes auf zwei Steintafeln als symbolischer Hinweis auf die doppelte Bedeutung der Schrift interpretiert: »›He wanted the Law to be written on both sides of solid tablets of stone, because the Law has both manifest and hidden parts, one for the many who remain below and the other for the few who arrive above.‹ […] Moses gave the text of the Law to the people but kept the mysteries, parables and symbols for himself and the elite.«531 An anderer Stelle wird Simon bezüglich der Frage, in welcher Weise diese verborgenen Informationen im Text des mosaischen Gesetzes enthalten sind, deutlicher, indem er auf ein ganzes Set von kabbalistischen Auslegungsmethoden verweist: Our Masters said: Fifty gates of understanding were made in the world, and all were handed down to Moses save one, for it is said, ›You have made him a little less than the gods.‹ Commenting on this dictum of the Kabbalah, Ramban said in his introduction to Genesis that everything of the nature of that received by Moses through the gates of understanding is contained in the Jews’ Law, whether in a literal or metaphorical sense, in oracular utterance, through arithmetical computation, or through the geometry of the shapes of the letters (as they are written or by transposition), or the consonant harmonies in the shapes of the letters, conjunctions, divisions, through roundabout or

530 Ebd., S. 293. 531 Ebd., S. 293 f.

Kabbalistische Schriftspekulation

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straightforward expression, through missing or superfluous words, through decreasing or increasing, crowning, closing in and opening up, or setting in order.532

Obwohl die hier bereits benannten kabbalistischen Auslegungsmethoden teilweise erheblich von der seit den Kirchenvätern unter christlichen Theologen etablierten Allegorese abweichen, lässt Reuchlin seinen Kabbalisten Simon das von ihm vorgestellte Schriftverständnis mit dem Begriff der Allegorie belegen. Von der Grundkonzeption des Allegorischen ausgehend, wonach der wörtlichen Textbedeutung eine übertragene, uneigentliche unterstellt wird, folgt er jedoch nicht der traditionell-christlichen Konzeption eines vier- oder mehrfachen Schriftsinns, sondern leitet über zur Erläuterung der kabbalistischen Methoden von Schrift- und Buchstabenspekulation. So bezeichnet Simon auch die von ihm im Folgenden vorgestellten kabbalistisch-exegetischen Methoden als Form der Allegorese. Der Verweis auf die allegorische Auslegung markiert dem Leser, wie er die nachfolgenden Methoden zu verstehen hat, indem er begrifflich an bekannte exegetische Verfahren anknüpft. Daran anschließend beginnt Simon seine Schüler in den kabbalistischen Methoden der Schriftdeutung zu unterweisen. Diese hat jedoch mit der aus dem Christentum bekannten Form der Allegorese, die den Bedeutungsgehalt der lexikalischen Semantik des Textes mit Hilfe von Ähnlichkeitsbeziehungen auf abstrakt-theologische Bedeutungen überträgt, nicht viel gemeinsam. Ganz anders verfahren die von Simon vorgestellten kabbalistischen Methoden: Sie nehmen ihren Ausgang nicht bei der lexikalischen Semantik, sondern gehen von einem nicht-semantischen, strukturellen Relationsgefüge der Buchstaben, ihrer Zahlenwerte sowie ihrer formal-ornamentalen Erscheinung aus. Auf Grundlage dieses Relationsgefüges ersetzen oder vertauschen sie Buchstaben oder fügen die Buchstaben und Wörter eines Textes nach einer bestimmten mathematischkombinatorischen Gesetzmäßigkeit neu zusammen. Die so entstehenden neuen Semantiken und begrifflichen Relationen werden als verborgene Sinnschichten des Textes gedeutet. Die drei Möglichkeiten der »allegorischen« Auslegung, die die Kabbala bereit hält, erläutert er daraufhin kurz – hier noch ohne Nennung der kabbalistischen Termini: What is the issue of allegory. One understands one thing for another by using a third thing, thereby changing the whole sense of a phrase. So we say quite frankly that a word may be substituted for a word, or a letter for a word, or a letter for a letter. So, to begin, a word may be taken for another word either through transposition (called metathesis) or through the numerical equivalence of the letters in the two words. A letter may be posited to stand for a word, whether it lies at the beginning or the end, or anywhere else, by a mark placed above it. A letter may be posited to stand for another letter through the

532 Ebd., S. 248 f.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

alphabetical circle, the whole process assuring that, in the end, every arithmetical, geometrical and musical proportion is achieved.533

Bei der ersten Methode, die er umschreibt – die Gewinnung neuer Wörter durch das Umstellen von Buchstaben – handelt es sich um die Temurah.534 Diese Vertauschung von Buchstaben oder Wörtern kann auch aufgrund von numerischen Übereinstimmungen erfolgen, dann kommt die Methode der Gematria zur Anwendung. Die dritte Methode, die Herleitung ganzer Wörter aus einzelnen Buchstaben, schließlich wird Notarikon genannt.535 So interpretiert er etwa die Buchstaben des Wortes »Amen« als Akrostichon der Gottesbezeichnungen.536 An anderer Stelle benennt er die drei allgemein unterschiedenen, geläufigen Methoden mit den ihnen zukommenden Termini der Gematria, Notarikon und Temurah und umreißt mit wenigen Worten deren jeweilige Funktionsweise, ehe er die einzelnen Methoden nacheinander eingehend vorstellt: First there is the equivalence of numerical calculation. This is called Gematria or ›geometry‹ […] Second is the placing of a letter in the place of an expression. This is called Notariacon from the marks or notaria on the top of each letter. Any letter may be marked on top to be a sign of another whole world. […] The third part of the art is exchange of letters, when one letter is cleverly put in the place of another. This is called Commutation.537

533 Ebd., S. 295. 534 Für die Methode der Temurah, bei Reuchlin meist einfach als »commutation« – Vertauschung – bezeichnet, gibt er seinen Zuhörern eine Vielzahl von Beispielen. So führt er aus: »In Kabbalah another method frequently used is reversed order. The best and most praiseworthy aspect of this method is the fact, however the syllables may be transposed, the same letters still remain without loss even when the meaning changes. It is to this that Abraham refers in his book on the Creation when he says: ›Male and female, Male in AMSh, female in AShM,‹ where the transposition of letters indicates a corresponding change of matter.« (Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 305). Im Deutschen findet man für diese Methode häufig auch den Begriff der Permutation. Alle drei Methoden sind sehr gut erläutert in: Reichert, Klaus: Zur Geschichte der christlichen Kabbala, in: Kabbala und die Literatur der Romantik: zwischen Magie und Trope, hrsg. v. Eveline Goodman-Thau, Gert Mattenklott u. Christoph Schulte, Tübingen 1999, S. 1 – 16, hier S. 5 f. 535 So erläutert Simon an anderer Stelle seinen beiden Schülern nochmals: »Let us hurry on to the second part of this instruction, the part called Notariacon. This is the convention, passed on in secret from one Kabbalist to another, by which single letters not combined into syllables designate certain words.« (Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 311). 536 An anderer Stelle gibt Simon folgendes Beispiel für die Methode des Notarikon: »Would you like to see also the third method in which a letter is taken as meaning a word? Read Isaiah chapter 65: ›He will be blessed in God. Amen.‹ Who is this God? Kabbalists reply that he is the ›Lord, King, Faithful,‹ for the three letters of Amen (AMN) denote the first letters of these three words (ADNY, MLK, NAMN) as Recanat writes on Exodus 15.« (Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 297). 537 Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 299.

Kabbalistische Schriftspekulation

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Die Grundlagen all dieser zeichentheoretischen Spekulationen sind in drei Eigenschaften des hebräischen Alphabets zu sehen, die es gegenüber anderen Schriften auszeichnet. Diese drei Merkmale wären erstens, die Besonderheit des hebräischen Alphabets, wonach jeder Buchstabe zugleich einen bestimmten Gegenstand bezeichnet, zweitens das gänzliche Fehlen von Vokalen oder Vokalzeichen, wodurch eine Verbalwurzel mehreren Lesarten und damit mehreren unterschiedlichen Bedeutungen zugeführt werden kann und drittens die Belegung eines jeden hebräischen Buchstabens mit einem Zahlenwert. Simon fasst dies wie folgt für seine beiden Schüler zusammen: To sum up this first kind of speculation. Firstly it is worth remembering that the characters, elements and letters had been in confusion and were capable of several different readings. Secondly, that they were not distinguished by any accents of points. Thirdly, that each of the basic letters of the alphabet signifies a certain number[.]538

Was bedeutet dies im Einzelnen und wie operiert die kabbalistische Schriftspekulation auf dieser Basis? Am besten lässt sich dies an jedem der drei Aspekte für sich betrachtet erläutern: Dass sich die Buchstaben des hebräischen Alphabets aus Hieroglyphen herleiten – sie also ursprünglich bildhafte Zeichen zur Denotation einzelner Gegenstände waren –, kann noch an der gegenwärtigen Form der Schrift abgelesen werden, in der jeder Buchstabe zugleich dem Wort für einen bestimmten Gegenstand entspricht.539 Die zweite Besonderheit besteht darin, dass es sich bei dem Hebräischen um eine reine Konsonantenschrift handelt.540 Dies hat zur Folge, dass die gleiche Konsonantenfolge je nach Ergänzung der Vokale auf unterschiedliche phonetische und damit einhergehend auf unterschiedliche semantische Weise gelesen werden kann.541 Zum einen bedeutet dies, dass jedem geschriebenen hebräischen Wort eine gewisse Mehrdeutigkeit inhärent ist. Zum anderen vereinfacht es darüber hinausgreifende, weiterführende Wortspiele durch Umstellung oder Austausch von Buchstaben. Dies geschieht bei der als Temurah bezeichneten Methode. Auf der dritten spezifischen Eigenschaft, die in der Doppelbelegung eines jeden he538 Ebd., S. 311. 539 Reuchlin geht auf diese Weise das gesamte hebräische Alphabet durch, wobei er allerdings nicht die lexikalischen Semantiken der mit den einzelnen Buchstaben bezeichneten Wörter aufzählt, sondern eine mystische Sinnschicht unterstellt. (Vgl. Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 321 – 325). Auch Mendelssohn hat, wie in Kap. II.1 gezeigt wurde, in seiner zeichentheoretischen Abhandlung auf diesen Aspekt hingewiesen. Er bezieht sich jedoch auf die lexikalischen Semantiken der durch die Buchstaben bezeichneten Wörter. 540 Diese Eigenschaft hat das Hebräische mit anderen semitischen Sprachen, wie etwa dem Arabischen, gemeinsam. 541 Erst im 8. Jahrhundert n. Chr. haben die sogenannten Masoreten die Punktierung des biblischen Textes durch Vokalzeichen eingeführt, wodurch der Text auf eine bestimmte Lesart hin festgelegt wurde. Vgl. z. B. Jenni, Ernst: Lehrbuch der hebräischen Sprache des Alten Testaments, Basel 32003, S. 22.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

bräischen Buchstabens mit einem phonetischen Wert und einem Zahlenwert besteht, beruht die Methode der Gematria. Werden die Buchstaben ohnehin zu arithmetischen Operationen herangezogen, liegt es nahe, diese Dimension auch in den Buchstabenkombinationen der Wörter und Texte wahrzunehmen und mit ihnen zu spielen. Auf der grundlegendsten Ebene bedeutet dies, dass jedem Wort durch Addition der Zahlwerte seiner Buchstaben ein eigener Zahlenwert zugeordnet werden kann. Dies wird schnell zu einer Methode komplexer Relationsexperimente erweitert, indem unterschiedlichste Rechenoperationen mit den Buchstaben innerhalb der Wörter sowie zwischen den Buchstabenwerten verschiedener Wörter durchgeführt werden. Auf diese Weise entstehen freie Assoziationen zwischen vom Wort- und Sachfeld her gesehen völlig voneinander unabhängigen Wörtern und den von ihnen bezeichneten Gegenständen. So fasst Simon die kabbalistischen Methoden zusammen: Now you have heard the rules by which the first part of Kabbalah is regulated. It consists totally in the changing round of sacred words, and, since any word may be changed in two ways, we have to admit that there are two separate methods in this part, one of which is the transposition of syllables or words while the other is numerical equality.542

Dieser speziellen Form von Schriftexegese liegt, wie Joseph Dan schlüssig darstellt, die Vorstellung zugrunde, dass alles auf Sprache basiert und die Sprache die einzige, zugleich aber auch eine umfassende Quelle der Erkenntnis ist. »You must realize that the twenty-two letters are the basis of the world and of the Law, as is fully explained in Book 2 of the Garden of Nuts.«543 Zugang zum Wissen über das Göttliche kann der Mensch nur vermittels der Sprache erlangen, da Gott, wie Simon eingangs erläutert hat, nach dem Sündenfall und dem Verlust der adamitischen Sprache nur noch allegorisch mit dem Menschen kommuniziert. Lässt man sich aber auf diese allegorisch vermittelte Kommunikation ein und versteht man diese zu deuten, so ist Erkenntnis möglich: »By trusting in the letters we shall find it easier to speculate on higher things. We have confidence that we can find secrets hidden in the letters[.]«544 Zwar wird die Möglichkeit angenommen, mit Hilfe von Vernunft und Verstand Gott zu erkennen, jedoch bedürften diese menschlichen Geistesvermögen dem Hilfsmittel der Sprache: »So what has happened in this case is that the reasoning by which our understanding is led to God could not be deployed except through many letters and words.«545 Dass dieses Wissen jedoch nicht in der lexikalischen Semantik offen zu Tage tritt, sondern im tradierten Text als verschlüsselte Mitteilung verborgen liegt, die erst durch komplizierte exegetische Methoden erschlossen werden kann, wird mit 542 543 544 545

Reuchlin, De Arte Cabbalistica, S. 309. Ebd., S. 329. Ebd., S. 329. Ebd., S. 333.

Kabbalistische Schriftspekulation

195

der Exklusivität dieses Wissens begründet: »So the confusion of the letters produced by the exchanges within the alphabet has hidden information from the uncouth and the unworthy that has been revealed, by the combining of letters, to holy men who lead a contemplative life.«546 Der Hypothese von der symbolischen Kommunikation Gottes mit dem Menschen und der Annahme, aus den biblischen Texten ließe sich jegliches Wissen über die göttliche Welt erschließen, liegt die Vorstellung einer umfassenden, analogischen Korrespondenz zwischen irdischer und göttlicher Welt zugrunde. Die Verhältnisse der oberen Welt bilden sich in den Strukturen der unteren Welt ab. So beendet Simon seine Ausführungen mit dem Satz »›All things below are representations of the things above, and, as the lower is, so is the higher.‹«547

1.2

Bildliche und bildanaloge Elemente im kabbalistischen Sprachverständnis

Die visuelle Ausrichtung der kabbalistischen Erkenntnistheorie lässt sich an einem Zitat aus Reuchlins De Arte Cabbalistica demonstrieren, in dem der geistige Erkenntnisprozess in Analogie zur optischen Wahrnehmung beschrieben wird: We cannot see the sun unless the sun sees us and, in the same way, we cannot perceive the upper world unless it perceives us. It is all eye, and more piercing than the sun. We comprehend »the sun« by means of the sun’s light; similarly »the divine« by the light of the divine. Given that by physical sight we are able to see not only the face of the sun, but also the higher stars, and deep into heaven, why should mind, which infinitely exceeds out physical powers, not be able to see further and glimpse the contents of the archetypal world? Concave and convex in the upper heaven are very closely linked, and the eternity level seems not far away from this curve. Our inspection of the other, divine, world is equally returned; they in their turn inspect us. It is rather like two eyes placed directly opposite each other, returning one another’s gaze along the same sightline.548

Der Erkenntnisprozess ist nicht eindimensional, sondern besteht in einer Interaktion von Erkennendem und Erkenntnisgegenstand, die Reuchlin als ein gegenseitiges Betrachten beschreibt. So wie der Mensch die Sonne erst erkennen kann, wenn ihr Licht die Erde bescheint, so kann er auch die göttliche Welt nur in dem Widerschein erkennen, den sie in der irdischen Welt hinterlässt. Reuchlin 546 Ebd., S. 333. 547 Ebd., S. 355. 548 Ebd., S. 247.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

entwickelt die Metapher von zwei Spiegeln oder zwei Augen, die einander genau gegenübergestellt, den Blick des Gegenübers jeweils reflektieren und sich auf diese Weise gegenseitig betrachten. Diese Konzeption der Wahrnehmung als Paradigma des Erkenntnisprozesses suggeriert eine Visualität der Erkenntnis. Die Frage, inwiefern sich dieses Denkmodell auch in der deutlich an Sprache ausgerichteten kabbalistischen Erkenntnistheorie niederschlägt und auch diese selbst Analogien zu bildlichen Konzeptionen aufweist, soll abschließend besprochen werden. In der Einleitung des Kapitels ist bereits festgestellt worden, dass die ersten christlichen Kabbalisten – Ficino und Pico – zugleich die Protagonisten des humanistischen Hieroglyphendiskurses waren. Beide Lehren scheinen also die Suche nach einer – geheimes Wissen über die Welt codierenden – Ursprache zu bedienen. Vergleicht man diese zwischen Bild und Schrift oszillierenden Phänomene der Hieroglyphen und der Allegorie, die in den vorangegangenen Kapiteln besprochen wurden, mit der kabbalistischen Interpretation der hebräischen Schrift, so fällt auf, dass beide Umgangsweisen mit Schrift gegenüber dem diskursiven Sprachgebrauch deutlich abweichende, ähnliche Funktionen zu erfüllen scheinen. Dies wirft die Frage nach möglichen Gemeinsamkeiten auf. Zunächst ist jedoch ein fundamentaler Unterschied zu berücksichtigen: Trennen die philosophischen Sprachtheorien und mit ihnen die Aufklärungsästhetik streng zwischen den willkürlichen Zeichen der Buchstaben, deren arbiträre Signifikant-Signifikat-Relation weiterführende Spekulationen über den Zusammenhang zwischen Gegenstand und Begriff zu erübrigen scheint einerseits und den natürlichen, bildhaften Zeichen, die für die Malerei charakteristisch sind und die auch den hieroglyphischen Ursprung der Schrift gebildet haben sollen andererseits, so lädt die kabbalistische Schriftspekulation die (arbiträre) Buchstabenschrift mit einer als notwendig und eindeutig angenommenen Signifikant-Signifikat-Beziehung auf, die sich erst mit Hilfe der kabbalistischen Methoden als tiefere Sinnschichten der hebräischen Schrift erschließen. Die kabbalistische Schriftspekulation, so könnte die These also lauten, vollzieht an der arbiträren Buchstabenschrift ähnliche, semiotisch motivierte, interpretatorische Operationen wie die Bildschriftdiskurse an den piktographischen Zeichen. Wie lassen sich die Übereinstimmungen aber auch die spezifischen Unterschiede zwischen der kabbalistischen Schriftspekulation und den Bildschriftdiskursen exakter beschreiben? Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen soll das Zeichenverständnis beider Theorien sein. Beide, sowohl die auf die Bildlichkeit ihrer Gegenstände abhebende Hieroglyphik und Allegorese als auch die kabbalistischen Spekulationen, die sich um die hebräische Sprache ranken, gehen von der Motiviertheit der Zeichen aus. Jedoch wird diese Motiviertheit in

Kabbalistische Schriftspekulation

197

der Bildschrift anders gedacht als in der kabbalistischen Schriftspekulation. Leitet sich die Motiviertheit der Bildschriftzeichen aus deren engem Bezug zur physischen Erscheinung der von ihr denotierten Gegenstände ab, so basiert die Motiviertheit der Zeichen in der kabbalistischen Schriftspekulation allein auf dem ihnen zugesprochenen göttlichen Offenbarungscharakter. Die Bildschrift – und darin liegt der zentrale Unterschied – hat es mit Zeichen zu tun, die dem phänomenologischen Erscheinungsbild des durch sie bezeichneten Gegenstandes nachempfunden sind. Sie unterhalten damit auf der Signifikant-Ebene des Zeichens eine Ähnlichkeit zu der dargestellten Sache. Semantik und Zeichengestalt sind dadurch eng aufeinander bezogen. Eine solche Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat wird noch in der heutigen Semiotik durch den durch Peirce geprägten Begriff des ikonischen Zeichens anerkannt und beschrieben. Diese Zeichenbildung kann zunächst nur und in ihrer Reinform ausschließlich materielle und damit sinnlich wahrnehmbare Gegenstände bezeichnen, da nur deren physische Erscheinung in die physische Form des Zeichens übertragen werden kann. Zur Bezeichnung abstrakter, mentaler Gegenstände wird bereits eine Übertragungsleistung erforderlich, die das Zeichen – wie anhand der Hieroglyphenentwicklung gezeigt werden konnte – in den Bereich der tropischen, uneigentlichen Redeweise überführt. Anders sieht es bei der kabbalistischen Schriftspekulation aus. Bei ihrem Gegenstand handelt es sich aus linguistischer Sicht um eine aus arbiträren Buchstaben bestehende Alphabetschrift. Das Schriftzeichen bezeichnet nicht mehr unmittelbar den Gegenstand, sondern denotiert die Lautfolge, die in der gesprochenen Sprache zur Bezeichnung des Gegenstandes verwendet wird. Nach den Sprachtheorien der Aufklärung etwa wird daher – wie in Kap. I gezeigt wurde – die Schrift als sekundäres Phänomen beschrieben. Im Hebräischen ist diese Relation allerdings komplexer. Der vermutlich hieroglyphische Ursprung der Buchstaben ist noch daran abzulesen, dass jeder Buchstabe nicht nur ein Phonem bezeichnet sondern zugleich auch dem Wort für einen Gegenstand entspricht. Der hebräische Buchstabe hat damit eine doppelte semiotische Funktion – er ist zugleich logographisches und phonographisches Zeichen. Ergänzt werden diese beiden Funktionen um eine dritte: ähnlich wie im Lateinischen haben auch im Hebräischen die Buchstaben jeweils einen Zahlenwert – man rechnete mit Buchstaben. Mit Hilfe dieser dreifachen Besetzung der hebräischen Buchstaben als logographische und phonographische Zeichen sowie als Zahlen operiert auch die kabbalistische Sprachmystik. Dem System des hebräischen Alphabets rein immanent bleibend und ohne jeglichen Bezug auf die Semantik, generiert die kabbalistische Methode der Schriftspekulation immer neue Wörter und Texte, deren Semantik erst in einem sekundären Schritt als (verborgenes) Wissen über die Welt interpretiert wird.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

Welche zur Bildlichkeit analogen Muster lassen sich in dieser Konzeption nachweisen? Eine – zwar von jeglicher mimetischen Gestalt unabhängig gesehene – visuelle Komponente der kabbalistischen Schriftspekulation besteht darin, dass die formale Erscheinung des Buchstabens – seine Punktierungen und ornamentalen Verzierungen – als bedeutungstragende Elemente angesehen werden. Der andere wichtige Aspekt besteht darin, dass auch die kabbalistische Schriftspekulation eine allegorische Redeweise für ihren Untersuchungsgegenstand in Anspruch nimmt und diesen im Sinne einer »Allegorese« aufzuschlüsseln versucht. Nimmt man diesen Wortgebrauch ernst, so muss man fragen, inwiefern die rhetorisch-allegorische Methode der christlichen Schriftinterpretation mit der kabbalistischen Methode übereinstimmt. Die Gemeinsamkeit ist, dass beide die wörtliche Textbedeutung einer davon abweichenden Interpretation zuführen. Der Unterschied besteht in der Methode, mittels derer dieser übertragene Sinn erschlossen wird. Die allegorische Methode im herkömmlichen Sinn basiert auf übereinstimmenden Eigenschaften zwischen konkreten Gegenständen und Handlungen, die durch die lexikalische Semantik des Textes bezeichnet werden und – in der Regel abstrakten – Konzeptionen und Begriffen, auf die erstere verweisen. So werden etwa Braut und Bräutigam aus dem Hohelied als Christus und die Kirche gedeutet. Die Gemeinsamkeit, die es den Interpreten erlaubt, diese beiden Konzeptionen zueinander in Beziehung zu setzen, wird etwa in der gegenseitigen Liebe und Treue gesehen, die beide Beziehungssituationen auszeichnen. Das Vergleichsmoment, der die allegorische Redeweise legitimiert, liegt damit in einer Gemeinsamkeit der – eigentlich und uneigentlich – bezeichneten Gegenstände selbst. Ganz anders geht die Kabbala vor. Die Gleichwertigkeit von Mann und Frau etwa wird aus der Identität der Buchstaben ihrer jeweiligen Bezeichnung hergeleitet, die lediglich unterschiedlich angeordnet werden. Diese »allegorische« Auslegung im Sinne der Kabbala nimmt keinerlei Rücksicht auf die tatsächliche Gegenstandsrelation, sondern macht ihre Aussage über die Dinge alleine aufgrund der ihnen jeweils zufallenden Namen und den Beziehungen, die sich auf rein formaler Ebene jenseits der Semantik zwischen den beiden Bezeichnungen ergeben. Das Legitimierungsmuster rekurriert hier auf eine strukturelle Übereinstimmung zwischen den Worten und den durch sie bezeichneten Gegenständen. Dass es sich bei dem von Gott offenbarten Wissen, das die Kabbalisten zu erschließen versuchen, um symbolisch vermittelte Erkenntnis handelt, dürfte der entscheidende Aspekt dieser Lehre sein, die sie für die Poetik der Romantik ebenso fruchtbar werden ließ, wie die Hieroglyphen- oder Natursprachediskurse. Denn anders als in den im 18. Jahrhundert aufblühenden Naturwissenschaften wird Erkenntnisgewinn nicht auf die rein empirische, unvermittelte

Die Signaturenlehre Jacob Böhmes

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Naturbeobachtung zurückgeführt, sondern er wird abhängig gemacht von der erfolgreichen Entschlüsselung codierter Informationen. Symbolisch vermitteltes Wissen bedeutet, dass sich das Wissen über Welt nicht in der Kenntnis der physischen Gestalt der Gegenstände erschöpft, sondern ihre Materialität ein Zeichensystem konstituiert, das codierte Informationen über eine dahinter wirkende, geistige Welt enthält. Eine andere Form mystischer Sprachspekulation, die für die Frühromantiker relevant wurde, stellt Jacob Böhmes Naturschriftlehre dar, die im folgenden Kapitel betrachtet wird.

2.

Die Signaturenlehre Jacob Böhmes

Eine andere, für das romantische Denken mindestens ebenso relevante mystische Lehre stellt Jacob Böhmes Signaturenlehre dar. Böhmes zahlreiche Schriften sind stark von Paracelsus, dem Neuplatonismus aber auch von Nikolaus von Kues oder Agrippa von Nettersheim beeinflusst und kreisen um christologische Fragestellungen, die mit mystischen und alchemistischen Lehren amalgamiert werden.549 Ohne auf die vielfältigen Einflüsse und Konzeptionen in Böhmes Werk näher einzugehen, soll hier vor allem die Schrift in den Blick genommen werden, in der er seine Signaturenlehre, die auf die romantische Naturschriftund Bildkonzeption maßgeblichen Einfluss hatte, am ausführlichsten entwickelt hat: die Abhandlung De signatura rerum aus dem Jahr 1622. Diese Schrift ist von einem erkenntnistheoretischen Interesse geleitet, das sowohl die Erkenntnis Gottes als auch die Erkenntnis des Wesens der Dinge zum Ziel hat. Die Signaturenlehre, die im Zentrum dieser Schrift steht und den Schlüssel zu jeglicher Erkenntnis liefern soll, verbindet dabei auf höchst eigentümliche Weise biblisches und christologisches Gedankengut mit astrologischen und alchemistischen Lehren. Der Text, der seinen Ausgang bei der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nimmt, entwickelt eine Lehre, wonach alle materiellen Gegenstände als Schrift und Zeichen gedeutet werden, von denen der Erkenntnisprozess ausgehen müsse. Zunächst thematisiert Böhme Schrift und Sprache, auf die sich die Vernunft im Erkenntnisprozess stützt: Ob nun zwar die Vernunft nur schreyet: Schrift und Buchstaben her! So ist doch der äussere Buchstabe allein nicht genug zu der Erkenntniß, wiewol er der Anleiter des Grundes ist: es muß auch der lebendige Buchstabe welcher GOttes selbständiges 549 Bzgl. dieser Einflüsse vgl. Haferland, Harald: Mystische Theorie der Sprache bei Jacob Böhme, in: Theorien vom Ursprung der Sprache, hrsg. v. Joachim Gessinger u. Wolfert von Rahden, Berlin, New York 1988, Bd. 1, S. 89 – 130. Besonders den Einfluss von Paracelsus zeichnet er detailliert nach.

200

Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

ausgesprochenes Wort und Wesen ist, in der Leiterin des ausgesprochnen Wortes im Menschen selber eröffnet und gelesen werden, im welchem der H. Geist der Leser und Offenbarer selbst ist.550

Für den »äusseren Buchstaben« wird, ganz in der paulinischen Tradition der Geist-Buchstabe-Dichotomie stehend, gefordert, dass er durch den Geist lebendig gemacht werden müsse, ehe er zur Erkenntnis dienen könne. Darauf folgt eine längere Ausführung über die Art und Weise der korrekten, fruchtbaren Unterweisung über Gott. Auch hier knüpft Böhme an den Gedanken an, dass reine Buchstabengelehrsamkeit kein Wissen über Gott enthalten könne. Dem wird eine zunächst recht dunkle Rede von der Signatur entgegen gesetzt, mit der sich das Gesprochene und Geschriebene verbinden müsse, um Gotteserkenntnis zu ermöglichen. Nur mit Hilfe des Geistes aber könne der Mensch die Signatur der Dinge erkennen: Alles was von GOtt geredet, geschrieben oder gelehret wird, ohne Erkenntnis der Signatur, das ist stumm und ohne Verstand, dann es kommt nur aus einem historischen Wahn, von einem andern Mund, daran der Geist ohne Erkenntniß stumm ist; So ihm aber der Geist die Signatur eröffnet, so verstehet er des andern Mund, und verstehet ferner, wie sich der Geist aus der Essenz durchs Principium im Hall mit der Stimme hat offenbaret. Dann daß ich seh, daß einer von GOtt redet, lehret und schreibet, und dasselbe höre und lese, ist mirs noch nicht genug verstanden: so aber sein Hall, und sein Geist aus seiner Signatur und Gestaltniß, in meine eigene Gestältniß eingehet, und bezeichnet seine Gestältniß in meine, so mag ich ihn in rechtem Grunde verstehen […]. Daran erkennen wir, daß alle menschliche Eigenschaft aus Einer kommen, daß sie nur eine einige Wurzel und Mutter haben, sonst könnte ein Mensch den andern nicht im Hall verstehen. Dann mit dem Hall oder Sprache zeichnet sich die Gestalt in eines andern Gestaltniß ein, ein gleicher Klang fänget und beweget den andern, und im Hall zeichnet der Geist seine eigene Gestältniß, welche er in der Essenz geschöpfet hat, und hat sie im Principio zur Form bracht, Eins, daß man im Worte verstehen kann, worinnen sich der Geist geschöpfet hat, im Bösem und Gutem; und mit derselben Bezeichnung gehet er in eines andern Menschen Gestaltniß, und wecket in einem andern auch eine solche Forme in der Signatur auf, daß also beyder Gestaltniß in einer Form miteinander inqualiren, alsdann ists Ein Begriff, Ein Wille und Ein Geist, auch Ein Verstand.551

Das intellektuelle Verstehen der Semantik eines vorgetragenen Textes – zumindest wenn dessen Gegenstand ein transzendenter ist – reicht zum Verständnis dieses Gegenstandes nicht aus. Stattdessen soll im Verstehensprozess 550 Böhme, Jacob: De Signatura Rerum, in: ders.: Sämtliche Schriften, Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1730 in elf Bänden, begonnen v. August Faust, neu hrsg. v. Will-Erich Peuckert, Stuttgart 1955 ff., Bd. 6, S. 2. 551 Ebd., S. 3 f.

Die Signaturenlehre Jacob Böhmes

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eine innere Veränderung auf Seiten des Rezipienten bewirkt werden, die die beiden Kommunikationspartner einander angleicht. Das Verstehen der Signatur erscheint so als eine Art Unio mystica zwischen zwei kommunizierenden Personen. Was sich Böhme konkret unter der Signatur vorstellt, wird zunächst nicht klar erläutert. Deutlich tritt in diesen ersten Ausführungen aber schon der mystische Gehalt dieser Konzeption hervor. Präziser wird Böhme an anderer Stelle, wo sich zeigt, dass er jegliche sinnlich wahrnehmbare, physische Erscheinung als ein Signifikant betrachtet, in dem der Geist als dem zugehörigen Signifikat zur Darstellung kommt: Dasselbe gefassete Wort hat sich mit Bewegung aller Gestalten mit dieser sichtbaren Welt, als mit einem sichtbaren Gleichniß, offenbaret, daß das geistliche Wesen in einem leiblichen begreiflichen offenbar stünde: Als der innern Gestalt Begierde hat sich äusserlich gemacht, und stehet das Innere im Aeusseren, das Inere hält das Aeussere vor sich als einen Spiegel, darinnen es sich in der Eigenschaft der Gebärung aller Gestältniß besiehet; das Aeussere ist seine Signatur.552

Die Signatur, so legt Böhme dar, kommt nicht nur dem Menschen, sondern allen Lebewesen zu und ermöglicht es, deren geistiges Wesen zu erkennen. Jedem Gegenstand der Natur wird ein verborgener Geist zugesprochen, der sich in dessen Gestalt, Stimme und Sprache artikuliere: Nun dieses alles, wie die Eigenschaft eines ieden Dinges im Inneren ist, also bezeichnet sichs im Aeusseren, beydes in den lebhaften und wachsenden Dingen: das werdet ihr an einem Kraute sehen, sowol an Bäumen und Thieren, auch an Menschen.553

Alle physischen Gegenstände werden so als Signatur betrachtet, wodurch sie über sich hinaus weisen und alles Wissen über ihr geistiges Wesen bereits codieren. Erkenntnis kann dieser Konzeption gemäß einzig über den Weg der Entschlüsselung der Signatur erfolgen. Bisweilen scheint es sich bei der Signatur um die äußere, physische Erscheinung der Gegenstände zu handeln; an anderen Stellen wird jedoch deutlich, dass Böhme auch die phonetischen Kommunikationssysteme – die Sprache des Menschen eingeschlossen – unter dem Aspekt der Signatur deutet: Darum ist an der Signatur der gröste Verstand, darin sich der Mensch (als das Bild der grösten Tugend) nicht allein lernet selber kennen, sondern er mag auch darinnen das Wesen aller Wesen lernen erkennen, dann an der äusserlichen Gestaltniß aller Creaturen, an ihrem Trieb und Begierde, item, an ihrem ausgehenden Hall, Stimme und Sprache, kennet man den verborgenen Geist, dann die Natur hat iedem Dinge seine Sprache nach seiner Essenz und Gestaltniß gegeben, dann aus der Essenz urständet die 552 Ebd., S. 97. 553 Ebd., S. 104.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

Sprache oder der Hall, und derselben Essenz Fiat formet der Essenz Qualität, in dem ausgehenden Hall […]: Ein iedes Ding hat seinen Mund zur Offenbarung.554

Diese Vorstellung basiert auf einem dualistischen Weltbild, dessen beide Komponenten – die geistige und die materielle Welt – sich gemäß dieser Signaturenkonzeption zueinander verhalten: Der physischen Welt kommt dabei lediglich die Rolle der Zeichengestalt zu, in der sich die geistige sinnlich zu erkennen gibt: Die ganze äussere sichtbare Welt mit all ihrem Wesen, ist eine Bezeichnung oder Figur der inneren geistlichen Welt; alles was im inneren ist, und wie es in der Wirckung ist, also hats auch seinen Character äusserlich: Gleichwie der Geist ieder Creatur seine innerliche Geburts-Gestaltniß mit seinem Leibe darstellt und offenbaret; Also auch das ewige Wesen.555

Böhme versteht damit die sinnlich wahrnehmbare Gestalt der Gegenstände als ein Zeichensystem, in dem sich ein geistiges Wesen ausdrückt. Dabei ist die Signatur als die äußere Erscheinung mit dem Geist nicht identisch, sondern stellt lediglich die physische Zeichengestalt bereit, in der sich letzterer artikuliert: »Und dann zum andern verstehen wir, daß die Signatur oder Gestaltniß kein Geist ist, sondern der Behälter oder Kasten des Geistes, darinnen er lieget.«556 Böhme belässt es jedoch nicht bei dieser allgemeinen Darlegung dessen, was er unter der Signatur versteht, sondern führt durchaus konkret aus, welche Formen der Geist haben kann und wie er sich in der Signatur artikuliert. Dabei bewegt er sich weniger in abstrakt-theologischen Spekulationen, als dass er eine vollständige, klar benannte Nomenklatur der im Wesen der Dinge wirkenden Gestalten oder Qualitäten vorlegt. Er nimmt dabei auf astrologische Ordnungen Bezug und benennt sieben Gestalten der Natur, die am Planetensystem orientiert sind: Hier greift seine Qualitätenlehre in die Signaturenlehre ein. Der Qualitätenlehre zufolge gibt es sieben Qualitäten in der Welt, aus der sich alles zusammensetzt und die in unterschiedlicher Intensität in den Dingen wirken und je nach Stärke ihres Einflusses in einem Gegenstand dessen Gestalt bestimmen. Es sind vornemlich sieben Gestälte in der Natur, beydes in der ewigen und äusseren, dann die äussere gehen aus der ewigen. Die alten Weisen haben den sieben Planeten Namen gegeben, nach den sieben Gestalten der Natur, aber sie haben viel einanders damit verstanden, nicht nur allein die sieben Sternen, sondern die siebenerley Eigenschaften in der Gebärung aller Wesen. Es ist kein Ding im Wesen aller Wesen, es hat die sieben Eigenschaften in sich […].557 554 555 556 557

Ebd., S. 7. Ebd., S. 96. Ebd., S. 4. Ebd., S. 98.

Die Signaturenlehre Jacob Böhmes

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Daran anschließend gibt er eine Art Katalog der möglichen Signaturen, der Wirkweise der dahinter stehenden Gestalt, ihrer äußeren Erscheinung und ihrer Beschaffenheit. Den sieben Gestalten werden darüber hinaus jeweils Eigenschaften zugeschrieben, in denen sie sich für die unterschiedlichen Sinne zu erkennen geben. So heißt es etwa über Saturn: Ist die Saturnische Eigenschaft in einem Dinge mächtig und Primas, so ists in der Farbe schwarz, graulecht, hart und derbe, scharf, sauer oder gesalzen am Geschmack, bekommt einen langen magern Leib, an den Augen grau, sowol an der Blume dunckel, gar schlecht am Leibe, aber hart am Angriffe: Wiewol Saturni Eigenschaft selten an einem Dinge allein mächtig ist.558

Diese Gestalten bewirken nicht nur die äußere Erscheinung der natürlichen Gegenstände (etwa das harte Laub, das Böhme auf die Dominanz des Saturn zurückführt), sondern finden sich auch in den Namen wieder, die diese Dinge tragen und bedingen deren phonetische Gestalt. So gibt Böhme in seiner Schrift Aurora oder Morgenröthe im Aufgang eine ausführliche Beschreibung des Wortes ›Bahrmherzigkeit‹: Siehe, das Wort Barm ist nur auf deinen Lippen; und wenn du sprichst Barm, so machst du das Maul zu, und karrest hintennach; und das ist die herbe Qualität, die umschleust das Wort, das ist, sie figuriret zusammen das Wort, daß es harte wird oder schallet; und die bittere Qualität zerscheidet es. Das ist, wenn du sprichst Bar, so kirret der lezte Buchstabe R, und murret als ein zitternder Odem, und das thut die bittere Qualität, die ist zitternde. Nun ist aber das Wort Barm ein todt, unverständig Wort, das niemand verstehet: das bedeutet, daß die zwey Qualitäten Herbe und Bitter, ein hart, dunckel, kalt und bitter Wesen sind, die kein Licht in sich haben; darum kann man ihre Kraft ausserhalb des Lichtes nicht verstehen. Wenn man aber spricht Barmherz, so druckt man die andere Sylbe Herz aus der Tieffe des Leibes aus dem Herzen: denn der rechte Geist spricht das Wort Herz aus, der sich aus der Hitze des Herzens empöret [gebäret], in welchem das Licht ausgehet und quallet. Nun siehe, wann du sprichst Barm, so figuriren die zwey Qualitäten Herbe und Bitter, das Wort Barm gar langsam zusammen: denn es ist eine lange ohnmächtige Sylbe, von wegen der Qualitäten Schwachheit. Wenn du aber sprichst Herz, so fähret der Geist in dem Wort Herz geschwind wie ein Blitz heraus, und gibt des Wortes Unterschied und Verstand. Wenn du aber sprichst IG, so fängest du den Geist mitten in den andern zwey Qualitäten, daß er muß drinn bleiben und das Wort formiren.559

558 Ebd., S. 104. 559 Böhme, Jacob: Aurora, oder Morgenröthe im Aufgang, in: ders.: Sämtliche Schriften, Faksimile-Nachdruck der Ausgabe von 1730, begonnen v. August Faust, neu hrsg. v. WillErich Peuckert, Stuttgart 1955 ff., Bd. 1, S. 96 f.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

So erläutert Böhme in diesem Beispiel in aller Ausführlichkeit, wie die unterschiedlichen Qualitäten die phonetische Gestalt einzelner Silben prägen und dadurch den Namen der Sache formen, in der sie wirksam sind. Eine ausführliche Analyse dieser Vorgehensweise findet sich bei Andreas Gardt, der auch auf die augenscheinlichen Paradoxien dieser Hermeneutik verweist. So wird hier eine Natursprache angenommen, die Böhme jedoch aus Wörtern seiner deutschen Muttersprache eruiert, ohne freilich derselben eine besondere Rolle unter den natürlichen Sprachen zuzuweisen. Ebenso zeigt Gardt auch die offensichtliche Aporie dieser Vorgehensweise auf, da Böhme keine zuvor getroffenen Annahmen verifiziert, sondern aus dem vorgegebenen Material der lexikalischen Sprache die Argumente ableitet, die seine These von einer natursprachlich-metaphysischen Bedeutung jenseits der lexikalischen Semantik stützen.560 Aus dieser Signaturenkonzeption leitet sich schließlich auch Böhmes Erkenntnistheorie her. Obwohl Böhmes Erkenntnistheorie die philosophischen Grundkomponenten von Vernunft,561 Verstand und Imagination562 kennt, entwickelt er doch einen Ansatz ganz eigener Prägung, der weder in einem empiristischen oder sensualistischen noch in einem idealistischen Modell von Er560 Vgl.: Gardt, Andreas: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Böhme bis Leibniz, Berlin, New York 1994, S. 93 – 99. 561 Der Vernunft wird in Böhmes Konzept der niedrigste Rang zugewiesen, obwohl sie als ein menschliches Vermögen anerkannt wird. Die Vernunft, so schreibt Böhme in De Signatura Rerum, wurde durch Gott als »Amtmann der Weltseele« eingesetzt, »darin alle Dinge liegen«, um über die Dinge der Welt zu walten. Über diesen Amtmann hat er aber »ein Bilde seines Gleichen« geordnet, welches der Vernunft vormodelt, wie die Dinge beschaffen sind. Dieses Ebenbild Gottes ist für Böhme der Verstand. Mittels Verstand hat Gott den Menschen über den Amtmann gesetzt, was ihm erlaube, die Natur zu transmutieren. (Vgl. Böhme, De Signatura Rerum, S. 79/3 u. S. 86/29). 562 van Igen legt ausführlich die Bedeutung der Imagination in Böhmes erkenntnistheoretischer Lehre dar. Auf erkenntnistheoretischer Ebene stellt für Böhme die Imagination, die mit den sinnlichern Perzeptionen operiert, das höchste Erkenntnisvermögen dar. Wie van Ingen darlegt, umfasst der Begriff der Imagination bei Böhme einerseits die bei den Philosophen gebräuchlichen Termini der Einbildungskraft, Phantasie oder des bildhaft anschaulichen Vorstellens, zugleich erhält sie bei ihm aber eine ganz eigene Bedeutung, die über diese konventionalisierten Bedeutungen hinausgeht. So fügt sich das Konzept der Imagination in Böhmes Denken vom Ursprung ein, welches auch für die Natur- und Sprachtheorie die Grundlage bildet. Mit der Imagination als der Imagination Gottes beginnt der Weltprozess. Vor der Schöpfung der Welt war nur Gott, der bei Böhme als absoluter Wille gedacht wird. Nun ist es Merkmal des Willens, aus sich herauszugehen und sich selbst als Bild zu setzen, um sich so zu objektivieren. Dieses Setzen des Willens geschieht durch Imagination. Und Imagination wiederum ist nichts anderes als das Aussprechen des Schöpferworts, wodurch die Welt als Bild des Willens entsteht. So ist es die Ebenbildlichkeit Gottes, die als zentrales Moment dieses spezifisch mystischen Imaginationsbegriffs zu fassen ist. (Vgl. Ingen, Ferdinand van: Jacob Böhmes Begriff der Imagination, in: Daphnis 22 [1993], S. 515 – 530, hier S. 520).

Die Signaturenlehre Jacob Böhmes

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kenntnis verortet werden kann.563 Das entscheidende Merkmal dieser Erkenntnistheorie, worin sie sich sowohl von den empiristischen als auch von den idealistischen Ansätzen unterscheidet, besteht darin, dass die Ideen nicht durch die menschlichen Erkenntnisorgane hervorgebracht werden wie im Empirismus oder diesen bereits gegeben sind wie im Idealismus, sondern in die Gegenstände selbst projiziert werden, aus denen sie herausgelesen werden müssen. Die Ideen werden damit nicht durch die menschliche Geistestätigkeit entwickelt, sondern bereits vorgefunden, jedoch nicht im menschlichen Geist, sondern in der Außenwelt. Dieser Erkenntnistheorie gemäß ist die Signatur in Böhmes mystischer Lehre eine Art universelles Zeichensystem, das alle Bereiche der physisch wahrnehmbaren Welt erfasst und jegliches Wissen über das dahinter wirkende, geistige Wesen der Dinge codiert. Wie aber sind diese Signaturen zeichentheoretisch zu fassen? In der Forschung ist das Zeichenmodell der Signaturen mehrfach diskutiert und auf verschiedene Weise interpretiert worden. Harald Haferland wendet das Peircesche Zeichenmodell auf Böhmes Signaturenlehre an. Insofern ein Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen den inneren Gestalten und den äußeren Erscheinungen angenommen wird, handelt es sich, wie Haferland darlegt, der Peirceschen Terminologie gemäß um Indices. Die Gestalten haben demnach eine spezifische Wirkweise, die in den unterschiedlichen Medien je anders zum Ausdruck kommt. Diese Eigenschaft wird von den unterschiedlichen Sinnen zwar auf verschiedene Weise wahrgenommen, die verschiedenen Erscheinungsweisen lassen sich jedoch einander zuordnen – etwa die Herbe in Geruch und im Geschmack. Dadurch können an der Erscheinung des Gegenstands – seiner Signatur – die Gestalten abgelesen werden, die in ihm wirksam sind. Die Erscheinungsweise der Signaturen steht damit nicht in einem arbiträren Verhältnis zu den hinter ihnen wirkenden Gestalten, sondern ist der sinnliche Ausdruck ihrer Eigenschaften. Wie Bergengruen darlegt, beruht die Signatur auf einer »Oberflächen-Tiefenstruktur«, bei der die sinnlich wahrnehmbare Oberfläche der Gegenstände

563 So macht Bonheim deutlich, dass eine Einordnung der Böhmeschen Mystik in den Empirismus oder Sensualismus nicht haltbar ist. (Vgl.: Bonheim, Günther : Zeichendeutung und Natursprache. Ein Versuch über Jacob Böhme, Würzburg 1992, S. 24 f.). Zwar stellen auch in Jacob Böhmes Denken die sinnlich wahrnehmbaren Dinge den Ausgangspunkt aller Erkenntnis dar, jedoch in völlig anderer Weise, als dies bei den Empiristen der Fall war, da er zugleich von den – den sinnlichen Wahrnehmungen vorausgehenden – geistigen Ideen ausgeht. Während für die Empiristen allgemeine Ideen die Folge einer Abstraktionsleistung des menschlichen Verstandes bezüglich der ihm durch die Sinne gelieferten Wahrnehmungen der Naturdinge sind, Ideen als solche also erst sekundär entstehen, nimmt Böhme bereits gegebene Ideen an, die sich in den Dingen der Außenwelt sinnlich artikulieren.

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

auf die im verborgenen wirkenden Kräfte verweist.564 Diese Zeichenstruktur, so Bergengruen weiter, wird »durch den emanativen Übergang von den geistigen zu den materiellen Formen im Kosmos hergestellt.«565 Dies betrifft bei Böhme auch die Sprache selbst, die nicht als arbiträres Zeichensystem verstanden wird.566 Auch Andreas Gardt weist darauf hin, dass die standartsprachliche semantische Bedeutung der Wörter bei Böhme nur von sekundärer Relevanz ist. So führt die Phonie der Wörter nicht nur zu ihrer semantischen Bedeutung, sondern zugleich – indem sich in ihr die im Gegenstand wirkenden Qualitäten artikulieren – zu einer metaphysischen Erkenntnis über die Struktur des Seins.567 Da diese phonetische Komponente in das Ursache-Wirkungs-Modell der Signaturenlehre integriert wird und damit die sinnlich wahrnehmbare Komponente betonnt, spricht Haferland hier von »ikonisch verstärkten Indizes«568. Diese Beschreibung trifft das Phänomen jedoch nur unzureichend. Eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen einer Zeichengestalt und einem bezeichneten Gegenstand im Sinne eines ikonischen Verhältnisses kann es im Grunde nur bei Zeichen geben, die einen materiellen Gegenstand denotieren. Sie stehen damit in einem abbildhaften Verhältnis zur sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung des bezeichneten Gegenstands.569 So etwa Onomatopoetika oder die Umrisszeichnungen einiger Hieroglyphen.

564 Vgl. Bergengruen, Maximilian: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen), Hamburg 2007, S. 160. 565 Bergengruen, Nachfolge Christi, S. 161. 566 Vgl. Haferland, Mystische Theorie der Sprache, S. 100 f. So betont auch Haferland, dass in der Signaturenlehre keine arbiträren Zeichen vorkommen: »Die Signaturenlehre sammelt unterschiedliche Typen von Indizes, aber sie kennt kein symbolisches Zeichen.« (ebd., S. 101). Dies betrifft auch die Sprachzeichen: »Die sprachlichen Zeichen sind in Wahrheit keine symbolischen Zeichen. Sie sind Indizes, deren Charakter sich seit der von Gott verfügten babylonischen Sprachverwirrung verlor. Geht man in der Sprache den ikonisch verstärkten Indizes und dem, was sie anzeigen könnten, nach, so hat man die sprachliche Bedeutung, wie die Natursprache sie gab.« (ebd., S. 103). 567 Vgl. Gardt, Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung, S. 93 – 99. 568 So schreibt Haferland über Böhmes Methode der Textinterpretation: »Es sind ausgewählte Wörter, Namen, kurze Passagen aus der Bibel sowie Teile des ›Vater-Unser‹, die Böhme einer eingehenden Untersuchung unterwirft. Dabei mischt er phonetische Beschreibung mit semantischer Überblendung phonetisch ähnlicher Wörter oder Silben. Wo semantische Überblendung nicht nachhilft, erschließt er die natürliche Bedeutung, die Bedeutung in der Natursprache in der Regel über die Identifikation phonetischer mit natürlichen Eigenschaften oder Prozessen. Die Identifikation orientiert sich an einer wie auch immer verstandenen Ähnlichkeit der Eigenschaften und Prozesse. In diesem Sinne ließe sich von ikonisch verstärkten Indizes sprechen.« (Haferland, Mystische Theorie der Sprache, S. 117). 569 Vgl. dazu Art.: »Ikon« in Metzler Lexikon Sprache, in dem es über das Ikon heißt: »Von Ch. S. Peirce eingeführter Terminus für Zeichen, die ihren ›Gegenstand‹ mittels einer Über-

Die Signaturenlehre Jacob Böhmes

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Der Grundgedanke, auf dem die Signaturenlehre beruht, besteht aber darin, dass sich die Gestalten in unterschiedlichen Medien auf unterschiedliche Weise artikulieren.570 Zwischen diesen so entstehenden, verschiedenen Signaturen, die Ausdruck der gleichen Gestalt sind, können Ähnlichkeiten auftreten. Die Ähnlichkeit dieses Zeichensystems ist also auf sekundärer Ebene angesiedelt. Sie besteht nicht nur zwischen der Signatur und der sich in ihr artikulierenden Gestalt, deren Zeichen sie ist, sondern auch zwischen verschiedenen Signaturen, in denen die gleichen Gestalten wirken.571 Da im Wort für einen Gegenstand oder für eine Eigenschaft – im obigen Beispiel war es die Barmherzigkeit – die gleichen Gestalten wirksam werden, wie in dem Gegenstand oder der Eigenschaft selbst, kann, so die Schlussfolgerung, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Wort und dem Gegenstand festgestellt werden. Auf diese Art der Ähnlichkeitsrelation weist Dieter Mersch hin. Auch er beschäftigt sich mit Böhmes Signaturenlehre unter semiotischem Vorzeichen. Dabei wendet er die Unterscheidung zwischen Symbol und Zeichen an. Während sich Zeichen für Mersch durch Konventionalität und Arbitrarität auszeichnen und stets diskursiv verwendet werden, beruhe das Symbol auf sinnlicher Anschauung. Entsprechend läge mit dem Symbol eine ästhetisch-phänomenologische Semiotik vor. Indem die Signaturenlehre ihren Ausgang beim Sichtbaren nimmt, das auf etwas Verborgenes verweist, ordnet Mersch sie der symbolischen Semiotik zu. Diese aisthetische Bedeutungsweise der Signaturen deckt sich für Mersch mit der Bedeutungsgenerierung von Bildlichkeit im Allgemeinen. Dabei betont er die mediale Struktur des Bildes, die es von Sprachzeichen unterscheidet: Bedeutung würde im Bild durch die Verbindung der Figuren untereinander generiert.572 Böhmes Ausführungen über die Wortsprache bleiben bei einstimmung in wahrnehmbaren Merkmalen denotieren.« (Metzler Lexikon Sprache, S. 268). 570 So sieht auch Günther Bonheim die »Pointe« des Böhmeschen Signaturenmodells darin, »daß beide Gestaltbewegungen eben nicht zwei verschiedene, sondern ein und dieselbe sind, daß diese eine sich aber in zwei verschiedenen Medien auf zwei sehr unterschiedliche Weisen realisiert. Was im Bereich der äußerlichen Materie das Wachstum eines Baumes, Strauchs, Grases etc. bewirkt, das manifestiert sich im Mund-Rachen-Raum des Menschen in der Erzeugung einer genau festgelegten Abfolge von Lauten.« (Bonheim, Denken in Signaturen, S. 196). Und weiter stellt er fest: »Die Kongruenz von Name und Ding ist dahin, nur, an deren Stelle ist deswegen nicht gleich die völlige Beliebigkeit des sprachlichen Zeichens getreten.« (Vgl. Bonheim, Günther : Denken in Signaturen. Zum Verhältnis von Name und Ding bei Jacob Böhme und Walter Benjamin, in: »Was nie geschrieben wurde, lesen«, hrsg. v. Lorenz Jäger u. Thomas Regehly, Bielefeld 1992, S. 189 – 207, hier S. 196 f.). 571 Zur Beschreibung der Ähnlichkeit zwischen der Signatur, der Zeichengestalt, und der sich in ihr ausdrückenden Kraft, die gerade nicht auf einer visuellen Ebene angesiedelt ist, verwendet Bergengruen den Benjaminschen Terminus der »unsinnlich[en] Ähnlichkeit«. (Vgl. Bergengruen, Nachfolge Christi, S. 166). 572 Vgl. Mersch, Dieter : Die Sprache der Dinge. Semiotik der Signatur bei Paracelsus und Jakob Böhme, in: Signatur und Phantastik in den schönen Künsten und in den Kulturwissen-

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Der bildhafte Charakter der kabbalistischen und naturmystischen Sprachtheorie

Mersch allerdings unberücksichtigt und dementsprechend entgeht ihm die Ambivalenz zwischen diskursiv-zeichenhafter und symbolischer Sprachkonzeption bei Böhme. Festzuhalten bleibt die Doppelstruktur der Böhmeschen Zeichenkonzeption, in der sowohl die sinnlich wahrnehmbare Zeichengestalt bedeutungstragend ist als auch der durch sie codierte geistig-semantische Gehalt. In diesem Sinne rückt sie in die Nähe der Allegorie- und Symbolkonzeptionen, die ebenfalls epistemische Informationen mittels Zeichenkörpern codieren, deren sinnlich wahrnehmbare Gestalt für das Zeichen relevant ist. Anders als die Signaturen sind Allegorie und Symbol jedoch keine indexikalischen Zeichen. Die Romantiker werden sich diese Nähe der Signaturen zur symbolischallegorischen Zeichenkonzeption zu Nutze machen, da sie es ihnen erlaubt, die Gegenstände der Natur als Zeichen zu begreifen und zugleich erkenntnistheoretische Fragen nach Weltdeutung mit dem poetologischen Symbol- und Allegoriediskurs zu amalgamieren.

schaften der frühen Neuzeit, hrsg. v. Martin Zenck, Tim Becker u. Raphael Woebs, München 2008, S. 47 – 62.

Teil B: Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik

Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik

In einem ersten Hauptteil ist das gesamte Spektrum der im 18. Jahrhundert relevanten sprach- und bildtheoretischen Diskurse untersucht und systematisiert worden. Die Frühromantiker rezipierten diese Diskurse und stellten das Nachdenken über Bild und Sprache ins Zentrum ihrer kunsttheoretisch-poetologischen Reflexionen. Auch in ihrem Interesse an kunsttheoretischen Fragestellungen spiegeln sich zeitgeschichtliche Tendenzen. So trafen die Frühromantiker in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts in Jena auf ein Klima, das in höchstem Maße von kunsttheoretischen Fragen geprägt war. Schiller, der in Jena lehrte, verfasste zu dieser Zeit seine Ästhetischen Briefe, Goethe wirkte im benachbarten Weimar und schuf mit seinem Wilhelm Meister einen Roman, der die dichtungstheoretischen Reflexionen und das dichterische Schaffen der Frühromantiker nachhaltig beeinflusste. Friedrich Schlegel und Novalis verfassten bedeutende Wilhelm-Meister-Rezensionen und Tiecks und Wackenroders Künstlerroman Franz Sternbalds Wanderungen sind dem Goetheschen Vorbild nachempfunden. Gleichzeitig ist das ausgehende 18. Jahrhundert eine Phase tiefgreifender politischer und gesellschaftlicher Veränderungen. Angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung, dem Zerfall der altdeutschen Ordnung in Folge der Revolutionskriege und dem Verlust universeller Deutungsmuster suchen die Romantiker nach einem neuen System umfassender Weltdeutung. Als ein solches versuchen sie die Kunst zu etablieren.573 Gelingen kann ein solches Projekt jedoch nur dann, wenn die Kunst, die Poesie selbst eine Bedeutungserweiterung erfährt. Zu diesem Zweck bemühen sich die Romantiker, bei möglichst vielen unterschiedlichen Disziplinen Anleihen zu nehmen und deren Methoden, Gegenstände und Erklärungsmuster in ihre Poetik zu inkorporieren. 573 Vgl. zum Versuch der Frühromantiker, den tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen ein poetologisch geprägtes, einheitliches Weltbild entgegenzusetzen: Petersdorff, Dirk von: Mysterienrede. Zum Selbstverständnis romantischer Intellektueller, Tübingen 1996, bes. S. 3 – 11.

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Sprach- und Bildtheorie der deutschen Frühromantik

Mit der Enzyklopädistik, die während der Aufklärung mit den Projekten Diderots und d’Almberts einen Höhepunkt erfahren hat, liegt den Romantikern ein Modell umfassender Wissensorganisation und -kombination vor, das sie für ihre Poetologie fruchtbar zu machen verstehen. Die Poetik wird zum herrschenden Paradigma, dem alle weiteren Wissensgebiete eingegliedert werden. Wie aber lässt sich diese recht vage und abstrakte Vorstellung in eine konkrete Poetik umsetzen? Dies geschieht – wie in den nachfolgenden Kapiteln gezeigt werden soll – mit Hilfe einer spezifischen Sprachtheorie. Mit der Sprache ist das Grundmoment der Poesie erfasst. Zugleich ist Sprache auch das Medium, in dem jegliche Wissenschaft ihre Ergebnisse präsentiert und kommuniziert. An diesem Modell von Sprache setzen die Romantiker an, um es systematisch zu erweitern. Die Poetiken mit ihren Betrachtungen der Eigenheiten poetisch-tropischer Redeweise legen dabei bereits Konzeptionen vor, die poetische Sprache näher zu differenzieren und zu bestimmen. Bei einem zentralen Aspekt poetischen Sprechens knüpfen die Romantiker schließlich an: dem der Bildlichkeit tropisch-metaphorischer Rede. Das Bild wiederum ist eine Konzeption, die sich in unterschiedlichen anderen Diskursen wiederfindet und ihnen damit als Bindeglied zwischen den jeweiligen Disziplinen und ihren eigenen poetologischphilosophischen Theorien dienen kann. Dieses sprach-bildtheoretische Denken der Frühromantiker soll im Folgenden anhand der Schriften Wackenroders und der Protagonisten des Jenaer Kreises – Friedrich und August Wilhelm Schlegel sowie Novalis – untersucht und in seiner Bedeutung für die frühromantische Theoriebildung beschrieben werden.

I.

Gemälde und Gedichte – Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

1.

Das neue Interesse am Bildlichen – Wilhelm Heinrich Wackenroder

Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders gelten in der Forschung aufgrund ihres frühen Erscheinungsdatums als erstes Dokument der Romantik.574 Der in Gemeinschaftsarbeit von den beiden Freunden Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder verfasste Text575 formuliert bereits einige grundlegende Positionen eines romantischen kunsttheoretischen Programms. Dabei ist die Kunsttheorie der beiden Freunde nicht ohne die vielfältigen kunsthistorischen Einflüsse zu verstehen, die wesentliche Grundgedanken bereits formulierten und dem Gesamtprogramm damit vorarbeiteten. Wackenroders Beschäftigung mit der – vor allem katholischen – Kunst Süddeutschlands, von der Briefe und Reisebeschreibungen zeugen, setzte bereits während seines Erlanger Studienaufenthalts ein. In diese Zeit fallen auch seine ersten Berührungen mit dem katholischen Ritus, dem die Grundhaltung des kunstliebenden Klosterbruders nachempfunden ist. Während 574 Vgl. z. B. Martin Bollacher : »Daß Wackenroder durch seine ›nicht im Ton der heutigen Welt‹ (HE, S. 5) abgefaßten Aufsätze über Malerei und Musik zum Begründer, zumindest aber zu einem Anreger der romantischen Bewegung wurde, verbindet als eine gemeinsame Auffassung die neuere germanistische Literaturgeschichtsschreibung[.]« (Bollacher, Martin: Wackenroder und die Kunstauffassung der frühen Romantik, Darmstadt 1983, S. 66). Eine differenzierte Darstellung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Wackenroders frühromantischem Ansatz und jenem des Schlegel-Kreises findet sich in: Kemper, Dirk: Sprache der Dichtung. Wilhelm Heinrich Wackenroder im Kontext der Spätaufklärung, Stuttgart 1993, S. 269 – 280. Kemper hebt besonders die unterschiedliche Haltung gegenüber der Aufklärung hervor. 575 Zu der seit ihrer Jugendtage in Berlin währenden Freundschaft zwischen Tieck und Wackenroder vgl. Littlejohns, Richard: Vor dem Studium. Der Briefwechsel mit Tieck, in: ders.: Wackenroder-Studien. Gesammelte Aufsätze zur Biographie und Rezeption des Romantikers, Frankfurt am Main 1987, S. 9 – 18 sowie: Littlejohns, Richard: Mit Tieck in Erlangen. Eine neue Dokumentation, in: ders.: Wackenroder-Studien, gesammelte Aufsätze zur Biographie und Rezeption des Romantikers, Frankfurt am Main 1987, S. 19 – 33.

214

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

seines darauffolgenden Göttinger Studienaufenthalts zwischen Oktober 1793 und September 1794, wo er bei Johann Dominicus Fiorillo Kunstgeschichte studierte, konnte er seine aus Süddeutschland mitgebrachten Beobachtungen mit der aktuellen Kunstliteratur in Beziehung setzen und an dieser schärfen.576 Es ist sein Göttinger Lehrer Fiorillo, der sein Interesse an Gegenständen der bildenden Kunst beförderte und dem die Forschung einen maßgeblichen Einfluss auf die Herzensergießungen zuschreibt.577 Zuvor, in der Berliner Zeit, waren es schon Karl Philipp Moritzens kunsthistorische Vorlesungen gewesen, die die Freunde Tieck und Wackenroder besuchten und über die sie sich eingehend austauschten.578 Bei allen Differenzen, die sich zwischen den Schriften Wackenroders und dem – sich zunächst vor allem in der Zeitschrift des Athenaeums artikulierenden – frühromantischen Programm des Jenaer Kreises auftun, liegen die Gemeinsamkeiten, die beide Positionen unter den Epochenbegriff der Romantik zusammenschließen lässt, in der Frontstellung zum einseitigen Rationalismusdiskurs der Aufklärung und – auf kunsthistorischer Ebene – in der Ablehnung des einseitigen Primats der Antike. Der Gegenentwurf zu dem vernunftfokussierten Denken der Aufklärung wird in der Kunst gesehen. Be576 Vgl.Vietta, Littlejohns: Einleitung, in: Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 19 – 27 sowie ausführlich zu den Einflüssen der Spätaufklärung auf Wackenroders Schaffen: Kemper, Sprache und Dichtung, Kapitel I: Die Spätaufklärung als Entstehungsund Bezugsrahmen, S. 1 – 156. 577 So hat Wackenroder nachweislich erst in Göttingen ab dem Frühsommer 1794 intensive kunsthistorische Studien betrieben. Dies belegt einerseits das Ausleihregister der Universität Göttingen, aber auch Dokumente Fiorillos, wonach Wackenroder sich viel in dessen Wohnung aufhielt und vermutlich aus dessen Übersetzungen der Viten des Vasari transkribierte. (Vgl. hierzu ausführlich Vietta, Littlejohns: Kommentar, in: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 91 f., u. S. 279 – 300). Darüber gilt auch der Einfluss Karl Philipp Morizens als sicher, dessen Berliner Vorlesungen die beiden Freunde Tieck und Wackenroder gemeinsam besuchten. (Vgl. Vietta, Littlejohns: Kommentar, in: Wackenroder, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, S. 294 – 297 sowie ausführlicher : Kemper, Sprache der Dichtung, S. 51 – 63). Zur Adaption des Anton Reiser in den Herzensergießungen vgl. Hollmer, Heide: Das Leiden an der Kunst. Ein Moritz-Thema und seine Folgen für die »Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders«, in: Karl Philipp Moritz, Text und Kritik 118/119, 1993, S. 107 – 117, die sich aber in erster Linie auf die BerglingerErzählung bezieht. Wie weit andere Einflüsse, etwa Wilhelm Heinses oder Raphael Mengs’ reichen, sind in der Forschung umstritten. Vgl. hierzu Vietta, Littlejohns: Kommentar, S. 296 f. oder Vietta, Silvio: Raffael-Rezeption in der literarischen Frühromantik: Wilhelm Heinrich Wackenroder und sein akademischer Lehrer Johann Dominicus Fiorillo, in: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik, hrsg. v. Klaus-Detlef Müller u. a., Tübingen 1988, S. 221 – 241, hier S. 223. Vietta legt in diesem Aufsatz eine ausführliche Darstellung der Bedeutung Fiorillos für Wackenroders Kunstverständnis vor. 578 Vgl. hierzu Vietta, Littlejohns: Kommentar, in: Wackenroder, HKA, Bd.1, S. 294 – 297. Ausführlich legt Dirk Kemper die Bedeutung Karl Philipp Moritzens für Wackenroders Denken dar. (Kemper, Sprache der Dichtung, S. 51 – 63). Vietta ist mit seiner Einschätzung des Einflusses von Moritz auf Wackenroder allerdings deutlich vorsichtiger als Kemper.

Das neue Interesse am Bildlichen – Wilhelm Heinrich Wackenroder

215

schäftigen sich die Schriften des Jenaer Kreises in erster Linie mit Literatur, so bezieht sich Wackenroder auf Musik und Malerei.579 Es ist ein für das Thema dieser Arbeit bemerkenswerter Befund, dass es ausgerechnet ein Text zur bildenden Kunst ist, der die romantische Bewegung einläutet. In welcher Weise Wackenroder im Bild das Potential zur Überwindung einseitig rationalistischer Diskurse sieht, soll im Folgenden eingehend beleuchtet werden.

1.1

Begriffliche Sprache der Wissenschaft versus bildliche Sprache der Kunst

Beide Textcorpora, die Herzensergießungen ebenso wie die Phantasien stellen ein halbfiktionales Genre dar, das unterschiedliche Gattungen mit Hilfe der fiktionalen Autorfigur des Klosterbruders verklammert.580 Hinsichtlich der Texte, die die bildende Kunst zum Gegenstand haben, vereinen sie Künstlerviten, Gemäldebeschreibungen, Bildgedichte sowie theoretische Traktate über die Malerei. Dem meist nur implizit thematisierten Verhältnis von Sprache und Bild kann man auf vielfältigen Wegen nachspüren. Einen guten Einstieg in diese Thematik bietet aber die in den Herzensergießungen enthaltene, theoretische Abhandlung Von zwei wunderbaren Sprachen und deren geheimnisvoller Kraft.581 In keinem anderen Text Wackenroders wird das Verhältnis von Wortsprache und bildkünstlerischer Darstellung so explizit und so eingehend behandelt. Die Wortsprache, der er implizit einen göttlichen Ursprung unterstellt,582 579 Eine ausführliche Studie zur Beurteilung der Musik in Wackenroders Schriften hat z. B. Alexandra Kertz-Welzel mit ihrer Arbeit: Die Transzendenz der Gefühle. Beziehungen zwischen Musik und Gefühl bei Wackenroder/Tieck und die Musikästhetik der Romantik, St. Ingbert 2001 vorgelegt. Rose Kahnt betrachtet die Bedeutung der Musik in Wackenroders Schriften im Vergleich zur bildenden Kunst. Letzterer wird in ihrer Studie jedoch der weitaus größere Raum eingeräumt. (Vgl. Kahnt, Rose: Die unterschiedliche Bedeutung der bildenden Kunst und der Musik für W. H. Wackenroder, Marburg/Lahn 1968). 580 Zur Problematik der Klassifizierung der Figur des Klosterbruders nach den geläufigen Modellen der Erzählinstanzen vgl. Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 436 f. 581 Diesem Text, der als theoretisches Kernstück der Herzensergießungen betrachtet werden kann, wird in der Forschung große Aufmerksamkeit geschenkt. Vgl. z. B. die eingehenden Analysen Rita Köhlers (Köhler, Poetischer Text als Kunstbegriff bei W. H. Wackenroder, S. 66 – 80) oder Dirk Kempers (Kemper, Sprache der Dichtung, S. 157 – 190). 582 Vgl. hierzu auch Dirk Kemper : Sprache der Dichtung, S. 157 – 163. Kemper skizziert die aus dem Kap. I.1 des ersten Teils dieser Arbeit bereits bekannte sprachursprungstheoretische Debatte des 18. Jahrhunderts, stellt zugleich aber fest, dass Wackenroder sich keiner der Argumentationen anschließt, sondern lapidar auf das Buch Genesis und seinen Bericht von der adamitischen Sprachentstehung verweist. Meines Erachtens sollte Wackenroders Anspielung auf die Sprachursprungsdebatte nicht zu hoch eingeschätzt werden. Direkte Bezüge zu den sprachtheoretisch-philosophischen Konzeptionen dieser Debatte finden sich bei Wackenroder nicht. Für Wackenroder spielt die eigentliche Wortsprache als solche – das

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versteht Wackenroder als ein Instrument, mit dem die Menschen die Gegenstände der Außenwelt bezeichnen und ihre geistigen Vorstellungen ausdrücken. An ihre Grenzen stößt die Sprache jedoch, sobald im Bereich des Religiösen semiotische Repräsentationen gesucht werden, die geistige Vorstellungen aufrufen sollen. Hier bahnt sich bereits eine Sprachkrise an, die gut hundert Jahre später in Hofmannsthals Chandos-Brief in deutlich radikalisierter Weise zu einem Grundproblem der Moderne werden wird. Bei Wackenroder bleibt die Sprachkrise auf den Bereich des Numinosen beschränkt. Darüber heißt es: Nur das Unsichtbare, das über uns schwebt, ziehen Worte nicht in unser Gemüth herab. Die irdischen Dinge haben wir in unsrer Hand, wenn wir ihre Namen aussprechen; – aber wenn wir die Allgüte Gottes oder die Tugend der Heiligen nennen hören, welches doch Gegenstände sind, die unser ganzes Wesen ergreifen sollen, so wird allein unser Ohr mit leeren Schallen gefüllt, und unser Geist nicht, wie es sollte, erhoben.583

Nachdem er diese Defizite der diskursiven Wortsprache herausgestellt hat, benennt Wackenroder zwei andere ›Sprachen‹, die es dem Menschen erlauben, die göttlichen Dinge zu verstehen und darzustellen. Dies geschieht aber nicht allein durch das Erkenntnisorgan des Verstandes, an das die diskursive Wortsprache gebunden ist. Es handelt sich stattdessen um Sprachen, die den Menschen als Ganzen berühren, der hier als psycho-somatische Einheit erscheint: Die Lehren der Weisen setzen nur unser Gehirn, nur die eine Hälfte unseres Selbst, in Bewegung; aber die zwey wunderbaren Sprachen, deren Kraft ich hier verkündige, rühren unsre Sinne sowohl als unsern Geist; oder vielmehr scheinen dabey […] alle Theile unsers (uns unbegreiflichen) Wesens zu einem einzigen, neuen Organ zusammenzuschmelzen, welches die himmlischen Wunder, auf diesem zwiefachen Wege, faßt und begreift.584

In diesen Ausführungen kommt deutlich Wackenroders aufklärungskritisches Denken zum Tragen. Dem einseitigen Verstandesbezug wird die Emotionalität als gleichwertige erkenntnistheoretische Größe entgegengesetzt.585 Gedanken zeigt sich auch an deren knapper Behandlung im oben zitierten Text – eine untergeordnete Rolle. Die Konstatierung ihrer Grenzen hinsichtlich der Benennbarkeit des Göttlichen, die er ihrer Vernunftgebundenheit zuschreibt, genügt ihm, um seine eigentliche Argumentation von einem anderen, dem Transzendenten angemesseneren Repräsentationsmedium zu entfalten. 583 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 97. 584 Ebd., S. 99. 585 Vgl. hierzu auch Dirk Kemper, der bezüglich der Herzensergießungen feststellt: »In den Herzensergießungen fungieren Empfindung und Gefühl im Sinne der Baumgartenschen Ästhetik als eigenständiges Erkenntnisvermögen, das dem des Verstandes selbständig gegenübersteht. So wie dem Verstand die der Welt unterlegte logische Struktur als Erkenntnisobjekt zugewiesen wird, erweist sich die Empfindung unter anderem in der Kunstrezeption als das spezifische und dem Verstande überlegene Organ.« (Kemper : Sprache der Dichtung, S. 132). Kemper verortet Wackenroders Denken in der Empfindsamkeit und arbeitet Wackenroders verändertes Verständnis der Empfindung in seinen frühen Briefen

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und Empfindungen sollen gleichermaßen in den Verstehensprozess einbezogen werden und durch ihre Vereinigung ein neues, ganzheitliches Erkenntnisorgan bilden. Es sind die Natur und die Kunst, die Wackenroder als diese beiden Sprachen vorstellt. Obwohl er sie als zwei Sprachen von ganz verschiedener Art beschreibt, sind beide durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten verbunden. Bei beiden handelt es sich um Sprachen, die einem exklusiven Benutzerkreis vorbehalten sind. Spricht die Sprache der Natur allein Gott,586 so beherrschen die Sprache der Kunst nur »wenige Auserwählte unter den Menschen«587. Beide nehmen »dunkle und geheime Wege« zum Menschen und die Wirkweise beider wird von Wackenroder mit ganz ähnlichen Worten beschrieben. So werden sie als geeignetes Mittel sowohl geistlicher Meditationen als auch theologischer Betrachtungen vorgestellt: Sie dienen zur Reinigung der Gesinnung und geben ein besseres Verständnis von den göttlichen und heiligen Dingen. Darin unterscheiden sie sich von der »Sprache der Worte« und den »Systeme[n] der Moral und geistliche[n] Betrachtungen«588. Werden diese Wirkungen auch präzise benannt, so werden die Wirkmechanismen doch lediglich in poetisch schilderndem Ton beschrieben. Bezüglich der Natur versammelt Wackenroder die geläufigen Topoi einer idyllischen Landschaftsbeschreibung: »Das Säuseln in den Wipfeln des Waldes, und das Rollen des Donners, haben mir geheimnisvolle Dinge von ihm [Gott, Y.A.] erzählet, die ich in Worten nicht aufsetzen kann. Ein schönes Thal, von abenteuerlichen Felsengestalten umschlossen, oder ein glatter Fluß, worin gebeugte Bäume sich spiegeln, oder eine heitere grüne Wiese von dem blauen Himmel beschienen.«589 Die jedem Objekt beigegebenen Adjektive (zusammen mit einer Vielzahl von rhetorischen Figuren) verleihen dem Abschnitt nicht nur die Qualität eines literarischen Textes, sondern verweisen auch auf die Empfindungen, die sich bei der Naturbetrachtung einstellen. Im nächsten Abschnitt findet sich diese Beobachtung noch einmal bestätigt. Hier macht Wackenroder erneut deutlich, dass

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an Tieck und den späteren Schriften der Herzensergießungen heraus, wobei er eine Verschiebung von einem individuellen Verständnis der Empfindung hin zur Verwendung des Begriffs als ästhetischen Terminus beobachtet. Hier rekurriert Wackenroder auf das bereits im Mittelalter etablierte Verständnis der Dinge als Zeichen, derer sich Gott in seiner göttlichen Sprache bedient. Kemper rekonstruiert ausführlich den Kontext dieses Topos der Natur als Sprache Gottes – angefangen von biblischen Bezügen, über Augustinus und dessen Konzept von den beiden Büchern Gottes (der Bibel und der Schöpfung) bis hin zu zeitgenössischen Ausformulierungen dieser Theorie bei Herder, Hamann und anderen. Ebenso verweist er auf die im 18. Jahrhundert verbreiteten, gegenläufigen naturphilosophischen und naturwissenschaftlichen Lehren. (Vgl. Kemper, Sprache der Dichtung, S. 172 – 181). Wackenroder, Herzensergießungen, HKA, Bd. 1, S. 97. Ebd., Bd. 1, S. 99. Ebd., Bd. 1, S. 97 f.

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der Mensch nicht über den Verstand und damit nicht über die diskursive Wortsprache Zugang zu den Gegenständen der Natur findet: Wir wissen nicht, was ein Baum ist; nicht, was eine Wiese, nicht, was ein Felsen ist, wir können nicht in unserer Sprache mit ihnen reden, wir verstehen nur uns untereinander. Und dennoch hat der Schöpfer in das Menschenherz eine solche wunderbare Sympathie zu diesen Dingen gelegt, daß sie demselben auf unbekannten Wegen Gefühle, oder Gesinnungen, oder wie man es nennen mag, zuführen, welche wir nie durch die abgemessensten Worte erlangen.590

Der Verweis auf die zwischenmenschliche Kommunikation macht deutlich, dass es Wackenroder nicht um ein verstehen der Dinge, sondern ein Einvernehmen mit den Dingen geht. Die Wortsprache ist allein Kommunikationsmedium, dessen sich die Menschen zur Verständigung untereinander bedienen. Sie eröffnet jedoch keinen Zugang zu den Dingen der Natur. Insofern sind sie dem Verstand nicht zugänglich. Den Gefühlen aber erschließen sie sich. Mit der Vorstellung von einer Sympathie des Menschen mit den Dingen hat Wackenroder einen mystischen Topos aufgegriffen. Noch reduzierter führt er sein Beispiel zur Kunst aus. Ohne auf die Besonderheiten der bildkünstlerischen Darstellung einzugehen, gibt er in einem einzigen Satz die dargestellte Szene eines Gemäldes des Heiligen Sebastian wieder : Ich denke unter andern noch mit Inbrunst an ein über alles herrlich gemahltes Bild unsers heiligen Sebastian, wie er nackt an einen Baum gebunden steht, ein Engel ihm die Pfeile aus der Brust zieht, und ein anderer Engel vom Himmel einen Blumenkranz für sein Haupt bringt.591

Vergleicht man diese Beschreibung mit der Naturschilderung, so fällt der prosaische Stil auf, der im Hinblick auf die im Bild dargestellte Handlung gänzlich auf wertende Adjektive verzichtet. Bemerkenswert ist auch der Schluss des Textes – wieder führt Wackenroder dem Leser erst vermittels einer poetischen Schilderung anschaulich vor Augen, was er sodann in abstrakten Begriffen abschließend feststellt.592 Er lässt seinen Klosterbruder von der Kontemplation über einem Gemälde des Gekreuzigten ins Freie treten, die ihn umgebende Landschaft betrachten und sich sodann 590 Ebd., Bd. 1, S. 98. Als Objekte der Wissenserkenntnis erscheinen die Gegenstände ohne adjektivische Eigenschaftsbestimmung, da diese allein für die Emotionen des Menschen, nicht für die Verstandeserkenntnis von Belang sind. 591 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 99. 592 Auf den Wechsel zwischen poetischem und prosaisch-essayistischem Stil, der den gesamten Abschnitt »Von zwey wunderbaren Sprachen« durchzieht, verweist auch Rita Köhler, die den Text einer akribischen stilistischen Analyse unterzieht. Vgl. Rita Köhler : Poetischer Text und Kunstbegriff bei W.H. Wackenroder, Frankfurt am Main u. a. 1990, bes. S. 66 – 80.

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wieder zurück in die Klostermauern zu dem Gemälde begeben. Wieder bestätigt sich die oben gemachte Beobachtung: das Gemälde wird knapp durch sein dargestelltes Sujet beschrieben – es ist ein Gemälde »von Christo am Kreuze« – die Landschaft hingegen wird typisierend durch idealisierende Adjektive umrissen – es wird ein Panorama aus Bergen, Gewässer und Bäumen unter einem blauen Himmel entworfen. Die Wirkung beider sinnlich-visueller Erlebnisqualitäten auf den Betrachter beschreibt Wackenroder mit nahezu identischen Formulierungen. Nicht ohne Pathos heißt es: »so sehe ich eine eigene Welt Gottes vor mir hervortreten, und fühle auf eigene Weise große Dinge in meinem Inneren sich erheben.«593 Lässt er Kunst und Natur zunächst exemplarisch in Wechselwirkung zueinander treten und unterzieht sie einem Vergleich, so interpretiert er diesen im folgenden Abschnitt auf allgemein-abstrakter Reflexionsebene: Die Kunst stellet uns die höchste menschliche Vollendung dar. Die Natur, soviel davon ein sterbliches Auge sieht, gleichet abgebrochenen Orakelsprüchen aus dem Munde der Gottheit. Ist es aber erlaubt, also von dergleichen Dingen zu reden, so möchte man vielleicht sagen, daß Gott wohl die ganze Natur oder die ganze Welt auf ähnliche Art, wie wir ein Kunstwerk, ansehen möge.594

Hier gelingt es Wackenroder, die beiden eingangs vorgestellten »wunderbaren Sprachen« zueinander in Beziehung zu setzen. Die Kunst scheint dabei die Leitfigur zu sein, der gemäß die Natur, als die Sprache Gottes, ebenso als Kunstwerk interpretiert wird. Kunst und Natur eignen sich als alternative semiotische Systeme, insofern sie beide auf einem Schöpfungsakt beruhen – so wie es als höchste Leistung des Menschen angesehen wird, ein Kunstwerk zu schaffen, so ist die Natur die göttliche Schöpfung. Wackenroder entwirft hier – so könnte man sagen – ein Bild vom deus pictor. Auch in einem anderen theoretischen Kapitel der Herzensergießungen – dem Abschnitt Einige Worte über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe in der Kunst – bespricht Wackenroder die Kontingenz menschlichen Sprechens angesichts des Göttlichen, das er einer babylonischen Sprachverwirrung gleich beschreibt: »Auf mancherley Weise hört Er die Stimmen der Menschen von den himmlischen Dingen durcheinander reden, und weiß daß alle, – alle, wär’ es auch wider ihr Wissen und Willen, – dennoch Ihn, den Unnennbaren, meynen.«595Diesmal bildet er eine Analogie zwischen dem Sprachproblem und den unterschiedlichen Stilen in den bildenden Künsten: 593 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 99. Über die neuerliche Gemäldebetrachtung heißt es »so sehe ich wiederum eine andre ganz eigene Welt Gottes vor mir hervortreten, und fühle auf andre, eigene Weise sich große Dinge in meinem Innern erheben.« (ebd., S. 99). 594 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 99 f. 595 Ebd., S. 86.

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Kunst ist die Blume menschlicher Empfindungen zu nennen. In ewig wechselnder Gestalt erhebt sie sich unter den mannigfaltigen Zonen der Erde zum Himmel empor, und dem allgemeinen Vater, der den Erdball mit allem was daran ist, in Seiner Hand hält, duftet auch von dieser Saat nur ein vereinigter Wohlgeruch.596

Diese mit der Blumenmetapher umschriebene Gleichwertigkeit jeglicher künstlerischer Ausdrucksformen richtet sich gegen die durch Winckelmann propagierte einseitige Antikenverehrung, die das Schaffen aller anderen Epochen in den Schatten der Antike treten lässt und geringschätzt. Explizit wird Wackenroder einige Abschnitte später in seiner rhetorischen Frage: »Warum verdammt ihr den Indianer nicht, daß er indianisch, und nicht unsre Sprache redet? – Und doch wollt ihr das Mittelalter verdammen, daß es nicht solche Tempel baute, wie Griechenland?–«597 Darauf folgt ein emphatischer Aufruf zur Toleranz in den Künsten, der versucht, den auf die Vernunft bezogenen Toleranzgedanken der Aufklärung auf die Empfindungen als dem der Kunst angemessenen Erkenntnisorgan zu übertragen: O, so ahndet euch doch in die fremden Seelen hinein, und merket, daß ihr mit euren verkannten Brüdern die Geistesgaben aus derselben Hand empfangen habt! […] Und wenn ihr euch nicht in alle fremde Wesen hineinzufühlen, und durch ihr Gemüt hindurch ihre Werke zu empfinden vermöget; so versuchet wenigstens, durch die Schlußketten des Verstandes mittelbar an diese Überzeugung heranzureichen.–598

Begründet wird die Gleichwertigkeit allen künstlerischen Schaffens mit dessen göttlichem Ursprung. Dass die Schlussfolgerungen des Verstandes unmittelbar einsichtig sind und – anders als die Empfindungen – allgemein geteilt werden, führt Wackenroder auf die Abstraktheit der Verstandesbegriffe zurück. Der Verstand folgt Gesetzmäßigkeiten, die – da abstrakt – überall die gleichen sind. Gleiches hält er für das »Kunstgefühl« fest, welches jedoch in sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen ausgedrückt wird und damit notwendig in vielfältigen Formen erscheint:599 Das Einmaleins der Vernunft folgt unter allen Nationen der Erde denselben Gesetzen, und wird nur hier auf ein unendlich größeres, dort auf ein sehr geringes Feld von Gegenständen angewandt. – Auf ähnliche Weise ist das Kunstgefühl nur ein und derselbe himmlische Lichtstrahl, welcher aber, durch das mannigfach-geschliffene Glas

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Ebd., S. 87. Ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Die hier ausgedrückte Überzeugung entspricht Fichtes Kunstverständnis, wie er es in Vom Geist und Buchstab in der Philosophie zum Ausdruck bringt. Die Kunst basiert auf einem allen Menschen gemeinsamen, gleichen Gefühl, welches sich im konkreten Kunstwerk in unterschiedlichen, individuellen Formen artikuliert.

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der Sinnlichkeit unter verschiedenen Zonen sich in tausenderley verschiedenen Farben bricht.600

Wieder bedient sich Wackenroder ausschließlich metaphorischer Sprache, um die Wirkweise der Kunst und des »Kunstgefühls« zu beschreiben. Angesiedelt ist der Bildbereich bezeichnenderweise in Grundkategorien sinnlich-visueller Wahrnehmung, der mit »Licht« und »Farben« – mit der heutigen Terminologie gesprochen – auf die im menschlichen Geist durch Wahrnehmung hervorgerufenen Qualia, nicht auf Begriffe, bezogen ist. Die Frage nach dem Unterschied zwischen der Wortsprache und der (bildenden) Kunst beschäftigt Wackenroder auch in dem Abschnitt Wie und auf welche Weise man die Werke der großen Künstler der Erde eigentlich betrachten und zum Wohl seiner Seele gebrauchen müsse, der das Problem der Rezeption von Kunst zum Thema hat. Wackenroder lässt seine Autorfigur dem Leser eine andächtig-kontemplative Rezeptionshaltung empfehlen, die dem christlichen Gestus des Betens entspricht – »in stiller und schweigender Demuth, und in herzerhebender Einsamkeit« sollen die Kunstwerke studiert werden.601 Wieder verdeutlicht Wackenroder die angemessene Rezeptionshaltung gegenüber Werken der Kunst, indem er sie antithetisch mit dem Lesen von wissenschaftlichen Texten vergleicht: Buchstaben lesen kann ein jeglicher lernen; von gelehrten Chroniken kann ein jeglicher sich die Historien vergangener Zeiten erzählen lassen, und sie wieder erzählen; auch kann ein jeglicher das Lehrgebäude einer Wissenschaft studieren, und Sätze und Wahrheiten fassen; – denn, Buchstaben sind nur dazu da, daß das Auge ihre Form erkenne; und Lehrsätze und Begebenheiten sind nur so lange ein Gegenstand unsrer Beschäftigung, als das Auge des Geistes daran arbeitet, sie zu fassen und zu erkennen; sobald sie unser eigen sind, ist die Thätigkeit unsers Geistes zu Ende, und wir weiden uns dann nur, so oft es uns behagt, an einem trägen und unfruchtbaren Überblick unsrer Schätze. – Nicht also bey den Werken herrlicher Künstler. Sie sind nicht darum da, daß das Auge sie sehe; sondern darum, daß man mit entgegenkommendem Herzen in sie hineingehe, und in ihnen lebe und athme. Ein köstliches Gemählde ist nicht ein Paragraph eines Lehrbuchs, den ich, wenn ich mit kurzer Mühe die Bedeutung der Worte herausgenommen habe, als eine unnütze Hülse liegenlasse: vielmehr währt bey vortrefflichen Kunstwerken der Genuß immer, ohne Aufhören, fort. Wir glauben immer tiefer in sie einzudringen, und dennoch regen sie unsere Sinne immer von neuem auf, und wir sehen keine Gränze ab, da unsre Seele sie erschöpft hätte. Es flammt in ihnen ein ewig brennendes Lebensöhl, welches nie vor unsern Augen verlischt.602

Noch einmal wird die Wortsprache auf das Feld des Verstandes und der begrifflichen Erkenntnis verwiesen. War sie bei Süßmilch oder Herder noch da600 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 88. 601 Ebd., S. 106. 602 Ebd., S. 107 f.

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durch ausgezeichnet, dass sie abstrakt-begriffliche Erkenntnis überhaupt erst ermöglichte und wollte man darin ihre göttliche Qualität sehen, so verhindert eine klare und deutliche Erkenntnis, wie sie in der Nachfolge Leibnizens noch als höchstes zu erstrebendes Ziel galt, nach Wackenroders Verständnis echte Erkenntnis Gottes. Jedoch lässt sich nicht uneingeschränkt sagen, dass hier den »Buchstaben« die visuelle Kunst der »Gemählde« gegenübergestellt werden würde. Denn die Werke großer Künstler, so erfährt der Leser, »sind nicht darum da, daß das Auge sie sehe; sondern darum, daß man mit entgegenkommendem Herzen in sie hineingehe und in ihnen lebe und athme.«603 Sie sind also weniger an die menschlichen Sinne gerichtet, als dass sie eine existentielle Wirkung ausüben. Die besondere Qualität des Gemäldes scheint allerdings auf seiner untrennbaren Verbindung zwischen materieller Form und geistigem Inhalt zu beruhen. Denn »Buchstaben sind nur dazu da, daß das Auge ihre Form erkenne.«604 Ist ihre Bedeutung aber einmal erschlossen, so kann man sie als »eine unnütze Hülse liegenlassen.«605 Das Wort in seiner konkreten Erscheinung ist nicht konstitutiv für die – wissenschaftlich – vermittelte Bedeutung, daher kann diese alleine bestehen und bedarf nicht ihrer sprachlichen Darstellungsform.606 Die im Bild vermittelte Bedeutung hingegen ist nicht von ihrer anschaulichen Form zu trennen, wodurch ihr – wie Gamper hervorhebt – die Rezeptionshaltung der reminatio, die wiederholte Beschäftigung mit dem Gegenstand, entspricht. Im religiösen Kontext bezieht sich das nie abgeschlossene Studium eines 603 604 605 606

Ebd., S. 107. Ebd., S. 107. Ebd., S. 107. Allerdings kann in einem veränderten Umgang mit Sprache, wie man ihn in der Dichtung findet, ebenfalls die Bedeutung aufs Engste mit der konkreten formalen Gestalt des Textes verbunden werden. Demgemäß ist es die abstrakt-begriffliche Sprache der Wissenschaft, die die gleiche Bedeutung in unterschiedlichen syntaktischen und stilistischen Strukturen ausdrücken kann, ohne an der Semantik etwas zu ändern, auf die Wackenroders Kritik zielt. Kemper weist darauf hin, dass Wackenroders »Polemik nur eine bestimmte, rationalistisch verkürzte Verwendungsweise von Sprache, nicht aber Sprache oder gar Dichtung schlechthin treffen will« (Kamper, Sprache der Dichtung, S. 167). Diese Beobachtung Kempers lässt sich allerdings nicht schon aus dem obigen Textabschnitt selbst belegen, sondern erschließt sich erst im Zusammenhang mit Wackenroders sprachlichem Aneignungsversuch bildkünstlerischer Werke in den Bildgedichten. Kemper stellt auch die durchaus plausible Vermutung an, dass Wackenroder die Unterscheidung der philosophisch-wissenschaftlichen von der dichterischen Verwendungsweise der Sprache bei Karl Philipp Moritz in Die Signatur des Schönen gefunden haben könnte. Dort schreibt Moritz: »es ist offenbar, daß wir uns bei der Dichtung die Sachen um der Beschreibung willen, bei der Geschichte hingegen, die Beschreibung um der Sache willen denken. Bei der Beschreibung des Schönen durch Worte, müssen also die Worte, mit der Spur, die sie in der Einbildungskraft zurücklassen, zusammengenommen, selbst das Schöne seyn.« (Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können? in: ders.: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Hans Joachim Schrimpf, Tübingen 1962, S. 99).

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Gegenstands allerdings auf die wohlgemerkt wortsprachlich tradierten heiligen Texte.607 Aus der Überzeugung, mit Hilfe der Kunst ließen sich die göttlichen Dinge angemessen darstellen, folgt, dass der Künstler in seinem Schaffen göttlich inspiriert sei. Für diese Annahme lassen sich in den Herzensergießungen hinlänglich Belege finden. Gerade in den hagiographisch gestalteten Künstlerviten spielt die Inspiration eine entscheidende Rolle. In dem bereits ausführlich betrachteten, theoretischen Haupttext Von zwei wunderbaren Sprachen werden die Künstler als solche Menschen beschrieben, die Gott »zu seinen Lieblingen gesalbt hat«608, wodurch die Wahl des künstlerischen Handwerks zum Sakrament stilisiert wird. Der berühmte, in den Herzensergießungen enthaltene Text Raffaels Erscheinung kann exemplarisch herangezogen werden, um diesen Inspirationsgedanken zu belegen.609 Dieser Inspirationsgedanke ist mit der Zurückweisung eines ausschließlichen Mimesis-Verständnisses von Kunst verknüpft. Wackenroder verteidigt den Gedanken der »Begeisterung« (i. e. Inspiration) der »Dichter und Künstler« gegen die »Theoristen und Systematiker« der Kunst, die »mit ihrer eiteln und profanen Philosophasterey umschreibende Worte zusammengesucht haben, für etwas, wovon sie den Geist, der sich in Worte nicht fassen läßt, und die Bedeutung nicht kennen.«610 Die abstraktbegriffliche Sprache der Philosophie (der Aufklärung), so lautet Wackenroders 607 Vgl. Gamper, Michael: Der Weg durchs Bild hindurch. Wackenroder und die Gemäldebeschreibung des 18. Jahrhunderts, in: Aurora 55 (1995), S. 43 – 66., S. 59 f, Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 489. 608 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 97. 609 Zur allgemeinen Bedeutung Raffaels in Wackenroders Werk vgl. Vietta, Silvio: RaffaelRezeption in der literarischen Frühromantik: Wilhelm Heinrich Wackenroder und sein akademischer Lehrer Johann Dominicus Fiorillo, in: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Klaus-Detlef Müller u. a., Tübingen 1988, 221 – 241. 610 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 55. Wie Kemper darlegt, richtet Wackenroder sich gegen das Sprachverständnis der Aufklärung, das auf eine »um Eindeutigkeit und Präzision ihrer Begrifflichkeit bemühte (Wissenschafts-)Sprache […] als das wichtigste Werkzeug des Verstandes« hin verengt ist. Wackenroder, so Kemper, »kehrt dieses Argumentationsverhältnis […] mit seiner Theorie vom Sprachursprung um: indem er zeigt, daß das Werkzeug des Verstandes seiner Bestimmung gemäß nur in einem begrenzten Bereich greifen könne, zieht er dem analysierenden Verstand selbst ungewohnt enge Grenzen.« (Kemper, Sprache der Dichtung, S. 165). Kempers Argumentation, wonach Wackenroder die Abhängigkeit vom Verstand als den Grund des begrenzten Darstellungsvermögens der Sprache aufzeigt, ist vollkommen zuzustimmen. Allerdings scheint dies meines Erachtens nicht auf den Sprachursprung bezogen zu sein. Dass die (Begriffs-)Sprache vom Verstand abhängt, nimmt Wackenroder vielmehr als allgemein anerkannte Gegebenheit hin. Der Sprachursprung selbst scheint ihn hier nicht näher zu interessieren. Vielmehr müsste es ihn in einen argumentativen Konflikt verstricken, wenn er – von einem göttlichen Sprachursprung ausgehend – darlegen müsste, warum die Sprache dennoch ein deffizitäres Medium des Sprechens über das Höchste ist.

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Kritik, kann dem Ideengehalt der Kunstwerke nicht gerecht werden und verfehlt – ebenso wie die philosophischen Abhandlungen zur Religion – deren göttlich inspirierten Charakter. Ein latentes Bewusstsein allerdings, dass die bloß mimetische Nachahmung der sinnlich wahrnehmbaren Natur ein Kunstwerk allein nicht ausmacht, wird auch bei diesen verfemten Philosophen wahrgenommen: »Sie gestehen ein, daß der Mahler und Bildner zu seinen Idealen auf einem außerordentlicheren Wege, als dem der gemeinen Natur und Erfahrung gelangen müsse.«611 Wackenroder illustriert diese über die Naturnachahmung hinausgehende Inspiration anhand seiner Raffael-Erzählung, der diese allgemeinen, einleitenden Worte vorangestellt sind. Er eröffnet seine Erzählung mit einem berühmten Zitat Raffaels, das einem Brief des Malers an den Grafen Baldassare Castiglione entnommen ist und bereits von Winckelmann verwendet wurde. Von Wackenroder wird es allerdings aus dem Kontext gelöst und – anstatt auf eine Galatea-Darstellung bezogen zu werden – zu einer Äußerung bezüglich eines Madonnen-Gemäldes umgemünzt:612 »›Da man so wenig schöne weibliche Bildung sieht, so halte ich mich an ein gewisses Bild im Geiste, welches in meine Seele kommt.‹«613 In der von Wackenroder gewählten Übersetzung dieses Zitats614 wird das Verständnis von Gemälde mit einem allgemeineren, über das 611 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 55. Die Abkehr von der Nachahmung als der einzigen Quelle des Kunstschaffens hat im 18. Jahrhundert bereits Vorläufer, die von Wackenroder rezipiert worden sind. So spricht bereits der Maler Rapahel Mengs in seinem Schreiben an Pons aus dem Jahr 1778 von der Erfindung (inventio) als einem wichtigen Moment des künstlerischen Schaffens und Karl Philipp Moritz und Wilhelm Heinse rücken die »Empfindung« ins Zentrum des Kunstschaffens. Silvio Vietta konnte nachweisen, dass Wackenroder beide Texte vor der Abfassung der Herzensergießungen bereits gelesen hatte. (Vgl. Vietta, Silvio: Raffael-Rezeption in der literarischen Frühromantik: Wilhelm Heinrich Wackenroder und sein akademischer Lehrer Johann Dominicus Fiorillo, in: Geschichtlichkeit und Aktualität. Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik. Festschrift für Hans-Joachim Mähl zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Klaus-Detlef Müller u. a., Tübingen 1988). 612 In einem Brief an den Grafen Baldassare Castiglione, der Raffael zugeschrieben wird, dessen Autorschaft jedoch umstritten ist, heißt es bezüglich der Galatea-Darstellung: »Ma essendo carestia, e de’ buoni giudicii, e di belle donne, io mi servo di certa Iddea che mi viene nella mente.« Der italienische Wortlaut des Briefes sowie eine ausführliche Diskussion der Forschung findet sich in: John Shearman: Raphael in Early Modern Sources (1483 – 1602), New Haven, London 2003, Bd. 1, S. 734 – 741. 613 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 56. Die HKA gibt den italienischen Wortlaut des Zitats wie folgt an: »Essendo carestia di belle donne, io mi servo di certa idea che me viene al mente« (HKA, S. 56, Anm.). 614 Zu den unterschiedlichen Übersetzungen des Originalwortlauts bei Winckelmann (»…so bediene ich mich einer gewissen Idee in meiner Einbildung«) und Wackenroder vgl. Borgards, Neumeyer, Die Macht, die Kunst macht, bes. S. 214, die darauf hinweisen, dass Winckelmann mit dem Zitat seine These vom Verstand als Ort der Kunstproduktion untermauern will, während Wackenroder seinen göttlichen Inspirationsgedanken zu belegen versucht. Diese unterschiedlichen Begründungsmuster, zu denen das Zitat jeweils unterstützend hinzugezogen wird, spiegelt sich in der unterschiedlichen Übersetzung. Während die »Idee« in Winckelmanns Zitat ein begriffliches Vernunftprodukt (vgl. die Verwendung

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sinnlich-optische Moment hinausgehenden Bildbegriff kontrastiert. Dem Gemälde wird zwar das Vermögen zugesprochen, eine religiöse Überzeugung – hier bezüglich des Wesens der Heiligen Maria – zu veranschaulichen, gleichwohl ist dies nicht aus einer Naturnachahmung allein möglich, sondern es bedarf einer visionären Schau der Heiligen selbst. Unaufhörlich, so lässt Wackenroder Bramante in einem fiktiven Dokument berichten, habe Raffael mit der Fertigstellung des Gemäldes gerungen. Zuweilen sei ihm »ein himmlischer Lichtstrahl in seine Seele gefallen, so daß er die Bildung in hellen Zügen, wie er sie gewollt, vor sich gesehen hätte; und doch wäre das immer nur ein Augenblick gewesen, und er habe die Bildung in seinem Gemüthe nicht festhalten können. So sey seine Seele in beständiger Unruhe herumgetrieben; er habe die Züge immer nur umherschweifend erblickt, und seine dunkle Ahndung hätte sich nie in ein klares Bild auflösen wollen.«615 Nach langem Ringen an dem unvollendeten Gemälde, so heißt es in dem fiktiven Dokument des Bramante weiter, habe die Jungfrau Maria in einer nächtlichen Erscheinung dem Maler ihre Züge offenbart. Diese Selbstoffenbarung vollzieht sich in einer Verklärung des unvollendeten Gemäldes, das »von dem mildesten Lichtstrahle, und ein ganz vollkommenes und wirklich lebendiges Bild geworden sey.«616 Einer Prophetenberufung ähndes Begriffs »Idee« bei Kant) suggeriert, steht das ›Bild‹ im Gegensatz zum Begrifflichen. Ebenso gilt die Einbildungskraft als ein Vermögen des menschlichen Geistes, das zwischen Anschauung und Begriff vermittelt, während Wackenroder den menschlichen Geist völlig aus dem Spiel lässt und an seiner Statt die Seele treten lässt. (Vgl. Roland Borgards, Harald Neumeyer : Die Macht, die Kunst macht: Winckelmann und Wackenroder zitieren Raffael, in: Athenäum 9 (2000), S. 193 – 225). 615 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 57. Es fällt auf, dass diese narrative Beschreibung nahezu identisch mit Fichtes erster Erwähnung des Bildbegriffs in der frühen Fassung der Wissenschaftslehre ist, in der er auch die Unterscheidung zwischen Geist und Buchstabe erstmals einführt. Das Philosophieren mit Geist zeichnet sich nach Fichtes Verständnis durch die Fähigkeit aus, das Bild, das sich in einem Augenblick im Geiste formt »fest zu halten, es zu untersuchen, und es sich zu jedem beliebigen Gebrauche unauslöschlich einzuprägen.« (Fichte, GA I/2, S. 414. Vgl. zu Fichte ausführlich Teil A, Kap. I.2.2). Fichte bestimmt diese Fähigkeit, die er, ebenso wie Wackenroder, dem Genie und dessen subjektiver Begeisterung zuschreibt, als geistiges Vermögen, das in dem allen Menschen gemeinsamen Trieb gründet. Wackenroder hingegen führt die »Begeisterung des Künstlers« auf göttliche Inspiration zurück. Eine Lektüre der Schriften Fichtes ist für Wackenroder nicht belegt (Vgl. Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 483), so dass man hier nicht ohne weiteres von einer Rezeption ausgehen kann. Was sich zeigt, ist aber, dass das Bilddenken beider Texte in einem ähnlichen Grundverständnis der menschlichen Geistestätigkeit angesiedelt ist und ihm darin ein jeweils gleicher Ort zugeschrieben wird. 616 Wackenroder, Herzensergießungen, HKA, Bd. 1, S. 57. Silvio Vietta weist darauf hin, dass es sich wohl um eine Paraphrase einer in Bezug auf Leonardos Abendmahl von Vasari und Georg Böhm überlieferten Legende handelt, derzufolge es dem Maler nicht möglich gewesen sei, den Christuskopf zu vollenden, da er daran scheiterte, dem Antlitz Christi einen angemessenen Ausdruck zu verleihen. (Vgl. Vietta, Raffael-Rezeption in der literarischen Frühromantik, S. 229 f.). Darüber hinaus konnte Wackenroder die außerordentliche Wertschätzung der Lebendigkeit der Raffaelschen (Heiligen-)Portraits ebenfalls bereits bei

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lich gibt sich die göttliche Gestalt in einer Vision dem berufenen Maler zu erkennen. Diese Vision hat es Raffael, so geht der Bericht weiter, ermöglicht, das ihm nun klar und deutlich vor Augen gestellte Bild dauerhaft festzuhalten und es in seinen folgenden Arbeiten wiederzugeben:617 »die Erscheinung sey seinem Gemüth und seinen Sinnen auf ewig fest eingeprägt geblieben, und nun sey es ihm gelungen, die Mutter Gottes immer so, wie sie seiner Seele vorgeschwebt habe, abzubilden.«618 Das Gemälde wird in der hier geschilderten Vision zur Ikone, in dem die repräsentierte heilige Gestalt unmittelbar selbst anwesend ist. Wackenroder lässt an dieser Stelle die Grenze zwischen mystischem und kunsttheoretischem Bildverständnis verwischen.619 Vasari finden. So schreibt Vasari in seinen Viten über Raffael bezüglich Die Verzückung der Heiligen Cäcilie: »Und in Wahrheit ist es so, daß man die anderen Malereien Malereien nennen darf, jene Raffaels aber lebendige Dinge, weil das Fleisch bebt, man den Geist sieht, die Sinne seiner Figuren pulsieren und lebendiges Leben sich in ihnen zu erkennen gibt; auf diese Weise machte er sich über die erworbenen Ehren hinaus einen noch größeren Namen. Daher wurden zu seinen Ehren viele Verse und in volgare verfaßt, von denen ich nur diese allein anführen werde, um die Geschichte nicht noch länger zu machen, als sie mir wohl andernfalls geraten würde. Andere vermögen allein Gesichter zu malen und Farben anzuwenden, Raffael jedoch hat Antlitz und Seele Cäciliens enthüllt.« (Giorgio Vasari: Das Leben des Raffael. Neu übersetzt v. Hana Gründler u. Victoria Lorini, kommentiert v. Hana Gründler, Berlin 2004, S. 57 – 59). 617 Die Forderung Fichtes scheint hier ganz erfüllt – die »der Seele vorschwebende Vorstellung« kann festgehalten und zu beliebigem Gebrauch angewendet werden. 618 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 58. Borgards und Neumeyers Versuch, aus der Struktur des Textes eine implizite Widerrufung der eigentlichen Textaussage herauszulesen, indem sie zwischen Wackenroder und der Figur des Klosterbruders unterscheiden, lässt sich nicht halten. Auerochs weist explizit darauf hin, dass der Klosterbruder nicht als Erzählerinstanz verstanden werden kann, zu deren Aussagen der Autor in kritischer Distanz steht: »Ihre [die Figur des Klosterbruders] Funktion ist nicht […] in der distanzierenden Relativierung des Vorgetragenen auf die Figur hin [zu sehen], die spricht oder schreibt: der Klosterbruder ist kein Serenus Zeitblom, bei dem es zur adäquaten Lektüre mit dazugehören würde, die Distanz des Autors zu den Ausführungen der Figur zu erkennen« (Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 484). Der Wechsel von Konjunktiv I in den Konjunktiv II innerhalb des Berichts des Bramante, den Borgard und Neumeyer zur Stützung ihrer These heranziehen, ist vielmehr aus der Situation der indirekten Rede heraus zu verstehen. Bramante wechselt in den Konjunktiv II, wo sich Raffaels Rede des Konjunktiv I bedient. Die Rede von der Vision im Konjunktiv ist durch den Status der Vision selbst bedingt. So wird das Geschehen der Vision von dem der allgemein wahrnehmbaren Wirklichkeit unterschieden. So definiert die Theologische Realenzyklopädie Visionen als eine »zeitlich begrenzt[e] [visuelle oder akustische] Erfahrung unter weitgehender oder völliger Ausblendung der Außenwelt«. Weiterhin »wissen Visionsempfänger im allgemeinen, daß ihre Schauung nur für sie wahrnehmbar ist.« (Marco Frenschkowski: Art.: Vision I, in: TRE, Bd. 35, S. 117 – 124, hier S. 117). Dieser Wechsel der Realitätsebene wird durch den Konjunktiv angedeutet; er deutet jedoch nicht auf einen Zweifel an dem Visionsgeschehen hin. 619 Auch Kemper widmet einen eigenen Abschnitt dem Bild als einem der Elemente der »Sprache der Kunst«, allerdings analysiert er nicht Wackenroders Bildbegriff selbst. Statt die Verwendungsweise des Bildbegriffs bei Wackenroder zu problematisieren, und dessen Semantik(en) herauszuarbeiten, greift er diesen unhinterfragt auf und stellt lediglich dar, inwiefern Wackenroder das Bild – sei es in Form des Gemäldes, sei es in Form poetischer

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Dass nicht die Sprache an sich als Repräsentationsform religiöser Bedeutung zu verwerfen sei, deutet sich schon im ersten Satz von Raffaels Erscheinung an, in dem von der »Begeisterung der Dichter und Künstler« die Rede ist, die den »Theoristen und Systematiker[n]« antagonistisch gegenübergestellt werden.620 Und so versucht Wackenroder sich trotz aller Sprachskepsis dennoch dem religiösen Gehalt bildkünstlerischer Darstellungen mit Mitteln der Wortsprache zu nähern. Allerdings schlägt er auch hier – folgerichtig – den Weg der Kunst ein, wenn er seine Bildgedichte verfasst.621

1.2

Die Bildgedichte – poetisches Sprechen und bildliches Darstellen

Diesen beiden Bildgedichten, die unter der Überschrift Zwei Gemäldeschilderungen angeführt werden, ist eine Einleitung vorangestellt, in der der Klosterbruder als Autorfigur des Textes in einigen recht knappen Worten darlegt, dass Gemälde sich nicht beschreiben lassen. Worte scheinen dem bildlich Dargestellten nicht gerecht zu werden oder es in einem anderen semiotischen Zeichensystem adäquat repräsentieren zu können. »[D]a man mehr als ein einziges Wort darüber [ein schönes Bild oder Gemälde, Y.A.] sagt«, so räsoniert der Klosterbruder, »fliegt die Einbildung von der Tafel weg, und gaukelt für sich allein in den Lüften.«622 Insofern erscheinen ihm die auf jegliche Beschreibung verzichtenden, bloß mit wertenden Adjektiven ausgeschmückten Beurteilungen von Gemälden, wie sie in den alten Kunstchroniken zu finden sind, dem Gegenstand angemessener. Dennoch begnügt er sich nicht mit dieser nahezu vollkommenen Zurücknahme der sprachlichen Äußerung angesichts des bildnerischen Kunstwerks. Vielmehr schreitet er den Weg der Kunst weiter, indem er das Gemälde in Dichtung übersetzt. Diesen Weg zu gehen, ist keine Neuheit; die Rede – als Gegenmodell zur diskursiv-abstrakten Sprache des Verstandes etabliert. (Vgl. Kemper, Sprache der Dichtung, S. 184 – 187). 620 Vgl. Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 55. 621 Auch dieser Gedanke, Werke der bildenden Kunst durch Werke der Dichtkunst zu beschreiben, dürfte Wackenroder bei Moritz vorgefunden haben. Moritz schreibt in dem bereits 1788 in der Monats-Schrift der Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften zu Berlin veröffentlichten Aufsatz Die Signatur des Schönen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?: »Die ächten Werke der Dichtkunst sind daher auch die einzige wahre Beschreibung durch Worte von dem Schönen in den Werken der bildenden Kunst, welches immer nur mittelbar durch Worte beschrieben werden kann, die oft erst einen sehr weiten Umweg nehmen, und manchmal eine Welt von Verhältnissen in sich begreifen müssen, ehe sie auf dem Grunde unsers Wesens dasselbe Bild vollenden können, das von außen auf einmal vor unsern Augen steht. Man könnte in diesem Sinne sagen: das vollkommenste Gedicht sey, seinem Urheber unbewußt, zugleich die vollkommenste Beschreibung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst[…].« (Moritz: Die Signatur des Schönen, in: Schriften zur Ästhetik und Poetik, S. 99 f.). 622 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 82.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Tradition des Bildgedichts reicht bis in die Antike zurück, aus der auch die Gattungsbezeichnung der Ekphrasis überliefert ist.623 Im 18. Jahrhundert schließlich kann die Gemäldebeschreibung als eine Art literarische Mode gelten, die sich von der prosaischen – die Reproduktion des Kunstwerks ersetzende – Gemäldebeschreibung hin zur eigenständigen, poetisch-fiktionalen Aneignung des im Gemälde dargestellten Stoffes etwa bei Diderot oder Heinse entwickelt.624 Bei diesen Autoren, zu denen auch Karl Philipp Moritz zu rechnen ist, kündigt sich bereits die Überzeugung an, dass nur poetisches, nicht aber prosaisches Schreiben dem bildnerischen Kunstwerk gerecht werden kann. Diese Entwicklung vollzieht auch Wackenroder selbst. Ein wichtiges Beispiel in diesem Entwicklungsprozess sind die verschiedenen Versuche einer sprachlichen Beschäftigung mit der – zur Zeit Wackenroders noch Raffael zugeschriebenen – Pommersfelder Madonna, die er bereits während seines Erlanger Studienaufenthalts 1793 im Original studieren konnte.625 Von dem gemeinsamen Ausstellungsbesuch mit seinem Freund Tieck am 21. August ist überliefert, dass er dem berühmten Madonnenbildnis besondere Aufmerksamkeit schenkte, welches er später ekphrastisch zu beschreiben versuchte.626 Überliefert ist eine in der 623 Der Ursprung des Bildgedichts findet sich bereits im antiken Bildepigramm. Vgl. hierzu: Kranz, Gisbert: Das Bildgedicht in Europa, Paderborn 1973, S. 85 – 88. Raphael Rosenberg, der den Begriff der Ekphrasis im antiken Schrifttum rekonstruiert, legt dar, dass die neuere, kunsttheoretische Verwendung des Begriffs eigentlich missbräuchlich ist und seiner ursprünglichen Semantik nicht entspricht. So sei mit der Ekphrasis in der antiken Rhetorik keinesfalls nur die Beschreibung von (Kunst-)Gegenständen bezeichnet worden, sondern ebenso die Schilderung von Handlungen. Auch weist Rosenberg auf die Unschärfen in der zeitgenössischen Verwendung des Begriffs hin. Aus diesem Grund plädiert er dafür, lediglich von ›Bildbeschreibung‹, nicht aber von ›Ekphrasis‹ zu sprechen. (Vgl. Rosenberg, Raphael: Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist. Zur Geschichte eines missbrauchten Begriffs, in: Bildrhetorik, hrsg. v. Joachim Knape, Baden-Baden 2007, S. 271 – 282). Rosenbergs begriffsgeschichtliche Rekonstruktion ist einleuchtend, dennoch soll in der vorliegenden Arbeit an dem Begriff der Ekphrasis festgehalten werden, da sie sich zur Unterscheidung eignet, zwischen der Kunstbeschreibung des 18. Jahrhunderts, die an rhetorischen Gesichtspunkten orientiert war und dem Leser eine Reproduktion des Kunstwerks ersetzen sollte einerseits und der in weit höherem Maße analytischen Bildbeschreibung der gegenwärtigen Kunstwissenschaft andererseits. 624 Michael Gamper liefert in seinem Aufsatz: »Der Weg durchs Bild hindurch. Wackenroder und die Gemäldebeschreibung des 18. Jahrhunderts« einen ausführlichen Überblick über diese Entwicklung. 625 Bei der sog. Pommersfelder Madonna handelt es sich um ein Gemälde, das sich bis 1867 in der Galerie des Kurfürsten-Erzbischofs von Mainz und Fürstbischofs von Bamberg, Lothar Franz von Schönborn in Pommersfelden nahe Bamberg befand, wo Wackenroder und Tieck es während ihrer Erlanger Studienzeit gemeinsam sahen. Heute wird es der Schule des Joos van Cleve d. Ä. zugeschrieben. Eine ausführliche Geschichte des Gemäldes sowie seiner Rezeption in der Literatur gibt Richard Littlejohns in seinem Aufsatz: Die Madonna von Pommersfelden. Geschichte einer romantischen Begeisterung, in: Aurora 45 (1985), S. 163 – 188. 626 Vgl. Littlejohns, Richard: Anfang der Kunstbegeisterung: Pommersfelden und seine Fol-

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Göttinger Zeit abgefasste Reisenotiz, in der sich Wackenroder darum bemüht, die bildnerischen Mittel der Darstellung – Linienführung, Anordnung der Figuren, Gestaltung von Mimik und Gestik – möglichst genau sprachlich wiederzugeben und zugleich in ihrem Ausdrucksgehalt zu interpretieren. Als Beispiel kann die Beschreibung der Gesichtszüge Mariens betrachtet werden: Die Stirn ist gerade, u über der Nase etwas gesenkt: der Spiegel himmlischer Heiterkeit, mit Nachdenken verknüpft. Die Augen sind heruntergeschlagen; aber ohne starren, gehefteten Blick: sie sind milde u lieblich wie das Blau des Himmels, u ruhen halb auf den Knaben, halb auf ihrem Schoß. Die Nase ist gerade, ohne Erhabenheit, u ein wenig lang; unten hat sie einen Zug der Individualität.627

Auf die diskursive Beschreibung der formalen Gestaltung einzelner Gesichtszüge folgen jeweils Rückschlüsse auf den Charakter und die Gemütslage, die die physiognomische Gestaltung zuzulassen scheint. Zugleich werden diese Beobachtungen in allgemeine kunsttheoretische Überlegungen eingebettet, die die Deutung Mariens prägen und den Betrachtungen im zweiten Satz bereits vorangestellt sind: »In ihrem Antlitz ist die überirdische, allgemeine Form, Griechischer Idealschönheit, mit sprechendster, anziehender Individualität, aufs glücklichste vereinigt.«628 Der Einfluss Winckelmanns und Lessings tritt in diesem Text deutlich hervor. Zweifel an den Möglichkeiten einer sprachlich adäquaten Übersetzung des Dargestellten schleichen sich allerdings schon hier ein und finden ihre deutlichste Formulierung in dem Satz »Bis in die feinsten Züge geht diese Vereinigung, wo der Pinsel über die erlahmende Sprache des entzückten Anschauers spottet.«629 In den Herzensergießungen lässt Wackenroder seinen Klosterbruder nun einen anderen Weg der sprachlichen Aneignung beschreiten, indem er sich nicht mit diskursiver Sprache dem Gegenstand des Bildkunstwerks nähert, sondern versucht, ihn mit Hilfe des sprachlichen Kunstwerks zu erfassen. Er gibt zwei »Proben« solcher Bildgedichte, die mit »Erstes Bild« und »Zweites Bild« überschrieben sind, worauf jeweils die Nennung des Bildsujets folgt. Bei ersterem handelt es sich um »Die Heilige Jungfrau mit dem Christuskinde und der kleine Johannes«. Statt eine Schilderung der Darstellung aus neutraler Betrachterperspektive folgen zu lassen, versucht Wackenroder der Figurengruppe gerecht zu werden, indem er die einzelnen Figuren selbst sprechen lässt, um so eine Ansicht ihrer Stimmungen zu geben. Gamper spricht hier von der »Dramatisierung« des gen, in: ders.: Wackenroder-Studien. Gesammelte Aufsätze zu Biographie und Rezeption des Romantikers, Frankfurt am Main u. a. 1987, S. 41. 627 Wackenroder : Reise von Erlangen ins Baireuthische und Bambergische mit dem H. Prorektor Weisser, in: HKA, Bd. 2, S. 243. Die Herausgeber vermerken: Reise vom 14.–21. August 1793 in die Fränkische Schweiz und nach Bamberg. 628 Wackenroder, HKA, Bd. 2, S. 243. 629 Ebd., S. 243.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Beschreibungsvorgangs.630 Dass es sich um die Äußerungen der einzelnen Figuren handelt, wird allein durch Strophenüberschriften angezeigt, die – einer dramatischen Textvorlage ähnlich – die jeweils sprechenden Personen in kursiver Schrift nennen, jedoch eher Regieanweisung zu sein scheinen, als dass es sich bei ihnen um einen vollwertigen Bestandteil des Textes handelte. In den Strophen selbst scheint jeweils nur ein lyrisches Ich zu sprechen, das sich durch die Strophenüberschriften jedoch einer jeweiligen Person zuordnen lässt. Äußere Gegebenheiten der Darstellung werden gänzlich zu Gunsten einer Beschreibung von Empfindungen und Stimmungen vernachlässigt.631 Dabei übersetzt Wackenroder genau jene Aspekte des Gemäldes in seinen Gedichten, die schon bei Alberti als der eigentliche Zweck der bildkünstlerischen Darstellung galten: die Wiedergabe der Stimmungen der Personen.632 So geht es nicht um die sprachliche Beschreibung der bildkünstlerischen Gestaltungsweise des Gegenstands. Eine solche Analyse entspräche den wissenschaftlichen Abhandlungen, deren Sprachgebrauch nach Wackenroder dem Gegenstand der Kunst gerade nicht gerecht zu werden vermag. Stattdessen bedeutet Übersetzung für ihn die adäquate Darstellung des Gegenstands der Malerei im Medium der Sprache. Diese Forderung versucht Wackenroder hier mit Hilfe der poetischen Sprache einzulösen. Statt jedoch momenthafte Aufnahme spontaner psychischer Zustände zu sein, sind die Empfindungen als Vorausahnung des zukünftigen Lebenswegs des Christuskindes gestaltet. Auch wenn diese Schilderung von Gedanken und Empfindungen gerade über die bildlich dargestellte Außenseite der Figuren deutlich hinausgeht, löst sie sich doch keinesfalls ganz von ihrer Bildvorlage, sondern versucht vielmehr genau das sprachlich zu erfassen, womit Kunsthistoriker noch heute am meisten zu ringen haben: die präzise Beschreibung von (porträthafter) Mimik und Gestik und deren Ausdrucksqualität. Indem aber die Figuren selbst zu Wort kommen und ihre Empfindungen artikulieren, so legt Michael Gamper schlüssig dar, kann auf die Erschließung der inneren Regungen 630 Vgl. Gamper, Der Weg durchs Bild hindurch, S. 63; Kemper wählt die Bezeichnung »Dialog-« oder »Sprechergedicht« (Vgl. Kemper, Sprache der Dichtung, S. 251). 631 So bemerkt auch Kemper über die Differenz der Bildgedichte zur traditionellen Ekphrasis: »Bildaufbau, Zeichnung, Kolorit, Perspektive, Lichtverteilung oder andere Kriterien der traditionellen Bildkritik scheinen für den Klosterbruder ohne jedes Interesse zu sein.« (Kemper, Sprache der Dichtung, S. 252). 632 So schreibt Alberti im zweiten Buch seines Werks Della Pittura/Über die Malkunst: »Ferner wird ein Vorgang dann die Seele bewegen, wenn die dort gemalten Menschen ihre eigenen seelischen Bewegungen ganz deutlich zu erkennen geben. […] Diese seelischen Bewegungen aber erkennt man an den Bewegungen des Körpers. […] So müssen also den Malern alle Bewegungen der Körper sehr vertraut sein; diese werden sie von der Natur richtig lernen, während es schwierig ist, die vielfachen Bewegungen der Seele nachzubilden.« (Leon Battista Alberti: Della Pittura/Über die Malkunst, hrsg. v. Oskar Bätschmann u. Sandra Gianfreda, Darmstadt 2002, S. 131 f.).

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durch die äußeren Gestaltungsmerkmale – von Gamper als »physiognomisches Paradigma« bezeichnet – verzichtet werden. Auch die formale Gestaltung der Bildgedichte ist als Deutung des Sujets angelegt. Wackenroder gestaltet die Verse der einzelnen Strophen unterschiedlich, wobei das deutlichste Unterscheidungskriterium in der Kontrastierung eines strengen Versmaßes einerseits mit freien Rhythmen andererseits zu sehen ist. Dabei ist jeweils das Versmaß der Strophe der Maria von den anderen Strophen unterschieden. Hier lässt sich eine Strategie Wackenroders erkennen, mittels derer er die Figur der Maria von den übrigen Personen unterscheidet und ihr dadurch eine Sonderstellung einräumt. Mit dieser Strategie der Herausstellung der Marien-Strophe experimentiert Wackenroder in den beiden »Gemäldeschilderungen«. Im »Ersten Bild« ist das Metrum der Marien-Strophe ein fünfhebiger Trochäus mit konstant weiblicher Kadenz, das lediglich einmal, vier Zeilen vor Ende, unterbrochen wird. Dem sechshebigen Vers »Dünkt mich’s doch, ich sei nicht mehr auf dieser Erde,«633 geht ein katalektisches Ende des vorherigen Verses voraus, der so mit männlicher Kadenz endet: »Ach!, ich weiß nicht, was ich sagen soll!«634. Demgegenüber sind die Strophen des Jesus- und des Johannesknaben in freien Rhythmen gestaltet, die in der Zahl der Hebungen stark variieren und sich durch freie Senkungsfüllung auszeichnen. Den umgekehrten Weg geht Wackenroder in seinem zweiten Gedicht. Während die Strophen der drei Weisen aus dem Morgenland und des Jesusknaben, die die Marien-Strophe einrahmen, ein festes Versmaß besitzen, ist die Marienstrophe in freien Rhythmen gestaltet. Die erste Strophe besteht aus ungereimten, fünfhebigen Trochäen mit weiblicher Kadenz, während die Tröchäen in der dritten Strophe auf vier Hebungen verkürzt sind. Zwar ist die zweite Strophe der Maria im wesentlichen ebenfalls trochäisch gestaltet, sie weist jedoch gelegentlich freie Senkungsfüllung auf. Auch die Zahl der Hebungen variiert beträchtlich. Die Tatsache, dass Wackenroder der Figur der Madonna hier stilistisch eine Sonderstellung einräumt, korrespondiert mit dem Stellenwert, der ihr in den übrigen Texten der Herzensergießungen beigemessen wird ebenso, wie mit der Bedeutung, die dieser Figur in der frühen Bildbeschreibung des Pommersfelder Gemäldes zukommt. Die Besonderheiten der sprachlichen Bearbeitung eines bildkünstlerischen Stoffs zeigen sich meist besonders prägnant in einem direkten Vergleich mit einer solchen Bildvorlage. Ohne eine bestimmte Bildvorlage für Wackenroders Gedichte postulieren zu wollen, soll doch ein Gemälde Raffaels als bildnerisches Vergleichsmoment herangezogen werden, um aufzuzeigen, wie deutlich die 633 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 83. 634 Ebd., S. 83.

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scheinbar bloß innerlichen Regungen der Figuren an der Darstellung abgelesen zu sein scheinen.635 Geeignet erscheint Raffaels berühmte Alba Madonna oder La belle JardiniÀre, die sich in Dresden befand. Welche Befunde liefert ein Vergleich der Mariendarstellung? Wackenroder lässt sie in seinem Gedicht als emotional überfordert mit dem ihr widerfahrenen Glück erscheinen, was sich in »Verzagen« und »tiefer Wehmut« äußert. Keine starken Affekte – weder Tränen noch Freude – sind ihr möglich. Vor Demut wagt sie nicht die Augen zum Himmel zu heben, stattdessen verharrt ihr Blick auf dem spielenden Kinde in ihrem Schoß. Vergleicht man den Befund mit der Darstellung Mariens in Raffaels Alba Madonna, so sind wesentliche Elemente der Mimik und Gestik dieser Figur erfasst. Auch die im Gedicht gegebene Anspielung auf die Kreuzigung sind ikonographisch in dem zierlichen Holzkreuz, das der Johannes- und der Jesusknabe umfasst halten, eingelöst. Ebenso auffällig bleibt aber, was aus der bildlichen Darstellung nicht sprachlich mitgeteilt wird. Gerade die deutlich visuellen Elemente spielen in dem Bildgedicht keine Rolle. Werden Farben zur präzisen Rekonstruktion der äußeren Erscheinung der Madonnengestalt in der prosaischen Bildbeschreibung der Pommersfelder Madonna noch gelegentlich benannt, so finden sie nicht ein einziges Mal Erwähnung in dem Bildgedicht. Ebenso unberücksichtigt bleibt die Hintergrundgestaltung der Darstellung. Könnte man annehmen, dass es sich dabei um eine Landschaft handelte, wie etwa in dem oben gewählten Beispiel der Alba Madonna, wird diese Tatsache umso brisanter, als es gerade Naturschilderungen sind, die in den Gedichten der Romantik hohe Konjunktur haben. Die empirischen Aspekte der Umgebung treten also völlig in den Hintergrund, ebenso wie die optische Erscheinung der bildkünstlerisch dargestellten Figuren. Es tritt also genau dasjenige Moment in den Gemäldegedichten zurück, das die wesentliche Qualität des Darstellungsmediums der Malerei ausmacht: die optischen Phänomene, mit denen allein sich die Malerei behelfen muss, um die abstrakt-geistigen Inhalte zu transportieren. Hatte Wackenroder in den Bemühungen um eine angemessene Gemäldebeschreibung der Pom635 In der Forschung ist es nach wie vor umstritten, ob es konkrete Bildvorlagen für Wackenroders Bildgedichte gibt. In der frühen Wackenroder-Forschung schloss etwa Koldewey solche gänzlich aus und verwies stattdessen auf geläufige Bildtypen, auf die Wackenroder rekurriere (Koldewey, Paul: Wackenroder und sein Einfluß auf Tieck, Altona 1903, S. 33). Viettas Argumentation, dass die von Wackenroder beschriebene »figurale Anordnung der Madonna mit dem spielenden Jesusknaben im Schoß, auf den sie herabblickt, und dem kleinen Johannes so häufig nicht ist in der Malerei der Renaissance, bei Raffael sich aber mehrfach findet«, ist deutlich überzeugender. Vietta verweist hier konkret auf die Madonna JardiniÀre, die in der Dresdner Gemäldegalerie hing. (Vgl. Vietta, Littlejohns, HKA, Bd. 1, S. 329). Kemper legt sich in dieser Hinsicht überhaupt nicht fest (Vgl. Kemper, Sprache der Dichtung, S. 251 f.). Der nachfolgende Vergleich des Bildgedichts mit einem Raffael-Gemälde folgt Viettas Argumentation.

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mersfelder Madonna einsehen müssen, dass der Versuch, den visuellen Darstellungsmomenten der Malerei sprachlich Gestalt zu verleihen, ein unmögliches Unterfangen darstellt, so beschreitet er in den Gemäldegedichten einen konsequent anderen Weg. Seine Gemäldegedichte verfasst er mit dem Ziel, die Ausdrucksqualitäten und religiösen Inhalte sprachlich wiederzugeben, die die Malerei transportiert. Aufgegeben wird allerdings der Versuch, die visuell-gestalterischen Mittel sprachlich zu rekonstruieren, mit denen die Malerei diese Vorstellungen und inneren Haltungen der Figuren durch das Medium des Bildes darstellt – sei es über mimische und gestische Gestaltung der Figuren, sei es durch die Beigabe von Attributen und das Arbeiten mit Farbsymbolik. Entscheidend ist nicht mehr, dass die sprachliche Darstellung der bildlichen möglichst mimetisch entspricht. Dies ist – das erkennt Wackenroder in seinen Bildgedichten an – aufgrund der verschiedenen medialen Qualitäten nicht möglich. Das Wesentliche an dem Gemälde ist für ihn aber auch gar nicht die formal-ästhetische Erscheinung selbst, sondern die Bedeutung, auf die es verweist. Diese Bedeutung verortet er im Bereich des Religiösen. Die Künste sind für ihn Zeichensysteme, in denen – anders als mit der diskursiven Sprache der Wissenschaft – eine Darstellung des Göttlichen möglich ist. Die bildende Kunst ist ein solches Zeichensystem, ebenso wie die Sprache in poetischer Verwendung. Was bei der Übertragung eines Bildkunstwerks in Sprache übersetzt werden soll, ist diese religiöse Bedeutung.

1.3

Kunst als Symbolsystem

Dass Wackenroder die Übersetzbarkeit der verschiedenen Künste ineinander für möglich hält, ist auf sein Kunstverständnis zurückzuführen. Zwei wesentliche Merkmale vereint Wackenroders Kunstbegriff: Kunst wird zum einen als Symbolsystem verstanden, zum anderen ist dessen Bedeutungsebene auf das Göttliche, Transzendente hin präzisiert. Dass Kunst und Natur als zwei Symbolsysteme zur Darstellung des Göttlichen angesehen werden, zeigt sich schon im eingangs analysierten Kapitel Zwey wunderbare Sprachen. Dabei werden beide als alternative Symbolsysteme eingeführt, die in ihrer Darstellungsweise autonom sind – die Kunst ist der Natur nicht durch mimetische Abhängigkeit verpflichtet. Über die Kunst heißt es in diesem Abschnitt im Vergleich zur Natur : Die Kunst ist eine Sprache ganz anderer Art als die Natur; aber auch ihr ist, durch ähnliche dunkle und geheime Wege, eine wunderbare Kraft auf das Herz des Menschen eigen. Sie redet durch Bilder der Menschen, und bedienet sich also einer Hieroglyphenschrift, deren Zeichen wir dem Äußern nach, kennen und verstehen. Aber sie schmelzt das Geistige und Unsinnliche, auf eine so rührende und bewundernswürdige

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Weise, in die sichtbaren Gestalten hinein, daß wiederum unser ganzes Wesen, und alles, was an uns ist, von Grund auf bewegt und erschüttert wird.636

Die Zeichen, derer sich das Symbolsystem Kunst bedient, sind vom Menschen geschaffen. Deren formale, sinnlich-wahrnehmbare Zeichenstruktur ist dem Menschen daher vertraut und äußerlich verständlich. Diesen Zeichen unterlegt der Künstler jedoch eine Semantik, die sie über diese formale Gestalt hinaus transzendiert. So nennt Wackenroder die Zeichen der Kunst Hieroglyphen – wohlgemerkt in einer Zeit, in der die ägyptische Hieroglyphenschrift noch nicht entziffert war und als Geheimschrift galt.637 Die Verwendungsweise des Hieroglyphenbegriffs konnotiert damit ein zu religiös-kultischen Zwecken eingesetztes, nur einer klerikalen Elite verständliches Zeichensystem, dessen Semantik sich der allgemeinen Verständlichkeit entzieht. Dieser Vorstellung gemäß ist die Hieroglyphenschrift der Kunst laut Wackenroder nur dem Äußeren nach verständlich. Die äußere, formale Gestalt ist jedoch untrennbar mit einer geistigen Bedeutung verbunden, die vom Menschen zwar nicht denkend verstanden, aber doch gefühlt werden kann. Auch sollte angemerkt werden, dass diese Zeichen der Kunst von Wackenroder als »Bilder der Menschen« bezeichnet werden. Hier ist davon auszugehen, dass er an die Unterscheidung von Buchstabenschrift und Bildlichkeit anknüpft, wonach die Bezeichnung durch Buchstaben eine rein äußerliche Signifikant-Signifikat-Relation etabliert, während beim Bild Form- und Bedeutungsebene – ähnlich wie hier für die Hieroglyphen beschrieben – untrennbar miteinander verbunden sind. Noch einen Schritt weiter wagt sich Wackenroder in dem Abschnitt Schilderung, wie die alten deutschen Künstler gelebt haben aus den Phantasien vor, wo er die Kunst nicht mehr als Symbolsystem zur Bezeichnung des Religiösen in dessen Dienst stellt, sondern sie in Analogie zur Religion deutet und so beide scheinbar zu gleichberechtigten Alternativen werden. Dieses Kapitel – eines der wenigen von Wackenroder verfassten Kapitel zur bildenden Kunst aus den Phantasien – lässt er mit einer allgemeinen Betrachtung über Funktion und Bedeutung von Religion und Kunst enden, deren Wirkweisen er analog bestimmt und auf diese Weise seine Überlegungen bezüglich beider in einer einzigen Aussage zusammenfassen kann: Sie geben nicht nur Anleitung zum praktischen Leben, sie sind ebenso Orientierungshilfe für die geistige Tätigkeit des Menschen. Wackenroder vergleicht sie mit zwei »magischen Hohlspiegeln […], die die Dinge der Welt sinnbildlich abspiegeln«: So wie aber diese zwey großen göttlichen Wesen, die Religion und die Kunst, die besten Führerinnen des Menschen für sein äußeres, wirkliches Leben sind, so sind auch für 636 Wackenroder, HKA, Bd. 1, S. 98. 637 Vgl. hierzu ausführlich Teil A, Kap. II.2.

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das innere, geistige Leben des menschlichen Gemüths ihre Schätze die allerreichhaltigsten und köstlichsten Fundgruben der Gedanken und Gefühle, und es ist mir eine sehr bedeutende und geheimnisvolle Vorstellung, wenn ich sie zweyen magischen Hohlspiegeln vergleiche, die mir alle Dinge der Welt sinnbildlich abspiegeln, durch deren Zauberbilder hindurch ich den wahren Geist aller Dinge erkennen und verstehen lerne.–638

Welche Aussage macht diese Metapher über Kunst und Religion? Wie ein Hohlspiegel scheinen sie das Bild der Dinge in gebündelter Form zu reflektieren und es dabei in unterschiedlichen Perspektiven sichtbar werden zu lassen. Sie vermögen aber mehr als ein gewöhnlicher Hohlspiegel, denn ihre Wirkung ist magisch. Der Hohlspiegel erscheint als ein wissenschaftliches Instrument, mit dessen Hilfe sich eine Dimension der Dinge erkennen lässt, die dem bloßen Gesichtssinn des Menschen verborgen bleibt. Die von der empirischen Wahrnehmung abweichende Erscheinungsweise wird als sinnbildliche Darstellungsweise gedeutet. So werden die gewöhnlichen Gegenstände der Außenwelt durch das Glas des »magischen Hohlspiegels« der Kunst und der Religion zu Sinnbildern verdichtet.639 Durch die symbolisch überformte Schau der optischen Oberfläche der Dinge wird deren geistiger Gehalt im Bild visualisiert. Erst die symbolische Sichtweise ermöglicht es – wohlgemerkt nicht ohne einige Übung – zum Wesen der Dinge vorzudringen, »ihren wahren Geist« erkennen und verstehen zu lernen. Dieses Verständnis unterscheidet sich vom Konzept der Signaturenlehre, wonach schon aus der natürlichen Erscheinung der Dinge selbst ihr Wesen abgelesen werden könnte. Es bedarf der symbolischen Ver638 Wackenroder, Phantasien, HKA, Bd. 1, S. 160, Hervorhebungen im Original. Maximilian Bergengruen hat ausführlich rekonstruiert, wie es in den 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zu einem Ortswechsel der Magia naturalis von den Naturwissenschaften, in denen sie zuvor »entzaubert« wurde, in die Künste kam. Es ist das neue Verständnis dieser Phänomene, wonach Laterna magica und Hohlspiegel als natürlich-physikalische Phänomene erklärt werden, das sie für die Literatur interessant werden lässt. Indem die katoptrischen Phänomene als Formen veränderter Darstellung begriffen werden, können sie zur Metapher für die Darstellungsweise der Literatur werden: »Es gilt, die medialen Eigenschaften, den starken re-präsentationalen Effekt der Spiegelprojektionen bzw. der Laterna magica, als Modell für die Repräsentation in den Künsten zu nützen, weil sie eine Darstellung auf zwei Ebenen ermöglicht: einer sinnlichen und einer philosophischen.« (Bergengruen, Heißbrennende Hohlspiegel, S. 26). Vgl. Bergengruen, Maximilian: »Heißbrennende Hohlspiegel«: wie Jean Paul durch die optische Magie seine Poetik sichtbar werden läßt, in: Kunst und Wissenschaft um 1800, hrsg. v. Thomas Lange, Würzburg 2000, S. 19 – 38. 639 Zum Verständnis von Kunst und Religion als symbolische Formen vgl. Auerochs, Bernd: Die Entstehung der Kunstreligion, Göttingen 2006. Auerochs erarbeitet in dem grundlegenden ersten Kapitel ausgehend von einer eingehenden Diskussion der Verwendung des Begriffs der »symbolischen Form« bei Ernst Cassirer eine differenzierte Definition des Begriffs, auf deren Grundlage die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden symbolischen Systeme der Religion und der Kunst erschlossen werden.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

mittlung, die jene Tiefendimension an Bedeutung erst erschließt. Realisiert wird diese in den symbolischen Systemen der Kunst und der Religion. Das Bild und die poetische Sprache beziehen ihre Differenz zur diskursivanalytischen Sprache der Philosophie und der Wissenschaften gleichermaßen aus dem ihnen innewohnenden Vermögen, das Göttliche zu repräsentieren. Das Göttliche und die Grenzen seiner Darstellbarkeit bilden den Unterscheidungsgrund, vor dem Wackenroder seine klare Trennung von diskursiver Sprachlichkeit und (poetisch-sprachlich vermittelter) Bildlichkeit vollzieht. Der Unterschied zwischen diesen beiden Zeichensystemen liegt wiederum in der Weise der Erkenntnisvermittlung. Erfolgt der durch die diskursive Wortsprache in Gang gesetzte Erkenntnisprozess ausschließlich aufgrund von kognitiven Prozessen, so bewirkt die Bildlichkeit eine emotionale Reaktion. Ist der philosophische Sprachgebrauch an die Vernunft gerichtet, so richten sich die bildlichen Symbolsysteme an das Vermögen des Gefühls. Das Göttliche aber, so die These, lässt sich nicht auf denkend-analytischem Wege erkennen, sondern nur in einer synthetischen Erfahrung, die den Menschen als psycho-somatische Einheit anspricht. Die von Wackenroder geführte Aufklärungskritik, die sich in seiner Hinwendung zur Kunst äußert, konkretisiert sich im Medium des Bildes, das als materielle Erscheinungsform des Gemäldes auf eine mentale Bildvorstellung verweist, die im Bereich der mystisch-visionären Schau angesiedelt ist und als Erkenntnisorgan des Göttlichen verstanden wird.640 Das Bild wird somit bei Wackenroder zum Statthalter einer emotional-religiös geprägten, romantischen Weltsicht.

640 Namowiczs Ansicht greift zu kurz, wonach sich in dem »Kunstverständnis bei den genannten Autoren [Wackenroder, Tieck und Friedrich Schlegel, Y.A.] vornehmlich eine extreme Unsicherheit in Glaubensfragen« spiegele. »Es handelt sich also um ein künstlerisches Vorhaben,« schreibt er über Wackenroder, »das zwar ein ›religiöses Gewand‹ erhalten sollte, einer tieferen Verwurzelung im Glauben jedoch entbehrte.« »Mehr als die Oberfläche der Heilsvorstellung« kritisiert er weiter, »gelang es Wackenroder nicht zu berühren« (Tadeusz Namowicz: Zur Deutung religiöser Bezüge in den Äußerungen über die Malerei bei Wackenroder, Tieck und Friedrich Schlegel, in: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte, hrsg. v. Ernst Weber, Regensburg 1994, S. 171 – 179). Auerochs konnte hingegen äußerst detailliert und sachkundig plausibel machen, dass Wackenroder seinen Entwurf von Kunstreligion tiefer als die Romantiker des Jenaer Kreises in der traditionellen Frömmigkeit des Katholizismus verankert: »Von inniger traditioneller Religiosität scheint die religiöse Verehrung der Kunst hier [bei Wackenroder, Y.A.] nur durch eine leichte Umakzentuierung des Fokus der Frömmigkeit unterschieden zu sein.« (Aueorchs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 501). Dass die als Vermittlung von christlich-religiöser Tradition und moderner Religionskritik angelegte Kunstreligion eine äußerst fragile Konstruktion ist, mit der ihre eigene Krise immer schon einhergeht, macht Auerochs dabei ebenso deutlich. (Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 482 – 502).

A. W. Schlegels Die Gemählde

2.

237

Das Verhältnis zwischen bildender Kunst und Sprache – A. W. Schlegels Die Gemählde

August Wilhelm Schlegel ist aus dem Schlegel-Kreis der erste, der sich intensiv mit bildender Kunst beschäftigt. Er ist es, der bereits 1798 zu den Fragmentensammlungen des Athenaeums eine nicht geringe Anzahl von Fragmenten zur bildenden Kunst beisteuert. 1799 ist es ebenfalls das Athenaeum, das Die Gemählde. Ein Gespräch druckt, den wichtigsten Text zur bildenden Kunst aus dem Jenaer Kreis. Dem vorausgegangen waren allerdings Wilhelm Heinrich Wackenroders Herzensergießungen, denen ebenfalls der ältere der beiden SchlegelBrüder die größte Aufmerksamkeit schenkte und sie in einer Rezension eigens besprach.641 Für seine eigene kunsttheoretische Abhandlung wählt Schlegel die – für die Zeitschrift wie für das romantische Programm typische – Gattung des Gesprächs. Die Entscheidung für diese Gattung eröffnet ihm gleich in mehrerlei Hinsicht Spielräume, die eine Herangehensweise an kunsttheoretische Fragestellungen, wie dieser Text sie vorführt, ermöglichen. Zum einen erlaubt sie ihm, seine kunsttheoretischen Betrachtungen in einen fiktionalen Text zu gießen. Diese Fiktionalität wiederum verschafft ihm einige Freiheit im Umgang mit dem Thema.642 Darüber hinaus ist es ein Gemeinplatz in der Forschung geworden, darauf hinzuweisen, dass diesem fiktionalen Text ein tatsächlicher Besuch der Dresdner Gemäldegalerie zugrunde liegt, den August Wilhelm und Friedrich Schlegel sowie dessen Frau Caroline zusammen mit Novalis, Schelling, Carl August Böttinger und Heinrich Steffens im Jahr 1798 unternommen haben.643 641 Vgl. A. W. Schlegel: Rezension zu »Herzenergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« [von W. H. Wackenroder]. Leipzig 1797, in: Schlegel, August Wilhelm: Sämmtliche Werke, hrsg. v. Eduard Böcking, Leipzig 1846, Bd. 10, S. 363 – 371. 642 Zur Relevanz der Wahl der Gattung des Gesprächs vgl. auch Becker, Claudia: Bilder einer Ausstellung. Literarische Bildkunstkritik in A. W. Schlegels Gemälde-Gespräch, in: Das Wagnis der Moderne, hrsg. v. Paul Gerhard Klussmann, Willy Richard Berger u. Burghard Dohm, Frankfurt am Main u. a. 1993, S. 143 – 155, hier S. 144. 643 Vgl. z. B. Reinhard Wegner : Der geteilte Blick. Empirisches und imaginäres Sehen bei Caspar David Friedrich und August Wilhelm Schlegel, in: Kunst – die andere Natur, hrsg. von Reinhard Wegner, Göttingen 2004, S. 13 – 33, hier S. 13 oder Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 144; Wegner stützt sich hierbei auf eine Vielzahl von Belegen aus der Forschung. Beckers Zuordnung der Personen kann allenfalls für Caroline, in der sie das Vorbild für die Figur der Louise sieht, überzeugen; in Waller August Wilhelm Schlegel verkörpert zu sehen, während Reinhold den Schlegel-Kreis repräsentiere, überzeugt allerdings nicht. Vielmehr lässt sich zeigen, dass August Wilhelm Schlegel jeder seiner Figuren bisweilen die eigene Auffassung in den Mund legt, und zwar immer dann, wenn die Kunst verhandelt und verteidigt wird, die die jeweilige Figur repräsentiert. Ein Beispiel hierfür sind etwa die Ausführungen Reinholds zur Malerei, die sich mit den von Schlegel in der Berliner Kunstlehre vorgetragenen Überlegungen zur Malerei decken. Vgl. hierzu dieses Kapitel, Anm. 667. Auf den Versuch einer solchen Zuordnung soll hier gänzlich verzichtet werden, da allzu deutlich ist, dass Reinhold und Waller die Repräsentanten zweier Kunstgattungen –

238

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Schlegel lässt sein Gespräch in der Dresdner Gemäldegalerie zwischen dem Maler Reinhold, dem Dichter Waller und der kunstinteressierten Louise als einer vermittelnden Figur stattfinden. Schon die Professionen Reinholds und Wallers zeigen das zentrale Thema des Gesprächs an: die Frage nach der Vergleichbarkeit und gegenseitigen Übersetzbarkeit von Dichtung und Malerei. Dabei behandelt der Text das Problem nicht nur theoretisch, sondern führt auch performativ Alternativen solcher Übertragungsversuche vor. Auch hier kommt Schlegel die Gattung des Gesprächs entgegen. Sie erlaubt ihm die Integration weiterer Gattungen, die als längere Passagen von Figurenrede den theoretischdiskursiven Teil des Dialogs immer wieder unterbrechen. So enthält der Text die beiden im 18. Jahrhundert wichtigsten auf bildkünstlerische Vorlagen bezogenen literarischen Gattungen: die Ekphrasis und das Gemäldegedicht. Das Gespräch entwickelt sich um theoretische Fragestellungen, die wiederholt und in zunehmendem Umfang durch eingeschobene Bildbeschreibungen unterbrochen werden. Obwohl Ekphrasis und Bildgedicht sich damit als eigene Gattungen aus dem Text herausheben, bleiben sie dennoch in das leitende Gestaltungsprinzip des Dialogs integriert. Die Überleitung zwischen den einzelnen Ekphrasen bilden Dialoge, in denen die in der Bildbeschreibung aufgeworfenen kunsttheoretischen Fragen verhandelt werden. Die Behandlung der kunsttheoretischen Passagen in Dialogform ermöglicht Schlegel, verschiedene Positionen zunächst wertungsneutral einander gegenüber treten zu lassen. Sie ermöglicht auch, die Ansichten der bekanntesten Kunsttheoretiker seiner Zeit – etwa von Diderot, Forster oder Mengs – zu diskutieren. Desweiteren erlaubt sie, die vorgetragenen Bildbeschreibungen sogleich mit kritischen Kommentaren zu versehen. Sowohl der einleitende Dialogteil als auch die dialogisch gestalteten Abschnitte, die den – als Figurenrede ebenfalls in den Dialog eingearbeiteten – Bildbeschreibungen zwischengeschaltet sind, greifen unterschiedliche Fragestellungen der zeitgenössischen kunstkritischen Diskussion auf. In der Forschung galt diesen kunsttheoretischen Ausführungen lange das Hauptaugenmerk.644 Die Diskussion dieser kunsttheoretischen Passagen soll hier unter dem der Literatur und der Malerei – sind, deren Dialog bei einer Art Paragone-Streit seinen Ausgang nimmt, diesen aber zugunsten einer romantisch-synästhetischen Kunsttheorie überschreitet. So ist durchaus Wegners Kritik, den Text nicht unhinterfragt dem ParagoneStreit zuzuordnen, zuzustimmen. Allerdings erscheint mir nicht das von ihm dagegen vorgebrachte Argument ausschlaggebend, dass die Ekphrasen und Bildgedichte nicht unmittelbar vor den bildkünstlerischen Werken, sondern im Freien vorgetragen werden. Vielmehr spricht der in dem Text vorgetragene Standpunkt der frühromantischen Kunsttheorie selbst, der eine Gleichwertigkeit und Eigengesetzlichkeit der Künste propagiert, gegen eine Zuordnung zur Paragone-Literatur. 644 Vgl. z. B. Behler, Ernst: Le dialogue des »Tableaux« d’August Wilhelm Schlegel et la conception de la peinture dans le premier romantisme, in: Revue Germanique International,

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239

Fokus der Sprach-Bild-Problematik einschließlich ihrer performativen Behandlung in den Bildbeschreibungen erfolgen, um am Ende des Kapitels die kunsttheoretischen Ausführungen im Lichte der hier gewonnenen Einsichten (neu) beurteilen zu können.

2.1

Die Rolle der Sprache in den Künsten

Die zentrale Frage, um die letztlich der gesamte Text kreist und die zugleich das Metathema der Ekphrasis und des Bildgedichts als Gattung bildet, wird an zwei Stellen des Gesprächs explizit behandelt: Es ist die Frage nach der Möglichkeit, ein Bildkunstwerk sprachlich in adäquater und vollständiger Weise wiederzugeben.645 Eingeleitet wird das Problem mit der Frage nach der Übersetzbarkeit der Künste überhaupt. Reinhold ringt mit der Übertragung einer antiken Plastik in eine Zeichnung – die Unmöglichkeit, der Skulptur in der Zeichnung gerecht zu werden, ist ihm dabei bewusst: Sie [die Zeichnung, Y.A.] ist kaum ein dürftiger Auszug, deren man hundert verschiedne machen könnte. Will ich alles übertragen, was ich an den Umrissen wahrnehme, so fällt es bey diesem Maaßstabe leicht ins kleinliche; und mit jeder Parthie, die ich in größere Massen zusammenschmelze, geht etwas von der Bedeutung verloren.646

Dagegen argumentiert Louise wie in einer Art Vorwegnahme der Einfühlungsästhetik für eine rein subjektive Rezeption von Kunst. Auf Reinholds Klagen über die Kunstkritiker, die »nicht einen Strich zu machen im Stande sind, herumgehen, und die größten Meister keck durch einander tadeln«647, reagiert Louise mit dem Versuch, die Notwendigkeit der sprachlichen Aneignung des Kunstwerks zu rechtfertigen: »ich sammle die Eindrücke in aller Andacht und Stille: aber dann muß ich sie innerlich in Worte übersetzen. Dadurch bestimme ich sie mir erst recht, dadurch halte ich sie fest, und diese Worte suchen dann natürlich den Ausweg in die Luft.«648 Louise verweist auf den Aneignungsprozess von Kunstwerken, der stets den Weg der Reflexion geht und Reflexion – diese Überlegung ist bereits aus den sprach- und erkenntnistheoretischen Kapiteln vertraut – beruht auf Abstraktion. Diese Abstraktionsleistung wiederum bedarf

645

646 647 648

Histoire et th¦ories de l’art. De Winckelmann — Panofsky 2 (1994), S. 29 – 37 oder Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 143 – 155. Auch Claudia Becker behandelt diese Thematik des Gesprächs. Obwohl sie aber selbst auf die besondere Gattung des Gesprächs hinweist, missachtet sie die von den einzelnen Dialogpartnern vorgetragenen, unterschiedlichen Positionen völlig und subsumiert sie stattdessen alle unter eine einheitliche, verkürzt dargestellte Position. Vgl. Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 147. A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 15. Ebd., S. 17. Ebd., S. 17 f.

240

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

– ebenfalls ein aus der Sprachtheorie bekanntes Argument – der Sprache, sowohl zur gedanklichen Fixierung der erkannten Eigenschaften als auch zu deren Mitteilung. Dieses reflektierende Aneignen der betrachteten Kunstwerke versteht Waller, der Dichter, als eigenständiges Werk. Er pocht auf das Recht, »Eindrücke mitzutheilen, die unser eignes Werk sind.«649 Reinhold, der Maler, nimmt in dieser Diskussion eine eindeutig sprachskeptische Position ein: »der Eindruck ist nur ein Schatten von dem Gemälde oder der Statue; und wie unvollkommen bezeichnen wieder die Worte den Eindruck« und er wird noch deutlicher : »Ja, die Sprache pfuschert an allen Dingen herum.«650 Waller schließlich ergänzt seinen lakonischen Einwurf, »Die Sprache vermag, wie Sie es nehmen, alles oder nichts«, sogleich um ein pathetisches Plädoyer für die Sprache: Lästern Sie nicht die große Schöpferin der Dinge, die einmal in der Seele des ersten Menschen rief: es werde Licht, und es ward Licht. Das einzelne Wort thut es freylich nicht, eben so wenig als der Zauber der Mahlerey in den abgesonderten Farben auf Ihrer Pallette liegt. Aber aus der Verbindung und Zusammenstellung der Worte gehen nicht nur Gestalten hervor : die Rede giebt ihnen auch ein Kolorit und kann stärker oder sanfter beleuchten.651

Schon die Metaphorik, mit der hier das Vermögen der Sprache beschrieben wird, hat sicher nicht zufällig ein synästhetisches Moment. Gerade die Gestaltungsmittel, die am deutlichsten ausschließlich der Malerei vorbehalten sind – das Kolorit und das Helldunkel – werden zu Metaphern für die sprachliche Darstellung. Die Analogie und die von Schlegel propagierte prinzipielle gegenseitige Übersetzbarkeit der einzelnen Künste werden hier auf metaphorischer Ebene eingelöst. Dass jedoch nicht die prosaisch-theoretische, sondern die poetische Sprache – also das sprachliche Kunstwerk – gemeint ist, deutet Waller schon hier an, denn »freylich muß« die Sprache »um hierin die höchste Vollkommenheit zu erreichen, auch die Töne mit Wahl zusammenstellen, und Bewegungen nach Gesetzen ordnen.«652 Reinhold nimmt hier die Rolle des advocatus diaboli ein und fragt Waller herausfordernd, indem er den Gedanken der Übersetzung auf die materielle Gestalt eines Kunstwerks bezieht: »Nun, Waller, zeichnen Sie mir doch einmal den verwünschten Ringer da mit Worten ab, da ich schon mit meiner Kreide so sehr den Kürzeren gegen ihn ziehe.«653 Diese Nachfrage Reinholds mit Bezug auf das konkrete Beispiel der Skulptur ermöglicht es Waller zu verdeutlichen, was er meint: »Es fällt mir nicht ein, mit der Sprache eben das 649 650 651 652 653

Ebd., S. 18. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18 f. Ebd., S. 19. Ebd., S. 19.

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ausrichten zu wollen, was nur ein sinnlicher Abdruck leisten kann. Ich sage bloß, daß sie fähig ist, den Geist eines Werkes der bildenden Kunst lebendig zu fassen und darzustellen.«654 Auf die im 18. Jahrhundert äußerst beliebte Geist-Buchstabe-Dichotomie anspielend, trifft Waller eine Unterscheidung zwischen der sinnlich wahrnehmbaren Gestalt eines Kunstwerks einerseits und der dargestellten Idee oder Vorstellung andererseits. Letztere als eine nicht an eine bestimmte Darstellungsform gebundene, rein geistige Vorstellung ist es, die seinem Verständnis nach in den verschiedenen Künsten in deren jeweiligem Medium gleichermaßen dargestellt werden könne. Auf diese Feststellung Wallers von der prinzipiell gleichen Eignung jeder Kunstgattung zur Darstellung eines Stoffes folgt Louises Forderung nach einer synästhetischen, zirkulären Transformation der einzelnen Gattungen ineinander. So macht sie deutlich, dass der Verzicht auf die sprachliche Vermittlung von Kunstwerken einem Auf-der-Stelle-Treten der bildkünstlerischen Werke gleichkäme. Diese Dialogpassage leitet zu der für den romantischen Synästhesiegedanken vielzitierten Forderung über, die Schlegel Louise in den Mund gelegt hat: Und so sollte man die Künste einander nähern und Uebergänge aus einer in die andre suchen. Bildsäulen beleben sich vielleicht zu Gemählden, (verstehen Sie mich recht, es sollte eine Verwandlung von Grund aus seyn, nicht wie manche Schüler ihre steinernen Akademien in ein Bild bringen) Gemählde würden zu Gedichten, Gedichte zu Musiken; und wer weiß? so eine feyerliche Kirchenmusik stiege auf einmal wieder als ein Tempel in die Luft.655

In diesen Kanon der Künste ist die Sprache als poetische Sprache des Gedichts eingegliedert. Zugleich lässt Louise aber auch das Begriffs- und Abstraktionsvermögen der Sprache nicht unberücksichtigt. Allerdings ist diese diskursive Verwendungsweise der Sprache aus dem Feld künstlerischer Darstellungsweisen herausgehoben und erscheint vielmehr als ein universales Medium der Vermittlung: »Für alle Künste, wie sie heißen mögen, ist nun doch die Sprache das allgemeine Organ der Mittheilung.«656 Im weiteren Verlauf des Gesprächs werden diese konstatierten Möglichkeiten der sprachlichen Vermittlung für den Bereich der Malerei durch Louise und Waller getestet.

654 Ebd., S. 19, Hervorhebung Y.A. 655 Ebd., S. 20. 656 Ebd., S. 21.

242 2.2

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Sprachliche Adaption der Malerei – Die Ekphrasis

Zwar wird August Wilhelm Schlegels Gemälde-Gespräch als einer der romantischen Schlüsseltexte zur bildenden Kunst betrachtet,657 doch wurden die einen Großteil des Textes ausmachenden Bildbeschreibungen – ausgenommen die Bildgedichte – bisher noch keiner eingehenden literaturwissenschaftlichen Betrachtung unterzogen. Die sprachlichen Mittel, derer sich die Dialogpartner zur Beschreibung der Gemälde bedienen, sollen hier unter besonderer Berücksichtigung der kunsttheoretischen Überlegungen untersucht werden. Dabei macht sich Schlegel die Form des Dialoges zu nutze, um die herrschende Praxis der Ekphrasis einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. So ist den vorgetragenen Ekphrasen eine theoretische Auseinandersetzung mit dieser Gattung vorgeschaltet. Einerseits ist es die in der Kunsttheorie geläufige Terminologie zur Beschreibung bildkünstlerischer Gestaltungstechniken, die den Erkenntnisprozess eher zu behindern als zu befördern scheint. Louise rechtfertigt den Verzicht auf diesen Fachwortschatz in ihren Bildbeschreibungen folgendermaßen: Sie können sich leicht vorstellen, daß ich nicht in Gefahr war, durch den Gebrauch der privilegirten Kunstwörter Amalien unverständlich zu werden. Es erschallt hier zwar genug um mich her von impasto, von Halbtinten, von Karnazion, von Pyramidalgruppen, von Kontrapost, von beaux accidens de lumiere und so weiter, daß ich wohl einige dieser Ausdrücke hätte erhaschen können: aber mir ist, als würde mir durch sie das wieder verdunkelt, was ich an sich klar genug erkenne.658

Ehe Louise ihre Bildbeschreibungen vorträgt, diskutiert sie mit Waller mögliche Vorbilder in dieser Gattung. Diderot als der bedeutendste Verfasser von Ekphrasen im 18. Jahrhundert ist der erste, der von Waller ins Spiel gebracht wird.659 Louise distanziert sich von »seinem leichten Gesellschaftstone«. Zugleich kritisiert sie, dass bei seinen Bildbeschreibungen die Qualität des literarischen Werkes bedeutender sei als die der vorgestellten bildkünstlerischen Werke. Dem sprachlichen Kunstwerk dienten die Gemälde allein zum Vorwand, die eigenen künstlerischen Möglichkeiten auszuloten und auszureizen, über dem die Eigenschaften der bildkünstlerischen Vorlage nicht selten aus den Augen verloren würden. So würden auch die Lobessprüche auf einige Werke eher zur dichterischen Übung, als dass sie dem Bildkunstwerk gerecht zu werden versuchten. Ebenso lieferten die offensichtlich schlechten Werke ihm einen 657 Vgl. z. B. Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 143. 658 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 22. 659 Wallers Wertschätzung für Diderot teilt A. W. Schlegel in einem seiner Athenaeums-Fragmente, in dem er schwärmt: »Sich eine Gemäldeausstellung von einem Diderot beschreiben lassen, ist ein wahrhaft kaiserlicher Luxus.« (KFSA, Bd. 4, S. 194).

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243

Vorwand zu »einigen witzige[n] Ungezogenheiten«660. Auch die von Louise ins Spiel gebrachten Ansichten Forsters scheinen als Vorbild nicht zu taugen. Waller kritisiert dessen subjektive Perspektive der Beurteilung, wodurch er die Werke lediglich auf ihre Gegenstände reduziere, ohne deren Behandlung zu berücksichtigen.661 Im Lichte dieser im Dialog geführten Kritik an den wichtigsten zeitgenössischen Verfassern von Ekphrasen sollen die in den Text selbst integrierten Bildbeschreibungen untersucht werden. Zunächst ist zu beachten, dass Schlegel in seinem Text zwei seiner Figuren Bildbeschreibungen vortragen lässt. Statt sich jedoch dialogisch abzuwechseln, trägt zunächst Louise ihr Repertoire vor, ehe Waller einige Versuche zum Besten gibt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Waller, der als Schriftsteller auch der Rezitator der Bildgedichte ist, sich nicht ausschließlich der Gattung der Ekphrasis bedient. Ehe er die Bildgedichte vorträgt, beschreibt er einige Gemälde in prosaischem Stil. Angesichts der Vielzahl von Ekphrasen, die Schlegel in sein Gespräch eingearbeitet hat, lassen sich zwei zentrale Fragen formulieren: Zum einen ist zu überlegen, ob Wahl und Reihenfolge der zum Vorwurf genommenen bildkünstlerischen Gattungen Aufschluss über ein dem Text inhärentes kunsthistorisches Programm liefern können? Desweiteren ist zu fragen, ob sich die beiden Sprecherfiguren – abgesehen von den Bildgedichten, die das Gespräch beschließen – ihrem Gegenstand mit sprachlich unterschiedlichen Mitteln nähern. Zunächst zu den Gattungen: Den Einstieg bilden Louises Landschaftsbeschreibungen. Mit dem Einsetzen bei dem Landschaftsgemälde, dem nach der damaligen Hierarchisierung der Gattungen zusammen mit dem Stilleben die beiden niedrigsten Stufen vorbehalten waren, lässt Schlegel die Ekphrasen der traditionellen Gattungsordnung folgen, die sie in aufsteigender Richtung abschreiten.662 Auf die Landschaftsschilderungen folgen Portraitbeschreibungen, die schließlich zur Betrachtung von Historiengemälden überleiten, die allgemein als höchste Gattung anerkannt werden.663 Die Abfolge der besprochenen Gattungen dient aber nicht allein der Spiegelung der Ordnung, an der die Hängung der Werke in einer Gemäldesammlung – hier Dresden – orientiert ist.664 Auch dient sie dazu, ein ganzes Set an kunsttheoretischen Fragestellungen, 660 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 23. 661 Ebd., S. 23 f. 662 Diese Hierarchie der Gattungen benennt Schlegel auch explizit in seiner Berliner Vorlesung über Kunstlehre aus dem Jahr 1801/02. Vgl. KV, Bd.1, S. 336 – 349. 663 Unterbrochen wird diese Rangfolge der Gattungen bei dem Wechsel der vortragenden Personen, wenn Luises Vortrag endet und Wallers Bildbeschreibungen einsetzen, die wiederum mit einem Portrait beginnen und sodann zu einer Reihe von Historiengemälden überleiten. 664 Die Werke waren in der Dresdner Gemäldesammlung in einer äußeren und einer inneren Galerie angeordnet. Während in der äußeren Galerie Werke niederländischer, französischer

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

die Schlegels Zeitgenossen beschäftigten, aufzurufen. So können vom Problem der Naturnachahmung und der Mimesis, über die Darstellungen des Charakteristischen und national Besonderen bis hin zur Diskussion der katholischreligiösen und antik-mythologischen Wurzeln der Kunst die wesentlichen, gegen Ende des Jahrhunderts brisanten Fragen aufgerufen und in den Dialogteilen, die den Ekphrasen zwischengeschoben sind, besprochen werden. So kreist ein Dialog, der den ersten Bildbeschreibungen Louisens vorangestellt ist, um die Frage der Naturdarstellung in der Malerei. Wie Wegner betont, ist es ein entscheidender Aspekt des Gesprächs, dass Louise ihre Ekphrasen zu Landschaftsgemälden nicht vor den Werken selbst vorträgt, sondern den realen Ausblick auf die Elblandschaft um Dresden als Kulisse wählt. Wegner gibt zu bedenken, dass so »eine Korrektur beziehungsweise eine Bestätigung des Wortes nicht unmittelbar folgen kann.«665 Entscheidender aber scheint der Umstand zu sein, dass auf diese Weise die Landschaftsdarstellung des Gemäldes mit der realen Naturanschauung konfrontiert werden kann. Wichtig ist auch, dass dies qua sprachlicher Vermittlung geschieht. Gerade an der Landschaftsmalerei entwickelt sich eine Diskussion, die das weite Feld der Debatte über Nachahmung umspannt. Waller vertritt die Position des traditionellen Mimesisverständnisses: Malerei soll möglichst unverfälschte Nachahmung der Natur sein. Von dieser Prämisse ausgehend erscheint die Landschaftsmalerei als die unzulänglichste Gattung. So beklagt Waller : »Wenn die Malerey nur nicht gerade in diesem Fache gegen die Größe der Natur am meisten verlöre! Alle Landschaftsmalerey ist doch nur eine Art von Miniatur.«666 Reinhold, der Maler, rückt diese Ansicht deutlich zurecht: »Miniatur besteht darin«, so belehrt er seinen Kontrahenten, »wenn ein Gegenstand klein und dabey mit einer Deutlichkeit in seinen Theilen abgebildet wird, die sie nicht haben könnten, wenn die Verkleinerung von der Entfernung herrührte. Dies braucht der Landschaftsmahler so wenig zu thun, daß es vielmehr allen Zauber zerstört, wenn er es sich zu Schulden kommen läßt.«667 Dem Beharren Wallers und deutscher Künstler gezeigt wurden, hingen die – am höchsten geschätzten – Italiener in der inneren Galerie (Vgl. Heres, Gerald: Dresdener Kunstsammlungen im 18. Jahrhundert, Leipzig 2006, S. 128). Die Bildbeschreibungen Louisens beginnen mit Werken aus der äußeren Galerie und gehen dann zu den italienischen Historiengemälden der inneren Galerie über, ebenso schreitet Waller in seinen Ekphrasen von Werken der äußeren zu Werken der inneren Galerie. (Vgl. die Angaben zur Hängung der besprochenen Werke im Anmerkungsapparat von Lothar Müller in: A. W. Schlegel: Die Gemählde. Gespräch, hrsg. v. Lother Müller, Dresden 1996, S. 127 – 164. 665 Wegner, Der geteilte Blick, S. 14. 666 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 24. 667 Ebd., S. 24 f. Hier legt August Wilhelm Schlegel Reinhold seine eigene Meinung in den Mund. Deutlich wird dies, wenn man die von Reinhold vertretenen Positionen mit den Ausführungen über die Malerei aus Schlegels Berliner Vorlesung zur schönen Literatur und Kunst vergleicht, wo es heißt: »Die Grenze der Malerey ist da wo vom Schein abstrahiert

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auf den wirklichen Gegebenheiten der Natur entgegnet Reinhold mit optischem Fachwissen: Sie denken die Entfernung auch nur, Sie sehen sie nicht. Die Mahlerey unternimmt ja nicht die Gegenstände abzubilden wie sie sind, sondern wie sie erscheinen. Wie groß erscheint denn die Landschaft vor uns? Ihre Antwort würde hier noch ziemlich ruhig ausfallen, nicht weil Sie den Umfang wirklich sehen, sondern weil Sie ihn historisch wissen. Die Entfernung der Stadt haben wir ungefähr mit den Füßen ausgemessen, und am äußersten Horizont bemerken wir die viereckigen Felsen vom Königstein und Lilienstein. Aber wie groß erscheint der Himmel? wie groß das Meer? Das Auge an sich kennt nur die scheinbare Größe der Gegenstände in ihrem Verhältnisse unter einander : ein naher Raubvogel, der ein entferntes Wölkchen verdeckt, ist ihm eben so groß. Auf die Entfernungen schließen wir nur aus den gedämpften Farben und verlohrneren Umrissen; und so berechnen wir die wahre Größe, indem wir nahe bekannte Gegenstände, einen Baum, eine menschliche Figur als Maßstab zu Hülfe nehmen. Dergleichen setzt der Landschafter in den Vordergrund hin.668

Die Ausführungen, die August Wilhelm Schlegel im Gemählde-Gespräch Reinhold in den Mund legt, decken sich mit seinen eigenen, wie er sie zwei Jahre später in seiner Berliner Vorlesung über Schöne Literatur und Kunst vorträgt: Der reine Gesichtssinn giebt uns nichts als Lichtgrade und Farben, Gränzen derselben und folglich Umrisse und Figuren, und endlich relative Größen dieser colorirten Massen. Über die Formen der Gegenstände aber und ihre wahre Größe, ferner über ihre Entfernung und wirkliche Lage gegen einander, belehrt uns nur die Vergleichung andrer Eindrücke und Versuche mit denen des Gesichts.669

Dieser bildkünstlerischen Wiedergabe der Erscheinung der Natur, wie sie beim Sehen wahrgenommen wird, stellt er in seiner Kunstlehre eine Darstellungsweise gegenüber, die darum bemüht ist, die Landschaft – oft unter Zuhilfenahme einer camera obscura – in ihrer geomorphologischen Beschaffenheit möglichst exakt wiederzugeben: Das bloße perspectivische Aufnehmen von Gegenden, aufs Gratewohl, oder um einen deutlichen Begriff von ihrer Lage zu geben, ist freylich Copisten-Arbeit, welche nicht in das Gebiet der schönen Kunst gehört. Dabey mag auch der Gebrauch eines mechaniwird. Der Illuminierer von Conchylien und Insekten-Bildern, der diese Gegenstände genau copirt, ohne Schattirung und Helldunkel, auch ohne weitere Umgebung auf ein weißes Papier hinpinselt, ist kein Mahler. Sie arbeiten für den Naturforscher, dem darum zu thun ist, die Gegenstände, wie sie wirklich sind, nicht wie sie erscheinen kennen zu lernen. […] Es ist kein freyes Auffassen der Erscheinung, weil sie sich in einer gewissen Entfernung und Beleuchtung darbietet in einem solchen Bilde, sondern ein ein ekelhaftes Anatomiren der Oberfläche, dessen Effekt im ganzen, bey der genauesten Nachahmerey des einzelnen, dann doch nicht wahr ist, weil die Malerey nur durch den Schein zur Wahrheit gelangt.« (A. W. Schlegel, Die Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 336). 668 A. W. Schlegel, die Gemählde, S. 25 f. 669 A. W. Schlegel, Die Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 323.

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schen Hülfsmittels, der camera obscura, welche Algoretti so sehr empfiehlt, sehr zu Statten kommen; aber bey eigentlich pittoresken Zwecken möchte es bedenklich seyn, und zu einer kleinlichen Manier hinlenken. […] Der Vorwurf gegen die Landschaftsmahlerey, daß sie in Vergleich mit der Natur zu sehr durch die Dimensionen verliere, ist ungegründet. Denn eine Aussicht wird nicht nach ihrer wahren Ausdehnung, sondern nach dem Scheine beurtheilt, und indem der Künstler diesen mächtig auffasst, kann er in Landschaften sogar colossal bilden.670

Diese theoretischen Auffassungen über das Landschaftsgemälde spiegeln sich auch in den von Louise vorgetragenen Ekphrasen zu Werken von Salvator Rosa, Claude Lorrain, Ruisdael und Hackert wider. Die Bildbeschreibungen, die die Werke der drei erstgenannten Künstler betrachten, thematisieren fortwährend die Farb- und die Helldunkelgestaltung. Die Einlösung der zuvor aufgestellten Forderung, die Malerei müsse den Schein wiedergeben, soll an den drei besprochenen Werken belegt werden. So heißt es über die Landschaft Claude Lorrains: »Die ganze Luft ist mitgemahlt: kein Gegenstand steht nackt da, ihr durchsichtiger Schleyer ist über ihn geworfen.«671 Die in den Ekphrasen festgehaltenen Beobachtungen Louises ergänzend, betont Reinhold die Bedeutung des Kolorits und des Chiaroscuro, die er – die tradierte Gewichtung zugunsten der Zeichnung umdrehend – als die wesentlichen Momente der Malerei herausstreicht.672 Schließlich stellt Louise den drei ersten Landschaftsdarstellungen noch die Beschreibung eines Landschaftsgemäldes von Hackert gegenüber. Schon an der Beschreibung fällt auf, dass sie Verweise auf atmosphärische Wirkungen von Licht und Farbe gänzlich vermissen lässt. So fällt Louise auch am Ende ihrer Ausführungen in einen theoretisierenden Duktus, wenn sie resümiert: »Woher kommt es aber, daß dieß blendende Gemählde in seiner weiten Ausdehnung dennoch keinen Eindruck von Größe und erhabnem Reiz macht […]? Ich glaube, weil es nach Art der camera obscura wiedergiebt: das Große in einer netten Verkleinerung. Es wirkt weniger als die Natur vermag und doch nicht genug als Kunst.«673 Hatte Waller in Bezug auf die Landschaftsmalerei noch die Rolle des Gegenspielers inne, so stimmt er in Bezug auf die Portraits und Historiengemälde in das Vortragen von Ekphrasen mit ein. Dementsprechend soll bei der folgenden Untersuchung der Ekphrasen die literarische Darstellungsweise Louises 670 Ebd., S. 340. 671 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 28 f. 672 Vgl. ebd., S. 33, wo Reinhold sagt »so wissen wir auch, was wir vom dem Urtheile derer zu halten haben, welche die Färbung und Beleuchtung, die Mittel, wodurch die Körper erst erscheinen, zu untergeordneten Theilen der Malerey, oder wohl gar zu unwesentlichen Reizen derselben herabsetzen. Sie ist ja eigentlich die Kunst des Scheins, wie die Bildnerey die Kunst der Formen«. 673 Ebd., S. 37.

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mit jener Wallers verglichen werden. Von Interesse an diesem Vergleich ist die Frage, ob Waller, der in diesem Dialog als Schriftsteller in Erscheinung tritt und die Bildgedichte am Ende des Gesprächs vorträgt, auch seine Ekphrasen mit sprachlich anderen Mitteln gestaltet. Ein Vergleich zweier Portraitbeschreibungen von Louise und Waller sollen dabei den Einstieg bilden. Seine besondere Wertschätzung für die Gattung des Portraits hat August Wilhelm Schlegel bereits in einem seiner AthenaeumsFragmente zum Ausdruck gebracht, in dem es – bereits mit vergleichendem Seitenblick auf die Dichtung – heißt: Welche Vorstellungen müssen die Theoristen gehabt haben, die das Portrait vom Gebiet der eigentlich schönen, freien und schaffenden Kunst ausschließen. Es ist gerade, als wollte man es nicht für Poesie gelten lassen, wenn ein Dichter seine wirkliche Geliebte besingt. Das Portrait ist die Grundlage und der Prüfstein des historischen Gemäldes.674

Die mimetische Bezugnahme auf einen lebenden Menschen – statt der Präsentation eines Ideals – schmälert für Schlegel den Wert des Werkes nicht. Vielmehr plädiert er auch für eine Orientierung des Historiengemäldes an wirklichen Gegebenheiten, die – das ist hier impliziert – die rein idealisierende Darstellungsweise ergänzen soll. Diesen Grundgedanken berücksichtigend, soll bei der folgenden Betrachtung der Ekphrasen ein besonderes Augenmerk auf die Beschreibungsmodi profaner und heiliger Gestalten gerichtet werden. Aus dem Repertoire von Bildbeschreibungen, die Louise zu dem Dialog beisteuert, eignet sich die Beschreibung eines Familienportraits des Bürgermeisters von Basel, Jakob Meyers, das zu dieser Zeit noch Holbein zugeschrieben wurde,675 zu einer exemplarischen Betrachtung. Das Gruppenportrait zeigt die Familienmitglieder, »wie alle sich der Mutter Gottes und dem Jesuskinde weihen«676, wobei sich die männlichen und die weiblichen Familienmitglieder auf je einer Seite des Marienbildnisses gruppieren. Diese Gegebenheit erlaubt es dem Maler, ein profanes Portrait mit einem Heiligenportrait zu verbinden. Wie Schlegel sprachlich darauf reagiert, soll im Folgenden analysiert werden. Rein deskriptive Passagen, die die Darstellung der Figuren möglichst detailgenau zu erfassen suchen, wechseln mit Charakterisierungen ab, die aus 674 A. W. Schlegel, Athenaeums-Fragment Nr. 309 (KFSA, Bd. 4, S. 217). 675 Das von Francesco Algarotti für die Dresdner Gemäldesammlung erworbene Werk Die Mandonna des Bürgermeisters Meyer wurde bis ins 19. Jahrhundert hinein für das Original Holbeins gehalten. Tatsächlich handelt es sich bei dem Werk, auf das sich auch Schlegel bezieht, um eine Kopie von Bartholomäus Sarburgh. Das Original, die sogenannte Darmstädter Madonna, befindet sich heute in Frankfurt im Städelschen Kunstinstitut. (Vgl. Menz, Henner : Kunstkammer und Gemäldegalerie in Dresden und der Gedanke der Sammlungseinheit, in: Dresdner Kunstblätter 29 [1985], S. 162 – 168, hier S. 166). 676 A.W. Schlegel, Die Gemählde, S. 39.

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diesen Gebärden abgeleitet werden. Damit operiert diese Bildbeschreibung mit der Balance zwischen dem Aufrufen von Fakten und von Affekten, die Gottfried Boehm für die Ekphrasis als gattungstypisch herausgearbeitet hat.677 So wird der Vater, Jakob Meyer, zunächst in Position, Haltung und Gebärden beschrieben: Der Vater, zunächst an der Jungfrau, nach ihr hin, doch etwas mehr vorwärts gewandt; wie es scheint, (denn er wird großentheils verdeckt) auf beyden Knien liegend. Seine Kleidung ist schwarz mit Pelz gefüttert. Der Kopf mit dem kurz abgeschnittenen dunklen Haar drückt sich in den Nacken, das Kinn tritt vor, die gehobenen Hände greifen fest in einander.678

Dieser deskriptiven Passage folgt die Charakterisierung der Figur : In seinen Gebehrden ist eine kräftige Inbrunst, ohne alle Frömmeley und Abgeschiedenheit von der Welt. Man sieht wohl, er faßt diese heilige Pflicht so herzhaft an wie jede irdische, und der biedre, wackre Bürger trägt die rüstige Thätigkeit seines Lebens in seine Andacht über, zugleich mit aller Würde, die ihn begleitet, wann er zu Rathe sitzt. Es ist ein herrliches unbekümmertes Zutrauen in den Kopfe; das Gebet scheint die gesunde natürliche Farbe noch ein wenig erhöht zu haben. Kein Zug ist schlaff; sie drücken alle das wohl und recht gemeynte der Handlung aus, ohne daß doch einer überflüssig angestrengt würde.679

In ähnlicher Weise ist die Frauengruppe beschrieben. Eine einleitende charakterisierende Interpretation wechselt mit einer äußerst detaillierten Beschreibung, auch der Kleidung, die wiederum zu einer Interpretation des Ausdrucks überleitet. Allein ein Kunstgriff findet sich bei der Beschreibung der beiden Figurengruppen: beide werden durch die Betrachtung des jüngsten Kindes beschlossen. Die Haltung eines jeden Kindes wird durch einen Vergleich veranschaulicht, der behutsam poetische Stilmittel in die ansonsten streng prosaische Bildbeschreibung einfließen lässt. Dabei korrespondiert die Bildsprache beider Vergleiche miteinander. Über den jüngsten Sohn der Familie heißt es: »Sein Körper ist äußerst lieblich, zart und rund gehalten bey der großen Bestimmtheit der Zeichnung, das Gesichtchen recht schalkhaft, und so macht es den artigen Kontrast gegen die Uebrigen, wie eine reizende Blume in einem nützlichen Garten.«680 In kontrastierender Weise wird das Blütenmotiv zur Charakterisierung der jüngsten Tochter variiert: Sie betet am Rosenkranz, und sieht, die Wahrheit zu sagen, dabey etwas langweilig und etwas albern vor sich hin: man weiß nicht, ob es die Albernheit der Langeweile, oder die 677 So konstatiert Gottfried Boehm, dass Ekphrasen »offenbar darauf angewiesen [sind], ein Gefälle zwischen Fakten und Affekten zustandezubringen.« (Boehm, Bildbeschreibung, S. 34). 678 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 39. 679 Ebd., S. 39 f. 680 Ebd., S. 41.

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Langeweile der Albernheit ist. Sie gleicht einer Blüthe, die in harter Schale verschlossen gehalten wird, bis die Jahrszeit vergeht, in der sie sich entfalten könnte.681

An die Beschreibung der Figurengruppen schließt die Schilderung der Madonna an. Die sprachliche Gestaltung markiert deutlich die unterschiedliche Bedeutung der Portraitierten einerseits und der Heiligengestalt andererseits. Die Beschreibung der Madonna lässt deskriptive und charakterisierende Elemente ineinanderfließen. Sprachlich wird dies dadurch realisiert, dass den einzelnen aufgerufenen Merkmalen wertend-charakterisierende Adjektive und Adverben beigegeben werden, die zugleich die Ausdrucksqualitäten der dargestellten Gestalt zu erfassen versuchen. So heißt es in der Beschreibung ihres Antlitzes: Ihre Ergebung ist liebevoll, ihre Züchtigkeit milde, sie senkt den Blick anmuthig, und die volle Wölbung der Augenlieder läßt seelenvolle Augen unter ihnen vermuthen. Der Mund ist von großer Lieblichkeit, unter den Augen aber fehlt diese: es ist da wie eine leere Stelle, wo sie verflogen wäre. Sie trägt auf dem Haupt eine reiche Krone, deren schmale Bogen wie Blenden jeder ein Heiligenbild, künstlich in Gold gearbeitet, enthalten; die aber, etwas zurückgeschoben, die hohe reine Stirn ganz erkennen läßt.682

Am Ende der Madonnenbeschreibung lässt Schlegel Louise feststellen: »Ich halte diese Madonna nicht für ein Porträt, sondern aus der Idee gemahlt.«683 und lässt damit unwillkürlich an »Raffaels Erscheinung« aus den von Schlegel rezensierten Herzensergießungen Wackenroders denken. Damit wird nicht der mimetische Wert des Bildes, sondern sein Gründen in einer mentalen Vorstellung betont. Auf seltsame Weise wird allerdings Holbeins ideale Madonnengestalt durch Louise um eine weitere Charakterisierung ergänzt: »keine Italiänische Madonna« sei sie, »sondern eine deutsche liebe Frau, zu der solche Frauen wie die neben ihr knieenden mit Zuversicht beten können.«684 So vermischt sich die idealisierte Gestalt zugleich mit dem deutschen Nationalcharakter. Klassische Forderungen nach idealer Schönheit werden mit dem jüngsten Interesse am national individuellen Ausdruck gepaart.685 Wie nun bietet Waller eine Portraitbeschreibung dar? Sein Kunstgriff, profanes Portrait und Heiligendarstellung miteinander zu verbinden, ist ungleich 681 682 683 684 685

Ebd., S. 42. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43. Ebd., S. 43. Vgl. zur Umwertung und Zurückdrängung des klassischen Kunstideals durch Konzepte des Individuellen in der Romantik: Büttner, Frank: Das Charakteristische, das Eigentümliche und das Volkstümliche. Zu den Wandlungen eines kunsttheoretischen Postulats und einigen Versuchen seiner Verwirklichung in der bildenden Kunst der deutschen Romantik, in: Einheit der Romantik. Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Bernd Auerochs u. Dirk von Petersdorff, Paderborn 2009, S. 81 – 108, bes. S. 81 – 85.

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geschickter. Dies zeigt sich in seiner Beschreibung des Christuskopfes von Hannibal Carracci. Während seiner gesamten Schilderung lässt er seine Zuhörer darüber im Unklaren, um welches Werk es sich bei dem beschriebenen Gemälde handelt. Ein jungendlich männlicher Kopf voll Ruhe und Würde: das Haar von schönstem Braun, oben gescheitelt aber nicht gleich von ebner Länge, tritt hier und da unregelmäßig in die ebne, wenig gewölbte Stirn herein, und fließt an beyden Seiten des länglichten, doch geräumigen Gesichtes auf die Schultern herab; große braune Augen von offnem, festem, lichtem Blick, über die sich die vom aufgeschlagenen Augenliede gebildete Linie in ungewöhnlicher Entfernung schön gebogen herumzieht; über ihnen Schatten durch die Vertiefung unter den Augenbrauen; diese nicht stark, welches die Majestät vermindert, aber auch nicht schlicht anliegend, sondern von etwas strebendem und ungleichem Haar, und also auch nicht von einem leidenden Charakter.686

Wieder werden in der zusammenfassenden Charakterisierung antik-klassisches Ideal und Vorstellungen von Nationalcharakter miteinander verbunden, diesmal jedoch – dem Duktus der vorangegangenen Beschreibung folgend – knapper und pointierter : Waller lässt seine Charakterisierung mit dem Fazit enden: »viel von einem Sohne Jupiters und doch auch etwas von einem Juden«.687 Erst im Anschluss daran wird dem Zuhörer seines Vortrags enthüllt, um welche Gestalt es sich bei der Darstellung handelt: »das ist der Christuskopf des Hannibal Carracci.«688 Theologisch gesprochen könnte man sagen, die Zwei-NaturenLehre, wonach göttliche und menschliche Natur in Jesus Christus »ungeschieden und unvermischt«689 nebeneinander bestehen, wird hier als bildkünstlerisch eingelöst gedeutet und ins Sprachliche übersetzt.690 Wie aber gehen die Bildbeschreibungen mit den biblischen Stoffen von Historiengemälden um? Wird auch die Orientierung von Historiengemälden an literarischen Stoffen nicht in Frage gestellt, so lässt Schlegel Louise doch die Einsicht formulieren, dass allzu detaillierte und komplexe narrative Vorgaben die gestalterische Freiheit des Malers eher behindern. Geeignet scheinen aus diesem Grunde vor allem christliche (biblische) Stoffe, deren Schilderungen mitunter recht knapp gehalten sind. Ohne, dass die antike Mythologie explizit erwähnt wird, steht vor 686 687 688 689 690

A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 95. Ebd., S. 97. Ebd., S. 97. DH 302. Zur Zwei-Naturen-Lehre, die auf dem Konzil von Chalkedon im Jahr 451 dogmatisch festgeschrieben wurde und damit die Einigung über eine lange währende theologische Auseinandersetzung über das Verständnis der menschlichen und der göttlichen Natur in Jesus Christus erzielte, vgl. Hans-Walter Stork: Art.: Jesus Christus II. Theologie- u. kirchengeschichtlich, in: LThK 5, S. 815 – 827.

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dem Hintergrund des zeitgenössischen kunsttheoretischen Diskurses außer Frage, dass sie es ist, dergegenüber das Plädoyer für die christlichen Stoffe gilt: »Es giebt unter den christlichen Sagen manche Gegenstände für den Mahler, die eben durch ihre Einfachheit reich sind, weil er sie sich denken kann, wie er will.«691 Dieser Beobachtung wird sogleich ein Beispiel beigestellt, das anhand von zwei vergleichenden Bildbeschreibungen die aufgestellte These verifizieren soll: So ist bey der Flucht nach Egypten, und der Ruhe während derselben nichts vorgeschrieben, als die holde Mutter und das Kind, ihren alten väterlichen Freund, und allenfalls den dienstbaren Gefährten, den Esel, unter freyem Himmel zu versammeln. Keine Handlung, die künstlich gruppirt werden müsste, und doch eine Situation, die so schön gruppirt werden kann. Ferdinand Boll und Trevisani haben sie in einem ganz verschiedenen Sinne genommen.692

Diese allgemeinen Ausführungen leiten zu den beiden Bildbeschreibungen über, die als Vergleich der unterschiedlichen Behandlung des biblischen Stoffes bei den beiden genannten Malern angelegt sind. Der Schwerpunkt dieses Vergleichs liegt auf dem unterschiedlichen Ausdruckswert der beiden Gemälde und der damit einhergehenden unterschiedlichen bildkünstlerischen Charakterisierung der biblischen Gestalten und der dargestellten Situation. Es geht also letztlich um die jeweilige Interpretation des dargestellten Stoffes durch den Maler. Die Stimmung des Gemäldes als Ganzem wird dabei bereits an der Bearbeitung des Hintergrundes und der Farbgebung festgemacht. Diese Beobachtungen leiten beide Bildbeschreibungen ein und bilden jeweils die Grundlage für die Figurenbetrachtung. Bolls Landschaft wird als ein Ort vorgestellt, »wo alles erstorben scheint, und das Grün der wenigen breitblättrigen Pflanzen und des Buschwerks sich in ein trocknes Braun verwandelt hat.«693 Dieser Metamorphose, die sich mit der Landschaft vollzogen hat, korrespondiert der Zustand der »erschöpfte[n] Familie«694. Maria und der Jesusknabe werden anknüpfend an die Landschaftsschilderung durch eine Reihe von Naturmetaphern charakterisiert:695 Sie blickt zum Kinde herab, das ganz eingewindelt auf einem länglichten Küssen in ihrem Schooße eingeschlummert ist, eine welkende Blüthe, abgefallen von der mütterlichen Brust, deren Quellen versiegt sind, und die auch durch ihre Form nicht an die frohe Schönheit glücklicher Tage erinnert.696 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 45. Ebd., S. 45. Seit dem 18. Jahrhundert ist es gebräuchlich, Naturmetaphern in der Bildbeschreibung zu verwenden. Vgl. Rosenberg, Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist, S. 279. 696 Ebd., S. 46.

691 692 693 694 695

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Nachdem die Beschreibung Figur um Figur abschreitet, um sie jeweils einer Charakterisierung zu unterziehen, wird in einem Fazit der Aussagegehalt des Gemäldes versammelt: »Alles ist hier das treue Bild menschlicher Noth, kein göttlicher Funken darin, der sie erhebt, kein Leuchten der Hoffnung das sie mildert.«697 Diese Darstellung vermittelt »die vollkommene Wahrheit […] der leidenden irdischen Natur«. Auf dieses Fazit nimmt die unmittelbar anschließende Beschreibung von Trevisanis Darstellung Bezug, von der gesagt wird, dass sie »sie [die leidende irdische Natur, Y.A.] mit fröhlichem Muth über das Bedürfniß weggehoben« hat.698 Die idealisierende Gestaltungsweise Travisanis deutet sich schon in der Beigabe einer antiken Plastik zum Landschaftsraum an: »Seine Landschaft schon ist gefällig erfunden: zur Rechten vorn ein hohes Fußgestell mit dem Untertheil einer zerbrochnen Statue, die freylich nicht in Eqypten sondern in Griechenland zu Hause ist.«699 Neben weiteren allegorischen Elementen, wie den Putti, ist die Darstellung der Heiligen Familie selbst allegorisierend ausgeführt: »In der Mitte erhebt sich ein prächtiger Baum und nimmt Marien in seinen Schatten auf: sie sitzt mit übereinander geschlagenen ausgestreckten Füßen, als dem symbolischen Zeichen ihres Ausruhens; sonst bei weitem nicht so natürlich und bequem als die erste arme Mutter, was sie auch gar nicht nöthig zu haben scheint. Sorglos und bescheiden mit niedergesenktem Blick ergötzt sie sich an dem Kinde, das seitwärts von ihrem Schooße mit den Händen und Füßen begierig vorstrebend herunter will zu den beyden Engeln, die auf einem Stein vor ihm knieen. Sie hat ein hübsches liebliches Gesicht; der Schleyer wirft einen Schatten über das eine Auge hin, womit der Mahler in ihre Seele etwas kockett gewesen ist.«700 Anstatt wie Boll die mimetische Darstellung einer Fluchtsituation zu schaffen, orientiert Travisani sein Gemälde an antikmythologisch beeinflussten Idyllen: »Die gemeine Wahrheit, die sterbliche Sorge ist davon, aber gewiß ist das Ganze weit poetischer gedacht, wenn es gleich keinen großen Charakter hat.« Beide Behandlungen des Themas werden nach Louises Urteil dem Stoff und seinen theologischen Implikationen nicht gerecht: »Maria ist nicht die göttliche Mutter, sie ist eine reizende Nymphe, dort ein Mühebeladnes Weib. Wie schön und edel ließe sich diese Lücke ausfüllen!«701 Neben den oben bereits exemplarisch durchgeführten Betrachtungen der sprachlichen Mittel, denen sich die Ekphrasen des Gemählde-Gesprächs zur verbalen Wiedergabe von Gemälden bedienen, sind aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auch jene Bildbeschreibungen interessant, die das im Bild dargestellte Geschehen narrativ erweitern. Die im Bild implizierten und ange697 698 699 700 701

Ebd., S. 47. Ebd., S. 47. Ebd., S. 47. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48.

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deuteten Ereignisse, die den dargestellten Moment vorbereiteten und bedingten, werden in der Bildbeschreibung ergänzt. Ein Mittel, diese Ergänzungen einzubringen, liegt in der interpretierenden Beschreibung von Gesten und Ausdrucksweisen der Figuren. So wird etwa die Bildbeschreibung einer Magdalenen-Darstellung von Francesthini durch eine Rückblende eingeleitet, mittels derer der Handlungsablauf bis zur dargestellten Szene spekulativ rekonstruiert wird: Sie [Magdalena, Y.A.] ist ermattet von der ersten Bewegung über die Predigt des Heilandes, die sie endlich einmal in der fröhlichen Welt zum Nachdenken gebracht hat. So mag sie nach Hause gekommen seyn, ihre Dienerinnen ihr entgegen, vielleicht mit neuem Schmuck und Bothschaften, die sie alle von sich weist, und sich in heißen Thränen auf einen Sessel wirft. Die Frauen haben sich um sie hergestellt, und sind ganz mit ihr beschäftigt.702

Dass es sich hier um Spekulationen handelt, die über die bildliche Darstellung hinausgreifen, wird mit der Konjunktivpartikel »mag« und dem Adverb »vielleicht« kenntlich gemacht. An diese Interpretation des Geschehens knüpfen die Rekonstruktionen von Gedanken und sprachlichen Äußerungen der Figuren an, die aus deren Ausdruck herausgelesen werden. So heißt es über Magdalena: »ihr Mund spricht: kannst du mir nicht helfen aus diesem Labyrinth? weißt du nicht, was ich thun soll, um die Noth in meiner Brust zu stillen?« Und Mimik und Gestik einer der sie umgebenden Dienerinnen verleitet Louise zu folgender Mutmaßung über ihre Gedanken: »was soll dies bedeuten? Was fehlt meiner schönen Gebieterin? wie kann man sich so kränken?«703 Auf diese Weise werden die im Bild dargestellten Figuren nicht mehr nacheinander einer möglichst umfassenden Beschreibung unterzogen, sondern sie werden in einem Handlungszusammenhang gesehen, der mit Hilfe der Sprache rekonstruiert werden soll. Die durch räumliche Anordnung und körperliche Haltung dargestellte Interaktion der Figuren wird – die Beschreibung ergänzend – in sprachlich-dialogische Interaktion übersetzt. Zugleich hat dies zur Folge, dass die Bildbeschreibung Züge eines eigenständigen narrativen Textes anzunehmen beginnt. Auf dieser Ebene scheint es um die möglichst gelungene sprachliche Wiedergabe der Darstellung zu gehen, ohne dass die vom Maler angewendeten künstlerischen Mittel kritisch befragt werden. Allerdings finden sich auch Ansätze einer kunsthistorischen Betrachtung der Gemälde innerhalb der Bildbeschreibungen.704 Sie sind meist als einleitende

702 Ebd., S. 56. 703 Ebd., S. 57. 704 Eine solche »systematische und analytische« Beschreibung von Gemälden nach »vorgegebenen Kategorien […] (Sujet, Komposition, Zeichnung, Farbe, Licht, etc.)« ist seit dem

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oder abschließende Passagen in die Bildbeschreibung eingearbeitet und dienen vor allem an den Scharnierstellen zwischen Ekphrasis und übergeordnetem Dialog zur Überleitung in den Dialogteil, dem die kunsttheoretischen Überlegungen überwiegend vorbehalten sind. Solche kunsthistorischen Betrachtungen der Darstellung sind in der Magdalenen-Beschreibung mit der knappen Bemerkung über die Komposition der Figurengruppe und das Kolorit sowie die Interpretation der Geißel in den Händeln Magdalenas als Attribut von »symbolischer« Bedeutung gegeben.705 Nachdem Louise ihr Repertoire an Bildbeschreibungen vorgetragen hat, knüpft Waller an ihre Beschreibungen an und ergänzt noch nicht besprochene Werke der Dresdner Galerie aus seinen eigenen Ekphrasen. Bereits zu Beginn des Kapitels ist darauf verwiesen worden, dass Schlegel die Bildbeschreibungen durch zwei verschiedene Figuren vortragen lässt, von denen eine den Schriftsteller verkörpert. Und tatsächlich lässt sich nachweisen, dass sich die Bildbeschreibungen Wallers durch einen deutlich stärkeren literarischen Charakter auszeichnen. Waller geht in seinen Beschreibungen deutlicher dazu über, das im Gemälde dargestellte Geschehen in eine literarische Behandlung zu übersetzen. In seiner Beschreibung von Rubens Quos ego etwa hält er sich nicht mehr mit einer detaillierten Benennung der einzelnen Merkmale in Neptuns Antlitz auf, aus denen er auf Ausdruck und Charakter schließen würde, sondern benennt den Ausdruck sogleich: »In dem Kopfe ist dagegen der ohnmächtige Zorn eines ganz gemeinen Menschen – was sage ich? eines alten Weibes. Die zerwehten greisen Haare werden auch der Sache nicht den Ausschlag geben. Man wundert sich, daß er durch das Alter nicht zu mehr Vernunft gekommen ist.«706 Hier wird nicht mehr der Versuch unternommen, dem Zuhörer resp. Leser möglichst genau die bildnerischen Mittel vor Augen zu führen, denen sich der Maler bedient, um seiner Figur diesen Ausdruck zu verleihen. Dem literarischen Werk ähnlich, wird die Figur sogleich charakterisiert und die Vorstellung der konkreten physischen Erscheinung dieser Gestalt der Phantasie des Zuhörers überlassen. Lediglich auf einzelne Merkmale wird noch Bezug genommen, wie auf die »zerwehten Haare«. Auch die Schilderung der Szene und ihres Hintergrunds folgt nicht mehr einer möglichst exakten Beschreibung der bildkünst17. Jahrhundert geläufig. Vgl. Rosenberg, Inwiefern Ekphrasis keine Bildbeschreibung ist, S. 279. 705 Die von Louise vorgetragene Bildbeschreibung endet mit den Beobachtungen: »So bindet sich die Gruppe durch eine vortreffliche Harmonie der Stellungen und des Ausdrucks, wobey das Kolorit nicht in Betrachtung kommt, da es in ein todtes Grau fällt, und der Grund so sehr nachgeschwärzt hat, daß man nur mit Mühe die Umrisse darin unterscheidet. […] Auch über die Geißel sehe ich gern hinweg, die der Magdalena ein wenig zu frühzeitig in die Hand gegeben worden. Man muß sie symbolisch nehmen. Die Buße ist so lebhaft in ihr wie die Freude an der Welt.« (A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 58). 706 A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 82.

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lerischen Darstellung, sondern erfasst deren Charakter mit Hilfe von rhetorischen Stilmitteln. Auffällig ist dabei besonders die Häufung von Anthropomorphisierungen, die es erlauben, die Stimmung der Situation durch die Umgebung zu interpretieren: Man weiß wirklich nicht, ob er [Neptun, Y.A.] Getümmel erregen oder besänftigen will; und sieht man auf den blasenden Triton vor ihm her, auf die wilden Rosse, die empörten Wellen rings herum, den Sturm im Gemüth des Gottes wie in seinem fliegenden Gewand und Haar, so muß man jenes glauben. Die entfliehenden Winde oben betragen sich gesitteter mit ihrem in Flügelgestalt ausgestreckten Armen und Beinen, und die Schiffe in der Ferne segeln ganz ruhig, nicht etwa schräg gelehnt, und im aufspritzenden Schaume halb vergraben.707

August Wilhelm Schlegel lässt seine Dialogfiguren in den vorgetragenen Ekphrasen ein breit gefächertes Repertoire an Möglichkeiten der Bildbeschreibung durchspielen. Wie sehr sich Schlegel dieser Möglichkeit der unterschiedlichen Beschreibungsmodi bewusst war und diese Variationen in der sprachlichen Darstellung gezielt eingesetzt hat, davon gibt ein Athenaeums-Fragment Zeugnis, in dem er die Anforderungen der Ekphrasis an den Autor mit Blick auf Diderot theoretisch reflektiert: Für die so oft verfehlte Kunst, Gemälde mit Worten zu malen, läßt sich im allgemeinen wohl keine andre Vorschrift erteilen, als mit der Manier, den Gegenständen gemäß, aufs mannichfaltigste zu wechseln. Manchmal kann der dargestellte Moment aus einer Erzählung lebendig hervorgehn. Zuweilen ist eine fast mathematische Genauigkeit in lokalen Angaben nötig. Meistens muß der Ton der Beschreibung das Beste tun, um den Leser über das Wie zu verständigen. Hierin ist Diderot Meister. Er musiziert viele Gemälde wie der Abt Vogler.708

Trotz aller ausgeschöpfter Raffinements der Beschreibungstechnik erscheint die Ekphrasis in den Gemäldegesprächen in ihren Möglichkeiten der sprachlichen Aneignung von Bildkunstwerken doch als unzulänglich. Dies zeigt sich in dem Gattungswechsel hin zum Bildgedicht, der gegen Ende des Dialogs als Reaktion auf den nach mehrmaligen Anläufen gescheiterten Versuch einer ekphrastischen Beschreibung der Sixtinischen Madonna vollzogen wird.

2.3

Dichtung als angemessenes Übersetzungsorgan – Die Bildgedichte

Dass die Bildgedichte sehr wohl an der Stelle ins Spiel gebracht werden, an der die prosaische Sprache der Ekphrasis zu versagen scheint, lässt sich nachweisen, wenn man dem Dialog nähere Aufmerksamkeit schenkt, der zu den Bildge707 Ebd., S. 82. 708 A. W. Schlegel, Athenaeums-Fragment Nr. 177, (KFSA, Bd. 4, S. 193).

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dichten hinführt. Das erste von Waller vorgetragene Bildgedicht bezieht sich auf Raffaels Sixtinische Madonna. Dieses Gemälde bestimmt jedoch schon einige Seiten zuvor das Gespräch. Zu dem Werk wird übergeleitet, nachdem Waller seine Beschreibung des Christuskopfes von Caracci vorgetragen hat. Obwohl sie einiges Lob für Waller übrig hat, bemerkt Louise doch die subjektive Perspektive der Beschreibung. Zwar erkennt sie das Gemälde in der Beschreibung wieder : »Das ist wirklich der Christus des Hannibal Carracci«, jedoch stimmt sie nicht mit dessen Bewertung überein: »aber ich kann nicht sagen: es ist ganz der meinige.«709 Ihrer Meinung nach kann er dem theologischen Ideal Christi dennoch nicht vollkommen gerecht werden: »Es ist der schönste, den ich jemals gesehn habe, aber doch fehlt ihm der Brennpunkt, wo die höchste Kraft und Duldsamkeit zusammentreffen; und bis ich den finde, werde ich vielleicht die Darstellung dieses Ideals für unmöglich halten.«710 Diesem Dialog folgt Wallers Frage an Louise: »Und von dem Raphael wollen Sie schweigen, vor dem ich Sie doch stundenlang stehen sah?«711 Worauf Louise den Faden der vorangegangenen Betrachtungen wieder aufnimmt: »Eben deswegen, Lieber, denn der Mund fließt bey mir nicht allemal vom dem über, deß das Herz voll ist.« Und sie wird sogleich deutlicher : »Aber wie soll man der Sprache mächtig werden, um das Höchste des Ausdruckes wiederzugeben? Das wirkt so unmittelbar, und geht gleich vom Auge in die Seele, man kommt nicht auf Worte dabey, man hat keine nöthig, um zu erkennen, was in unzweifelhafter Klarheit dasteht, und gar nicht anders als es ist, genommen werden kann.«712 Hier wird die bereits zu Beginn des Gesprächs formulierte Sprachskepsis noch einmal bekräftigt. Auch der Maler fällt sogleich in diese Sprachkritik mit ein: »Endlich wird doch einmal die Unzulänglichkeit der Sprache eingestanden.«713 Auf diese Konstatierung einer Sprachskepsis folgt ein Dialog über das Gemälde, der sich ihm schrittweise zu nähern versucht. Zunächst macht Louise einige allgemeine, wertende Aussagen: »In beyden Sälen ist nichts ähnliches und unter dem Vortrefflichen nichts verständlicheres, selbst für das ganz unkünstlerische Gemüth.«714 Sie bleibt jedoch nicht bei dieser Feststellung stehen, sondern bemüht sich sogleich darum, diese zu erklären. Dabei arbeitet sie sich über Beobachtungen von Kompositionsprinzipien zu Versuchen einer Charak709 710 711 712 713 714

A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 97. Ebd., S. 97. Ebd., S. 97. Ebd., S. 98. Ebd., S. 98. Ebd., S. 98. Dieser von Louise zunächst geübte sprachliche Umgang mit dem bildkünstlerischen Meisterwerk entspricht der Haltung, wie sie in Wackenroders Herzensergießungen empfohlen wird, ehe ihr durch die Bildgedichte die Aneignung des Gemäldes durch dichterische Sprache an die Seite gestellt wird.

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terisierung. Ihr besonderes Augenmerk ist hierbei auf den religiösen Gehalt des Bildes gerichtet. Louises Bemühen, die Wirkung der Figur über die exakte Beschreibung physiognomischer Merkmale zu bestimmen, läuft allerdings ins Leere. Sie merkt, dass ihr Versuch, die Beobachtungen zur Charakterisierung der Madonna als heiliger Gestalt anhand der gestalterischen Mittel des Malers zu erklären, scheitert. Den Beginn ihrer Beschreibung »Das Oval des Gesichtes ist oben ziemlich breit, die braunen Augen weit auseinander, die Stirn klein, das Haar schlicht gescheitelt« bricht sie mit den Worten ab: »aber nein, ich kann das nicht einzeln und physiognomisch deuten.«715 Dennoch enden Louises Betrachtungen der Sixtinischen Madonna an dieser Stelle noch nicht. Von Waller aufgefordert ihre persönlichen Beobachtungen und Eindrücke zu formulieren, wird der Dialog fortgeführt, der sich nun besonders zwischen Louise und Reinhold entspannt. Figurencharakterisierungen wechseln sich mit rein deskriptiven Passagen ab, die erstere kunsthistorisch untermauern sollen. Daneben finden sich aber auch Beobachtungen zur Komposition und zu Gestaltungsprinzipien, die bereits den Keim von Beschreibungstechniken einer modernen Kunstgeschichte erkennen lassen. Hierzu gehört etwa die Abstrahierung der Komposition, die die »architektonische Symmetrie« der Figurenanordnung betont.716 Schließlich werden die beiden Figuren, die die Madonna flankieren als Allegorien der »männlichen und weiblichen Andacht« interpretiert. Aber auch subtilere Beobachtungen zeigen, wie die Wirkung durch die Art der Darstellung erklärt wird. Diese Einwürfe zur Technik des Malers hat Schlegel nicht umsonst dem Maler Reinhold in den Mund gelegt. Vielleicht die wichtigste dieser Beobachtungen betrifft die Mittel, mit der die erhabene Wirkung der Mariengestalt erzielt wird. So stellt Reinhold fest: »Die beyden Heiligen sinken tiefer in die Wolken, und heben dadurch die Jungfrau; auch der Schatten unter ihren Füßen trägt zu ihrer hohen Leichtigkeit bey.«717 Während Louise dem Gemälde mit kunsttheoretischen Betrachtungen sprachlich gerecht zu werden versucht, schlägt Waller einen sprachlichen Zugang anderer Art vor. Dieser besteht in den Bildgedichten, die den Abschluss des Textes bilden. Den Bildgedichten vorangestellt sind jedoch einige grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Malerei und Dichtung. Waller beginnt: Das Verhältniß der bildenden Künste zur Poesie hat mich oft beschäftigt. Sie entlehnen Ideen von ihr, um sich über die nähere Wirklichkeit wegzuschwingen, und legen dagegen der umherschweifenden Einbildungskraft bestimmte Erscheinungen unter.

715 Ebd., S. 99. 716 Ebd., S. 103 f. 717 Ebd., S. 104.

258

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Ohne gegenseitigen Einfluß würden sie alltäglich und knechtisch, und die Poesie zu einem unkörperlichen Fantom werden.718

Dennoch gelingt es ihm nicht, auf eine Rangordnung innerhalb der Künste zu verzichten: Gut, sie [die Poesie, Y.A.] soll immer Führerin der bildenden Künste seyn, die ihr wieder als Dollmetscherinnen dienen müssen. Nun sind uns aber die Gegenstände, welche der modernen Mahlerey in ihrem großen Zeitalter und auch nachher angewiesen wurden, so fremd geworden, daß sie selbst der Poesie zu ihrer Dollmetscherin bedarf.719

Pestalozzis Auffassung, August Wilhelm Schlegel sähe das Bildgedicht nicht in Konkurrenz zur Bildbeschreibung, sondern weise ihm als »Dolmetscher« eine grundlegend andere Funktion zu, ist nicht zuzustimmen. Wie oben gezeigt werden konnte, kreist der gesamte Dialog, in den die Bildbeschreibungen eingearbeitet sind, um die Frage nach der Möglichkeit, bildkünstlerische Werke sprachlich adäquat wiedergeben zu können. Die Grenzen der Sprache treten dabei immer wieder zu Tage, bis eine zusammenhängende sprachliche Darstellung der Sixtinischen Madonna von Raffael – die als bedeutendstes Gemälde der Sammlung betrachtet wird – scheitert. An dieser Stelle kommt die Dichtung ins Spiel und es wird deutlich, dass sie – in Form des Bildgedichts – das zu leisten vermag, was mit den Mitteln der prosaisch-theoretischen Sprache der Bildbeschreibung unrealisiert blieb.720 Es bleibt der Topos der »Dichtung als Dolmetscherin« zu klären. Hier hat Pestalozzi richtig beobachtet, dass sich die Dolmetscherfunktion auf einer ersten Ebene auf die Gegenstände der (katholisch-) christlichen Malerei bezieht, die besonders im Protestantismus – denkt man etwa an die ihm fremde Marien- und Heiligenverehrung – verloren gegangen ist und durch sprachliche Darstellung aktualisiert werden muss. Zu beachten bleibt allerdings der Kontext, in dem die Dolmetscherbemerkung fällt. Das Dolmetscherverhältnis ist nämlich durchaus reziprok gedacht. Es sind die bildenden Künste, die zunächst als Dolmetscherin der Poesie bezeichnet werden, ehe auch das umgekehrte Verhältnis erwogen wird. Somit zielt die Bemerkung nicht nur auf das Verständlichmachen sedimentierter Traditionen und Denkschemata, sondern auch – und vielleicht sogar in erster Linie – auf die Forderung nach einem gattungsübergreifenden Kunstverständnis. Der hier artikulierte Grund718 Ebd., S. 106. 719 Ebd., S. 106. 720 Vgl. hierzu auch Claudia Beckers Beobachtung: »Bildkunstkritik – und das ist implizit gefordert – kann nur durch eine poetische Sprache erfolgen: ›Es soll also förmlich gedichtet sein‹ (48). Damit aber wird sie zugleich über ihre reproduzierende Vermittlerfunktion hinaus zu einer eigenständigen Kunstgattung erhoben.« (Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 147).

A. W. Schlegels Die Gemählde

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gedanke ist der, dass die verschiedenen Kunstgattungen sich vermischen und wechselseitig übersetzen sollen, wie aus Wallers oben zitierter Rede, die der Dolmetscher-Metapher unmittelbar vorangeht, deutlich wird.721 Wie aber verfahren diese Bildgedichte im Einzelnen? Oder anders gefragt: Was übersetzen sie und was übersetzen sie nicht? Zunächst ist der Sprachgestus zu beachten, der mit dem neutralen Stil einer Beschreibung deutlich bricht. Das Sonett hat einen auffällig pathetischen Stil, der besonders der Vielzahl von Apostrophen und Emphasen geschuldet ist. Ergänzt wird dieser Duktus durch eine monarchische und heroische Metaphorik, die ihre Bilder besonders aus dem Bereich weltlicher Herrschaft gewinnt und diese mit religiös-sakralen Begriffen kombiniert, etwa in der »Himmelkönigin« oder in »des Todes Sieger«. Zwar werden die Figuren der bildlichen Darstellung benannt – neben der Maria mit dem Jesusknaben werden die Putti und die sie flankierenden Heiligen aufgerufen – es bleibt jedoch bei dieser flüchtigen Erwähnung. Auch aus der Darstellung der Madonnengestalt selbst wird kaum mehr aufgegriffen als der sie umhüllende transparente Schleier. Man sucht vergeblich nach dem Niederschlag der bildkünstlerisch gestalterischen Prinzipien im Gedicht. Wie Pestalozzi beobachtet, wird die Komposition höchstens angedeutet und das Kolorit findet weder direkte Erwähnung noch wird es in eine Farbmetaphorik transformiert.722 Pestalozzi resümiert bezüglich der Parallelen zwischen bildkünstlerischem und lyrischem Kunstwerk: »Wohl aber bildet der hohe Ton ein poetisches Äquivalent zur erhabenen Gestaltung des Bildes«723. Das Dolmetschen, so könnte man es formulieren, besteht also gerade nicht in dem Versuch, mit Hilfe der Wortsprache das Gemälde in seiner konkreten bildkünstlerischen Ausführung zu evozieren. Dass ein solches Vorhaben zum Scheitern verurteilt ist, hat sich an den zuvor vorgetragenen Ekphrasen zu Genüge gezeigt. Was von einer in die andere Kunst übertragen werden soll, ist die Wirkung, die die Darstellung auf den Betrachter hat. Die für die Romantik vielfach konstatierte Fokussierung auf eine Rezeptionsästhetik findet hier ihren Niederschlag. Es geht um den Ausdruck des Werkes, den die Sprache einzufangen hat. Dass deren Übersetzung nur mit Hilfe der poetischen Sprache möglich ist, ergibt sich aus dieser Zielsetzung von selbst. Den Abschluss einer Serie von Bildgedichten, die von Waller vorgetragen werden und ausschließlich Werke von christlich-religiösem Inhalt zum Gegenstand haben, bildet ein Gedicht, das sich auf Raffaels Sixtinische Madonna bezieht. Hier wird er von Louise unterbrochen und ein weiterer Dialogteil leitet zum letzten Gedicht über, das zugleich den Abschluss des Textes markiert. 721 Vgl. A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 106. 722 Vgl. Pestalozzi, Das Bildgedicht, S. 575. 723 Ebd., S. 575.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Dieses Gedicht Wallers söhnt am Ende des Textes als ein Lob der Malerei zugleich Dichtkunst und bildende Kunst miteinander aus. Allerdings handelt es sich bei diesem letzten Gedicht um kein Bildgedicht mehr. Thema ist die Malerei selbst, behandelt im Stoff der Lukas-Legende; es dient jedoch kein konkretes Gemälde als Vorlage. Waller trägt diesmal eine Ballade vor, die vom Evangelisten Lukas berichtet, welcher der Legende nach als der Maler des ersten Madonnenbildnisses gilt.724 Zunächst führt er recht breit die göttliche Berufung des Lukas sowie die anschließende Überredung Mariens, ihm Modell zu sitzen, aus. Schlegel lässt Waller seinem Gedicht eine besondere Pointe geben, indem er die christliche Legende von Lukas als dem Maler Mariens mit der humanistischen Legende von Raffaels Vision verknüpft. So lässt er die begonnene Arbeit des Lukas an der Mariendarstellung mit dem unerwarteten Tod der Maria enden. Das Werk des Lukas bleibt unvollendet. Zugleich wird die Geschichte damit zur Ätiologie für die schemenhaften Darstellungen des Madonnenportraits bis zur Zeit Raffaels.725 Die überraschende Wendung verleihen die letzten beiden Strophen dem Gedicht, in denen unter Anspielung auf Raffaels Vision, wie sie Wackenroder in seinen Herzensergießungen entworfen hat,726 die Vollendung des Marienantlitzes durch den Maler der Hochrenaissance geschildert wird. Die Sixtinische Madonna, seinerzeit als ein Hauptwerk Raffaels verehrt, bleibt damit im Horizont des Gedichts. Zugleich unterlässt Waller aber den Versuch, deren optisch wahrnehmbare Erscheinung einschließlich ihrer medial bedingten Qualitäten in eine sprachliche Darstellung zu überführen. Das Gedicht ergänzt stattdessen die überlieferten Gemälde selbst. Malerei und Dichtkunst stehen damit am Ende von Schlegels Gemählde-Gespräch als ebenso gleichwertige wie eigenständige Disziplinen da.

2.4

Die romantische Kunsttheorie bei A. W. Schlegel

Uneinheitlich ist die Meinung der Forschung hinsichtlich der Frage, ob August Wilhelm Schlegel in seinem Gemählde-Gespräch bereits mit dem klassizistischen Kunstideal bricht, oder dieses lediglich zu ergänzen versucht.727 Dass 724 Vgl. Holländer, Hans: Art.: Lukasbilder, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 3, S. 119 – 122. 725 So resümiert die drittletzte Strophe des Gedichts »Vieltausendfältig konterfeyt/ Erschien sie aller Christenheit/ Mit eben diesen Zügen./ Es musste manch Jahrhundert lang/ Der Andacht und dem Liebesdrang/ Ein schwacher Umriß genügen.« (A. W. Schlegel, die Gemählde, S. 123). 726 Zu Wackenroders fiktionaler Schilderung von Raffaels »Vision« in den Herzensergießungen, die auf der Modifikation einer Passage aus einem Brief Raffaels an den Grafen Baldassare Castiglione beruht, vgl. ausführlich Kap. I.1. 727 Vgl. hierzu etwa die Position von Claudia Becker, die davon ausgeht, dass »das frühro-

A. W. Schlegels Die Gemählde

261

August Wilhelm Schlegels Nachdenken über die bildenden Künste klassizistische Voraussetzungen und Vorstellungen zur Grundlage hat, ist vor dem zeithistorischen Hintergrund verständlich, widerlegt ein von ihm formuliertes, eigenes frühromantisches Programm aber noch nicht. Möchte man eine (neue) Kunsttheorie formulieren, ist dies kaum anders möglich, als dass man zunächst auf all das Bezug nimmt, was im zeitgenössischen kunsttheoretischen Denken geläufig ist. Nicht zuletzt bleibt zu bedenken, dass Lessing und Winckelmann als Protagonisten des klassizistischen Kunstverständnisses die Kunstgeschichte im modernen Verständnis überhaupt erst begründeten und das im späten 18. Jahrhundert herrschende Interesse an den bildenden Künsten durch sie erst geweckt worden ist. Insofern ist es plausibel, dass Schlegel an deren Auffassungen anknüpft. Dass die antike Kunst dabei nicht verworfen wird, sondern ihr die christliche Kunst der italienischen Renaissance und der altdeutschen Malerei als gleichwertig an die Seite gestellt wird, spricht noch nicht dagegen, dass hier ein genuin romantisches Kunstverständnis formuliert wird. Ernst Behlers Beobachtung, dass gerade die Integration unterschiedlichster, auch gegensätzlicher Stile in August Wilhelm Schlegels Kunstverständnis dem romantischen Universalitätsdenken entspricht, ist zuzustimmen.728 So lässt sich an August Wilhelm Schlegels Gemählde-Gespräch auch ein ganzes Set von Merkmalen aufzeigen, die als dezidiert romantisch und zum klassizistischen Modell gegenläufig bestimmt werden können. Dafür spricht nicht nur das bereits erwähnte Interesse an nicht-antiker Kunst, sondern auch die damit einhergehende Bevorzugung christlicher Sujets, die am deutlichsten in den ausnahmslos auf Gemälde mit christlichen Stoffen rekurrierenden Bildgedichten zum Tragen kommt. Aufschlussreich ist darüber hinaus ein Blick in die Bildbeschreibungen selbst, in denen wiederholt das Charakteristische und Individuelle einzelner Figurendarstellungen – nicht selten mit einem Fingerzeig auf die entsprechenden Nationalcharaktere – positiv hervorgehoben wird. Die Betonung des Charakteristischen ist zugleich verbunden mit der Vorstellung vom Nationalcharakter, der gegen die reine Antikenverehrung, dem individuellen Wesen einer jeden Nation seinen Wert zusprechen möchte. Oben mantische Programm wesentlich auf klassizistischen Voraussetzungen und Vorstellungen beruht, die es weniger zu überwinden als vielmehr zu ergänzen gilt.« (Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 146). 728 Vgl. Behler, Le dialogue des »Tableaux« d’August Wilhelm Schlegel et la conception de la peinture dans le premier romantisme, S. 32: »August Wilhelm Schlegel s’¦levait donc contre ce go˜t n¦oclassique dominant. Mais il s’efforcait en mÞme temps d’¦viter toute partialit¦ et d’appr¦cier la sculpture antique tout autant que la peinture europ¦enne moderne. Sans doute peut-on voir dans cette attitude l’application de son principe d’une v¦ritable ›universalit¦ de l’esprit‹ dans le domanie de l’art, qui selon lui constiste — appr¦cier dans leur singualrit¦ des tendances esth¦tiques oppos¦es et — rendre justice — tout art digne de ce nom (SW 5, 11 – 2). Mais cela n’empÞche pas de supposer que Schlegel voulait — tout prix ¦viter un conflit avec Goethe et la tendance esth¦tique dominant de Weimar.«

262

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

wurde bereits die Ekphrasis des Holbein-Gemäldes näher betrachtet, in der es über die Madonna heißt: »Ich halte diese Maria nicht für ein Portrait, sondern aus der Idee gemalt. Sie ist aber keine Italiänische Madonna, sondern eine deutsche liebe Frau, zu der solche Frauen wie die neben ihr knieenden mit Zuversicht beten können.«729 Diese Bemerkung aus der Bildbeschreibung wird durch eine allgemeine Reflexion zum Nationalcharakter ergänzt: »Die Erinnerung an die Zeit, wo wir auf dem Weg waren, eine ächte einheimische Kunst zu bekommen, wenn ungünstige Umstände und die Sucht des Fremden es nicht verhindert hätten, macht mich immer sehr wehmüthig.«730 Nicht zuletzt spricht die propagierte Überschreitung der Gattungsgrenzen, die quasi als Klimax des Dialogs in den Bildgedichten eingelöst wird, für ein genuin romantisches Kunstprogramm. Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass August Wilhelm Schlegels Auseinandersetzung mit den bildenden Künsten Wackenroders Herzensergießungen vorausgehen, in denen erstmals ein zum Klassizismus auf Distanz gehendes Kunstprogramm formuliert wurde. Die bereits erwähnte Rezension Schlegels zu den Herzensergießungen weist nicht nur nach, dass er diesen Text rezipierte, sondern gibt zugleich Aufschluss über seine Beurteilung dieses Textes. In dieser Rezension werden bereits Positionen formuliert, die unmissverständlich Schlegels Sympathie für das Kunstverständnis des Autors erkennen und eigene Kritik an der Kunstauffassung der Aufklärung durchscheinen lassen. So stößt etwa die (romantische) Betonung des Gefühls als Gegengewicht zum Verstand auf Zustimmung: »Selbst ein Anstrich von Schwärmerei kann nicht verwerflich scheinen, wo er nur als Gegengewicht gegen die überhand nehmende Kälte gebraucht wird, welche in der Kunst nichts sucht als einen zerstreuenden Sinnengenuß […]«731 Und noch deutlicher heißt es: Es ist schwer zu sagen, was diese Stelle [der christlichen Gegenstände, Y.A.] ausgefüllt haben würde, wenn die Wiederbelebung der Kunst in Zeiten und unter Völker gefallen wäre, wo schon die strengere Vernunft alle sinnlichen Ausschmückungen einer auf das Unsinnliche gerichteten Religion verworfen, und die Stufenleiter der Andacht, welche den Menschen in seinem unendlichen Abstande von der Gottheit durch die Verehrung befreundeter Wesen gebaut wird, eingerißen hatte. Wenn wir, der Forderung gemäß, daß der Betrachter sich in die Welt des Dichters oder Künstlers versetzen soll, sogar den mythologischen Träumen des Alterthums gern ihr lustiges Dasein gönnen, warum sollten wir nicht, einem Kunstwerke gegenüber, an christlichen Sagen und Gebräuchen einen näheren Anteil nehmen, die sonst unsrer Denkart fremd sind?732

729 730 731 732

A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 43. Ebd., S. 44. A. W. Schlegel, Rezension, Herzensergießungen, in: Sämmtliche Werke, S. 364. Ebd., S. 365 f.

Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

263

Unverkennbar ist in dieser Stellungnahme bereits das Programm vorgeprägt, dass August Wilhelm Schlegel selbst zwei Jahre später in seinem GemähldeGespräch formulieren wird. Die Bedeutung Wackenroders für Schlegels Gemählde-Gespräch außer Acht lassen, hieße eine Quelle verkennen, die für ihn weitaus wichtiger war, als die klassizistischen Schlüsseltexte Winckelmanns.733 Nicht zuletzt darf eine weitere Fragestellung, die bereits in Wackenroders Text verschiedentlich anklingt, bei August Wilhelm Schlegel aber zum zentralen Problem wird, als genuin romantisches Merkmal des Textes gesehen werden. Es ist die Sprachkritik, mit der beide die Ekphrasis konfrontieren und die bei den klassizistischen Bildbeschreibungen noch nicht zur Debatte steht. Sie ist es auch, die zum Bildgedicht überleitet und die Frage nach der möglichen Verwischung der Gattungsgrenzen erst vorbereitet. Da die theoretisch-prosaische Sprache für die Bildbeschreibung unbrauchbar scheint – und deren Defizite werden sowohl von Wackenroder als auch von August Wilhelm Schlegel beklagt – wird das dichterische Schreiben als neue Form des sprachlichen Zugangs zum Bildkunstwerk propagiert.

3.

Späte Kunsttheorie – Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

Anders als von seinem Bruder August Wilhelm, sind von Friedrich Schlegel aus der Jenaer Zeit keine kunsttheoretischen Schriften überliefert, die der Malerei gewidmet sind. Seine Beschäftigung mit Werken der bildenden Kunst erfolgt damit deutlich später als die seines Bruders und fällt in die Jahre 1802 bis 1804, nachdem sich der Jenaer Kreis bereits aufgelöst hat und Friedrich Schlegel in Paris weilt.734 Für seine Zeitschrift mit dem Titel Europa,735 die er während seines 733 Meines Erachtens betont Claudia Becker viel zu sehr die nur ganz vereinzelt in Schlegels Rezension durchscheinenden kritischen Anmerkungen zu den Herzensergießungen, wenn sie schreibt: »So scheint auch die in der frühromantischen Programmschrift, den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797), proklamierte Kunstreligion, für die gerade der ›göttliche Raffael‹ als Garant fungierte, Pate gestanden zu haben. In seiner Rezension distanziert sich A. W. Schlegel zwar ausdrücklich von der verklärten RaffaelDarstellung dieses ›geistlichen Einsiedlers‹, der ›das Unbegreifliche der Künstlerbegeisterung gern mit höhren unmittelbaren Eingebungen vergleicht oder auch wohl verwechselt‹, auch opponiert er generell gegen die Einschränkung von ›Kunstgenuß‹ auf bloße ›Andacht‹, welche die ›freien Spiele der Einbildungskraft‹ beim Rezipienten verhindere: gleichwohl spricht auch er sich für eine symbiotische Verbindung von Kunst und Religion aus.« (Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 151). Diese Darstellung Beckers erweckt geradezu den Eindruck, Schlegels Rezension sei von deutlichen Vorbehalten gegenüber den Herzensergießungen gekennzeichnet, während sie in der Tat das besprochene Werk überaus schätzt. Becker scheint die enorme Bedeutung zu verkennen, die Wackenroders Schrift für August Wilhelm Schlegel hatte. 734 Vgl. Behler, Ernst: Friedrich Schlegel und die Brüder Boisser¦e. Die Anfänge der Sammlung

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Pariser Aufenthalts herausgegeben hat,736 verfasst er unter anderem einige Gemäldebeschreibungen von den jüngst durch Napoleons Feldzüge und die Auflösung von Klöstern zusammengetragenen und im Louvre ausgestellten Kunstschätzen.737 In Paris lernt er auch die Brüder Boisser¦e kennen, die sein Interesse an der altdeutschen Kunst befördern und die – von seinen Gedanken angeregt – in Köln eine Sammlung altdeutscher Kunst zusammentragen.738 Die von Friedrich Schlegel bekannten Gedanken zur bildenden Kunst sind alleine im Kontext dieser Sammlung von Ekphrasen überliefert. Innerhalb dieser Texte findet sich eine wichtige Anmerkung Schlegels, in der er über die Methodik reflektiert, die solcher Theoriebildung zugrunde liegen sollte: [D]ie Theorie der Kunst [darf] nie von der Anschauung getrennt werden, ohne unvermeidlich in willkürliche Hirngespinste oder in leere Allgemeinheiten zu geraten. So fahren wir also fort, den wahren Begriff der Malerei nicht bloß in einem dürftigen Umriß aufzustellen, sondern an der Fülle einzelner Anschauungen alter Gemälde ausführlich darzustellen. Die Anschauung soll überall das Erste sein; die Resultate derselben ordnen sich an den Ruhepunkten der Betrachtung von selbst zu allgemeinen Grundsätzen, deren Zusammenhang, so wie die innere Einheit der hier aufgestellten Ansicht, der Nachdenkende leicht finden wird.739

Aus dieser Textpassage könnte man das Motto seiner eigenen Kunsttheorie herauslesen, die er alleine im Rahmen seiner Gemäldebeschreibungen entfaltet.740

735 736 737

738 739 740

und ihr philosophischer Ausgangspunkt, in: Kunst als Kulturgut. Die Bildersammlung der Brüder Boisser¦e, hrsg. von Annemarie Gethmann-Siefert u. Otto Poggeler, Bonn 1995, S. 30 – 41, hier S. 37. Zu den Hintergründen der Zeitschrift vgl. Ernst Behler : Europa. Die Geschichte einer Zeitschrift. Nachwort zu dem Reprint: Europa. Eine Zeitschrift, hrsg. v. Friedrich Schlegel (1803), Stuttgart 1963. Ernst Behler weist darauf hin, dass man in Deutschland von Schlegels Pariser Tätigkeit besonders durch diese Zeitschrift Notiz nahm. Vgl. Behler, Friedrich Schlegel und die Brüder Boisser¦e, S. 30 – 41. Die Geschichte des Mus¦e Napol¦on, wie das Louvre 1803 umbenannt wurde, und die herausragende Bedeutung seines neuen Generaldirektors Vivant Denon für die Erweiterung und Konzeption der Sammlung, die die Entwicklung der Kunstgeschichte zu Beginn des 19. Jahrhunderts maßgeblich beeinflusste, hat Thomas W. Gaehtgens ausführlich dargestellt. Vgl. Gaehtgens, Thomas W.: Das Mus¦e Napol¦on und sein Einfluss auf die Kunstgeschichte, in: Johann Dominicus Fiorillo. Kunstgeschichte und die romantische Bewegung um 1800, hrsg. v. Antje Middeldorf Kosegarten, Göttingen 1997, S. 339 – 369. Eine ausführliche Darstellung der Bedeutung des Kontakts zwischen Friedrich Schlegel und den Brüdern Boisser¦e hat Ernst Behler vorgelegt. Vgl. Behler, Friedrich Schlegel und die Brüder Boisser¦e, 1995. Friedrich Schlegel: Zweiter Nachtrag alter Gemälde, in: KFSA, Bd. 4, S. 79. Claudia Becker verkennt in ihrem Aufsatz zu Friedrich Schlegels Gemäldebeschreibungen aus der Europa den Eigenwert der Ekphrasen und die in den Beschreibungen eingelöste Kunsttheorie gänzlich, wenn sie schreibt »Seine eigenen [Friedrich Schlegels, Y.A.] Gemäldebeschreibungen sind nun allerdings weder Gedichte […] noch realistische Abschil-

Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

3.1

265

Zur Rolle der Sprache in Friedrich Schlegels Ekphrasen

Dass er die Dichtung höher schätzt als die Malerei, daran lässt Friedrich Schlegel – wie eine Notiz aus den Philosophischen Lehrjahren zeigt – keinen Zweifel: »Ein Gedicht ist weit mehr als ein Gemählde in Worten; aber das höchste Gemählde ist nichts weiter als ein Gedicht in Farben. —«741 Zwar wird hier das Verhältnis der beiden Künste zueinander thematisiert, es wird jedoch nicht als gleichgewichtiges verstanden. Einem Gemälde spricht er keine Qualitäten zu, in denen es der Dichtkunst überlegen sei, umgekehrt erschöpft sich die Dichtung jedoch für ihn nicht darin, ein sprachliches Äquivalent zur Malerei zu sein. Die Dichtung fügt ihrer Behandlung des Gegenstands gegenüber der Malerei etwas substantiell Eigenes hinzu. Auch der Bruch mit dem ut-pictura-poesis-Prinzip, den Lessing einige Jahrzehnte zuvor in seinem Laokoon bereits vollzogen hatte, scheint hier nur bedingt nachvollzogen zu werden. In ähnlicher Weise betrachtet der Satz »Der Maler soll ein Dichter sein, das ist keine Frage; aber nicht eben ein Dichter in Worten, sondern in Farben.«742 aus dem »Nachtrag italienischer Gemälde« die Malerei unter dem Paradigma der Dichtung, allerdings wird der mediale Unterschied hier anerkannt. So wird auch in Schlegels Ekphrasen und Kunstbetrachtungen der Pariser Zeit das Verhältnis zwischen sprachlicher Artikulation des bildlich Dargestellten nur an ganz wenigen Stellen und stets höchst beiläufig thematisiert. Zentral dürfte in diesem Zusammenhang die Bemerkung sein, mit der er die Beschreibung einer Madonna von Leonardo enden lässt, wo es heißt: Ich weiß nicht, ob es mir gelungen ist, Dir einen anschaulichen Begriff davon zu geben, es gehört zu den vortrefflichsten die ich überhaupt gesehen habe. Sollte ich aber noch mehr davon sagen, so könnte es nur in einem Gedichte geschehen, vielleicht wäre dies überall die beste und natürlichste Art von Gemälden und andern Kunstwerken zu reden. Denn ist nicht jede richtige in das Innre ganz eindringende und auch alles Einzelne aufmerksam ergreifende Anschauung eines organischen Ganzen durchaus Poesie? Selbst der äußern Form nach, wenn die Anschauung des Ganzen anders nicht in uns verborgen bleiben, sondern auch in äußern Worten deutlich ausgesprochen werden soll?743

derungen, vielmehr von subjektiv-intimem, oftmals auch polemischem Charakter, nicht zuletzt bedingt durch die Mitteilungsform des Briefes. Ihren besonderen Wert und Stellenwert haben sie vorrangig in der aus ihnen entwickelten (historisch gefärbten) Kunstkritik und -theorie.« (Becker, Claudia: Germania und Italia. Die Bedeutung der präraffaelitischen Malerei in der Kunstauffassung Friedrich Schlegels, in: Kunstliteratur als Italienerfahrung, hrsg. v. Helmut Pfotenhauer, Tübingen 1991, S. 222 – 241, hier S. 224). 741 KFSA, Bd. 18, S. 255, Nr. 742. 742 KFSA, Bd. 4, S. 76. 743 Nachricht von den Gemälden in Paris, in: KFSA, Bd. 4, S. 33.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Friedrich Schlegel scheint hier jedoch nicht über eine Reproduktion der in den späten 1790er Jahren von Wackenroder und August Wilhelm Schlegel bereits ausgesprochenen Positionen hinauszukommen. Das tertium comparationis zwischen poetischer Sprache und Malerei ist wieder die Anschaulichkeit, weswegen die Dichtung dem Gemälde am besten gerecht werden könne. Dass es sich bei dieser Position in Schlegels Fall doch eher um ein – vermutlich rezipiertes – Diktum handelt, welches Schlegel in der Praxis nicht recht einlösen konnte oder wollte, beweisen die Sonette im »Dritten Nachtrag alter Gemälde«, die nur in der Zweitfassung in Schlegels Sämmtlichen Werken von 1822 – 25 enthalten sind und aus der Feder Dorothea Schlegels stammen.744 Auch das Verfassen der Gemäldebeschreibungen scheint Schlegel nur gelegentlich mit den Grenzen der Sprache zu konfrontieren, wie im Fall der JardiniÀre von Raffael, über die er schreibt: »Diese Anmut, diese Schönheit der hellen Farben, diese zarte Blüte der Karnation lassen sich nicht beschreiben; man möchte es einen höheren, verklärten Tizian nennen, in so fern man einmal gewohnt ist den Begriff jener Vollkommenheiten mit diesem Namen zu verbinden.«745 Die Metapher der »zarten Blüte« leitet ihn über zu der Feststellung, dass ihm die deskriptive Sprache angesichts der visuellen Mittel der bildlichen Darstellung versagt. Stattdessen versucht er dafür einen Begriff zu finden, den er aus dem Eigennamen eines ähnlich arbeitenden Künstlers herleitet und ihn durch Adjektive zu modifizieren versucht. Diesem Beispiel ähnlich, ist es eine beliebte Methode Schlegels, durch Verweise auf und Vergleiche mit anderen Künstlern die konkrete Art und Weise der malerischen Ausführung zu bestimmen.746 Die jeweils charakteristischen Stilmerkmale werden dabei kurz benannt und miteinander kontrastiert. Dabei wird nicht – wie in der heutigen kunsthistorischen Praxis – versucht, die jeweiligen Techniken und formalen Besonderheiten sprachlich zu fassen und zu erklären, sondern Wirkung wird sogleich als solche benannt. Gleich eine ganze Reihe solcher zum Vergleich herangezogener Maler lässt er bei der Beschreibung des Selbstportraits von Bandinelli auftreten: Welche kraftvolle, ausgezeichnete, hohe Menschen mussten es sein, wenn man auch nur den äußern Abdruck ihrer Gesichtsbildung betrachtet. Aber freilich darf man beim Bandinelli eben nicht an die tiefe, sinnige Stille und Sonderbarkeit im Gesichte des Leonardo, nicht an den hohen und doch liebevollen Trotz im Garofalo, an die wilde und rauhe Hoheit des Julio Romano, nicht an die männlich kluge, edle und gesetzte Bildung des Fattore denken.747

744 745 746 747

Vgl. KFSA, Bd. 4, S. 141, Anm. 1. Vom Raffael, KFSA, Bd. 4, S. 53. Diese Methode des Charakterisierens prägt auch seine frühen Rezensionen. Zweiter Nachtrag alter Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 84.

Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

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Betrachtet man Friedrich Schlegels Ekphrasen genauer, so fällt auf, dass vielfach bewertende Adjektive die detaillierte Beschreibung ersetzen oder dort, wo die bildliche Darstellung sprachlich beschrieben werden soll, die Ausflucht in Metaphern gesucht wird. Deutlich zeigt sich dies etwa bei der bereits erwähnten Madonnendarstellung des Leonardo. Die Metaphern, die zur Beschreibung der Figurengruppe gewählt werden, korrespondieren mit der Landschaftsbeschreibung des Hintergrundes. Über die Figuren schreibt er : Die einzigen Figuren sind die Madonna und das Kind; wiewohl es unter Lebensgröße Æistæ, so konnte doch ein kolossales Bild in den Verhältnissen nicht grandioser entworfen sein, als diese Madonna; mit göttlicher Majestät hebt sich das Haupt und die Stirne empor. Sanft vorgebogen in ernster Schönheit und freundlich herablächelnd auf das Kind, erscheint uns das hohe Haupt wie ein stolz ruhender aber freundlicher Fels, und die verschwenderische Fülle der Locken, die von allen Seiten stromweise herunterfließt, scheint notwendig mit dem erfordert zu werden, was der Künstler hat ausdrücken wollen.748

Die Semantiken von Natur und menschlicher Mimik werden durch die wiederum anthropomorphisierte Landschaftsmetaphorik der Figurenbeschreibung miteinander verschränkt. Die Bilder von Bergen und Wasser wiederholen sich in der Landschaftsbeschreibung: »Der Hintergrund ist die ruhige Fläche des Meeres, still und einfach, nur in weiter Ferne hebt sich ein Hügel oder Berg mit sanfter Erhöhung aus den Wogen empor.«749 Dabei korrespondieren auch die jeweils geschilderten Stimmungen, in denen das Stille, Sanfte, Ruhige den Gegenpol des »Stromes« oder der »Wogen« deutlich dominiert.750 Dass dieses Beziehen der Hintergrunddarstellung auf die Figurencharakterisierung von Schlegel nicht nur als sprachliches Mittel in der Beschreibung eingesetzt wird, sondern seiner Meinung nach ein vom Künstler intendiertes Moment des Bildes ist, belegen seine Ausführungen zu dem von ihm als »symbolisch« bezeichneten Portrait, welches er bei den Künstlern der Renaissance, Raffael und Leonardo, findet: Gebt einem übrigens treu der Natur nachgebildeten Portrait nur etwa einen landschaftlichen Hintergrund aus Meer, Gebirgen und Luft wie bei dem der Madame Lisa Nr. 928 von Leonardo, und es tritt sofort ganz aus der Sphäre der Gattung, die so lange sie nur das bleibt, ziemlich beschränkt ist, heraus. Es versteht sich von selbst, daß eine 748 Nachricht von den Gemälden in Paris, KFSA, Bd. 4, S. 32. 749 Ebd., S. 32. 750 Gottfried Boehm hat in seiner äußerst klaren und aufschlussreichen Analyse der Ekphrasen Vasaris unter anderem auch darauf hingewiesen, dass das Etablieren (sprachlicher) Kontraste ein wesentliches Merkmal der Ekphrasis ist. (Vgl. Boehm, Gottfried: Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache, in: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, hrsg. von Gottfried Boehm u. Helmut Pfotenhauer, München 1995, S. 23 – 40, bes. S. 34 f.).

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

solche bedeutsam sein sollende Umgebung nichts anders bedeutet als den Eindruck, den das dargestellte Antlitz macht, gleichsam die verdoppelte und höhere Abspiegelung desselben; nur dasjenige muß und darf durch Symbole aller Art so vielfach als möglich angedeutet werden, was an sich selbst noch nicht vollendet deutlich ist; das ist der höhere Geist, die verborgnere Seele in dem Antlitz der Menschen, da doch die wenigsten nur wirklich aussehen, wie sie ihrem innern Wesen nach aussehen sollten.751

So, wie die Reflexionen über das Problem der Wiedergabe bildkünstlerischer Werke in sprachlicher Darstellung bei Friedrich deutlich geringer ausfallen als bei den wenige Jahre zuvor verfassten Texten des älteren Bruders oder in den Wackenroderschen Schriften und sie in Anbetracht dieser Vorbilder recht stereotypisiert erscheinen, so lassen auch seine Ekphrasen eine vertiefende Auseinandersetzung mit den Eigenheiten und Mitteln bildkünstlerischer Darstellung vermissen. Im Gegensatz zu August Wilhelm Schlegel etwa, der in seinen Gemäldebeschreibungen stets bemüht war, die dargestellten Handlungsabläufe sprachlich zu rekonstruieren, begnügt sich der jüngere Bruder in seinen Beschreibungen von Figurengruppen meist mit einer additiven Aufzählung der einzelnen dargestellten Figuren, ohne dass deren räumlich-topographisches Verhältnis zueinander oder die in Gesten angedeuteten Interaktionen Berücksichtigung finden würden.752 Schon diese von den kunsthistorischen Texten der Frühromantik unterschiedene sprachliche Herangehensweise an Bildkunstwerke verdeutlicht, dass Friedrich Schlegels Zugang zur Malerei nicht einfach mit den Schriften Wackenroder/Tiecks und August Wilhelm Schlegels zu dem kunsthistorischen Programm der Frühromantik verschliffen werden kann. Ähnlich disparat fällt der Befund hinsichtlich eines Vergleichs der kunsttheoretischen Positionen aus.

3.2

Das kunsttheoretische Programm der Europa-Beiträge

Dass Friedrich Schlegels Abhandlungen zur bildenden Kunst deutlich später erscheinen als die ersten kunsttheoretischen Schriften der Romantik von Wackenroder, Tieck oder seinem Bruder August Wilhelm und damit jenseits des gemeinhin um 1800 angesetzten Endpunktes der Frühromantik liegen, macht der Forschung die Bewertung seiner Position – besonders im Kontext der Frage nach einem »romantischen Kunstverständnis« – nicht leicht. Strittig bleibt, welche Positionen als Merkmale eines genuin romantischen Kunstverständnisses zu werten sind und in welchen Texten ein solches erstmals formuliert wurde. 751 Nachricht von den Gemälden in Paris, KFSA, Bd. 4, S. 36 f. 752 Vgl. z. B. die Beschreibung einer Kreuzesabnahme von Bramante: Zweiter Nachtrag alter Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 85.

Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

269

Claudia Beckers Einschätzung fällt vielleicht am eindeutigsten zu Gunsten des jüngeren Schlegel-Bruders aus. Deutlich zu erkennende Bezugnahmen auf die Positionen Winckelmanns in August Wilhelm Schlegels Texten genügen ihr, um dessen im Gemählde-Gespräch formulierte Theorie der bildenden Kunst als dem Klassizismus verhaftet abzutun.753 Behler argumentiert etwas vorsichtiger, jedoch weisen seine Überlegungen in die gleiche Richtung.754 Auch er stützt seine Argumentation wesentlich auf den Aspekt der unterschiedlichen Bewertung der verschiedenen Epochen der Kunstgeschichte. So schreibt er mit vergleichendem Blick auf Tieck und Wackenroder : Um der von Schlegel vertretenen Entwicklungslinie der europäischen Malerei ein deutlicheres Profil zu geben, sollte man sie am besten mit dem von Wackenroder und Tieck entwickelten Bild vergleichen. Auch hier wird der ›altdeutschen‹ Malerei und Albrecht Dürer eine wichtige Position zuerkannt. Aber sie steht ganz am Anfang und zeichnet sich durch unendliche Einfachheit und Bescheidenheit aus, wogegen der eigentlich große Stil der europäischen Malerei erst mit der Renaissance erwacht. […] Diese Wertmaßstäbe werden von Schlegel umgebogen. Für ihn bildet die ›altdeutsche‹ Kunst den Höhepunkt in dieser Entwicklung. Was die ›altitalienische‹ und ›altniederländische‹ Kunst auszeichnet, sind dieselben Züge einer ungemein ausgebildeten und verfeinerten Einfachheit, wogegen der große Stil der Renaissancemalerei schon jenen pomphaften Weg eingeschlagen hat, der bei Poussin endet.755

Büttner hingegen weist gerade auf das problematische Moment dieser einseitig auf die altdeutsche und altitalienische Kunst fokussierten Position Friedrich Schlegels hin. Denn das ausschließliche Erheben einer Epoche zum Ideal und Maßstab, um sie den zeitgenössischen Künstlern als Vorbild zu empfehlen, bricht nicht mit den Denkmustern des Klassizismus, sondern substituiert die Norm der Antike lediglich durch die Norm der mittelalterlichen christlichen Kunst.756 753 Vgl. Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 146, auch Anm. 13. Dass diese Position in Bezug auf August Wilhelm Schlegel nicht haltbar ist, ist oben in Kapitel I.2 bereits diskutiert worden. 754 Dass Behler August Wilhelm Schlegel bereits eine deutliche Überwindung klassizistischen Denkens zugesteht, ist in Kapitel I.2 bereits gezeigt worden. 755 Behler, Friedrich Schlegel und die Brüder Boisser¦e, S. 37; August Wilhelm Schlegel wird hier interessanterweise überhaupt nicht erwähnt – womöglich, weil ein Vergleich mit ihm weniger pointiert ausgefallen wäre. 756 Vgl. Büttner, Das Charakteristische, das Eigentümliche und das Volkstümliche, S. 90: »Die Künstler wurden durch die Forderungen, wie sie Schlegel formulierte, vor das Problem gestellt, wie die Fundierung der Kunst im Nationalen zu realisieren ist. […] Wenn der Nationalcharakter in jenen Zeiten [im Mittelalter, Y.A.] noch gegeben war und in den Kunstwerken seinen Niederschlag gefunden hatte, dann lag es nahe, sich das Charakteristische durch Nachahmung anzueignen. Statt den Apoll oder den Torso von Belvedere konnte man einfach Figuren aus Dürers Kupferstichen und Gemälden zur Vorlage nehmen. So durchgeführt war dieser Lösungsansatz nichts anderes als ein Klassizismus mit anderen Vorzeichen«.

270

Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

Jedoch erschöpft sich das romantische Bildkunstprogramm nicht in der Hochschätzung der altdeutschen Kunst. Vielmehr gibt es ein ganzes Set von Merkmalen, die das romantische Nachdenken über die Malerei auszeichnen. Um die Probleme besser verstehen zu können, die die Forschung mit einer Einordnung der Schlegelschen Schriften in das romantische Bildkunstverständnis hat, sollen die einzelnen Positionen seiner Kunsttheorie näher betrachtet und mit dem frühromantischen Kunstprogramm Wackenroders und August Wilhelm Schlegels verglichen werden. Welche romantischen Denkfiguren enthalten Friedrich Schlegels Bildbeschreibungen, wo knüpfen sie an Wackenroder und die Texte des älteren Bruders an und wo gehen sie über diese hinaus? Ebenso ist aber auch zu fragen, wo sie möglicherweise hinter diesen zurück bleiben. Als Element eines dezidiert romantischen Kunstverständnisses fällt zunächst Friedrich Schlegels Eintreten für individuelle Darstellungen auf, das die Grundlage seiner Wertschätzung der verschiedenen Nationalstile bildet, die wiederum Winckelmanns Diktum der Orientierung am antiken Ideal entgegensteht.757 Damit geht seine Vorliebe für die altdeutsche und altitalienische Kunst einher. Explizit wird die Bevorzugung der Individualität gegenüber dem Ideal in seinen Portraitbeschreibungen: denn wodurch kann die Kunst in der einzelnen Darstellung eines Individuums sich noch als Kunst bewähren, außer durch strengste Objektivität? Dies wird keineswegs dahin führen, die Gesichtszüge zu idealisieren, sondern im Gegenteil das Beschränkte [und Persönliche; Zweitfassung Sämmtliche Werke, Wien 1822 – 25] des Individuums muß auf diesem Wege am stärksten hervorgehoben werden, so daß der Charakter recht in seiner Beschränktheit konzentriert, und gleichsam fest eingeschlossen erscheint.758

Die Individualität der Darstellung lässt sich auf zweierlei Aspekte beziehen – auf den dargestellten Gegenstand einerseits und auf einen individuellen Stil des Malers andererseits. Beide Formen werden von Friedrich Schlegel berücksichtigt. So findet etwa Leonardos Personalstil Beachtung, der sich durch jenes Lächeln seiner Figuren auszeichnet, welches die Mona Lisa so berühmt machte und welches Schlegel als – mal deutlicher mal weniger deutlich hervortretendes – Merkmal aller seiner Darstellungen herausstellt. Neben den Personalstilen interessieren ihn auch die typischen Stilmerkmale ganzer Kollektive, die er nach nationalen Gruppen einteilt. So ist die Forderung nach der Hinwendung zur altdeutschen und altitalienischen Malerei mit dem 757 Vgl. zu diesem, die romantische Kunsttheorie generell auszeichnenden Diktum Büttner : Das Charakteristische, das Eigentümliche und das Volkstümliche, S. 87 – 96. 758 Nachricht von den Gemälden in Paris, KFSA, Bd. 4, S. 35, eine ähnliche Position lässt A. W. Schlegel bereits Louise vertreten, jedoch fordert sie noch die Kombination aus Ideal und Individualität. Vgl. etwa die Beschreibung Der Madonna des Basler Bürgermeisters Meyer von Holbein. (A. W. Schlegel: Die Gemählde, S. 39 – 44, bes. die Beschreibung der Madonna auf S. 43; vgl. hierzu auch die Ausführungen aus Kap. I.2).

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271

Interesse an den jeweiligen Nationalcharakteren verbunden. Die Hervorhebung des Nationalcharakters begleitet viele seiner Bildbeschreibungen759 und wird von Schlegel schließlich als allgemeiner Grundsatz für die Malerei formuliert: Die Wahrheiten des Verstandes sind allgemein; die Einbildungskraft sucht in das unbestimmte Ferne zu schweben, der Sinn aber geht vielmehr darauf aus, das Einzelne und Nächste bis in seine letzte Tiefe und eigentliche Wurzel zu durchdringen und es dann im Bilde von neuem zu gebären, so daß aus dem nun wiedergeborenen und verklärten Abbilde des unerforschlichen Naturwesens zugleich das Rätsel unsers eigenen Gefühls uns überraschend entgegen scheint und in unaussprechlichen Worten hervorbricht; und etwas Höheres als das eben Ausgesprochene kann die reinsinnliche Kunst nicht leisten. Sie geht aufs Einzelne und Nächste; das heißt, sie muß lokal sein und national.760

Hier wird deutlich, dass die Forderung nach dem Individuellen, aus der sich auch das Interesse am Nationalstil ableitet, auf dem viel grundlegenderen Gegensatz zwischen der Allgemeinheit der Verstandeserkenntnis und der Bestimmtheit der Sinneserkenntnis beruht. Die Malerei als die »reinsinnliche Kunst« sollte daher nicht versuchen, mit dem Erkenntnismodus des Verstandes zu wetteifern, sondern den Erkenntnisgehalt ihres eigenen Darstellungsmodus zu perfektionieren versuchen. Dabei ist es der Malerei – anders als dem Verstand – möglich, bis zum Wesenskern der Gegenstände vorzudringen, der nicht mehr erkannt, sondern nur gefühlt werden kann und folglich nicht in Sprache, sondern nur in den »unaussprechlichen Worten« des Bildes darstellbar ist. So wird der Malerei auch hier wieder ganz subtil die Überlegenheit gegenüber der Sprache bescheinigt. Diese Individualität der Darstellung wurde zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich erfolgreich geleistet. So umspannt ein anderer Problemkreis die Frage nach der Epocheneinteilung und ihrer Bewertung. Eine Schlüsselposition nimmt dabei Raffael ein, mit dem die Grenze zwischen »alter« und »neuer« italienischer Malerei gesetzt wird.761 Allerdings ist die Unterscheidung zwischen der Stellung, die diesem Künstler in den romantischen Kunstprogrammen Wackenroders, Tiecks und August Wilhelm Schlegels einerseits und bei Friedrich Schlegel andererseits zugewiesen wird, nicht so einfach, wie Claudia Beckers Aufsatz suggeriert.762 Raffael, der wie für Winckelmann auch noch für Wackenroder oder August Wilhelm Schlegel einer der bedeutendsten Maler ist, 759 Besonders auffällig etwa bei seinen Beschreibungen spanischer Gemälde. (Vgl. Nachtrag italienischer Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 65 u. Zweiter Nachtrag alter Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 83). 760 Dritter Nachtrag alter Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 121, Hervorhebung Y.A. 761 Vgl. KFSA, Bd. 4, S. 55. 762 Vgl. Becker, Bilder einer Ausstellung, S. 146, Anm. 13. Bedenklich ist an dieser Stelle auch ihre Verwendungsweise des Begriffs der »präraffaelitischen Malerei«.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

verliert diese Bedeutung nicht einfach in Friedrich Schlegels Programm. Allerdings findet bei dem jüngeren Bruder, der mit der jüngst zusammengetragenen Sammlung des Louvre nun seine Besprechung dieses Malers auf eine viel größere Zahl von Originalen stützen kann, eine differenzierte Beurteilung Raffaels statt.763 Seine Ausführungen zu Raffael, denen er immerhin so viel Raum und Bedeutung beimisst, dass er sie unter einer eigenen Überschrift behandelt, leitet er mit der grundlegenden Feststellung ein, dass »Universalität die Tendenz und das Prinzip dieses Malers sei.«764 Diese Universalität bestimmt er näher als »diejenige Universalität, welche die Manier und den Styl andrer Kunstverwandten anzunehmen, nachzubilden, und zu einem neuen Ganzen zu kombinieren weiß.«765 Raffaels Malerei bewegt sich nach der Überzeugung des jüngeren Schlegel-Bruders zwischen dem durch Einfachheit und national-individuellem Charakter geprägten Stil der altitalienischen Malerei einerseits und dem aus der antiken Kunst übernommenen Zug der Idealisierung des Dargestellten andererseits. Diese in Raffaels Kunst beschriebene Synthese aus den Merkmalen der alten und der modernen italienischen Malerei, die in Schlegels kunsthistorischem Denken als zwei sich antagonistisch gegenüberstehende Zeitalter gedacht werden, scheint einen Kerngedanken innerhalb seiner kunsttheoretischen Reflexionen zu bilden.766 Ablesen lässt sich dies schon daran, dass dies eine der äußerst seltenen Beobachtungen zur Malerei ist, die sich auch in seinen Notizen der Philosophischen Lehrjahre findet. Dort heißt es: »Die italiänische Mahlerei gleich anfangs sehr national (Mantegna) — nachher (bei d[en] Caracci Guido) immer weniger Im Raphael das Italiänische sehr stark neben d[em] Idealen.«767 Diese Beobachtung bildet die Grundlage seiner Einteilung der Raffaelschen 763 Gaehtgens schildert detailliert die neue Hängung, die Denon 1802 in der »Grande Galerie« vorgenommen hat und geht dabei insbesondere auf die Werke Raffaels ein. Die Transfiguration wird nun nicht mehr isoliert zwischen den Meisterwerken anderer Künstler gezeigt, sondern in einer Gesamtschau mit anderen Werken Raffaels präsentiert. Das kunsthistorische Anliegen dieser neuen Hängung, den Künstler in seiner persönlichen Entwicklung zu zeigen, ist bei Friedrich Schlegel – auch darauf weist Gaehtgens hin – auf fruchtbaren Boden gefallen und so stellt er in der Europa den künstlerischen Werdegang Raffaels ausführlich dar. Vgl. Gaehtgens, Das Mus¦e Napol¦on, S. 349 – 353. 764 Nachricht von den Gemälden in Paris, KFSA, Bd. 4, S. 38, Hervorhebung im Original. 765 Ebd., S. 38 f. 766 Claudia Beckers These, Schlegel unterscheide innerhalb des Raffaelschen Œuvres streng zwischen »zwei großen Epochen« und spiele die frühe, noch stärker dem altitalienischen Stil verhaftete Werkphase gegen die späteren, deutlicher an der antikisierenden Darstellung orientierten Werke aus, vereinfacht Schlegels Betrachtung Raffaels. (Vgl. Becker, Germania und Italia, S. 230). Zum einen skizziert Schlegel anhand der Madonnendarstellungen einen schrittweisen Übergang von einer Werkphase zur anderen, zum anderen liegt Schlegels Hochschätzung der »Universalität« Raffaels gerade in dessen Vermögen begründet, den alten mit dem modernen Stil zu verbinden (wobei dem altitalienischen Stil eindeutig der Vorzug gegeben wird, vgl. KFSA, Bd. 4, S. 55). 767 Philosophische Lehrjahre, KFSA, Bd. 19, S. 272, Nr. 64.

Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

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Madonnengemälde, die, beginnend bei der JardiniÀre, einer chronologischen Entwicklungslinie folgt und in der Sixtinischen Madonna gipfelt. Während ersteres Gemälde noch ganz in dem altitalienischen Stil seiner Vorläufer gehalten sei, so leite die Sixtinische Madonna über zu den modernen Malern. Über die JardiniÀre schreibt Friedrich Schlegel: »Ganz Lieblichkeit und kindlich leichte Freude, aber durchaus individuelle Natur, keine abstrakten Züge, kein Ideal.«768 Dem zweiten Entwicklungsschritt ordnet er die Silence zu, wo »die Züge offenbar individuell, aber die Krone im Haar, und die symbolischen Farben des Gewandes […] schon auf die Königin des Himmels« deuten.769 In der Darstellung der Heiligen Familie in der Transfiguration erkennt er bereits den »Übergang aus der ersten individuellen zu der spätern idealischen Ansicht«770. So fasst er nach dieser Darstellung zusammen: Andre haben den Charakter des Raffael gesetzt in die idealische Schönheit. Dagegen ist aber zu erinnern, daß nur einige seiner Werke diese Tendenz haben; vielleicht hie und da sogar schon zu sehr, mit Verkennung der ewigen Grenzen zwischen Malerei und zwischen Antike und Plastik. In andern Werken hingegen strebt er nur eine bedeutende Allegorie oder auch den sinnlichen Liebreiz in ganz individuellen keineswegs idealischen Gestalten auszudrücken. Also ist auch diese Ansicht des Raffael einseitig und falsch.771

Deutlich spricht aus diesem Zitat der Vorbehalt gegenüber den idealisierenden Darstellungen der Antike und dem klassizistischen Diktum, das die Plastiken der Griechen zum Vorbild für die Malerei erklärt.772 Da Raffael aufgrund seiner Orientierung an der altitalienischen Malerei zumindest bis zu einem gewissen Grade von diesem Fehler freigesprochen werden kann, ist es nicht zu verurteilen, wenn er den zeitgenössischen Malern als Vorbild empfohlen wird. Denn, so das Argument Schlegels, über ihn werden die Maler zu den alten Meistern geführt: Die Universalität, welche wir als das Wesentliche seines Charakters setzen, zeigt sich auch darin, daß er unter den modernen italienischen Malern, obgleich er in vielen seiner Gemälde ganz die Manier dieser Epoche ausdrückt, dennoch am meisten der alten Schule sich anschließt, den Styl derselben hie und da fast rein darbietet, und so gewissermaßen den Übergang aus der neuern Schule zu jener höhern bezeichnet. Eben 768 769 770 771 772

Vom Raffael, KFSA, Bd. 4, S. 52. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Ebd., S. 54 f. Diese deutliche Zurückweisung der Plastik als Vorbild der Malerei findet sich bereits im Gemählde-Gespräch August Wilhelm Schlegels, wo die Eigenständigkeit der Darstellungsweise der Malerei betont wird: »so wissen wir auch, was wir von dem Urtheile derer zu halten haben, welche die Färbung und Beleuchtung, die Mittel, wodurch die Körper erst erscheinen, zu untergeordneten Theilen der Malerey, oder wohl gar zu unwesentlichen Reizen derselben herabsetzen. Sie ist ja eigentlich die Kunst des Scheines; wie die Bildnerey die Kunst der Formen«. (A. W. Schlegel, Die Gemählde, S. 33).

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deswegen ist es im höchsten Grade zu billigen, wenn ihn Maler der jetzigen Zeit ausschließlich fast, als vorzüglichsten Führer sich erwählen, weil er denn doch, wenn sie ihn und alle seine Werke und eigentliche Absicht nur recht verstehen wollten, sie unvermeidlich zur rechten Quelle zurückführen würde; zu der alten Schule nemlich welche wir der neuern unbedingt vorzuziehen gar kein Bedenken haben.773

Ebenso, wie Schlegel sich für eine bestimmte Epoche als die zu bevorzugende ausspricht, so lässt er auch nur eine Gattung als empfehlenswert gelten: die der Historienmalerei. Hier ist es weniger das Individuelle oder Charakteristische, was seine Einschätzung bestimmt als vielmehr gerade sein Denken in Universalismen. In einem Passus innerhalb des »Nachtrags italiänischer Gemälde« arbeitet Schlegel einige allgemeine Überlegungen zur Malerei ein und formuliert schließlich drei Grundsätze, von denen der erste lautet: Von diesen festzustellenden Grundsätzen nun ist der erste der, daß es keine Gattungen der Malerei gebe, als die eine, ganz vollständige Gemälde, die man historisch zu nennen pflegt; schicklicher aber gar nicht besonders, oder symbolische Gemälde nennen würde.774

Um seine Position zu verdeutlichen und keinerlei Missverständnisse aufkommen zu lassen, führt er sogleich anhand von Beispielen aus, was dieser Grundsatz für die übrigen Gattungen bedeutet: Was man sonst von andern als wirklich verschiedenen und abgesonderten Gattungen zu sagen pflegt, ist nur eitler Wahn und leere Einbildung. Die Landschaft ist der Hintergrund des vollständigen Gemäldes, und nur als solcher hat sie ihre volle Bedeutung; […] In Verbindung mit dem ganzen vollständigen Gemälde werden alle diese Dinge [Landschaft, Stilleben, Blumenstück, Y.A.] bedeutend sein; das Bedeutende aber, so meinen wir, ist überhaupt der Zweck aller Malerei, und ohne dasselbe wird Landschaft und Stilleben in bloße Künstlichkeit und Überwindung des Schwierigen auch an widersterbenden und schlechten Stoff oder aber vollends in täuschende Nachahmung des bloß Gefälligen und gänzliche Plattheit sich verirren. Das Portrait macht davon keine Ausnahme.775

Dass hier das Landschaftsgemälde sogleich den Anfang macht, ist sicherlich kein Zufall, wo es gerade die Landschaftsdarstellung ist, die der romantischen Naturmystik in der Malerei ihren Ausdruck zu verleihen vermag und sie noch in August Wilhelm Schlegels Gemählde-Gespräch einen zentralen Topos bildete. Einerseits steht Schlegel mit der Forderung, Landschaft müsse eine symbolische Funktion erfüllen, ganz in der romantisch-allegorischen Naturauffassung. Gleichwohl fügt sich seine Zurückweisung der Landschaft als eigene Gattung in 773 Schlegel, Vom Raffael, KFSA, Bd. 4, S. 55. 774 Schlegel, Nachtrag italiänischer Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 72. 775 Ebd., S. 72.

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den klassizistischen Gedanken ein, dass Landschaftsdarstellungen für sich genommen keine allegorische Bedeutung zugeschrieben werden dürfe.776 Dass Friedrich Schlegel aber in der Jenaer Phase die von Wackenroder, Tieck oder seinem älteren Bruder August Wilhelm bekannten Positionen zu den Gattungen des Landschaftsgemäldes und des Portraits teilte, beweist eine Notiz vom Beginn des Jahres 1999, die sich in den Philosophischen Lehrjahren findet: »Giebt nicht jede Landschaft eine Aussicht ins Unendliche? Das Portrait scheint mir beinah d.[ie] Grundlage d[er] Mahlerei zu sein. —«777 Die spätere Bevorzugung des Historiengemäldes ebenso wie die frühen Einschätzungen zum Portrait und zur Landschaftsmalerei leiten sich alle aus dem gleichen Argument her : der Auffassung, dass es Funktion der Malerei sei, das Göttliche darzustellen. Noch etwas anderes fällt auf, wenn man sich die Werke anschaut, an denen Schlegel seine Thesen exemplifiziert: Dass es gerade die Madonnendarstellungen sind, anhand derer Schlegel Raffaels künstlerische Entwicklung nachzeichnet, mag dem Umstand geschuldet sein, dass es sich hierbei um ein besonders beliebtes Motiv Raffaels handelt und somit entsprechend viele Vergleichsbeispiele vorhanden sind. Zugleich ist damit aber auch auf einen weiteren Aspekt verwiesen, der im Zentrum von Friedrich Schlegels Verständnis der Malerei steht: die Forderung nach christlichen Stoffen und die damit verbundene Abkehr von den im Klassizismus gerne gewählten heidnisch-mythologischen Stoffen der Antike. Auch dies ist eine Forderung romantischen Kunstverständnisses, die er mit den frühromantischen Überzeugungen Wackenroders oder August Wilhelm Schlegels teilt. Bei Friedrich Schlegel aber scheint diese Forderung – besonders im Gegensatz zu den von seinem Bruder vertretenen Positionen – radikalisiert worden zu sein. So schreibt er unmissverständlich über die Madonnendarstellung als Gegenstand der Malerei: »Der älteste Gegenstand der christlichen Malerei mag wohl derjenige sein, der niemals ganz erschöpft werden wird, noch auch jemals ganz erreicht werden kann; die Mutter Gottes mit dem Kinde.«778 Dementsprechend blickt er kritisch auf die Stoffwahl der zeitgenössischen Künstler, die sich ebenso in der Darstellung antiker grie-

776 Diese anti-romantische Haltung gipfelte wenige Jahre nach Erscheinen der Schlegelschen Europa-Beiträge – im Januar 1809 – in einer öffentlichen Auseinandersetzung über das Kunstverständnis der Romantik. Auslöser war ein Aufsatz Basilius von Ramdohrs in der Zeitung für die elegante Welt, in der er Caspar David Friedrichs Gemälde Das Kreuz im Gebirge, das als Altarbild vorgesehen war, aufgrund der Allegorisierung der Landschaft, die die Gattungsgrenze des Landschaftsgemäldes sprengte, aufs heftigste kritisierte. Vgl. bzgl. des sog. Ramdohr-Streits und die darin zum Vorschein kommende Romantik-Kritik: Busch, Werner : Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, München 2003, S. 34 – 45. 777 Schlegel, Philosophische Lehrjahre, KFSA, Bd. 18, S. 239, Nr. 553. 778 Schlegel, Zweiter Nachtrag alter Gemälde, KFSA, Bd. 4, S. 91.

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Sprachkritik im Bildkunstdiskurs der Frühromantik

chischer und römischer Mythen versuchen, wie sie die heidnisch-mythologischen Stoffe Nordeuropas für sich entdecken: Wie sonderbar schwanken überhaupt jetzt die Maler in der Wahl der Gegenstände umher? Bald geben sie uns griechische und römische, bald ganz modern französische und keltisch ossianische Geschichten und Gestalten, oder endlich gar solche, die nirgends zu Hause sind, als in dem Kopfe des in falscher Theorie verirrten Künstlers. – Versuchte man doch lieber auf dem gebahnten Wege der großen Maler Italiens und Deutschlands weiter fortzugehen; es würde wahrlich nicht an Stoff fehlen, und man würde sehr irren, wenn man glaubte, der christliche Zyklus sei schon erschöpft!779

So stellt er die Kunst unmissverständlich in den Dienst der Religion. Was aber kann Kunst zu den theologischen und philosophischen Traktaten über das Göttliche hinzufügen? Kognitiv kann das Göttliche – als reine Idee ohne materiellen Bezugspunkt – nur durch abstrakte Annäherung erfasst werden. Die Kunst hingegen vermag das Göttliche materiell, im Irdischen darzustellen – oder mit August Wilhelm Schlegels oder Schellings Worten – sie ist die Darstellung des Unendlichen im Endlichen. Dementsprechend formuliert Friedrich Schlegel als Funktion der (bildenden) Kunst: Die Kunst aber, und die Religion von der sie nie getrennt werden kann, ohne sich selbst zu verlieren, sollen dem Menschen nicht allein das Göttliche andeuten, wie er es rein von allen Verhältnissen und im heitern Frieden sich denken und ahnden kann, sondern auch in seinem beschränkten Verhältnis wie das Göttliche selbst im irdischen Dasein noch durchbricht und auch da erscheint.780

Friedrich Schlegels Forderung nach einer individuellen, charakteristischen Darstellungsweise, die anders als die begriffliche Erkenntnis des Verstandes nicht abstrahiert und verallgemeinert, sondern die sinnlich-individuelle Erscheinung eines Gegenstandes erfasst, fügt sich in diesen Argumentationszusammenhang. Die Ablehnung der idealisierenden Gestaltungsweise schließt jedoch eine symbolische Gestaltungsweise nicht aus. Soll die Kunst das Göttliche im Irdisch-Materiellen erscheinen lassen, so kann dies nur über eine symbolische Repräsentationsstruktur geschehen, die er im Historiengemälde verwirklicht sieht. Gerade im Modus des Individuellen soll das Religiöse dargestellt werden. Diese Forderung nach einer Darstellung des Göttlichen durch die Kunst verabsolutiert Friedrich Schlegel geradezu, wenn er im ersten Satz des »Zweiten Nachtrags alter Gemälde« programmatisch formuliert: So wie die Kunst selbst von der ursprünglichen Bestimmung, die sie in alten Zeiten überall hatte, die Religion zu verherrlichen, und die Geheimnisse derselben noch schöner und deutlicher zu offenbaren, als durch Worte geschehen kann, durchaus nicht abwei779 Ebd., S. 94. 780 Ebd., S. 93.

Friedrich Schlegels Europa-Beiträge

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chen darf, ohne in alle Arten von Eitelkeit und endlich zwischen missverstandenem Ideal und bloßem Effekt schwankend in eigentliche Gemeinheit sich zu verlieren.781

Friedrich Schlegel, der seine Abhandlungen über die Malerei am spätesten vorlegt, nimmt damit zugleich auch die rigideste Haltung hinsichtlich ihrer religiösen Funktion ein. Aus der Hinwendung zum Nationalstil, den er in der deutschen und italienischen Kunst des Mittelalters am vorbildlichsten ausgeprägt sieht, leitet Friedrich Schlegel die Darstellung christlich-religiöser Stoffe als eigentliche und ausschließliche Aufgabe der bildenden Kunst ab. Seine Wertschätzung der Mythologie, die sich schon im Studium-Aufsatz artikulierte und 1800 in der Forderung nach einer neuen Mythologie gipfelte, hat Schlegel nun gänzlich zu Gunsten des Christentums aufgegeben. Ebenso hat er vom Projekt einer neuen Bibel, dessen Konzeption sich in den ebenfalls 1800 veröffentlichten Ideen fand und von der Dichtkunst geleistet werden sollte, Abstand genommen. Friedrich Schlegels Abhandlungen über die bildende Kunst treffen auf eine Gemengelage aus einer Besinnung auf die eigene nationale Identität, einer damit einhergehenden, zunehmenden Wertschätzung der Kunst des Mittelalters und einer bereits erkennbaren Hinwendung zum Katholizismus. Diese drei Phänomene bedingen einander wechselseitig. Die Kunst des Mittelalters wird gegen die griechische Antike als das deutsche Erbe ins Feld geführt, zugleich ist diese Kunst zutiefst katholisch geprägt. Es fällt auf, dass es hier die Malerei ist, die das Göttliche darstellen soll, während es in den nur wenige Jahre zuvor verfolgten Bibel- und Mythologieprojekten die Dichtung war, der diese Aufgabe zufiel. Es ist nicht ganz leicht zu sagen, welche Rolle die bildende Kunst gegenüber der Sprache spielt; eine nicht von der Hand zu weisende Tatsache ist jedoch, dass es in der Dichtung und der Philosophie des 18. Jahrhunderts, mit der sich Schlegel in seiner Jenaer Phase beschäftigte, ausnahmslos Protestanten sind, die die Protagonisten im Literaturbetrieb der Aufklärung stellen. Die bildende Kunst hingegen, zumal jene Italiens und des deutschen Mittelalters, ist ausschließlich katholisch geprägt. Angesichts des katholischen Christentums und seiner seit dem Mittelalter tradierten Marien- und Heiligenverehrung, die sich nicht in philosophischen Abhandlungen, sondern in sinnlich-anschaulichen Bildkunstwerken artikuliert, vertritt auch Friedrich Schlegel die Meinung, die Gegenstände der Religion ließen sich in Bildern besser und angemessener darstellen als durch Sprache. Die Beschäftigung mit bildender Kunst geht damit bei allen Vertretern der Frühromantik – im Gegensatz zu den Kunsttheoretikern des Klassizismus und ihrem Vordenker Johann Joachim Winkelmann – mit einer Hinwendung zum Christentum, nicht zur Antike, einher. 781 Ebd., S. 79.

II.

Zwischen Erkenntnistheorie und Tropik – Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

1.

Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik

Von August Wilhelm Schlegel liegt aus den frühen Jahren von 1795 bis 1802 eine Reihe von theoretischen Schriften vor, mit deren thematischer Einordnung sich die Forschung offensichtlich schwer tut. Betrachtet man die unterschiedlichen Beiträge, die sich mit Schlegels Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache, den Jenaer Vorlesungen zur philosophischen Kunstlehre sowie den Berliner Vorlesungen zur schönen Literatur und Kunst beschäftigen, so stellt sich die eigentümliche Beobachtung ein, dass ein Zweig der Forschung sie unter dem Thema der Sprachphilosophie abhandelt,782 während sich ihnen eine andere Gruppe von Germanisten unter dem Schlagwort Poetik oder Lyriktheorie783 nähert.784 Mit 782 Dazu gehören die Arbeiten von Klaus Inderthal, Jochen A. Bär und Andrea Bartl. Andrea Bartl skizziert das sprachtheoretische Denken August Wilhelm Schlegels nur auf wenigen Seiten, dabei handelt sie die Frage unter dem Problem des Sprachursprungs ab. Die Entwicklung seines sprachtheoretischen Denkens, wie es sich in seinen verschiedenen Schriften manifestiert, gerät dabei nicht in den Blick. Zwar nehmen die poetischen Elemente der Sprache auch in ihren Ausführungen breiten Raum ein, sie benennt jedoch nicht klar den Kern des Schlegelschen Sprachdenkens, der in einer Begründung der Poesie aus einer Sprachtheorie heraus besteht. Auch die Verbindung der Sprachtheorie mit der Symboltheorie in den Berliner Vorlesungen bleibt unberücksichtigt. (Vgl. Bartl, Andrea: Im Anfang war der Zweifel. Zur Sprachskepsis in der deutschen Literatur um 1800, Tübingen 2005, S. 269 – 276). 783 Diesen Ansatz verfolgen Claudia Becker, Ulrike Schenk-Lenzen sowie der Aufsatz von Georg K. Braungart. Bei der Verwendung des Begriffs der »Lyriktheorie«, dessen sich Braungart bedient, handelt es sich um eine falsche Verengung dessen, was Schlegel mit dem Begriff »Poesie« meint. (Vgl. Braungart, Georg K.: Die Lyriktheorie August Wilhelm Schlegels, in: Epochenbegriffe: Grenzen und Möglichkeiten. Aufklärung – Klassik – Romantik – Die Wiener Moderne, Jahrbuch für internationale Germanistik, Reihe A, 58 [2000], S. 191 – 199). Schlegel selbst plädiert in seinem Text für eine möglichst weite Verwendung des Begriffs, wobei er besonders die sich jüngst etablierende Gattung des Romans darunter subsumiert wissen möchte. Vgl. A. W. Schlegel, KV, Bd. 1, S. 391. 784 Diese Einteilung der Forschung in zwei Gruppen soll dabei keinesfalls den falschen Ein-

280

Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

dieser Beobachtung erschließt sich bereits das wichtigste Kennzeichen der Kunsttheorie August Wilhelm Schlegels: die Herleitung seiner poetologischen Konzeption aus sprachphilosophischen Reflexionen.785 Einerseits erlaubt ihm dieses Vorgehen, einen Schwerpunkt auf die sprachlichen Besonderheiten poetischer Werke zu legen, was ihm als Übersetzer und Dichter, der es gewohnt war, ein besonderes Augenmerk auf die formalen Aspekte zu richten, entgegen kam. Andererseits ermöglicht es ihm – in Anlehnung an anthropologisch gefärbte sprachtheoretische Konzeptionen – das Kunstschaffen generell als dem Menschen wesentliche und anthropologische Konstante zu deklarieren. Zugleich kann er auf diese Weise der Relativierung der Kunst, der sie in Zeiten zunehmender Säkularisierung und gesellschaftlicher Ausdifferenzierung ausgeliefert war, entschieden entgegen treten. Mit Blick auf die Fragestellung dieser Arbeit liegt mit August Wilhelm Schlegels früher Poetik eine besonders interessante Konzeption von poetischer Sprach-Bild-Relation vor, da sie die Anschaulichkeit poetisch-tropischer Rede im Wesen der Sprache selbst zu verorten versucht. Im Folgenden soll die Entwicklung und Argumentationsstruktur dieser Poetologie im Einzelnen betrachtet werden.

1.1

Sprachursprungstheorie als Poetologie – Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache

August Wilhelm Schlegel entwirft bereits 1795 in seinen Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache eine Poetik, die sich durch ihre enge Koppelung an Sprachursprungstheorien auszeichnet. Ihren Ausgangspunkt nehmen diese theoretischen Betrachtungen, die als eine Folge von fiktionalen Briefen an eine Empfängerin namens Amalie gestaltet sind, bei der Frage nach der Relevanz des Silbenmaßes für das dichterische Schaffen. Diese unverkennbare Auseinanderdruck erwecken, der jeweils andere Aspekt sei nicht berücksichtigt worden. Selbstverständlich erkennen die Sprachtheoretiker die poetologischen Implikationen der Texte und umgekehrt. Der Aufsatz von Erika Hammer bildet insofern eine Ausnahme, als er die Verquickung von Poetologie und Sprachtheorie explizit zum Thema hat. Problematisch ist allerdings, dass sie ihre Ausführungen allein auf den in einer Reclam-Anthologie enthaltenen Auszug aus den Berliner Vorlesungen stützt (ohne den Text als einen Auszug kenntlich zu machen und ihn entsprechend einzuordnen). Zudem lehnt sie ihre Argumentation über weite Strecken ausschließlich an Jochen A. Bärs Untersuchung an. Der Aufsatz stellt damit keine fundierte Behandlung des Themas dar. (Vgl. Hammer, Erika: Wiedergewinnung der Sinnlichkeit – die Neubestimmung der Poesie als Repoetisierung der Sprache. Konzepte von A. W. Schlegel, in: P¦cser Studien zur Germanistik 2 [2007], S. 73 – 91). 785 So schreibt Susanne Holmes: »Schlegels Poesie-Begriff beruht vollständig auf seiner Sprachursprungstheorie« (Vgl. Holmes, Susanne: Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei August Wilhelm Schlegel, Paderborn 2006, S. 71).

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setzung mit den Positionen der Genieästhetik leitet Schlegel geschickt mit einer Skizze des genialen Dichters ein, dessen Bild sodann in den darauffolgenden Abschnitten Stück um Stück destruiert wird.786 Ernüchternd heißt es über das Dichtergenie: »dieser Dichter ist selbst nur ein Geschöpf der dichtenden Phantasie. Wieviel anders erscheint er in der Wirklichkeit, wenn man ihn in seiner Werkstätte belauscht!«787 Und über das Produkt seines Schaffens heißt es schonungslos sachlich: »Das schönste Gedicht besteht nur aus Versen; die Verse aus Wörtern; die Wörter aus Silben; die Silben aus einzelnen Lauten. Diese müssen nach ihrem Wohlklange oder Übelklange geprüft, die Silben gezählt, gemessen und gewogen, die Wörter gewählt, die Verse endlich zierlich geordnet und aneinander gefügt werden.«788 Schließlich lässt er die Passage, in der das Dichten mit Vokabeln handwerklicher Tätigkeit beschrieben wird, in Anlehnung an die Bibelworte der Sündenfallerzählung pathetisch mit den Sätzen enden: »Im Schweiße deines Angesichtes sollst du Verse machen! Mit Schmerzen sollst du Gedichte zur Welt bringen.«789 Daraufhin legt Schlegel seiner Adressatin die Gegenposition in den Mund, indem er ihr die Gedanken unterstellt: »Ist das Silbenmaß der Poesie wesentlich? Ist es nicht vielmehr unnatürlich, die Ergüsse eines ganz von seinem Gegenstande erfüllten Geistes, nach einer mechanischen Regel abzumessen?«790 Auf diese Weise gelingt es Schlegel, einem fiktiven Dialog ähnlich, seine eigenen Gedankengänge deutlicher herauszustellen und klar zu markieren, auf welche Positionen er Bezug nimmt. Unmissverständlich lässt Schlegel seine eigene Ansicht erkennen, wonach die spezifische formale Gestalt der Dichtung, die sich in Metrik, Vers- und Reimschema darstellt, ein ihr wesentliches Merkmal ist.791 Als Begründung für seine These zieht er zunächst eine historische Argumentationsfigur heran, die sich auf »Jene Übereinstimmung der verschiedensten Völker und Zeiten«792 beruft. Allerdings scheint das Ar786 In den Metaphern, derer sich Schlegel in seiner Schilderung des genialen Dichters bedient, weist Schenk-Lenzen den direkten Bezug auf das »von Plato initiierte Dichterbild vom geflügelt-heiligen Sänger und Propheten der Götter« nach. (Vgl. Schenk-Lenzen, Ulrike: Das ungleiche Verhältnis von Kunst und Kritik. Zur Literaturkritik August Wilhelm Schlegels, Würzburg 1991, S. 161). Ihrer Meinung, dass dieses Dichter-Konzept nur »zum Schein« demontiert würde, ist allerdings nicht zuzustimmen. Die Beobachtung: »Aus dem poetischen Handwerker muß wieder der dichtende Sänger werden« (S. 161 f.), verfehlt die eigentliche Zielsetzung der Schlegelschen Überlegungen, in denen es darum geht, diejenigen Elemente der Poesie, die als Produkt des Handwerkers gelten, als für die Poesie konstitutiv nachzuweisen. 787 A. W. Schlegel: Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, in: KS, Bd. 1, S. 141. 788 Ebd., S. 141 f. 789 Ebd., S. 142. 790 Ebd., S. 143. 791 So heißt es »Überall finden wir die Poesie vom Silbenmaß begleitet, damit verschwistert, davon unzertrennlich.« (Ebd., S. 143). 792 Ebd., S. 144.

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gument als rein historisches, welches sich auf ein »willkürliches, zufälliges Einverständnis« bezieht, nicht stark genug. Stattdessen wird es in ein anthropologisches umgemünzt,793 das auf der Annahme basiert, »die Allgemeinheit einer Sitte« lasse darauf schließen, dass sie in einem dem Menschen angeborenen körperlichen oder geistigen Bedürfnis ihren Ursprung hat.794 Hier schließt sich August Wilhelm Schlegel in der Begründung seiner Poetik bereits an die im späten 18. Jahrhundert geläufigen Argumentationsmuster der Sprachtheorien an, die sich darum bemühen, die Entstehung der Sprache aus der conditio humana abzuleiten.795 Den Ursprung der Poesie, den er aufzudecken versucht, vermutet er in einem synästhetischen »Gesamtkunstwerk« aus Dichtkunst, Musik und Tanz: »In ihrem Ursprunge macht Poesie mit Musik und Tanz ein unteilbares Ganzes aus.«796 Die Trennung der Gattungen, so lässt sich aus diesem Argument schlussfolgern, stellt damit eine jüngere Entwicklung dar. Diesen Entwicklungsgang der Poesie gilt es nun durch Argumente zu belegen. Dazu bedient er sich eines Beispiels. Das von August Wilhelm Schlegel gewählte Beispiel der Sprache als »unendliches Gedicht des Menschengeschlechts« entpuppt sich jedoch letztlich nicht als Exemplum, sondern als der eigentliche postulierte Entstehungsort der Poesie selbst. Indem er die Sprache als sein Beispiel für poetische Formen wählt, eröffnet er sich die Möglichkeit, die zeitgenössischen, weitverbreiteten Argumente der verschiedenen Sprachursprungstheorien heranzuziehen und sie für seine Poetologie fruchtbar zu machen. Schlegel beschreibt Sprache als sich im Spannungsfeld zwischen zwei Polen bewegend. Diese beiden Pole sind an den geläufigen Positionen der zeitgenössischen Sprachtheorie orientiert: Sprache als Medium zur Mitteilung geistiger Vorstellungen und Sprache als möglichst unverfälschte Darstellung der bezeichneten Gegenstände. Eine zunehmende Herausbildung begrifflichen Sprechens wird allerdings mit Besorgnis betrachtet. Dagegen versucht er eine stark bildhafte, an den empirischen Gegenständen orientierte Sprache in ihr Recht zu setzen. Die Sprache, die wunderbarste Schöpfung des menschlichen Dichtungsvermögens, gleichsam das große, nie vollendete Gedicht, worin die menschliche Natur sich selbst darstellt, bietet uns von dem, was ich eben sagte, ein auffallendes Beispiel dar. So wie sie auf der einen Seite vom Verstande bearbeitet, an Brauchbarkeit zu allen seinen Verrichtungen zunimmt, so büßt sie auf der andern an jener ursprünglichen Kraft ein, die im notwendigen Zusammenhange zwischen den Zeichen der Mitteilung und dem 793 Vgl. zur anthropologischen Ausrichtung der Argumentation A. W. Schlegels in seinen Briefen: Braungart, Die Lyriktheorie August Wilhelm Schlegels, S. 192 – 197. 794 Vgl. A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, in: KS, Bd. 1, S. 144. 795 Dieses Argument fand sich z. B. auch bei Herder. Vgl. Teil A, Kap. I.1.2. 796 Ebd., S. 145.

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Bezeichneten liegt. So wie die grenzenlose Mannigfaltigkeit der Natur in abgezogenen Begriffen verarmt, so sinkt die lebendige Fülle der Töne immer mehr zum toten Buchstaben hinab.797

Diese Passage ist hinsichtlich der Sprachtheorie der Briefe als eine der zentralsten zu betrachten, da sie in höchst verdichteter Form Aufschluss über Schlegels Verständnis von Sprache gibt. Bereits der einleitende Satz macht nicht nur unumwunden deutlich, dass er in der Sprache ein Produkt des menschlichen Geistes sieht (womit er sich gegen die Verfechter einer göttlichen Sprachursprungstheorie positioniert), sondern dem Dichtungsvermögen auch klar die Aufgabe zuweist, Sprache zu entwickeln. So wie seine Zeitgenossen üblicherweise die Sprachfähigkeit selbst als zentrales anthropologisches Merkmal der Natur des Menschen betrachteten, so weist Schlegel dem künstlerischen Vermögen die Rolle einer anthropologischen Konstante zu.798 Aber damit nicht genug – die Fähigkeit zum poetischen Schaffen wird von Schlegel zur Voraussetzung für die Bildung von Sprache überhaupt erklärt. Damit liefert er, wenn auch etwas versteckt, eine Hypothese über den Ort der menschlichen Sprachentstehung. Dieses am Poetischen orientierte Sprachverständnis hat Folgen für die Sprachtheorie selbst. Machten die Sprachursprungstheorien, die den Vorstellungen der Aufklärung verpflichtet waren (darunter ist auch Herders Sprachursprungsaufsatz zu rechnen), die menschliche Denkfähigkeit zur notwendigen Grundlage der Sprachentstehung und kreisten ihre Debatten um die Art der Verschwisterung von Sprache und Denken, so richtet sich Schlegels Sprachursprungskonzeption – typisch romantisch möchte man sagen – gegen die einseitige Betonung der menschlichen Ratio. An Stelle der Verstandestätigkeit lässt Schlegel nun das Dichtungsvermögen treten.799 Damit steht der abstrakte Begriff nicht mehr wie in den Sprachtheorien der Aufklärung auf dem höchsten Rang sprachlicher Entwicklung, sondern wird als Folge eines Verfallsprozesses empfunden, der der Komplexität der empirischen Umgebung des Menschen nicht 797 Ebd., S. 145 f. 798 Zur Bedeutung der Anthropologie im 18. Jahrhundert nach der »sogenannte[n] anthropologische[n] Wende der Aufklärung ab 1759« (Garber, Jörn; Thoma, Heinz: Vorwort, in: dies. (Hrsg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, Tübingen 2004, S. VII – X, hier S. VII) vgl. die Sammelbände: Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Jörn Garber u. Heinz Thoma, Tübingen 2004 sowie den zehn Jahre zuvor erschienenen Konferenzband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994. 799 Diese Zuordnung »Geist« – »ästhetisches Schöpfungsvermögen« erinnert deutlich an Fichtes Konzeption des ästhetischen Triebes, wie er sie im gleichen Jahr 1795 in seinen Briefen Über Geist und Buchstab’ in der Philosophie formuliert, die ebenfalls in Schillers Horen erscheinen sollten. Vgl. Teil A, Kap. I.2.2.

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gerecht wird.800 Zwar weist Schlegels Ansatz in eine deutlich andere Richtung, als Herders Sprachursprungsschrift, dennoch dürfte er die Hypothese von einer Sprachentwicklung, die sich von einer poetisch-anschaulichen zu einer abstrakt-begrifflichen Redeweise bewegt, wohl bei Herder entlehnt haben. So ist die Beobachtung, dass diese frühesten, noch am sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand orientierten sprachlichen Zeichen poetische Qualität hatten, bereits in Herders Sprachursprungsschrift wiederholt eingestreut.801 Herder geht es in diesem Text jedoch nicht um die Poesie als solche, so dass diese Hinweise für ihn eher heuristischen Wert besitzen, mit deren Hilfe er die semiotische Struktur der frühen Sprache beschreibt. Schlegel, dessen Hauptinteresse bei der Poesie liegt, versteht es, diese Beobachtungen geschickt für seine eigene Theorie dienstbar zu machen. Der Gebrauch der Sprache zur Denktätigkeit und die damit einhergehende zunehmende Bildung abstrakter Begriffe werden von Schlegel als Verlust des ursprünglichen poetischen Potentials der Sprache gedeutet. Die poetische Formgestalt der Sprache fand sich nach Schlegels Auffassung jedoch nur in der Ursprache; in den gegenwärtigen Erscheinungsformen der Sprachen ist sie lediglich als verschüttetes Potential verborgen: Allein in den gebildeten Sprachen, hauptsächlich in der Gestalt, wie sie zum Vortrage der deutlichen Einsicht, der Wissenschaft gebraucht werden, wittern wir kaum noch einige verlorene Spuren ihres Ursprunges, von welchem sie so unermesslich weit entfernt sind; wir können sie fast nicht anders als wie eine Sammlung durch Übereinkunft festgesetzter Zeichen betrachten. Indessen liegt doch jene innige, unwiderstehliche, eingeschränkte, aber selbst in ihrer Eingeschränktheit unendliche Sprache der Natur in ihnen verborgen; sie muß in ihnen liegen: nur dadurch wird eine Poesie möglich.802

Sprache, so lautet sein Argument, kann nur dann zum brauchbaren Medium der Kunst werden, wenn ihr das Potential zu poetisch-bildlicher (natürlicher) Formgebung innewohnt. Sprache, als aus arbiträren Worten bestehende abstrakte Begriffssprache, wie die Philosophie sich ihrer bedient und wie sie in den Sprachtheorien eines Locke und selbst in Herders Sprachursprungsschrift803 noch als die höchste Form der Sprachentwicklung galt, erscheint in Schlegels 800 Der Unterscheidung zwischen der sprachlichen Fülle der Dichtkunst und dem überschaubaren Set von abstrakten Begriffen ordnet er den verbreiteten Antagonismus zwischen lebendigem Geist und totem Buchstabe zu. Wie sich zeigen wird, strebt Schlegel in seiner späteren poetologischen Konzeption gerade nach der Aufhebung dieser Antinomie. 801 Vgl. Herder, Werke, Bd. 1, S. 740. 802 A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, in: KS, Bd. 1, S. 146. 803 Wohlgemerkt finden sich in anderen Werken Herders auch andere, der romantischen Position deutlich näher stehende Tendenzen. Vgl. hierzu z. B. Herders Dithyrambische Rhapsodie von 1765 (in: Herder, Werke, Bd. 1).

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Augen als in ihrem Ausdrucksgehalt defizitär, da sie die weit größere Flexibilität im Ausdruck ermangelt, die einer »Natursprache« zugeschrieben wird.804 Auch verbindet Schlegel bereits in den Briefen mit diesen Beobachtungen eine praktische Forderung an die Dichter : Die arbiträren Zeichen der Wortsprache soll der Dichter in einer Weise gebrauchen, dass sie ihrer ursprünglich natürlichen Form möglichst stark angenähert werden: Dies hängt genau mit ihrem [der Poesie, Y.A.] Bestreben zusammen, die Sprache durch eine höhere Vollendung zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen und Zeichen der Verabredung durch die Art des Gebrauches beinah in natürliche und an sich bedeutende Zeichen umzuschaffen.805

Diese poetische Form der Sprache, die er an den Anfang ihrer Entstehungsgeschichte stellt, besteht für Schlegel in der für das dichterische Schreiben typischen Formgebung der Metrik. Indem er das Silbenmaß als ein der Sprache wesentliches Merkmal bestimmt, dessen Entstehung mit der Sprachentstehung notwendig koinzidiert, kann er es zugleich als dem dichterischen Schreiben wesentliche Eigenschaft bestimmen. So bekräftigt er noch einmal die Zielsetzung seines Traktats: »Meine Absicht ist, dir dazutun, daß das Silbenmaß keineswegs ein äußerlicher Zierat, sondern innig in das Wesen der Poesie verwebt ist, […].«806 Gegen Ende des ersten Briefes diskutiert er die von ihm hinterfragte Position des Sturm und Drang noch einmal, jetzt unter Bezugnahme auf sein inzwischen eingeführtes Argument des Sprachursprungs: Der Zwang des Silbenmaßes scheint bei der Äußerung lebhafter Vorstellungen und nachdrücklicher Regungen nicht natürlich und daher auch mit der Absicht des Dichters, sie anderen so vollkommen als möglich mitzuteilen, im Widerspruch zu sein. Dennoch tritt die Poesie überall und zu allen Zeiten in irgendeiner gemessenen Bewegung auf. Dies muß, wie jede durchaus allgemeine Sitte, seinen Grund in der menschlichen Natur haben, dem man am leichtesten im Ursprunge derselben nachspüren kann, weil Absicht und Überlegung sich da noch am wenigsten in die Spiele des sicher leitenden Instinktes mischen. Poesie entstand gemeinschaftlich mit Musik und Tanz, und das Silbenmaß war das sinnliche Band ihrer Vereinigung mit diesen verschwisterten Künsten. […] Dies hängt genau mit ihrem Bestreben zusammen, die Sprache durch eine höhere Vollendung zu ihrer ursprünglichen Kraft zurückzuführen und Zeichen der Verabredung durch die Art des Gebrauches beinah in natürliche und an sich bedeutende Zeichen umzuschaffen.807 804 Hier argumentiert August Wilhelm Schlegel ganz ähnlich wie Wilhelm Heinrich Wackenroder, der die diskursive Sprache der Philosophie verwirft und die Sprache der Kunst mit der Sprache der Natur vergleicht. Während sich in Wackenroders Schrift jedoch keinerlei sprachgenetische Überlegungen finden, argumentiert Schlegel im Rahmen der Sprachursprungsdebatte. Vgl. hierzu auch Teil B, Kap. I.1, Anm. 582. 805 A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, in: KS, Bd. 1, S. 148. 806 Ebd., S. 147. 807 Ebd., S. 148.

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Sein Plädoyer für das Silbenmaß greift nicht etwa auf ästhetische Argumente zurück, sondern versucht ihm ein für alle Mal seinen unverbrüchlichen Platz in der Poetik einzuräumen, indem es auf eine anthropologische Konstante zurückgeführt werden soll. Damit reiht sich sein Text in die zu jener Zeit in Mode gekommenen anthropologischen Argumentationsmuster ein und verbrieft zugleich den natürlichen Ursprung der Poesie.808 August Wilhelm Schlegel versucht, das konnte gezeigt werden, seiner Poetik eine anthropologische Grundlage zu geben. Dieses Bestreben teilt er mit den Sprachursprungstheoretikern seiner Zeit. Und so knüpft er, nachdem er den Bezug zur Sprachtheorie bereits im ersten Brief vorbereitet hat, im zweiten Brief an Methodik und bereits formulierte Hypothesen der Sprachphilosophie an. Diese verortet er im Kontext der Anthropologie: »Die Frage nach dem Ursprunge der Sprache steht mit den Meinungen über den anfänglichen Zustand des Menschen in engem Bezuge.«809 Im Wissen um das Geschichtsbewusstsein seiner Zeit macht er deutlich, dass es der Philosophie nicht möglich ist, historische Quellen als Belege für ihre Hypothesen vorzulegen: Historische Nachrichten kann die Philosophie freilich nicht erteilen: sie begnügt sich darzutun, aus und mit welchen Anlagen des Menschen die Sprache sich entwickeln konnte und musste, ohne den wirklichen Vorgang dieser Begebenheit nach Zeit, Ort und Umständen erzählen zu wollen.810

Schlegel weist sowohl die Theorie zurück, wonach sich alle Sprachen aus der Sprache eines einzelnen Volksstammes ableiteten,811 als auch die These vom göttlichen Sprachursprung, wie sie sich noch bei Süßmilch fand.812 Dagegen schließt er sich all jenen Kritikern an, die diesen Positionen die Annahme von »eine[m] wesentlichen Zusammenhang zwischen den ersten Zeichen und ihrer Bedeutung« entgegenhalten.813 Innerhalb dieser Grundposition differenziert er 808 Wie Braungart beobachtet hat, wird bei Schlegel gegen den Klassizismus und doch in dessen Argumentationsstruktur stehend, das Goldene Zeitalter der Dichtkunst, an dem sich neuere Künstler zu orientieren haben, nicht in der Antike, sondern in dem natürlichen Urzustand der Sprache gesehen. Zur allgemeinen Popularität anthropologischen Denkens im 18. Jahrhundert vgl. z. B. den umfassenden Tagungsband: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. v. Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994. 809 KS, Bd.1, S. 150. 810 Ebd., S. 150. 811 Damit reiht er sich in die wachsende Gruppe derer ein, die von der Rekonstruktion einer positiven (meist der hebräischen) Sprache als Ursprungssprache Abstand nehmen. Stattdessen etabliert sich im 18. Jahrhundert zunehmend ein Diskurs, der die einzelne Sprache aus einer sprachgeschichtlichen Perspektive heraus in ihren Verwandtschaftsbeziehungen zu anderen Sprachen untersucht. Vgl. hierzu Andrea Polascheggs Ausführungen in ihrem Aufsatz: Die Verbalwurzeln der Hieroglyphe, S. 209 f. 812 Vgl. KS, Bd. 1, S. 150. 813 Ebd., S. 151.

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wiederum drei verschiedene Erklärungsmodelle: »Die Sprache ist entweder aus Tönen der Empfindung ganz allein oder aus Nachahmungen der Gegenstände ganz allein oder aus beiden zusammen entstanden. Der Hauptsache und dem Wesen nach lassen sich nicht mehr Systeme denken als diese drei.«814 Diese von Schlegel benannten Grundpositionen sind bereits aus dem Kapitel zu den Sprachursprungstheorien vertraut, wobei meist der Nachahmung das weitaus größere Gewicht beigemessen wurde als dem Ausdruck von Empfindungen. So beginnt menschliche Sprache bei Herder mit der Nachahmung des »Blökens«, während die spontane Äußerung von Empfindungen ebenso den Tieren zugeschrieben wird. Auch Schlegel leugnet Herders Grundposition zunächst nicht: Wenn man den Menschen, bloß nach seiner körperlichen Zusammensetzung betrachtet […], so ist es allerdings einleuchtend, daß der Schrei körperlicher Schmerzen oder tierischer Begierden vom ersten Wimmern des Neugeborenen bis zum letzten Ächzen des Sterbenden, sich nie bis zur Rede erheben kann; und der Empfindung wird folglich mit Recht aller Anteil an ihrer Entstehung abgesprochen. Selbst die einfachen Ausrufe der Leidenschaft (Interjektionen), welche auch die verfeinertste Sprache noch gelten läßt, sind eigentlich nicht mehr jene unwillkürlich hervorgebrachten Laute selbst, sondern vertreten sie nur durch ihren gemilderten Ausdruck, und fließen also mit allen übrigen Wörtern aus der gemeinschaftlichen Quelle der Nachahmung her.815

In Herders Sprachursprungsschrift ist diese Position der Grundprämisse seiner Untersuchung geschuldet, die menschliches Sprechen wesentlich und ausschließlich auf das Denken und auf die Entwicklung des menschlichen Verstandes zurückführt. Dass Schlegel innerhalb seiner poetischen Sprachkonzeption diese einseitige, der Aufklärung geschuldete Gewichtung der Vernunft nicht teilt, ist bereits angeklungen. Und so betont er, dass die Sprache – wenn auch in kultureller Überformung, denn das ist Voraussetzung von Sprache – ein ganzes Repertoire an Elementen zum Ausdruck von Empfindungen bereithält: Dennoch ist es unleugbar, und wir erfahren es täglich, daß der Mensch ebenso wohl für seine Empfindungen als für seine Gedanken Zeichen der Mitteilung hat: und zwar nicht allein für die, welche seinen Organen von außen durch eine körperliche Gewalt eingedrückt werden, sondern auch für solche, deren ihn bloß seine höhere Natur empfänglich macht, und wodurch der promethische Funke in dem Stoffe, den er belebt, sich freitätig und herrschend beweist.816

In der Sprache der Empfindungen liegt für Schlegel sogar das Moment einer Universalsprache817 und so beschreibt er sie schwärmerisch als eine Sprache, 814 815 816 817

Ebd., S. 151. Ebd., S. 151. Ebd., S. 151 f. Mit dieser Argumentation, die die »Sprache der Empfindung« als Universalsprache propagiert, greift er einerseits den Universalsprachendiskurs des 18. Jahrhunderts auf, biegt

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»wodurch endlich Menschen aus den entferntesten Zonen, und würden sie wieder ins Leben gerufen, aus den entferntesten Jahrhunderten, einander mitteilen können, was in ihrem Inneren vorgeht.«818 Und er fragt, wenn auch rhetorisch, dennoch ganz grundsätzlich: »Dürfen wir also noch anstehen, dies für die echte, ewige, allgemein gültige Sprache des Menschengeschlechts anzuerkennen?«819 Die Beantwortung dieser Frage läuft auf die Formulierung einer vermittelnden Position hinaus: Wie nun? Wofür sollen wir uns im Gedränge zwischen diesen zwei entgegengesetzten Systemen entscheiden? Da wir nicht beide zugleich gelten lassen und doch weder das eine, noch das andere unbedingt verwerfen können, so müssen wir sie freilich zu vereinigen suchen. Beide scheinen mir Teil an der Wahrheit zu haben, und nur darin unrichtig zu sein, daß sie ihr Grundgesetz des Ursprungs der Sprache als das einzige, mit Ausschließung des andern, behaupten. Die, welche alles auf die Ähnlichkeit der Zeichen mit den benannten Gegenständen, erst mit den hörbaren, dann durch entferntere Beziehungen zwischen den verschiedenen Sinnen auch mit anderen, zurückführen, schränken den der menschlichen Organisation eigenen Ausdruck der Empfindungen willkürlich zu eng ein […] Will man hingegen die Sprache ganz von diesen [den Empfindungen, Y. A.] ableiten, so bleibt es unerklärlich, wie sie so unendlich hat erweitert und vervollkommt werden können.820

Jochen A. Bär konstatiert in dieser vermittelnden Position das romantiktypische Bestreben, Gegensätze zu vereinen.821 Allerdings, so bleibt zu bemerken, schlägt hier auch und vor allem das romantische Kunstdenken zu Buche. In der Vereinigung dieser beiden sprachtheoretischen Positionen richtet Schlegel sein Hauptaugenmerk auf die Empfindungen als Quelle der Sprachentstehung, deren Bedeutung – wie Schlegel selbst deutlich macht – auch von anderen Theoretikern nicht völlig unbeachtet geblieben ist, denen aber zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet und zu geringe Bedeutung zugeschrieben wurde.822 Indem er die Rolle der Empfindungen bei der Sprachentstehung hervorhebt,

818 819 820 821 822

diesen aber gezielt im romantischen Sinne um. Für die rationalistische Sprachtheorie bestand in Folge der Thesen Leibnizens die Voraussetzung für eine universal verständliche Sprache ausschließlich in den durch die Vernunft bestimmten Elementen der Sprache. Ein solches Projekt einer Universalsprache konnte also nur gelingen, wenn »die nicht-rationalen Elemente des Geistes durch die Vernunft« diszipliniert würden. (Vgl. Metzler Lexikon Sprache, Art.: Rationalistische Sprachtheorie). Eine These, die auch J. W. Meiner noch in seiner 1781 erschienen Versuch einer an der menschlichen Sprache abgebildeten Vernunftlehre oder philosophische und allgemeine Sprachelehre vertritt. August Wilhelm Schlegel kehrt diese Argumentation um und hält eine Universalsprache gerade auf Grund der emotionalen Elemente von Sprache für möglich. KS, Bd. 1, S. 153. Ebd., S. 153. Ebd., S. 155. Vgl. Bär, Jochen A.: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik. Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus, Berlin 1999, S. 102 f. Vgl. KS, Bd. 1, S. 156.

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baut Schlegel zugleich den Brückenschlag zurück zur Poesie, die den Ausgangspunkt seiner Betrachtung darstellte. So schlussfolgert er : War die älteste Sprache wirklich das Werk jener beiden vereinigt wirkenden Anlagen der menschlichen Natur, denen wir sie zugeschrieben haben, so war sie auch zuverlässig ganz Bild und Gleichnis, ganz Akzent und Leidenschaften. Die sinnlichen Gegenstände lebten und bewegten sich in ihr, und das Herz bewegte sich in allen. Dies ist es, was man so oft gesagt hat und was doch nur in einem gewissen Sinne wahr ist: Poesie und Musik sei vom Anfange an dagewesen und gleichalt mit der Sprache.823

August Wilhelm Schlegel ist es wichtig zu betonen, dass das Poetische in seiner ursprünglichen Form alle Lebensbereiche durchdringt. Es wird damit nicht als ein eigener Teilbereich des menschlichen Lebens und Schaffens verstanden, sondern quasi als eine Lebensform, die sich allen Handlungen des menschlichen Lebens einprägt. Nicht zufällig erkennt er gerade in den rituellen Praxen des Gottesdienstes (gemeint ist hier wohl in erster Linie des katholischen) ein Fortbestehen dieser ursprünglichen poetischen Durchdringung. Er stellt fest, dass: Poesie vielmehr in den frühesten Zeiten nicht nur als Angelegenheit betrieben wurde, sondern auch an allen Angelegenheiten des Lebens den wichtigsten Anteil hatte; und daß sich bei einigen, zum Beispiel beim Gottesdienste, die uralte Sitte sogar bis auf uns fortgepflanzt hat.824

Diese frühe Grundüberzeugung über Rolle und Wesen der Poesie wird August Wilhelm Schlegel beibehalten.825 Allerdings wird sich durch seine zunehmende Beschäftigung mit philosophischer Ästhetik sein eigenes kunsttheoretisches Profil schärfen, was auch für seine sprachtheoretisch-poetologische Konzeption Folgen hat.826 Diese Entwicklung, die sich vor allem in den Jenaer und Berliner Vorlesungszyklen niederschlägt, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. 823 Ebd., S. 157. 824 Ebd., S. 164. 825 So hält auch Jochen A. Bär fest: »Von Modifikationen der Sichtweise unberührt bleibt eine von Anfang an, schon in den Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache deutlich hervortretende Grundkonstante des Schlegelschen Denkens: Sein Konzept einer ›Repoetisierung‹ der Sprache, von dem her sich seine gesamte Sprachauffassung begreifen läßt.« (Bär, Sprachreflexion der deutschen Frühromantik, S. 102). Auch Susanne Holmes sieht in den Briefen die ausführlichste Basis für die Jenaer Poetologie. (Vgl. Holmes, Susanne: Synthesis der Vielheit. Die Begründung der Gattungstheorie bei August Wilhelm Schlegel, Paderborn 2006, S. 59). 826 Jochen A. Bär diskutiert die Frage nach einer Entwicklung in A. W. Schlegels Sprachtheorie. Seiner Zurückweisung der These Jesinghaus’, der von »deutlich unterschiedenen Stufen« spricht, ist zuzustimmen; die Kontinuitäten sind zu deutlich und zu prägend. Auch ist die von Bär kritisierte Rede von einer Entwicklung vom »naiven Realismus oder Sensualismus hin zu [einem] transzendentale[n] Idealismus Schellingscher Prägung« zu pauschal. Schlegel war, das ist richtig, nie Sensualist und auch Schelling adaptiert er nicht einfach.

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»Symbolische Darstellung des Unendlichen« – Das kunstphilosophische Programm der Jenaer und Berliner Vorlesungen

Zwei spätere Texte August Wilhelm Schlegels greifen diese frühen Gedanken über Poesie und Sprache wieder auf, diesmal allerdings nicht in essayistischer Erzählweise, sondern im systematisch gegliederten Diskurs der Vorlesungen über philosophische Kunstlehre, gehalten an der Universität Jena in den Jahren 1798/9 und den 1801 in Berlin gehaltenen Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, deren erster Teil den Titel Die Kunstlehre trägt.827 In diesen Vorlesungen wird der Diskurs über Sprache und Poesie in einen weiter gefassten poetologischen und kunsttheoretischen Kontext eingebunden, was nicht ohne Folgen bleibt. Die Vorlesungszyklen enthalten jeweils einen gattungspoetischen Teil und eine allgemeine Darstellung der philosophischen Kunsttheorie. Obwohl die beiden Vorlesungszyklen sich in den behandelten Themen und den dafür gewählten Titeln sehr stark gleichen, unterscheiden sie sich doch in Anordnung und Ausführung dieser Teile wiederum erheblich voneinander. Dabei können die Jenaer Vorlesungen als Wegbereiter der durch weit eigenständigere Gedanken geprägten Berliner Vorlesungen betrachtet werden. Die deutlich in zwei Teile gegliederte Jenaer Vorlesung beginnt mit einer Gattungspoetik, der lediglich ein relativ knapp gehaltener, philosophisch reflektierender Vorspann vorangestellt ist. Diese Gattungspoetik unterteilt sich in eine allgemeine Poetik und eine Gattungslehre. Der zweite Teil gibt einen kritisch kommentierenden Überblick über die verschiedenen Poetiken der Antike und des 18. Jahrhunderts. In den Berliner Vorlesungen scheint diese Anordnung umgekehrt – nach einer Diskussion der philosophischen Kunsttheorien – wobei hier der Schwerpunkt auf den ›Neueren‹ liegt – folgt eine eingehende Besprechung der verschiedenen Künste und erst danach schließt die Poetik des Ersten Teils der Jenaer Vorlesungen an. In den Berliner Vorlesungen ist nur noch der allgemeine Teil der Poetik ausdifferenziert, während die Gattungslehre stark reduziert wurde. Bereits die neu strukturierte Gliederung lässt erkennen, dass Schlegel eine Schwerpunktverschiebung zugunsten der philosophischen und allgemeinen Poetik vorgenommen hat und die klassische Gattungspoetik in den Genauso wenig ist jedoch Bärs These zuzustimmen, es sei »kontext- und rezipientenabhängig und ha[be] sicherlich auch zu tun mit der geistigen ›Tagesform‹ und dem ›climate of opinions‹, in dem er sich gerade bewegt, welche Aspekte Schlegel im einzelnen hervorhebt.« Dagegen spricht eine viel zu deutlich erkennbare Entwicklungslinie in Schlegels Denken, die im Folgenden nachgezeichnet wird. 827 August Wilhelm Schlegels Ausführungen zur Sprache im dritten Teil seiner späteren, ebenfalls in Berlin gehaltenen Vorlesungen über Encyklopädie von 1803 fügen den Überlegungen zur Sprache aus den beiden oben genannten Vorlesungszyklen keine neuen Positionen oder Erkenntnisse mehr hinzu, sondern stellen im Wesentlichen eine Wiederholung der sprachtheoretischen Positionen der Berliner Vorlesung dar.

Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik

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Hintergrund treten lässt. Dieser Eindruck wird noch einmal verstärkt, wenn man einen Blick in die Texte selbst wirft. Was hier unter beinahe identischen Überschriften geboten wird,828 könnte bisweilen kaum unterschiedlicher sein. Ehe die veränderte Konzeption der poetologisch gefärbten Sprachtheorie Schlegels in den Vorlesungen untersucht wird, sollen zunächst die kunsttheoretischen Betrachtungen beider Vorlesungsreihen einer eingehenden Analyse unterzogen werden, denn – so wird sich zeigen – aus dem ihnen innewohnenden kunstphilosophischen Programm erschließt sich die Korrektur, die Schlegel hinsichtlich der Sprachtheorie vornimmt, nahezu zwangsläufig. August Wilhelm Schlegel leitet den zweiten Teil seiner philosophischen Kunstlehre mit der Bestimmung sowohl des Gegenstands als auch der Methode einer philosophischen Kunstbetrachtung ein. Der von Baumgarten eingeführte Begriff der Ästhetik erscheint ihm dabei ebenso unpassend wie jener der »schönen Künste und Wissenschaften«. Ist ersterer zu sehr auf »sinnliche Eindrücke« hin verengt, so stört an letzterem der Begriff der Wissenschaften, die, so Schlegel, »ein Geschäft des Verstandes« und damit »Geist« sein sollen – also nicht auf den »Buchstaben« – die Form – bezogen seien. Letztere Definition subsumiere unter die schönen Künste nur jene, die eine »physische Theorie« haben, solche also, deren Kunstcharakter sich aus ihrer konkreten sinnlichen Erscheinung herleitet. Die »schönen Wissenschaften« seien andererseits durch ihr Medium der Sprache allein auf den Geist reduziert. Angesichts dieser Unschärfen der geläufig verwendeten Begriffe fragt Schlegel danach, ob sich die Künste auf einen notwendigen Zweck zurückführen lassen. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann es eine philosophische Theorie von ihnen geben: Eine philosophische Theorie muß sich auf absolute Zwecke des Menschen gründen, wir müssen wissen, daß der Mensch notwendig die Künste treibe. Eine philosophische Theorie läßt sich nur von solchen Künsten aufstellen, die absolute Zwecke des Menschen realisieren. Den Inbegriff aller dieser Künste könnte man am besten schlechthin Kunst nennen.829

Und er schlägt auch eine Bezeichnung für diese philosophische Theorie der Kunst vor: »Kunstlehre ist daher der passende Ausdruck dafür«830. Von dieser Definition ausgehend, fragt er nach dem Verhältnis der Kunst zur Natur. Klar ist, dass »[w]enn die Kunst ein Zweck des Menschen ist, […] wir ihr 828 Die Gliederung in der philosophischen Kunstlehre lautet: »Poetik/ Von der Sprache/ Silbenmaß/ Von der Wirkung des Reims/ Vom Mythus/ Dichtarten«; in der Berliner Kunstlehre heißt es: »Poesie/ Von der Sprache/Vom Sylbenmaße/ Von der Mythologie/ Von den Dichtarten«. 829 A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 127. 830 Ebd., S. 127.

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Gesetz im menschlichen Geist aufsuchen [müssen]«831. Dem steht die Herleitung des Schönen bei Kant aus Gegenständen der Natur ebenso gegenüber, wie die Forderung, die Kunst müsse eine Nachahmung der Natur sein. Das in den philosophischen Theorien diskutierte Verhältnis zwischen Kunst und Natur kann unter der Voraussetzung der Schlegelschen Definition von Kunst als notwendiger Zweck des Menschen einzig durch eine hierarchische Überordnung der menschlichen Geistestätigkeit über den Stoff der Natur im Kunstwerk bestimmt werden: »Der Stock der Kunst ist die Natur, aber die Natur schreibt diese Form nicht vor, denn sonst würde die Kunst mit der Natur einerlei sein.«832 Und noch deutlicher heißt es: »Die Natur ist nur Stoff, ihre Form ist ihr vom Gepräge des menschlichen Geistes gegeben; der Geist gibt ihr das Gepräge der Form, um Kunst hervorzubringen.«833 Auch den Begriff des Schönen bestimmt Schlegel als eine Kategorie des menschlichen Geistes.834 Für dieses Hervorbringen des Schönen durch den menschlichen Geist schlägt er den Begriff der Poetik vor : »Das Wort Poetik, von poi´y, ist für das Erschaffen des Schönen, das vorher noch nicht da war, ein vorzüglich passendes Wort. Die Poesie ist die allgemeinste unter allen Künsten, wir schreiben daher den übrigen einen poetischen Teil zu.«835 Im Kunstwerk zeigt sich also das Geistige in Form einer physischen Gestalt. Diese sinnliche Darstellung einer geistigen Norm kann nur symbolisch erfolgen: Der Mensch ist in der Kunst Norm für die Natur. Daher könnte man Kunst als die nach dem Ideal des Menschen gebildete Natur erklären. Das Ideal des Menschen soll in der Form eines Kunstwerks ausgedrückt sein. In einer transzendentalen Kunstlehre kann man den Satz aufstellen: Es ist für den Menschen Zweck an sich, Abbilder von dem Urbilde seiner selbst außer sich aufzustellen oder die reine Menschheit symbolisch außer sich zu realisieren, symbolisch durch die schönen Bilder der Kunst.836

Nach dieser allgemeinen Skizzierung des Problemfeldes gibt Schlegel seinen Zuhörern in den darauffolgenden Vorlesungen unter dem Titel »Geschichte der Kunstlehre. Kritik« einen Überblick über kunsttheoretische Konzeptionen der 831 832 833 834

Ebd., S. 129. Ebd., S. 127. Ebd., S. 128. Ebd., S. 128. Das Schöne als leitendes Paradigma des Kunstverständnisses prägte vor allem die Ästhetiken der Aufklärung, etwa von Burke, Kant, Winckelmann, Schiller u. a. In der Kunsttheorie der Romantik wird es zunehmend von der Kategorie des Charakteristischen abgelöst. Vgl. Büttner, Frank: Das Charakteristische, das Eigentümliche und das Volkstümliche. Zu den Wandlungen eines kunsttheoretischen Postulats und einigen Versuchen seiner Verwirklichung in der bildenden Kunst der deutschen Romantik, in: Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert, hrsg. v. Bernd Auerochs u. Dirk von Petersdorff, Paderborn 2009, S. 81 – 108. 835 KV, Bd. 1, S. 129. 836 Ebd., S. 130.

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Antike und der Neuzeit, die er unter Berücksichtigung der eingangs dargelegten Prämissen einer kritischen Beurteilung unterzieht. Dass die Antike hochgeschätzte Kunstwerke, dagegen zunächst aber überhaupt keine (und später nur eine in Ansätzen zu findende) Kunstphilosophie hervorbrachte, erklärt Schlegel unter Bezugnahme auf den Topos des Goldenen Zeitalters, in welchem die antike Kunst sich befunden habe.837 Die Anfänge des Nachdenkens über das Schöne findet Schlegel in mythologischer Einkleidung. Diese Tendenz, über Kunst in Form von Mythen zu philosophieren, erkennt er auch noch bei Platon, dem »älteste[n] Philosoph, der über das Schöne, die Kunst und die Poesie schrieb«. Schlegel diagnostiziert, dass der Beginn philosophischen Nachdenkens über Kunst selbst in dichterischen Schreibweisen eingekleidet war :838 »Der Philosoph suchte sich als Poet einzuschleichen und war noch besonders durch seine Individualität dazu geneigt. Die philosophische und poetische Energie unterscheiden sich nur durch ihre divergierenden Richtungen, ja sind im Hauptpunkt gar eins.«839 Platons Lehre vom Schönen legt er vor allem unter Bezugnahme auf dessen zentrale Ideenlehre dar, die sowohl die Vorstellung vom Schönen als Idee einschließt als auch auf die vermittelnde Position des Schönen zwischen empirischer Erscheinung und geistiger Vorstellung verweist. Schlegel gibt dabei zu verstehen, dass er Platons Konzeption vom Schönen teilt: »Platon sah ein, daß das Schöne die sinnliche Erscheinung von etwas Geistigem sei, daher sagte er, daß man sich bei dem Anblick des Schönen an eine geistige Gestalt erinnere […]«840. Zugleich diskutiert er Platons ablehnende Haltung der Kunst gegenüber.841

837 Vgl. ebd., S. 132. Hier heißt es explizit: »Bei den Griechen konnte bis zur höchsten Blüte ihrer Kunst gar kein Bedürfnis der Theorie eintreten, denn ein glücklicher Instinkt leitete sie fast blind und erzeugte ein gesetzmäßiges Ebenmaß in ihrer sich richtig entfaltenden Bildung.« Hier zeigen sich deutliche Parallelen zu Friedrich Schillers Konzeption der naiven Dichtung der Griechen, die der sentimentalischen der Modernen gegenübersteht. Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung wurde bereits in den Jahren 1795/96 in drei Teilen in den Horen veröffentlicht. (Vgl. Schiller, Friedrich: Über naive und sentimentalische Dichtung, in: ders.: Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen, hrsg. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno von Wiese, Weimar 1943 ff., Bd. 20, S. 413 – 503). 838 So wie er den Beginn der Sprache poetisch denkt, so sieht er auch den Beginn der Kunstkritik und -theorie in poetischer Schreibweise gegeben. 839 KV, Bd. 1, S. 134. 840 Ebd., S. 136. 841 Eine Darstellung der wichtigsten Tendenzen der deutschen Platon-Rezeption im 18. Jahrhundert findet sich ausgehend von Wielands Roman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen in Auerochs, Bernd: Platon um 1800. Zu seinem Bild bei Stolberg, Wieland, Schlegel und Schleiermacher, in: Wieland-Studien 3 (1996), S. 161 – 193. Auerochs wirft in seinem Aufsatz auch einige Schlaglichter auf die wichtigsten Aspekte des Platon-Bildes bei Friedrich Schlegel, wobei er auch für dessen Platon-Deutung die Relevanz der Verbindung aus Philosophie und Poesie betont. Eine umfassende Untersuchung der Bedeutung Platons im

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Der zweite große Philosoph der Antike, Aristoteles, wird ebenso ausführlich behandelt. Nach einem knappen Überblick über die zeitgenössische AristotelesRezeption,842 entwickelt Schlegel seine eigene Auseinandersetzung mit der aristotelischen Lehre vom Schönen. Seine Ausführungen zu Aristoteles und Platon ergänzend, fügt er sodann noch zwei kurze Betrachtungen über Cicero und Quinctilian an, die sich aber weitestgehend in der Feststellung erschöpfen, dass ersterer seinen Blick wesentlich auf das Praktische richtet, während letzterer allein die technische Seite der Kunst betrachtet. Damit, so Schlegels Fazit, habe keiner von beiden wichtige Erkenntnisse zur philosophischen Kunstlehre beigetragen.843 Mit einem kurzen Blick auf Horaz beendet er seinen Überblick über die antike Kunsttheorie, wobei er in dessen Texten zentrale Denkbilder des modernen Kunstverständnisses präfiguriert findet: »Es finden sich in ihm viele Spuren von modernem Geiste und Geschmacke; jene reine klassische Kunstansicht des Altertums ist schon in eine sentimentalische Ansicht der Kunst, als eine Kunst der Natur übergegangen.«844 An Horaz anschließend folgt der Teil über die Kunsttheorie »bei den Neueren«. Seinem System, nach dem er die Entwicklung der ›Modernen‹ einteilt, hat Schlegel ein geschichtsphilosophisches Modell unterlegt, das vor allem für das Denken des Klassizismus kennzeichnend ist.845 So wird nach Schlegels Verständnis der Mangel an intuitivem Kunstsinn bei den Neueren durch eine größere Reflexivität ausgeglichen, die es ihnen ermöglicht, sich erneut zu dem einstigen Idealzustand emporzuschwingen. An triadischen Geschichtsmodellen orientiert, teilt er die Theorie in drei Stufen ein: 1. Periode. Vorübungen des theoretisierenden Instinkts, deren Prinzip größtenteils die Autorität war ; 2. eigentliche scientivische Theorie. Fast zur gleichen Zeit entwickeln sich die Systeme der rationellen und empirischen Ästhetik; 3. Krise des Übergangs zur dritten Periode. Die Antinomie der einseitigen Theorien führt den ästhetischen Skeptizismus herbei.846

842

843 844 845 846

18. Jahrhundert steht bisher noch aus (Vgl. Auerochs, S. 162). Diese von Auerochs aufgezeigte Forschungslücke ist seit Erscheinen seines Aufsatzes noch nicht geschlossen worden. Schlegel gibt hier einen recht ausführlichen, komparatistischen Forschungsbericht, der neben deutschen Autoren sowohl Franzosen als auch Engländer – darunter Corneille, Voltaire, Pope und Lessing – nennt. Vgl. A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 138. Vgl. KV, Bd. 1, S. 150 – 154. Ebd., S. 155. Dieses triadische Geschichtsmodell findet sich so z. B. auch in Friedrich Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen oder in Friedrich Schlegels früher Schrift Über das Studium der griechischen Poesie. KV, Bd.1, S. 155.

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Während die erste Periode die bereits behandelten antiken Philosophen betrifft, verortet Schlegel das Einsetzen der zweiten Periode erst in der Mitte des 18. Jahrhunderts, wobei er Vorläufer anerkennt, ohne diese namentlich oder zeitlich näher zu bestimmen.847 Als wichtigste Vertreter des Rationalismus nennt er neben Baumgarten Sulzer und Mendelssohn. Stellvertretend für den Empirismus stehen Home848 und Burke. Unter dem ästhetischen Skeptizismus als dem Wegbereiter der dritten Periode versammelt er bemerkenswerterweise jene von den Romantikern besonders hoch geschätzten Autoren wie Shakespeare, Goethe und Voltaire. Bei ihnen, so Schlegel, äußere sich das Aufbegehren gegen den Regelzwang in einer »ästhetischen Anarchie«.849 In England, Frankreich und Italien diagnostiziert er hingegen eine »zum wahren Mechanismus herabgesunken[e]« Poesie als Symptome dieser Krisenphase.850 Diese Anfänge der dritten Periode läuten den Beginn eines noch ausstehenden zweiten Goldenen Zeitalters ein. »Die dritte Periode ist noch nicht beendigt,« heißt es, »denn mit ihr würde die Wissenschaft selbst beschlossen sein.«851 Zunächst stellt er seinen Zuhörern die Hauptvertreter der beiden sich antagonistisch zueinander verhaltenden Strömungen der »zweiten, scientivischen« Periode ausführlich vor. Den Anfang macht Baumgartens »Dogmatismus« seiner rationalen Ästhetik. Über seine persönliche Haltung zu Baumgartens Ästhetik lässt Schlegel schon zu Beginn seiner Ausführungen keine Zweifel: »Seine Schriften sind ganz auf französische Grundsätze gebaut und langweilig ausgesponnen. Er hatte weiter keine praktischen Kenntnisse«852 Der angeführte Hinweis, dass die Ästhetik Baumgartens, in der Leibniz-Wolffschen Schule und insbesondere der »Wolffschen Lehre von der sinnlichen Erkenntnis« gründet, erlaubt es Schlegel, eine knappe Skizze des Wolffschen Systems und dessen 847 Vgl. ebd., S. 155: »Eigentliche wissenschaftliche Werke über die Ästhetik sind erst um die Mitte dieses Jahrhunderts zum Vorschein gekommen. Zu den Vorübungen gehören auch solche Werke, wo es wirklich auf eine Wissenschaft abgesehen ist, die Verfasser aber keinen Begriff von Wissenschaft hatten, so die Werke in England und Frankreich.« 848 Die Kritische Ausgabe der Vorlesungen schreibt zwar »Hume«, das hinter dem Namen in Klammern vermerkte Werk »Elements of Criticism« (beides S. 155) stammt jedoch von Henry Home und nicht von David Hume, so dass es sich hierbei offensichtlich um einen editorischen Übertragungsfehler handelt. Der gleiche Fehler findet sich bereits in der Ausgabe: August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre mit erläuternden Bemerkungen v. Karl Christian Friedrich Krause, hrsg. v. August Wünsche, Leipzig 1911, S. 287. Bei dieser Ausgabe handelt es sich nicht um das Manuskript Schlegels, sondern um eine Nachschrift der Vorlesungen von Friedrich Ast. (Vgl. Wünsche, August: Vorwort, S. III). Es lässt sich vermuten, dass die Kritische Ausgabe der Vorlesungen diesen Text zugrunde legt. Da der Kommentarband noch nicht erschienen ist, ist die Textgrundlage der KV noch nicht bekannt. 849 Vgl. KV, Bd. 1, S. 156. 850 Vgl. ebd., S. 156. 851 Ebd., S. 156. 852 Ebd., S. 156.

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Kritik als Einstieg ins Thema zu wählen. Er ruft zunächst die Grundsätze der Wolffschen Lehre von einem nur graduellen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand sowie von einer deutlichen und undeutlichen Erkenntnis in Erinnerung, um diese einer Kritik zu unterziehen, die bereits seine persönliche Vorleibe für Kant erkennen lässt. Dass die sinnliche Vorstellung bei Wolff ein Übergangsstadium zum Begriff ist, mag ihm überhaupt nicht zusagen, denn »er macht die Sinnlichkeit zu etwas Negativem, zu einem Mangel an Deutlichkeit«. Ebenso stellt er mit Kant klar : »die Sinnlichkeit hat mit Anschauungen zu tun, und der Verstand mit Begriffen«853. Baumgartens System selbst ergeht es nicht besser. Die Grundannahme der Baumgartenschen Ästhetik, wonach deren Zweck in der »Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis« besteht, die wiederum nichts anderes ist als die Schönheit, kann Schlegels kritischer Überprüfung nicht Stand halten. Schlegels Kritik setzt bei Baumgartens Versuch an, die Ästhetik analog zur Logik zu definieren und das Schöne mit der Vollkommenheit in Verbindung zu bringen. So mahnt er : »es gibt keine reine (sinnliche) Erkenntnis; die Vollkommenheit der sinnlichen Erkenntnis kann nicht empfunden werden; zur Entscheidung des Vollkommenen bedarf es eines Urteils des Verstandes.854 Sodann fordert die formale Erkenntnis die Übereinstimmung des Mannigfaltigen zur Einheit mit sich selbst. Dies ist aber die logische Erkenntnis, jeder Begriff muß diese haben.«855 Mit dieser Kritik setzt er auch bei Baumgartens Definition des Gedichts an: Er [Baumgarten, Y.A.] definiert das Gedicht: Poema est sensitiva oratio perfecta, eine sinnliche, vollkommene Rede. Eine Rede kann aber im strengen Sinn nicht sinnlich sein; denn eine Rede ist eine Zusammenfügung der Wörter, die Sprache bezeichnet aber einen Begriff; eine bloß sinnliche Anschauung muß zu Begriffen werden, wenn sie ausgedrückt werden soll. Versteht man darunter Beziehung der Begriffe durch sinnliche Merkmale und Vergleichungen durch anschauliche und bildliche Rede, so ist der Ausdruck nicht schicklich. Vollkommenheit bezieht sich auf die Übereinstimmung zu einem Zwecke; der Zweck der Rede ist daher die Verständigung. Daher muß die Vollkommenheit der Sprache die deutliche Mitteilung der Gedanken sein. Die Poesie weicht aber, als sinnliche Rede, nach seinem eigenen Systeme von diesem Zwecke weit ab; denn man kann aus dieser Definition und der Sache das Silbenmaß nicht erklären.856

Schlegel problematisiert hier den Umstand, dass Sprache, von ihrem Medium her betrachtet, nicht sinnlich ist – also keine unmittelbaren Anschauungen 853 Ebd., S. 157. 854 Auch diese Beobachtung ist auf Kant gestützt, der betont, dass sich ein Urteil über die Vollkommenheit eines Gegenstandes auf dessen Begriff beziehen muss, es folglich begriffliches Denken voraussetzt. Vgl. Teil A, Kap. I.2.1. 855 KV, Bd. 1, S. 158. 856 Ebd., S. 159 f.

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evoziert. Indem die Wortsprache das Medium der Dichtung ist, operiert sie immer schon mit Begriffen. Er verweist auf den Unterschied zwischen sinnlich wahrnehmbarer und sprachlicher Darstellung: Während (das ist hier impliziert) ein Bild eine unmittelbare sinnliche Anschauung liefert, muss die Sprache zunächst eine Übertragungsleistung vollziehen. So muss in der Dichtung mit Hilfe des begrifflichen Mediums der Sprache eine sinnliche Anschauung evoziert werden. Dies, so deutet Schlegel selbst an, geschieht mittels bildlicher Rede, die sinnliche Merkmale durch Vergleiche aufruft. Eine solche Redeweise, so Schlegels Kritik an Baumgartens Formulierung, weicht aber deutlich vom eigentlichen Zweck der Sprache, deutliche Mitteilung zu sein, ab. Schlegels Kritik zielt auf die Beobachtung, dass Baumgarten gerade die Eigenheiten der dichterischen Sprache – von ihm mit dem Begriff des Silbenmaßes belegt – verkennt, wenn er sie weiterhin unter die Normen der Begriffssprache (»Zweckmäßigkeit«) zu subsumieren versucht. Der zweite Aspekt, den Schlegel kritisiert, hängt mit dem ersten unmittelbar zusammen: Baumgarten versucht die Ästhetik mit Hilfe von (Verstandes-)Begriffen zu deuten, statt den »untern Erkenntniskräften, durch welche die schöne Kunst hervorgebracht werden soll«857, gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Nachdem die kunsttheoretischen Konzeptionen der rationalen Ästhetik eher enttäuscht haben, wendet sich Schlegel dem konkurrierenden System der zweiten Periode zu: dem Empirismus. Hier wird allein die Philosophie Burkes, als des wichtigsten Stellvertreters der empirischen Ästhetik, einer eingehenderen Betrachtung unterzogen. Schlegel referiert im Wesentlichen Burkes sensualistische Ästhetik, wobei sowohl seine Konzeption des Geschmacks als auch seine Unterscheidungskriterien für das Schöne und das Erhabene besondere Berücksichtigung finden. Schlegels Kritik setzt bei Burkes Versuch an, den Geschmack auf ›Gesetze der Natur‹ zurückzuführen. Der Geschmack beruht laut Burke auf den sinnlichen Wahrnehmungen und Empfindungen, die bei allen Menschen identisch seien. Das Vermögen der Einbildungskraft vermag diese allein zu reproduzieren, bringt jedoch keine eigenen hervor. Ebenso bleibt auch bei der Konzeption des Schönen und Erhabenen der Fokus auf die sinnliche Erfahrung eingestellt: »Die wirkenden Ursachen des Schönen und Erhabenen bezieht B. auf die physischen Veränderungen im Körper.«858 Auch diese Theorie bleibt für Schlegel unbefriedigend, da sie »keine Gesetze der schönen Kunst geben«859 kann. Als Gewährsmann seiner kritischen Anmerkungen dient ihm

857 Ebd., S. 160. 858 Ebd., S. 166. 859 Ebd., S. 167.

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auch hier wieder Kant.860 Die übrigen englischen Empiristen werden lediglich noch kurz benannt, ohne dass ihre Systeme diskutiert werden würden.861 Nachdem er weder im rationalistischen noch im empirischen System befriedigende Definitionen einer philosophischen Lehre der Kunst finden konnte, gelangt August Wilhelm Schlegel zu dem Urteil: Beide Systeme, das rationale und das empirische sind zu einfach; darum kann das eine sich nicht aus den Begriffen (der Vollkommenheit) zur Sinnlichkeit herablassen und das andere kann sich über die Sinnenwelt nicht erheben. Das Schöne ist nur ein verfeinertes Sinnliche; das eine vernichtet das andere oder rektifiziert es. Das Schöne ist aber das Land zwischen der sinnlichen und geistigen Welt.862

Schlegel sucht, das wird hier deutlich, nach einer Bestimmung des Schönen als einer Art synthetischen Prinzips, das zwischen empirischer Außenwelt und geistiger Vorstellung vermittelt.863 Die Abgrenzung der von ihm verworfenen Thesen des Empirismus und des Rationalismus von der neuen, vermittelnden These markiert Schlegel in obigem Zitat zugleich auf sprachlicher Ebene, indem er von einer philosophisch-begrifflichen Sprache in metaphorisch-poetische Sprache wechselt. Erinnert man sich an Schlegels periodische Einteilung der Entwicklung einer Kunsttheorie, so kann man – auch ohne, dass der Autor selbst nochmals explizit auf diese Einteilung zurückkäme – mutmaßen, dass die aufkommende, jedoch noch nicht klar gefasste Einsicht in die Mittlerposition des Schönen zwischen Empirie und Geist den Beginn der dritten Periode markiert. Mengs und Winckelmann verkörpern für Schlegel diese Haltung. Zwar ermangeln sie noch einer klaren philosophischen Terminologie zur Beschreibung ihres Kunstverständnisses, dennoch entwickeln sie bereits eine Einsicht in das Wesen der Kunst: »Mengs und Winckelmann hatten eine tiefe Einsicht und zarte Regsamkeit für das Schöne, hatten aber zu wenig Philosophie, um ihre Ideen, die mehr platonisch waren, zu allgemeinen Theorien zu erheben.«864 Die von Schlegel referierten Positionen Mengs’ müssen ihm gleich aus zweierlei Gründen gefallen haben: Zum einen versteht Mengs die Kunst als eine 860 Ebd., S. 167. 861 So Henry Homes Elements of Criticism, den Schlegel für überschätzt hält; daneben Shaftsbury und David Hume. Das Problem der Engländer sieht er vor allem in deren Abhängigkeit von Locke, der mit seiner Herleitung aller Begriffe aus der Erfahrung ein Protagonist der empiristischen Philosophie ist. Lediglich Locke erkennt er »wirklich wissenschaftlichen Geist« zu. Allein Hume zeichnet sich für Schlegel durch seine Unabhängigkeit von Locke aus. (Vgl. KV, Bd. 1, S. 168). 862 KV, Bd. 1, S. 167. 863 Jochen A. Bär sieht in dieser Vermittlung von Gegensätzen eine typisch romantische Denkhaltung. Dass dieses Denken stark durch Kants Kritik der Urteilskraft beeinflusst ist, macht er allerdings nicht eigens deutlich. 864 KV, Bd. 1, S. 169.

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sinnliche Darstellung geistiger Vorstellungen, zum anderen erkennt er, dass die Vollkommenheit in der sinnlichen Welt nicht verwirklicht werden kann. Schlegel zitiert ihn: »Mengs sagt: Vollkommenheit ist nicht das Los des Menschen, sie kann nicht in der Sinnenwelt erscheinen, und gleichwohl fühlt er einen Trieb nach ihr, weil der Mensch ein Werk des vollkommensten Wesens ist. Das Schöne ist ein sichtlicher Begriff, ein Gleichnis der Vollkommenheit, die der Materie eingeprägt ist.«865 Und an anderer Stelle: »Mengs sagt: Das Schöne werde durch die Sinne empfunden, durch den Verstand erkannt und begriffen.«866 Winckelmann hingegen erscheint Schlegel als »noch dunkler«. Über die Schönheit sage Winckelmann: »Die Schönheit sei aus den unausforschlichen Geheimnissen der Natur, deren Wirkung wir sehen und alle empfinden, aber nicht nach Begriffen bestimmen können.«867 Und an anderer Stelle »er [Winckelmann, Y.A.] betrachtet die Schönheit als einen Ausfluß der Göttlichkeit, die er für das höchste Ideal der Schönheit hält.«868 Schlegel beobachtet bei Mengs und Winckelmann bereits eine diffuse Vorstellung davon, dass die Kunst geistigen Ideen zu einer sinnlich wahrnehmbaren Darstellung verhilft und damit zwischen der empirischen Erscheinung und den Vorstellungen des Verstandes vermittelt. Insofern decken sich ihre Aussagen vom Schönen mit Kants Idealismus der Kritik der Urteilskraft. Allerdings fehlt ihnen die begriffliche Schärfe eines Kant. Stattdessen behelfen sie sich mit vagen Ideen des Göttlichen und der Vollkommenheit. Für diese Mischung aus philosophischer Konzeption und enthusiastischer Spekulation schlägt Schlegel den Begriff des »mystischen Idealismus des Schönen« vor.869 Karl Philip Moritzens Kunsttheorie scheint für Schlegel das fortschrittlichere Konzept auf dem Weg zur dritten Periode darzustellen. Entscheidend dürfte für diese Einschätzung vor allem der Umstand sein, dass Moritz das Schöne von jeglichen äußeren Zweckbestimmungen befreit.870 Darüber hinaus bestimmt Moritz Nachahmung als das selbstständige Handhaben des Wesens einer Sache, welches man sich zuvor notwendig angeeignet haben 865 Ebd., S. 169. Dieses Verständnis des Schönen erinnert auch an Kants Definition der ästhetischen Ideen, die nie ganz begrifflich erfasst, sondern nur dargestellt werden können. Vgl. Teil A, Kap. I.2.1. 866 A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 170. 867 Ebd., S. 169. 868 Ebd., S. 170; August Wilhelm Schlegel rekurriert hierbei ausschließlich auf Winckelmanns Bemerkungen zum Schönen. Unbeachtet bleiben Winckelmanns Ausführungen zur Allegorie. Diese Befunde hätten sich mit Schlegels Grundannahme gedeckt, nach der die Kunst als Mittlerin zwischen sinnlicher Darstellung und geistiger Idee zu fassen sei. Allerdings zielt die Allegorie, wie in Kap. II.3 des ersten Teils eingehend dargelegt wird, ausschließlich auf die sinnliche Darstellung von Begriffen. Allein in Bezug auf die Schönheit scheint Winckelmann ein Element in der Kunst zu sehen, das begrifflich nicht fassbar ist. 869 Vgl. KV, Bd. 1, S. 171. 870 Vgl. ebd., S. 173, hier legt er über Moritzens Kunstanschauung dar : »das Schöne braucht nicht nützlich zu sein.«.

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muss.871 Zu der Vorstellung, dass das Schöne die sinnlich wahrnehmbare Erscheinung einer geistigen Idee ist, tritt bei Moritz das Verständnis des Schönen als in sich vollendeter Einheit hinzu. »Das Schöne muß ein für sich bestehendes und in die Sinne fallendes Ganzes, das von der Einbildungskraft umfasst werden kann, sein«.872 August Wilhelm Schlegel beschließt seine Vorlesungen über philosophische Kunstlehre mit einigen knappen Ausführungen zu Kants Kritik der Urteilskraft. Entgegen der Erwartungen, die die über den Verlauf des zweiten Teils beständig eingestreuten Verweise auf Kant geweckt haben dürften, werden die Bemerkungen über Kant nicht eigens hervorgehoben. Vielmehr gehen die Ausführungen, die sich nach der Besprechung der Moritzschen Theorie kurz mit Hogarth und Kamper beschäftigen, ohne sich bei diesen lange aufzuhalten, beinahe unmerklich zu den abschließenden Bemerkungen zu Kant über. Nicht einmal ein Absatz markiert den Sujetwechsel.873 In seinen Ausführungen zu Kants Kritik der Urteilskraft kommt es Schlegel vor allem auf das ihr innewohnende synthetische Moment an. Er erläutert zunächst die Funktion der Urteilskraft allgemein und geht dann zur ästhetischen Urteilskraft über. Wichtig ist ihm zu erwähnen, dass der »ästhetische Teil […] der Kritik der Urteilskraft wesentlich« ist.874 Die Aufzeichnungen endigen, zumindest soweit sie vorliegen, recht abrupt, ohne ein abschließendes Fazit oder eine Zusammenfassung. Das könnte umso mehr verwundern, als es gerade Kants transzendentalphilosophischer Ansatz ist, der Schlegel – das wird sich in den Berliner Vorlesungen zeigen – zukunftsweisend erscheint. Die Jenaer Vorlesungen müssen aber wohl als eine Art verschriftlichter Lern- und Arbeitsprozess gelten, in dem Schlegels intensive Beschäftigung mit dem kunsttheoretischen Schrifttum sowohl der Antike als auch seiner Zeitgenossen dokumentiert ist. Eines fällt dabei auf: Wie ein roter Faden ziehen sich die Referenzen auf Kant durch die Vorlesungen. Es sind immer wieder Gedanken aus Kants Schriften, allen voran aus dessen Kritik der Urteilskraft, derer sich Schlegel bedient, um Schwächen und Denkfehler in den von ihm besprochenen theoretischen Systemen aufzuzeigen. Obwohl es Kants transzendentaler Idealismus ist, 871 Vgl. KV, Bd. 1, S. 174. 872 Ebd., S. 173. 873 Diese Beobachtung steht allerdings unter dem Vorbehalt, dass der Text der vorliegenden Ausgabe mit dem Schlegelschen Vorlesungsmanuskript übereinstimmt. Sollte es sich bei dem zugrunde gelegten Text um die Fassung von Friedrich Ast handeln, die 1911 in Leipzig bereits publiziert wurde, kann nicht sicher gesagt werden, ob die durch Ast überlieferte Textgestalt womöglich Lücken aufweist. Da der Kommentarband der Kritischen Ausgabe der Vorlesungen noch nicht erschienen ist, ist der zugrunde gelegte Textträger bisher nicht bekannt. Ein mit der Leipziger Ausgabe übereinstimmender Fehler legt aber eine Abhängigkeit der beiden Texte nahe. (Vgl. hierzu dieses Kapitel Anm. Nr. 848). 874 Ebd., S. 177.

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der ihm als kritische Norm dient, mit deren Hilfe er die verschiedenen Theorien vom Schönen einer Beurteilung unterzieht, hat er sich Kants Thesen noch nicht so weit zu eigen gemacht, dass er bereits eine eigene Theorie des Schönen formulieren könnte. In seinen kritischen Kommentaren zu den einzelnen besprochenen Theoretikern scheint ein im Keim bereits vorhandenes eigenes kunsttheoretisches Modell durch, das aber erst in den Berliner Vorlesungen zur Reife gelangt.875 Die Kunsttheorie dieser Berliner Vorlesungen, die als genaues und konsequentes Weiterdenken der Jenaer Vorlesungen gesehen werden kann, soll daher im Folgenden betrachtet werden. Wie bereits gesagt wurde, hat Schlegel in den drei Jahre später gehaltenen Berliner Vorlesungen die Anordnung der Teile im Vergleich zur Jenaer Vorlesung genau umgekehrt. Er beginnt nun mit einem allgemeinen Teil der Kunstlehre, ehe er die einzelnen Gattungen behandelt, und so steigt er quasi genau an der Stelle ein, an der er in Jena geendigt hat. Dabei baut er die allgemeinen Reflexionen über den Unterschied von Kunstgeschichte und -theorie in Berlin deutlich aus und stellt sie seiner chronologischen Abhandlung der wichtigsten antiken und zeitgenössischen Autoren voran. Die Unterscheidung von klassischer und romantischer Kunst wird sowohl historisch als auch theoretisch begründet: »Die große allgemeine Antinomie des antiken und modernen Geschmacks […], welche die Geschichte aufstellt, ist nur der Theorie zu lösen vorbehalten, und wir sehen also hier wieder ihre innige wechselseitige Verknüpfung mit der Geschichte.«876 Indem er die gegenseitige Abhängigkeit von Geschichte und Theorie postuliert, formuliert Schlegel sogleich die Rechtfertigung seines eigenen methodischen Vorgehens in dieser Vorlesung: denn auch hier entwickelt er eine Theorie des Schönen, indem er die unterschiedlichen kunsttheoretischen Konzeptionen entlang der Geschichte abschreitet. Dadurch gewinnt die Struktur der nachfolgenden Darstellungen an Schärfe. Daraufhin gibt er seinen Hörern einen Überblick über die wichtigsten antiken Theorien des Schönen. Diese Ausführungen basieren weitestgehend auf dem Jenaer Manuskript. In der daran anschließenden Darstellung der zeitgenössischen Kunsttheorie 875 Diesen Umstand verwischt Holmes, wenn sie die Position vertritt: »Im Gegensatz zur einhelligen Forschungsmeinung kann Schlegels Ästhetik schon zum Zeitpunkt seiner Jenaer Vorlesungen durchaus als System bezeichnet werden.« (Holmes, Synthesis der Vielheit, S. 95). Die Grundgedanken scheinen bereits durch, dennoch ist Behlers Ansicht zuzustimmen, dass »August Wilhelm Schlegels Berliner Vorlesungen Über schöne Literatur und Kunst […] die vielleicht am meisten zusammenhängende Darstellung dieser ästhetischen Doktrin« sind. (Behler, Ernst: Die Bedeutung der klassischen Antike für die romantische Literatur, in: ders.: Studien zur Romantik und idealistischen Philosophie, Paderborn u. a. 1988, S. 230 – 235, hier S. 230). 876 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 195 f.

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sind die Überarbeitungen weit deutlicher zu erkennen. Dabei scheint Kants Kritik der Urteilskraft eine durchaus ambivalente Rolle zuzukommen. Zwar entgeht auch dieses Werk nicht der negativen Beurteilung, die allen von Schlegel vorgestellten Theorien zuteil wird, in anderem Zusammenhang räumt er allerdings nur wenige Seiten weiter Kants dritter Kritik eine Sonderstellung innerhalb der Kunsttheorien ein. Schlegel hält an der Dreiteilung der möglichen »Systeme über das Schöne« fest: dem intellektuellen, dem sinnlichen und einem zwischen den beiden Extremen vermittelnden System. An Baumgartens rationalistischer Ästhetik und Burkes empirischer Kunsttheorie als den Hauptvertretern der beiden erstgenannten Systeme hat sich nichts geändert. Auch den Übergang zu dem dritten System markiert noch immer der von Schlegel als solcher bezeichnete, ästhetische Skeptizismus. Neu ist hingegen, dass er diesen als »Vorbereitung« und »Veranlassung« der ästhetischen Kritik der Urteilskraft beschreibt.877 Damit scheint Kants philosophisches Werk an die Schwelle zum dritten System zu treten. Und so dürfte ihm – zumindest beim zeitgenössischen Stand der Kunsttheorie – für dieses System ein ähnlich kanonischer Stellenwert zukommen wie den beiden zuvor genannten Theorien für die von ihnen repräsentierten Systeme. Dieser Befund bestätigt sich im Fortgang der Darstellung, die in Berlin weit deutlicher auf die jeweiligen Hauptvertreter der drei von Schlegel vorgestellten Modelle hin pointiert ist als noch in Jena. In Bezug auf die philosophischen Strömungen, die den ästhetischen Systemen zugrunde liegen, unterscheidet Schlegel zwischen der Wolffschen Schule einerseits und den Lockianern andererseits.878 Als Vertreter der erstgenannten führt er neben Baumgarten auch Sulzer und Mendelssohn an, wobei über letztere kaum mehr als ihre Namensnennung gesagt wird.879 Auch die Darstellung der empirischen Ästhetik reduziert Schlegel auf die Darstellung von Burkes System als dem dafür wichtigsten Repräsentanten, das – als Ausgleich für die personelle Beschränkung – ausführlicher diskutiert wird als in der Jenaer Vorlesung. Neu ist aber vor allem die Rolle Kants, die sich in der Jenaer Vorlesung bereits subkutan angedeutet hat, deren Bedeutung sich in Schlegels Denken jedoch erst drei Jahre später zu solcher Deutlichkeit geformt hat, dass er sie als festes Element in sein System einarbeiten kann.880 So schließt sich an die ausführliche Besprechung 877 878 879 880

Vgl. ebd., S. 221. Vgl. ebd., S. 221. Vgl. ebd., S. 224. Holmes verallgemeinernde Feststellung über die Berliner Vorlesung im Vergleich zur Jenaer Vorlesung: »Schlegel beginnt mit einem chronologischen Abriss der Geschichte der Ästhetik, verweilt erneut bei Burke und Kant und leitet aus der Auseinandersetzung mit diesem seine Gedanken über das Verhältnis zwischen Natur und Kunst ab« (Holmes, S. 211 f.) verkennt den Umstand, dass Kant erst in der Berliner Vorlesung seine zentrale Rolle für Schlegels Denken erlangt und eine demgemäß ausführliche Behandlung erfährt.

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Burkes eine eingehende Diskussion der Kantischen Kritik der Urteilskraft an. In Berlin vermag Schlegel klar zu sagen: »De[m] transzendent.[alen] Idealismus, consequent durchgeführt, […] ist es […] vorbehalten, das Problem des Schönen vollständig zu lösen.«881 Die eigentliche Weiterentwicklung des Schlegelschen Denkens gegenüber seiner Jenaer Vorlesung tritt aber vor allem mit seinen eigenen Ausführungen zu Tage, die er der Vorstellung der wichtigsten zeitgenössischen Theorien folgen lässt und damit zugleich das von ihm skizzierte, entwicklungsgeschichtlich angelegte Modell der Kunsttheorien auf den aktuellsten Stand versetzt. Schlegel verwendet das von ihm entworfene Modell der ästhetischen Systeme nicht mehr allein als Schablone zur Beschreibung der existierenden Theorien des Schönen, sondern greift aktiv gestaltend ein. Dabei dient ihm die Logik des von ihm entworfenen Modells als Richtschnur, entlang derer er seine eigene Konzeption entwickelt. Die eigene Mitgestaltung der kunsttheoretischen Entwicklung scheint ihm zugleich Bescheidenheit aufzuerlegen: So hat er dieses Modell in Berlin seiner Speerspitze der heilsgeschichtlichen Rhetorik von einer nahenden »Endzeit« der Kunsttheorie beraubt. Da Schlegel seinen eigenen Ansatz aus seiner Kritik am Kantischen System herleitet, soll im Folgenden zunächst diese Kritik an Kant dargestellt werden, ehe seine eigene Kunsttheorie zu analysieren ist. Es lohnt sich, in diesem Zusammenhang das oben angeführte Zitat über den transzendentalen Idealismus noch einmal genauer in seinen textimmanenten Bezügen zu betrachten: Der transzendent.[ale] Idealismus, consequent durchgeführt, wie er es seit Kant geworden ist, zeigt uns nicht nur die nothwendige und nie aufzuhebende Entgegensetzung dieser beyden Seiten der menschlichen Natur, sondern auch ihre Einerleyheit in derselben, und ihm ist es daher erst vorbehalten, das Problem des Schönen vollständig zu lösen. Denn aus diesem Systeme läßt sich darthun, daß es dasjenige ist, wodurch wir uns in den Schranken der Endlichkeit und der Trennung in uns, der ursprünglichen Einheit von Geist und Materie, Intelligenz und Natur, Freyheit und Nothwendigkeit bewußt werden; so daß die Aufgabe der Kunst keine andre ist, als das für die Anschauung zu leisten, was die höchste Speculation auf intellektuale Weise bewerkstelligt.882

Hier nimmt Schlegel bereits das für ihn wichtigste Moment der Kantischen Philosophie vorweg und impliziert die Richtung seines eigenen Weiterdenkens derselben. Das Schöne als das zentrale Problem der Kunst basiert demnach gerade auf seiner vermittelnden Position zwischen sinnlicher und geistiger Welt. Es kann unter keine Sphäre einfach subsumiert werden. Kants Abgrenzung des Schönen nach zwei Richtungen ist dieser Grundprämisse geschuldet: So grenzt 881 KV, Bd. 1, S. 222. 882 Ebd., S. 222.

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er es sowohl vom Angenehmen ab, das sich allein aus der sinnlichen Empfindung heraus erklären lässt, als auch vom ausschließlich in der Vernunft gründenden Guten.883 Seine mittlere Position hat überdies für die Konzeption des Schönen zur Folge, dass sie nicht auf die Wirklichkeit des Gegenstandes bezogen ist, sondern auf dessen »lebhafte Vergegenwärtigung in unserem Geiste«. Damit ist nichts anderes gemeint, als das interesselose Wohlgefallen, das bereits Kant wenige Jahre zuvor in seiner Kritik der Urteilskraft bemüht hat. Schlegels Kritik der Kantischen Theorie setzt schließlich bei deren Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen an. Allein das Erhabene erweckt laut Kant die Idee des Unendlichen.884 Dass dieses Vermögen nur dem Erhabenen, nicht aber dem Schönen zugesprochen wird, ist symptomatisch für jenen Aspekt in Kants Denken, den Schlegel am vehementesten kritisiert: »Wogegen ich daher am meisten einzuwenden habe«, lässt er seine Hörer wissen, »das ist eben die scharfe Absonderung vom Schönen, welche keinen allmählichen Übergang aus einem ins andre denkbar läßt.«885 Während Kant das Phänomen des Erhabenen lediglich in der Natur zu suchen scheint, versteht Schlegel es – ebenso wie das Schöne – als Element der Kunst. Kunst zeichnet sich nach Schlegels Verständnis aber gerade durch die Verbindung von Schönem und Erhabenem aus: Kants Beyspiele des Erhabnen sind meistens von Naturgegenständen hergenommen […], wo er denn auf die gewöhnliche Formlosigkeit und Unbegränztheit dessen, was diesen Eindruck hervorbringt, geführt ward. Die zur Erhabenheit nothwendige Gränzenlosigkeit findet aber innerhalb streng begränzter Formen nach Statt, so wie beym Schönen auf andre Weise, und wir finden, daß in Kunstwerken […], das Schöne und Erhabne sich gegenseitig dergestalt durchdringt, daß man nicht sagen kann, welches von beyden vorwaltet.886

Ebenso wenig hält Kants Unterscheidung zwischen freier und anhängender Schönheit Schlegels Kritik stand. Beide von Kant vorgenommenen Unterscheidungen versucht Schlegel, nach dessen Auffassung sie einer »zu engen und niedrigen Ansicht des Schönen entsprungen«887 sind, in seinem eigenen kunsttheoretischen Konzept zu überwinden. Die zentrale Denkfigur, um die August Wilhelm Schlegel seine gesamte Kunsttheorie gruppiert, ist die des Symbols. Damit ist es nicht die Vollkommenheit einer Sache selbst, die sie schön macht, sondern deren symbolischer Verweis auf die Vollkommenheit: 883 884 885 886 887

Vgl. ebd., S. 229. Vgl. ebd., S. 230 – 33. Ebd., S. 234. Ebd., S. 234. Ebd., S. 236.

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[W]o der Begriff das ganze Wesen der Sache888 erschöpft, da findet keine Freyheit der Phantasie, also überhaupt keine Schönheit Statt. Kein Zirkel oder Cubus ist schöner als der andre, sie sind bloß vollkommen, und werden erst schön, wenn wir sie nicht an und für sich sondern als Symbole von etwas betrachten. […] Schönheit kann freylich nie im Widerspruch mit der Vollkommenheit stehn, von der sie ja nur ein symbolischer Abdruck ist; aber das Urtheil über jene ist dennoch unmittelbar, und keineswegs von der Erkenntnis oder Prüfung dieser abhängig.889

Nun kennt auch Kant den Begriff des Symbols und es ist zu fragen, wie sich der Schlegelsche Symbolbegriff von dem Kantischen unterscheidet. Kants Symbolbegriff erscheint Schlegel durch dessen fest definierten Bezug auf eine Vernunftidee als verengt: »Symbol ist nach K.[ant] die unmittelbare Darstellung einer Idee vermittelst einer Analogie oder Übertragung«890. Diese klare Zuordnung von Symbol und symbolisierter Vernunftidee hat für das Verständnis des Schönen als Symbol logisch zur Folge, dass auch dieses einer zu symbolisierenden Vernunftidee präzise zugeordnet werden kann. Genau dies geschieht bei Kant, »denn letztlich betrachtet er [Kant, Y.A.] das Schöne als Symbol […] des Sittlich-Guten, und erklärt eben dieß für das Übersinnliche, worauf der Geschmack hinausgehe.«891 Nun kann sich Schlegel aber gerade mit dieser zweckgebundenen Bestimmung des Schönen als Mittel der Erziehung zur Sittlichkeit nicht zufrieden geben. Denn sein Ziel ist es, die Kunst als ursprüngliche menschliche Veranlagung zu erklären, nicht als im Dienste einer anderen stehend. Er stellt nicht nur fest, dass »die Anlage zur Sittlichkeit […] wenigstens nicht ursprünglicher im menschlichen Geist [ist] als die zur Kunst und zum Schönen«, sondern erklärt die Sittlichkeit als eine erst im Laufe der menschheitsgeschichtlichen, kulturellen Entwicklung notwendig gewordene Haltung, die als Reaktion auf den sich etablierenden Leib-Seele-Dualismus zu verstehen ist: Sie [die Sittlichkeit, Y.A.] ist das Bestreben unsre sinnlichen Triebe zur Einstimmung mit der Vernunft zu lenken, sie setzt also schon eine Entzweyung voraus, und kann folglich nicht das ursprünglichste und erste in uns seyn, welches absolute Einheit ist. Die Sittlichkeit tritt, wenn es mir erlaubt ist, mich bildlich auszudrücken, erst nach dem Sündenfalle ein; das Streben nach dem Schönen will uns jenseits des Sündenfalles zurückführen, gleichsam den Stand der Unschuld, d. i. der vollkommenen Einheit des innern und äußern Menschen in seinem spielenden Scheine wieder herstellen.892 888 In A. W. Schlegel: Kritische Schriften und Briefe, Bd. 2, S. 68 findet sich die Variante: »das ganze Wesen der Sprache«. Sowohl die nachfolgende Textaussage als auch die gehäuften fehlerhaften Übertragungen in der älteren Ausgabe sprechen jedoch dafür, dass die Lesart »Sache« der Ausgabe der Kritischen Vorlesungen der Handschrift entspricht. 889 KV, Bd. 1, S. 236. 890 Ebd., S. 245, Hervorhebung im Original. 891 Ebd., S. 245. 892 KV, Bd. 1, S. 245.

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Die im Schönen repräsentierte, ursprüngliche geist-körperliche Einheit legt Schlegel auch seinem Begriff des Ideals zugrunde. Auch diesen entwickelt er in Entgegensetzung zu Kants Idealbegriff, welcher ebenfalls den Vorwurf der unzulässigen Trennung von Sinnlichkeit und Geistestätigkeit erdulden muss. Kant bestimmt das Ideal als eine Ergänzung der Normalidee893 um die reine Vernunftidee des Sittlich-Guten. Schlegel wirft Kant vor: An dieser unbequemen und tödtenden Vorstellungsart kann man recht den Grundmangel des Kantischen Systems überhaupt wahrnehmen, welches nicht, wie die ächte Philosophie soll, sondert um wieder zu verbinden, sondern die Absonderung des Verstandes als unübersteiglich fixirt, und da ursprüngliche Trennung setzt, wo keine ist, sondern vielmehr Einheit. Deswegen kann es sich auch zu dem absoluten unteilbaren Akt, wodurch das Genie eine Kunstschöpfung hervorbringt, nicht erheben.894

Und er konfrontiert diesen konstatierten Mangel sogleich mit seinem eigenen Verständnis des Ideals: »Das Ideal besteht ja eben darin, daß die Vollkommenheit der thierischen und der vernünftigen Natur nicht mehr unterscheidbar ist.«895 Diese Überwindung des Leib-Seele-Dualismus ist für Schlegel Grundlage des Ideals, das in der Kunst verwirklicht werden soll: Wenn nun in einer Kunstbildung Körper und Geist bis zur vollständigen Harmonie ineinander verschmolzen sind, so verschwindet sowohl das Tierische als das bloß Vernünftige, und das Ideal, das Reinmenschliche, das Göttliche, oder wie man es sonst nennen will, tritt hervor. […] So kann man auch ein Gedicht oder sonst ein Kunstwerk mit Recht idealisch nennen, wenn sich in ihm Stoff und Form, Buchstabe und Geist bis zur völligen Ununterscheidbarkeit gegenseitig durchdrungen haben.896

Kant hatte zwar die richtige Richtung eingeschlagen, davon ist Schlegel überzeugt, jedoch ist er dann »auf halbem Wege stehen geblieben«897. Da sich gezeigt hat, dass Kant bei der Klärung der Frage nach dem Schönen nicht so recht weiterhelfen konnte, müssen andere Philosophen zu Rate gezogen werden, die diesen Weg Schlegels Meinung nach konsequent weiter gegangen sind. Fichte ist ein solcher, dessen beiläufige Erwähnungen kunsttheoretischer Fragestellungen »zu den höchsten Erwartungen berechtig[en], sobald er dazu kommen wird, ihnen eine eigne ausführliche Behandlung zu widmen.«898 Dazu ist er, das wissen wir heute, nicht mehr gekommen. Schlegel hat jedoch nicht vergeblich warten müssen, Schelling hat diese Lücke besetzt: »Schelling hat 893 Zum Begriff der Normalidee, den Kant in seiner Kritik der Urteilskraft entwickelt, vgl. Teil A, Kap. I.2.1. 894 KV, Bd. 1, S. 240. 895 Ebd., S. 240. 896 Ebd., S. 240. 897 Ebd., S. 248. 898 Ebd., S. 248.

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zuerst angefangen die Grundlinien einer philosophischen Kunstlehre mit dem Prinzip des transzendentalen Idealismus ausdrücklich in Verbindung zu setzen, und in seinem System desselben der Kunst einen eignen Abschnitt gewidmet.«899 Schellings Formulierung, nach der »das Unendliche endlich dargestellt Schönheit«900 ist, modifiziert Schlegel, indem er das Moment des Symbolischen mit in die Definition aufnimmt, die bei ihm lautet: »Das Schöne ist eine symbolische Darstellung des Unendlichen«901. Schlegel stellt die Frage, wie das Unendliche zu veranschaulichen sei. Eine 899 Ebd., S. 248, Hervorhebung im Original. 900 Ebd., S. 248, Hervorhebung im Original. Wörtlich findet sich dieser Satz bei Schelling in seinem 1800 erschienenen System des transzendentalen Idealismus im sechsten und damit letzten Hauptabschnitt, wo er über den »Charakter des Kunstprodukts« schreibt »das Unendliche endlich dargestellt ist Schönheit« (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: System des transzendentalen Idealismus, in: ders: Werke. Historisch-kritische Ausgabe, hrsg. v. Wilhelm G. Jacobs, Jörg Jantzen u. Hermann Krings, Stuttgart 1976 ff., hier: Bd. 9.1, hrsg. v. Harald Korten u. Paul Ziche, S. 321). 901 KV, Bd.1, S 248. In seiner späteren Schrift Philosophie der Kunst von 1802/3 verwendet auch Schelling den Symbolbegriff, hier jedoch zusammen mit und in Abgrenzung von dem Allegoriebegriff. Dass Schelling dabei den initialen Gedanken von der »symbolischen Darstellung des Unendlichen« von August Wilhelm Schlegel übernommen hat, ist durchaus anzunehmen, da aus einem Briefwechsel vom Herbst 1802 hervorgeht, dass Schelling von August Wilhelm Schlegel das Manuskript seiner Kunstlehre zur Vorbereitung auf seine eigene philosophische Abhandlung über Kunst (die Philosophie der Kunst) erbeten und von diesem auch erhalten hatte. So schreibt Schelling am 3. September 1802 an August Wilhelm Schlegel: »Gewiß würde mir Ihr Manuscript vortreffliche Dienste leisten, um mich immer zu orientiren, und von dem Empirischen der Kunst, worauf Sie nach Ihrem Plan mehr Rücksicht genommen haben, zum Intellectuellen zurückzuleiten – und mir manche Nachforschungen zu ersparen, die mich doch vielleicht nicht zum Ziel führen und auf jeden Fall an der Ausbildung des Speculativen verhindern. Könnten Sie mir Ihr Manuscript in Berlin auf meine Kosten abschreiben lassen und gegen Mitte des folgenden Monats hierher schicken, oder auch es mir bis dahin überlassen, um hier eine Abschrift davon nehmen zu lassen, so würde ich Ihnen dafür höchst verbunden sein« (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Briefe und Dokumente, hrsg. v. Horst Fuhrmans, Bonn 1973, Bd. II, 1775 – 1803, Zusatzband, S. 436 f.). Schlegel wird Schellings Bitte nachgekommen sein und ihm sein Manuskript überlassen haben, wie aus einem Brief Schellings vom 4. Oktober 1802 hervorgeht: »Ihr Heft der Ästhetik macht mir ein unnennbares Vergnügen; es entzückt mich es zu lesen. Einen Theil davon lasse ich wirklich ganz abschreiben, einen andern lese ich mit der Feder in der Hand.« (Ebd., S. 449). Schelling entwickelt daraufhin eine Kunsttheorie, die wesentlich von der Unterscheidung zwischen Symbol und Allegorie getragen ist und deutliche Ähnlichkeit zu Goethes Lehre zu Symbol und Allegorie aufweist. Wer diese Unterscheidung zuerst prägte, konnte bisher nicht geklärt werden. (Vgl. Schwering, Symbol und Allegorie in der deutschen Romantik, S. 366). So ist Schellings Text zwar deutlich früher erschienen als Goethes Abhandlung, der seine Unterscheidung von Allegorie und Symbol erst 1825 in den Maximen und Reflexionen systematisch niedergeschrieben und veröffentlicht hat, jedoch hat er solche Überlegungen zur Unterscheidung der beiden Formen schon deutlich früher angestellt, wie sich belegen lässt. (Vgl. Sørensen, Bengt Algot: Die »zarte Differenz«. Symbol und Allegorie in der ästhetischen Diskussion zwischen Schiller und Goethe, in: Formen und Funktionen der Allegorie, Stuttgart 1979, S. 632 – 641).

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Darstellung, die immer schon eine sinnliche Wahrnehmung impliziert, kann aufgrund dieser Eigenschaft nie das Unendliche unmittelbar repräsentieren, da eine sinnliche Erscheinung notwendig begrenzt ist. Mit dieser äußerlichen Begrenzung der materiellen Gegenstände gibt sich Schlegel jedoch nicht zufrieden. Er versteht sie vielmehr als einen symbolischen Verweis auf einen geistigen Gegenstand. Dieser symbolische Bezug zwischen sinnlich wahrnehmbarem und geistigem Gegenstand reduziert er nicht allein auf den Sonderfall der Darstellungen der Künste, sondern unterlegt dieses Deutungsmodell prinzipiell allen Dingen. Das Poetische umfasst bei ihm damit keinen bestimmten Gegenstandsbereich, sondern ist eine allgemeine Verständnisweise der Dinge – es ist also mit anderen Worten ein Modell von Weltdeutung. Wie kann nun das Unendliche auf die Oberfläche, zur Erscheinung gebracht werden? Nur symbolisch, in Bildern und Zeichen. Die unpoetische Ansicht der Dinge ist die, welche mit den Wahrnehmungen der Sinne und den Bestimmungen des Verstandes alles an ihnen für abgethan hält; die poetische, welche sie immerfort deutet und eine figürliche Unerschöpflichkeit in ihnen sieht. […] Dadurch wird erst alles für uns lebendig. Dichten (im weitesten Sinne für das poetische allen Künsten zum Grunde liegende genommen) ist nichts andres als ein ewiges symbolisiren: wir suchen entweder für etwas Geistiges eine äußere Hülle oder wir beziehen ein Äußres auf ein unsichtbares Innres.902

Dieses Modell des Symbolisierens überträgt Schlegel auch auf sein Verständnis von Sprache und Poesie: Die gegenseitige Verkettung aller Dinge durch ein ununterbrochenes Symbolisiren, worauf die erste Bildung der Sprache sich gründet, soll ja in der Wiederschöpfung der Sprache, der Poesie, hergestellt werden; und sie ist nicht ein bloßer Notbehelf unsers noch kindischen Geistes, sie wäre seine höchste Anschauung, wenn er je vollständig zu ihr gelangen könnte.903

So betrachtet Schlegel das Symbolisieren zugleich auch als den Ausgangs- wie den Zielpunkt aller sprachlichen Bildung. Ausgehend von dem hier rekonstruierten Schlegelschen Kunstverständnis seiner Vorlesungen, das bereits in eine Sprachtheorie überleitet, sollen nun die sprachtheoretischen und poetologischen Überlegungen der beiden Vorlesungszyklen untersucht werden.904 902 KV, Bd. 1, S. 249. 903 Ebd., S. 250. 904 Auch Claudia Becker weist in ihrer Monographie auf die Entwicklung innerhalb des Schlegelschen Œuvres hin, die sich beginnend bei den frühen Schriften der AthenaeumsPhase bis hin zu den Berliner Vorlesungen nachzeichnen lässt. Auch verweist sie auf die enge Verknüpfung von Sprach- und Kunsttheorie besonders in der Berliner Vorlesung und hebt in dieser Hinsicht die Bedeutung der Schlegelschen Symbolkonzeption hervor. Ihre Darstellung arbeitet jedoch die gegenseitigen Bezüge zwischen Kunst- und Sprachtheorie im

Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik

1.3

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Tropisch-symbolische Sprache als Welterkenntnis – Die Sprachtheorie der Jenaer und Berliner Vorlesungen

Der Grundgedanke der Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, wonach Poesie und Sprache gleichursprünglich und in ihren Anfängen identisch waren, behält Schlegel auch in den späteren Vorlesungen über Kunsttheorie bei. In den Jenaer Vorlesungen treten die eng an sprachphilosophischen Traktaten orientierten Überlegungen zur Entstehung der Poesie jedoch deutlich zurück. Lediglich in der einleitenden, titellos bleibenden Passage, in der Schlegel seine Theorie von der Naturgeschichte der Poesie skizziert, argumentiert er mit der aus den Briefen bekannten Hypothese einer Gleichursprünglichkeit von Poesie und Sprache. Dabei dient diese Argumentationsfigur bereits in Jena zur Klärung einer von den Briefen deutlich abweichenden Fragestellung. Ging es in den Briefen noch darum, in einer Art von philosophischer Beweisführung das Silbenmaß als ein der Poesie wesentliches Merkmal zu begründen, so wird nun viel grundsätzlicher die These von der Kunst als eine dem Menschen »ursprüngliche Anlage« verhandelt. Diese Problemstellung wird auch in der Berliner Vorlesung als Ausgangspunkt des Nachdenkens über Kunst beibehalten. Darüber hinaus werden in Jena bereits in höchst komprimierter Form die meisten der zentralen Grundgedanken formuliert, die ein Weiterdenken des Ansatzes von 1795 darstellen und sich in der späteren Berliner Poetik niederschlagen. Angesichts der vielversprechenden Ausführungen zum Verhältnis von Poesie und Sprache im einleitenden Teil der Vorlesungen irritiert es, dass Schlegel in den Jenaer Vorlesungen unter dem Abschnitt »Sprache« diese allgemeine Sprachphilosophie nicht weiterführt. Stattdessen untersucht er unter dieser Überschrift die Strukturen der positiven (National-)Sprachen im Stile traditioneller Regelpoetiken und leitet deren daraus resultierende Vorzüge und Nachteile für unterschiedliche Techniken des Versbaus und der Rhetorik ab. Diese konkret-technischen Ausführungen hat Schlegel in Berlin zugunsten einer differenzierten, auf die Poetik hin orientierten Sprachtheorie aufgegeben. Zunächst soll das theoretische Modell einer Naturgeschichte der Kunst einschließlich seiner sprachtheoretischen Implikationen besprochen werden, wie es in Jena grundgelegt und in Berlin ausgebaut wurde, ehe die sprachtheoretischpoetologischen Reflexionen der Berliner Vorlesungen einer detaillierten Betrachtung unterzogen werden. In der einleitenden Passage der Jenaer Vorlesungen expliziert Schlegel die Intention, die diesem Vorlesungszyklus zugrunde liegt: Es geht ihm um den Detail wenig deutlich heraus; eine Analyse des Schlegelschen Sprach- und Symbolbegriffs bleibt aus. Vgl. Becker, Claudia: »Naturgeschichte der Kunst«. August Wilhelm Schlegels ästhetischer Ansatz im Schnittpunkt zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik, München 1998, hier: Kap. 7, S. 149 – 178.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

»wissenschaftliche[n] Beweis, daß im Menschen eine ursprüngliche und allgemeine Anlage zur Kunst sei«, den er »durch Aufzeigung derselben in den ersten Schritten, die das gesamte Menschengeschlecht zu seiner Bildung hat tun müssen« zu erbringen versucht.905 Diese Beweisführung bedarf »de[s] Begriff[s] einer Naturgeschichte der Kunst, als eine[r] Darlegung und Erklärung des notwendigen Ursprungs der Kunst aus dem eigentümlichen Dasein und den natürlichen Umgebungen des Menschen«906. In Berlin hat Schlegel diese Klassifikation von Natur- und Kunstpoesie fortgeführt und deutlich erweitert. Während er letztere mit der Ausdifferenzierung der Gattungen beginnen lässt, unter die er die empirisch vorhandenen Einzelwerke subsumiert, deren Entwicklung historisch erschlossen werden kann, versucht er die Naturpoesie anthropologisch zu erklären. In diesem Zusammenhang spricht er von einer »Naturgeschichte der Kunst«: Naturgeschichte der Kunst ist eine Darlegung ihres nothwendigen Ursprunges und ihrer ersten Fortschritte aus den allgemeinen menschlichen Anlagen, und den Umständen, welche beym Erwachen des frühesten Menschengeschlechtes zu einiger geistigen Bildung eintreten mußten.907

Dem Anliegen der Frühromantiker dürfte dieser Gedankengang besonders insofern entgegenkommen, als er ganz in transzendentalphilosophischer Manier den »notwendigen Ursprung« von Kunst versucht aufzudecken. Dadurch wird Kunst nicht als zufälliges Produkt einer bereits fortgeschrittenen Entwicklungsstufe in der Menschheitsgeschichte betrachtet, sondern kann als dem Handeln wesentlich und mit der Ausbildung des menschlichen Geistesvermögens gleichursprünglich postuliert werden. Die Kunst lässt sich nur dann aus einer natürlichen Anlage des Menschen erklären – so wird die Argumentation fortgeführt – wenn sich der Mensch zur Hervorbringung dieser Kunst eines Mediums bedient, das ihm ebenfalls im Rahmen seiner angeborenen Fähigkeiten gegeben ist. Als ein solches ursprüngliches Darstellungsmedium definieren die Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts beständig die Anfänge sprachlicher Artikulation – sowohl akustischer als auch gestischer Natur. Auf diese Voraussetzungen stützt Schlegel seine Kunsttheorie: Sie [die Naturgeschichte der Kunst; Y. A.] kann folglich nur bey solchen Künsten Statt finden, deren Medium oder Werkzeug der Darstellung ein dem Menschen natürliches ist; alle Künste, deren Werkzeug ein künstliches ist, setzen Beobachtung der Natur und Akte der Willkühr zur Benutzung derselben voraus, welche nur historisch gegeben, nicht philosophisch abgeleitet werden können. Die natürlichen Medien der Kunst sind 905 A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 4. 906 Ebd., S. 4. 907 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 391.

Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik

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Handlungen, wodurch der Mensch sein Innres äußerlich offenbart, und dergleichen giebt es keine andere als Worte, Töne und Gebehrden.908

Ein solches Medium, das für Schlegel nur in Handlungen bestehen kann, »wodurch sich das Innere äußerlich offenbart«, sieht er in gestischer und akustischer Artikulation gegeben.909 Daraus ergibt sich, dass die Naturgeschichte der Kunst allein die Gattungen der »Poesie, Vokalmusik und mimische[n] Tanzkunst« kennt, die sich dieser natürlichen Medien bedienen.910 Weiterhin versteht Schlegel diese drei Künste als im Mittelpunkt der Poesie ursprünglich vereinigt. Damit hat seine Argumentation den Punkt erreicht, an dem die Poesie zur ursprünglichsten aller Künste erklärt werden kann und sich somit die Naturgeschichte der Kunst aus der Naturgeschichte der Poesie herleiten lässt. Da, wie gesagt wurde, die Kunst nur unter der Voraussetzung natürlichen Ursprungs sein kann, dass dies auf das von ihr verwendete Medium zutrifft – was im Falle der Poesie die Sprache ist – lässt sich der Beweis des natürlichen Ursprungs der Kunst durch eine Verlagerung der Fragestellung hin zum natürlichen Ursprung der Sprache führen.911 Damit hat Schlegel seiner Argumentation an dieser Stelle eine Wendung gegeben, die ihn auf das in der Forschung bereits gründlicher erschlossene Terrain der Sprachursprungstheorien zurückkehren lässt. In Berlin macht Schlegel unmissverständlich deutlich, warum die Sprache als das Medium der Poesie diese zur ursprünglichsten Kunstgattung qualifiziert: Das Medium der Poesie aber ist eben dasselbe, wodurch der menschliche Geist überhaupt zur Besinnung gelangt, und seine Vorstellungen zu willkührlicher Verknüpfung und Äußerung in die Gewalt bekömmt: die Sprache. Daher ist sie auch nicht an Gegenstände gebunden, sondern sie schafft sich die ihrigen selbst; sie ist die umfas-

908 Ebd., S. 392. Vergleicht man diesen Befund Schlegels mit der Ausgangsituation, mit der Herder seine Sprachursprungsschrift beginnen lässt, so wird deutlich, dass Schlegels anthropologischer Ursprung der Kunst noch vor dem Stadium beginnt, bei dem Herder den Beginn menschlicher Sprache markiert. Sprache, so hat sich gezeigt, setzt für Herder gerade Naturbeobachtung und willentlich angewandte Artikulationen voraus. Die spontane Artikulation innerer Empfindungen durch Töne und Gebärden hingegen – obwohl sie laut Herder am Anfang der Sprachentwicklung stehen – hat der Mensch noch mit den Tieren gemeinsam und kann daher noch nicht als Merkmal eigentlich menschlichen Sprechens betrachtet werden. Während Sprache für Herder also mit begrifflichem Denken beginnt, lässt Schlegel die Kunst noch vor die Sprache treten und erklärt sie damit zum ersten Instrument menschlicher Artikulation. Damit einher geht auch die Aufwertung der Empfindung als Quelle der ersten Sprache in Schlegels sprachtheoretischen Reflexionen. 909 A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 4. 910 Vgl. ebd., S. 4. Diese Annahme von den ersten Künsten lag, wie bereits dargestellt wurde, schon den Briefen zugrunde. Hier nun wird auf der Grundlage dieser postulierten ersten Kunstgattungen der neu eingeführte Begriff der »Naturgeschichte der Kunst« abgeleitet. 911 Vgl. ebd., S. 5.

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sendste aller Künste, und gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige UniversalGeist.912

In den Berliner Vorlesungen versucht er darüber hinaus, die Rolle der Sprache ausgehend von einem grundlegenden Verständnis des künstlerischen Schaffensprozesses zu erklären. Die »künstlerische Erfindung« bestimmt er als »wahre Schöpfung und Hervorbringung«. Dies bedeutet, dass der Entstehungsprozess eines Kunstwerks mit der durch freie Geistestätigkeit entwickelten Idee des Künstlers beginnt. Die materielle Gestaltung des Kunstwerks basiert auf dieser Idee und ist ihr nachgeordnet.913 Die Sprache ist dabei das genuine Medium, mit dessen Hilfe der Mensch seine geistigen Vorstellungen in einen empirischen Gegenstand überführt: Jeder äußren materiellen Darstellung geht eine innre in dem Geiste des Künstlers voraus, bey welcher die Sprache immer als Vermittlerin des Bewusstseyns eintritt, und folglich kann man sagen, daß jene jederzeit aus dem Schooße der Poesie hervorgeht. Die Sprache ist kein Produkt der Natur, sondern ein Abdruck des menschlichen Geistes.914

Das hier artikulierte Kunstverständnis ist an Fichtes Transzendentalphilosophie orientiert, deren Grundkonzeption besagt, dass Welt zunächst im subjektiven (reflektierenden) Bewusstsein vorhanden ist und erst im Akt des Setzens zu empirischer Wirklichkeit gelangt. Zur bewussten Erkenntnis dieses gesetzten Objekts, so wurde im Kapitel zu Fichte bereits eingehend erläutert, bedarf es einer Wechselwirkung, die zwischen Subjekt und Objekt vermittelt. Verwendete Fichte – der keine ausgearbeitete Sprachphilosophie entwickelt hat – zur Bezeichnung dieses vermittelnden Mediums den Bildbegriff, so rekurriert Schlegel auf die Sprache. Damit wird der Geist auch zum Urheber des Kunstprodukts. Mit Hilfe dieser Überlegungen lässt sich auch das im Jenaer Romantikerkreis entworfene Modell der Transzendentalpoesie erläutern: Man hat es höchst befremdlich und unverständlich gefunden, daß von Poesie der Poesie gesprochen worden ist; und doch ist es für den, welcher überhaupt von dem innren Organismus des geistigen Daseyns einen Begriff hat, sehr einfach, daß dieselbe Thätigkeit, durch welche zuerst etwas poetisches zu Stande gebracht wird, sich auf ihr Resultat zurückwendet. Ja man kann ohne Übertreibung und Paradoxie sagen, daß eigentlich alle Poesie, Poesie der Poesie sey ; denn sie setzt schon die Sprache voraus, deren Erfindung doch der poetischen Anlage angehört, die selbst ein immer wer-

912 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 387. 913 Hier zeigt sich offensichtlich idealistisches Denken wie Fichte es prägte, der in den ebenfalls für die Horen abgefassten Briefen über Geist und Buchstab in der Philosophie einen ähnlichen Gedanken entwickelt. Vgl. Teil A, Kap. I.2.2. 914 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 387.

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dendes, sich verwandelndes, nie vollendetes Gedicht des gesamten Menschengeschlechtes ist.915

Der hier nur knapp umrissene Gedankengang ist folgender : Die Bildung von Sprache beruht nach Schlegels Verständnis auf der »poetischen Anlage« des Menschen, sie ist somit Poesie (»das nie vollendete Gedicht des gesamten Menschengeschlechts«). Die eigentlichen poetischen Hervorbringungen, die in ihrer historischen Erscheinung als einzelne Werke der Dichtkunst und somit als Poesie bezeichnet werden, rekurrieren auf diese Sprache als ihr Darstellungsmedium. Folgt man aber dem Gedanken, dass die Sprache selbst bereits ein Produkt der Poesie sei, so bezieht sich die Poesie im engeren Sinne – als konkretes dichterisches Werk – indem sie mit Sprache operiert, auf ihr Produkt. Insofern kann Schlegel davon sprechen, Poesie sei immer schon »Poesie der Poesie«916. Schon hier wird deutlich, dass der von Schlegel verwendete Poesiebegriff auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt ist. Die Sprache als Poesie zu bezeichnen meint etwas allgemeineres, als diesen Terminus auf das konkrete Gedicht anzuwenden. Um diese Verwirrung zu klären, unterscheidet Schlegel innerhalb der Naturpoesie drei Entwicklungsstadien. In Anlehnung an die aus dem Klassizismus bekannten triadischen Geschichtsmodelle werden sie von ihm als »drei Stufen oder Bildungsepochen« bezeichnet. Diese Stufen unterscheidet er in »Elementarpoesie«, »Rhythmus« und »Mythologie«.917 Dass die nun im Vergleich zu dem frühen Text von 1795/6 neu hinzugekommene Mythologie in Zusammenhang mit dem Mythologie-Projekt seines jüngeren Bruders Friedrich918 gesehen werden muss, steht außer Frage. Als Elementarpoesie bezeichnet August Wilhelm Schlegel die Ursprache, die er zuvor als wesentlich poetisch bestimmt hat. In den ›natürlichen‹, motivierten Zeichen liefert sie die Grundbausteine poetischer Rede. In einem zweiten Schritt wird der poetischen Rede mit Hilfe des Rhythmus’ eine formale Gestalt verliehen. In der Definition der Mythologie als »Bindung und Zusammenfassung der poetischen Elemente zu einer Ansicht des Weltganzen«919 scheint der Gedanke einer Universalpoesie mitzuschwingen. Besonders wichtig für das romantische Kunstkonzept ist aber 915 Ebd., S. 388. 916 Begründet wird dies mit Hilfe eines Modells des menschlichen Geistes, das eng an Fichtes transzendentalphilosophischer Konzeption angelehnt ist, jedoch das poetische Vermögen als zentrales Element integriert. Dieses poetische Vermögen weist deutliche Züge des ästhetischen Triebes auf, wie Fichte ihn in seiner 1800 erschienenen Abhandlung Über Geist und Buchstab’ in der Philosophie bestimmt. 917 Vgl. KV, Bd. 1, S. 393. 918 Vgl. Friedrich Schlegels in seinem Gespräch über die Poesie enthaltene Rede über die Mythologie, in der die Neubegründung einer Mythologie gefordert wird. (KFSA, Bd. 2, S. 311 – 322). 919 KV, Bd. 1, S. 393.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

der Umstand, dass Interpretation von Welt als der Kunst wesentlich gedacht wird. Mit diesem Dreischritt hat Schlegel also eine Definition von Poesie vorgelegt, die sowohl ihr Medium, ihre formale Gestalt, als auch ihr inhaltlicher Bezug auf sämtliche Gegenstände des menschlichen Lebens und seiner Umwelt als ihr wesentlich bestimmt. Für Schlegel ist Poesie das »unentbehrlichste, erste, ursprünglichste in allem menschlichen Thun«920. Dieses wird nicht als göttliche Schöpfung, sondern als Produkt menschlichen Handelns betrachtet. So schreibt er : Ich möchte sagen, wenn dieser Ausdruck nicht dem Misverstande ausgesetzt wäre: die Poesie sey zugleich mit der Welt erschaffen worden. Der Mensch schafft sich aber seine Welt immer selbst, und da der Anfang der Poesie mit der ersten Regung des menschlichen Daseyns zusammenfällt, so ist auch jenes, philosophisch verstanden, buchstäblich wahr.921

Die Poesie soll nach dem Verständnis, wie Schlegel es mit dem Jenaer Romantikerkreis teilt, nicht als Teilbereich des menschlichen, kulturellen Lebens gelten, sondern sie wird zum grundlegenden Merkmal jeglichen menschlichen Handelns erklärt: »Eben weil die Poesie das allgegenwärtigste, das alldurchdringendste ist, begreifen wir sie schwerer, so wie wir die Luft, in welcher wir athmen und leben, nicht insbesondere wahrnehmen.«922 Diese Überlegung wird auf die Sprache als dem ursprünglichsten poetischen Produkt übertragen, denn, so Schlegel, »da die Poesie ursprünglich in der Sprache daheim ist, diese nie so gänzlich depoetisiert werden kann, daß sich nicht überall in ihr eine Menge zerstreute poetische Elemente finden sollten, auch bey dem willkürlichsten und kältesten Verstandesgebrauch der Sprachzeichen«923. Dieser Gedanke hat Folgen für die Beurteilung von poetischen Kunstwerken. Denn Schlegel ist es wichtig zu betonen, dass ein Text weder aufgrund seiner einzelnen Elemente noch hinsichtlich festgelegter Merkmale, etwa der Abfassung in Versen, als poetisch beurteilt werden kann.924 Sein Fazit aus diesen Überlegungen ist, dass das »Wesen der Poesie« weder über eine Begriffsbestimmung noch über die Definition von Eigenschaften zu bestimmen sei. Er versucht stattdessen, »die Poesie genetisch zu erklären, und sie auf den verschiedenen Stufen, welche sie von den ersten Regungen des Instinktes an bis zur vollendeten Künstlerabsicht, bis zum Werk, durchzugehen hat, begleiten.«925 Dass das formale, rein ästhetische Moment nicht losgelöst von der Poesie als 920 921 922 923 924

Ebd., S. 392. Ebd., S. 392 f. Ebd., S. 388. KV, Bd. 1, S. 389. Dabei verweist er besonders auf die für die Romantik so wichtige Gattung des Romans, dem er den poetischen Charakter nicht absprechen möchte. 925 KV, Bd. 1, S. 391.

Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik

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solcher verstanden werden darf, ist ein zentraler Gedanke in August Wilhelm Schlegels Poetik, der bereits aus seinem frühen Text Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache bekannt ist und durch den er sich von den Poetiken der Aufklärung zu unterscheiden versucht. So lässt er den allgemeinen Teil seiner Poetik in den Berliner Vorlesungen mit einem Passus enden, der das wesentliche Zusammengehören von Poesie und ihrer formalen Erscheinung betont: Die in den gewöhnlichen Poetiken hergebrachte Methode ist eine ganz andre. Da wird von der Diktion und dem Versbau, als dem letzten der Ausführung, erst am Schlusse gehandelt. Man nimmt an, sowohl die geforderte Bildlichkeit des Ausdrucks, als der Wohlklang der Verse sey ein bloßer Zierrath, ein Raffinement der müßigen und nach Genuß lüsternen Fantasie oder Sinnlichkeit; beydes wird der schon fertigen Poesie wie eine fremde Äußerlichkeit umgehängt, wodurch sie denn unausbleiblich zu einem bloß grammatischen und rhetorischen Exercitium herabgewürdigt wird […]. Durch unsre genetische Erklärung hingegen, werden wir zu der Einsicht gelangen, wie der Gebrauch dieser Mittel aus dem Wesen der Poesie von innen hervorgeht, und dadurch mit Nothwendigkeit bestimmt wird.926

Dieser Passus, der Schlegels Kritik an den zeitgenössischen Regelpoetiken widerspiegelt, denunziert im Bild der anthropomorphisierten »müßigen und lüsternen Phantasie« zugleich auch die Geringschätzung der menschlichen Einbildungskraft, die diesen Poetiken zugrunde liegt. In seiner eigenen Argumentation, die der formalen Gestalt der Poesie gebührend Rechnung zu tragen versucht, indem sie diese aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus begründet, ist es gerade die Phantasie als ein Moment der menschlichen Geistestätigkeit, die seine Argumentation trägt. Nachdem nun deutlich geworden ist, dass Schlegel seine Naturgeschichte der Kunst anhand der natürlichen Sprachentstehung darzulegen versucht, sollen im Folgenden seine Überlegungen zur Sprachphilosophie, wie sie sich in den beiden Vorlesungszyklen niederschlagen, näher betrachtet werden. Spielt in August Wilhelm Schlegels Beitrag für Schillers Horen vor allem die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Sprachursprungstheorien eine entscheidende Rolle, so gewinnen die Betrachtungen zu Sprache und Sprachentstehung in seinen wenige Jahre später gehaltenen Vorlesungen ein deutlich eigenes Profil. Er beginnt seine sprachtheoretischen Ausführungen in der Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst mit einer Reflexion über die grundlegende Funktion von Sprache als Medium der Mitteilung von Vorstellungen. Diese Beobachtungen führen ihn wieder zur Frage nach dem Ursprung der Sprache, den er im Folgenden unter Verweis auf die geläufigsten Sprachursprungstheorien diskutiert. Der Bezug auf diese Theorien fällt jedoch diesmal weit knapper aus als noch 926 Ebd., S. 393 f.

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im Horen-Beitrag. Schlegel leitet seine Überlegungen mit der Feststellung ein, dass er Sprache nicht als ab einem bestimmten Zeitpunkt gegeben definiert, sondern sie im Sinne einer creatio continua als fortlaufenden Entwicklungsprozess versteht.927 Zunächst betrachtet er solche Sprachtheorien, die den Ursprung der Sprache im menschlichen Geist verorten.928 Mit diesen übereinstimmend, versteht er die Sprache als dem Menschen kongenital. Dies bezieht sich jedoch lediglich auf eine angeborene Fähigkeit zur Sprachentwicklung, die es dem Menschen ermöglicht, selbstständig Sprache hervorzubringen.929 In einem nächsten Schritt nimmt er sich die Theorien vor, die die Sprachentstehung auf den (unwillkürlichen) Ausdruck von Empfindungen oder das Nachahmen sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände zurückführen – diejenigen Theorien also, die er durch ein Zusammenführen in den Briefen zur Grundlage seiner Sprach- und Poetikursprungstheorie machte. In seinen Vorlesungen wird ihnen diese positive Bewertung nicht mehr zuteil. Jetzt heißt es über sie: Andere Theorien halten sich zwar näher an die Natur, sind aber doch einseitig und unzulänglich: die Sprache sei aus dem thierischen Schrey der Empfindung, oder sie sey aus der Nachahmung der äußern Gegenstände, oder endlich, sie sey aus beyden zusammen entstanden. Nach der ersten wären die Interjectionen, die bloßen Ausrufe der Leidenschaften, nach der anderen die Onomatopöien, rohe Nachahmungen des Schalles, Grundlage der gesamten Sprache: und wie sie aus dieser Dürftigkeit ihre vielseitige Fülle entwickelt haben, ja wie sie nur überhaupt aus einem von beyden in eine andere Gattung übergegangen seyn soll, ist schwer zu begreifen.930

Hier offenbart sich am deutlichsten die Bruchstelle zwischen den Briefen und den sechs Jahre später gehaltenen Berliner Vorlesungen. Die von ihm selbst in den Briefen vertretene These, dass Sprache aus einer Kombination von darstellender Nachahmung und emotionalem Ausdruck hervorgegangen sei, wird nun verworfen. Stattdessen fügt sich an dieser Bruchstelle die entscheidende Neuerung in August Wilhelm Schlegels sprachtheoretisches Denken ein: Der Geistestätigkeit wird nun eine zentrale Bedeutung für die Sprachentwicklung beigemessen.931 Sowohl der Ausdruck von Empfindungen als auch die Nach927 Vgl. ebd., S. 396. 928 Vgl. ebd., S. 396. 929 Vgl. ebd., S. 396. Diese Überlegung nutzt er zugleich, um sich dezidiert gegen eine von Gott gegebene Sprache auszusprechen. Dabei widerlegt er seine Kontrahenten mit deren eigenem Argument – dem Verweis auf Gen 2,19 f. Durch eine präzise Lesart des biblischen Textes kann er aufzeigen, dass Gott Adam nicht die Namen für die Tiere vorgibt, sondern ihn allein auffordert, den Dingen selbst Namen zu geben. Dies spricht für eine göttlich gegebene Sprachfähigkeit, nicht für eine von Gott gegebene Sprache. Insofern ist auch das Argument nicht haltbar, im Hebräischen die Stammsprache aller Sprachen zu sehen. 930 KV, Bd. 1, S. 396 f. 931 Auch Claudia Becker weist knapp auf diese Akzentverschiebung in Schlegels Sprachtheorie hin. Vgl. Becker, Claudia: »Naturgeschichte der Kunst«. August Wilhelm Schlegels ästhe-

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ahmung von Gegenständen werden erst dann zu Sprache, wenn sie durch die Tätigkeit des menschlichen Geistes umgeformt werden: Wir haben bey Gelegenheit der Theorieen, welche alle Kunst auf Nachahmung zurückführen wollen, einen höheren Begriff von dieser aufgestellt, daß sie nämlich eine durch das Medium des menschlichen Geistes hindurchgegangene und mit dem Gepräge desselben bezeichnete Darstellung der Gegenstände, nicht ein knechtisches Copiren sey. Eben so haben wir bey der Musik die Empfindung in einer weniger materiellen Bedeutung als Prinzip derselben gerechtfertigt, nämlich als die allgemeine Beziehung der Vorstellung auf unsern Zustand, die Qualität des innern Sinnes. Wenn die beyden Worte, Empfindung und Nachahmung, so genommen werden, und nur dann, reichen sie innigst vereinigt, hin, die Entstehung der Sprache zu erklären.932

Verständlich wird diese Umorientierung in Schlegels Denken, wenn man berücksichtigt, dass zwischen dem Horen-Essay und den Berliner Vorlesungen die Jenaer Vorlesungen über philosophische Kunstlehre mit ihrer neuen Gewichtung der Kunsttheorie liegen. Obwohl diese selbst – wie sich gezeigt hat – die Sprachphilosophie zugunsten einer eingehenden Beschäftigung mit Kunsttheorien vernachlässigen, kann man gerade in den Problemstellungen, um die die hier besprochenen kunsttheoretischen Schriften kreisen, die entscheidenden Impulse erkennen, die eine Neuorientierung in seiner sprachtheoretischen Konzeption bedingten. In der Berliner Vorlesung werden einerseits diese kunsttheoretischen Überlegungen ausgebaut, andererseits werden die sprachtheoretischen Reflexionen des Horen-Essays wieder aufgegriffen. Indem Schlegel die Anordnung in den Berliner Vorlesungen gegenüber den Jenaer Vorlesungen umkehrt und nun die Kunsttheorie an den Anfang stellt, ist es ihm möglich, in seiner auf Sprachphilosophie basierenden Poetik auf die Überzeugungen der allgemeinen Kunsttheorie zu rekurrieren. Seine Poetik speist sich damit nun aus zwei Quellen, der allgemeinen Kunsttheorie und der Sprachphilosophie, die miteinander verknüpft werden. Es ist die Geistestätigkeit des Menschen, die Schlegel in dieser neuen Konzeption als notwendige Voraussetzung der Sprachfähigkeit hervorhebt. Zugleich ist sie es auch, wodurch sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Diese Beobtischer Ansatz im Schnittpunkt zwischen Aufklärung, Klassik und Frühromantik, München 1998, S. 62 f. 932 KV, Bd. 1, S. 397. Ähnlich heißt es in seinen Vorlesungen über Encyklopädie: »Doch theilen sie [die natürlichen Zeichen, Y.A.] sich wieder in solche, welche die natürliche Beziehung des Zeichens in die Nachahmung des Gegenstands, und in solche die es in den Ausdruck der Empfindung setzen. Auch diejenigen, welche, wie sichs gehört, beydes mit einander verbinden, räumen einem von beyden Stücken viel zu wenig Antheil ein […]. Ferner nehmen sie beyde Principien viel zu roh, den Ausdruck der Empfindungen als den thierischen Schrey ; die Nachahmung (richtiger Darstellung zu nennen) als ein eigentliches Nachäffen; da doch Sprache nur zu Stande kommen konnte, wenn gleich anfangs selbstthätiges freyes Bilden, wodurch der menschliche Geist allem, was durch seinen Geist hindurch gegangen ist, sein eigenthümliches Gepräge aufdrückt, wirksam war.« (KV, Bd. 3, S. 288).

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achtungen führen Schlegel auf das Feld der äußeren Wahrnehmung und inneren Vorstellungen – von Empirie und Dogmatismus – die in den kunsttheoretischen Kapiteln bereits diskutiert worden sind. Die damit zusammenhängende Problemstellung, dass das Kunstwerk eine sinnliche und eine geistige Dimension hat, löste Schlegel – wie bereits erläutert wurde – in den kunsttheoretischen Betrachtungen mit Hilfe des Symbolbegriffs. Dadurch, dass das Kunstwerk eine materielle Seite hat, zugleich aber auf eine geistige Idee bezogen ist, wird es zur symbolischen Erscheinung des Unendlichen im Endlichen. Dieser Begriff des Symbolisierens findet auch Anwendung in Schlegels poetologischer Sprachtheorie.933 Wie dieser Symbolbegriff – auch unter semiotischen Gesichtspunkten betrachtet – in Schlegels auf einer Sprachtheorie basierenden Poetologie relevant wird und welche Rolle gerade der Begriff des Bildes und des Bildlichen in dieser Sprachtheorie des Symbols spielt, soll im letzten Abschnitt dieses Kapitels untersucht werden. Zeichentheoretische Beobachtungen streut Schlegel verschiedentlich bereits in seinen Horen-Aufsatz ein. Wie Herder geht auch er von der gesprochenen Sprache als dem Sprachursprung aus, deren schriftliche Fixierung ein sekundäres Phänomen darstellt – dem er im Übrigen überhaupt keine Aufmerksamkeit schenkt. Für diese ersten Sprachzeichen vermutet auch Schlegel eine Ähnlichkeitsrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Er spricht in diesem Zusammenhang von motivierten Zeichen, Zeichen also, bei denen sich die Zeichenstruktur aus der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung des bezeichneten Gegenstands herleitet. Diese »natürlichen Zeichen« der Ursprache unterscheiden sich von jenen Begriffen der gegenwärtigen, »vom Verstande bearbeitet [en]« Sprache, die »den notwenigen Zusammenhange zwischen den Zeichen der Mitteilung und dem Bezeichneten«934 eingebüßt hat. Schlegel kennt zwei Formen der Entstehung erster Sprachzeichen: entweder es handelt sich um Laute, die eng an den unwillkürlichen phonetischen Äußerungen von Empfindungen (wie etwa Schmerzen, Freude, etc.) angelehnt sind, oder sie beruhen – wenn sie Gegenstände bezeichnen – auf deren Nachahmung. Beide Zeichenklassen subsumiert Schlegel unter dem Begriff des »natürlichen Zeichens«. Damit vereinigt er also nicht nur – wie sich bereits gezeigt hat – zwei verschiedene Sprachursprungs933 August Wilhelm Schlegel selbst hält in seinen späten Vorlesungen über Encyklopädie von 1803 über diese Entwicklung in seinem sprachtheoretischen Denken fest: »Ich habe mich viel mit Untersuchungen über das Wesen der Sprache beschäftigt, aber ich muß eingestehen, daß ich in den Aufsätzen welche ich darüber habe drucken lassen: Briefe über Sprache, Sylbenmaß und Poesie, zuerst in den Horen erschienen, dann in den Charakteristiken und Kritiken abgedruckt und ein Dialog: Die Sprachen im Athenäum, mich noch nicht genug von der psychologischen Ansicht habe losmachen, und zu den Prinzipien durchdringen können; wiewohl ich die symbolische Natur der Sprache wohl fühlte, und manches richtig bemerkte, was nur demonstrativer hätte vorgetragen werden sollen.« (KV, Bd. 3, S. 289). 934 A. W. Schlegel, Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache, KS, Bd. 1, S. 145.

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theorien (die, die den Beginn der Sprache bei der Artikulation von Empfindungen verortet, und jene, die ihn in der Nachahmung der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände sieht), sondern führt auch die beiden unterschiedlichen Verwendungsweisen des Begriffs vom natürlichen Zeichen zusammen.935 Diese beiden Formen verschmelzen im Horen-Essay noch zu Schlegels poetologisch gefärbter Sprachursprungstheorie. In Jena, wo er erstmals die Geistestätigkeit des Menschen als Voraussetzung für die Sprachentstehung betont, wird nun auch der Begriff des willkürlichen Zeichens problematisiert. So fällt in der Jenaer Vorlesung auf, dass Schlegel den Begriff des »willkürlichen Zeichens« nicht mehr allein bezogen auf die Zeichenstruktur versteht, sondern ihn auch mit Blick auf die Art der Zeichenverwendung durch den Menschen definiert: Die Zeichen sind auch das Mittel, die Eindrücke zu erneuern. – Vermöge des selbsttätigen Prinzips müssen sie willkürlich sein, der Mensch muß sie nach seiner Willkür wiederholen können; auf der anderen Seite müssen, da die Abhängigkeit von den Eindrücken noch so groß ist, die Zeichen notwendig und natürlich sein.936

Schlegel operiert hier mit einer Unterscheidung des Begriffs vom »willkürlichen Zeichen«, den er womöglich in Fichtes Sprachursprungsaufsatz gefunden haben dürfe, der ihm von seinem Bruder Friedrich zur Lektüre empfohlen wurde, wie aus einem Brief vom 23. Dezember 1795, den er von seinem Bruder erhalten hatte, bekannt ist.937 Dass dieses erweiterte Bedeutungsspektrum des Begriffs vom »willkürlichen Zeichen« in Zusammenhang mit Schlegels neuer Einsicht in die Notwendigkeit der freien Geistestätigkeit für eine mögliche Sprachentwicklung stehen dürfte, lässt sich auch an der Rede vom »selbsttätigen Prinzip« des Menschen ablesen, die sowohl die Jenaer als auch die Berliner Sprachtheorie prägt. Den Ursprung der Sprache verortet er nun in diesem »selbsttätigen Prinzip« des Menschen, in seiner Freiheit also: Das selbstthätige Prinzip nun, welches der thierischen Abhängigkeit entgegengesetzt ist, macht sich nur dadurch geltend, daß es Zusammenhang und Einheit in das Daseyn zu bringen sucht. Es vergleicht also die sinnlichen Eindrücke miteinander ; um verglichen zu werden, müssen sie coexistieren, dieß setzt folglich die Fähigkeit voraus, Eindrücke festzuhalten. Darin besteht nun eben das ursprüngliche Sprechen. Dasjenige, woran der Eindruck festgehalten wird, ist ein Zeichen.938 935 Vgl. besonders explizit A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 400, wo es heißt »Gerade wie es eine doppelte Art natürlicher Gebehrden giebt, ausdrückende und nachahmende, so ist es auch mit den Tonzeichen.« 936 A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 6. 937 Vgl. KFSA, Bd. 23, S. 263 f. 938 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 398, mit ganz ähnlichem Wortlaut in der philosophischen Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 6.

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Und er fügt mit kritischem Wink gegen die Sprachtheorien der Aufklärung hinzu: »Nur in diesem Sinne ist es wahr, daß Sprachfähigkeit und Vernünftigkeit einerley ist, und daß der Mensch ohne Sprache nicht hätte denken, noch allgemeine Begriffe bilden können […].«939 Schlegel propagiert hier eine ursprünglich mnemonische Funktion von Sprache im Gegensatz zu der seinerzeit weitverbreiteten Kommunikationsthese.940 Sprache ist also zunächst nicht nach außen gerichtet und so kann Schlegel hinsichtlich der freien Geistestätigkeit des Menschen als Ort des Sprachursprungs feststellen: »Das Sprechen ist also zuförderst eine innerliche Handlung«941. Gerade im Hinblick auf die Kommunikationsfunktion von Zeichen beachtet Schlegel jedoch auch den heterogenen Referenzbereich der Sprachzeichen. Sprache wird als Zeichensystem erfasst, mit dessen Hilfe auf Gegenstände verwiesen werden und sich über diese verständigt werden kann. Dabei hat Schlegel den unterschiedlichen Charakter dieser Gegenstände im Blick. Der einfachste Fall stellt das Reden über körperliche – und damit sinnlich wahrnehmbare – Gegenstände dar. Hier kann das ebenfalls sinnlich wahrnehmbare Sprachzeichen an der Erscheinungsweise des bezeichneten Gegenstands orientiert werden.942 Schwieriger stellt sich die Situation dar, wenn rein geistige Vorstellungen sprachlich benannt und kommuniziert werden sollen. Darüber hinaus unterscheidet Schlegel zwischen Namen, die Entitäten bezeichnen und solchen Wörtern, die einzelne Eigenschaften eines Gegenstandes benennen.943 Schließlich bleibt noch die Feststellung, dass sich mittels Sprache auch Prozesse und Verhältnisse beschreiben lassen und Sprache dem Menschen somit einen umfänglichen Zugriff auf die empirische wie geistige Welt ermöglicht.944 Der größere Teil der hier aufgezählten Gegenstände liegt außerhalb des akustischen Bereichs und damit außerhalb des Mediums der gesprochenen Sprache. Das Moment des selbsttätigen Handelns als notwendiger Bestandteil des Sprechens macht es möglich zu erklären, wie der Mensch für nicht akustisch wahrnehmbare Gegenstände phonetische Zeichen entwickeln konnte. 939 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 398. 940 Vgl. ebd., S. 397 f. Die von Schlegel verworfene Kommunikationsthese wird auch von Fichte in seinem Aufsatz zum Sprachursprung behauptet und so ist Ulrike Schenk-Lenzen zuzustimmen, dass Fichtes Sprachtheorie wohl nur geringen Einfluss auf Schlegels Nachdenken über Sprache ausgeübt haben dürfte. (Vgl. Schenk-Lenzen, Das ungleiche Verhältnis von Kunst und Kritik, S. 171 f.). 941 A. W. Schlegel, philosophische Kunstlehre, KV, Bd. 1, S. 6; ähnlich: Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 398. 942 A. W. Schlegel, Vorlesungen über schöne Literatur und Kunst, KV, Bd. 1, S. 394. 943 Die Worte für diese Merkmale werden den Eigenschaften gegeben, die »wir in Gedanken von den Dingen absondern« (KV, Bd. 1, S. 394), damit nimmt er auf die wichtigste Überlegung aus Herders Sprachursprungsschrift Bezug, wonach das Benennen von Dingen überhaupt erst mit der durch Reflexion erfolgenden Unterscheidung einzelner Merkmale einsetzt, vgl. Teil A, Kap. I.1.2. 944 Vgl. KV, Bd. 1, S. 394 f.

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Bei der hier zur Anwendung kommenden Methode handelt es sich um das Operieren mit Ähnlichkeitsbeziehungen. Da Schlegel aber von der phonetischen als der ursprünglichen Sprache ausgeht, kann sich eine unmittelbare Ähnlichkeit nur auf akustische Merkmale der Gegenstände beziehen und stößt notwendig schnell an ihre Grenzen: »Eine unmittelbare und eigentliche Ähnlichkeit haben Tonzeichen nur mit dem Hörbaren.«945 Für alle übrigen Gegenstände muss es eine andere Lösung geben: »Dasjenige also, was in andere Sinne fällt, muß durch vermittelte Ähnlichkeit bezeichnet [werden].«946 Schlegel unterscheidet zwei Varianten solcher vermittelter Ähnlichkeitsverhältnisse: Diese [Ähnlichkeiten, Y.A.] liegen entweder in Analogieen der Eindrücke auf die verschiedenen Organe, der Sanftheit, Starke, usw. Ein Blinder soll einmal die rothe Farbe mit dem Schall einer Trompete verglichen haben. Treffend genug! So wird das Rothe in vielen Sprachen durch den Buchstaben R bezeichnet, womit rauschen, rieseln, rasseln, qeeim, lauter Benennungen von Geräuschen anfangen. […] Man vergleiche mit roth das Wort blau, es ist wie die Farbe selbst der Gegensatz davon. – Oder aber, die Ähnlichkeit liegt in der Handlung oder Bewegung der Sprechorgane mit der dem Gegenstand zugeschriebenen: hiervon stammt eine große Familie analoger Sprachbezeichnungen ab. Z. B. die Verbindung des L mit einem andern Consonanten [bedeutet] leichte Bewegung: fließen, gleiten, wovon glatt. So bedeutet in vielen Sprachen st zu Anfange der Wörter ruhende Festigkeit, str angestrengte Kraft, spr plötzlich losbrechende usw.947

Hier bedient sich Schlegel Konzeptionen einer natürlichen Zeichenentstehung, die sich, wie im ersten Hauptteil gezeigt wurde, bereits in Platons Kratylos finden und die Jakob Böhme schließlich zur Grundlage seines mystischen Weltbilds macht. Durch das reflektierende Betrachten der sinnlichen Wahrnehmungen können die Gegenstände bezüglich ihrer – sie voneinander unterscheidenden und sie verbindenden – Eigenschaften verglichen werden. Die so herausgefilterten Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Gegenständen – das ist Schlegels These – spiegeln sich in den graduellen Übereinstimmungen der sie bezeichnenden Sprachzeichen wider. Um es konkreter auszudrücken: Bei Gegenständen, denen zum Beispiel die Eigenschaft einer »plötzlich losbrechenden Kraft« gemeinsam ist, spiegelt sich diese Gemeinsamkeit in der Anfangssilbe »spr«, die ihren sprachlichen Bezeichnungen ebenfalls gemeinsam ist.948 Zum Teil ist diese Lautfolge dabei wiederum an der Analogie zwischen den Modulationen der Sprechorgane und den bezeichneten Vorgängen orientiert. 945 946 947 948

Ebd., S. 400. Ebd., S. 400 f. Ebd., S. 401. Schlegel dürfte hier an Worte wie »sprudeln«, »spritzen«, »springen«, »sprießen« gedacht haben.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

August Wilhelm Schlegel greift mit dieser Argumentation eine These über die Konstitution von Bedeutung durch das sprachliche Zeichen auf, die deutlich in der Mystik angesiedelt ist. Denn anders als die Vorstellung vom ikonischen (Schrift-)zeichen, wonach die hieroglyphische Zeichenentstehung in der bildnerischen Nachahmung der sinnlich (vorzugsweise visuell) wahrnehmbaren Seite des Gegenstands verortet wird, versucht dieser Ansatz auch die gegenwärtig verwendeten Sprachzeichen – die im ikonischen Ansatz als arbiträre Buchstabenschrift abgetan werden – ebenso als motiviert zu betrachten. Ein solcher Erklärungsversuch hat notwendig zur Folge, dass strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen allen Bereichen der empirischen und geistigen Welt angenommen werden, die sich folglich auch über die Signifikanten und ihre Signifikate erstrecken. Das eigentliche Problem der Sprache wird hier jedoch erst vorbereitet: Die Erweiterung der Sprache setzt also schon in der sinnlichen Region eine ununterbrochne Kette von Vergleichungen voraus. Allein der Mensch muß dahin kommen, auch dasjenige durch Sprache bezeichnen zu wollen, was in keiner sinnlichen Anschauung gegeben werden kann. Hier scheint er also in einer Kluft zu stehen, über die er, nach Ansicht des Verstandes, nur durch einen tödlichen Sprung müßte hinüber gelangen können.949

Schlegel skizziert hier eine Problematik, die vor allem dem Denken in den Kategorien einer Zwei-Substanzen-Lehre geschuldet ist: Denn welche Ähnlichkeit, welche Verwandtschaft hat das Körperliche mit dem ihm geradezu entgegengesetzten Geistigen? Indessen, es gelangt nicht nur hinüber, sondern der Übergang geht mit aller Bequemlichkeit vor sich, er überbaut den Zwischenraum mit einer Brücke, die nirgends Stätigkeit des Zusammenhangs vermissen läßt. Wie ist dieß möglich? Nur dadurch, daß dem Menschen eine dunkle Ahnung von der Einheit dessen beywohnt, was der Verstand trennt, nämlich des sinnlichen und geistigen Theils seiner Natur. Dies berechtigt und treibt ihn, nicht bloß sinnliches unter einander, sondern auch mit unsinnlichem zu vergleichen, und so muß das Handgreiflichste endlich zum Zeichen für die sublimierteste geistige Anschauung dienen. So wird in der Sprache alles Bild von allem, und dadurch wird sie eine Allegorie auf die durchgängige Wechselwirkung oder aus einem noch höheren Gesichtspunkte betrachtet, der Identität aller Dinge.950

Den Leib-Seele-Dualismus denunziert Schlegel hier als ein Produkt des menschlichen Verstandes, dem er ein monistisches Welt- und Menschenbild gegenüberstellt. Die Sprache – und damit die Kunst – bedarf dieser Ahnung der Einheit als ihrer Grundlage, da sie das Reden von rein geistigen Dingen erst ermöglicht. Zur Darstellung rein geistiger Vorstellungen steht zunächst nur ein 949 KV, Bd. 1, S. 401. 950 Ebd., S. 401.

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Set von Zeichen zur Verfügung, deren Zeichenstruktur – nach dem Modell der Zeichenentstehung durch Nachahmung – an sinnlich wahrnehmbaren Gegenständen orientiert ist und diese denotiert. Diese Zeichen müssen – Ähnlichkeitsbeziehungen gemäß – als Metaphern auf geistige Perzeptionen angewandt werden. Interessanterweise führt Schlegel das Funktionieren solcher Metaphern dabei in seinem Text geradezu exemplarisch vor, indem er das Vermögen der tropischen Redeweise, den Leib-Seele-Dualismus durch eine Verknüpfung geistiger Vorstellungen mit sinnlichen Anschauungen zu überwinden, selbst wiederum metaphorisch als Brücke über eine Schlucht beschreibt. Was in der Sprache passiert – das In-Beziehung-Setzen von sinnlichen und mentalen Gegenständen – versteht August Wilhelm Schlegel allerdings nicht als Notbehelf, sondern als Abdruck der tatsächlichen Verhältnisse unter den Dingen. Durch die Anwendung der rhetorischen Tropen wird die Sprache zur Allegorie für die »durchgängige Wechselwirkung« aller Dinge. Alles steht mit allem in Beziehung und wenn es eine solche universale Verknüpfung aller Dinge untereinander in der Welt gibt, so bedeutet dies letztlich nichts anderes als deren universale Identität. Die hier von Schlegel beschriebene Funktion der Sprache als Band zwischen geistiger und empirischer Sphäre kann wiederum nur aus ihrer poetischen Gestalt erklärt werden: »Es baut sich nun also in der Sprache über der ersten Darstellung der Sinnenwelt eine zweyte unserer unsinnlichen Anschauungen, und das Band zwischen beyden ist die Metapher.«951 Wieder gelingt es Schlegel, den Ursprung der Sprache notwendig in der Poesie zu verankern. Für diese Methode der sprachlichen Bezeichnung mit Hilfe von Ähnlichkeitsbeziehungen verwendet er einen eigenen Begriff: den des Symbolisierens.952 Mit dem Symbol greift Schlegel in seiner Sprachtheorie auf den gleichen Begriff zurück, den er Schellings Definition der Kunst ergänzend beigegeben hat. Seine Definition der Kunst als »symbolische Darstellung des Unendlichen« wird auch in der Sprache als dem ursprünglichsten Medium der Kunst eingelöst. So ist es genau jenes Moment des Symbolisierens, welches die Sprache – da es ihre ursprüngliche Form darstellt – zugleich ursprünglich zur Poesie macht. Ausgehend von den verschiedenen Sprachursprungstheorien, die Schlegel in Berlin auf solche Weise miteinander harmonisiert, dass die Geistestätigkeit des Menschen und die Nachahmung sinnlich wahrnehmbarer Gegenstände erst in ihrem Zusammenspiel zur Grundlage der menschlichen Sprachentstehung werden, gelingt es ihm – indem er diese Verbindung von geistigem und materiellem Element auch auf das Verhältnis von Semantik und Zeichenform überträgt – eine 951 Ebd., S. 402. 952 Vgl. ebd., S. 402.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

eigene Sprachtheorie zu entfalten, die mit einer Symboltheorie koinzidiert. Schon an dem Umstand, dass Schlegel sowohl seine Kunsttheorie als auch seine Sprachtheorie zu einer Symboltheorie macht, kann beobachtet werden, dass er Kunst und Sprache aufs engste miteinander verwoben sieht. Mit der Verwendung des Symbolbegriffs steht August Wilhelm Schlegel unter seinen Zeitgenossen nicht allein. Symboltheorien hatten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Konjunktur, sowohl auf erkenntnistheoretischem wie auf kunsttheoretischem Gebiet.953 Mit Blick auf die Fülle konkurrierender Symbolkonzeptionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellt sich die Frage, was das Spezifische der Schlegelschen Symboltheorie ist. Ein zentrales Moment besteht darin, dass er seine Symboltheorie nicht nur im Rahmen einer Kunsttheorie entfaltet, sondern sie zugleich auch von der Sprachtheorie herkommend entwickelt. Der Prozess des Symbolisierens wird bei der Sprachentstehung notwendig in Gang gesetzt, denn er nimmt seinen Ausgangspunkt bei der »Kette von Vergleichungen«, die es erst möglich macht, Gegenstände aus anderen als dem akustischen Bereich zu bezeichnen. Dieses Vergleichen in der Sprache aber ist nichts anderes als die Grundlage der wichtigsten rhetorischen Tropen. So ist es die metaphorische Sprache, in der sich das »symbolisierende Vermögen« zuallererst manifestiert: Die oben bereits zitierte Aussage über die Metaphorik ist in eine längere Textpassage über das »symbolisierende Vermögen« eingebettet, die es als Ganzes zu betrachten lohnt: Es baut sich nun also in der Sprache über der ersten Darstellung der Sinnenwelt eine zweyte unserer unsinnlichen Anschauungen, und das Band zwischen beyden ist die Metapher. Die Bildlichkeit, das Bezeichnen durch Vergleichung, trat zwar schon in jener ersten Sphäre ein, aber hier thut sich erst das volle Bewusstsein des symbolisierenden Vermögens in uns hervor, durch dessen willkürlichen absichtlichen Gebrauch alsdann aus den poetischen Elementen der Ursprache eigentliche Poesie gebildet wird.954

Die Bezeichnung durch Vergleichen, auf dem sowohl das »symbolisierende Vermögen« als auch die daraus hervorgehende Poesie beruht, wird erst durch die Bildlichkeit möglich. Mit einer rein abstrakt-begrifflichen Sprache ließe sich kein umfassendes, symbolisches Relationsgefüge zwischen den Gegenständen etablieren; nur das Konkrete der Bildlichkeit erlaubt den Vergleich und das Herstellen von Ähnlichkeitsbeziehungen. Im Rahmen des Sprachentstehungsprozesses versteht Schlegel die Entwicklung tropischer Redeweise allerdings als 953 Die wichtigsten Symboltheorien des 18. Jahrhunderts, die Eckard Rolf in seiner Monographie »Symboltheorien« vorstellt, verteilen sich ausschließlich auf die beiden Rubriken des erkenntnistheoretischen und des kunsttheoretischen Symbolbegriffs. (Vgl. Rolf, Eckard: Symboltheorien. Der Symbolbegriff im Theoriekontext, Berlin 2006). 954 KV, Bd. 1, S. 402.

Gleichursprünglichkeit von Bild und Sprache – A. W. Schlegels Poetik

325

ein Hilfsinstrument, das in Ermangelung begrifflicher Signifikationen herangezogen wird. Soweit bewegt sich Schlegel noch gänzlich im Argumentationsrahmen William Warburtons. In der Poesie aber wird diese Weise der Bezeichnung von ihrer funktionalen Gebundenheit gelöst und im »freien Spiel« gebraucht: Die Tropen und Metaphern, der schönste Schmuck des poetischen Styls, waren demnach anfänglich Notbehelf, wegen der Armuth der Bezeichnung. So verhält sich überhaupt die künstliche Ausbildung der Künste zu ihrem natürlichen Ursprunge: es ist immer der Fortgang vom Bedürfnisse zum freyen Spiele.955

Gerade aber weil die tropische Bezeichnungsweise in den Anfängen der Sprache unumgängliches Hilfsmittel auf dem Weg zu einer begrifflichen Sprache ist, ist sie Beleg für die ursprünglich poetische Gestalt der Sprache: Durch alles Obige ist erwiesen, daß die Onomatopöie, die Metapher samt allen Arten von Tropen, und die Personification, Redefiguren, welche die Kunst-Poesie geflissentlich sucht, in der Ursprache von selbst, ja mit unumgänglicher Nothwendigkeit einheimisch, ja im höchsten Grade herrschend sind, worin eben die im Ursprunge der Sprache angekündigte Elementarpoesie liegt.956

Die Tropik ist für die von Schlegel beschworene Symbolik geradezu konstitutiv. Die durch die Symbolik vermittelte Einheit der Dinge hängt von deren bildlicher Darstellungsform ab. Bemächtigt sich der Verstand den ursprünglich tropischen Zeichen und überführt er sie in eine rein abstrakt-begriffliche Verwendungsweise, so wird dadurch zugleich ihr symbolisches Potential zerstört: Die Ableitung der Wörter wird durch den Verlauf der Zeit unkenntlich, indem sie selbst sich nach der Bequemlichkeit der Sprechenden [richtet], jene Symbolik, jener allgemeine Schematismus der Fantasie, muß den strengeren, aber todten Bestimmungen des Verstandes weichen: und so wird im Fortgange der Cultur die Sprache aus einer Einheit lebendiger Bezeichnung in eine Sammlung willkührlicher conventioneller Zeichen verwandelt erscheinen.957

Mit der Tropik wählt August Wilhelm Schlegel einen Aspekt als Grundlage für seine Symboltheorie, der in den wichtigsten philosophischen Symboltheorien der Zeit gerade in den Hintergrund tritt. Da andere zeitgenössische Philosophen ihre Symboltheorie nicht von der Sprachtheorie her begründen, nimmt die Tropik darin einen entsprechend untergeordneten Stellenwert ein.958 Umgekehrt

955 956 957 958

Ebd., S. 402. Ebd., S. 403. Ebd., S. 404. Vgl. Titzmann, der konstatiert: »Alles, was nur für einzelne Kunstformen gilt, rangiert, wie etwa die Tropentheorie, die nur die sprachliche Kunst betrifft, in der terminologischen Hierarchie weit unten und findet geringes Interesse.« (Vgl. Titzmann, Michael: Allegorie

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

erscheinen Symbol und Allegorie etwa bei Schiller als zwei miteinander konkurrierende Tropen. Für Schlegel hingegen ist das symbolisierende Vermögen eine übergeordnete Kategorie, die die Funktionsweise der Tropik allgemein beschreibt. Für August Wilhelm Schlegels Symboltheorie ist zweierlei charakteristisch: Zum einen ist der Symbolbegriff bei ihm nicht in eine Begriffsreihe integriert, sondern fungiert als übergeordnete Kategorie für die unterschiedlichen rhetorischen Tropen. Zum anderen ist das Verhältnis zwischen Symbol und Symbolisiertem keine zweigliedrige Relation, sondern sie wird als multirelationales Gefüge wechselseitiger Beziehungen gedacht. Durch dieses Verständnis nähert es sich mystisch-kabbalistischen Sprach- und Symboltheorien an, die von einer ursprünglichen, universalen Einheit aller Dinge in der Welt ausgehen. Mit seiner Symboltheorie geht Schlegel damit deutlich über die semiotischen Konzepte der philosophischen Sprachursprungstheorien hinaus und wagt sich auf das Terrain mystischer Sprachspekulation vor. Die Möglichkeit, eine solche Vernetzung aller Gegenstände untereinander mit Hilfe des Symbols zu denken, liegt – so lässt sich rekonstruieren – im bildhaften Charakter der tropischen Sprache begründet. Da Schlegel dieses Denken in einer Kunsttheorie verortet, gewinnt der bildliche Aspekt der sprachlichen Tropen gegenüber der mystischen Buchstabenspekulation an Bedeutung. Weil die Tropen in ihrer Bildlichkeit die komplexe Merkmalsstruktur eines Gegenstands benennen, zugleich in ihrem eigentlichen Bildgehalt immer auch über die Eigenschaften des bezeichneten Gegenstands hinausweisen, lässt sich ein vielschichtiges Symbolgefüge denken. Ein weiteres Moment geht mit der Rezeption mystischen Sprachdenkens einher : Indem die tropische Sprache mit Hilfe ihrer Bildlichkeit materielle und mentale Gegenstände zueinander in Beziehung setzt und eine unendliche, multirelationale Verknüpfung unter diesen aufbaut, bildet sie damit, so Schlegels These, die tatsächlichen Verhältnisse der Welt ab, die durch den Verstandesgebrauch allein nicht erkannt werden können. Die Worte und Bilder, als Symbole gedacht, werden damit ihrer rein zeichensystemimmanenten Funktion enthoben und als Weltdeutungsmodell etabliert. Nicht zuletzt dient Schlegel dieses Argumentationsschema auch dazu, die konstitutive Bedeutung des rein formalen Elements der Poesie – der Verslehre und Rhetorik – zu begründen. Diese Intention, die bereits die Briefe über Poesie, Sprache und Silbenmaß bestimmte, hat sich bis in die Berliner Vorlesungen durchgehalten. Die formale Gestalt der Poesie, die Schlegel in den Briefen als ein ihr wesentliches Merkmal zu bestimmen versucht, wird in dem späteren Kon-

und Symbol im Denksystem der Goethezeit, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hrsg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 642 – 665, hier S. 649).

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

327

zept des Symbolisierens zur Grundlage seiner Symboltheorie, die Schlegel zu einem Modell universaler Weltdeutung erweitert.

2.

Wort und Bild als Paradigmen der Weltdeutung – Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

Friedrich Schlegels Überlegungen zur Sprache setzen relativ spät ein. Erst nach der Jenaer Phase des Frühromantikerkreises datieren die ersten bedeutenderen Notizen und Abhandlungen über sprachtheoretische oder sprachphilosophische Fragestellungen.959 Diesem Umstand dürfte es wohl auch geschuldet sein, dass in Friedrich Schlegels Nachdenken über Sprache die geläufigen sprachtheoretischen Paradigmen des 18. Jahrhunderts kaum noch Niederschlag finden. Weisen die – in der Frühphase vor 1800 datierenden – sprachtheoretischen Abhandlungen des älteren Bruders August Wilhelm noch eine deutliche und relativ eingehende Auseinandersetzung mit den aktuell diskutierten Sprachursprungstheorien auf, so werden die in den Sprachursprungsdebatten angeführten Argumente von Friedrich allenfalls noch gestreift. Diese relativ spät einsetzende intensivere Beschäftigung mit Fragen der Sprachtheorie scheint sich auf Friedrich Schlegels Nachdenken über Sprache äußerst positiv ausgewirkt zu haben. Statt verspäteter Nachzügler zu sein, der bereits vorgebrachte Argumente allenfalls repetitorisch aufarbeiten kann, eröffnete sich der jüngere Bruder durch diesen Umstand die Freiheit, auf ganz neue Weise über Sprache nachzudenken. Friedrich Schlegel hat nie eine eigene, zusammenhängende Sprachtheorie entwickelt,960 noch hat er je eine selbstständige sprachtheoretische Abhandlung verfasst. Diese grundlegende Feststellung soll den nachfolgenden Ausführungen über Sprache und Bild bei Friedrich Schlegel vorangeschickt werden. Allerdings – und das bleibt ebenso wichtig zu betonen – bedeutet dies nicht, dass er nichts 959 Eine Ausnahme bilden die beiden an seinen Bruder August Wilhelm gerichteten Briefe, die auf dessen sprachtheoretische Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache Bezug nehmen. Diese Briefe stellen aber in erster Linie eine Rückmeldung an den Bruder bezüglich seiner Texte dar und entwickeln ihre Gedanken im Rahmen der Auseinandersetzung mit den sprachtheoretischen Reflexionen derselben. Ihre Relevanz innerhalb der sprachphilosophischen Reflexionen Friedrich Schlegels wird meines Erachtens von Ernst Behler deutlich überschätzt. Vgl. Behler, Ernst: Die Sprachtheorie in Friedrich Schlegels frühen Schriften (1795 – 1803), in: Idealismus mit Folgen. Die Epochenschwelle um 1800 in Kunst und Geisteswissenschaften. Festschrift zum 65 Geburtstag v. Otto Pöggeler, hrsg. v. Hans-Jürgen Gawoll u. Christoph Jamme, München, 1994, S. 75 – 86. Auf die erwähnten Briefe Friedrich Schlegels wird dieses Kapitel später nochmals ausführlicher zurückkommen. 960 Vgl. hierzu auch Nüsse, Heinrich: Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, Heidelberg 1962, S. 11 f.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Wesentliches über Sprache gesagt hätte oder Sprache in seinen Schriften keine zentrale Rolle gespielt hätte. Ebenso vielschichtig, wie sein gesamtes Œuvre, ist auch seine Sprachtheorie. Philosophische, poetologische aber auch kabbalistisch-mystische Gedanken finden ihren Niederschlag.

2.1

Begriffe und Bilder – Friedrich Schlegels Überlegungen zum Sprachursprung

Als Einstieg soll eine Betrachtung dieser in Anzahl und Ausführung zwar knappen, aber dennoch vorhandenen Äußerungen Friedrich Schlegels zu den geläufigen Sprachtheorien seiner Zeit dienen. Schlegels wenige und recht oberflächlich bleibende Auseinandersetzungen mit den kanonischen Sprachursprungstheorien des 18. Jahrhunderts finden sich allein in den beiden – dessen ungeachtet in der Forschung vielzitierten – Briefen, die er mit seinem Bruder in der Zeit austauschte, als August Wilhelm an seinen sprachtheoretischen Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache arbeitete sowie in einigen Bemerkungen recht allgemeiner Natur, die seinen vielfältigen – und zweifelsohne intensiven – Beschäftigungen mit historischer Sprachentwicklung eingefügt oder vorangestellt sind. Hier dienen sie aber meist zu nicht viel mehr als dazu, seine eigene Position gegenüber den traditionellen Theorien abzugrenzen und so zu verdeutlichen, auf welchen Grundannahmen die nachfolgenden historischen Sprachstudien fußen.961 Die Überlegungen zur Sprache, die Friedrich Schlegels Brief vom 23. Dezember 1795 an seinen älteren Bruder August Wilhelm zu entnehmen sind, gelten als seine frühesten Äußerungen zur Sprachtheorie.962 Gegenstand der Korrespondenz mit dem zu dieser Zeit in Amsterdam weilenden Bruder sind August Wilhelms sprachtheoretisch-poetologische Briefe über Poesie, Silbenmaß und Sprache. Insofern Friedrich seinem Bruder kritische Rückmeldung über dessen im Entstehen befindlichen Text gibt, greift auch er die Thematik der Sprachtheorie auf. Friedrich Schlegels Nachdenken über Sprache ist also im Rahmen dieser kritischen Bezugnahme auf den Text des Bruders zu sehen. Thema und methodische Ansätze sind also durch den Text, über den gesprochen wird, bereits vorgegeben. Auf Fragestellungen, die der Text des Bruders einmal ins Spiel gebracht hat, muss er in Form einer Stellungnahme reagieren. Dies ist zu berücksichtigen, wenn man die sprachtheoretischen Reflexionen dieses 961 Obwohl diese Arbeiten zur historischen Sprachwissenschaft nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein werden, sollen sie an dieser Stelle dennoch Erwähnung finden, um zu verdeutlichen, wie vielfältig Schlegels Beschäftigungen mit Sprache waren. 962 Vgl. Behler : Die Sprachtheorie in Friedrich Schlegels frühen Schriften (1795 – 1803), S. 80 f.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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Briefes untersucht. Wie sich im vorhergehenden Kapitel gezeigt hat, versucht August Wilhelm Schlegel in seinen Briefen die Sprache als Ursprungsort der Poesie zu erweisen und die Verbindung musikalischer, gestischer und sprachlicher Ausdrucksformen an den Beginn der Sprachentstehung zu setzen. Zur Betonung der poetischen Facetten der Sprache hebt er die Bedeutung der Empfindung für die Sprache hervor. Mit diesen beiden Aspekten setzen auch die Ausführungen Friedrichs ein. Er bestätigt zunächst die Meinung des Bruders, dass in den meisten theoretischen Abhandlungen den Empfindungen dem Verstand gegenüber zu geringe Bedeutung für die Sprachentstehung eingeräumt wird. Er erklärt diese Einseitigkeit, die sich bei den meisten Sprachtheoretikern der Zeit beobachten lässt, mit einem hämischen Verweis auf deren Persönlichkeit: Alle diese Gelehrte, Forscher, Denker und Vernünftler haben mehr oder weniger doch einigen Sinn für das Intellektuelle und Charakteristische. Aber unter hunderten dieses Geschlechts hat kaum einer auch nur ein Organ für die musikalische Seite des Universums.963

Schon hier deutet sich Friedrich Schlegels Bestreben an, eine Verbindung zwischen Philosophie und Poesie zu etablieren, die für sein weiteres Sprachdenken noch von zentraler Bedeutung sein wird. Das hier antagonistisch verwendete Begriffspaar von »musikalisch« und »charakteristisch« behält er im Verlauf des Briefes bei, um die beiden ursprünglichen Handlungen zu beschreiben, aus denen sich die Sprachentstehung seinem Verständnis nach speist. Dabei rekurriert er auf die Bestimmung dieser beiden Handlungen als Nachahmung einerseits und Ausdruck von Empfindungen andererseits, wie der Bruder sie aus den geläufigen Sprachursprungstheorien übernimmt. So schreibt er : Ich gehe gleichfalls von dem Satze aus daß die Sprache aus musikalischen Bestandtheilen (Aeußerungen innrer Zustände) und charakteristischen (Nachahmung äusserer Gegenstände) zusammengesetzt ist. – Aller Schall ist von zweifacher Art a) Der bewegte Gegenstand enthält nicht den Grund der schallenden Bewegung; er ist physisch. b) er enthält ihn. Die Wirkung entspricht dem Wirkenden.964

Musikalisch steht im Sprachgebrauch Friedrich Schlegels hier für die emotionale Komponente, charakteristisch hingegen für die Ebene des Verstandes. Ersteres möchte auch er für die Sprachtheorie fruchtbar machen: »Bis ietzt fehlt es an einer aesthetischen Theorie der musikalischen Qualität – nicht zum Vorheil der Philosophie der Sprache! Denn hier glaube ich den gewiss sehr tief liegenden Grund des Reims entdeckt zu haben.«965 Reim und Silbenmaß als der Poesie 963 Friedrich Schlegel: Brief an A. W. Schlegel, 23. 12. 1795, KFSA, Bd. 23, S. 264. 964 Ebd., S. 264. 965 Ebd., S. 264.

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wesentliche Elemente versucht auch der ältere Bruder in seinen Briefen aus der musikalischen Qualität der Sprache herzuleiten. Schlegel argumentiert auch hier mit dem Antagonismus vom Schönen und Interessanten wie er auch aus dem Studium-Aufsatz bekannt ist. Wohl in Auseinandersetzung mit Fichtes Aufsatz Über den Ursprung der Sprache, den er seinem Bruder im gleichen Brief zur Lektüre anempfiehlt, fügt Friedrich Schlegel noch einige Überlegungen zu tierischen Lauten an. Zwar schließt er eine eigene Form gerichteter tierischer Laute beim Menschen aus: »Von dem Menschen kann man nicht sagen, daß er ein eignes thierisches Geschrey habe; denn unbestimmte Bestimmbarkeit ist Æebenæ der Unterschied s.[einer] Thierheit von der Æderæ andern Thiere, welche eine bestimmte Richtung haben.«966 und orientiert sich mit der Rede von der »unbestimmten Bestimmbarkeit« wohl im weitesten Sinne an Herder, der in seiner Sprachursprungsschrift davon spricht, dass das Handeln des Menschen auf die gesamte Sphäre seiner weltlichen Umgebung gerichtet und damit weniger bestimmt ist als jenes der Tiere.967 Dennoch nimmt er auch beim Menschen die Verwendung tierischer Laute an: »Allein man kann dem Menschen, weil er die Macht hat zu schreyen wie er will, doch nicht das Vermögen thierischer Laute absprechen.«968 Diese Äußerungen spiegeln deutlich die kritische Auseinandersetzung mit Fichtes These wider, wonach die Sprache von ihren ersten Entwicklungsstufen an als Bezeichnung von Gedanken bestimmt wird.969 Friedrich Schlegel hingegen schreibt: Diese thierischen Laute scheinen mir die Grundlage der Sprache, Bezeichnung und menschliche Stimme Frucht langer Uebung und späterer Bildung. Würde es eine Sprache geben, wenn es keine Neigung zum sprechen – keine organische Tendenz thierischer Laute gäbe? Was erwacht eher, Empfindung oder Verstand? Ehe man das Zischen Kappen u.s.w. Ædurch ähnliche Lauteæ bezeichnen konnte, mußte man schon diese Laute bis zur Fertigkeit geübt haben.970

Gegen Fichtes einseitige – an der kantischen Bestimmung des Menschen als Vernunftwesen orientierte – Herleitung der Sprachentstehung aus der Verstandestätigkeit des Menschen betont Friedrich Schlegel hier in Übereinstimmung mit den Texten seines Bruders den Ausdruck von Empfindungen als Grundlage der menschlichen Sprachfähigkeit. Diese Ausdrucksqualität der

966 Ebd., S. 264 f. 967 Vgl. Herder, Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in: ders.: Werke Bd. 1, S. 713 f., vgl. hierzu auch Teil A, Kap. I.1.2. 968 KFSA, Bd. 23, S. 265. 969 Vgl. Fichte, Von der Sprachfähigkeit, Vgl. hierzu auch Teil A, Kap. I.2.3. 970 KFSA, Bd. 23, S 265.

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Sprache ist es letztlich auch, die im Fokus des romantischen Interesses an Sprache als poetischem Darstellungsmittel steht. Zusammenhängend äußert sich Friedrich Schlegel noch einmal über den Ursprung der Sprache im Rahmen seiner 1808 erschienenen Schrift Über die Sprache und Weisheit der Indier. Dieser Text ist eine jener Schriften Schlegels, in denen sich sein historischer Zugang zur Linguistik zeigt und es sind jene Texte, weshalb er als einer der Wegbereiter der historischen vergleichenden Sprachwissenschaft gilt.971 Diese Schrift, in der es zwar in erster Linie um das Sanskrit geht,972 enthält zugleich jedoch auch eine Fülle von auf empirischen Befunden beruhenden Annahmen und – wenn auch meist noch recht spekulativ bleibenden – Ausführungen über die historische Entwicklung und Relation der verschiedenen positiven Sprachen. Dennoch ist ihr auch ein theoretisches Kapitel über Sprachursprungstheorien beigegeben. Die Argumente, mit denen sich Schlegel hier von den geläufigen Sprachursprungstheorien distanziert und deren Argumentationsweise ganz grundlegend in Frage stellt, sind jenem empirisch-historischen Sprachdenken geschuldet. So lässt Schlegel das Kapitel mit der Klarstellung beginnen: Es würden die Hypothesen über den Ursprung der Sprache entweder ganz weggefallen sein, oder doch eine ganz andere Gestalt gewonnen haben, wenn man sie, statt sich willkürlicher Dichtung zu überlassen, auf historische Forschung gegründet hätte. Besonders aber ist es eine ganze willkürliche und irrige Voraussetzung, daß Sprache und Geistesentwicklung überall auf gleiche Weise angefangen habe. Die Mannigfaltigkeit ist im Gegenteile auch in dieser Rücksicht so groß, daß man unter der Menge leicht irgend eine Sprache als bestätigendes Beispiel fast für jede bis jetzt ersonnene Hypothese über den Ursprung der Sprachen wird auffinden können.973

Vom traditionellen Ort sprachtheoretischer Reflexionen – der Philosophie – möchte sich Schlegel zugunsten historisch-empirischer Forschung distanzieren. So sucht er nicht mehr mit Hilfe von spekulativem Denken nach dem a priori zu setzenden Ursprung menschlichen Sprechens, sondern versucht durch die linguistische Analyse der positiven Einzelsprachen zu empirisch fundierten Erkenntnissen über die Sprachentstehung zu gelangen. Dieser Vorgehensweise ist 971 Vgl. z. B. Behler, Die Sprachtheorie in Friedrich Schlegels frühen Schriften, S. 75 – 77; Helmut Gipper, Peter Schmitter : Sprachwissenschaft und Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik, Tübingen 1979, S. 43 – 49; Tzoref-Ashkenazi, Chen: Der romantische Mythos vom Ursprung der Deutschen. Friedrich Schlegels Suche nach der indogermanischen Verbindung, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, Göttingen 2009, S. 178 f. 972 Zur ausführlichen Darstellung des Beginns der Sanskrit-Studien in Europa – die in England ihren Ausgang nehmen – sowie deren Rezeption in Deutschland, die u. a. mit Forster, Herder und Goethe einsetzt und in deren Tradition auch Friedrich Schlegels Studien zu verorten sind, vgl. Tzoref-Ashkenazi, Der romantische Mythos vom Ursprung der Deutschen, Kap. 2 u. 3, S. 41 – 71. 973 KFSA, Bd. 8, S. 167.

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es geschuldet, dass er weder von einer Ursache für die Entstehung von Sprache ausgeht, noch eine einzige, allen positiven Sprachen zugrunde liegende Ursprache annimmt. Als Beispiel führt er die onomatopoetische Lautnachahmung an, die in der Mantchousprache höchst dominant zu Tage tritt, während er sie etwa für das Lateinische oder Indische als Entstehungsgrund ausschließt.974 Jedoch kommt auch Schlegels historisch motivierte Sprachtheorie nicht ohne metaphysische Grundannahmen aus. So verleitet ihn die Beobachtung, dass einige Sprachen stärker mit Flexion der Wortstämme arbeiten, während andere verstärkt mit Prä- und Suffixen bilden und die Flexion für sie eine untergeordnete bis gar keine Rolle spielt, zu der Klassifikation der Sprachen in zwei Hauptgattungen: den organischen und den mechanischen Sprachen.975 Während erstere untereinander als zusammenhängend gedacht und damit letztendlich von einer Ursprache abgeleitet werden, nimmt er für letztere keinerlei oder nur geringe Verwandtschaftsbeziehungen an.976 Dass der Begriff mechanisch in Schlegels Denksystem stets pejorativ verwendet wird, ist nur eine weitere Bestätigung für die Schlussfolgerungen, die die aufmerksame Lektüre des vorliegenden Textes selbst schon nahe legt: dass den sogenannten organischen Sprachen ein höherer Wert beigemessen wird. Interessant ist überdies zu sehen, welche Sprachen unter diese Kategorie der organischen Sprachen gerechnet werden – das Griechische und die auf das Lateinische zurückgehenden romanischen Sprachen ebenso wie das Deutsche und schließlich das Indische.977 Alles Sprachen also, deren Literatur für Schlegel von äußerstem Belang ist. Erstaunlicherweise rechnet er das Arabische und Hebräische zu den mechanischen Sprachen. Jedoch ist er sogleich bemüht, die mit dieser Klassifizierung verbundene Abwertung gegenüber der gerne als Ursprache gehandelten Sprache der Bibel wieder zurückzunehmen: Man würde mich indessen ganz mißverstehen, wenn man glaubte, ich wolle die eine Hauptgattung der Sprache ausschließend erheben, die andre unbedingt herabsetzen. Die Welt der Sprache ist zu umfassend reich und groß und bei höherer Ausbildung zu verwickelt, als daß sich die Sache so einfach durch einen schneidenden Richterspruch ausmachen ließe. Wer wird die hohe Kunst, die Würde und erhabne Kraft der arabischen und hebräischen Sprache leugnen können? Sie stehen wohl unstreitig auf dem höchsten Gipfel der Bildung und Vollkommenheit in ihrer Gattung, der sie übrigens

974 Vgl. ebd., S. 167. 975 Vgl. ebd., S. 157 – 161. Vgl. hierzu auch Tzoref-Ashkenazi, der annimmt, Schlegels Beschreibung der organischen Sprachen als sich von einem gemeinsamen Ursprung herleitend, impliziere Schlegels Vorstellung von deren göttlichem Ursprung. Vgl. Tzoref-Ashkenazi, Der romantische Mythos vom Ursprung der Deutschen, S. 176. 976 Vgl. KFSA, Bd. 8, S. 161. 977 Vgl. ebd., S. 157, S. 163.

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nicht so ausschließend angehören, daß sie sich nicht in einigen Stücken der andern etwas nähern sollten.978

Auf den niedersten Rang wird hingegen das Chinesische verwiesen – die Sprache, die für jene Sprachursprungstheorien, die an den Hieroglyphen orientiert sind, von so außerordentlicher Wichtigkeit ist. Schon dieser Befund lässt erahnen, was in dem Abschnitt über den Ursprung der Sprache deutlich benannt wird: die Bildlichkeit der Sprache spielt für Friedrich Schlegel in seiner Abhandlung über das Sanskrit eine untergeordnete Rolle und deren Vorhandensein wird sogar zu einem Kennzeichen für die weniger entwickelten Sprachen. Auch von dem Beginn des menschlichen Sprechens mit tierischen Lauten will Schlegel in diesem Text nichts mehr wissen: [S]ie [die indische Sprache, Y.A.] ist nicht aus einem bloß physischen Geschrei und allerlei schallnachahmenden oder mit dem Schall spielenden Sprachversuchen entstanden, wo dann allmählich etwas Vernunft und Vernunftform angebildet worden wäre. Vielmehr ist diese Sprache selbst ein Beweis mehr […], daß der Zustand des Menschen nicht überall mit tierischer Dumpfheit angefangen, woran sich denn nach langem und mühevollem Streben endlich hie und da ein wenig Vernunft angesetzt habe; zeigt vielmehr, daß wenn gleich nicht überall, doch wenigstens grade da, wohin uns diese Forschung zurückführt, gleich von Anfang die klarste und innigste Besonnenheit stattgefunden; denn das Werk und Erzeugnis einer solchen ist diese Sprache, die selbst in ihren ersten und einfachsten Bestandteilen die höchsten Begriffe der reinen Gedankenwelt, gleichsam den ganzen Grundriß des Bewußtseins nicht bildlich, sondern in unmittelbarer Klarheit ausdrückt.979

In diesem Passus wendet sich Schlegel gleich gegen beide geläufigen Erklärungsmodelle des Sprachursprungs – gegen die Nachahmung ebenso wie gegen den Ausdruck von Empfindungen. Galt letzterer im Brief an den Bruder noch als die Basis poetischer Sprachgestaltung, so wird er hier zu »bloß physische[m] Geschrei« und »tierischer Dumpfheit« herabgewürdigt. Stattdessen rückt die Vernunft, der die Romantiker meist höchst skeptisch gegenüberstanden (was sich ebenfalls im bereits erwähnten Brief an den Bruder widerspiegelt), ins Zentrum des Interesses. Die indische Sprache, so erklärt es Schlegel hier, war von Beginn an ausschließlich durch die Vernunfttätigkeit geformt. Damit geht eine Aufwertung der Begriffssprache gegenüber der bildlichen, uneigentlichen Form der Bezeichnung einher. Und Schlegel lobt an der indischen Sprache, dass selbst »ihr[e] ersten und einfachsten Bestandteil[e] die höchsten Begriffe der reinen Gedankenwelt […] nicht bildlich, sondern in unmittelbarer Klarheit ausdrü-

978 Ebd., S. 163. 979 Ebd., S. 169.

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cken.«980 Und ebenso wenig wie die Sprache im Modus des Bezeichnens bildlich arbeiten darf so wenig ist es ihr auf Ebene der Zeichenstruktur gestattet: Ja auch die älteste Schrift war zugleich mit entstanden, die noch nicht sinnbilderte, wie es später beim Unterricht wilder Völker geschah, sondern aus Zeichen bestand, die dem Wesen der einfachen Sprachbestandteile nach, dem Gefühl der damaligen Menschen wirklich entsprachen.981

Die allegorische Schreibweise wird hier allein den »wilden Völkern« zugeschrieben, denen man weder eine philosophische noch eine ausgeprägte kulturelle Entwicklung zuspricht. So betont Schlegel auch die philosophische Qualität der indischen Sprache, deren Begriffe sich – statt den Umweg über die sinnbildliche Bezeichnung zu wählen – durch klare Abstraktion auszeichnen: Es ist wahr, beinah die ganze indische Sprache ist eine philosophische oder vielmehr religiöse Terminologie; und vielleicht ist keine Sprache, selbst die griechische nicht ausgenommen, so philosophisch klar und scharf bestimmt als die indische; aber freilich ist es kein veränderliches Kombinationsspiel willkürlicher Abstraktionen, sondern ein bleibendes System, wo die einmal geheiligten tiefbedeutenden Ausdrücke und Worte sich gegenseitig erhellen, bestimmen und tragen. Und diese hohe Geistigkeit ist zugleich sehr einfach, nicht durch Bilder den zuvor bloß sinnlichen Ausdrücken erst mitgeteilt, sondern in der ersten und eigentlichen Bedeutung selbst der einfachen Grundbestandteile schon ursprünglich gegründet.982

Die philosophisch-geistige Bedeutung der Worte ist aber im Indischen laut Schlegel nicht zunächst metaphorisch vermittelt – denn in diesem Sinne wird hier das Wort »Bild« gebraucht –, sondern sogleich abstrakt-begrifflich entwickelt. Die Bildlichkeit der Sprache, die für die Poetiken eine so zentrale Rolle spielte und noch in den Texten seines Bruders dessen sprachtheoretisch fundierte Poetologie begründet, wird hier zugunsten der Idee einer ursprünglich philosophisch-abstrakt gebildeten Sprache zurückgewiesen. Und wenige Abschnitte weiter verdeutlicht Friedrich Schlegel noch einmal seine These, wobei er die »Phantasie« und die »poetische Begeisterung« – zwei Grundkomponenten poetisch-romantischer Sprachauffassung – diesmal explizit beim Namen nennt: Es ist eben auch eine von den ungegründeten Voraussetzungen, daß in der ältesten Epoche jeder Sprache kühne Bildlichkeit und die Phantasie allein herrsche; bei vielen Sprachen ist es wirklich so, aber nicht bei allen, besonders nicht bei der indischen, die sich zunächst und ursprünglich wohl mehr durch philosophischen Tiefsinn und ruhige Klarheit auszeichnet, als durch poetische Begeisterung und Bilderfülle, so sehr sie auch

980 Ebd., S. 169. 981 Ebd., S. 171. 982 Ebd., S. 173.

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der ersten fähig, und obwohl die letzte in den schmuckreichen Gedichten des Kalidas sogar herrschend ist.983

Bei dieser poetischen Qualität der Sprache, das stellt er sogleich im unmittelbar darauffolgenden Abschnitt klar, handelt es sich jedoch um eine spätere Stufe der indischen Sprachentwicklung: Aber diese Poesie gehört einer ganz späten Epoche der indischen Bildung an; je höher wir bei dem bis jetzt bekannten in das Altertum hinaufgehen, je schlichter und prosaischer finden wir die Sprache, aber freilich nicht trocken und leblos abstrakt, sondern durchaus sinnvoll bedeutend und schön durch die einfache Klarheit.984

Hier bezieht Schlegel deutlich Stellung gegen jenes vorurteilsbefrachtete Denken, wonach prosaische Sprache immer schon als »trocken und leblos abstrakt« charakterisiert wird. Zugleich sind diese Ausführungen wiederum der Grundannahme des Textes geschuldet, wonach es keine einheitliche Ursprache gab, sondern unterschiedliche Weisen der Sprachentstehung, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt die positiven Sprachen prägen. Damit werden die bisherigen, gängigen Theorien von einer poetisch-bildlich geprägten Ursprache, die sich erst allmählich zur Abstraktion emporschwang, nicht vollends als falsch abgetan, sie werden lediglich als nur auf eine bestimmte Gruppe von Sprachen zutreffend relativiert.985 Noch einmal finden sich längere, zusammenhängende Ausführungen über den Sprachursprung in Friedrich Schlegels letzter Schrift, den Vorlesungen über die Philosophie der Sprache und des Worts. Hier verwirft er die beiden geläufigen Sprachursprungshypothesen gleichermaßen: jene, wonach die historischen Sprachen an einer von Gott gegebenen Ursprache Anteil hätten,986 und jene, die von einer natürlichen Sprachentstehung ausgehen – sei es aufgrund von (tierisch-)emotionalen phonetischen Ausdrücken, sei es aufgrund von (Schall-) Nachahmung. Den aus der Sprache und Weisheit der Indier bekannten Grundgedanken, wonach sich die Sprachen unabhängig voneinander entwickelt haben, 983 Ebd., S. 175. 984 Ebd., S. 175. 985 In seinen orientalischen Studien beschreibt Schlegel den Bilderreichtum der semitischen Sprachen in Anbetracht des jüdisch-muslimischen Bilderverbots als Ersatzhandlung oder – in Freudscher Terminologie – Sublimierung einer unterdrückten Mythologie und bildenden Kunst: »Was man gemeiniglich orientalisch nennt, ist nur der Styl der semitischen Völker – ÆDer Charakter d[en] d[er] Enthusiasmus bei einer intellektuellen Religion annimmt. –æ bei denen die kühnste Bildlichkeit in Sprache und Dichtkunst der Einbildungskraft Luft schaffen musste, da Mythologie ja selbst bildende Kunst ihnen abgeschnitten war.« (KFSA, Bd. 15.1, S. 47). 986 Dabei schließt er die Möglichkeit einer solchen göttlichen Ursprache nicht per se aus, sondern hält es lediglich für dem Menschen nicht möglich, zu den Anfängen einer solchen motivierten Benennung der Dinge vorzudringen. Vgl. KFSA, Bd. 10, S. 362.

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behält Schlegel auch in dem späten Text bei,987 er spielt in dem veränderten Kontext einer auf Sprachtheorie basierenden idealistischen Philosophie allerdings nur noch eine untergeordnete Rolle. Friedrich Schlegel ist es im Rahmen seiner späten Dresdner Vorlesung hingegen wichtig zu betonen: daß der Ursprung d. h. die Entstehung und Entwicklung der Sprache, gewissermaßen immer fortgeht, und zum Theil noch unter unsern Augen geschieht; und wenn es auch nur einzelne Punkte für ganz bestimmte Fälle Æsindæ, wo wir diese lebendige Fortbildung der Sprache selbst mit ansehen und fast unmittelbar oder wenigstens ganz in unsrer geschichtlichen Nähe beobachten Ækönntenæ; so sind sie darum dennoch auch selbst für das Ganze fruchtbar belehrend. Was nun den Ursprung, nämlich den wirklich historischen Ursprung, nicht der Sprache überhaupt, sondern der einzelnen noch jetzt vorhandnen und positiv gegebenen Sprachen betrifft, besonders derjenigen, die im Verhältniß zu den aus ihnen abgeleiteten und gemischten, verhältnismäßig wenigstens als Ursprachen gelten können; so ist der wesentliche Hauptpunkt für eine darüber zu gewinnende richtige Ansicht wohl, daß wir sie selbst und ihre Entstehung und erste Ausbildung nicht bloß aus Mischung und Ableitung und einer Zusammensetzung aus lauter Einzelheiten zu erklären, sondern uns dieselbe mehr als eine Hervorbringung im Ganzen vorzustellen suchen, etwa so wie auch noch jetzt ein Gedicht oder Æauchæ sonst ein andres wahres Kunstwerk aus der Idee des Ganzen hervorgeht und nicht bloß atomistisch zusammengesetzt werden kann.988

In seiner späten Philosophie, in der er noch einmal auf den Gedanken des Sprachursprungs zurückkommt, führt Friedrich Schlegel zwei entscheidende neue Perspektiven in das Sprachursprungsdenken ein: zum einen ist es die – mit aller Wahrscheinlichkeit aus der bereits in seiner Jugendphase entwickelten Konzeption der progressiven Universalpoesie gespeisten – Annahme einer beständigen Entwicklung von Sprache, zum anderen die Parallele, die er zwischen Sprache als solcher und Sprache in Gestalt von poetischen Hervorbringungen zieht. Erstere These lässt ein einmaliges Ursprungsgeschehen, das eine mehr oder minder fertige und damit fixierte Sprache hervorbringen würde, als in sich unschlüssig erscheinen. Letztere These belegt, dass er Sprache als solche schon analog zum Kunstwerk interpretiert, bei der es sich – den Vorstellungen der Genieästhetik gemäß – um eine sich in einem einzigen inspirierten Moment vollziehende Schöpfung der Einbildungskraft handelt. So geht er davon aus, »daß damahls die produktive Einbildungskraft auch in dem SprachProdukt der ersten Wortbildung sich genialisch erfindsamer und fruchtbarer erwiesen haben mag, als späterhin, wo auf den nachfolgenden Stufen der GeistesCultur die 987 Vgl. KFSA, Bd. 10, S. 369. 988 Ebd., S. 367 f.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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analytische Vernunft mehr und mehr das Uebergewicht bekam.«989 Diese beiden Aspekte, die sich in seinem späten Nachdenken über Sprachursprungstheorien manifestieren, sind auch diejenigen beiden Elemente, die seinen späteren, eigenen Ansatz eines philosophischen Idealismus prägen, wie er sich bereits in den Jenaer Vorlesungen andeutet, und erstmals in zusammenhängender Weise in den Kölner Vorlesungen formuliert wird: dieses sind – wie unten noch ausführlicher zu betrachten sein wird – die Grundannahme eines in beständiger Veränderung begriffenen Bewusstseins als dem Ausgangspunkt aller Philosophie einerseits sowie die Erhebung der Kunst beziehungsweise des Poetischen zum Paradigma von Weltdeutung, das in einer (poetischen) Sprachtheorie gründet, andererseits. Das zunehmend eigenständigere Sprach- und Bilddenken, das Schlegels spätere philosophische und philologische Vorlesungen prägt, bereitet sich bereits in den Fragmentensammlungen vor, denen aus diesem Grund, zusammen mit weiteren Texten aus Schlegels Frühphase, zunächst eine eigene Betrachtung gewidmet werden soll.

2.2

Unendliche Progression der Sprache – Sprache und Bild in den philosophischen und poetologischen Fragmenten- und Notizensammlungen

Schlegels Denken ging in viele Richtungen. Ihren Niederschlag finden seine vielfältigen Denkbewegungen, die sich in die unterschiedlichsten Disziplinen verlaufen, um deren Wissensbestände suchend abzutasten, in den noch größtenteils erhaltenen Notizenheften, die er als eine Art Denktagebuch990 führte. Hier findet sich wie in prismatischer Brechung die gesamte Fülle und Komplexität des Schlegelschen Nachdenkens und die Vielseitigkeit seiner Interessen dokumentiert. Gleichwohl liegt dem Literaturwissenschaftler mit diesen Heften kein leicht handhabbares Material vor : Schlegel faßt nun das leitende Prinzip Einheit in der Fülle vor allem als geistige Einheit der einzelnen Kulturgebiete, geistigen Disziplinen, Künste und Wissenschaften. Diese müssen miteinander in Verbindung gebracht werden, und das geschieht wesentlich durch Definitionen und Klassifikationen, die nicht innerhalb einer bestimmten Disziplin verbleiben, sondern deren Grenzen, in der Weise, wie man das von Metaphern 989 Ebd., S. 368; hier bedient sich Friedrich einer ähnlichen These, wie sie sich in den Briefen seines älteren Bruders August Wilhelm oder in Herders Schriften findet, die davon ausgehen, dass die erste Sprache noch ganz poetisch gewesen sei, ehe sie zusehends durch die begrifflich-abstrakte Struktur der Vernunft überformt wurde. Vgl. Kap. II.1 sowie Teil A, Kap. I.1.2. 990 Diese – auch für Schlegels Aufzeichnungen sehr treffende – Bezeichnung wählte Hannah Arendt für ihre ähnlich aufgebauten Notizbücher.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

kennt, überschreiten; häufig ist es so, daß Schlegel gleich mit den Begriffen für ganze Disziplinen definitorisch jongliert. Ein organisch gegliedertes Ganzes zeichnet sich dabei in den Philosophischen Lehrjahren noch nicht ab. Schlegel schwelgt in kühnen und beliebigen Möglichkeiten, er operiert mit wechselnden Unter- und Überordnungen einzelner Kulturgebiete […]. Für den einzelnen Begriff, der einer vielfachen Zahl von Definitionen unterworfen wird, hat dieses Verfahren zur Folge, daß er – ganz entgegen der Etymologie von ›Definition‹ – an Kontur eher verliert als gewinnt, und dies um so mehr, je allgemeiner und umfassender der Horizont ist, den der Begriff eröffnet. Zudem wird jede durch Definition produzierte Unschärfe eines Begriffs, als sei sie ansteckend, durch Definitionen auch wieder auf andere Begriffe übertragen. Von unendlich vielen Seiten in den Blick genommen und definitorisch variiert, laufen gerade die zentralen und am häufigsten verwendeten Begriffe Schlegels […] Gefahr, letztlich desemantisiert zu werden.991

Einige Grundzüge seiner Aufzeichnungstechnik und die sich darin widerspiegelnde Weise zu Denken, lassen sich jedoch aus dem vorliegenden NotizenKorpus analysieren. So führte Schlegel immerhin getrennte Hefte für seine Beschäftigung mit Philosophie einerseits und Literatur und Poesie andererseits. Sich über viele Seiten erstreckende, zusammenhängende Abschnitte dokumentieren darüber hinaus Schlegels Beschäftigung mit einzelnen Philosophen – etwa mit Leibniz, Fichte oder Kant. Mit dem Fortschreiten der Notizen beginnt er jedoch zunehmend selbstständig mit dem einmal erschlossenen Material zu arbeiten. Dabei lässt sich erkennen, dass er immer wieder durch die Bildung von Analogien oder Gegensätzen die unterschiedlichen Systeme und Denkmodelle zueinander in Beziehung zu setzen versucht. Hier finden zwei in der romantischen Theorie propagierte Methoden ihren Niederschlag – zum einen der Witz,992 der auf unvorhergesehene Weise höchst Disparates zusammenzuführen 991 Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 386. Ausführlich hat sich Hans-Joachim Heiner mit Schlegels Fragmenten beschäftigt. Seiner allgemeinen Feststellung: »Alle Begriffe befinden sich in einem Zustand der Teilübereinstimmung. Der Eindruck des Zusammenhangs zwischen den Fragmenten ist auf den Verweischarakter der Fragmente und auf die Wechselbeziehungen zwischen den Begriffen in den Fragmenten zurückzuführen. Damit wird deutlich, daß die Fragmente weder eine Häufung von Materialien ohne inneren Zusammenhang, noch ein organisches Ganzes von harmonischer Struktur bilden« (Heiner, S. 32) ist zuzustimmen. Seine nachfolgende Analyse der »Struktur der Fragmente«, die auf einer Einteilung der Fragmente in vier Gruppen beruht sowie auf einer detaillierten strukturalistischen Analyse des Aufbaus und des gegenseitigen Verweischarakters dieser Fragmentgruppen, erweckt allerdings den Anschein eines umfassenden begrifflichen Zusammenhangs der Fragmente, der so nicht gegeben ist und verwischt die Disparitäten und Widersprüche innerhalb der Fragmente, auf die Auerochs gerade hinweist. Heiner kritisiert weiterhin, dass dieses System von Fragmenten lediglich auf Verweisen »rein formaler Art« (S. 35) basiere, mit denen Schlegel »[s]einem Anliegen, aus einer ›Synthese‹ der Wissenschaften und Künste eine ›Enzyklopädie‹ zu konstruieren […] keinen Schritt näher gekommen« sei. (S. 35 f., vgl. Heiner, Hans-Joachim: Das Ganzheitsdenken Friedrich Schlegels. Wissenssoziologische Deutungen einer Denkform, Stuttgart 1971, S. 30 – 44). 992 Hans-Joachim Heiner hat den Begriff des Witzes bei Schlegel insbesondere im Zusam-

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vermag und zum anderen das stete Bestreben, Gegensätze miteinander zu harmonisieren und vermittelnde Positionen zu etablieren. Gerne operiert Friedrich Schlegel – dessen Interesse sich weit über die Disziplinen der Philosophie und Philologie hinausbewegt – mit der Bildung von Begriffsreihen, deren Beziehungsgefüge er mit Hilfe mathematischer Formeln beschreibt. Durch beständige Variation dieses Formelgefüges, in das diese Zentralbegriffe seines Denkens eingebunden sind, experimentiert er mit immer neuen Möglichkeiten, das Verhältnis dieser Begriffe untereinander zu denken. So begreift Schlegel selbst seine Studien als Vorarbeiten zu einer Enzyklopädie, als deren Methode er die Kombinatorik bestimmt: »Die combinator[ische] Methode gehört nothwendig zur Encycl[opädischen] Methode – Meine vs[philosophischen] Studien eigent [lich] Propyläen der Encyclopaedie.«993 Die beiden zentralen Disziplinen, die im Zentrum von Schlegels Nachdenken stehen und um die sich alle anderen Überlegungen einem Kristallisierungsprozess ähnlich herumgruppieren, sind die Poesie einerseits und die Philosophie andererseits. Es sind jene beiden Grundpfeiler des romantischen Denkens, deren Vereinigung angestrebt wird. Prägnant formuliert Schlegel diesen Gedanken etwa im Lyceum-Fragment Nr. 115, wo er schreibt: »Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.«994 So wird auch Sprache stets in der einen oder anderen Weise in ihrer poetischen Funktion oder philosophischen Dimension betrachtet. Liegen aus den frühen Jahren vor 1800 von Friedrich Schlegel noch keine zusammenhängenden sprachtheoretischen Abhandlungen vor, so wird die Sprache in den bis ins Jahr 1797 zurückreichenden Notizensammlungen doch wiederholt zum Thema. In den Notizenkonvoluten zu Literatur und Poesie995 wird Sprache meist entweder im Kontext von rhetorischen und gattungstheoretischen Überlegungen thematisiert oder sie wird im Zusammenhang mit Schlegels Studien zu Charakter und Entstehung der verschiedenen Nationalsprachen behandelt. Beschrieben werden sollen im Rahmen solcher Betrachtungen weniger die Qualitäten der Sprache als solcher als vielmehr die Merkmale einer bestimmten positiven Nationalsprache oder einer spezifischen literarischen Verwendungsweise von Sprache.996 Dass sich Schlegel dabei bemüht, der deutschen Sprache besonders

993 994

995 996

menhang mit der Kombinatorik untersucht. Vgl. Heiner, Das Ganzheitsdenken Friedrich Schlegels, S. 45 – 53. KFSA, Bd. 18, S. 471, Nr. 8. KFSA, Bd. 2, S. 161, Nr. 115. Etwas weiter holt er im Athenaeums-Fragment Nr. 451 aus, wo es heißt: »Universalität ist Wechselsättigung aller Formen und aller Stoffe. Zur Harmonie gelangt sie nur durch Verbindung der Poesie und der Philosophie: auch den universellsten vollendetsten Werken der isolierten Poesie und Philosophie scheint die letzte Synthese zu fehlen« (KFSA, Bd. 2, S. 255, Nr. 451). Vgl. KFSA, Bd. 16. So etwa die Beobachtung »Fischart, Weckherlin, Hans Sachs gehen auf Alliteration. –

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wertzuschätzende Qualitäten nachzuweisen, bleibt nicht verborgen. Dennoch sind auch in diese Notizensammlungen gelegentlich allgemeine Überlegungen zur Sprache eingestreut. Vereinzelt finden sich auch Gedanken über den Sprachursprung, doch scheint das Thema Schlegel nicht so recht fesseln zu wollen. Eine Notiz zur Möglichkeit einer Ursprache scheint an der intensiven Beschäftigung des Bruders mit diesem Thema orientiert zu sein. Zwei von August Wilhelm bekannte Thesen fließen in die Notiz ein: die Natursprache wird am Anfang der Sprachentstehung verortet und zugleich wird sie als das Vorbild poetischen Sprechens postuliert: »Giebt es eine Natursprache, so ists die älteste; daher die Tendenz der Poesie in d[as] Alterthum d[er] Sprache zurück.–«997 Diese Position wird noch einmal in einer Notiz wiederholt, die wiederum die Natursprache zum Gegenstand hat, jetzt aber zwischen Natursprache und Naturschrift differenziert und beide wiederum zu verschiedenen Kunstarten in Analogie setzt: »Naturschrift ist Mahlerei und Natursprache Musik. Giebt es noch eine j Natursprache, so ists die älteste. Daher d[ie] Tendenz d[er] Poesie in die älteste Sprache zurück.«998 Eine andere Notiz hingegen scheint eine kritische Auseinandersetzung mit der Annahme des Bruders zu sein, dass die Sprache ursprünglich mit der Musik in eins falle. Der jüngere Bruder rekurriert hingegen mehr auf die piktoral-graphische Seite der Sprache (und subsumiert Sprache hier eher unter den in obiger Notiz zu findenden Schrift-Begriff) wenn er spekuliert: »Die Ursprache war wohl mehr Bild als Gesang – aber in diesen wird sich die letzte Sprache auflösen.«999 Diese Notiz enthält jedoch weit mehr als eine bloße Korrektur der Hypothese des Bruders – sie offenbart in ihrer chiastisch-antithetischen Struktur zugleich die Schwerpunktverschiebung, die an Friedrich Schlegels sprachtheoretischen Überlegungen so prägnant ist: nicht mehr die Ursprache steht im Zentrum des Interesses, sondern das potentielle Ziel der zukünftigen Sprachentwicklung ist in den Fokus des Nachdenkens gerückt. Auch scheint die Relevanz des musikalischen Aspekts in obiger Aufzeichnung Indication daß diese sehr tief in der Deutschen Sprache gegründet ist« (KFSA, Bd. 16, S. 502, Nr. 42), die er wenige Seiten weiter um die Feststellung korrigiert: »Die alte Deutsch [e] Sprach[e] geht nicht bloß auf Alliteration sondern auf eine große Gelindigkeit und liebliche Flüssigkeit.« (KFSA, Bd. 16, S. 505, Nr. 76). 997 KFSA, Bd. 16, S. 327, Nr. 880. 998 KFSA, Bd. 18, S. 184, Nr. 701. 999 KFSA, Bd. 16, S. 195, Nr. 501. Vgl. auch ein ähnliches Zitat aus den Philosophischen Lehrjahren, wo die Musik nun zusätzlich noch mit der Religion in Zusammenhang gebracht wird: »Ist Musik die tellurische Grundkunst, so muß alle Sprache sich wieder in Musik auflösen. Man löse nur alle Wissenschaften und Künste in Religion auf, so werden sie von selbst Musik werden.« (KFSA, Bd. 18, S. 175, Nr. 588). Und aus der anderen Richtung kommend, betont eine Notiz den gestisch-bildlichen Charakter der Sprachanfänge: »ÆDer älteste Archaism wäre, d.[as] Wort wieder auf die Sprache d[er] Augen und d[er] Hand zurückzuführen.æ« (KFSA, Bd. 16, S. 224, Nr. 955).

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jene des bildlichen zu überbieten. Allerdings zeigt Friedrich Schlegel eine gewisse Unentschlossenheit, wenn es um die Zuweisung der Rollen geht, die Musik und Bildlichkeit innerhalb des Sprachentstehungsprozesses spielen. In einer Notiz aus dem Jahre 1805 stellt er einen Stufengang der »Sprache und Musik« auf, an dessen Anfang die Musik steht, aus der sich zunächst der Buchstabe und schließlich die Sprache entwickeln, die erst in einem späteren Entwicklungsstadium zu Bildlichkeit und Poesie gelangen: Stufen der Sprache und Musik (nach d[er] Ordnung.) 1te Musik 2te Musik 3te Buchstabe 4the Sylben – Metrum – (Göttl.[icher] Ursprung der Sprache.) 5te Grammatik vice 6te Musik versa 7te Sylben (Bildlichkeit – Poesie) Metrum viell.[eicht] als Prinzip der Einheit in der unendl.[ichen] Fülle d[er] Bildlichkeit1000

Die Überzeugung von der fortschreitenden Entwicklung der Sprache artikuliert sich auch in den Vergleichen, die Schlegel hinsichtlich der antiken und modernen Sprachen anstellt. So schreibt er über die deutsche Literatur : »In d[er] modernen (deutschen) Prosa ist sehr vieles tief verborg[en] liegende zur Bezeichnung gekommen, was in d[en] class.[ischen] Sprach[en] nicht bezeichnet werden konnte.—«1001 Die Möglichkeit, den Kreis der bezeichenbaren Gegenstände auszudehnen und über die rein sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände hinaus auf geistige Vorstellungen hin zu erweitern, scheint für Friedrich Schlegel das eigentlich interessante Potential der Sprache und ihrer Entwicklungsfähigkeit zu sein. Wie sehr Schlegel in seinen frühen Notizen über die Sprache in den gleichen Antinomien von Antike und Moderne denkt, die auch seinem StudiumAufsatz zugrunde liegen,1002 belegen die beiden folgenden, in Schlegels Aufzeichnungen unmittelbar aufeinanderfolgenden Notizen: Die modernen Sprachen haben die Auswahl d[es] Künstlichsten aus d[en] Alten, um sich damit zu bereichern. Das ist ein großer Vorzug vor d[en] alten Sprachen. Die modernen Sprachen sind symbolischer in d[er] Wortartung besser beziehungsvoller, reicher, bedeutender. —1003 1000 KFSA, Bd. 19, S. 146, Nr. 532. 1001 KFSA, Bd. 16, S. 135, Nr. 592. 1002 Zur Geschichtsphilosophie, die dem Studium-Aufsatz und Schlegels Verständnis von der griechischen Antike zugrunde liegt und von der Opposition Antike versus Moderne getragen wird, vgl. ausführlich Behrens, Klaus: Friedrich Schlegels Geschichtsphilosophie (1794 – 1808). Ein Beitrag zur politischen Romantik, Tübingen 1984, bes. S. 47 – 80. 1003 KFSA, Bd. 18, S. 132, Nr. 120.

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Und ähnlich: Die Griech.[ische] Sprache giebt das schönste Beispiel für eine Naturgeschichte d[er] Sprache. Vollkommenheit d[er] Wortbildung, d[er] Wortartung und d[er] Wortstellung. Die römische muß auch hierin Supplement d.[er] Greich.[ischen] sein. Die deutsche Sprache hat offenbar einen Hang, sich durch fremde Worte zu bereichern.1004

Die Sprache als solche scheint damit beständig im Werden begriffen und auf ein Ziel hin orientiert zu sein, das als Idee von Sprache dauerhaft unerreichbar bleiben muss: »Die Idee der Sprache d.[ie] ich habe in Rücksicht der Vokale und Consonanten vielleicht mehr das Ideal d[em] d[ie] Sprache s.[ich] nur zu nähern strebt/«1005 Damit integriert Schlegel seine sprachtheoretischen Reflexionen in sein philosophisch-poetologisches Modell und organisiert sie mit Hilfe der gleichen Denkfiguren – auch die Sprache folgt dem durch die Romantiker postulierten Ideal der unendlichen Progression, die notwendig ihren Endpunkt nie erreichen darf.1006 Und in den Philosophischen Lehrjahren heißt es in noch ganz anderer Radikalität: »Für die vorige Epoche Sprache durchs Gefühl und durchs Auge. Das Auge kann noch sprechen, weniger die Hand. – Sprache viell.[eicht] (jetzt) falsche Tendenz (für d[en] Menschen), gehört ganz d[er] Zukunft.«1007 Der Gedanke der Entwicklung der Sprache, die bei der gestisch-mimischen Kommunikation ihren Anfang nimmt, wird hier radikalisiert auf die Vorstellung von einer noch ausstehenden, zukünftigen Möglichkeit des Sprechens. Da die Sprache in steter Entwicklung begriffen ist, muss sie notwendig auf die Dinge bezogen sein, in denen sich ebenfalls die in Schlegels Philosophie angenommene Entwicklung vollzieht – ergo auf den Menschen und die Geschichte: »ÆDie Terminologie ist gleichsam eine Welt von Worten. — Die Sprache ist nicht Natur, sie ist Welt oder Mensch.—æ«1008 Die Sprache ist an die Entwicklung des Menschen gebunden – folglich dokumentiert sich in ihr die Entwicklung menschlicher Geschichte: »Die Sprache ist d[ie] älteste Urkunde der Geschichte.«1009 Dass die Sprache als ältestes Zeugnis der Menschheitsgeschichte gedeutet wird, ist sicher ein Gedanke, den Schlegel von Herder entlehnt hat.1010 Bei Schlegel findet sich auch die Denkfigur, dass die Sprache mit der Entwick1004 Ebd., S. 132, Nr. 121. 1005 KFSA, Bd. 16, S. 390, Nr. 218. 1006 Diesen Gedanken, der als einer der zentralen Ideen der frühromantischen Theorie gilt, hat Schlegel in dem berühmten Athenaeums-Fragment Nr. 116 ausgeführt. Vgl. KFSA, Bd. 2, S. 182, Nr. 116. 1007 KFSA, Bd. 18, S. 192, Nr. 786. 1008 KFSA, Bd. 16, S. 334, Nr. 954. 1009 KFSA, Bd. 18, S. 301, Nr. 1279. 1010 Vgl. hierzu Herders Ausführungen aus der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts zur Schöpfungshieroglyphe, die in Kap. II.2 des ersten Teils besprochen wurden.

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lung des menschlichen Verstandes einsetzt und diese zugleich wie kein anderes Zeugnis dokumentiert: »Die Geschichte des menschl.[ichen] Verstandes im gewöhnl[ichen] Sinne gehört offenbar zu d[en] grammat.[ischen] Mysterien. Die Sprache ist einzige Urkunde dieser Geschichte. —«1011 Neben der Frage nach dem Ursprung der Sprache, die Friedrich Schlegel nur mit mäßigem Interesse und dementsprechend recht oberflächlich behandelt, rückt eine andere sprachtheoretische Fragestellung zusehends in den Fokus seines Interesses, welche der Sprachtheorie eine Schlüsselrolle in seinem idealistisch-philosophischen Programm zuweist: Sprache soll als Bindeglied zwischen Poesie und Philosophie verstanden werden. Anders als in einigen Notizen Friedrich von Hardenbergs beobachtet werden kann, spielt Friedrich Schlegel Poesie und Philosophie nicht gegeneinander aus. Mehrfach verweist er auf die Verbindung beider Disziplinen in der Antike, ebenso im Gespräch über die Poesie1012 wie in einzelnen Notizen und Fragmenten, wo es etwa heißt: »v[Philosophische] und p[poetische] Sprache im Römischen eigentl[ich] so gut als gar nicht getrennt.«1013 So ist es auch der Witz als der besonderen Handhabung von Sprache und ihren Semantiken, der Philosophie und Poesie zu vereinigen vermag: »Die Sprache ist p[poetisch], die Schrift vs[philosophisch], Witz bindet beydes.«1014 Auch Friedrich Schlegel bedient sich in einem seiner Athenaeums-Fragmente der Vorstellung des Propheten. Anders als für Novalis, ist es für ihn jedoch nicht der Dichter schlechthin, der in diese Rolle zu schlüpfen vermag – nur demje-

1011 KFSA, Bd. 18, S. 296, Nr. 1209. 1012 So lässt er Andrea in seiner Abhandlung über die Epochen der Dichtkunst sagen »Die Vollständigkeit nötigt mich zu erwähnen, daß auch die ersten Quellen und Urbilder des didaskalischen Gedichts, die wechselseitigen Übergänge der Poesie und der Philosophie in dieser Blütezeit der alten Bildung zu suchen sind: in den naturbegeisterten Hymnen der Mysterien, in den sinnreichen Lehren der geselligen sittlichen Gnome, in den allumfassenden Gedichten des Empedokles und andrer Forscher, und etwa in den Symposien, wo das philosophische Gespräch und die Darstellung desselben ganz in Dichtung übergeht.« (KFSA, Bd. 4, S. 293). Besonders letzterer Verweis auf die Symposien ist von einiger Relevanz. So hat Stefan Matuschek nachgewiesen, dass Platons Symposion das Vorbild für Schlegels Gespräch über die Poesie bildet. Matuschek weist auch darauf hin, dass in der frühromantischen Aktualisierung Platons zugleich die »seit Cicero etablierte Lobesformel, die Platon als Doppelbegabung von Philosoph und Dichter herausstellt« zum Tragen kommt. Vgl. Matuschek, Stefan: Die Macht des Gastmahls. Schlegels Gespräch über die Poesie und Platons Symposion, in: Wo das philosophische Gespräch ganz in Dichtung übergeht. Platons Symposion und seine Wirkung in der Renaissance, Romantik und Moderne, hrsg. v. Stefan Matuschek, Heidelberg 2002, S. 81 – 96. 1013 KFSA, Bd. 18, S. 132, Nr. 119. 1014 KFSA, Bd. 18, S. 337, Nr. 171.

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nigen, der Philosophie und Poesie zu vereinigen weiß, kommt sie zu: »Der dichtende Philosoph, der philosophierende Dichter ist ein Prophet.«1015 Am weitesten reichen wohl die Gedanken, die das Bindeglied zwischen Philosophie und Poesie in der Mythologie verorten und die schließlich in die Überlegung münden, Sprache selbst als Mythologie zu betrachten: Mythologie (als das Mittlere von p[Poesie] und v[Philosophie] kann d.[er] p[Poesie] nicht allein eigen sein, da ja auch die v[Philosophie] die ihre hat. – Ist p[Poesie] und v[Philosophie] Eins, dann wird die Menschheit Eine Person. Viell[eicht] würde dann die Sprache selbst auch Mythologie.1016

Berücksichtigt man die Bedeutung, die der Mythologie in Friedrich Schlegels Nachdenken zukommt, so erahnt man, welche Aufmerksamkeit auch der Sprache beigemessen wird. Die hier bereits zu beobachtende Verbindung zwischen Poesie und Philosophie, die Schlegels Nachdenken über Bild und Sprache etabliert, wird in den nachfolgenden philosophischen Abhandlungen noch deutlicher ausformuliert werden.

2.3

Tropen in Philosophie und Poesie: Die Vorlesungen über Sprache und Literatur

Bereits in seinen ersten, in Köln gehaltenen Vorlesungen, die eine umfassende Darstellung der Philosophiegeschichte zum Gegenstand haben, reflektiert Friedrich Schlegel in einzelnen eingestreuten Passagen das Verhältnis von Philosophie und Sprache, ohne dass dies in systematischer Weise geschähe. Reine Philosophie, so ist hier seine These, hat keine Sprache, da ihr Gegenstand – das Höchste und Unendliche – nicht angemessen dargestellt werden kann. Dennoch kann Philosophie ohne Sprache nicht auskommen, soll sie intersubjektiv kommuniziert werden. Die Sprache wird für die Philosophie damit ganz klar auf die Funktion des – unzulänglichen aber doch unentbehrlichen – Hilfsinstruments der Mitteilung reduziert. Die Sprache hat damit keine ästhetische Dimension, sondern eine ausschließlich kommunikative und deskriptive. Zu diesem Zweck entwickelt die Philosophie keine eigene Sprache, sondern bedient sich in eklektischer Weise bei den Terminologien, die sie in anderen Wissenschaften ebenso vorfindet wie in der Alltagssprache. Sie modifiziert nicht die syntaktische Struktur der Sprache, wohl aber die semantische, indem sie den einmal angeeigneten, fremden Terminologien eine eigene Bedeutung verleiht. 1015 KFSA, Bd. 2, S. 207, Vgl. auch die Notiz: »Der Prophet und d[er] Historiker sind beide beides, zugleich Philosoph und zugleich Poet.« (KFSA, Bd. 18, S. 85, Nr. 666). 1016 KFSA, Bd. 18, S. 255, Nr. 739.

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Die Philosophie, ganz rein gedacht, hat keine eigne Form und Sprache; das reine Denken und Erkennen des Höchsten, Unendlichen kann nie adäquat dargestellt werden. Soll die Philosophie sich aber mitteilen, so muß sie Form und Sprache annehmen, sie muß alle möglichen Mittel versuchen, die Darstellung und Erklärung des Unendlichen so bestimmt, klar und deutlich zu machen, als nur immer geschehen kann; sie wird in dieser Hinsicht das Gebiet jeder Wissenschaft und Kunst durchschweifen, um alle Hilfsmittel, die zu diesem Zwecke dienen können, sich auszuwählen. Die Philosophie, insofern sie alle Arten des menschlichen Wissens in der Kunst umfaßt, kann sich die Form, die Sprache und Terminologie jeder andern Wissenschaft und der Kunst aneignen, ja es ist sogar nicht einmal nötig, daß es eine der Form nach vollendete Wissenschaft sei, welche der Philosophie ihre Terminologie hergebe; auch das gemeine, praktische Leben hat seine bestimmte Sprache, die Philosophie kann diese höher potenzieren, eine würdigere Bedeutung, einen höhern Sinn hineinlegen, und sie dann zu ihrem Zwecke gebrauchen. So wie aber die Philosophie als Wissenschaft selbst noch nicht vollendet ist, so ist es auch ihre Sprache nicht; auch dieser liegt ein fortgehendes Streben zum Grunde, das Unendliche in immer bestimmtern, schicklichern, klarern Worten, Ausdrücken und Formeln aufzufassen, darzustellen und zu erklären.1017

In Hinblick auf die Scholastik etwa kommt der Sprachgebrauch der Philosophie dabei nicht eben gut weg: Die Philosophie, deren Wesen in einem abstrakten, dem Menschen nicht natürlichen Kunstdenken besteht, muß sich zu diesem Zwecke auch eine eigne künstliche Sprache schaffen, sie muß diese willkürlich umändern und modifizieren, für ihre Ideen und Begriffe sich neue passende Ausdrücke und Worte erfinden, um sich für die deutliche und bestimmte Erklärung und Entwicklung ihrer Lehren ein schickliches Organ zu bilden. Dergleichen Willkürlichkeiten aber lassen sich nur an einer toten Sprache gut ausüben; dies war nun mit der lateinischen der Fall, als die scholastische Philosophie auftrat. Eben dieser ausschließliche Gebrauch einer toten Sprache war schon ein großes Hindernis mehr, sie ins Leben einzuführen.1018

Der negativ bewerteten Scholastik stellt Schlegel die griechische Antike gegenüber, die als geschätztes Vorbild bereits aus seinen frühen Schriften, besonders dem Studium-Aufsatz bekannt ist. Ihre Philosophie, so legt er dar, ist noch eng an die Poesie angelehnt, deren Ziel in der umfassenden, lebendigen Darstellung des Weltganzen liegt: So wie die Griechen das Ganze des Weltalls in der Poesie zu beleben, zu beseelen, in harmonischer Einheit zu umfassen und poetisch zu gestalten und darzustellen strebten; so versuchten sie in der Philosophie den Ursprung, den Zusammenhang und die innere Natur der Dinge zu ergründen, die Welt aus ihren ersten Grundkräften und Ursachen zu konstruieren, das geistige Wesen des Menschen, sein Verhältnis zur materiellen Natur zu erforschen, und erhoben sich zu diesem Zwecke mit erfindungs1017 KFSA, Bd. 12, S. 214. 1018 Ebd., S. 178.

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reicher Kühnheit und Kraft zu den höchsten Ideen der Vernunft, um aus ihnen das Ganze zu erklären und zu bestimmen.1019

Philosophie und Poesie waren bei den Griechen, so Schlegel, noch keine getrennten Disziplinen: »Die griechische Philosophie schloß sich in den ältesten Zeiten nah an die Poesie an, wurde zuerst in Gedichten ausgesprochen, später in dialogischer Form, in dialektischen Gesprächen entwickelt, und mitgeteilt.«1020 Diese verstreuten Gedanken zum Sprachgebrauch in Philosophie und Poesie, in denen Unterschiede wie Berührungspunkte der beiden Disziplinen kondensieren, handelt Schlegel in seiner circa vier Jahre später ebenso zu Köln gehaltenen Vorlesung Über deutsche Sprache und Literatur systematisch ab. Die 1807 in Köln gehaltenen Vorlesungen Über deutsche Sprache und Literatur lässt Friedrich Schlegel mit einer grundlegenden Reflexion über die Relevanz der Sprache beginnen: Die Sprache [ist] allerdings einer der wichtigsten der Gegenstände des menschlichen Nachdenkens[.] – Sie ist nicht allein für alle menschlichen Geschäfte höchst unentbehrlich[,] man kann nicht denken als in Worten – die Sprache begleitet das würdigste wichtigste unserer Geschäfte[,] das eigne innere Denken und Nachdenken[,] unaufhörlich – aber eben aus dieser nahen Verbindung mit den ersten Tätigkeiten und Beschäftigungen des Menschen [–] Poesie und Philosophie – entstehen manche Mißverständnisse darin aus Mangel an gründlicher Kenntnis der Sprache[,] an Aufmerksamkeit und aus Vernachlässigung ihrer Gesetze[,] so daß der Mensch selbst oft großentheils den Fortschritt jener Künste[,] welche die höchsten Triebe des Menschen zu befriedigen wissen[,] Poesie und Ph.[ilosophie,] verhindert, man wegen Unbestimmtheit[,] Mangelhaftigkeit der Sprache mit denselben nicht aufs Reine kommen kann. So daß ohne eigentliche Kenntnis der Sprache nichts Vorzügliches in der Poesie und Philosophie zustande zu bringen [ist].1021

Diese einleitenden Worte enthalten im Kern das gesamte Programm, das Friedrich Schlegel in dem nachfolgenden Vorlesungszyklus ausführen wird. Philosophie und Poesie als »den ersten Tätigkeiten und Beschäftigungen des Menschen« – die in dem kurzen Abschnitt immerhin drei Mal wörtlich benannt werden – bilden den tragenden Bezugspunkt seiner Ausführungen zur Sprache über die gesamte Vorlesungsreihe hinweg. Sprache interessiert, insofern sie Artikulationsmedium für Philosophie und Poesie ist. Dass diese Disziplinen nur durch Sprache bestehen können, macht letztere unentbehrlich. Da die beiden Grunddisziplinen nicht von ihrer sprachlichen Gestalt zu trennen sind, muss deren Fortentwicklung notwendig mit einer Präzisierung der Sprache Hand in Hand gehen. 1019 Ebd., S. 180. 1020 Ebd., S. 175. 1021 KFSA, Bd. 15.2, S. 3.

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Ehe er mögliche sprachliche Ungenauigkeiten benennt und Vorschläge zu einer Verbesserung anbietet, unternimmt Schlegel eine präzise Analyse der unterschiedlichen Verwendungsweisen von Sprache in Philosophie und Poesie. Er beginnt seine Ausführungen sodann mit einer Sprachgeschichte des Deutschen, der er unter der Überschrift »Rhetorik« eine Grammatik des Deutschen folgen lässt, die sich nach Behandlung der Wortarten, ihrer Konjugationen und Deklinationen sowie einer Einführung in die Syntax schließlich dem »Styl« zuwendet. In diesem Zusammenhang benennt er drei wesentliche Merkmale, worin sich die Verwendungsweise von Sprache in einem historischen Werk von der alltäglichen Verwendungsweise unterscheidet: Hingegen zur Aufstellung eines Werkes ist es nicht hinlänglich[,] sich bloß verständlich zu machen[,] sich bloß mitzutheilen[,] wie die Sprache des gemeinen Lebens oder des praktischen Redners [ist], er muß seine Rede ausschmüken mit Epitheta bereichern[,] alles in der größten Vollständigkeit ausführen – das Werk soll nicht bloß verständlich seyn[, es] soll auch darstellen[.] Zweitens darf j nichts Überflüssiges darin seyn, in der gemeinen Sprache im Gespräch kann freylich manches unnütze überflüssige Wort mit durchlaufen, ein Werk der Sprache muß aber mit der größten Vollständigkeit die größte Kürze vereinigen[.] […] Drittens muß es ein organisches Ganze seyn, so wie jedes Werk der Töne Farben und einen inneren organischen Gliederbau haben muß[,] so auch die Rede – jeder Theil[, jedes] Glied [–] muß ein organischer[,] jedes einzelne muß dem Ganzen ähnlich seyn, dies ist der eigentliche Grund und Ursprung der Periode –[.]1022

Damit stellt er zugleich Kriterien auf, anhand derer sich der Stil eines Werks bestimmen lässt:1023 »Aus dem B.[egriff] eines Werks und dessen größern Ansprüchen auf Allgemeinheit[,] inneren Gliederbau und ewige Dauer geht die Bestimmung des Styls hervor.«1024 Auf diese Zusammenstellung der wichtigsten Merkmale des historischen 1022 Ebd., S. 20 f. 1023 Schlegels Stilbegriff ist nicht im Sinne eines Epochen- oder gar Individualstils zu verstehen, der sich auf die individuellen, charakteristischen Gestaltungsmerkmale eines Künstlers oder einer Strömung bezieht, sondern wird von ihm als Strukturbegriff verwendet. Vgl. hierzu Mennemeier, der schreibt: »Der Stilbegriff Schlegels als Hinweis auf ein absolutes und zugleich geschichtlich jederzeit anwendbares Prinzip, das Verhältnisse regelt und weder über äußere Form noch über bestimmte Inhalte irgend etwas aussagt, muß als ein Strukturbegriff aufgefaßt werden.« (Mennemeier, Franz Norbert: Friedrich Schlegels Poesiebegriff dargestellt anhand der literaturkritischen Schriften. Die romantische Konzeption einer objektiven Poesie, München 1971, S. 79 f.). Und seine These untermauernd zitiert er aus Erwin Kirchers 1906 erschienener »Philosophie der Romantik«: »Der Stil ist das apriori der Kunst, er ist ein allem Einzelinhalt überlegenes Prinzip der Gliederung, Anordnung, Organisation.« (Erwin Kircher : Philosophie der Romantik, S. 109, zitiert nach Mennemeier, Friedrich Schlegels Poesiebegriff, S. 80). 1024 KFSA, Bd. 15.2, S. 22.

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Stils, die er aus seinen Untersuchungen zur deutschen Sprachgenese hergeleitet hat, folgt eine Betrachtung des philosophischen Stils, dessen grundlegende Eigenschaften er ebenfalls beschreibt: Bisher [ist] von philosophischem Styl noch nicht die Rede gewesen. Er muß sich allerdings von der Sprache des gemeinen Lebens unterscheiden nur nicht so sehr als der historische[.] – Die Beziehung auf die Vergangenheit und Zukunft fällt hier aus, er spricht zu den Gegenwärtigen[,] braucht sich nicht so von der gemeinen Rede zu entfernen und mit mehr Schmuck und Würde mitzutheilen[.] Er will nur überzeugen und mittheilen, er muß an die verständlichere ÆSprache in der Wortstellung sich anschmiegen, muß nur sorgsamer und genauer seyn, was den philosophischen Ausdruck unterscheidet[,] ist die eigene Terminologie[;] diese ist aber erst später zu bestimmen wo auch die eigenthümliche poetische Sprache wird abgeleitet werden.—æ1025

Zuletzt bestimmt er den Stil der Poesie: Was hier bisher vom historischen Styl gesagt worden [ist,] gilt auch von der Poesie – auch sie erfordert einen künstlich verwikelten Periodenbau[,] nur wird dieser durch die Silbenmaße noch zum Theil verwikelter und anders bestimmt – in manchen Gattungen ist sie auch historisch[;] bey den epischen und dramatischen Gattungen ÆRomanen und [der] romantischen Gattungæ gilt vorzüglich die historische Anordnung, da sie sich historischen Stoffs bedienen —[.] Von der Lyrik gilt das nun freylich nicht[;] sie entlehnt ihre Anordnung von einer anderen Kunst: von der Musik Æders.[elben] Prinzip [ist] von jenem philosophischen ganz verschiedenæ[.] Aber nicht allein ist die Anordnung der Töne und Klänge bey der lyrischen Poesie auf die Worte anwendbar, sondern selbst die der Baukunst Malerey und Bildhauerey mögen für die Poesie überhauptj entlehnt werden —[.]1026

Es fällt auf, dass Schlegel den poetischen Stil in einer viel größeren Differenziertheit betrachtet als die vorher genannten. So unterscheidet er die stilistischen Eigenheiten verschiedener poetischer Gattungen. Insgesamt scheint für Friedrich Schlegel der poetische Stil näher mit dem historischen verwandt zu sein als mit dem philosophischen. Dieser eng gedachte Bezug zwischen Geschichte und Poesie lässt sich auch anhand von früheren Notizen belegen, in denen er sich intensiv mit der Bedeutung der Historie beschäftigte. So heißt es etwa in einer Aufzeichnung aus den Fragementen zu Poesie und Literatur : »Poesie ist durchaus mehr Geschichte, vs[Philosophie] aber Wissenschaft«1027. Darüber hinaus zeigt Schlegel für die Poesie noch eine Verwandtschaftsbeziehung ganz anderer Art auf: Nicht nur zu weiteren sprachlichen Anwendungsformen lassen sich Ähnlichkeiten nachweisen; die sprachliche Gestaltung der Poesie steht auch in Analogie zu den Gestaltungsprinzipien anderer Künste. 1025 Ebd., S. 23. 1026 Ebd., S. 25. 1027 KFSA, Bd. 16, S. 295, Nr. 506.

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Die Poesie lässt sich nicht auf die gestalterischen Besonderheiten innerhalb ihres Mediums Sprache reduzieren, vielmehr ist »nicht allein […] die Anordnung der Töne und Klänge bey der lyrischen Poesie auf die Worte anwendbar, sondern selbst die der Baukunst Malerey und Bildhauerey mögen für die Poesie überhaupt entlehnt werden —«1028. An der Verwendung von Metaphern und Tropen, die er im dritten Teil seiner Rhetorik behandelt, zeigt sich, so Schlegel, der Unterschied zwischen der philosophischen und der poetischen Verwendungsweise von Sprache am deutlichsten:1029 »Wir gehen über zu dem wichtigen Theile von den Metaphern und Tropen, hierin werden wir erst recht den eigentlichen Unterschied der Philosophie wie der Poesie von der gemeinen Rede kennen lernen Æsowie auch das was die Philosophie unterscheidet von der Poesie —æ«1030. In der Art und Weise also, wie die bildliche, uneigentliche Verwendungsweise der Wörter gebraucht wird, zeigt sich der Unterschied zwischen Philosophie und Poesie. Ehe sich Schlegel jenen Unterschieden im Detail zuwendet, benennt er als Grund für diesen Umstand die unterschiedlichen Funktionen, welche die Sprache in den beiden gegenübergestellten Disziplinen zu erfüllen hat: Die Philosophie unterscheidet sich[,] insofern sie nicht ein Denkmal eine Darstellung seyn will[,] besonders in Rüksicht der Auswahl der Worte und der Anordnung nicht von der gemeinen Rede und hat gar keine Befugnis dazu[.] Die philosophische Sprache soll nur für die Mittheilung seyn[;] insofern nur für die Gegenwart nicht für die Ewigkeit, kann also nicht auf historischen Styl Anspruch machen, die Theorie des Styls [ist] also eigentlich auf die Philosophie in Rücksicht der Stellung und Auswahl der Worte nicht anwendbar. […] Was eigentlich die Poesie von dem gemeinen Styl unterscheidet[,] ist das Bildliche der Ausdrücke[.] —1031

Dennoch erkennt Schlegel, dass Tropen auch ein konstitutives Element der Umgangssprache sind. Da die Tropen hier aber zu lexikalischen Begriffen und Formulierungen konventionalisiert sind, behindern sie die Verständigungsfunktion, die der Umgangssprache allgemein zukommt, nicht.1032 Als häufige

1028 KFSA, Bd. 15.2, S. 25. 1029 Schnyder weist darauf hin, dass Schlegel die rhetorischen Figuren und Tropen nicht wie in der seit Platon bestehenden Tradition als Sprache der Rhetorik abwertet und von der begrifflichen Sprache der Philosophie unterscheidet, sondern ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass Sprache an sich durch Tropen konstituiert ist und damit auch eine Untersuchung der Philosophie die Behandlung ihrer tropischen Redeweisen mit einschließen muss. Vgl. Schnyder, Peter : Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk, Paderborn 1999, S. 137 – 142. 1030 KFSA, Bd. 15.2, S. 29. 1031 Ebd., S. 29 f., Hervorhebungen Y.A. 1032 »Alle Tropen aus dem gemeinen Sprachgebrauch entfernen zu wollen wäre sehr unrecht, da viele allgemein angenommen, sich auf stillschweigende Übereinkunft gründen[,] durch

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Beispiele führt er neben der Metapher verschiedene Formen der Metonymie und der Synekdoche an.1033 In gleicher Weise, wie sie in der Umgangssprache zur Verkürzung und Vereinfachung der Ausdrücke dienen, macht sich auch die Philosophie die Tropen zu Nutze: Und insofern [sind die Tropen] in der gemeinen Sprache wie in der Philosophie unentbehrlich, eben diese Tropen machen das eigentliche Wesen der ph[ilosophischen] Terminologie aus – es müssen in der Philosophie zur Verständigung dessen[,] was man ausdrücken will[,] meist oder doch sehr oft uneigentliche Ausdrücke genommen werden[.] Viele Dinge könnte man in der Philosophie nicht anders als eben uneigentlich ausdrücken[.] Kürze und Abbreviatur sind unentbehrlich zur philosophischen Terminologie[.]j Man muß oft einen Ausdruk in einer ganz anderen Bedeutung nehmen als es vielleicht üblich [ist] von der Philosophie[.][…] Es geht also in der Philosophie eine Verwandlung der Bedeutung der Ausdrücke vor.1034

Von den Tropen der Alltagssprache unterscheidet Friedrich Schlegel die Bildlichkeit der Poesie, die einem ganz anderen Zweck dient. Während der Verwendung von Tropen in der Umgangssprache das Bestreben nach Vereinfachung zugrunde liegt, werden bildliche Redeweisen in der Poesie zur Darstellung des Unendlichen herangezogen, für das sich keine eigentlichen Begriffe finden.1035 Die Ursache dafür ist eine erkenntnistheoretische. Insofern sich das Unendliche durch den Verstand nicht klar erkennen lässt, scheitert dieser auch notwendig an einer begrifflichen Bestimmung desselben.1036 Bildlichkeit setzt damit an der Stelle ein, an der das Erkenntnisorgan der Vernunft scheitert:

1033 1034 1035

1036

den Sprachgebrauch bestimmt sind[;] insofern schaden sie der Verständlichkeit nicht.« (KFSA, Bd. 15.2, S. 30). Vgl. KFSA, Bd. 15.2, S. 30. Ebd., S. 30, Hervorhebung Y.A. Vgl. hierzu auch Jan Urbich, der darlegt, dass es in Schlegels Sprachtheorie allein die (poetische) Darstellung ist, die die Möglichkeit bereit hält, sich mit Sprache auf das Absolute zu beziehen. (Urbich, Jan: »Mysterium der Ordnung«. Anmerkungen zum Verhältnis von Absolutem und Sprache bei Friedrich Schlegel und Walter Benjamin, in: Sprache und Literatur 40 (2009), S. 93 – 111). Ulrike Zeuch hat eine eingehende Untersuchung zur Konzeption des Unendlichen in Schlegels Erkenntnistheorie vorgelegt, in der die Parallelen zur Erkenntnistheorie Giordano Brunos und Nikolaus Cusanus’ besondere Berücksichtigung finden. Häufig schleichen sich in diese Studie allerdings Ungenauigkeiten ein, die wohl vor allem dem Umstand geschuldet sein dürften, dass die Erkenntnistheorie Schlegels angesichts der traditionellen erkenntnistheoretischen Konzeptionen betrachtet wird, aber die Bezüge zu zeitgenössischen philosophischen Konzeptionen (etwa Kants Kritiken oder Fichtes Wissenschaftslehre) gänzlich außer Acht gelassen werden (vgl. Zeuch, S. 32 f. sowie das gänzliche Fehlen dieser Autoren im Literaturverzeichnis). Dadurch geraten Bedeutungsverschiebungen nicht recht in den Blick. So werden etwa Verstand und Anschauung als Erkenntnisvermögen betrachtet, die Einbildungskraft als das in der idealistischen Philosophie stark an Bedeutung gewinnende Erkenntnisorgan gerät jedoch überhaupt nicht eigens in den Blick. Ebenso wenig wird die veränderte Beurteilung des Begriffs, aber auch

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Daß das Bildliche die Poesie von der gemeinen Rede unterscheidet[,] ist auffallend klar und sowohl historisch erwiesen als in den Werken der Poesie selbst gegründet, die Bildlichkeit ist eine nothwendige Folgerung aus der Unbestimmbarkeit[,] Unerkennbarkeit des Unendlichen.1037

Diese Beobachtung basiert auf der Grundannahme, dass die Mittel direkter sprachlicher Bezeichnung angesichts des Unendlichen versagen.1038 Insofern es sich bei dem Unendlichen nicht um einen Gegenstand des Verstandes handelt, der durch einen Begriff in allen seinen Eigenschaften vollständig erfasst werden kann, sondern um eine Idee der Vernunft, kann sie nicht mit begrifflicher Sprache bezeichnet werden. Ein Gedanke, der bereits der kantischen Dichotomie von Schema und Symbol – Begriff und Idee – zugrunde liegt. Anders als Kant, der diese Beobachtung hinnimmt, ohne dass sich für ihn daraus Konsequenzen für die Methode der Philosophie ergeben würden, sobald diese das Unendliche zu ihrem Gegenstand macht, zieht Friedrich Schlegel weitreichende Schlussfolgerungen für die Philosophie: Soll die Philosophie die Idee des Unendlichen als das einzige Reelle begründen[,] so wird Philosophie nothwendig zur Poesie führen, das Unendliche darstellen konnte sie als ÆWissenschaft nicht, das ist nicht das Geschäft der Wissenschaft[,] sie konnte es nur als reell begründen und die ihr entgegenstehenden Irrthümer vernichten.æ1039

die (mitunter theologisch gefärbte) Rede vom Gefühl und von der Liebe als neuer Erkenntnisvermögen klar herausgearbeitet. (Zeuch, Ulrike: Das Unendliche: Höchste Fülle oder Nichts? Zur Problematik von Friedrich Schlegels Geist-Begriff und dessen geistesgeschichtlichen Voraussetzungen, Würzburg 1991). 1037 KFSA, Bd. 15.2, S. 31. In dieser vorsichtigen Annäherung an das Unendliche, wie die Poesie es mit ihrer bildlichen Verwendungsweise von Sprache leistet, liegt zugleich ihr Vorzug gegenüber der Philosophie, die sich – vergeblich – um sprachliche Abstraktion und begriffliche Bestimmung bemüht. »In der Poesie ist das Höchste nur angedeutet, sie läßt es nur ahnen, statt es wie die Philosophie in bestimmte Formeln zu bringen und erklären zu wollen.« (KFSA, Bd. 12, S. 166). 1038 So heißt es bei Schlegel: »Das Bedürfnis und die Nothwendigkeit [der Bildlichkeit der Poesie, Y.A.] geht hervor aus dem einfachen Grunde daß das Unendliche nie ganz ausgesprochen werden kann[,] sondern nur angedeutet in Bildern und Sinnbildern.« (KFSA, Bd. 15.2, S. 31). 1039 KFSA, Bd. 15.2, S. 31. Das gleiche Problem behandelt Schlegel in seinen Kölner Vorlesungen zur Philosophie, in denen er darlegt, dass das Höchste nur angeschaut und dargestellt, nicht aber begrifflich erklärt werden kann. Aus diesem Grund könne die Philosophie letztlich nur über den Umweg der Poesie Zugang zum Unendlichen erlangen: »Der Zweck der Philosophie ist die Erkenntnis der höchsten Realität. Die Philosophie hat den nämlichen Gegenstand, wie die Poesie, das Unendliche; aber sie ist in der äußern Form, der Art und Weise, wie sie den Gegenstand auffasst und behandelt, von ihr unterschieden. Die Philosophie ist Wissenschaft, die Poesie Darstellung des Unendlichen. Die Poesie begnügt sich, das Göttliche bloß anzuschauen, und diese Anschauung darzustellen; die Philosophie strebt nach positiver Erkenntnis, nach wissenschaftlicher Bestimmung und Erklärung des Göttlichen.« (KFSA, Bd. 12, S. 165).

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Das poetologische Element, das Kant mit seinem Symbol-Begriff in die Philosophie einführt, wird von Schlegel konsequent zu Ende gedacht. Lassen sich die Ideen der Vernunft nicht einer Anschauung und damit einer diskursiven sprachlichen Beschreibung zuführen, gelten sie aber andererseits als der vielleicht sogar wichtigste Gegenstandsbereich der Philosophie, so muss Philosophie notwendig poetische Redeweisen adaptieren, soll sie von diesen Gegenständen handeln können. Und der Gegenstandsbereich der Philosophie scheint eine solch poetisch-uneigentliche Redeweise gerade zu bedingen: »Die Philosophie muß ja oft Dinge ausdrücken[,] wofür es noch gar keine eigentlichen Ausdrücke gibt, muß daher […] genauen Zusammenhang des einen mit dem anderen zeigen[,] eigentlich ein System von Ausdrücken aufstellen[,] und was ist dies anderes als Terminologie«1040. Da die Erweiterung der Erkenntnis – das Ausdehnen des Wissens auf noch vage oder gar nicht durchdachte Gegenstandsbereiche – quasi das Kerngeschäft der Philosophie ausmacht, bezieht sie sich notwendig häufig auf Dinge, für die es noch keine sprachliche Bezeichnung gibt. Schlegel unterscheidet »2 Arten von Worten und Bezeichnungen[,]« auf die die philosophische Redeweise gegründet ist: die abstrakten und die idealistischen. Während es sich bei den Ersteren um arbiträre Begriffe handelt, sind letztere Bezeichnungen motiviert – und gehören damit ins Feld der Poesie: [D]ie abstracten Ausdrücke entstehen j und gründen sich meistens auf Willkürlichkeit[,] bloß durch Übereinkunft[,] viel weniger auf innere Ähnlichkeit wie die idealistischen Ausdrücke, alle Worte[,] die geistige Thätigkeiten bezeichnen[,] haben ursprünglich reelle Handlungen bedeutet […] – hingegen[, um] von abstracten Worten zu reden[:] was hat Ding[,] Seyn für eine Beziehung Ähnlichkeit mit der Bedeutung [?]1041

Da den von der Philosophie neu erschlossenen tropischen Ausdrücken einerseits eine gewisse Willkürlichkeit in der Signifikant-Signifikat-Relation zugrunde liegt – ihre Bedeutung also nicht wie poetische Tropen aus der Semantik des Bildbereichs erschlossen werden kann – sie aber andererseits noch nicht durch Konvention lexikalisiert worden sind, muss sich ihre Bedeutung auf anderem Wege erschließen. Die veränderte Bedeutung, die die Worte erfahren, wenn die Philosophie sie aus ihrer lexikalischen Semantik herauslöst und in neue semantische Felder integriert, kann nur im Rahmen des neuen Kontextes erschlossen werden. Die uneigentlichen Ausdrücke oder Wortbedeutungen in der Philosophie können nur in einem System durch den Zusammenhang verständlich werden[.] Diese uneigentlichen Ausdrücke der Philosophie sind nicht durch stillschweigende Übereinkunft oder Gewohnheit bestimmt wie jene des gemeinen Lebens[,] auch nicht durch innere 1040 KFSA, Bd. 15.2, S. 31 f. 1041 Ebd., S. 32.

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Ähnlichkeit wie die Bilder der Poesie[.] Sie müssen also durch ihren Zusammenhang erklärt werden —[.]1042

Die philosophischen »Tropen« funktionieren also nicht auf der Basis von Ähnlichkeitsstrukturen, wie dies für die Bildlichkeit der Poesie der Fall ist, sondern bauen in ihrem Zusammenwirken ein eigenes semantisches Feld auf. So kann Schlegel über die Verwendung der Sprache in der Philosophie sagen: »Die Philosophie idealisirt und intellectualisirt die Sprache[.] Die Terminologie ist gleichsam eine Sprache in der Sprache insofern sie ein zusammenhängendes System uneigentlicher Ausdrücke ist.«1043 Hat Schlegel die beiden unterschiedlichen Weisen demonstriert, mit denen sich Philosophie und Poesie Sprache produktiv aneignen und ihren Lexemen neue semantische Felder erschließen, so kann er zum Abschluss dieses Vorlesungsteils geradezu emphatisch die Relevanz beider für die Verbesserung und Entwicklung der Sprache hervorheben: Da Philosophie und Poesie beyde auf verschiedene Weise an der Vervollkomnung der Sprache arbeiten [–] die eine die Sprache geistiger[,] die andere sie schöner macht[,] die Ausdrücke zu ihrer ursprünglichen Quelle zurückführt [–] so läßt sich hier leicht aufzeigen eine Aufstellung des Ideals der Sprache und etwas über das Entstehen der Sprache – sowohl Philosophie als Poesie ist eine höhere Sprache[.] Sie erhöhen und vervollkommen die Sprache[,] oder wenn man es anders ansieht[:] Sie sollen die Sprache wieder zurük zu ihrer ursprünglichen Beschaffenheit führen[,] sollen verhindern[,] sich entgegensetzen dem Verderben der Sprache, verdorben aber wird sie durch den gemeinen Gebrauch, der tägliche Gebrauch zum nothdürftigen Verkehr zieht die Sprache immer mehr herab von ihrer göttlichen Bestimmung – sie ist bestimmt die Welt darzustellen —[.]1044

Über Entstehung und Ideal der Sprache, so Schlegel, kann man auf dem Umweg über den Sprachgebrauch von Poesie und Philosophie etwas erfahren, da sie diejenigen Disziplinen sind, die Sprache »ihrer göttlichen Bestimmung« gemäß verwenden. Dass sie Sprache auf diese Weise zu ihrer ursprünglichen Gestalt zurückführen und sie so vor der Degeneration durch den alltäglichen Gebrauch bewahren, ist eine Denkfigur, die er aus den Briefen über Poesie, Silbenmaß und Sprache seines älteren Bruders entlehnt haben dürfte. Hat er so die Frage nach dem Ideal der Sprache und dem Sprachursprung einmal ins Spiel gebracht, so widmet er diesem Problem nachfolgend einige Ausführungen. Die Vorstellung von einer Universalsprache verwirft er sogleich mit dem Argument, dass die damit gemeinte Allgemeinverständlichkeit die Nützlichkeit der Sprache – ihre

1042 Ebd., S. 33. 1043 Ebd., S. 34. 1044 Ebd., S. 36.

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alltägliche Funktion also – zum falschen Ideal erhebt.1045 Ebenso, wie er eine Universalsprache verwirft, tut er auch die Vorstellung von einer einzigen, einheitlichen Ursprache ab.1046 Er skizziert knapp die drei geläufigen Modelle des Sprachursprungs – neben der göttlichen Offenbarung, den Ausdruck von Empfindungen oder die Schallnachahmung – weist aber im Gegensatz zu seinem Bruder auf die Unzulänglichkeit all dieser Modelle hin. Stattdessen denkt Friedrich Schlegel – wie sich bereits in seiner Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier gezeigt hat – erstmals in historischen Kategorien. Die empirisch-historische Untersuchung der Diversität der Sprachen erschließt ihm, dass diese Pluralität notwendig als ursprünglich angenommen werden muss. Hierin zeigt sich die größere Originalität, die Friedrich Schlegel im Vergleich zu seinem Bruder gerne zugeschrieben wird: Während August Wilhelm die gängigen Sprachursprungstheorien allein in einem neuen Denkmodell integriert und zueinander in Beziehung setzt, führt Friedrich eine ganz neue Betrachtungsweise des Problems ein. Dennoch gelingt es ihm nicht, die Vorstellung von einer vollendeten Ursprache zu verabschieden. Den Widerspruch, in dem diese Annahme zu der historischen Beobachtung steht, löst er, indem er – wie schon in seiner Abhandlung Über die Sprache und Weisheit der Indier – die Sprachen in zwei Gruppen einteilt, wovon die eine als die der »ältesten bessren künstlichen Sprachen« Anteil an einer gemeinschaftlichen Ursprache hat, während sich die »wilden Sprachen [, die] entsetzlich mannigfaltig und verschied.[en sind]«1047, unabhängig voneinander entwickelten.1048 Für die Sprachen also, an denen Philosophie und Poesie orientiert sind, behält sich Schlegel die Annahme vor, dass »eine Ursprache vorhanden gewesen [war] die mit einmal entstand und die im höchsten Grade ein Kunstwerk und durchaus genialisch [war.]«1049 1045 Vgl. KFSA, Bd. 15.2, S. 36: »allein was der Idee dieser Universalsprache zugrunde liegt[,] ist keineswegs ein höheres Ideal der Sprache[,] sondern eine Herabsetzung auf ihren bloß nützlichen Gebrauch und ein Versuch, die Nützlichkeit der Sprache durch ihre Allgemeinverständlichkeit zu vermehren.« (ebd.). Vgl. hierzu auch: Urbich »Mysterium der Ordnung«, S. 98. In seinen Fragmenten experimentiert Schlegel allerdings mit dem Universalsprachgedanken, den er auf die Poesie bezieht: »Universalsprache = Poesie. Ideal der Sprache« (KFSA, Bd. 2, S. 17, Nr. 7). Diese Konzeption von Universalsprache ist jedoch grundlegend von dem geläufigen Verständnis einer allgemein verständlichen Sprache unterschieden. 1046 So schreibt er in Über die Sprache und Weisheit der Indier : »Nicht gegen den natürlichen Ursprung der Sprachen streiten wir, sondern nur gegen die ursprüngliche Gleichheit derselben, da man behauptet, sie seien anfangs alle gleich wild und roh gewesen« (KFSA, Bd. 8, S. 169). 1047 KFSA, Bd. 15.2, S. 38. 1048 Auch dies wieder ein Argument, das er bereits in Über die Sprache und Weisheit der Indier angewendet hat. 1049 KFSA, Bd. 15.2, S. 37.

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Im darauffolgenden Teil seiner Vorlesungsreihe – der Poetik – versucht Schlegel Beschreibungs- und Beurteilungskriterien für die verschiedenen literarischen Gattungen zu entwickeln, wobei ihm das Konzept der romantischen Poesie als Paradigma dient. Dies zeigt sich sowohl an den besprochenen Autoren – die altbekannten Gewährsmänner der romantischen Poetik: Boccaccio, Dante, Cervantes ebenso wie Goethes Meister oder Tiecks Sternbald – als auch an der Gewichtung der Gattungen. Entsprechend wird den Gattungen des Romans und des Märchens besonders große Bedeutung beigemessen.1050 In der Theorie des Märchens schließlich, in dem die romantische Forderung nach einer Poesie der Poesie – einer Transzendentalpoesie1051 – eingelöst scheint, sieht Schlegel die poetische und die philosophische Redeweise von Sprache zusammenwirken: Der Prozess der Poetisierung der Poesie[,] der Verdoppelung der Poesie ist ebenso ein philosophischer als poetischer ; ja indem nicht willkürliche Dichtung, Fabeln[,] Sagen[,] sondern absichtliche Sinnbilder[,] Willkürliche oder Umerdichtung [sic] hier das Hinzugefügte sind[,] hat die Philosophie den größten Antheil[.] – Jenes Umdichten des Poetischen läßt sich nur durch Allegorie bewerkstelligen[;] insofern jene Allegorie eine willkürliche systematisch zusammenhängende ist[,] hat die Philosophie den größten Antheil daran; das Märchen soll also philosophisch seyn, obschon das was herauskömmt poetisch ist[.]1052

Allegorie wird hier nicht als Trope, als einzelnes Sinnbild verstanden, sondern im Sinne von allegorischer Schreibweise. Allegorie als Erzählstrategie modifiziert die Semantik der Worte auf ähnliche Weise, wie Schlegel es bereits für die 1050 Vgl. ebd., S. 44 – 60. Eine ausführlichere Darstellung zur Beurteilung der Gattungen und zur Theorie des Märchens in Schlegels Kölner und Wiener Vorlesungen findet sich bei Dierkes, Hans: Literaturgeschichte als Kritik. Untersuchungen zu Theorie und Praxis von Friedrich Schlegels frühromantischer Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen 1980, S. 303 – 309. Dierkes betrachtet Schlegels Gattungsdiskussion allerdings – dem Erkenntnisinteresse seiner Studie gemäß – ausschließlich unter literaturhistorischem Vorzeichen; die Frage nach dem Konzept der Transzendentalpoesie oder der Sprachgestalt bleiben bei ihm unberührt. 1051 So schreibt Schlegel über das Märchen: »Wollte man nun das Märchen definiren im Gegensatz gegen andere Gattungen – gegen Novelle[,] die sich durchaus an ein Historisches halten muß – so könnte man sagen, wie diese eine Poesie der Prosa – so dies eine Poesie der Poesie als eine Verdoppelung der Poesie[.]« (KFSA, Bd. 15.2, S. 57). Damit bedient er sich genau jener Formulierung, mit der er über seine Konzeption der »Transzendentalpoesie« im 238. Athenaeums-Fragment schreibt, sie »sollte […] zugleich Poesie und Poesie der Poesie sein.« (KFSA, Bd. 2, S. 204, Nr. 238). Zur näheren Bestimmung der Transzendentalpoeise vgl. z. B. Roland Heine, der in seiner Studie zur Transzendentalpoesie bezüglich Friedrich Schlegel vor allem auf die Wilhelm-Meister-Rezension eingeht, in der der grundlegende Gedanke der Transzendentalpoesie als einer Poesie, die sich zugleich kritisch-reflektierend auf sich selbst zurückwendet, entwickelt wird. Vgl. Heine, Roland: Transzendentalpoesie. Studien zu Friedrich Schlegel, Novalis und E.T.A. Hoffmann, Bonn 1974. 1052 KFSA, Bd. 15.2, S. 59, Hervorhebung Y. A.

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Philosophie beschrieben hat – erst in ihrem Zusammenspiel im Rahmen des textimmanenten Zusammenhangs entfalten sie ihre neue Bedeutung.1053 Die philosophische Herleitung und Begründung der Poesie ist bei Friedrich Schlegel jedoch eine wesentlich andere als bei seinem Bruder August Wilhelm. Erklärte August Wilhelm die Poesie aus ihrer postulierten Gleichursprünglichkeit mit der Sprache heraus (der bereits vielfach erbrachte Nachweis einer notwendigen Sprachentstehung schließt auf diese Weise die notwendige Entstehung Poesie logisch mit ein), so denkt Friedrich von der Philosophie her. Philosophie wird von ihm zunächst als die zentrale Disziplin im Erkenntnisprozess angenommen. Und diese Erkenntnis ist nicht auf einen bestimmten Teilbereich des menschlichen Lebens beschränkt, sondern auf die gesamte Lebenswelt bezogen – sowohl auf das Irdische aber auch – und das ist entscheidend – auf das Transzendente. Die Philosophie aber hat einen entscheidenden Mangel: zwar ist das Unendliche ihr wichtigster Gegenstand, sie vermag dieses jedoch nicht darzustellen. Diesem Darstellungsdefizit gilt es abzuhelfen. Ermöglicht wird dies durch die Poesie, deren Aufgabe es ist, »Darstellung der Welt [zu] werden«.1054 So bestimmt Friedrich Schlegel die »Nothwendigkeit der Poesie, aus der Unmöglichkeit das Universum philosophisch auszusprechen oder in einen Begriff zu fassen[,] und [dem] daher entstehenden Bedürfnis es sinnbildlich darzustellen, in einer weltumfassenden Allegorie —.«1055 […] die Nothwendigkeit der Poesie [gründet, Y.A.] [sich] auf das Bedürfnis […] welches aus der Unvollkommenheit der Philosophie hervorgeht, das Unendliche darzustellen; dies ist die philosophische Begründung der Poesie —[.] Eine historische würde seyn[,] wenn man zurükginge auf die Geschichte der ältesten Nationen und das Entstehen der Poesie[,] wie sie sich bey ihnen nach und nach entwikelte[,] zeigte. – Der Gegenstand aller Philosophie[,] ohne sich auf diese Differenz und nähere Untersuchung derselben einzulassen[,] ist das Unendliche[,] Göttliche: Hiermit beschäftigt sie sich; dies läßt sich aber nicht in einen absoluten Begriff fassen, kann nicht durch einen Begriff und Wissenschaft erschöpft werden, ist über allen B.[egriff] erhaben; ist dies klar[,] so muß dasselbe j durch Sinnbilder angedeutet[,] dargestellt werden.1056

1053 Schlegel entfaltet hier eine Theorie der allegorischen Schreibweise, wie sie Walter Benjamin für das 20. Jahrhundert wiederbelebte. Vgl. hierzu besonders seine Ausführungen zur Allegorie aus seiner Schrift Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Benjamin, Walter : Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt am Main 1974 ff., Bd. I.1, S. 336 – 409. 1054 KFSA, Bd. 15.2, S. 36. 1055 Ebd., S. 47. 1056 Ebd., S. 72.

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Philosophie muss um drei Elemente ergänzt werden: Allegorie, Enthusiasmus und Charakteristik.1057 Dies leistet die Poesie. Poesie als Ergänzung der Philosophie um diese Komponenten ist damit nichts anderes als deren Erweiterung. Im weiteren Verlauf der Vorlesung behandelt Schlegel die Poesie und deren Verwendungsweise der Sprache, als deren »Hauptgesetz« er die Allegorie bestimmt.1058 Als ihre beiden wesentlichen formalen Merkmale betrachtet er die Metrik und den Reim mit einiger Ausführlichkeit. Die zentrale Funktion des Metrums besteht in einer »organisch-symmetrischen« Anordnung der Worte.1059 Der Reim bietet Schlegel Gelegenheit, Zweck und Verwendungsweise von Sprache in der Poesie vor dem Hintergrund der romantischen Konzeption des Spiels näher zu betrachten: Es ist zwar der Reim ein Spiel mit den Worten –[.] Spielerey mit Ähnlichkeit[,] Lauten der Worte […] Aber allein aus dem Spiel läßt sich wohl der Reim nicht erklären[;] nur ist damit der Grund[,] die tiefere Bedeutung und [der] Zusammenhang mit der Poesie nicht angegeben[.] Spiel mit Worten ist doch nichts anders als Abstraction von der Bedeutung des Worts und bloß Spiel mit dem bloßen Schall desselben nach der Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit […]. Das Wesen der Kunst und Poesie ist[,] besteht aber selbst auch im zwecklosen Spielenden der Thätigkeit des menschlichen Geistes – darin daß diese Thätigkeit in dieser Sphäre eine durchaus freye[,] zweklose[,] Spielende sey – so hängt schon dadurch der Reim wohl genau mit dem Wesen der Poesie zusammen[.] […] Von einer anderen Seite hängt der Reim auch sehr genau zusammen mit dem eigentlichen Wesen der romantischen Poesie[,] insofern in dieser Poesie der Witz überwiegenden Antheil hat […] nun kann man im weiteren Sinn Witz nennen ein jedes auffallendes, unerwartetes plötzliches Zusammentreffen mehrerer Umstände entfernter Vorstellungen[.] Nun [ist] aber eben der Reim dies – und also ist doch der Reim eben mit der romantischen Poesie als ganz nothwendig verbunden[,] mit ihrer Natur verwebt.1060

Nachdem er die linguistischen Aspekte von Sprache systematisch besprochen hat, auf die er eine kurze Sprachgeschichte des Deutschen folgen lässt, versucht Friedrich Schlegel die im Verlauf der Vorlesung gewonnenen Einsichten in ein umfassendes Modell von Dichtung zu integrieren. Dabei rekurriert er auf den Mythos als universaler, normativer Größe und dessen Bedeutung für die antike und neuere Literatur, wie er sie im Studium-Aufsatz bereits grundlegt und im Gespräch über die Poesie auf eine utopisch gefärbte Handlungsanweisung für die zeitgenössische Literatur ausgebaut hat. Damit verbunden ist zugleich die Vorstellung von einer Vereinigung aller Künste und Wissenschaften. Geleistet 1057 1058 1059 1060

Vgl. ebd., S. 72, 77. Vgl. ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 90. Ebd., S. 100 f.

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werden soll dies durch Geschichte, die er wiederum als die Verbindung von Poesie und Philosophie deutet: Allein es gibt noch eine 3te Thätigkeit welche beyde mehr vereinigt Æund den großen Vorzug hat[,] auch alle übrigen Wissenschaften und Künste zu einem Ganzen zu vereinigen und sie in eine beliebige Beziehung zu setzen auf das menschliche Lebenæ [:] die Geschichte. Philosophie sowohl als Poesie führen auf G.[eschichte].1061

Geschichte, so verstanden, soll zu jener Mythologie führen, die jedoch, um die Philosophie ergänzt, dem antiken Mythos das Vermögen voraus hat, als einheitsstiftendes Moment zwischen den Einzelwissenschaften und -künsten zu fungieren. Geschichte und Poesie zusammengenommen führten uns gleichsam da zur Einheit wieder zurük[,] zu dem[,] wo von die Alten ausgingen[,] der Mythologie[,] denen es aber fehlte an etwas[,] worin ihre so zersplitterten und getrennten Wissenschaften und Künste zurückkehren könnten. Poesie und Geschichte recht verbunden [sind] der eigentliche Mittelpunkt[,] da es die allgemeine Philosophie muß besonders seyn, Einleitung zur höheren Geschichte und Poesie [zu geben,].1062

Dieser Grundgedanke der Vereinigung von Philosophie und Poesie bleibt auch unter veränderten Gesichtspunkten das zentrale Anliegen, um das Friedrich Schlegels philosophische Überlegungen kreisen.

2.4

Allegorische Gestalt der Welt – Die Jenaer Vorlesungen zur Philosophie

Friedrich Schlegels ganz eigener und grundlegend neuer Zugang zur Sprachtheorie zeigt sich vielleicht nirgendwo so deutlich wie in seinen philosophischen Vorlesungen. In den Vorlesungszyklen, in denen er nicht nur die Philosophiegeschichte originell präsentiert und kritisiert, sondern auch eine eigene Philosophie entwickelt, baut er den bereits in der Athenaeumsphase ausgesprochenen und in den Fragmenten umgesetzten Gedanken einer Verbindung von Philosophie und Poesie zu einem umfassenden philosophischen System aus. In seinen philosophischen Vorlesungen beweist sich auch am deutlichsten die im Vergleich mit dem älteren Bruder August Wilhelm so gerne betonte Originalität des jüngeren Friedrich. Während August Wilhelm in seinen Jenaer und Berliner Vorlesungen zur Entwicklung seiner Kunstphilosophie und Poetik den Überblick über die Philosophiegeschichte, den er seinen Hörern bietet, allein auf die Ästhetik beschränkt und daran die Auswahl der vorgestellten Traktate und Philosophen orientiert, behandelt Friedrich Schlegel die philosophischen Sys1061 Ebd., S. 139. 1062 Ebd., S. 141.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

359

teme im Ganzen, mit besonderem Blick auf ihr jeweiliges Erkenntnisinteresse. Friedrich Schlegel legt eine Philosophiegeschichte im umfassenden Sinne vor. Er entwickelt keine Kunstphilosophie, sondern eine Philosophie, deren grundlegenden Paradigmen an Kunst und Poesie orientiert sind. Die Jenaer Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie lesen sich als eine Art Vorstufe zu den Kölner Vorlesungen zur Entwicklung der Philosophie in Zwölf Büchern, in denen Friedrich Schlegel sein eigenes System des kritischen Idealismus entwickelt. Ausgangspunkt des philosophischen Nachdenkens der Jenaer Vorlesungen ist bereits die Unzufriedenheit mit der Fichteschen Philosophie. Das idealistische System Fichtes wird als zu beschränkt angesehen, da den Gegenständen der Außenwelt darin kein gebührender Platz eingeräumt wird. Daher rührt das allgemeine romantische Bestreben, den Idealismus um die realistische Philosophie, für die paradigmatisch das System Spinozas steht, zu ergänzen. Die Jenaer Vorlesungen sind noch deutlich von einem solchen Bemühen um eine Synthese zwischen dem Fichteschen und dem Spinozistischen System geprägt. Mit den beiden Schlagworten »Bewusstsein« und »das Unendliche«, die er den beiden antagonistischen Modellen zuordnet, benennt Schlegel schon hier die beiden leitenden Kategorien, die für sämtliche seiner späteren philosophischen Ansätze tragend sein werden. So formuliert er gleich zu Beginn seiner Vorlesungsreihe das Problem: »Den gemeinschaftlichen Mittelpunkt aller Prinzipien und Ideen zu suchen.«1063 Und resümiert nach einer kurzen Deduktion, in der er das Unendliche als das zu Setzende und das Bewusstsein als das Setzende bestimmt: Und nun haben wir gleichsam die Elemente, die eine Philosophie geben können; es sind nämlich: Bewußtseyn und das Unendliche. Es sind dies gleichsam die beyden Pole, um die sich alle Philosophie dreht. Die Fichtische Philosophie geht auf das Bewußtseyn. Die Philosophie des Spinoza aber geht auf das Unendliche.1064

Von dieser Grundvoraussetzung ausgehend entwickelt Friedrich Schlegel unter Bezugnahme auf die geläufigsten philosophischen Termini die verschiedensten Konzeptionen und Grundrelationen seiner Philosophie. Dabei spiegelt die 1063 KFSA, Bd. 12, S. 5. 1064 Ebd., S. 5, weiter führt er aus, dass er diese beiden Komponenten auch als die Elemente von Realität bestimmt und beide immer in gleichzeitigem Zusammenwirken gedacht werden müssen: »Zwischen den beyden Extremen Bewußtseyn und dem Unendlichen muß Synthesis gedacht werden.« (KFSA, Bd. 12, S. 6). Die einleitenden Sätze des unter dem Titel »Nähere Entwicklung des Systems« geführten Hauptteils bekräftigen diese Ausgangsprämisse seiner Philosophie noch einmal: »Unser System der Philosophie soll das gemeinschaftliche des Spinozischen und Fichtischen seyn. Wir können uns daher nur an das Mittlere zwischen beyden halten. Die beyden Elemente der Philosophie sind das Bewußtseyn und das Unendliche, in der Mitte von beyden liegt die Realität«. (KFSA, Bd. 12, S. 32).

360

Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Philosophie der Jenaer Vorlesungen noch deutlich das vielfältige, hochkomplexe Ausprobieren von begrifflichen Relationen und Kombinationen, die seinen in den Notizenbüchern der Philosophischen Lehrjahre dokumentierten Denkprozess kennzeichnen. In den 1800/01 gehaltenen Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie in Jena versucht Schlegel zum ersten Mal, aus dieser Fülle von gesammelten Gedanken ein geschlossenes philosophisches System zu entwickeln.1065 Dabei bietet er das gesamte Programm der aus der traditionellen Philosophie geläufigen Begrifflichkeiten auf. Die Unterscheidung von Materie und Form1066 spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Deduktion von Prinzipien, Fakten und Ideen. Ein besonderes Augenmerk richtet er auf methodische Überlegungen. Da er das Ideal von einem voraussetzungslosen Nachdenken als dem je neuen Beginn des Philosophierens vertritt, dienen ihm die Methoden der Physik und der Mathematik als Vorbild. Aus der Physik ist es das Experimentieren, aus der Mathematik das Konstruieren, welches er auf die Philosophie übertragen möchte. Zur Deduktion der beiden Grundelemente seiner Philosophie – des Bewusstseins und des Unendlichen – nimmt er diese beiden Methoden zur Hand.1067 Diese beiden grundlegenden Elemente der Philosophie, deren Annahme es ihm zugleich auch erlaubt, zwei bis dahin als unvereinbar gedachte philosophische Strömungen miteinander zu vereinigen, bestimmt er mit Hilfe einer vielstufigen, an traditionellen logischen Operationen orientierten Deduktion der wichtigsten Parameter seiner Philosophie. Schließlich gelten ihm diese beiden Komponenten der Philosophie auch als die beiden Elemente der Realität: »Die Elemente der Philosophie sind Bewußtseyn und das Unendliche. Es sind dies auch die Elemente aller Realität. Realität ist der Indifferenz-Punkt zwischen beyden.«1068 Insofern sich Physik mit der empirisch erfassbaren Realität beschäftigt, hat sie den gleichen Gegenstand, wie die Philosophie. Was so zunächst überraschen könnte – die Tatsache, dass Schlegel die Physik mit dem Idealismus identifiziert – wird aus diesen Vorüberlegungen heraus plausibel: Es scheint, als wenn Idealismus und Physik koinzidiren. Was ist für ein Unterschied? Da alle Realität ein Resultat ist aus dem Bewußtseyn (als reine Form) und dem Unendli1065 Obwohl sich Friedrich Schlegel gerade in seiner frühen Phase vehement gegen jegliche Form eines geschlossenen Systems verwahrt, sind seine späteren, ausgearbeiteten philosophischen Ansätze in sich so kohärent, dass von einem System gesprochen werden muss. 1066 Das seit Aristoteles gebräuchliche Begriffspaar ›Form und Materie‹ wird seit Kant nicht mehr auf das Wesen der Dinge selbst bezogen, sondern zur Beschreibung der Konstitution von Erfahrung und deren Verhältnis zu den Erkenntniskräften des Menschen verwendet. Vgl.: Bormann. C. v., u. a.: Art.: Form und Materie IV, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 1022 – 1025. 1067 Vgl. KFSA, Bd. 12, S. 3 – 5. 1068 KFSA, Bd. 12, S. 6.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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chen, so ist das Bewußtseyn anzusehen als das Negative oder Minimum der Realität; das Unendliche hingegen ist das Positive oder Maximum der Realität. […] Der Unterschied zwischen dem Idealismus und Physik ist nun der : Der Philosoph (Idealismus) hat es mit dem Minimum und dem Maximum zu thun, und die Physik mit den unendlichen Gliedern, die zwischen der Realität und den Elementen in einer unendlichen Progression von Proporzionen liegen.1069

Während sich die Philosophie in erster Linie mit dem Bewusstsein einerseits und dem Unendlichen andererseits als den beiden Extrempunkten auseinandersetzt, sind es die Gegenstände der Realität, die sich zwischen diesen beiden extremen Polen aufspannen, die unter den Forschungsbereich des Physikers fallen. Zwei weitere Begriffe, die er in seinem philosophischen System unterzubringen versucht und die gleichfalls eine dichotome Anlage aufweisen, sind »Wissen« und »Wollen«. Von diesen abstrahiert er ein ursprüngliches Gefühl und eine ursprüngliches Bestreben – das Gefühl des Erhabenen einerseits und das Streben nach dem Ideal andererseits, die er beide mit dem »Bewußtseyn des Unendlichen« in Analogie setzt.1070 Als vermittelndes Bindeglied zwischen beiden bestimmt er sodann »die Sehnsucht nach dem Unendlichen«, womit er ans Ziel seiner aufsteigend angelegten Deduktion gelangt ist, denn: »Etwas Höheres giebt es im Menschen nicht.«1071 Da es Schlegels Ziel ist, eine vermittelnde Position zwischen den Philosophien Spinozas und Fichtes zu entwickeln, ist sein eigener Ansatz auf eine Verbindung der beiden Pole der Philosophie angelegt. Diese Verbindung spielt er zunächst für das Bewusstsein und das Unendliche durch, wobei er jeweils das eine Element dem anderen als Prädikat beigibt und auf diese Weise zwei neue Begriffe – den des Denkens und den der Gottheit – erhält. Weitet sich das Bewusstsein zum Unendlichen hin, so wird es Denken, erlangt das Unendliche Bewusstsein, so wird es zur Gottheit. Diese beiden Begriffe verbindet er wiederum mit der Realität, als dem Bindeglied zwischen den beiden Grundelementen und erhält so das Wissen und die Natur : Wenn wir also das Unendliche herübertragen, und schlagen es zum Bewußtseyn, so erhalten wir einen neuen Begriff, nämlich ein unendliches Bewußtseyn, oder den Begriff Denken. Tragen wir aber das Bewußtseyn zu dem Unendlichen, und schlagen es dazu, also ein bewußtes Unendliches, so ist dies der Begriff der Gottheit. Verbinden wir nun diese neuen Begriffe mit dem ersten Mittelbegriff Realität, so daß wir also 1) Denken verbinden mit Realität unter der Bedingung des einen UrElements Bewußtseyn, so erhalten wir ein reelles Denken mit Bewußtseyn, oder ein Wissen. 2) Verbinden wir die Gottheit mit der Realität und centriren diese Verbindung durch 1069 Ebd., S. 17. 1070 Vgl. ebd., S. 7. 1071 Ebd., S. 7.

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das Unendliche, so erhalten wir eine reelle Gottheit mit Unendlichkeit, oder was dasselbe ist, die Natur. Diesen Begriff in einen Satz gebracht, würde heißen: Es ist die unendliche Aufgabe der Natur, die Gottheit zu realisieren. Aus der Combination ergiebt sich, daß man nichts anders denken kann, als die Gottheit.1072

Diese komplexen, mehrstufigen Kombinationen stellt er anhand eines Schaubilds graphisch dar :

Graphik vgl.: KFSA, Bd. 12, S. 25.

Wissen und Natur sind damit für Schlegel als Realität bestimmt, die an den beiden Grundelementen des Bewusstseins und des Unendlichen Anteil hat. Insofern hier mit der materiellen Erscheinungsform der Realität – im Wissen wie in der Natur – immer schon notwendig eine geistige Dimension verbunden ist, drücken diese in ihrer Materialität das Geistige aus. Die Form dieses Ausdrucks aber bestimmt Schlegel als symbolisch oder allegorisch. So heißt es »Alles Wissen ist symbolisch«1073. Gemäß den verschiedenen Vermögen des Bewusstseins unterteilt Schlegel die Philosophiegeschichte in Epochen, wobei er in polemischer Antithese auf die Epochen des Irrtums die Epochen der Wahrheit folgen lässt. Ersterer gehören die Empfindung, die Anschauung und die Vorstellung an – also jene auf die Sinne gerichteten Geistesvermögen. Zur Letzteren zählen die Einsicht, die Vernunft und der Verstand, wobei die Erste als Übergangsepoche bestimmt wird.1074 Darüber hinaus kennt Schlegels Philosophie der Jenaer Vorlesungen noch das Vermögen der intellektuellen Anschauung. Er bestimmt sie – in Anlehnung an Kant – als das Anschauen und Verstehen des Bewusstseins: »Die Zusammenfassung des ganzen ursprünglichen Bewußtseyns, wenn es zum Bewußtseyn 1072 Ebd., S. 25. 1073 Ebd., S. 9. 1074 Vgl. ebd., S. 11 – 13.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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kommt, d. h. das ursprüngliche Bewußtseyn anschaut und versteht, ist die intellektuelle Anschauung.«1075 Schon früh findet die Kunst Eingang in seine Jenaer Vorlesungen: Schlegel integriert sie in seine Betrachtungen, indem er auch sie zu den Vermögen des Bewusstseins rechnet. So stellt er eine Analogie zwischen den Wissenschaften und den Künsten her, die er beide gleichermaßen unter den Gegenstandsbereich der Philosophie subsumiert: Wenn wir diese Scala der Wissenschaften, die wir ableiteten, auch auf die Kunst anwenden wollten, so könnten wir Veranlassung daher nehmen: wir sollen die Philosophie konstituiren, dies geschieht aber, indem wir das Bewußtseyn des Menschen entwickeln; nun gehören aber ins Bewußtseyn natürlich auch die schönen Künste. Aber diese Anwendung würde hier zu weitläufig seyn. Wir bemerken bloß, daß dem Dualismus korrespondirt die bildende Kunst, dem Realismus aber die Musik.1076

So wie er hier philosophischen Strömungen Kunstgattungen gegenüberstellt, so ergänzt Schlegel auch die Rede vom »gesunden Verstand« um jene vom »gesunden Sinn«. »Gesunder Verstand« ist für Schlegel nur innerhalb der Philosophie möglich: »Wir können außer der Philosophie keinen gesunden Verstand annehmen«1077, hält er fest. Der »gesunde Sinn« hingegen ist über den Weg der Kunst zu erreichen. Die Kunst aber – und das dürfte hier die entscheidende Pointe sein – ist mit dem Idealismus identisch: Aber der Sinn des Menschen kann gesund werden. Aber nicht auf dem Wege des Verstandes, sondern auf einem andern Wege. Nämlich auf dem Wege der Kunst. Die höchste Kraftäußerung des Sinnes ist die Kunst, und die Übereinstimmung des Idealismus und der Kunst ist vollkommen.1078

Die These von dieser vollkommenen Übereinstimmung erläutert er sogleich anhand der beiden zentralen Elemente der Philosophie: »Es läßt sich kein Kunstwerk aufzeigen, wo nicht die beyden Begriffe, das Unendliche zum Bewußtseyn zu bringen, oder das Bewußtseyn ins Unendliche fortzusetzen, als der letzte Grundsatz aufgestellt ist.«1079 Den in seiner Einleitung bereits gelegentlich eingestreuten Begriff der Allegorie wendet Friedrich Schlegel sodann auch auf seine Theorie der Welt an und macht ihn sukzessive zu einem Grundbegriff seiner Philosophie. Ausgangspunkt seiner »Theorie der Welt«, wie er sie in den Jenaer Vorlesungen entwickelt, ist bereits die Ablehnung der Vorstellung von einem »Ding an sich«. Er kennt aber dennoch eine »objektive Welt außer uns«: 1075 1076 1077 1078 1079

Ebd., S. 24. Ebd., S. 17. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29. Ebd., S. 29.

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Der Begriff der Welt ist keineswegs identisch mit dem, was man etwa Dinge außer uns nennt. Es giebt keine Dinge außer uns. So, wenn es als Dinge außer uns genommen wird, giebt es keine objektive Welt außer uns; aber davon ist die Rede gar nicht. Wenn wir von einer objektiven Welt außer uns sprechen, so kommen wir nicht in Wiederstreit mit der Philosophie der Reflexion. Die Verschiedenheit liegt nicht in der Annahme selbst, sondern in der Art der Annahme. Die objektive Welt ist nichts anderes als das Resultat von geistigen Wesen.1080

Damit spricht Schlegel der sinnlich wahrnehmbaren Außenwelt Realität zu, ohne den Dualismus von belebter geistiger Welt und unbelebter Dingwelt aufrecht zu erhalten. Er unterscheidet bei der »Welt außer uns« Materie und Form.1081 Materie und Form bestimmt er wiederum antagonistisch – während die Quelle der Form in der Substanz liegt, deren Prinzip die Einheit ist, so sind die Elemente, als das der Substanz Entgegengesetzte, die Quelle der Materie. Die Form der Elemente aber ist »Duplicität und Veränderlichkeit«. Aus der Verbindung von Substanz und Elementen – Einheit mit Duplicität und Veränderlichkeit – geht das »Individuum« hervor.1082 Nichts anderes aber ist die »Welt außer uns« – auch sie besteht damit aus Individuen. Die zentrale Frage, die sich nach Schlegel aus dieser Ausgangskonstellation heraus der Philosophie stellt, ist diejenige nach dem Grund der Existenz der Individuen: Es ist die Frage, die man an die Philosophie macht, und auf deren Beantwortung alles ankommt; nämlich: Warum ist das Unendliche aus sich herausgegangen und hat sich endlich gemacht? – das heißt mit andren Worten: Warum sind Individua? Oder : Warum läuft das Spiel der Natur nicht in einem Nu ab, so daß also gar nichts existirt? Die Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn wir einen Begriff einschieben. Wir haben nämlich die Begriffe eine, unendliche Substanz – und Individua. Wenn wir uns den Übergang von dem einen zu den andern erklären wollen, so können wir dies nicht anders, als daß wir zwischen beyden noch einen Begriff einschieben, nämlich den Begriff des Bildes oder Darstellung, Allegorie (ei¨ j~m). Das Individuum ist also ein Bild der einen unendlichen Substanz.1083

Schlegels Verwendungsweise des Bildbegriffs in seiner Jenaer Vorlesung, wie er ihn hier entwickelt, oszilliert zwischen philosophischer Denkfigur und kunsttheoretisch-konkretem Bildbegriff. Insofern das Bild zwischen Substanz und Individuen zwischengeschaltet werden soll, ist es eine Figur der Vermittlung, die an den Eigenschaften beider Prinzipien Anteil hat und den Übergang von dem einen zum anderen durch seine konzeptuelle Qualität plausibel machen soll. Das Bild beschreibt letztlich eine Modusverschiebung. Es beschreibt, wie die eine 1080 1081 1082 1083

Ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 37. Ebd., S. 39.

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Substanz in den Modus des Individuums übergeht. Indem das Individuum als »Bild der einen unendlichen Substanz« bezeichnet wird, benennt das Bild das Verhältnis, in dem das Individuum zur Substanz steht. Um die Art dieser Relation, die mit Hilfe des Bildbegriffs umschrieben wird, genauer fassen zu können, müssen die Eigenschaften des Bildes verstanden werden. Und diese erschließen sich aus der kunstwissenschaftlichen Verwendung des Bildbegriffs, zu dem der philosophische Bildbegriff analog konzipiert ist. Auf genau diesen kunsttheoretischen Bildbegriff rekurriert Schlegel, wenn er neben dem Bild die alternativen Begriffe der Darstellung und der Allegorie anbietet. Die Darstellung spielt auch in Schlegels späteren Texten – wie anhand der Betrachtung der Vorlesungen Über deutsche Sprache und Literatur bereits deutlich wurde – eine zentrale Rolle innerhalb der Unterscheidung von Philosophie und Dichtung. So bestimmt Schlegel – wie weiter unten noch näher ausgeführt werden wird – in seinen Kölner Vorlesungen die Darstellung im Gegensatz zum Begriff als Wiedergabe der unendlichen Fülle und Mannigfaltigkeit.1084 Das Individuum als Bild im Sinne von Darstellung der Substanz würde damit die ganze Komplexität und Diversität, die in der einen unendlichen Substanz gegeben ist, enthalten und ausbreiten. Der brauchbarste Begriff zur Erklärung des Verhältnisses zwischen der einen Substanz und den vielen Individuen scheint aber für Schlegel selbst die Allegorie zu sein. Die Allegorie, die bekanntlich eine enorme Wiederbelebung und außerordentliche Wertschätzung in der Romantik erfahren hat,1085 erlebte diese Konjunktur, wie sich hier zeigt, nicht nur auf kunsttheoretischem Gebiet, sondern erscheint als so zentrale Denkfigur, dass sie von Friedrich Schlegel dazu herangezogen wird, grundlegende philosophische Sachverhalte zu erklären. Allerdings, das muss man hinzufügen, hat Kant dieser im 18. Jahrhundert auf kunstphilosophischem Gebiet populär werdenden Debatte mit seiner Verwendung des Symbolbegriffs vorgearbeitet.1086 Die Allegorie, so Schlegel, ermöglicht den Übergang vom Unendlichen zum Endlichen: Von dem Endlichen giebt es keinen vernünftigen und verständigen Übergang zum Unendlichen. Aber umgekehrt ist es möglich durch die Einschiebung der Allegorie. Das Universum ist ein Kunstwerk – ein Thier – eine Pflanze. Aus der Allegorie (Erklärung 1084 Vgl. ebd., S. 362. 1085 Zur Wertschätzung der Allegorie in der Romantik vgl. z. B. Schwering, Markus: Symbol und Allegorie in der deutschen Romantik, in: Romantik-Handbuch, hrsg. v. Helmut Schanze, Stuttgart 1994, S. 366 – 379, bes. S. 375 – 379. Zur Relevanz und zum unterschiedlichen Gebrauch des Allegorie- und des Symbolbegriffs um 1800 vgl. z. B. die strukturalistische Analyse Michael Titzmanns: Allegorie und Symbol im Denksystem der Goethezeit, in: Formen und Funktionen der Allegorie, hrsg. v. Walter Haug, Stuttgart 1979, S. 642 – 665. Anders als etwa Goethe und Schelling hat Schlegel nie zwischen Allegorie und Symbol unterschieden, sondern die Begriffe weitestgehend synonym gebraucht. (Vgl. Schwering, Symbol und Allegorie in der deutschen Romantik, S. 370). 1086 Zu Kants Symbolbegriff vgl. Teil A, Kap. I.2.1.

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vom Daseyn der Welt) folgt, daß in jedem Individuo nur so viel Realität ist, als es Sinn, als es Bedeutung, Geist hat.1087

Dass er den Begriff der Allegorie aus der Kunsttheorie importiert und ihn in dieser Bedeutung verstanden wissen will, zeigt Schlegel seinen Hörern deutlich an. Allerdings wirkt die Parallelisierung von Kunstwerk, Tier und Pflanze zunächst irritierend. Sie kann allein vor dem Hintergrund verstanden werden, dass das Kunstwerk in Analogie zur Natur (oder umgekehrt) gedacht wird und auch die Gegenstände der Natur, gemäß der Böhmeschen Signaturenlehre, als semiotische Bedeutungsträger gelten, deren materielle Erscheinung auf einen darin zum Ausdruck kommenden immateriellen Geist verweist. Diese Analogiebildung konzentriert Schlegel gegen Ende seiner Vorlesung auf wenige Sätze und spricht sie explizit aus: »Der Idealismus betrachtet die Natur wie ein Kunstwerk, wie ein Gedicht.«1088 Insofern besteht das Wesen des Individuums darin, dass es vermittels seiner materiellen, sinnlich wahrnehmbaren und damit auch begrenzten, endlichen Gestalt den Bedeutungsgehalt der unendlichen Substanz darstellt. Es wird analog zu einem sprachlichen Zeichen gedacht, bei dem ebenfalls die sinnliche Erscheinung nur insofern von Belang ist, als diese auf eine Bedeutung referiert. Das Individuum als Bild wird also einer Zeichenstruktur analog vorgestellt. Diese Grundstruktur seines philosophischen Denkens, die sich hier bereits ankündigt, wird Friedrich Schlegel in den drei Jahre später gehaltenen Kölner Vorlesungen noch deutlich ausbauen. So definiert er die Allegorie nochmals als den Mittelbegriff zwischen Einheit und Vielheit und situiert sie damit an der Übergangsstelle zwischen Endlichem und Unendlichem. Erläuternd fügt er hinzu: »Der Vielheit wird nur die Realität der Darstellung beygelegt. Die Allegorie correspondirt ganz genau mit dem organischen Wesen und [dem] des Kunstwerks.«1089 In der Einleitung seiner Vorlesung hat er die Allegorie bereits als »die Erscheinung eines Ideals« bezeichnet.1090 Den Satz, dass die Individuen das Bild der einen unendlichen Substanz seien, reformuliert Schlegel an anderer Stelle, wo es heißt »Die Natur ist das Bild der werdenden Gottheit«.1091 Er spannt schließlich ein System auf, in dem Natur, Welt und Mensch nach Vorgabe seines am Allegoriebegriff entwickelten Systems um den zentralen Begriff der Gottheit gruppiert werden.1092 Werden Welt und Mensch aber als dem philologischen Allegoriebegriff

1087 1088 1089 1090 1091 1092

KFSA, Bd. 12, S. 39 f. Ebd., S. 105. Ebd., S. 41. Ebd., S. 19. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 54 – 56.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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analoge Phänomene gedeutet, so haben Philosophie und Poesie den gleichen Gegenstandsbereich: Die Philosophie, indem sie aus sich selbst herausgeht, und Philosophie des Lebens wird, kommt mit der Poesie überein. Die Materie ist einerley der Kunst und der Wissenschaft; aber die Form ist verschieden. Der Philosoph will wissen, aber der Künstler will darstellen. Hierdurch unterscheiden sich also schon Poesie und Philosophie, nämlich jene stellt dar ; diese hingegen will wissen […].1093

Die Unterscheidung zwischen Poesie und Philosophie trifft Schlegel damit in Bezug auf die Herangehensweise an den gleichen Gegenstandsbereich. Werden alle Gegenstände der Welt als bedeutungstragende Zeichen verstanden, so tut sich damit zugleich ein zweites Problem auf, das im zeitgenössischen Denken ebenfalls bereits seine Verankerung hatte – das Problem der Hermeneutik.1094 Die Grundannahme aller hermeneutischen Überlegungen wird dabei unumwunden benannt: »Ein absolutes Verstehen ist nach unserer Ansicht gar nicht möglich.«1095 Im Verstehensprozess kann nach Schlegels Konzeption niemals auf den Geist des Gegenstandes – denn das ist es, was hier verstanden werden soll – Bezug genommen werden. Geist aber kann sich immer nur im Medium der Darstellung mitteilen: »Nun giebt es kein anderes Medium als die 1093 Ebd., S. 61. 1094 Zur Geschichte der Hermeneutik im 17. und frühen 18. Jahrhundert, die als Wegbereiter der von Schleiermacher zu Beginn des 18. Jahrhunderts formulierten Hermeneutik betrachtet werden kann, vgl. z. B. Alexander, Werner : Hermeneutica Generalis. Zur Konzeption und Entwicklung der allgemeinen Verstehenslehre im 17. und 18. Jahrhundert, Stuttgart 1993. Friedrich Schlegels Zugang zum Verstehen aber, der alle Gegenstände der Welt als deutbare Zeichen interpretiert, fällt unter den Begriff der »mantischen Hermeneutik« oder »mantischen Auslegungskunst«. Diesen hermeneutischen Ansatz konnte er z. B. bei Georg Friedrich Meier in seinem Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst von 1757 finden, wo dieser etwa über die natürlichen Zeichen schreibt: »In dieser Welt ist, weil sie die beste ist, der allergrößte allgemeine bezeichnende Zusammenhang, der in einer Welt möglich ist. Folglich kan ein jedweder würklicher Theil in dieser Welt ein unmittelbares oder mittelbares, entferteres oder näheres natürliches Zeichen eines jedweden andern würklichen Theils der Welt seyn.« (Meier, Georg Friedrich: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Halle 1757, mit einer Einleitung v. Lutz Geldsetzer, Düsseldorf 1965, § 35). Zur mantischen Hermeneutik im 18. Jahrhundert und in der Romantik vgl. auch Kurz, Gerhard: Alte, neue, altneue Hermeneutik. Überlegungen zu den Normen romantischer Hermeneutik, in: Krisen des Verstehens um 1800, hrsg. v. Sandra Heinen u. Harald Nehr, Würzburg 2004, S. 31 – 54, hier S. 34 f. In erster Linie betrachtet Kurz in seiner Studie die Abgrenzung von Aufklärungshermeneutik und romantischer Hermeneutik im Rahmen der Fragen des Textverstehens, wo er schlüssig die Unterschiede der beiden hermeneutischen Konzeptionen des 18. Jahrhunderts herausarbeitet. Ausführlich zum Verhältnis Mantik und Hermeneutik vgl. den Aufsatz von Wolfram Hogrebe: Mantik und Hermeneutik, in: ders. (Hrsg.): Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur, Würzburg 2005, S. 13 – 22. 1095 KFSA, Bd. 12, S. 102.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Darstellung. Durch Darstellung soll das in dem andern vorgehen, was in uns vorgieng, so hat sie den Zweck der Mittheilung erreicht.«1096 Insofern sich der Geist immer in einem körperlichen Gegenstand darstellt – in Schlegels Terminologie gesprochen: Wenn alles Allegorie ist – kann Verstehen nur über den Umweg der Darstellung erfolgen: Der Idealist, da nur das Gleiche das Gleiche versteht, muß behutsam seyn, wenn er sich mittheilen will. Er muß sehen, ob diejenigen, denen er sich mittheilen will, denselben Begriff haben, wie er. Erkennen sie beyde die Realität, so wollen sie dasselbe, sey auch der Unterschied in den Worten noch so groß. Dieser wird sich auch bescheiden, den andern nie ganz verstehen zu wollen. Es ist unmöglich, daß sie einander absolut verstehen. Die Mittheilung soll Darstellung seyn, kein [sic!] anderes Medium giebt es nicht zwischen Geist und Geist.1097

Das Verständnis aller materieller Gegenstände als Darstellung geistiger Entitäten, mithin die Deutung von Welt als Allegorie, bedingt die Adaption philologisch-poetologischer Methoden in der Philosophie. Die Welt wird Poesie, die Philologie wird zum Instrumentarium von universaler Weltdeutung.

2.5

Wort und Bild als Grundtermini des Schlegelschen Idealismus – Die Kölner Vorlesungen

Die Einleitung seiner Kölner Vorlesung, die einen profunden Überblick über die Philosophiegeschichte von der Antike bis zur zeitgenössischen Gegenwart liefert, ist in zwei Teile gegliedert – einen systematischen und einen chronologischhistorischen Teil. Im ersten, systematischen Teil klassifiziert Schlegel die Fülle philosophischer Systeme nach fünf möglichen Hauptarten von Philosophie, die er bestimmt als: Empirismus, Materialismus, Skeptizismus, Pantheismus und Idealismus.1098 Bereits zu Beginn seiner Vorlesung macht er deutlich, wie er diese Hauptarten der Philosophie zueinander in Beziehung setzt: Sie stehen für ihn in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, wobei alle im Sinne von Vorstufen auf den Idealismus als der einzig wahren Philosophie hingeordnet sind: »Aus der Charakteristik der vier ersten Arten wird sich ergeben, daß die letztere die einzige, welche auf wahrem Weg, d. h. recht eigentlich philosophisch ist. Daher muß die Untersuchung der ersteren auch notwendig jener der letzteren vorangehen.«1099 Der Empirismus, der alles Wissen lediglich aus der Erfahrung her1096 1097 1098 1099

Ebd., S. 102. Ebd., S. 102 f. Vgl. ebd., S. 115. Ebd., S. 115.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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leitet und jegliche Form von Geist leugnet, steht für ihn an unterster Stelle. Der Materialismus, der »den Geist und alle Dinge aus der Materie abzuleiten und zu konstruieren wagt«, baut die Annahme sowohl von Dingen an sich also auch von einem geistigen Prinzip in seine Lehre ein und ist damit »viel freier und kühner als der Empirismus, eigentlich ein transzendenter Empirismus«1100. Insofern der Materialismus als Dualismus ausgeprägt ist, ist er für Schlegel sogar mit der dualistischen Ausformung des Idealismus verwandt.1101 Schlechter kommt der Skeptizismus weg, den er als eine Haltung bestimmt, die sich auf alle Arten der Philosophie gründen kann. Weiß man, worauf Schlegels Denken abzielt, so erkennt man die Geringschätzung, die er dem Skeptizismus zuteil werden lässt, schon an der einleitenden Feststellung: »Zeichnet sich der Materialismus durch eine kühne Phantasie aus, so tut es der Skeptizismus durch eine furchtsame Nüchternheit (oder nüchterne Furchtsamkeit), und ist deshalb von Poesie und Kunst am weitesten entfernt.«1102 Wie diametral der Skeptizismus dem Idealismus als der einzig wahren Philosophie entgegengesetzt ist, lässt sich auch an seiner Grundüberzeugung ablesen, die eine Leugnung der Möglichkeit dessen darstellt, wonach der Idealismus gerade strebt: die Leugnung der »Möglichkeit einer vollkommenen Erkenntnis der unendlichen Realität.«1103 Der Abstand des Pantheismus zum Idealismus wird hingegen merklich geringer : [Der Pantheismus ist, Y.A.] im Verhältnis zu der intellektuellen Philosophie, dem Idealismus, insoweit mit ihm einig, als er ebenfalls die unendliche Realität zum Gegenstand hat, wie das jede Philosophie, die sich auf ein erstes Prinzip begründen, oder durch eine Idee beleben und beseelen will, haben muß. Der Unterschied besteht aber darin, daß der Pantheismus auf die negative, der Idealismus hingegen auf die positive Erkenntnis der unendlichen Realität ausgeht.1104

Auf diese Weise ist Schlegel sukzessive bis zur intellektuellen Philosophie vorangeschritten, zu der er auch den Idealismus rechnet. Innerhalb der idealistischen Strömungen nimmt er jedoch zunächst eine Unterscheidung vor: Bisher ist Intellektual-Philosophie und Ideal-Philosophie in einer und derselben Bedeutung gebraucht worden. Die Intellektual-Philosophie teilt sich aber wieder in zwei verschiedene Arten; sie leugnet entweder alle Materie, erklärt sie nur für Schein, leitet alles aus einem geistigen Prinzip her : dann ist sie Idealismus, oder nimmt ursprünglich Materie neben dem Geist, also zwei Prinzipien an, gibt aber dem Geist durchaus den Vorzug, läßt die Materie von ihm bilden, dann ist sie Dualismus, und zwar, zur Unterscheidung von dem materialistischen, intellektueller Dualismus.1105 1100 1101 1102 1103 1104 1105

Ebd., S. 120. Vgl. ebd., S. 122. Ebd., S. 124. Ebd., S. 127. Ebd., S. 131. Ebd., S. 136.

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Diese Unterscheidung zwischen Idealismus und intellektuellem Dualismus dient Schlegel in seiner folgenden Argumentation dazu, die bisher bekannten idealistischen Systeme von seinem eigenen philosophischen Konzept abzugrenzen und allein für das eigene Modell den Terminus des Idealismus zu beanspruchen.1106 Als einen ersten Hauptvertreter des intellektuellen Dualismus bestimmt er Platon. Grund für den durchgängig zu beobachtenden Rückfall in einen Dualismus, dem die Intellektualphilosophie bisher ständig ausgeliefert gewesen sei, sieht er in der von ihr vorgenommenen Bestimmung des ersten geistigen Prinzips als Intelligenz. Diese, so Schlegel, bedingt notwendig die Einführung einer Materie, da sie immer – anschauend oder bildend – auf ein Objekt bezogen sein müsse. Aus diesem Dilemma will Friedrich Schlegel herausführen, indem er das menschliche Bewusstsein nicht länger »bloß [als] Verstand und Intelligenz«1107 definieren möchte, sondern durch das Vermögen der Emotionalität zu ersetzen versucht: Man müßte also, wenn man übrigens annehmen kann, daß es in der Natur so beschaffen, wie in uns selbst, daß wir nach unseren Fähigkeiten, unserem Geist u.s.w. ein wiewohl unvollkommenes Ebenbild Gottes seien, versuchen, ob das erste Prinzip der Philosophie, statt aus dem Erkenntnisvermögen, nicht besser aus einem andern menschlichen Vermögen, ob nicht aus dem Begehrungs- und Gefühlsvermögen, aus dem Vermögen zum Trieb abzuleiten, und so jene Unvollkommenheit zu vermeiden wäre.1108

Diese Argumentationsfigur, die den Trieb an die Stelle des Verstandes setzt, ist bereits aus Fichtes 1800 erschienenem Aufsatz Über den Geist und Buchstab in der Philosophie. In einer Reihe von Briefen bekannt, wo der ästhetische Trieb sich dadurch auszeichnet, dass er von der Materie gänzlich unabhängig wirkender Geist ist.1109 Anders als Fichte aber, der ebenso im Rahmen geläufiger philosophischer Terminologie wie philosophischen Vorstellungen vom Aufbau des 1106 Sanne Elisa Grunnet skizziert in ihrer Monographie zu Schlegels Bewusstseinstheorie Schlegels sich im Laufe der Zeit wandelnde Einschätzung des Idealismus (Fichtescher Prägung). Ihre summarische Darstellung von Schlegels Ablehnung der bekannten idealistischen Systeme in seinen Kölner Vorlesungen übergeht allerdings die Tatsache, dass dies keine Ablehnung des Idealismus an sich ist, sondern im Gegenteil Schlegel die Defizite der bisherigen idealistischen Systeme herausarbeitet, um in seinem eigenen System den »wahren« Idealismus vorzulegen. Allenfalls spricht Grunnet recht unentschlossen von Schlegels »Überwindung oder vielleicht konsequenten Durchführung des Idealismus« (S. 93). Ebenso wenig schenkt sie der zweiten Verwendungsweise des Begriffs »Idealismus« bei Schlegel Aufmerksamkeit, wonach Schlegel damit eine Art von philosophischem »Urzustand« beschreibt (vgl. dieses Kap. weiter unten). Vgl. Grunnet, Sanne Elisa: Die Bewußtseinstheorie Friedrich Schlegels, übers. aus dem Dänischen von Eberhard Harbmeier, Paderborn 1994, S. 85 – 89. 1107 KFSA, Bd. 12, S. 141. 1108 Ebd., S. 141. 1109 Vgl. Teil A, Kap. I.2.2.

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menschlichen Geistes gemäß argumentiert, nimmt Schlegel hier eine absolute Autorität zur Hilfe. In Schlegels Philosophie schleicht sich eine theologische Argumentation ein, die sich bereits in der oben zitierten Rede von der Ebenbildlichkeit Gottes angedeutet hat. Sie kulminiert in dem zentralen Satz »Gott ist die Liebe«1110. Die sich daraus ergebenden Konsequenzen für seine Intellektualphilosophie benennt er sogleich: »Auf diese Weise wird nicht die Vernunft, der Verstand für das Höchste genommen, sondern die Liebe.«1111 Aus dem Gegensatz zwischen Liebe und Verstand erklärt Friedrich Schlegel im folgenden auch alle bisherigen Probleme der Intellektualphilosophie, die er mit seinem auf der Liebe gründenden Idealismus zu lösen verspricht: Aus dem Vorhergenden haben wir hinlänglich gesehen, daß die Intellektualphilosophie ihren Zweck, den Geist über die Materie zu erheben, unmöglich erreichen kann, es sei denn, daß die Materie sich aus dem Geist ableiten lasse; soll sie ihm recht eigentümlich untergeordnet sein, so muß sie auch vom Geist erschaffen sein. Bei der Vorstellung: der Verstand ist der höchste Geist, die Gottheit, ist aber das Problem nicht zu lösen; der Verstand kann nicht erzeugen, schaffen, er kann nur bilden. Daher haben sich denn auch alle Intellektualphilosophen den Satz: Gott hat die Welt aus Nichts erschaffen, bisher noch nicht recht erklären können. Dahingegen wird es eher gelingen, zu zeigen, wie aus der Liebe Leben, und aus diesem eine körperliche Organisation hervorgehe, entstehe […].1112

Im Folgenden skizziert er äußerst knapp einige idealistische Systeme – Leibniz, Schelling, Fichte –, die aber alle seiner Meinung nach unvollkommen geblieben sind.1113 »Den Grund der Unvollkommenheit der idealistischen Systeme« so erläutert Schlegel »wird man finden in der Art, wie dieselben den Schein zu erklären gesucht.«1114 Rhetorisch fragt Schlegel, »ob es ein so leerer Schein sei, daß er gar kein Sein enthält, ihm gar kein Sein zugrunde liege.«1115 Über die Frage 1110 1111 1112 1113 1114

KFSA, Bd. 12, S. 141, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 141, Hervorhebung im Original. Ebd., S. 141. Vgl. ebd., S. 144 – 147. KFSA, Bd. 12, S. 148. Das Problem des Scheins, das Schlegel hier anspricht, geht bereits auf Platons Unterscheidung von Wahrheit und Schein zurück. Platon rekurriert auf den Schein als eines Merkmals der Kunst, um diese abzuqualifizieren. Das Problem des Scheins wurde zu einem zentralen Thema in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Die Aufwertung des Scheins erfolgte schon bei Baumgarten, Schiller u. a., jedoch blieben sie dem platonischen Verständnis von Schein als »keine Wirklichkeit enthaltend« verhaftet. Bei Schlegel hingegen wird diese Grenzziehung zwischen Schein und Wahrheit verwischt. Schnyder thematisiert zwar dieses Phänomen, betrachtet es allerdings ausschließlich mit Blick auf die Relevanz der Rhetorik in Schlegels Werk. Der entscheidende Punkt, dass Schlegel den Schein als »bedeutenden Schein« zum Kerngedanken seines philosophischen Idealismus macht, entgeht ihm. (Vgl. Schnyder, Peter : Die Magie der Rhetorik. Poesie, Philosophie und Politik in Friedrich Schlegels Frühwerk, Paderborn 1999, S. 77 – 91). 1115 KFSA, Bd. 12, S. 148.

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nach dem Schein gelangt er zum Thema der Bilder und der Sprache. Bildliche und sprachliche Symbolsysteme zieht er als Beispiele für bedeutungstragenden Schein heran. Dass sie selbst nicht unmittelbar Gegenstand sind, sondern semiotisch auf einen solchen Bezug nehmen, verleiht ihnen diese Doppelstruktur – sie sind ihrer materiellen Gestalt nach Schein, auf ihrer semantischen Ebene aber sind sie Bedeutung. Damit hat Schlegel einen Gegenstand gefunden, der zugleich eine materielle und eine geistige Komponente hat und insofern davor bewahrt, in einen Dualismus abzurutschen. Der Schein macht diesen Gegenstand nicht irrelevant. Vielmehr wird der Charakter des Scheins benötigt, um geistige Bedeutung zu transportieren: Denn es gibt auch einen bedeutenden sinnhabenden Schein, wie z. B. Bilder, Wörter usw. Was hat z. B. das Wort Sinnlichkeit mit der Sache zu tun? Das Bild oder Wort, das einen Geist mit dem andern verbindet und in Gemeinschaft bringt, hat doch selbst gar nichts gemein mit dem Begriff, den dadurch ein Geist dem andern mitteilt, oder der Verbindung, in welche dadurch die beiden Geister miteinander treten. Ein Wort oder Bild ist also, ungeachtet es gar keine Ähnlichkeit hat mit dem Gegenstand, den es bedeutet, doch kein leerer Schein.1116

Der Schein der Bilder und der Sprache wird zur Kommunikation zwischen den Geistern benötigt. Bild und Sprache sind damit für Friedrich Schlegel zwei Formen, die paradigmatisch die von ihm entworfene Form des Idealismus beschreiben. Die zweistellige semiotische Struktur, die Schlegel für die Worte der Sprache beschrieben hat, überträgt er auf die Deutung der unbelebten Natur. Kurz gesagt: er deutet die gesamte Materie in Analogie zur Sprache – jegliche materielle Erscheinung wird für Schlegel zum sinnhabenden Schein: Wollte man daher der willkürlichen Erdichtung und Voraussetzung in der Philosophie einmal so viel Spielraum geben, als doch teilweise viele Idealisten zur Lösung der Rätsel getan, so sollte man die Eindrücke aller Naturerscheinungen auf die vorhin angegebene Art als Worte ansehen, die auch nicht der Gegenstand selbst sind, uns jedoch als ein Medium mit demselben verständigen, als Ausdrücke also, als halbverständliche, halb unverständliche Worte verwandter, aber gefesselter Geister, die sich nicht verständlich machen können, uns bald zu klagen, bald ihre innere Natur auszusprechen und zur Freude oder Trauer aufzufordern scheinen usw.1117

Diese Gedanken erinnern deutlich an Jacob Böhmes Signaturenlehre, für dessen Werk Schlegel wiederholt seine Hochachtung ausgedrückt hat.1118 Schlegel weist hier deutlich auf die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem hin und denkt damit nicht in Kategorien magischer Identität von Signifikant und Si1116 Ebd., S. 148. 1117 Ebd., S. 149. 1118 Vgl. z. B. seine Ausführungen zu Böhme aus seinen Kölner Vorlesungen, KFSA, Bd. 12, S. 255.

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gnifikat. Die sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen dienen nicht dem Menschen zur Handhabung der Gegenstände, stattdessen werden sie als Artikulationen von geistigen Entitäten betrachtet, die sich hinter diesem materiellen Schein verbergen. Die semiotische Struktur der so verstandenen Naturgegenstände entspricht nach der Klassifikation von Peirce den indexikalischen Zeichen, die auf einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat beruhen. Insofern handelt es sich nicht um arbiträre, sondern um motivierte Zeichen. Die Motiviertheit beruht aber – anders als bei dem sich im 18. Jahrhundert durchsetzenden Verständnis vom natürlichen als nachahmendem Zeichen – nicht auf einer mimetischen Ähnlichkeit, sondern auf einem Kausalzusammenhang. Die Dekodierung dieser Sprache erfolgt nicht auf Ebene des Verstandes, sondern wird mit Hilfe des Gefühls geleistet: So wie z. B. der Gesang der Nachtigall jemanden, der ihn fühlt, wie die halb verständliche, halb unverständliche Sprache eines uns zwar verwandten, aber von uns getrennten Wesens, wie die dunkle, unverständliche Sprache eines gefesselten Geistes, der uns ansprechen, sich deutlich machen will, vorkommen muß.1119

Dieses Denkmuster fügt sich in Schlegels Forderung ein, das Gefühlsvermögen anstatt der Vernunft zum Ausgangspunkt des Idealismus zu machen. Zugleich drückt sich in diesem Zitat die Vorstellung von einer universalen Verwandtschaft und Interaktion aller Dinge aus, die ihre Grundlage in einem einheitlichen kosmologischen Ganzen hat. So erklärt sich aus diesem Modell auch, wie letztlich alles als Geist und die Materie als dessen Produkt verstanden werden kann: Alsdann wäre es [z. B. der Gesang der Nachtigall, Y.A.] ein bedeutender Schein, und alles wäre nur Ich, könnte sich daher auch mit der Idee einer unendlichen Realität besser vertragen, die denn doch das einzige ist, was den Idealismus zum Idealismus macht, da er, wenn man diese wegnähme, auf die Selbstbetrachtung des individuellen Ichs beschränkt würde, zu einem subjektiven Empirismus herabsänke.1120

Auf diese Weise umgeht Friedrich Schlegel es, in Gegenüberstellung zur geistigen Welt eine echte materielle Welt anzunehmen und so in die Falle des Dualismus zu geraten, in der er bisher alle Intellektualphilosophie gefangen sieht. Insofern er die materielle Welt als bedeutenden Schein interpretiert, muss ihr auch durchgängig ein geistiges Prinzip zugrunde liegen. Sie ist von diesem nicht geschieden. Die Annahme eines leeren, bedeutungslosen Scheins hingegen basiert auf der Vorstellung von materiellen Gegenständen, in denen sich nicht unmittelbar ein Geist artikuliert. Eine solche Annahme aber führt notwendig zur 1119 KFSA, Bd. 12, S. 149. 1120 Ebd., S. 149.

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Setzung eines Nicht-Ich.1121 Es ist genau jene nachträgliche Setzung eines NichtIch, die er der Fichteschen Philosophie zum Vorwurf macht und die die Bruchstelle markiert, an der sich sein Idealismus von jenem fichtescher Prägung trennt.1122 Im weiteren Verlauf seiner philosophischen Vorlesungen nimmt Friedrich Schlegel die historischen Erscheinungen der von ihm unterschiedenen Formen der Intellektualphilosophie und des Idealismus in den Blick. Wurde bis zu diesem Moment angenommen, dass die Intellektualphilosophie dem Idealismus zeitlich vorausgehe, so richtet er jetzt erstmals den Blick auf »eine ältere Art von Idealismus, die lange vor der Intellektualphilosophie existiert hat«1123. Dieser Idealismus war für Schlegel ein Denkmodell, das noch vor der Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen von Philosophie, Religion und Mythologie herrschend war. Er liegt damit jenseits der Philosophiegeschichte. Dennoch ist er für Friedrich Schlegels Argumentation von besonderer Bedeutung. Wie beschreibt er diesen Idealismus? Er belegt ihn mit dem Terminus des Hylozoismus und beschreibt damit ein Modell der Weltdeutung, wonach alle Gegenstände der Welt als lebendig interpretiert werden. Er entwirft eine Vorstellungswelt, in der es das unbelebte Ding nicht gibt – mithin auch für dualistisches Denken kein Platz ist.1124 Auf diese systematischen Überlegungen zum Idealismus folgt eine äußerst ausführliche Darstellung der Philosophiegeschichte von der Antike bis zu Schlegels Gegenwart, die stets unter der Perspektive des zuvor aufgestellten Modells des Idealismus erfolgt, was eine Einschätzung und Beurteilung der jeweiligen Strömung hinsichtlich ihrer Zuordnung beziehungsweise ihres Verhältnisses zu einem dieser idealistischen Konzepte einschließt. So ist bereits der gesamte erste Teil seiner Vorlesungen, in dem Schlegel eine 1121 Vgl. ebd., S. 149. 1122 So erklärt Friedrich Schlegel das Problem der bisherigen idealistischen Ansätze folgendermaßen: »Das Resultat fällt also dahin aus: die Idealisten werden zur Erklärung der Selbstbeschränkung oder Begrenzung des Ichs, die durch Annahme eines leeren Scheins entsteht, zur Annahme eines unbekannten Etwas gezwungen, welches den ersten Anstoß, Anlaß zu einer Selbstgesetzgebung gibt, und dadurch ebenso wie der leere Schein das Ich begrenzt.« (KFSA, Bd. 12, S. 150). 1123 KFSA, Bd. 12, S. 153. 1124 »Es war dieses eine Ansicht der Welt als voll von belebten Kreaturen, als einer Welt, worin nichts unbelebt wäre; alles, was man nun einzeln als Individuum denken konnte, Pflanzen, Stirne, Gestein, etc. wurde als belebt gedacht, alles wurde personifiziert, alle Wesen als empfindend und handelnd aufgestellt. Diese Denkart, Hylozoismus genannt, ist, so paradox der Idealismus in einer systematischen Form in einem System erschient, bei allen ältesten rohen Völkern herrschend gewesen – immer früher als die Ansicht der Dinge als leblos und gedankenlos; ja wir finden, daß dem ältesten Menschen die Vorstellung eines Dings ohne Leben ganz unmöglich gewesen, und also daher ein so ganz natürlicher ungekünstelter Idealismus (der Hylozoismus) entstanden ist.« (KFSA, Bd. 12, S. 154).

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systematische Darstellung der philosophischen Strömungen und eine Philosophiegeschichte vorgelegt hat, auf den Idealismus und das nach Schlegels Auffassung zentrale Problem aller Philosophie – den Ding-Begriff – hingeordnet. Der Idealismus wird dabei als die Strömung vorgestellt, die der Lösung der zentralen philosophischen Frage nach »der positiven Erkenntnis der unendlichen Realität« am nächsten kommt. Zugleich steht ihr zu dieser Erkenntnis noch der Begriff des Dings als der »zentrale Irrtum« der Philosophiegeschichte im Wege, über den sie sich nicht zu erheben vermag. Damit hat Friedrich Schlegel klar das Problem umrissen, das er mit seinem eigenen philosophischen Ansatz zu überwinden strebt. In einem zweiten Teil der Vorlesung, den er mit dem Titel »Psychologie als Theorie des Bewußtseins« überschrieben hat, entwickelt Schlegel seine eigene idealistische Philosophie. Die Theorie des Bewusstseins beschäftigt sich mit dem selbstbewussten Ich als der Grundlage des idealistischen Denkens. Zunächst entwickelt Schlegel die Grundprämissen einer idealistischen Philosophie. Er beginnt mit der Anschauung als »der niedrigsten Stufe und Gestalt des Ichs«1125. Die Anschauung eines Gegenstands setzt notwendig ein anschauendes Prinzip – das Ich also – voraus. Damit das Ich den Gegenstand aber als Gegenstand – und damit verschieden von sich selbst – wahrnehmen kann, bedarf es zugleich auch des Selbstbewusstseins.1126 Selbstbewusstsein lässt sich aber nicht allein aus der Anschauung erklären, sondern es müssen Vernunft und Wille hinzutreten.1127 Hier lehnt sich Schlegel noch weitestgehend an Fichtes Wissenschaftslehre an. Nachdem er den Ausgangspunkt seiner philosophischen Betrachtungen bei der Anschauung genommen hat, fragt Schlegel grundlegend, 1125 KFSA, Bd. 12, S. 324. 1126 Vgl. ebd., S. 325, dort heißt es: »Die Voraussetzung des Satzes a=a trifft also zusammen mit der Voraussetzung eins möglichen Gegenstandes für das Ich; das Ich soll diesen Gegenstand in sich aufnehmen, ihn mit sich verbinden. Dies ist es auch, was nach aller Übereinstimmung die Anschauung ausmacht. Soll nun aber das Ich sich durch diese Aufnahme des Gegenstandes, wobei es sich gegen denselben ganz leidend zu verhalten scheint, nicht ganz und gar in den Gegenstand verlieren, soll es in der Anschauung Ich bleiben, so muß es nicht allein Ich, sondern gleichsam ein Ich des Ichs sein, es muß das Vermögen der in sich zurückgehenden Tätigkeit haben, d. h. Anschauung ist immer notwendig mit Vernunft verbunden, setzt diese durchaus voraus.« Und wenige Zeilen weiter: »denn um Bewußtsein zu haben, um sich des Gegenstandes bewußt zu werden, muß es nicht nur den Gegenstand, sondern sich und den Gegenstand unterscheiden können. Es muß nicht allein den Gegenstand, sondern auch sich selbst (als den Gegenstand anschauend) anschauen können.« 1127 Über die Notwendigkeit des Willens zur Entstehung des Selbstbewusstseins schreibt Schlegel: »Es ist also noch eine dritte Bedingung [neben der Anschauung und der Vernunft, Y.A.], noch eine dritte Seite des Ichs nötig, damit es ein a geben könne, und diese ist der Wille, d. h. die Fähigkeit, seine eigene Tätigkeit schlechthin, wenngleich auch nur negativ zu bestimmen, ihr Grenzen zu setzen, sich selbst teilweise aufzuheben, der unbestimmbaren Bestimmbarkeit der Reflexion ein Ende zu machen.« (KFSA, Bd. 12, S. 326).

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»welches Wissen, welche Erkenntnis […] die Anschauung gewähren«1128 kann. Diese Frage führt ihn auf die problematische Darbietungsweise, mit der der Gegenstand in der Anschauung gegeben wird. Denn »In der Anschauung erscheint uns der Gegenstand immer als etwas Beharrliches, Ruhendes, als von dem Ich Verschiedenes, was es vielleicht gar nicht ist.«1129 Friedrich Schlegel konstatiert: »Wir können den Gegenstand selbst nie erkennen; der Sinn gibt uns immer nur einen Eindruck, Bild oder Vorstellung von dem Gegenstande, nie ihn selbst.«1130 Woran aber liegt dies? Schlegel begründet es mit der Struktur der Anschauung – eine Anschauung von einem Gegenstand ist nur möglich, indem die Vielzahl der stetig wechselnden Eindrücke, in denen sich der Gegenstand den Sinnen darbietet, durch die Reflexion gebündelt und zu einem konsistenten Bild fixiert wird: [D]er Eindruck des Gegenstandes muß, um eine Anschauung hervorzubringen, fixiert werden, der Wille muß ins Mittel treten, die Aufmerksamkeit beliebig richten, sowohl den Sinn, als die Reflexion fixieren, er muß die Eindrücke des Sinnes festhalten, damit nicht einer den andern verwische und eine Anschauung möglich sei; dies ist es dann, was dem Gegenstand den Schein der Beharrlichkeit gibt[.]1131

Der grundlegende Irrtum aller Philosophie, den Schlegel, wie sich gezeigt hat, in der Annahme eines Dings an sich bestimmt, beruht also – das lässt sich aus diesen Bemerkungen schlussfolgern – auf der Anschauung und der Art und Weise, wie sie den menschlichen Geistesvermögen Informationen über die Gegenstände liefert. Die Anschauung erdrückt, tötet eigentlich jeden Gegenstand, weil sie nicht statt haben kann, ohne daß der Gegenstand beharrlich gedacht wird; er kann nur angeschaut werden, wenn er fixiert, festgehalten wird. Die eigentliche Erkenntnis soll auf das innere Wesen des Dings gehen, man soll es in seinem innern lebendigen Wesen auffassen, bloß dieses ergreifen. Nun gesteht aber jedermann ein, daß die Anschauung uns nur eine Wirkung, einen Eindruck, eine Erscheinung gibt, und immer noch etwas hinter dem Vorhang zurückläßt. Das Freie, Lebendige, Bewegliche geht in der Anschauung immer verloren[.]1132

Für Friedrich Schlegel beginnen die Probleme damit im Grunde genau an dem Punkt, wo für Fichte die Lösungen liegen. Fichtes Philosophie, die zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich unterscheidet, behandelt die (Bedingung der) Möglichkeit der Erkenntnis des Nicht-Ich als eine ihrer zentralen Fragestellungen.

1128 1129 1130 1131 1132

KFSA, Bd. 12, S. 326. Ebd., S. 327. Ebd., S. 327. Ebd., S. 328. Ebd., S. 329.

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Möglich wird dies für ihn gerade im Festhalten des aufblitzenden Bildes, das die Reflexion liefert. Da die Anschauung notwendig fixiert und damit alles Lebendige als Ding erscheinen lässt, kann sie nach Schlegels Konzeption nicht zur Erkenntnis – weder der Gegenstände, noch des Ich selbst – dienen.1133 Dient aber die Anschauung nicht zur Erkenntnis, so müssen andere Vermögen des Geistes auf ihre Erkenntnisfähigkeit hin überprüft werden. Von diesen nimmt sich Schlegel als nächstes das Denken vor. Er unterscheidet zwei Formen des Denkens, die er der Vernunft einerseits und dem Verstand andererseits zuordnet: Das Vermögen der in sich zurückgehenden Tätigkeit, die Fähigkeit, das Ich des Ichs zu sein, ist das Denken. Dies Denken hat keinen andern Gegenstand als uns selbst, oder uns selbst in Beziehung auf ein anderes Vermögen unseres Ichs: d. h. wir denken nur uns selbst und unsere Fähigkeiten. Sehen wir bloß auf den groben Mechanismus unseres Bewußtseins so ist Denken Vernunft. Diese ist keineswegs das Denken überhaupt, sondern nur das leidende Denken; d. h. das Denken mit dem Glauben an das Ding, mit Voraussetzung des Dings. […] Die Vernunft betrachtet den Gegenstand bloß als ein Gegebenes, unterscheidet ihn durch seine Merkmale, von andern Gegenständen. Das gibt aber keine Erkenntnis. Die erhalten wir bloß durch die Einsicht in das innere Wesen und die Natur des Gegenstandes, und das ist das Werk des Verstandes.1134

An die Stelle des leblosen Dings setzt Schlegel ein belebtes Gegenüber – ein »Gegen-Ich« oder »Du«. Als solches bestimmt er alle Gegenstände: Hieraus folgt nun auch, wie die Außendinge in der Philosophie anzusehen sind. Sie sind nicht Nicht-Ich außer dem Ich; nicht bloß toter, matter, leerer, sinnlicher Widerschein des Ichs, der dies auf eine unbegreifliche Art beschränkt, sondern, wie gesagt, ein lebendiges, kräftiges Gegen-Ich, ein Du.1135

Als Vorbild für eine solche Weltsicht dient ihm Jacob Böhme, dessen Denksystem Schlegel bereits in der historischen Darstellung großes Gewicht beigemessen hat.1136 Allerdings kann der Mystiker nicht im eigentlichen Sinne als Philosoph bezeichnet werden.1137 Die Grundgedanken von Böhmes Mystik versucht 1133 1134 1135 1136

Vgl. ebd., S. 330. Ebd., S. 340. Ebd., S. 337. So schreibt er in seiner historischen Darstellung der Philosophie über Jakob Böhme: »Eine Philosophie, die wie jene des J. Böhme das Urprinzip als Sehnen, als Streben, als Liebe auffaßt, wird selbst Leben hervorbringen, wird mit produktiver, magischer Kraft neue Kräfte im Bewusstsein hervorrufen, da sie das Bewusstsein selbst in der höchsten, lebendigsten Kraft aufgefaßt hat.« (KFSA, Bd. 12, S. 225). Auch Grunnet verweist darauf, dass diese Sprachauffassung als »Weiterführung von Jacob Böhmes De Signatura Rerum« zu sehen ist. (Grunnet, Die Bewußtseinstheorie Friedrich Schlegels, S. 100). 1137 Vgl. KFSA, Bd. 12, S. 341.

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Friedrich Schlegel nun seinem philosophischen Idealismus zu inkorporieren. Das zentrale Konzept, auf das er sich hierbei stützt, ist die Signaturenlehre. Entsprechend der Böhmeschen Signaturenlehre, wonach die sinnlich wahrnehmbare Seite der Gegenstände als eine Zeichensprache interpretiert wird, die auf das innere Wesen der Gegenstände verweist, deutet Schlegel die Phänomene der Natur als die Sprache, mit der sich das Gegen-Ich dem Menschen mitteilt: Jede Kraft, sobald sie in ein Verhältnis zu uns tritt, d. h. sobald wir sie denken, wahrnehmen, und zu erforschen und zu ergründen suchen, wird sie ein Du; dies ist das Reelle in der Anschauung. Der Stoff ist nichts in der Anschauung. Das, was ihr allein Realität gibt, ist das Wesen, die Bedeutung, der Sinn desselben, ist die Sprache, die uns dunkel anspricht, worin sich uns das Du verständlich machen will. Das innere Wesen und die Natur der Pflanzen und Tiere sind die Worte und Sprache gleichsam, welche das entfernte, verschlossene Du zu uns redet. Durch die Bedeutung wird uns auf diese Weise, was sonst nichts sagender Stoff ist, zum Wort und Bilde des uns tief verborgenen, jedoch verwandten Geistes.1138

Die schon als gänzlich verworfen erschienene Anschauung erfährt damit eine neue Deutung. Nicht insofern das fixierte Bild der Anschauung mit dem Gegenstand identifiziert wird, liefert sie Erkenntnis über denselben, sondern indem dieses Bild als Zeichen aufgefasst wird, in welchem sich das lebendige, dynamische Wesen des Gegenstandes darstellt. In diesem Sinne bestimmt Schlegel die Welt als »unendliches Ich im Werden«, als »eine werdende Gottheit«.1139 Friedrich Schlegel steht vor dem Problem, die mögliche Gleichzeitigkeit von Subjektivität und Objektivität zu erklären. In der Anschauung ist für ihn allein das Objekt präsent, das Subjekt verliert sich darin, im Denken ist reine Subjektivität, die den Gegenstand nicht als Gegenstand zu bewahren vermag. Sucht er nach einer Konzeption, die zwischen diesen beiden extremen Polen angesiedelt sein soll, so bedarf er eines vermittelnden Dritten. Interessanterweise findet er ein solches Vermittelndes im Bild. Es ist für die Fragestellung dieser Arbeit höchst aufschlussreich, dass er auf das Bild als eines solchen vermittelnden Vermögens rekurriert. Das Bild hat einen eigentümlichen ontologischen Status, der auf einer Doppelstruktur aus einer mentalen und einer materiellen Komponente beruht. Das Bild beschreibt Schlegel als einen »Abdruck des Gegenstandes«, welcher ein »innerlich hervorgebrachtes Werk der Freiheit« ist. Schlegel verwendet den Bildbegriff damit für einen mentalen Gegenstand, der jedoch auf der sinnlichen Wahrnehmung eines materiellen Gegenstands basiert. Die Beschreibung des Bildes als Gegen-Ding scheint eng mit Friedrich von Hardenbergs auf dem ordo in versus-Gedanken beruhenden Bildbegriff verwandt zu sein, ohne den Spiegelbildgedanken so weit auszufüh1138 Ebd., S. 338 f. 1139 Ebd., S. 339.

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ren, wie Novalis selbst dies tut. So ist die mimetische Qualität des Bildes bei Schlegel nur angedeutet, sie wird aber seiner These zugrunde liegen, dass das Wort sich in weit größerem Maße von der Anschauung des sinnlichen Eindrucks emanzipieren kann. Auf diese Weise geht er auch von seiner Bild- zu einer Sprachtheorie über. Die Arbitrarität und das Abstraktionsvermögen der Sprache sind für ihn Garanten, die es dem freien Subjekt erlauben, sich einen weit größeren Handlungsspielraum gegenüber dem Gegenstand zu verschaffen. Ist das Bild auch quasi archetypisch für diesen idealistischen Zugang zum Gegenstand, so ist diese neu gedachte Subjekt-Objekt-Relation jedoch erst im Wort in vollem Maße realisiert. [I]m bloßen Empfangen des Gegenstandes verliert das Ich sich im Gegenstande, im Denken verliert es den Gegenstand. Soll beides vereinigt werden, soll der Gegenstand als Gegenstand bleiben und dennoch die Selbsttätigkeit des Ichs einigermaßen gerettet werden, so wird ein neues Mittelglied erfordert und dies Mittelglied ist das Bild. Das Bild ist nur Abdruck des Gegenstandes, das, was dessen Stelle vertritt; aber es ist innerlich hervorgebracht und ein Werk der Freiheit. Das Bild ist gleichsam ein GegenDing, welches das Ich hervorbringt, seine Freiheit zu retten, und doch den Gegenstand fest zu halten, von dem es nicht lassen will. Indessen bleibt das Bild als Gegenstück, als Stellvertreter des Gegenstandes doch immer noch mit dem Ur-Dinge, mit dem Scheine des Dings behaftet, ist daher immer nur eine erste Annäherung zur Freiheit. Das Bild ist nur ein schwacher Gegensatz gegen die Übermacht des sinnlichen Eindrucks. Um nun diesen schwachen Gegensatz zu verstärken, ohne die Stufe zu überschreiten, die in der Anschauung nötig ist und die man behalten muß, d. h. ohne den Gegenstand fahren zu lassen, weil er im Denken verloren geht, bleibt kein anderes Mittel übrig, als die Gemeinsamkeit, welche erreicht wird durch das Wort und die Sprache. Erst hiedurch wird die im Bilde immer noch schwache Annäherung zur Freiheit mächtig verstärkt. Bei einem äußern sinnlichen Eindrucke ohne Bild ist das Ich ganz und gar leidend. Das Bild, wenngleich nur ein Gegending, ist doch eine Hervorbringung des Ichs, ein erster Schritt zur Freiheit; das Wort aber ist gleichsam die Bestätigung und Bekräftigung der im Bilde gewonnenen Freiheit. Es ist dem Menschen die Bestätigung, daß er bei der Anschauung doch nicht ganz der Tyrannei der Dinge unterliege, sondern daß er frei darauf wirken und sie handhaben könne; und dies deswegen, weil erstlich, obschon das Ich noch immer auf der Stufe der Anschauung, und insofern unter dem Einflusse des Dings bleibt, im Wort viel mehr Freiheit und Willkür ausgeübt wird, als beim Bild; und zweitens durch die Gemeinsamkeit die Schwachheit des einzelnen gar sehr verstärkt, und die Verallgemeinerung und Verbreitung der Bilder durch Worte dem Ich immer mehr und mehr Spielraum und Freiheit gibt.1140

Friedrich Schlegel bestimmt das Bild und – als dessen Weiterführung – die Sprache als Bindeglied zwischen Anschauung und Denken. Das Bild, das hier zwar als mentales konstituiert ist, dessen Qualitäten jedoch mit dem phänomenologischen Bildbegriff einer mimetischen, sinnlich wahrnehmbaren Ge1140 Ebd., S. 344.

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genstandsdarstellung korrespondieren, weist aufgrund dieser gegebenen Ähnlichkeitsstruktur zum Gegenstand noch eine deutliche Nähe zur Anschauung auf. Dadurch, dass die Anschauung im Bild quasi dupliziert wird, ist das Bild zugleich aber schon eine willkürliche Hervorbringung des menschlichen Geistes.1141 Während Schlegel das Bild als eine Art Vorstufe zum Wort und zur Sprache charakterisiert, verwirklicht sich für ihn erst in letzterer der freie, eigenständige Umgang des Menschen mit den Gegenständen der Außenwelt. Die Vorzüge der Sprache dem Bild gegenüber sieht er in der Möglichkeit, durch das Wort »viel mehr Freiheit und Willkür« zu erlangen, was eine »Verallgemeinerung und Verbreitung der Bilder durch Worte« mit sich bringt. Dabei spielt Schlegel auf die unterschiedlichen semiotischen Qualitäten von Wort und Bild an.1142 Die hier grundgelegten Gedanken erscheinen in den von Schlegel gewählten Formulierungen noch recht vage. Der Versuch, sie mit Begriffen der modernen Semiotik zu reformulieren, könnte helfen, sie präziser zu fassen. Schlegel scheint zum einen zwei wesentliche Eigenschaften von Sprache im Sinn zu haben: Wörter bleiben einerseits ab einer gewissen Stufe immer abstrakt und allgemein – sie erreichen hinsichtlich der sinnlichen Erscheinung des (Einzel-)Gegenstandes nie die Konkretion eines (Ab-)Bildes. Dies hat zur Folge, dass Sprache notwendig semantische Leerstellen enthält – sie ist semantisch nicht dicht.1143 1141 Nüsses Übersetzung von Schlegels Bildbegriff in »Vorstellung« ist recht allgemein und wird der bildtheoretischen Konzeption, die diesem Gedanken zugrunde liegt, nicht gerecht. Vgl. Nüsse, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, S. 34. 1142 Grunnet verweist zwar auf diese Bindefunktion des Bildes zwischen Anschauung und Denken, sie reproduziert jedoch im Wesentlichen Schlegels Aussagen. Der hier zugrunde gelegte Bildbegriff wird von ihr in keiner Weise problematisiert oder analysiert. Welche erkenntnistheoretischen und semiotischen Auffassungen in dieser Verwendung des Bildbegriffs impliziert sind, wird von Grunnet nicht hinterfragt. Stattdessen spricht sie wenig klar davon, dass »[d]urch das Bild und besonders durch das Wort […] das Ich von der Bürde des Gegenstandes entlastet [wird], der es im Sinneseindruck unterliegt. Es geht darum, daß das Ich, ohne den Gegenstand loszulassen, die Gemeinschaft mit dem Gegenstand bewahrt, aber wohlgemerkt in Freiheit« (Grunnet, Die Bewußtseinstheorie Friedrich Schlegels, S. 97). 1143 Dass auch das Bild semantische Leerstellen enthält, ist heute unbestritten. Allein schon der Umstand, dass ein Gegenstand in der Regel nur aus einer Perspektive dargestellt wird und damit z. B. dessen Rückseite im Bild nicht bestimmt ist, dürfte zur Illustration dieses Problems genügen. Gerade in Abgrenzung des Bildes von der Sprache aber hat diese Argumentation einiges für sich. Auch Ralf Simon argumentiert mit der »Dichte des Individuellen« (Simon, Der poetische Text als Bildkritik, S. 176) und Nelson Goodman stützt seine Unterscheidung der Künste mit und ohne Notationssystem auf syntaktische und semantische Disjunktheit bzw. Dichte ihrer Zeichensysteme (Vgl. Goodman, Sprachen der Kunst, S. 129 – 149). Um Schlegels Denken gerecht zu werden, soll hier allein der Umstand berücksichtigt werden, dass ein Bild – solange es sich nicht um die Sonderklasse der Piktogramme handelt – immer ein individuelles Einzelding zeigt, während die Sprache – vom Namen abgesehen – mit Klassen- oder Gattungsbegriffen operiert.

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Das bedeutet anderseits, dass Wörter – vom Namen abgesehen – immer allgemein sind. Dadurch wird der angeschaute Einzelgegenstand immer unter eine Gegenstandsklasse subsumiert und damit in einer gewissen reflexiven Distanz gehalten. Hinsichtlich des Bildes dürfte Schlegel im Gegenzug die mimetische Ähnlichkeit zwischen dem Bild und der phänomenologischen Gestalt des Gegenstands im Blick haben, die dem Spiegelbild völlig, jedoch auch dem gegenständlichen Gemälde bis zu einem gewissen Grad immer anhaftet. Das Bild gibt damit die Individualität des angeschauten Einzelgegenstandes wieder. Sprache und Bild werden hier als zwei Weisen des Denkens vorgestellt, in denen das Denken seinen Bezug auf ein Referenzobjekt beibehält und nicht zur reinen, in sich abgeschlossenen Geistestätigkeit wird, die jeglichen Bezugs des denkenden Ich auf die Umwelt ermangelt. Aus diesem Gedanken leitet Schlegel die notwendige Sprachfähigkeit des Menschen her. Die Sprache gewährt dem Ich die entscheidende Option, sich denkend auf den Gegenstand zu beziehen, ohne sich gänzlich in diesem zu verlieren.1144 Das Bedürfnis zu sprechen und sich mitzuteilen kann aber nur bei den Menschen stattfinden, da dies Bedürfnis hervorgeht aus dem Streben einer vernünftigen Kraft, sich selbst hervorzubringen und sich frei zu machen von der Herrschaft des Dings. Die Sprache ist nach dieser Ansicht ein Bedürfnis des nach Freiheit strebenden Menschen, um sich mit gemeinsamen Kräften gegen die Übermacht der Welt zu stärken und davon zu befreien. Die Begründung und Notwendigkeit der Sprache liegt also nach diesem unserm Standpunkt bloß und allein in der Natur der Menschheit; sie ist, abstrahiert von ihrem höhern Geiste, nach dem gemeinern Zwecke, wie wir sie hier betrachtet haben, etwas ganz rein Menschliches.1145

Indem er auf diese grundsätzliche anthropologische Funktion von Sprache verweist, integriert Schlegel eine Sprachtheorie in seinen umfassenderen philosophischen Ansatz. Mit dieser Beschreibung der Funktion von Sprache beschreitet Schlegel gegenüber den geläufigen Sprachentstehungshypothesen einen völlig neuen Weg. Der Zweck der Sprache beruht nicht in erster Linie auf Mitteilung oder Erinnerung – um die zwei geläufigen Vorstellungen ins Gedächtnis zu rufen –, sondern sie wird zum Garanten für die auf Freiheit und Subjektautonomie basierende conditio humana schlechthin. Gründete der ältere Bruder August Wilhelm noch seine Poetik auf eine Sprachtheorie, so geht der jüngere Friedrich einen entscheidenden Schritt weiter und stellt die Sprache ins 1144 So lässt er den darauffolgenden Abschnitt mit einem Satz beginnen, der aus dem vorher Gesagten das Fazit zieht: »Hiermit ist also die Sprachfähigkeit abgeleitet.« (KFSA, Bd. 12, S. 344). 1145 KFSA, Bd. 12, S. 345.

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Zentrum seines philosophischen Systems eines radikalisierten Idealismus. Zum Zweck seiner bewusstseinstheoretischen Überlegungen klammert er zwei sich diametral entgegengesetzte Positionen, die aus den zeitgenössischen sprachtheoretischen Debatten geläufig sind, gleichermaßen aus: die Hypothese von einem göttlichen Sprachursprung ebenso wie die Begründung sprachlicher Lautbildung als Ausdruck tierischer Empfindungen.1146 Die Sprache erfüllt für Schlegel eine weitaus grundlegendere Funktion, als bloßes Kommunikationsmedium in den alltäglichen Geschäften des Lebens zu sein. Stattdessen ist nach Schlegels Auffassung Sprache konstitutiv für das Wesen des Menschen. Ruft man sich nochmals in Erinnerung, dass Schlegel den grundlegenden Irrtum aller bisherigen Philosophie von der Antike bis in seine Gegenwart hinein in der Annahme eines »Dings an sich« sieht, so wird hier deutlich, dass er gerade in der Sprachphilosophie den Schlüssel zu einem philosophischen Denken jenseits des Ding-Begriffs erkennt. Sein Idealismus ist damit im Kern eine Sprachphilosophie. Die einmal eingeführte Differenzierung zwischen Bild und Sprache versucht Schlegel im Folgenden eingehender zu durchdenken und seine Bevorzugung der Wortsprache vor dem Bild genauer zu begründen. Als Argumentationsgrundlage dieser Ausführungen bezieht er sich auf die unterschiedlichen Sinne und die damit zusammenhängenden unterschiedlichen medialen Qualitäten von Bild und Sprache. Während das Bild auf den Gesichtssinn wirkt, wird die gesprochene Sprache ausschließlich vom Gehör wahrgenommen. Letzterem räumt Schlegel den Vorzug ein. Es erscheint ihm »sehr wesentlich, daß die Materie des Worts der Schall ist.«1147 Denn dieser »hat als solcher unendlichen Vorzug, insofern er etwas durchaus Bewegliches ist; denn dadurch entfernt man sich schon einen Schritt weiter von der Starrheit und Unbeweglichkeit des Dings zur Freiheit.«1148 Und er erläutert weiter : »Das Gehör ist der Sinn bloß für das Bewegliche, keineswegs für den Stoff, für das Beharrliche; nicht für das Sein, sondern für das Werden der Gegenstände. Alles, was wir durch das Gehör auffassen, kann also nichts anders als Bewegliches sein.«1149 Hier tritt wieder die für Schlegels Denken typische Methode der Analogiebildung zu Tage. Hat er einmal die Grundprämisse des stetigen Werdens für seine Philosophie postuliert, so prüft er alle Gegenstände, die er in seiner philosophischen Vorlesung behandelt, auf die Frage, inwieweit sie sich in diesen Antagonismus von Statik und Dynamik einfügen lassen. Ihrer Zuordnung gemäß erhalten sie sodann einen Platz in seinem philosophischen System zugewiesen. Der Sprache weist er in diesem Fall 1146 1147 1148 1149

Vgl. ebd., S. 345. Ebd., S. 345. Ebd., S. 345. Ebd., S. 346.

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die Dynamik nach und greift hierbei sicherlich auf die Vorarbeit zurück, die ihm Lessing im Laokoon auf diesem Gebiet bereits abgenommen hat.1150 Ist es Kennzeichen des von ihm beschriebenen Bewusstseins, sich in einem stetigen Prozess des Werdens zu befinden, so kann ihm nur die prozesshafte Sprache als adäquates Ausdrucksmittel dienen: »Die Sprache, deren der Mensch sich bedienen soll, kann freilich keine Bildersprache sein; alle Zeichensprache ist nur ein schwaches Surrogat der wahren, die nur auf Schall und Tönen beruhen kann.«1151 Allerdings tut Schlegel damit das Bild und die bildlichen Zeichen nicht schon vollends ab. Die optische Erscheinung der Gegenstände scheint ihm zu wichtig zu sein. Darüber hinaus benötigt er eine Erklärung für diese sinnlich wahrnehmbare Außenseite der Dinge, möchte er in seinem kritischen Idealismus konsequent gegen die Annahme von materiellen Dingen an sich argumentieren. Dazu hat er – das ist bereits gezeigt worden – die Theorie vom Schein aus den ästhetischen Positionen des 18. Jahrhunderts aufgegriffen und weitergedacht.1152 Denn der Schein, so argumentiert er weiter, muss bedeutender Schein sein, soll nicht auch dieser selbst zum leblosen Nicht-Ich erklärt werden. Als Paradigma für solch bedeutenden Schein zieht er die Bild- und Wortsprache der Menschen heran, hinter deren materieller Erscheinung sich stets das Denken eines Bewusstseins verbirgt. Soll es aber kein Ding an sich mehr geben, so muss jegliche materielle Erscheinung zum bedeutenden Schein erklärt werden. Genau das tut Friedrich Schlegel. Auch hier kann er auf die Vorarbeit anderer Denker zurückgreifen. Diesmal sind es die Mystiker, die ihm zugearbeitet haben. Allen voran Jacob Böhme und dessen Signaturenlehre schuldet er – wie sich bereits verschiedentlich gezeigt hat – seine Vorstellung von der visuell-bildlichen Zeichensprache der Gegenstände.1153 So schreibt Friedrich Schlegel in Anbetracht des Gesichtssinns von einer optisch wahrnehmbaren Natursprache: 1150 Auch die Bemerkungen über die unterschiedliche Wahrnehmungsweise des Gehörs und des Gesichtssinns spiegeln deutlich eine Laokoon-Rezeption wider : »Das Gehör ist der Sinn bloß für das Bewegliche, keineswegs für den Stoff, für das Beharrliche; nicht für das Sein, sondern für das Werden der Gegenstände. Alles, was wir durch das Gehör auffassen, kann also nichts anders als Bewegliches sein. Anders verhält sich’s mit dem Gesichte und dem Gefühle; mit diesem nehmen wir unmittelbar nur das Beharrende wahr, nach den Eigenschaften und Merkmalen, die ihm zu inhärieren scheinen. Nehmen wir durch diese Sinne eine Bewegung wahr, so ist es immer nur eine indirekte Wahrnehmung.« (KFSA, Bd. 12, S. 346). 1151 KFSA, Bd. 12, S. 347. 1152 Zur Konzeption des Scheins in den Kunsttheorien des 18. Jahrhunderts vgl. Josef Früchtl: Art.: Schein, in: Ästhetische Grundbegriffe, Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 5, S. 365 – 390, hier: S. 369 – 374. 1153 Heinrich Nüsse verweist in seiner Monographie zwar auf diesen zentralen Gedanken des »bedeutenden Scheins« und dessen Verankerung in Schlegels idealistischem Denken, ihm entgehen jedoch die mystischen Vorbilder, an die dieser Gedanke angelehnt ist. Vgl. Nüsse, Die Sprachtheorie Friedrich Schlegels, S. 26 – 36.

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Indessen gibt es dennoch auch eine natürliche Sprache, die sich in der Gestalt der Gegenstände offenbart. Es ist schon gesagt worden, daß der äußere Gegenstand nicht, wie es scheint, etwas von uns ganz und gar Verschiedenes, ein Ding, sondern sein eigentliches Wesen ein uns verwandtes, verborgenes Du sei. Daraus folgt also, daß jeder Gegenstand, wenn wir ihn recht anzuschauen wissen, uns in seiner natürlichen Sprache eine höhere Bedeutung offenbaret. Das Gesicht ist der Sinn für diese Sprache.1154

Dem Gehörsinn und dem Gesichtssinn werden damit unterschiedliche Aufgabenbereiche zugewiesen. Ist ersterer für die menschliche Sprache zuständig, so ist letzterer Organ zum Verständnis der Natursprache. In einer Konzeption universeller Weltdeutung, in der die Gegenstände der Welt als Artikulationen einer geistigen Entität gedacht werden, wird der Gesichtssinn damit sogar zum entscheidenden Erkenntnisorgan: »Das Gesicht in der höhern Vollendung also ist gleichsam der Sinn für den Sinn, der Sinn für das einzige, was Sinn und Bedeutung hat in der Anschauung, der Sinn für das Geistige im Körperlichen.«1155 Die Bedeutung dieses Zitats erschließt sich erst, wenn man sich noch einmal vergegenwärtigt, was die Rede vom sich in der Anschauung offenbarenden »Geistigen im Körperlichen« meint: Wenn es in Friedrich Schlegels konsequent zu Ende gedachtem Idealismus kein Ding an sich geben darf, so muss im Umkehrschluss alles Ich sein. Und genau in dieser Annahme liegt auch Schlegels Lösung des Problems. Die Gegenstände, die sich dem Menschen in der sinnlichen Anschauung darbieten, sind keine leblosen Dinge, sondern als ein »Gegen-Ich«, ein »Du« zu verstehen. Wenn alles Ich ist, dann liegt die Vermutung nahe, dass alles in einem gewissen Zusammenhang zueinander steht. Genau davon geht Friedrich Schlegel aus. Schlegel nimmt eine unendliche Ichheit an, an der alle Gegenstände der Welt, insofern ihr Wesenskern ein Ich ist, Anteil haben. Die Adaption gnostischen Denkens tritt augenscheinlich zu Tage. »Unser Ich ist ein abgeleitetes, die Erinnerung bezieht sich aber eben auf das Losreißen von dem ursprünglichen Ich, ist also die eigentümliche Grundlage und notwendige Quelle und Wurzel der Ichheit.«1156 Aus dieser Prämisse, wonach alle Gegenstände Anteil an dem einen Ur-Ich haben, leitet Schlegel die Identität von Ich und 1154 KFSA, Bd. 12, S. 347. 1155 Ebd., S. 347. 1156 Ebd., S. 352. Schlegel führt auch im Hinblick auf die Gegenstände weiter aus: »Aus dem Verhältnisse und dem Zusammenhange des Endlichen und Unendlichen ergibt sich schon, daß alles, was sich in dem abgeleiteten und unvollständigen Ich keineswegs aus dem Begriffe des Dings erklären läßt, als ein Teil des vollständigen muß angesehen werden, als eine Erinnerung aus dem vollständigen Ich in dem unvollständigen, zerstückten; zumal da bei uns das ursprüngliche Ich nicht bloß vorausgesetztes, hypothetisches, wie in andern unvollkommenen Systemen, sondern ein wirkliches, lebendiges Ur-Ich ist, wovon das zerstückte, zerrissene Ich abgeleitet ist, dem ja natürlich eine Erinnerung an den ursprünglichen Zustand, eine Grundlage aus jenem Unendlichen, als seiner Quelle, woraus es hervorging, noch beiwohnen muß.« (KFSA, Bd. 12, S. 352).

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Welt ab. Insofern die Welt am Ich partizipiert, ist das Ich die übergeordnete, umfassendere Größe, die die Welt mit einschließt. Für eine Philosophie, die ein umfassendes System von Weltdeutung liefern möchte, folgt daraus, dass ihr zentraler Gegenstand des Nachdenkens das Ich sein müsse. Das umfassendste philosophische System muss also, mit anderen Worten, Bewusstseinsphilosophie sein. Eben dies ist der Idealismus. Aus dem aufgestellten Begriffe der Welt, als einer unendlichen, werdenden Ichheit und aus dem Satz, daß es gar kein Nicht-Ich gebe, folgt, daß der Gedanke der Welt und des Ichs eigentlich ein und derselbe; der Gedanke des Ichs, als den Begriff der Welt enthaltend, ist also alles umfassend und als das innere Licht aller Gedanken zu betrachten. Alle Gedanken sind nur gebrochene Farbenbilder dieses innern Lichtes.1157

Friedrich Schlegel hat dargelegt, wie der Mensch sein Wesen mit Hilfe der Sprache auszudrücken vermag. Verbunden mit der Annahme, dass es keine leblose Materie in Form des Dings an sich gäbe, folgt daraus die nächste logische Konsequenz, dass auch die materiellen Erscheinungsweisen der Gegenstände – versteht man sie ihrem Wesen nach als Subjekte – deren Sprache, die Artikulationsform ihres Ichs, sind. Aber diese Methode […] allein ist noch nicht hinreichend zum richtigen Philosophieren, es ist dazu noch ein drittes Höheres, als alle Methode, nötig – der Geist, dieser ist durch keine Methode zu lehren, er ist unmittelbar, unmitteilbar. Ist alles außer uns kein bloßes Nicht-Ich, sondern ein lebendiges, gegenwirkendes Du, so kann jeder Gegenstand nur die Hülle eines Geistes sein. Jeder muß einen innern Sinn haben, dieser muß überall wahrgenommen werden, wenn wir den Gegenstand nur recht verstehen. Der Sinn leuchtet unmittelbar ein, das Du spricht in dem Augenblicke, wo das Wesen in seinem Ganzen vom Ich verstanden wird, spricht es an und offenbart ihm das Wesen seines Daseins.1158

Insofern Friedrich Schlegel die materielle Erscheinungsform der Gegenstände als Zeichen einer Sprache interpretiert, mit deren Hilfe sich die einzelnen Ichheiten artikulieren und miteinander in Kommunikation treten können, wird die Frage nach der Anschauung der sinnlich wahrnehmbaren Seite der Gegenstände zum hermeneutischen Problem. Beim Anschauen des Gegenstands, der als Signifikant eines Zeichens zu deuten ist, muss es immer schon darum gehen, die mit Hilfe dieser semiotisch zu begreifenden Erscheinung transportierte Bedeutung zu verstehen. Das »unmittelbare Wahrnehmen« dieser Bedeutung interpretiert Schlegel als »eine eigentliche innerliche Verbindung geschiedener, aber ähnlicher Geister«, als eine Vereinigung des Ich mit dem Du:

1157 KFSA, Bd. 12, S. 351. 1158 Ebd., S. 350.

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Dies unmittelbare Wahrnehmen des Sinnes, die Bedeutung, welche die Grundlage des eigentlichen Verstehens ist, ist eine eigentliche innerliche Verbindung geschiedener, aber ähnlicher Geister, ein liebevolles Einswerden des Ich mit dem, was der Gegenstand des Ichs ist, dem Du. Und sofern wir dies Wahrnehmen und Ergreifen des Ichs des Gegenstandes, diese Vermählung des wahrnehmenden Ichs und des wahrgenommenen Geistes sehr gut Liebe nennen, können wir den Satz aufstellen, ohne Liebe kein Sinn, der Sinn, das Verstehen beruht auf der Liebe.1159

Diese erotisch besetzte Formulierung belegt er dann auch tatsächlich mit dem Begriff der Liebe, wobei er im Unklaren lässt, ob die Liebe als Eros oder eher im christlichen Sinne als Caritas verstanden werden soll. Legen auch die vorangehenden Formulierungen die erotische Deutung nahe, so nennt er die Liebe jedoch wenige Seiten weiter zusammen mit den beiden anderen christlichen Attributen des Glaubens und der Hoffnung.1160 Dieses unmittelbare Verstehen, das ohne die Vermittlung materieller Zeichen geschieht, belegt Schlegel mit dem Begriff des Gefühls.1161 Das Wahrnehmen nur des innern Sinns beruht auf einer Berührung, Verbindung, Vermählung und Vermischung beider, des anschauenden und des angeschauten Ichs. Ohne dies ist keine Mitteilung zu gedenken, ohne Berührung ist die Vermählung nicht erklärlich; daher ist es auch ein unmittelbares Wahrnehmen, und weil der Geist der Gegenstände nichts Äußeres, sondern das Innere ist, nicht eigentlich Anschauung zu nennen. Anschauung bezieht sich immer auf das Äußere. Diese innere Anschauung wird gewöhnlich und richtiger durch den Ausdruck Gefühl bezeichnet, als unmittelbare Wahrnehmung des Innern, und so sagen wir denn, das eigentlich Geltende in der Anschauung ist das Gefühl; erst durch das Gefühl bekommt die Anschauung Sinn und Bedeutung.1162

Vermag allein das Gefühl die Bedeutung eines Gegenstands zu erschließen, so kann auch nur dieses, nicht aber die auf die materielle Hülle gerichtete Anschauung, Erkenntnis über den Gegenstand liefern. So erkennt Friedrich Schlegel weder die Vernunft noch die Anschauung als Erkenntnisquelle an,1163 sondern beruft sich allein auf das Gefühl und die Erinnerung: 1159 Ebd., S. 351. 1160 Vgl. ebd., S. 356. 1161 Die Abhandlungen zur hermeneutischen Konzeption Friedrich Schlegels lassen diesen Gedanken eines unmittelbaren und umfassenden Verstehens, der sich in seiner Spätphilosophie findet, unberücksichtigt. Vgl. hierzu etwa Podewski, Madleen: Konzeptionen des Unverständlichen um und nach 1800. Friedrich Schlegel und Heinrich Heine, in: Krisen des Verstehens um 1800, hrsg. v. Sandra Heinen u. Harald Nehr, Würzburg 2004, S. 55 – 73. Ebenso wenig erwähnt Gerhard Kurz diesen Aspekt in seinem Aufsatz zur romantischen Hermeneutik. (Vgl. Kurz, Alte, neue, altneue Hermeneutik). 1162 KFSA, Bd. 12, S. 355. 1163 Hier wendet er sich explizit gegen Kant (KFSA, Bd. 12, S. 355), zugleich ist aber eine ganze philosophische Tradition gemeint, an der Kant ebenso partizipiert wie noch viele seiner Nachfolger – so auch Fichte.

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Gefühl und Erinnerung sind uns die einzigen Quellen der Erkenntnis, indem sie den ganzen Umkreis der Erkenntnis der Ichheit umfassen. Das Gefühl, als unmittelbare Wahrnehmung eines andern Ichs in der gegenwärtigen Welt; die Erinnerung, als ein Wiedererwachen und Wiederfinden des vollständigen Ichs in dem gegenwärtigen, zerteilten, abgeleiteten.1164

Beließe es Friedrich Schlegel bei dieser Feststellung, so käme der Vernunft und der Anschauung überhaupt keine Funktion mehr innerhalb seines philosophischen Systems zu. Die materielle, sinnlich wahrnehmbare Form der Gegenstände ist jedoch gegeben und so sieht er sich scheinbar genötigt, die Anschauung dennoch in sein System zu integrieren. Das Ich, der Geist der Gegenstände, so hat er bereits ausführlich dargelegt, zeigt sich immer in seiner materiellen Hülle, die angeschaut werden kann. So hält Schlegel gegenüber der obigen Aussage einschränkend fest: »Insofern das Gefühl, die unmittelbare Wahrnehmung des innern Sinnes, doch immer an Anschauung gebunden ist, wie die Seele an den Leib, so kann man es auch wohl geistige Anschauung nennen, frei von dem Vorurteile des Dings.«1165 Diese geistige Anschauung, die er hier postuliert, versteht er als durchaus unterschieden von der »intellektuellen Anschauung«, die bei Kant und – unter veränderter Bedeutung – auch bei Fichte eine so große Rolle spielt.1166 Stattdessen identifiziert er die von ihm mit dem Prädikat »geistig« belegte Anschauung mit dem unter Zeitgenossen geläufig als »ästhetische« Anschauung beschriebenen Phänomen. Er führt aus: »Diese geistige Anschauung bezieht sich sehr genau auf den Begriff und das Wesen der Schönheit; sie ist das, was andere ästhetische Anschauung, die Anschauung des Schönen nennen.«1167 Die Anschauung, die sich auf die materielle Hülle des Gegenstandes bezieht, hinter der sich dessen geistige Natur verbirgt, entspricht damit der Betrachtungsweise von Kunstwerken. Hier spielt subkutan das in der Frühromantik allgemein etablierte Verständnis von Kunst als der Erscheinung des Unendlichen im Endlichen eine Rolle. Dieser Gedanke gründet in Friedrich Schlegels grundle1164 KFSA, Bd. 12, S. 355. 1165 Ebd., S. 355. 1166 So stellt Friedrich Schlegel klar : »Eine intellektuelle Anschauung gibt es bei uns nicht, weil das Ich nicht angeschaut werden kann, sich nur denken läßt; denken aber bloß als mittelbar, und nur das Anschauen als unmittelbar zu nehmen, ist ein ganz willkürliches Verfahren derjenigen Philosophen, die eine intellektuelle Anschauung aufstellen. Das eigentlich Unmittelbare ist zwar das Gefühl, es gibt aber auch doch ein unmittelbares Denken. Anschauen kann man immer nur ein äußeres, fremdes, außer uns existierendes Ich, Du, Er, Wir usw. usw. Das eigene Ich kann man nur denken. Anschauen erinnert zu sehr an den Begriff des Dings, der hier ganz vermieden werden muß. – Übrigens findet man auch eine äußerst große Verschiedenheit und viele Missverständnisse in Rücksicht der intellektuellen Anschauung, dahingegen über die ästhetische Anschauung fast alle ewig und übereinstimmend sind.« (KFSA, Bd. 12, S. 355 f.). 1167 KFSA, Bd. 12, S. 355.

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gender idealistischer Prämisse, mit der er sich von der Vorstellung eines NichtIch befreien wollte: nämlich in dem Postulat, alle sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände als bedeutenden Schein zu betrachten. So wie er Bild und Sprache als Paradigmen des bedeutenden Scheins vorstellt, so gehört auch das Kunstwerk zu dieser Klasse. Und in diesem Sinne interpretiert er die gesamte Welt der Dinge unter dem Vorzeichen des Kunstwerks – als bedeutungstragende Erscheinung. Allerdings ist diese Form der Erkenntnis, die der Vermittlung durch die Anschauung bedarf, dunkel, die Bedeutung lediglich erahnend: Allein es ist noch nicht genug, daß in dem anschauenden Ich Liebe vorhanden, wenn es zur geistigen Anschauung kommen soll, der Geist, der angeschaut wird in dem scheinbaren Nicht-Ich, dem Dinge, das freilich nur Bild, Hülle ist, ist doch eben durch diese Hülle, was es auch sein mag, von dem Anschauenden weit abgetrennt, so daß er von diesem gleichsam nur durch den umhüllenden Nebel angeschaut, oder vielmehr nur durch das Bild erraten und geahnt wird. Diese Art von Erkenntnis, die das Gefühl hervorbringt, ist also ihrer formellen Beschaffenheit nach ursprünglich sehr unvollkommen; es ist nur ein Erraten.1168

Anschauung – das ist die wichtige Grundvoraussetzung in Friedrich Schlegels Verständnis von derselben – darf sich nie allein auf die sinnliche Erscheinung beziehen, sondern muss das Verstehen des sich in dieser Anschauung ausdrückenden Geistes zum Ziel haben: »In letzter Instanz gründet sich immer die geistige Anschauung auf die Voraussetzung der Möglichkeit, die dunkle Hülle der Geister zu durchdringen, und in ein Verständnis mit ihnen zu gelangen.«1169 Das Aufscheinen der Bedeutung in der materiellen Form belegt Schlegel mit dem Begriff des Schönen und bedient sich damit eines Verständnisses der materiellen Gestalt von Kunstwerken, wie er es bei Schelling finden konnte. Das Entscheidende an seiner Verwendung des Begriffs ist, dass er das Schöne nicht im Sinne von rein ästhetisch-formalen Gesetzmäßigkeiten versteht,1170 sondern als die Grundstruktur der Gegenstände schlechthin, wonach deren äußere Erscheinung immer schon mit Bedeutung aufgeladen ist, auf die sie verweist. So definiert er : »Das Schöne ist vielmehr die geistige Bedeutung der Gegenstände und nichts an dem Gegenstande selbst; ja alles ist schön dem, der es auf diese Weise zu be-

1168 Ebd., S. 356. 1169 Ebd., S. 357. 1170 Schlegel grenzt seinen Begriff des Schönen deutlich von diesen formal-ästhetischen Begriffsbestimmungen ab: »Man hat sehr unrecht, wenn man das Schöne bloß auf einiges beschränken, nicht auf alles ausdehnen will. So faßt man den Begriff des Schönen ganz falsch, wenn man dasselbe bloß in das Äußere, in eine gewisse Form und Gestaltung setzt, wo es dann bloß in der sinnlichen Anmut, oder der Regel und Gesetzmäßigkeit derselben besteht.« (KFSA, Bd. 12, S. 357).

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trachten und zu erkennen weiß.«1171 Das Schöne ist damit nach Schlegels Verständnis keine Qualität, die nur einzelnen, auserlesenen Dingen zukommt; sie ist vielmehr prinzipielles Wesensmerkmal der Gegenstände.1172 Nachdem Schlegel bereits Bild und Wort als paradigmatische Formen des bedeutenden Scheins vorgestellt hat, verwundert es kaum, dass er konsequent im Sprachspiel kunstwissenschaftlicher Termini bleibt. Mit dem Konzept des Schönen kann er auf ein zeitgenössisch äußerst populäres, aus dem Klassizismus importiertes Interpretationsmodell künstlerischer Darstellung zurückgreifen und es, eingebettet in einen veränderten philosophischen Horizont, für seine eigene Philosophie fruchtbar machen. Er interpretiert das Schöne als die Semantik, die den materiellen Gegenständen inhärent ist. »Das Wesen des Schönen ist also im allgemeinsten Sinn die Bedeutung, nur muß dies eine göttliche sein; schön kann nur sein, was eine Beziehung auf das Unendliche und Göttliche enthält.«1173 Diese beiden Attribute des Schönen – der Bezug aufs Göttliche und aufs Unendliche – hat Schlegel wohl bei Schelling entlehnt, der in seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Philosophie der Kunst diese Bestimmung der Kunst und des Schönen entwickelte.1174 Das Prädikat »bedeutend« aus der Wendung vom »bedeutenden Schein« wird mit Hilfe der Konzeption vom Schönen auf das Unendliche und Göttliche hin präzisiert. Schlegel kehrt zum Problem der Erkenntnis zurück. In Kants Kritik der Urteilskraft obliegt die Erkenntnis des Schönen der Einbildungskraft, die es vermag, im freien Spiel zwischen Anschauung und Begriff zu vermitteln. Friedrich Schlegel bedient sich dieser Überlegungen Kants, wenn er fragt, ob »es in unserm Bewußtsein wirklich ein Denken [gibt], welches wir als ein freies dem leidenden Denken der Vernunft entgegensetzen können?«1175 Seine Antwort schickt er sogleich hinterher :

1171 KFSA, Bd. 12, S. 357. 1172 Schlegel sagt explizit: »So wie in allen Dingen eine geistige Bedeutung, so ist auch das Schöne auf alles anwendbar.« (KFSA, Bd. 12, S. 357). 1173 KFSA, Bd. 12, S. 358. 1174 So schreibt Schelling in der Philosophie der Kunst, dass »Gott als Urbild im Gegenbild zur Schönheit wird« und damit »[d]ie unmittelbare Ursache aller Kunst […] Gott« sei. (Vgl. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: Philosophie der Kunst, in: ders.: Ausgewählte Werke. Unveränd. reprograf. Nachdr. d. aus d. handschriftl. Nachlaß hrsg. Ausg. v. 1859, Darmstadt 1980, S. 30). Und an anderer Stelle notiert er über die Schönheit in Unterscheidung zum Erhabenen, erstere sei die »Einbildung des Endlichen ins Unendliche« (ebd., S. 105). Ebenso wenig, wie Schlegel die Unterscheidung von Allegorie und Symbol von Schelling übernimmt, schließt er sich Schellings Unterscheidung des Schönen und Erhabenen und der daraus abgeleiteten verschiedenen Verhältnisbestimmungen von Endlichem und Unendlichem an. 1175 KFSA, Bd. 12, S. 358.

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Als ein solches Vermögen bietet sich die Einbildungskraft dar ; […] sie ist, insofern Einbildungen innere Vorstellungen sind, Vorstellungen aber sich nicht richten nach den Dingen, ein freies Denken; sie ist dadurch nicht an die Gesetze der Dinge, der objektiven Welt gebunden, und also der Vernunft diametral entgegengesetzt. Auch in der Form sind beide durchaus verschieden. Die Vernunft vermeidet alles Bildliche und strebt nach dem Abstrakten, während die Einbildungskraft gerade umgekehrt nach dem Bildlichen strebt und das Abstrakte vermeidet. Das Bild ist ein Werk des Ichs, ein Gegen-Ding, welches das Ich hervorbringt, um sich der Herrschaft des Dings, des Nicht-Ichs zu entreißen. Man rechnet das Abstrakte mit zur Objektivität, da man glaubt, durch das Bild werde etwas in den Gegenstand hineingelegt, was nicht in ihm liegt. (Nur freilich insoweit, als das Bild eine Hervorbringung des menschlichen Geistes ist, ist es allerdings richtig, daß dadurch etwas in den Gegenstand hineingelegt wird, was nicht in ihm liegt.) – In der Einbildungskraft fällt dieser Grund weg; da ist das Denken nicht gebunden, sich an die Gesetze des Dings zu halten, sie ist bildlich und daher anschaulich.1176

Schlegel trifft hier eine klare Unterscheidung zwischen dem Begrifflich-Abstrakten, als dessen Ort er die Vernunft bestimmt, und dem Bildlichen als dem Produkt der Einbildungskraft. Interessanterweise versteht er die abstrakte Bestimmung des Gegenstands, wie sie von der Vernunft vollzogen wird, als eine strikt dem Gegenstand analoge Vorstellung, die damit als objektiv gelten kann. Das Bild hingegen ist die subjektive Aneignung des Gegenstandes, insofern es vom Ich entworfen wird. Die Funktion, die es dabei für das Ich erfüllt, wird als Freiheit begriffen, die das Ich durch das Bild gegenüber dem Gegenstand gewinnt. Es ist bemerkenswert, dass das Bild hier gerade nicht mehr unter den gängigen Kategorien der Nachahmung oder der Ähnlichkeit interpretiert wird. Im Gegenteil, wird die bildliche Darstellung nicht von den formalen Gesetzen des Gegenstandes beherrscht, sondern eignet sich diesen in freier Tätigkeit an. Nun darf man das Abstrakt(-Begriffliche) von dem hier die Rede ist, jedoch nicht mit der Sprache generell verwechseln. Zu bedenken ist, dass Schlegel der Sprache gegenüber dem Bild einen noch höheren Grad an Unabhängigkeit vom Gegenstand attestiert hat. So bestimmt er auch das »freie, willkürliche Denken« der Einbildungskraft als ein Dichten. Das Dichten wird er im Folgenden als Gegenmodell zum Begriff entwickeln. Damit bewegt sich Friedrich Schlegel innerhalb seiner idealistischen Bewusstseinstheorie nun beinahe gänzlich auf der Ebene kunsttheoretischer Betrachtungen, die er zu einer allgemeinen idealistischen Philosophie umgemünzt hat. Dass er nun das eigentlich freie Handeln der Einbildungskraft im Dichten bestimmt, ist nur noch ein letzter kleiner Schritt, der durch die vorhergehenden Ausführungen und die gezielte argumentative Hinordnung auf kunsttheoretische Terminologie und Vorstellungen vorbereitet worden ist. So kann er 1176 Ebd., S. 358 f.

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schließlich dem Dichten gegenüber dem Denken den Vorzug geben: »Der eigene Zweck der Einbildungskraft ist das innere, freie, willkürliche Denken und Dichten. Im Dichten ist sie auch wirklich am freiesten.«1177 Für die Philosophie, die ein umfassendes System der Weltdeutung sein soll, erweist sich letztlich die Einbildungskraft gegenüber der Vernunft als das besser geeignete Erkenntnisorgan, da ihr die ganze Welt zum Gegenstand werden kann: Ihr [der Einbildungskraft, Y.A.] Gegenstand kann, weil sie ein freies unendliches Denken ist, durchaus kein anderer, als die Welt (die unendliche Ichheit) sein, während der Gegenstand der Vernunft, als eines bedingten, beschränkten Denkens, kein anderer, als ein beschränkter und bestimmter sein kann.1178

Die Unterscheidung abstraktes versus bildliches Denken hat nach Schlegels Verständnis auch Einfluss auf den Gegenstandsbereich, der jeweils erschlossen werden kann. Das abstrakte Denken, das darin besteht, die Fülle der Eigenschaften und Merkmale des Gegenstandes auf das Grundlegende zu reduzieren, kann sich durch diese Verfahrensweise immer nur auf einen beschränkten, klar umrissenen Gegenstand beziehen. Das Bildliche hingegen, das gerade nicht auf Reduktion basiert, sondern – denkt man etwa an Lessings Bestimmung des Bildlich-Sichtbaren – sich durch simultane Anordnung einer großen Komplexität von Eigenschaften auszeichnet, vermag seinen Gegenstandsbereich beliebig auszudehnen. Dementsprechend unterscheidet Schlegel auch zwischen Begriff als Weise des Gegenstandsbezugs der Vernunft einerseits und Darstellung als Gegenstandsbezug der Einbildungskraft andererseits: Das Wesentliche desselben [des Begriffs, Y.A.] besteht in der Einheit, welche aber, wenn es ein wahrer Begriff sein soll, eine unendliche Fülle von Leben umfassen und enthalten muß. Insoweit jedoch das Streben die Fülle der Welt in sich aufzunehmen und im Begriffe zusammenzudrängen, von der Fülle auf die Einheit, nicht von der Einheit auf die Fülle geht, wie beim Handeln, welches wir hier eins mit dem Dichten nehmen, insoweit ist die Einheit beim Begriff durchaus das Wesentliche, die unendliche Fülle das Untergeordnete.1179

Begriff und Dichtung (Darstellung) sind das Bestreben eines simultanen Erfassens von Einheit und Komplexität. Beim Begriff aber geht es um eine Reduktion der Komplexität auf ein einheitliches Ganzes, während die Darstellung umgekehrt ein geschlossenes Ganzes in seiner ganzen Komplexität auszubreiten versucht. Dies bleibt nicht folgenlos für die Art der Erkenntnis:

1177 Ebd., S. 359. 1178 Ebd., S. 361. 1179 Ebd., S. 362.

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Aber auf diese Weise umfasst er [der Begriff, Y.A.] immer nur das Äußerste, er bezeichnet bloß den Anfang, Mitte und Ende, nur die äußersten Grenzen des Werdens, und man muß gestehen, daß diese Form, die notwendig aus dem Wesen des Verstandes, der zusammenziehenden, zusammendrängenden Kraft folgt, allerdings ein bloßes Skelett ist und etwas Totes an sich hat. […] während in der Darstellung alles einzeln nachgebildet, der ganzen Fülle des Lebens gleichsam Schritt für Schritt gefolgt wird. Hiermit haben wir nun auch den Unterschied zwischen der Darstellung und dem Begriff. Er besteht in der Konstruktion, dem Gliederbau, welcher die eigentümliche Form des Begriffs ist.1180

Friedrich Schlegel entwirft hier bereits Ansätze einer Begriffs- bzw. Bildtheorie. Während der Begriff bündelt und ordnet (»Konstruktion und Gliederbau«), liegt der Vorzug der Darstellung (des Bildlichen) darin, dass sie nach dem Modell des Abbilds die Komplexität des Gegenstands nicht reduziert, sondern aufgreift und möglichst vollständig wiedergibt. Dieses Panoptikum der Diversität und Komplexität des Gegenstandes geht freilich auf Kosten einer klaren Struktur. Hinsichtlich der Übermittlung von Wissen als dem Ziel der Philosophie, deren Gegenstand als »die Fülle der Welt« ebenso unendlich ist wie deren Form, erweist sich die informationsbündelnde Form des Begriffs als defizitär. Daher bedarf es der Darstellung als Ergänzung des Begriffs.1181 Indem die Darstellung die Informationen über die Welt nicht zusammenfasst und unter allgemeine Klassifikationen subsumiert wie der Begriff, sondern ihre gesamte Komplexität ausbreitet, steht sie mit der Anschauung in Beziehung. Damit hat Schlegel den Schlussstein zu einer zyklischen Struktur, an deren Anfangs- und Endpunkt die Anschauung steht: Die Darstellung bezieht sich nun wieder auf die Anschauung. Alle Darstellung hat den Zweck, angeschaut zu werden; hier ist nicht von der gemeinen, sondern von der höhern, geistigen Anschauung die Rede, welche durch das Gefühl erklärt worden. Alle Darstellung beruht auf dem Triebe zur Mitteilung; sie ist nicht zu denken ohne Gemeinsamkeit, und hierdurch entsteht auch erst die Allgemeinheit, und so bewegen sich dann alle Tätigkeiten des Ichs, die auf der Einbildungskraft beruhen, in einem be1180 Ebd., S. 362 f. 1181 Schlegel schreibt über das Verhältnis von Begriff und Darstellung: »Aus dieser Unvollkommenheit der Form des Wissens geht das Bedürfnis der Darstellung hervor; diese muß die Beweglichkeit und Fülle des Lebens wieder herstellen, die, während man bloß auf Wissen und Begreifen ausging, im Zusammenfassen des Ganzen verlorenging. Die Darstellung soll den Begriff ergänzen. Beide obwohl entgegengesetzte Richtungen des Geistes fordern einander, müssen also verbunden sein. Die Darstellung kann aber nicht allein als Ergänzung, sondern auch als Probstein des Begriffs, als Beweis des Wissens erklärt werden, indem sie die Begriffe zu einer unendlichen Mannigfaltigkeit, zu einer Welt entwickelt, beweist sie, daß das Wissen kein totes leeres Scheinwissen ist, sondern daß es wirklich eine unendliche Fülle des Lebens, eine ganze Welt zum Gegenstande hat, welches nur gleichsam aus Ungeduld in eins zusammengefasst wurde, um desto schneller zum Ziele zu kommen.« (KFSA, Bd. 12, S. 366).

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ständigen Kreislaufe. Die höhere Anschauung führt zur Wißbegierde, diese zum Wissen, das Wissen zur Darstellung, diese wieder zur Anschauung.1182

Daraufhin überprüft Schlegel, inwiefern das Dichten in den »verschiedenen Vermögen des menschlichen Bewußtseins«1183 enthalten ist. Er schreitet eines nach dem anderen ab – vom Denken, über die Darstellung und die Einbildungskraft bis hin zur Erinnerung. Während die Darstellung und die Einbildungskraft immerhin einzelne Aspekte mit der Dichtung gemeinsam haben, erscheint ihr die Erinnerung diametral entgegengesetzt. Dieser kann er nun antithetisch das Gefühl entgegenstellen, welches er schließlich als den Ort des Dichtungsvermögens im Bewusstsein bestimmt: In der Erinnerung findet das Dichtungsvermögen gar nicht statt; […] Aber eben daß es sich gar nicht in der Erinnerung findet, führt uns auf die Spur, wo wir es finden werden; der Erinnerung ist nämlich entgegengesetzt das Gefühl, und die durch dasselbe zur geistigen erhöhte Anschauung, und hier eben hat Erzeugung und Hervorbringung statt. Es ist die unmittelbare Berührung zweier geistigen Naturen, und was daraus entsteht etwas Neues. Der geistige Blitz des Verständnisses, der aufsteigt, wenn in der unmittelbaren Berührung der Sinn aufgefaßt wird, ist die schlechthin weiter nicht zu erklärende augenblickliche Schöpfung des Geistes, sozusagen eine Schöpfung aus nichts, und dies Fühlen, dies augenblickliche schöpferische Berühren und Umfassen des Geistes, des Sinnes, der Bedeutung ist offenbar nichts anders, als ein Dichten; denn dieser Sinn, diese Bedeutung ist nur insofern vorhanden, als er ergriffen und ausgesprochen wird. Wie gesagt, in dem Augenblicke, wo der Blitz des Verständnisses aufgeht, ist die Bedeutung vorhanden, der Sinn geht durch die Hülle unmittelbar von Geist zu Geist, von Herz zu Herz, es ist durchaus ein Werk des Anschauenden und Angeschauten. Die geistige Anschauung ist ein unmittelbares Versetzen in den andern, wo das Ich zum Du wird, es ist das einzige Schöpferische im Bewußtsein. – Ohne ein geistiges Gefühl und die Schöpfung desselben wird, wiewohl man es in dem gewöhnlichen Gebrauche nicht so streng und rein nimmt, kein Dichten gelten können.1184

Im Gefühl und der daraus hervorgehenden geistigen Anschauung findet Schlegel den Ort des Dichtungsvermögens. Dichten beschreibt er als ein unvermitteltes Erfassen von Bedeutung und versteht es als die unmittelbare Kommunikation von Geist zu Geist, die der gewöhnlich unverzichtbaren Zwischenschaltung eines Kommunikationsmediums entbehren kann. Die mystischen Anklänge dieser Konzeption sind dabei nicht zu übersehen. Der Charakter dieser unmittelbaren Verständigung, die im Sinne einer Unio mystica beschrieben wird,1185 ist mo1182 1183 1184 1185

KFSA, Bd. 12, S. 366. Ebd., S. 374. Ebd., S. 374 f. Das plötzliche Aufscheinen des Verstehens, das nicht rational erklärt werden kann und zu einem unmittelbaren Verstehen führt, welches auf einer Einswerdung mit dem Erkannten beruht, sind Merkmale, die die unmittelbare, mystische Gotteserkenntnis, wie sie die Unio mystica beschreibt, auszeichnen. Abweichend von der eher passiv verstandenen Unio

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menthaft, ihr kommt keine Dauer zu. Jedoch bringt sie ein schöpferisches Produkt hervor, dessen Entstehungsprozess dem Modell der creatio ex nihilo folgt. Dieses schöpferische Produkt ist die Dichtung. Dichtung aber fällt mit dem Wort zusammen und aus dem Modell der Dichtung heraus erneuert Schlegel seine Definition des Begriffs. Er wendet sich noch einmal dem Verstand zu, dem die Funktion der Mitteilung zugeschrieben wird. Insofern dem Verstand die Mitteilungsfunktion eigen ist, hat auch er Anteil am Wort. Das Wort wiederum bestimmt Schlegel als »willkürliches oder natürliches« »Bild des Geistes« und verlässt damit die Unterscheidung zwischen arbiträren und mimetischen Zeichen, die in den kunst- und zeichentheoretischen Abhandlungen des 18. Jahrhunderts noch das grundlegende Unterscheidungskriterium von Wort und Bild waren. Schlegel differenziert nicht zwischen der semiotischen Struktur von Wort und Bild, sondern betrachtet beide in erster Linie als mentale Phänomene im Erkenntnisprozess. Worte wie Bilder werden gleichermaßen als Sinnbilder verstanden, die dem prinzipiell formlosen Sinn des Geistes auf allegorische Weise in der Darstellung eine Form verleihen. Der Verstand ist Wissen dem Geiste und dem Buchstaben nach; da das wesentlich Unterscheidende des Verstandes in der Mitteilung besteht, gehört eben auch das Wort wesentlich zum Verstande; versteht sich Wort im allgemeinen, höhern wissenschaftlichen Sinne, als Bild des Geistes, entweder als willkürliches oder natürliches Sinnbild; als bloßer Ausdruck eines geistigen Sinnes ist das Wort notwendig ein Bild, weil alle Darstellung bildlich ist; und so besteht dann das Wesen des Verstandes in der Verbindung des Geistes und des Worts durch den Begriff; die Begriffe sind seine Formen.1186

Dieser Vorstellung gemäß modifiziert Schlegel seine Definition des Begriffs. Der Begriff als Erkenntnisform des Verstandes soll letztendlich eine geistige Anschauung zum Gegenstand haben und damit zum Wort erhoben werden. Anders als in den geläufigen Definitionen des Begriffs, die auf die Exaktheit der Bezeichnung zielen, möchte Schlegel den Begriff dem allegorischen Charakter des Worts annähern. Dass er damit an Bestimmtheit der Bezeichnung einbüßt, schließt diese Forderung notwendig mit ein: Hieraus folgt nun noch eine nähere Bestimmung für das Ideal des Begriffs. Wir haben früher gesagt, daß der organische Gliederbau allerdings Regel und notwendige Form des Begriffes sei, daß aber doch der Sinn und der lebendige Geist allemal das Höchste und Letzte sein müsse, weil sonst alle noch so organisch konstruierte, noch so herrliche Formen doch immer leer sind, wie dann auch kein Stoff organisch werden kann, ohne mystica beschreibt Schlegel jedoch einen schöpferischen Akt des Geistes. Zur Unio mystica vgl.: Art.: Unio mystica, in: Wörterbuch der Mystik, S. 503 – 506. Zur protestantischen Rezeption des Unio-mystica-Konzepts vgl. Bernd Harbeck-Pingel: Art.: Unio mystica, in: TRE, Bd. 34, S. 304 – 308. 1186 KFSA, Bd. 12, S. 387.

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daß Sinn darin ist. In Beziehung hierauf ergibt sich also aus dem Vorhergehenden, daß jeder Begriff ein Wort d. i. ein Sinnbild für eine geistige Anschauung sein müsse, umgekehrt die gewöhnliche Forderung: jedes Wort soll einen Begriff enthalten. Der Begriff soll nach uns nicht allein eine willkürliche Konstruktion und Anordnung von allerlei Stoffen, sondern zugleich ein Sinnbild, ein den Geist ausdrückendes Wort sein; daraus folgt weiter, daß jeder Begriff immer auch etwas Unerklärbares, Unauflösbares, Unbegreifliches enthält, nicht als etwas, was gar nicht in das menschliche Bewußtsein eingehen könne, sondern was sich durch den bloßen Begriff und durch alle Konstruktion nicht mitteilen läßt, wozu die geistige Anschauung durchaus notwendig ist, während Begriffe, die bloß willkürlich konstruiert sehr begreiflich sind, durch den bloßen Begriff begriffen werden können.1187

Das Wort, das hier eine ungeheure semantische Aufladung erfährt, wird Friedrich Schlegel in der Folgezeit zu einem philosophisch-theologischen Grundmotiv ausbauen, um das er sein philosophisches Spätwerk entwickelt.

2.6

Philosophie als Kunsttheorie – Vorlesung über die Philosophie der Sprache und des Worts

Friedrich Schlegels Bemühungen, einen neuen philosophischen Idealismus auf der Grundlage einer Sprach- und Kunstphilosophie zu begründen, ziehen sich durch sein gesamtes Schaffen. Noch der letzte, kurz vor seinem Tod niedergeschriebene Text – eine in Dresden begonnene, philosophische Vorlesungsreihe, die den Titel Philosophie der Sprache und des Worts trägt – hat diese Thematik zum Gegenstand.1188 Zwar verweist der Titel auf ein zentrales Themenfeld der Vorlesungsreihe, er ist aber dennoch irreführend. Denn es geht Schlegel in dieser Vorlesung nicht darum, eine Sprachphilosophie im engeren Sinne als eigene philosophische Teildisziplin zu verfassen, deren Gegenstandsbereich durch die Sprache (sei es als ideale Ursprache, sei es als historische Einzelsprachen) definiert wäre. Vielmehr geht es ihm in diesen Vorlesungen darum, seine »Philosophie des Lebens« als eines umfassenden, philosophischen Systems zu entwickeln. Die Sprache und die Kunst fungieren in diesem philosophischen Ansatz lediglich als zentrale erkenntnistheoretische Argumentationsfiguren, mit deren Hilfe Schlegels komplexe Vorstellung von der Struktur des menschlichen Bewusstseins und dessen Verhältnis zum Göttlichen einerseits und zur Außenwelt andererseits erklärt werden soll. Grundgedanken, besonders hinsichtlich der Funktionsweise von Bild und Sprache, die aus den Kölner Vorlesungen bekannt sind, werden beibehalten. Allerdings erfährt sein philosophisches Denken, insbesondere sein Umgang mit 1187 Ebd., S. 387. 1188 Vgl. Behler, Ernst: Einleitung, in: KFSA, Bd. 10, S. XLIII – LVII.

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und seine Rezeption von traditionellem philosophischen Gedankengut und erkenntnistheoretischen Grundannahmen eine deutlich neue Wendung. Auf eine Darstellung der Philosophiegeschichte und ihrer wichtigsten Vertreter verzichtet er ebenso wie auf ein dezidiertes Anknüpfen seiner eigenen Gedanken an bekannte philosophische Systeme. Selbst die Gewährsmänner des romantischen Idealismus – allen voran Johann Gottlieb Fichte als deren philosophischer Vordenker –, aber auch Platon, Kant und Spinoza werden allenfalls noch am Rande erwähnt. Weder greift Friedrich Schlegel zentrale Gedanken ihrer Philosophien affirmativ auf, noch tritt er in eine eingehende, kritische Auseinandersetzung mit ihnen. Kurz gesagt, Schlegel entwickelt hier seine eigene Philosophie weitestgehend ohne explizite Bezugnahme auf die Philosophiegeschichte. Mit der etablierten Einteilung der menschlichen Bewusstseinsvermögen bricht er, ohne diese selbst oder deren neuartige Zusammenfügung über akribische Deduktionen herzuleiten oder zu belegen. Schlegel emanzipiert sich in dieser späten philosophischen Vorlesung auch weitestgehend von der etablierten philosophischen Methode. Stattdessen wagt er, sich jetzt in weit größerem Umfang als bisher einer anderen Disziplin zu bedienen: der Theologie. Bisweilen mag es bizarr anmuten, wie er die Vermögen des Bewusstseins zu einem »dreieinen Bewusstsein« reorganisiert und die an den traditionellen Begriffen der Philosophie orientierten Elemente des menschlichen Bewusstseins – Geist, Seele, Sinn1189 – mit den drei Attributen des christlichen Glaubens – Glaube, Liebe, Hoffnung – in Analogie setzt.1190 »[U]unter Philosophie« versteht Friedrich Schlegel: bloß die dem Menschen angebohrne und natürliche Wißbegier, insofern es eine allgemeine ist, die nicht gleich von Anfang auf einen besondern Zweck oder Gegenstand beschränkt ist: die natürliche Wißbegier also, wie sie durch das Räthsel des Daseyns, der äußern Welt oder auch des eignen Ich, angeregt, sich selbst innerlich klar werden , in dieser inneren Klarheit, […] die eigentliche Bedeutung oder wenn man es so nennen darf, das erklärende Wort des Lebens, des eignen innern, wie des äußern allgemeinen zu finden; und keinem Zweifel unterliegt es wohl, daß in diesem selbst lebendigen Worte des Lebens, so wie wir es gefunden und zu eigen gemacht haben, auch eine erhöhte Kraft des ferneren Lebens, des innern wie des äußern, für die wirkliche Anwendung uns zu Theil werden dürfte.1191

Friedrich Schlegel wendet sich dezidiert von der abstrakten Denkform der traditionellen Philosophie ab, die er durch eine unmittelbar am Leben orien1189 Zu einer Darstellung der Geistesvermögen bei Friedrich Schlegel vgl. Grunnet, Die Bewußtseinstheorie Friedrich Schlegels, S. 13 – 126. 1190 Vgl. KFSA, Bd.10, S. 467 f. 1191 KFSA, Bd. 10, S. 311, diese Begriffsbestimmung des Wortes Philosophie leitet Schlegel dabei durchaus von seiner ursprünglichen griechischen Verwendung her. Vgl. ebd.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

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tierte Philosophie substituieren möchte. Das Abstrakte ist für Schlegel, insofern es ausschließlich in der Sphäre des Denkens vorkommt, einem ganzheitlichen Welt- und Lebensverständnis entgegengerichtet: im Ganzen Æaberæ wird immer noch fast allgemein jenes reine, abstracte und vom Leben abgesonderte Denken, für den einzig rechten Weg, für das Wesen der Philosophie, ja für diese selbst gehalten. Dieses Æsogenannteæ reine und abstracte Denken läßt keine Voraussetzung gelten und hat auch keine andre und überhaupt gar keine Grundlage als sich selbst; es geht allein von sich selbst aus, und hat Æinsofernæ keinen eigentlichen Anfang, und eben daher auch kein Ende und kein Ziel […].1192

Die Abstraktion des Denkens setzt er in Beziehung zur Abstraktion der Sprache. Diese Sprache zeichnet sich, so Schlegel, einerseits durch die klare Differenzierung und Festlegung ihrer Gegenstände sowie einen rein weltlich-immanenten Referenzrahmen aus. Die Vorzüge dieser im Grunde negativ besetzten Charakterisierung sieht er hingegen in ihrer klar bestimmenden und strukturierenden Form, die gute Verständlichkeit gewährt. Allein darin sieht er ihren Nutzen, wodurch sie als eine Art Hilfswissenschaft in den Dienst der eigentlichen Philosophie des Lebens treten kann. Wo es nun ganz in diesem engen Gedankenkreise bleibt, und eben auf diesen die dialektische Kunst und Darstellung sich beschränkt, in einer wenn auch scharf Ægesonderten,æ metaphysisch abgezogenen, und eigenthümlich abstracten, doch wenigstens klar bestimmten, verständlich geordneten und geistig durchsichtigen Sprache, da dürfte das Resultat […] noch am ersten ein fruchtbares, wenn gleich auch nur ein bloß negatives sein, daß nämlich auf diesem Wege die Wahrheit und wahre Erkenntnis nicht zu erreichen Æstehtæ, nicht zu suchen und nicht zu finden, und daß eben jene ganze dialektische Vorübung nichts weiter als eine solche sey, und höchstens als Uebergang und Einleitung für einen andern lebendigern Weg des fruchtbaren Denkens dienen und da, wenn auch nicht für alle, doch für einige, die einmahl von diesem Standpunkte auszugehen in dem Falle Æsindæ, an seiner Stelle seyn Ækannæ.1193

Der Sprache an sich ist eine gewisse Ambiguität eigen; sie ist nicht schon per se Ausdrucksmedium der »wahren Philosophie«. Vielmehr steht sie den unterschiedlichsten Verwendungsweisen offen und erst die Art ihrer Verwendung entscheidet darüber, ob sie zum Ausdruck der Philosophie des Lebens dient. Die Sprache, insofern sie das Denken abzubilden vermag, kann auch die Denksysteme der abstrakt-logischen Philosophie nachzeichnen. Die dieser Form von Philosophie vorgeworfene Bedeutungsleere überträgt sich auf die Sprache selbst, die, auf einen reinen Formalismus reduziert, ausschließlich durch ihre strukturellen Möglichkeiten und rhetorischen Raffinessen besticht. Da, wo auch 1192 KFSA, Bd. 10, S. 323. 1193 Ebd., S. 323 f.

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dieses scheitert, diagnostiziert Schlegel »verworrene Terminologie« und »vollendete Unverständlichkeit« als die Indizien der »falschen Philosophie.1194 Die menschliche Sprache ist wunderbar biegsam und kann sich selbst jenem künstlich zerlegten und abstract getheilten Bewußtseyn anschmiegen, und es in ihrem beweglichenæ Spiegel treu nachbilden und wiedergeben, indem sie auch dieses bloß logische Denken ohne Inhalt noch klar ordnet und kunstreich gestaltet; ausgenommen da, wo die logische Einbildung des leeren Denkens im höchsten abstracten Schwindel, auch dieses grammatische Kunstgefühl, einer wenigstens dialektisch klaren, wenn auch noch so abstracten Darstellung, als die letzte irdische Hülle mit Verachtung von sich wirft, um als metaphysisches Dunstgebilde immer höher hinaufsteigend in das unzugängliche Dunkel des eignen so hoch gesteigerten Ich, sich dem menschlichen Auge nun so viel als möglich ganz zu entziehen. Eine verworrene Terminologie und vollendete Unverständlichkeit sind die beständigen Begleiter und eigentlichen Kennzeichen der falschen Philosophie, welche Ædas Kleinod der Wahrheit und wahren Wissenschaftæ in einer Æimmeræ weiter fortgesetzten künstlichen Theilung des Bewußt1194 Zu Schlegels Konzept der Unverständlichkeit, wie er es in der Athenaeums-Phase entwickelt, vgl. seinen Essay Über die Unverständlichkeit von 1800. Zwar wird auch hier die Philosophie neben der Philologie als der prominenteste Ort der Unverständlichkeit beschrieben: »ich wollte zeigen, daß man die reinste und gediegenste Unverständlichkeit gerade aus der Wissenschaft und aus der Kunst erhält, die ganz eigentlich aufs Verständigen und Verständlichmachen ausgehn, aus der Philosophie und Philologie«. (KFSA, Bd. 2, S. 364); jedoch ist hier nicht die Rede von einer »vollendeten Unverständlichkeit«, sondern davon, dass »alle Unverständlichkeit relativ« sei und der Diskurs über die Unverständlichkeit in diesem frühen Text auch eine sprachtheoretische Dimension hat. (»ich wollte zeigen, daß die Worte sich selbst oft besser verstehen, als diejenigen von denen sie gebraucht werden« [KFSA, Bd. 2, S. 364]) Zugleich wird die Unverständlichkeit auch im Horizont der frühromantischen Ironie betrachtet und bleibt in der Relation zur Verständlichkeit entsprechend positiv besetzt. Vgl. dazu auch Madleen Podewski, die in ihrem Aufsatz: »Konzeptionen des Unverständlichen um und nach 1800. Friedrich Schlegel und Heinrich Heine« (S. 57 – 62) herausarbeitet, wie Schlegel Verstehen und Nicht-Verstehen stets in Bezug zueinander denkt und die beiden Weisen darlegt, wie der Text Unverständlichkeit denkt: einerseits die bereits erwähnte sprachphilosophische Dimension, die Unverständlichkeit als der Sprache inhärentes Phänomen beschreibt, andererseits die Vorstellung von der Unverständlichkeit, die auf das nicht begrifflich zu erfassende Absolute verweist: »Worauf es an dieser Stelle ankommt, ist die Einbindung der Unverständlichkeit in den Verweiszusammenhang auf das unnennbare Absolute, eine Einbindung, die beide Pole in wechselseitige Abhängigkeit rückt: ohne das Absolute hätte die Unverständlichkeit keinen Grund, ohne die Unverständlichkeit käme das Absolute nicht zu Bewusstsein. Die Grenze, die den frühromantischen hermeneutischen Aktivitäten von hier aus gezogen ist, wird deshalb nicht als Einschränkung begriffen, ihre Akzeptanz verschafft vielmehr einen Zugang zu der Sphäre hinter ihr.« (Podewski, S. 61). Die Komplexität dieser Konzeption des Unverständlichen entbehrt die Verwendungsweise des Begriffs in seiner späten philosophischen Schrift gänzlich. Ähnlich beschreibt auch Matthias Schöning in seiner systemtheoretisch ausgerichteten Studie über Schlegels Ironiebegriff, wie Schlegel in seinen späteren Schriften auf die in der Athenaeums-Phase entwickelte Konzeption der Ironie verzichtet. Vgl. Schöning, Matthias: Ironieverzicht. Friedrich Schlegels theoretische Konzepte zwischen Athenäum und Philosophie des Lebens, Paderborn 2002.

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seyns und Denkvermögens, in einer immer wieder noch höher gesteigerten Abstraction zu finden wähnt; während doch selbst die rein logischen Denkformen, wie sie dem menschlichen Geiste angebohren, oder als die Anfangsstriche und ersten Grundzüge seines Verstehens und seiner denkenden Thätigkeit eingegraben sind, nur aus dem lebendigen Ganzen des Ævollständigenæ Bewußtseyns, nach der Stelle, welche sie in diesem einnehmen und Ænachæ der Art und Weise, wie sie in dasselbe eingreifen, eigentlich verstanden, nach ihrer wahren Bedeutung erfaßt und Æwahrhaftæ begriffen werden können.1195

Die Logik als solche wird nicht verworfen, ist aber in das synthetisierende Denksystem des ungeteilten Bewusstseins zu integrieren. Verselbstständigte Logik hingegen wird als Irrweg betrachtet. Statt die auf rein kognitiven Prozessen beruhende Abstraktion immer weiter voran zu treiben, plädiert Schlegel für einen philosophischen Ansatz, der von der intuitiv-emotionalen Ebene des Bewusstseins seinen Ausgang nimmt: Eine mehr lebendige Philosophie kann nicht Ædiesen j Wegæ einer immer höher gesteigerten Abstraction als den einzig rechten wählen und verfolgen; sie geht vom Leben aus und vom Gefühl des Lebens und zwar von einem möglichst vollständigen Gefühl und Bewußtseyn[.]1196

Dieses »denkende Bewusstsein«, so Schlegel, generiert, indem es die kognitiven Prozesse vollzieht, von Beginn an eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Vermögen des menschlichen Geistes.1197 Aus dieser Prämisse heraus formuliert er eine doppelte Aufgabe und ein doppeltes Ziel der Philosophie: auf einer deskriptiven Ebene soll sie den Ist-Zustand des menschlichen Bewusstseins beschreiben, um auf einer systematischen Ebene – basierend auf diesen Beobachtungen – Möglichkeiten aufzuzeigen, diesen Zustand zu überwinden und in den monistischen Urzustand zurückzukehren. Die eigentliche Aufgabe der Philosophie ist zunächst bloß den psychologischen Widerstreit und innern Zwiespalt zwischen den verschiedenen Geistes- und Seelenvermögen unsers Bewußtseyns, vollständig und Æreinæ aufzufassen und ganz wie er ist hinzustellen; demnächst aber auf die Punkte oder Stellen aufmerksam zu machen und hinzuweisen, von welchen aus die Rückkehr beginnen, oder wenigsten die Wege, welche dahin führen, gefunden werden könnten; die Wege der Rückkehr zu der verlohrnen, Æuns jetztæ abhanden gekommnen ursprünglichen Harmonie in unserm Innern; oder auch die Mittel zur Wiederherstellung eines lebendig vollständigen Be-

1195 KFSA, Bd. 10, S. 324. 1196 Ebd., S. 325. 1197 Vgl. KFSA, Bd. 10, S. 327: »Es ist eben dieser innere Widerstreit und ursprüngliche Zwiespalt des denkenden Bewußtseyns, auf welchen ich hier die Aufmerksamkeit zu richten wünschte; wie er zwischen dem Denken, Fühlen, Wollen, rein psychologisch sich kund giebt und in uns wahrgenommen wird.«

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wußtseyns, und einer mehr harmonischen Zusammenwirkung der sonst getrennten einzelnen Geistes- oder SeelenVermögen desselben.1198

Den Ist-Zustand des Bewusstseins beschreibt er, auf die vier geläufigen Geistesvermögen rekurrierend, als doppelten Antagonismus zwischen Verstand und Wille sowie Vernunft und Phantasie. Während dieser sekundäre Zustand das Resultat einer einseitig auf dem Denken beruhenden Geistestätigkeit ist, wird die Rückkehr zum ursprünglich ungetrennten Zusammenspiel der Geistesvermögen angestrebt, die Schlegel mit dem Ausdruck des »dreyeinigen Bewußtseyns« belegt.1199 Das vereinigende Medium, das Seele, Geist und Sinn zusammenführt, ist für Friedrich Schlegel die Liebe. Nun hat er mit der Liebe einen recht unspezifischen Begriff gewählt, der – gibt seine Bestimmung in der Literatur schon reichlich zu denken auf – in der erkenntnistheoretischen Terminologie jeglicher Verwendung entbehrt. Wie also möchte Friedrich Schlegel diesen Begriff verstanden wissen, wenn er ihn aus dem semantischen Feld des Erotischen oder des Religiösen – auf welche Verwendungsweise des Begriffs er sich hier bezieht oder ob gar beide Konnotationen gemeint sein könnten, ist, ähnlich wie in den Kölner Vorlesungen, erst noch zu klären – in die Philosophie importiert? Aufschluss darüber könnte ein anderer Begriff geben, der ebenfalls zur Bezeichnung der einenden Grundkraft verwendet wird: derjenige des Gefühls: [D]as Gefühl [steht, Y.A.] zwischen den vier Grundkräften eben so in der Mitte, wie zwischen den vier mittleren Vermögen der zweiten Ordnung. Es ist eben die Æscheinbar indifferente eigentlich aber fruchtbar volleæ Mitte des Bewußtseyns, wo die einzelnen Regungen aller andern isolirten Kräfte sich begegnen, zusammentreffen, durchkreuzen und sich gegenseitig neutralisiren, oder auch zu einem neuen Leben Æeinanderæ durchdringen und harmonisch vereinigen.1200

Dieses Gefühl aber ist nicht schon selbst die vereinigende Kraft. Es vermag lediglich das Bewusstsein in einen vorbereitenden Zustand zu versetzen, der ihm – um in Schlegels Bild zu bleiben – quasi in die Konfiguration versetzt, in die der 1198 KFSA, Bd. 10, S. 328. 1199 »Der gewöhnliche Zustand unsers jetzigen Bewußtseyns, so wie Æes sich füræ uns in der innern Wahrnehmung Æzuerstæ als gegeben vorfindet, ist also der eines in jenem zwiefachen ÆGegensatzæ zwischen Verstand und Willen, Vernunft und Fantasie Æbefangenenæ vierfach zerspaltenen, oder wenn Æman so sagen darf,æ geviertheilten Bewußtseyns. Das wiederhergestellte, lebendig vollständige Bewußtseyn aber ist ein dreyfaches, oder wenn der Ausdruck hier gestattet wäre, dreyeiniges Bewußtseyn; die in der Liebe wiedervereinigte Seele, der in der Kraft des consequenten Lebens neu erwachte Geist, und endlich der innere Sinn für das Höhere und Göttliche; welches dritte Glied, als der äußere Träger und ein bloß dienendes Werkzeug für die beyden andern, ihre innre Harmonie nicht stören kann.« (KFSA, Bd. 10, S. 333). 1200 KFSA, Bd. 10, S. 419.

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Schlussstein eingepasst werden kann. Und über diesen Schlussstein sagt Schlegel: »So ist also eigentlich Gott der Schlußstein des gesammten menschlichen Bewußtseyns«1201. Dem funktional aufgespaltenen Bewusstsein ordnet Schlegel die Disziplin der Philosophie zu, deren Methode des Erkenntnisgewinns sich ausschließlich auf das Denken zurückzieht und deren Form der Erkenntnis allein im Wissen besteht. Nicht anders wie diesem Verständnis von Bewusstsein, das verworfen wird, ergeht es auch der ihm entsprechenden Methode. So wie an die Stelle des in sich differenzierten Bewusstseins das synthetisch vereinigte Bewusstsein tritt, so bedarf es auch einer anderen philosophisch-kritischen Methode, die diesem angemessen ist. Hier nun hat sich Schlegel zu dem Punkt vorgearbeitet, an dem aus Philosophiekritik eine emphatische Aufwertung der Kunst erwachsen kann. Die traditionell am Wissensbegriff orientierte Philosophie spielt er nun gegen die Kunst aus: Dein Wissen theilst Du mit vorgezognen Geistern, die Kunst, o Mensch! hast Du allein.’ – Nur muß hier die Kunst in einem etwas größern und Æganzæ umfassenden Sinne genommen werden, so daß die Sprache mit dazu gehört, ja sie selbst ist eben die allgemeine, allumfassende Menschenkunst; und nirgends bewährt sich die ihm eigenthümliche innere geistige Fruchtbarkeit, das Æihm verlieheneæ schöpferische Erfindungsvermögen so sehr, als in dem wunderbaren Gebilde der vielgestaltigen Menschensprache. Der Mensch könnte man überhaupt und im Allgemeinen von ihm sagen, ist ein vollständig zur Sprache gelangtes Naturwesen; oder auch, er ist ein Geist, dem vor allen andern Wesen in der übrigen Schöpfung, das Wort, das erklärende und darstellende, das lenkende, vermittelnde und selbst das gebietende Wort, ist verliehen, mitgetheilt Æoderæ übertragen worden; und eben darin besteht seine, die gewöhnliche Fassung weit übersteigende, ursprüngliche, wunderbare Würde.1202

Friedrich Schlegel gelingt es hier, das Wissen als dem erkenntniskritischen Fokus der Philosophie durch die Kunst zu ersetzen. Als paradigmatische Kunstform aber bestimmt er – und das mag vielleicht erstaunen – die Sprache an sich. Sprache wird dabei in der vollen Komplexität ihrer Funktionen erfasst – der didaktischen (»erklärenden«) und kommunikativen (»vermittelnden«) ebenso wie der repräsentierenden (»darstellenden«) und der pragmatischen (»lenkenden, gebietenden«). Eine Sprachtheorie, das lässt sich an dieser Stelle bereits erahnen und an späteren Stellen belegen, wird zur Grundlage von Friedrich Schlegels eigenem philosophischen Ansatz. Die Sprache ist dasjenige Produkt des menschlichen Geistes, an dessen Hervorbringung alle seine Vermögen gleichermaßen beteiligt sind. Folglich ist

1201 Ebd., S. 426. 1202 Ebd., S. 339 f.

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die Sprache auch das Vermögen, das eine Vereinigung der verschiedenen Elemente des Bewusstseins bewirken kann: Es giebt aber noch ein andres, großes und viel umfassendes, selbst in dem äußern, wirklichen Leben und in der geschichtlichen Erfahrung, als ein solches hervortretendes Phänomen, welches mit in die Reihe dieser VerbindungensElemente oder VereinigungsPrincipien des sonst getheilten Bewußtseyns gehört; und dieses ist die wunderbar mannichfaltige und doch so kunstreich geordnete Menschensprache. Sie ist ein lebendiges Produkt des ganzen innern Menschen und alle sonst getrennten GeistesKräfte oder Seelenvermögen haben, jedes in seiner Art, ihren vollen Antheil an diesem gemeinsamen Erzeugniß, […] und eine vollkommene Harmonie des Ævollständigæ ganzen und lebendig zusammenwirkenden Bewußtseyns auch hier nur Æalsæ seltne Ausnahme in den höchsten Hervorbringungen des dichtenden Æoderæ wie sonst immer in der Rede und Sprache sich kund gebenden Kunstgenies und meistens auch da nur in den Æausgezeichnetæ hellsten Punkten und Æinæ einzelnen glücklichen LichtÆmomentenæ derselben gefunden wird.1203

Schlegel macht auch hier wieder eine Einschränkung. Die Tendenz der Harmonisierung der menschlichen Geisteskräfte ist ein generelles Merkmal der Sprache, allerdings ist diese Eigenschaft nur in bestimmten Ausprägungen der Sprache – nämlich der dichterischen Verwendungsweise – auch in vollem Umfang entwickelt. Auf diese Weise gelingt es Friedrich Schlegel über den Umweg der Sprachtheorie wieder zum Kern romantischen Denkens und romantischer Theoriebildung vorzudringen: zur Poetik und zur Kunst. Seine in einer Sprachtheorie gründende Philosophie mündet so letztendlich in eine Art Kunstphilosophie. Dieses kunstphilosophische Denken ist darüber hinaus aufs engste mit einem kunstreligiösen Denken verwoben. Schlegel gibt zu Bedenken, dass auch die Sprache mit dem Transzendenzbezug des Menschen Schritt halten muss, um den lexikalischen Sinn der Worte zu transzendieren. Daraus folgert er, dass »auch die Worte und Ausdrücke über den gewöhnlichen Sinn und Sprachgebrauch hinaus gehen müßten.«1204 In diesem Sinne plädiert er hinsichtlich einer Terminologie der Metaphysik für den Gebrauch einer möglichst poetisch-sinnlich geformten Sprache: Das heißt nicht etwa, daß die Sprache der Philosophie in der Bezeichnung der übersinnlichen Dinge und Begriffe ängstlich furchtsam alles Lebendige und jeden Schein von Leben fliehen [sollte], was doch Æstreng genommenæ nie Æmöglich nochæ ganz erreichbar ist und nur in die abstracte Nichtigkeit führen würde. Es sind vielmehr die 1203 Ebd., S. 349. Schlegel ordnet im weiteren Verlauf des Textes den Geistesvermögen Vernunft, Verstand, Phantasie und Wille jeweils bestimmte sprachliche Merkmale zu – die Vernunft ist für die grammatikalische Struktur zuständig, die rhetorische Ausgestaltung bewirkt der Verstand, die Phantasie bedingt die Bildlichkeit und der Wille schließlich ist für die expressive Gestalt der Sprache verantwortlich. 1204 KFSA, Bd. 10, S. 386.

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lebendigsten und kühnsten, das scheinbar Wiedersprechende bildlich seltsam Verknüpfenden Wendungen oder Formen des Ausdrucks hier oft gerade die richtig bezeichnendsten Æundæ glücklich treffendsten.1205

Die Wahl der Bezeichnung »Sprache« für die Kunst möchte Schlegel allerdings gerade nicht uneigentlich verstanden wissen, sondern eigentlich. Zur näheren Charakterisierung der Sprachgestalt der Kunst belegt er diese mit Bezeichnungen wie »höhere Natursprache« und »Hieroglyphenschrift und Ursprache der Seele«. Mit diesen – hier wohl doch metaphorisch – gebrauchten Wendungen versucht Schlegel auf bestimmte Eigenschaften der Kunst zu verweisen, die vor allem darauf abzielen, die semiotische Dimension der Kunst als motiviertes, nicht als arbiträres Zeichensystem zu erfassen. Die zu dieser Zeit noch als Bildschrift betrachteten Hieroglyphen legen diese Deutung ebenso nahe wie die Rede von einer Natursprache, die Schlegel im Sinne von Jacob Böhmes Signaturenlehre versteht. Hierzu gehört auch die Rede von einer Ursprache der Seele, die gerade jene Vorstellung von Ursprache impliziert, die Schlegel in seinen eigenen Ausführungen zur Ursprachendebatte verworfen hat – die Rede ist von dem Modell einer göttlich inspirierten und universell verständlichen ersten Sprache. Insofern mit der Kunst eine solche allgemein verständliche Sprache gemeint ist, ist es nach allem, was bisher gesagten worden ist, einleuchtend, dass das Erkenntnisvermögen, welches für das Verständnis dieser Sprache zuständig ist, nicht der Verstand sein kann, der in den geläufigen Sprachtheorien mit Sprachproduktion und -rezeption in Verbindung gebracht wird. Stattdessen erkennt er dieses Vermögen im Gefühl, das – wie sich gezeigt hat – von Schlegel analog zur Sprache als einheitsstiftendes Vermögen des Bewusstseins bestimmt wird:1206 Die Kunst aber wurde nicht etwa in dem Sinne eine Sprache genannt und als eine solche betrachtet, wie man wohl der Poesie wegen des bildlichen Schmuckes ihrer äußern Form eine Göttersprache beygelegt, und sie selbst also benannt hat, oder wegen der allegorischen ÆGestalten und Andeutungenæ und des symbolischen Gewandes, welches auch die bildende Kunst so oft umkleidet; sondern es war dieser vorübergehend mit berührte Gedanke dahin gehend und so gemeynt, daß die Kunst überhaupt Ænicht bloß in der äußern Form, sondern selbstæ ihrem innersten Wesen Ænach […] eine höhere geistige Natursprache, oder wenn man will eine innere Hieroglyphenschrift und Ursprache der Seele sey ; welche Ædemæ dafür empfänglichen und durch den Kunstsinn irgend einer Art dafür geöffnet und zugänglich gewordenen j Gefühl schon von selbst verständlich sey, weil der Schlüssel Ædazuæ nicht etwa in einer vorher getroffenen Verabredung liegt, wie bey der sinnreich schönen aber doch boß con1205 Ebd., S. 386. 1206 Entsprechend möchte Schlegel das Urteilsvermögen nicht »dem Verstande […] ausschließend zueignen«, sondern, insofern auch das Gefühl daran Anteil hat, von einem »intelligenten Gefühl« sprechen. Vgl. KFSA, Bd. 10, S. 424.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

ventionell sinnbildlichen orientalischen Blumensprache; sondern in dem Gefühl und in der Seele selbst […] und darin wohl den Gegenstand und die Aufgabe der Philosophie sucht, […] Eben wegen dieses innigen Zusammenhanges, zwischen dem Reden und Denken, der Sprache und dem Bewußtseyn, […] da überhaupt das lebendige Denken und eine Wissenschaft dieses lebendigen Denkens sich nicht trennen läßt von der Philosophie der Sprache.1207

Dennoch siedelt Friedrich Schlegel die hier angenommene Form der »Informationsverarbeitung« nicht auf emotionaler, sondern auf kognitiver Ebene an. Dieses mit dem Attribut des Lebendigen belegte Denken steht für ihn in einer notwendigen Verbindung zur Philosophie der Sprache.1208 Eine Sprache, die dieser von Schlegel entworfenen Lebensphilosophie angemessen sein soll, darf sich nicht auf abstrakt-logische Terminologie reduzieren lassen, sondern muss sämtliche Spielräume der semantischen und rhetorischen Möglichkeiten ausschöpfen, die die Sprache zu bieten hat. Neben der bereits erwähnten dichterisch-bildlichen Sprache braucht sich eine solche Philosophie auch nicht davor zu scheuen, Wendungen der Alltagssprache zu adaptieren: Aber wie überall, so ist es auch hier oft schwer, grade für ein tief innerliches Gefühl die rechten, alles lebendig bezeichnenden Worte, die bestimmt angemeßnen und glücklich treffenden Ausdrücke zu finden. Daher glaube ich auch, daß es in der Philosophie, wenigstens für eine solche, welche von diesem Standpunkte des Lebens und des lebendigen Gefühls ausgeht, Ædurchaus viel besser und angemeßner ist, wenn man statt ihre Gedanken und Begriffe in die Fesseln einer starr fixirten und Æunabänderlich bestimmtenæ Terminologie zu schlagen, […] vielmehr Æhieræ dieses sorgfältig zu vermeiden sucht, eben daher die Ausdrücke Ælieber rechtæ oft variirt, den ganzen Reichthum der Sprache in der mannichfachsten Fülle der wissenschaftlichen und selbst der bildlichen und dichterischen Bezeichnungsweise, und selbst in allen Wendungen der gesellschaftlichen Sprache aus allen Sphären des Lebens benutzt, um nur die Darstellung durchaus lebendig und im beständigen Wechsel der lebendigen Bewegung zu erhalten, […]ÆSo wie die Ælebendigeæ Philosophie ein höheres und helleres Bewußtseyn oder ein sich selbst klar gewordnes Wissen Æeine Art von Æanderemæ zweyten Bewußtseynæ im gewöhnlichen Bewußtseyn ist, so bedarf sie zu ihrer Bezeichnung und Darstellung auch einer Sprache in der Sprache; nur aber muß es eine fließend lebendige seyn, nicht aber ein fest gewordnes System von todten Formeln.1209

1207 KFSA, Bd. 10, S. 405 f. 1208 An anderer Stelle heißt es: »Wegen des innigst genauen, und Ædurchausæ gegenseitig lebendigen Zusammenhanges zwischen dem Denken und Reden, diente mir schon in dieser ersten Grundlage einer Charakteristik des menschlichen Denkvermögens die Sprache zum äußern Stützpunkt der vergleichenden Untersuchung, und demnächst auch die Kunst, insofern auch sie als eine innere Sprache von höherer Art betrachtet werden kann[.]« (KFSA, Bd. 10, S. 404). 1209 KFSA, Bd. 10, S. 456.

Friedrich Schlegels poetologischer Idealismus

405

Eine solche möglichst große Variation von Ausdrücken und ein Ausprobieren von Bezeichnungen, gehen allerdings auf Kosten der Eindeutigkeit. Die Bedeutung wird bewusst stets in der Schwebe gehalten. So wie Friedrich Schlegel in seinen Kölner Vorlesungen bereits die Prozesshaftigkeit seiner Philosophie betont, so behält er das Paradigma des sich in ständiger Bewegung befindlichen Lebens für seine Philosophie bei und überträgt es als Grundprinzip auf sein Sprachverständnis. Sprache – und mithin ihre besondere Gestalt in Form einer poetischen Sprache – bleibt für Friedrich Schlegel die Form, in der sich seine Philosophie artikuliert. Ganz im Sinne des durchgehenden poetologischen Interesses der (Früh-) Romantik entfaltet Friedrich Schlegel in seinem Spätwerk eine eigene Philosophie, die sich um die traditionelle philosophische Methode und Terminologie nicht mehr bekümmert und stattdessen eine – so könnte man sagen – poetologische Erkenntnistheorie entwirft, die deutlich von kunstreligiösem Gedankengut gespeist ist. So entwickelt Friedrich Schlegel für diese Philosophie eine erkenntnistheoretische Konzeption der Idee, die logisch-begriffliches und bildlich-symbolisches Denken miteinander kombiniert: Der äußern Form nach, und im Vergleich mit andern Functionen des Bewußtseyns, oder Acten des Denkvermögens, ist die Idee ein Begriff, der zugleich Bild oder Symbol ist; weil nämlich alles, was nicht sowohl unbegreiflich ist, als überbegreiflich, nämlich über allen Begriff hinausgehend und erhaben, nicht anders als bildlich bezeichnet und symbolisch erfaßt oder begriffen werden kann. Das Wort selbst deutet nach seinem ursprünglichen griechischen Sinne auf ein solches gesehenes Bild und bildliche Gestaltung, die mit in dem Begriff liegt. Alles Höchste jeder Art, welches wir zu denken vermögen, kann nur durch ein solches Denken erfaßt werden, welches zugleich ein logisches und ein symbolisches ist, und in welchem das logische Denken der Vernunft und das symbolische Denken der der [sic] Einbildungskraft, der wissenschaftlichen nämlich, oder des innerlich produktiven Erkenntnißvermögens wieder Eins geworden und innig verbunden oder ganz verschmolzen ist. Die Idee aber ist nicht bloß ein Gedanke, der zugleich Begriff, und dennoch eben weil er sich eigentlich nicht begreifen läßt und über allen Begriff hinausgeht, zugleich auch Bild ist: sondern die Idee ist, nicht so sehr auf den Gegenstand, als auf die innere Bewußtseynsform gesehen, auch ein Gedanke, der zugleich Gefühl ist, und ohne diese Voraussetzung des Gefühls, gar nicht Statt finden kann[.]1210

Friedrich Schlegel verbindet hier die beiden Verwendungsweisen des Terminus’ der Idee, wie sie sich bei Kant finden. Während Kant – wie in Kap. I.2.1 des ersten Teils dargelegt wurde – zwischen den Ideen der Vernunft, die er unter die Begriffe subsumiert einerseits, und den ästhetischen Ideen als den Darstellungen der Einbildungskraft, die sich dem begrifflichen Denken entziehen andererseits 1210 KFSA, Bd. 10, S. 427 f.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

unterscheidet, führt Schlegel beide Dimensionen des Ideebegriffs zusammen. Schlegels philosophische Grundüberzeugung besteht darin, dass ein philosophisches System das Leben einschließlich seiner göttlichen Bedingtheit nur dann erfassen kann, wenn es nicht bei einer analytischen Trennung der Geistesvermögen stehen bleibt, wie sie von Kant in seinen Kritiken entwickelt wurde, sondern dem Umstand Rechnung trägt, dass Welt und Mensch aus einem Zusammenwirken dieser Geisteskräfte bestehen und nur durch dieses erklärt werden können. Logisches und symbolisches Denken, Gedanke und Gefühl werden bei Schlegel nicht mehr länger als Gegensatzpaare verstanden, sondern in ihrem Zusammenspiel erfasst. Das Bild als das symbolische Darstellungsvermögen, das auch die subjektivgeistige Dimension eines Gegenstands zu repräsentieren vermag, muss für Schlegel notwendig zum begrifflichen Denken hinzutreten, um Welterkenntnis zu ermöglichen.

3.

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

Bild und Sprache durchziehen als zentrale Begriffe – wohlgemerkt in variierender Bedeutung – sämtliche philosophische und philologische Aufzeichnungen Friedrich von Hardenbergs. Novalis liefert die sperrigste Sprach- und Bildtheorie aller frühromantischen Denker, denn sie lässt sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Die vielfältigen, höchst experimentellen, bisweilen widersprüchlichen Notizen zu Bild und Sprache scheinen sich jeglichem Systematisierungsversuch zu entziehen. So behandelte die Forschung, die sich mit der Sprach- oder Bildtheorie bei Novalis beschäftigt, lange Zeit nur einzelne Aspekte aus den vielschichtigen Überlegungen, die Novalis in seinen theoretischen Fragmenten und Aufzeichnungen ebenso hinterlassen hat wie in seinem dichterischen Werk. Nähert sich ein Zweig der Forschung über eine philosophisch-erkenntnistheoretische Fragestellung der Sprach- und Bildtheorie der Fichte-Studien, so ist eine andere Strömung eher an den neuplatonisch-esoterischen Facetten des Hardenbergschen Œuvres interessiert und konzentriert sich entsprechend auf die sprachmagischen Elemente seines Denkens.1211 Für das sprachtheoretische Denken Hardenbergs hat jüngst Franzsika Struzek1211 Zu ersterem Zweig gehören die Arbeiten von Alessandro Bertinetto, Monika Tokarzewska oder Heinz J. Drügh, zu letztgenannten etwa die Aufsätze von Ayako Nakai und Gabriele Rommel. Vgl. zu diesem Befund auch Struzek-Krähenbühl, S. 10. (Struzek-Krähenbühl, Franziska: Oszillation und Kristallisation. Theorie der Sprache bei Novalis, Paderborn 2009).

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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Krähenbühl erstmals eine umfassende Studie vorgelegt.1212 Das durchaus reichhaltige Material zur Schrift- und Bildthematik, das Novalis hinterlassen hat, soll in diesem Kapitel gesichtet und auf seine jeweiligen sprach- und bildtheoretischen Implikationen hin untersucht werden. Dabei sollen die kontinuitätsbildenden Elemente zwischen den unterschiedlichen Überlegungsansätzen ebenso aufgezeigt werden wie die nicht zu kaschierenden Divergenzen. In erster Linie soll in diesem Kapitel das theoretische Werk Hardenbergs erschlossen und nur punktuell auf ergänzende Beobachtungen aus dem dichterischen Werk verwiesen werden, dessen sprachmagische Passagen im Wesentlichen eine dichterische Umsetzung der Theorie bilden. Wie in einem Kaleidoskop präsentiert Novalis in seinen Fragmenten die unterschiedlichsten Möglichkeiten, Sprache und Bild zu denken. Die einzelnen Bausteine dieses Mosaiks sollen im Folgenden erschlossen und in ihrem Zusammenhang mit theoretisch-poetologischen Grundüberzeugungen Hardenbergs betrachtet werden. Der deutlichste Bruch in Hardenbergs Sprach- und Bilddenken verläuft zwischen den Fichte-Studien von 1795/96 und den stärker durch magische Spekulationen geprägten Fragmenten zur Kunst und zur Poesie. Aufgrund der durchaus unterschiedlichen Befunde, die sich aus der Untersuchung dieser beiden Textgruppen ergeben, sollen deren Sprach- und Bildkonzeptionen zunächst weitestgehend getrennt voneinander erschlossen werden, ehe sich abschließende Schlussfolgerungen unter Berücksichtigung beider Positionen ziehen lassen.

3.1

Bildtheorie als Bewusstseinstheorie – Die Fichte-Studien

Von den Herausgebern der historisch-kritischen Novalis-Ausgabe, Richard Samuel, Hans-Joachim Mähl und Gerhard Schulz mit durchaus plausiblen Gründen auf die Jahre 1795/96 datiert,1213 sind die Fichte-Studien als Ergebnis einer eingehenden Beschäftigung Friedrich von Hardenbergs mit der Philosophie 1212 Vgl. Struzek-Krähenbühl, Franziska: Oszillation und Kristallisation. Theorie der Sprache bei Novalis, Paderborn 2009. Struzek-Krähenbühl untersucht Hardenbergs Sprachdenken in seinen philosophischen, poetologischen und naturwissenschaftlichen Studien und umfasst damit erstmals seine Sprachtheorie in ihrer gesamten Breite. Ihre methodische Herangehensweise an den Untersuchungsgegenstand ist jedoch problematisch. Ihr Vorgehen in den Kapiteln zu Hardenbergs Fichte-Studien etwa, in denen sie Novalis’ Schriften in gleicher Weise mit Schriften Johann Gottlieb Fichtes wie Jacques Derridas konfrontiert, ohne den historischen Bezug je eindeutig zu berücksichtigen, ist paradigmatisch für ihren methodischen Umgang mit den Texten. Auch hätte eine eingehendere Beschäftigung mit den Sprachtheorien des 18. Jahrhunderts die wiederholten terminologischen Ungenauigkeiten verhindern können. 1213 Vgl. Mähl, Hans-Joachim: Einleitung, in: Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 29 – 39.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Johann Gottlieb Fichtes zu betrachten, der eine erste persönliche Begegnung mit dem Philosophen des Idealismus in Jena unmittelbar vorausgegangen ist.1214 Gleich zu Anfang der Fichte-Studien, in einem kleinen, lediglich sechzehn Seiten umfassenden Konvolut, das die Forschung auf den Herbst 1795 datiert, finden sich die zusammenhängendsten und zugleich philosophisch komplexesten Ausführungen über Sprache und Bild, die Novalis hinterlassen hat.1215 Zusammen mit einem größeren Konvolut wird es zur ersten Gruppe der FichteStudien zusammengefasst.1216 Novalis beginnt seine Fichte-Studien mit dem Problem des Ich und des Bewusstseins und behält damit das Fichtesche Ausgangsproblem (zunächst) bei. Allerdings unterscheidet sich sein Ansatz von Fichtes früher Wissenschaftslehre darin, dass nicht mehr das Ich als sich selbst Setzendes das oberste Prinzip seiner philosophischen Konzeption bildet, sondern dieses zusammen mit der Natur unter eine gemeinsame Sphäre subsumiert wird,1217 die er als Gott bezeichnet:1218

1214 In der Forschung wird angenommen, dass Novalis Fichte zusammen mit Friedrich Hölderlin wohl zum ersten Mal im Mai 1795 im Haus von Immanuel Niethammer kennengelernt hat. Vgl. Mähl, Einleitung, Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 31. 1215 Vgl. Mähl, Einleitung S. 43. 1216 Vgl. ebd., S. 42 f. 1217 Damit behebt er in seinem eigenen philosophischen Ansatz, was sein Haupteinwand gegen Fichtes Wissenschaftslehre war – die von Fichte gesetzte Trennung von Ich und Welt – und nähert sich naturmystischen Konzeptionen an. Vgl. hierzu z. B. Wanning, Berbeli: Statt Nicht-Ich – Du! Die Umwendung der Fichteschen Wissenschaftslehre ins Dialogische durch Novalis (Friedrich von Hardenberg), in: Fichte und die Romantik, Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre, hrsg. v. Wolfgang H. Schrader, Amsterdam u. a. 1997, S. 153 – 168, hier S. 155. 1218 Bertinetto weist in seinem Aufsatz »›Syn außer dem Seyn im Seyn‹: Der Begriff ›Bild‹ in den Fichte-Studien des Novalis und in der Spätphilosophie J.G. Fichtes« darauf hin, dass Novalis in dieser Konzeption des Ichs Fichtes späte Wissenschaftslehre antizipiert, in der Fichte das Ich nicht mehr als das Absolute selbst auffasst, sondern als dessen Erscheinung oder Bild. Auf diesen Aufsatz, der einen detaillierten Vergleich des Bildbegriffs in Fichtes später Wissenschaftslehre und in den Fichte-Studien des Novalis vorlegt, wird noch verschiedentlich zurückzukommen sein. Jedoch muss auch Bertinetto die Frage unbeantwortet lassen, inwieweit Fichte Novalis’ kritische Aufzeichnungen zu seiner frühen Wissenschaftslehre kannte und die spätere Umarbeitung seiner Wissenschaftslehre von den Gedanken seines Studenten beeinflusst wurde. Vgl. Bertinetto, Alessandro: »Syn außer dem Seyn im Seyn«: Der Begriff »Bild« in den Fichte-Studien des Novalis und in der Spätphilosophie J.G. Fichtes, übers. v. Daniela Sautter, in: Athenaeum 15 (2005), S. 153 – 180, hier S. 153 – 155. Auch Grätzel und Ullmaier weisen auf die Übereinstimmungen zwischen Hardenbergs Überlegungen und Fichtes später Wissenschaftslehre hin, deuten aber an, dass sie von keiner Beeinflussung Fichtes durch Novalis ausgehen: »Fichtes Spätwerk in den Wissenschaftslehren von 1812 und 1813 und den Tatsachen des Bewußtseins von 1813 bezeugen in der von Fichte selbst gefundenen Weiterführung seiner Philosophie des Ich eine Entwicklung, die sein Schüler Novalis in einer genialen Intuition vorweggenommen hatte.« Darüber hinaus verweisen sie auch auf Grundzüge der Philosophien Schellings, Baaders und Hegels, die Novalis in seinen Aufzeichnungen antizipiert

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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»D[ie] Handlung, daß Ich sich als Ich sezt muß mit der Antithese eines unabhängigen Nichtich und der Beziehung auf eine sie umschließende Sfäre verknüpft seyn – diese Sfäre kann man Gott und Ich nennen.«1219 Statt wie Fichte die Welt (das Nicht-Ich) als sekundäres Produkt des Ich zu betrachten, versteht Novalis sie als unabhängige, mit dem Ich gleichursprüngliche Entität. Um ein völliges auseinanderfallen dieser beiden selbständigen Komponenten von Wirklichkeit zu verhindern, denkt er eine beide zusammenhaltende Sphäre, die ihnen ontologisch vorgeordnet sein muss. Zugleich verleiht er seiner philosophischen Konzeption damit eine theologische Basis: Gott als die alles vereinende Sphäre, zu der sich Welt und Mensch sekundär verhalten, ist das einheitsstiftende Moment. Aus dieser Ausgangskonstellation erschließt sich bereits die Grundkonzeption des Hardenbergschen Denkens: Das Ordnen der philosophischen Grundbegriffe in binären Oppositionen, die durch ein vermittelndes habe. (Grätzel, Stephan; Johannes, Ullmaier : Der magische Transzendentalismus von Novalis, in: Kant-Studien 89 [1998], S. 59 – 67, hier S. 59). 1219 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 107 f. Indem er Gott als »Ich schlechthin« bezeichnet, amalgamiert er letztendlich eine spinozistische mit einer idealistischen Weltanschauung. Heinz J. Drüghs Unterstellung, Novalis würde den Terminus »Gott« hier willkürlich verwenden und damit letztlich vorführen wollen, dass es sich hierbei nur um eine strukturelle Größe handele, ist zu widersprechen. (Drügh 2000, S. 128: »Dieser Grund, der Ich und Nicht-Ich zusammenhält – das berühmte Vermittelnde, nach dem Fichte so angestrengt gesucht hat –, erhält bei Novalis den Namen ›Sfäre‹ [erstmals II, 108]. Bei dieser handelt es sich um ein Konstrukt des Denkens, dessen reale Fundierung jedoch Schwierigkeiten macht. Wenn Novalis also formuliert: ›diese Sfäre kann man Gott und Ich nennen‹ [II, 108], handelt es sich dabei nicht um ungehemmten Ich-Titanismus. Es ist damit vielmehr angedeutet, daß über das Sein des gesuchten Prinzips kein sinnvoller Satz geäußert werden kann. Denn ein solcher Grund wird nicht wirklich wahrgenommen, sondern vom Denken selbst erzeugt. Seine Benennung ist deshalb gleichsam willkürlich. Man muß diese Erkenntnis in all ihrer Radikalität verstehen. Novalis […] erklärt alle bisherige philosophische Ursprungskunde für gescheitert und degradiert alle systematisch verankerten Prinzipien im Inventar der Philosophiegeschichte zu rein strukturellen Größen, deren Namen austauschbar sind.«) Dass Gott in einer Art Überbietungsfigur in der Tat als das »absolute Ich« gedacht wird, als reine Subjektivität oder Bewusstsein, belegt die oben zitierte Formulierung »Gott ist Ich schlechthin« ebenso, wie die wiederholte Notiz »Gott ist Ich« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 143 u. 141). Drügh gerät hier in die Falle eines allzu peniblen close readings, das über einer übergenauen Interpretation von Semantik und grammatikalischer Satzstruktur sowohl den textuellen als auch den historischen Kontext aus den Augen verliert und einer Interpretation auf der Grundlage des semantischen und philosophischen Horizonts seiner eigenen Gegenwart aufsitzt. Gott war für die Romantiker keineswegs ein bloßes Gedankenkonstrukt. Zur Relevanz des Religiösen bei Novalis vgl. z. B. ausführlich Bernd Auerochs, Die Entstehung der Kunstreligion, S. 463 – 482 oder Ludwig Stockinger, der darauf hinweist, dass Novalis’ Auseinandersetzung mit dem Katholizismus im Kontext der »Versuch[e] einer modernisierenden Reformulierung des Katholizismus in der Intellektuellendebatte betrachtet« werden muss. (Stockinger, Ludwig: Novalis und der Katholizismus, in: »Blüthenstaub«. Rezeption und Wirkung des Werkes von Novalis, hrsg. v. Herbert Uerlings, Tübingen 2000, S. 99 – 124, hier 102.). Dass Novalis bei dieser Sphäre sehr wohl Gott denkt und damit eine Verbindung aus Idealismus und Spinozismus anstrebt wird nachfolgend in diesem Kapitel noch genauer erörtert werden.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Bindeglied in Relation zu einander gesetzt werden. Es ist dieses erkenntnistheoretische Denken einer Grundopposition, zu deren Erklärung Novalis seinen Bildbegriff einführt. In einer Notiz erklärt er das Verhältnis zwischen Ich, Natur und Gott mit dem Bildbegriff: Gott ist These und Synthese zugleich. Die Natur ist Antithese. Der Mensch und die Natur machen die letztere aus. Sie muß Gott völlig gleich seyn i. e. durch Entgegensetzung. Sie muß ihm völlig correspondiren nur auf eine umgekehrte Art. Sie ist ein Bild des Malers von sich selbst.1220

Diese Beschreibung der Grundkonstitution von Mensch und Welt und deren Verhältnis zu Gott beinhaltet bereits den Kerngedanken des gesamten Hardenbergschen Philosophierens.1221 Das Bild wird näher bestimmt als dem Gegenstand vollkommen entsprechend, jedoch in entgegengesetzter Weise. Bild und Gegenstand verhalten sich also genau reziprok zueinander. Manfred Frank hat für diese Konzeption den bei Novalis selbst entlehnten Begriff des ordo inversus eingeführt.1222 Entscheidendes Kennzeichen des Hardenbergschen Bildbegriffs ist damit eine geschlossene reziproke Korrespondenz zwischen Bild und Gegenstand. Es ist eine besondere Form des Bildes, das Spiegelbild, welches diese Eigenschaften aufweist. So ist es letztendlich die Spiegelbildmetapher, die Novalis zur Umschreibung des antithetischen Verhaltens wählt, diese aber auf den Begriff des Bildes verkürzt. Die besonderen Eigenschaften, die Hardenbergs Bildbegriff auszeichnen, erschließen sich auch, wenn man darauf achtet, wie er das Verhältnis dieser entgegengesetzten Gegenstände zueinander bestimmt. So notiert er : »Zwey Entgegengesezte haben ein gleiches und ein Entgegengeseztes Merckmal – und beide in Konnexion.«1223 Die beiden Opponenten sind also nicht völlig voneinander verschieden, sondern beruhen auf der eigentümlichen Verbindung aus Identität und Differenz. Nach diesem Schema lassen sich letztendlich alle Dinge in ihren gegenseitigen Relationen zueinander bestimmen: Zum Unterscheiden gehört aber, wie wir wissen – ein gemeinschaftliches und ein verschiedenes Merckmal – Indem ich also Ein Ding kennen lerne, so lern ich auch alle Dinge kennen – indem ich aber diese Handlung begehe – vergrössere ich mein Bewußtseyn, denn ich verbinde etwas Neues damit. Jede Erkenntniß ist also Unterscheidung und Beziehung/Erweiterung, Gefügung, Zunahme/ in doppelter Rücksicht.1224 1220 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 163. 1221 Bertinetto legt dar, wie auch Fichte in der späten Wissenschaftslehre das Ich als Bild von Gott bzw. vom absoluten Sein bestimmt. Vgl. Bertinetto, »Seyn außer dem Seyn im Seyn«, S. 165 f. 1222 Vgl. Frank, Manfred: ›Unendliche Annäherung‹. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt am Main 1997, S. 815 ff. 1223 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 227. 1224 Ebd., S. 243.

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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Denken, als ein Reflektieren auf ein Gegenüber, beruht auf dem Vorhandensein solcher Oppositionen und wird durch sie erst möglich gemacht: »Weil alles ein Entgegengeseztes ist, so kann auch alles gedacht werden.«1225 Die Entstehung sämtlicher Kategorien, die Novalis in seinem erkenntnistheoretischen System unterscheidet, führt er auf den Akt des Entgegensetzens zurück. So notiert er zu Beginn des Jahres 1796: »Jezt seh ich ein, daß überhaupt entgegensetzen schon den richtigen Begriff v[on] Anschauen und reflectiren enthält.«1226 Dass er bei der Verwendung des Bildbegriffs zur Beschreibung dieses Phänomens weniger frei spekuliert, als vielmehr äußerst konkrete Anleihen bei Befunden optischer Untersuchungen macht, belegt ein BlüthenstaubFragment, in dem er auf die physikalischen Abläufe beim Wahrnehmungsprozess im menschlichen Auge rekurriert: »Unser sämtliches Wahrnehmungsvermögen gleicht dem Auge. Die Objekte müßen durch entgegengesetzte Media durch, um richtig auf der Pupille zu erscheinen.«1227 Die Vorstellung von reziprok vermittelnden Medien im Erkenntnisprozess ist damit nichts anderes als eine Analogisierung von physikalischen Phänomenen und mentalen Prozessen. Allerdings ist die Bild-Metapher, derer sich Novalis im obigen Ausgangszitat bedient und die er zum Selbstportrait hin erweitert, wohl nicht nur durch optische Phänomene motiviert, sondern ist mit größter Wahrscheinlichkeit dem biblischen Topos der Ebenbildlichkeit entlehnt.1228 So findet sich in den FichteStudien gleich zweimal die Notiz: »Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen«1229 und in leichter Abwandlung »Gott hat uns nach seinem Bilde geschaffen«1230, wobei dieser Satz in eine etwas längere Notiz eingebettet ist, die mit der Aussage beginnt »Gott ist Ich«1231. Indem Gott als Ich gedeutet wird, fügt sich Novalis’ dualistisches Weltbild zu einem Idealismus höherer Potenz zusammen.1232 Dass sich Novalis an dieser Stelle sehr bewusst über die Position Fichtes erhebt und zugleich – durch Einführung der Natur in seine Konzeption – ganz im Sinne des allgemeinen frühromantischen Bestrebens die Philosophien 1225 1226 1227 1228 1229 1230 1231 1232

Ebd., S. 255. Ebd., S. 203. Ebd., S. 415. Auch Bertinetto weist darauf hin, dass Novalis den Gedanken des Bewusstseins als Bild »der biblischen Idee der Schöpfung des Menschen durch Gott nach seinem Ebenbild« entnommen hat. Vgl. Bertinetto, »Seyn außer dem Seyn im Seyn«, S. 171. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 154. Ebd., S. 141. Ebd., S. 141, Vgl. ebenso die Notiz »Gott ist Ich schlechthin« (ebd., S. 143). An dieser Notiz lässt sich besonders gut belegen, dass die oben bereits zitierte Aufzeichnung, in der es heißt »diese Sfäre kann man Gott und Ich nennen« (Bd. 2, S. 108) keineswegs, wie Drügh interpretiert, als eine Beliebigkeit der Benennung (mit all ihren philosophischen Implikationen) zu verstehen ist, sondern vielmehr im Kontext der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nahe legt, dass Gott – wenn der Mensch Ich ist und er nach dem Abbild Gottes geschaffen sein soll – notwendig ebenso Ich sein muss.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Spinozas und Fichtes zusammenführt, belegt die ebenfalls in den Fichte-Studien enthaltene Notiz: »Spinotza stieg bis zur Natur – Fichte bis zum Ich, oder der Person. Ich bis zur These Gott.«1233 So bildet in Hardenbergs Konzeption – anders als bei Fichte – nicht das sich selbst setzende Ich den obersten Grundsatz, sondern Gott als vorreflexive Synthese aus Ich und Natur. Eine auffallend ähnliche These findet sich in einer Notiz aus dem Allgemeinen Broullion, welches von der Forschung allerdings deutlich später als die FichteStudien datiert wird. Hier wird die auch oben angedeutete Zusammenführung der Lehren Fichtes und Spinozas mit dem Namen Plotin in Verbindung gebracht: Das Beste in der Natur sehn indeß diese Herrn doch nicht klar. Fichte wird hiernach seine Freunde beschämen, und Hemesterhuis ahndete diesen heiligen Weg zur Physik deutlich genug. Auch in Spinotza lebt schon dieser göttliche Funken des Naturverstandes. Plotin betrat, vielleicht durch Plato erregt, zuerst mit ächtem Geiste das Heiligtum – und noch ist keiner nach ihm wieder so weit in demselben vorgedrungen.1234

Hans-Joachim Mähl, der Hardenbergs Plotin-Rezeption eingehend untersucht hat, kommt zu dem schlüssigen Ergebnis, dass Hardenbergs Plotin-Kenntnisse (einzig) aus seiner Tiedemann-Lektüre resultieren. Diese Lektüre, die ihren Niederschlag besonders deutlich in den Aufzeichnungen des Allgemeinen Brouillon gefunden hat, in denen Mähl eine Vielzahl von Tiedemann-Exzerpten belegen konnte, datiert er auf Herbst 1798 bis Frühjahr 1799. Auch eine andere schriftliche Quelle belegt Hardenbergs Zusammenführung von Fichte und Plotin; auch diese datiert auf das Jahresende 1798. So schreibt er in einem Brief aus Freiberg an Friedrich Schlegel: »Ich weis nicht, ob ich Dir schon von meinem lieben Plotin schrieb. Aus Tiedemann lernt ich diesen für mich gebornen Philosophen kennen – und erschrack beynah über seine Aehnlichkeit mit Fichte und Kant – und seine idealische Aehnlichkeit mit ihnen. Er ist mehr nach meinem Herzen als beyde.«1235 Folgt man den in der Forschung vorgenommenen Datierungen der Tiedemann-Lektüre Ende 1798 einerseits und der Fichte-Studien auf die Jahre 1795/96 andererseits, so scheint ein Einfluss Plotins auf die Fichte-Studien ausgeschlossen. Ausführungen über Plotin, die sich im dritten Band von Tiedemanns Geist der speculativen Philosophie finden, lassen jedoch aufhorchen. Hier heißt es: Oben hieß es einmahl, alles Hervorbringen von Wesen besteht im Denken des ersten Verstandes. Auch hievon macht Plotin bey der Erklärung vom Entstehen des Ver1233 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 157. 1234 Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 469. 1235 Novalis, Brief vom 10. 12. 1798 an Friedrich Schlegel, in: ders.: Schriften, Bd. 4, Nr. 127, S. 269.

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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standes Anwendung […]. Der Verstand, spricht er, ist des obersten Wesens Bild, weil er hervorgebracht, und alles hervorgebrachte seiner Ursache, wie das Licht, der Sonne ähnlich ist. Dies Bild entsteht dadurch, daß das erste Wesen durch Rückkehr auf sich, sich selbst sieht. Solche Rückkehr aber ist Verstand; denn alle Reflexion besteht in einer Rückkehr auf sich selbst, und einer Kreisbewegung. Dadurch entsteht um das erste Wesen ein Kreis, und sein Ebenbild.1236

Vergleicht man diese Ausführungen Tiedemanns mit Novalis’ Weiterdenken des Fichteschen Idealismus in den Fichte-Studien, kombiniert mit seinen expliziten Äußerungen bezüglich der Lehre Plotins als der Fortführung der Fichteschen Philosophie, so liegt eine Rezeption Tiedemanns vor bzw. während der FichteStudien durchaus nahe. Hier ließe sich auch die Einführung Gottes als Mensch und Natur übergeordnetes Prinzip erklären. Angesichts des Erscheinungsdatums des dritten Bandes von Tiedemanns Geist der spekulativen Philosophie 1793, dem das obige Zitat entnommen ist, tut sich hier die Frage auf, inwiefern Novalis Tiedemann womöglich bereits früher, schon vor oder während der Abfassung der Fichte-Studien, zur Kenntnis genommen hat. Die oben vorgestellte Konzeption des Ich oder des Menschen bildet auch die Grundlage für Novalis’ Entwurf einer Bewusstseinstheorie. Insofern das Bewusstsein für Novalis nicht mehr den obersten Grundsatz darstellt, sondern von Gott abhängt, beginnt Bewusstsein – und damit Philosophie (als Wissen) – nicht mit der Selbstbetrachtung, sondern mit einem »Selbstgefühl«.1237 So unterscheidet Hardenberg: »Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl. Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die filosofischen Wissenschaften.«1238 Dieses 1236 Tiedemann, Dieterich: Geist der spekulativen Philosophie. Reprogr. d. Ausg. Marburg 1791 – 1797, Brüssel 1969, hier : Bd. 3: Von der neuern Akademie bis auf die Araber [Marburg 1793], S. 392 f. 1237 Zum Selbstgefühl bei Novalis vgl. Frank, Manfred: »Selbstgefühl«. Vorstufen einer präreflexivistischen Auffassung von Selbstbewusstsein im 18. Jahrhundert, in: Athenäum 12 (2002), S. 9 – 32. Frank legt dar, dass die Auffassung, wonach das »Sein von einer Art Gefühl aufgefasst werde […] verbreitete Überzeugung des 18. Jahrhunderts« war. (Frank, »Selbstgefühl«, S. 15). Novalis, so Frank, wird diese These in erster Linie von Jacobi, aber auch anderen (Kant, Condillac u. a.) übernommen haben. So unterscheidet Hardenberg: »Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl. Die Anschauungen dieses Gefühls begreifen die filosofischen Wissenschaften.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 113). Dieses Gefühl wiederum »läßt sich nur in der Reflexion betrachten« und so besteht die Anschauung aus dem Zusammenspiel von Gefühl und Reflexion: »Gefühl und Reflexion bewirken zusammen die Anschauung. Es ist das vereinigende Dritte« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 114). 1238 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 113. Frank Rühling versucht diesen Unterschied zu Fichtes Ich-Philosophie durch den Hinweis zu entkräften, dass auch Fichte in seinen Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten die Philosophie »in einer freien Antizipation im Gefühl« ihren Ausgangspunkt nehmen ließe. Schon der Umstand, dass Rühling nicht aus Fichtes Text selbst zitiert, sondern sich auf die Einleitung des Herausgebers beruft, lässt eine zu erwartende Textkenntnis und Auseinandersetzung mit den Schriften Fichtes vermissen. (Vgl. Frank Rühling: Die Deduktion der Philosophie nach Fichte und Friedrich

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Gefühl wiederum »läßt sich nur in der Reflexion betrachten« und so besteht die Anschauung aus dem Zusammenspiel von Gefühl und Reflexion.1239 Durch dieses nachträgliche Betrachten des Gefühls durch die Reflexion wird aus dem Gefühl das Bewusstsein und aus dem Selbstgefühl das Selbstbewusstsein. Die Abläufe innerhalb der Erkenntniskräfte, die das Bewusstsein konstituieren, versucht Novalis in seinen folgenden Notizen genauer zu ergründen. Zur Entwicklung einer detaillierten Bewusstseinstheorie rekurriert Novalis abermals auf den Bildbegriff. Auch hier ist es wieder die reziprok-korrespondierende Eigenschaft des Bildes, die er für seine Bewusstseinstheorie fruchtbar macht. Zu seiner Definition des Bewusstseins gelangt Novalis über den Umweg des Wissens. Er beginnt mit der Voraussetzung, dass das »Bewußtseyn […] die Sfäre des Wissens«1240 sei. Das Wissen ferner bestimmt er als »ein Seyn außer dem Seyn, das doch im Seyn ist.«1241 Nach den Regeln der formalen Logik ergibt sich daraus der Satz: »Das Bewußtseyn ist ein Seyn außer dem Seyn im Seyn.«1242 Und Novalis deduziert weiter :

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von Hardenberg, in: Fichte und die Romantik: Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre, hrsg. v. Wolfgang H. Schrader, Amsterdam 1997, S. 91 – 110, hier S. 98). Das Ausgehen aller Deduktion des Ichs vom Gefühl findet sich zwar in der Tat schon bei Fichte, so auch im Grundriß des Eigenthümlichen der Wissenschaftslehre. Allerdings muss man beachten, dass das Gefühl, mit dem alle Erkenntnis des Ich anhebt, durch die Reflexion bedingt ist: »Es war in ihm [dem Ich, Y.A.] die Tendenz überhaupt zu reflektieren; durch die Begrenzung kam die Bedingung der Möglichkeit des Reflektierens hinzu, es reflektierte nothwendig. Daher entstand ein Gefühl, und aus diesem alles übrige, was wir abgeleitet haben.« (Fichte, Bd. I.3, S. 172). Rühling hingegen lässt unberücksichtigt, dass das Gefühl für Novalis dem reflexiven Bewusstsein vorausgeht. Im gleichen Sammelband weist Christian Iber in seinem Aufsatz detailliert nach, wie Novalis mit dem wohl bei Jakobi entlehnten Terminus des Gefühls seine Differenz zum Fichteschen Denken markiert, wonach das Absolute gerade nicht unmittelbar durch die Reflexion erfasst werden kann, sondern sich diese immer noch mittelbar auf das ursprüngliche Gefühl beziehen muss. (Vgl. Iber, Christian: Frühromantische Subjektkritik, in: Fichte und die Romantik. Hölderlin, Schelling, Hegel und die späte Wissenschaftslehre, hrsg. v. Wolfgang H. Schrader, Amsterdam 1997, S. 111 – 126). Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 114: »Gefühl und Reflexion bewirken zusammen die Anschauung«. Violetta L. Waibel zeigt die philosophiegeschichtliche Relevanz der von Hardenberg hergestellten Verbindung von Kognition und Emotion auf, indem sie sie im Lichte aktueller analytisch-philosophischer Fragestellungen zur Interaktion von Emotion und Kognition betrachtet. Hardenbergs Philosophie, die er als Korrektur zum einseitigen Rationalismus der Aufklärung entwarf, erscheint damit als eine Vorwegnahme jüngst virulent gewordener Fragestellungen. (Vgl. Violetta L. Waibel: Emotion und Kognition in der Philosophie der Romantik [Hardenberg/Novalis] und in der Analytischen Philosophie [Damasio, Nussbaum, de Sousa], in: Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus 3 [2005], S. 59 – 89). Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 105. Ebd., S. 106. Ebd., S. 106. Bertinetto hat nachgewiesen, dass Fichte in seiner späten Wissenschaftslehre

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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Was ist aber das? Das Außer dem Seyn muß kein rechtes Seyn seyn. Ein unrechtes Seyn außer dem Seyn ist ein Bild – Also muß jenes außer dem Seyn ein Bild des Seyns im Seyn seyn. D[as] Bewußtseyn ist folglich ein Bild des Seyns im Seyn.1243

Novalis stellt hier die Frage nach dem ontologischen Status des Bewusstseins und kommt dabei zu dem Schluss, dass ihm nicht im eigentlichen Sinne Sein zukommt (»ein unrechtes Seyn«). Ferner befindet sich dieses auch außerhalb der Sphäre des Seins. Es ist dem Sein damit gegenübergestellt. Einen solch ontologisch prekären Status bestimmt er als Bild. Der Terminus des »unrechten Seyns« kann – in Zusammenhang mit anderen Aussagen über das Bild betrachtet – als ein sich zu den Eigenschaften des Seins reziprokes Verhalten gedeutet werden. Dafür spricht die vielfältige Spiegelbild-Metaphorik, die Novalis in seiner Rede vom Bild verwendet – etwa wenn es ebenso lapidar wie eindeutig heißt »das Bild ist links – und das Original rechts—/«1244 Im Bewusstsein schließlich wird dieses außenstehende Bild des Seins wieder in das Sein hinein importiert. Zur Erklärung des ordo-inversus-Gedankens bei Novalis bedarf es aber einer genauen Kenntnis der Hardenbergschen Vorstellung von der Konstitution des Ich. Das Ich, welches Novalis als Grundkategorie von Fichte übernimmt, konstituiert sich für ihn aus jenen beiden Komponenten, aus denen er das Bewusstsein hergeleitet hat: Reflexion und Gefühl. Damit ist das Ich wesentlich als Bewusstsein bestimmt. »Der Trieb Ich zu seyn ist zugleich der Trieb zu denken und zu fühlen.«1245 Die Synthese aus Gefühl und Reflexion aber hat er bereits Anschauung genannt. Und so überträgt er auch diese auf das Ich, das er als »Synthesis der intellectualen Anschauung«1246 bestimmt.1247 Das Ich selbst differenziert er wiederum in verschiedene Modi. Das bewusste Ich bezeichnet Novalis als analytisches Ich, welches sich das synthetische Ich als Bild entgegensetzt.1248 »Analytisches Ich ist Ich mit Bewußtseyn – synthetisches Ich, ohne

1243 1244

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ganz ähnliche Formulierungen verwendet. Vgl. Bertinetto, »Seyn außer dem Seyn im Seyn«, S. 155. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 106. Ebd., S. 153. Vgl. ebenso die verschiedentlich verwendete Rede von den sich spiegelbildlich verhaltenden Pyramiden oder den zwei Richtungen auf einer Linie. So schreibt er über das Verhältnis von Natur und Person: »Es sind einerley Wesen – nur umgekehrt. Sie correspondiren aufs genaueste. Bildlich sind sie, wie zwey Pyramiden, die Eine Spitze haben. Sie sind wie Eine Linie. Her ist sie das Bild der Natur – hin das Bild des Ich.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 157). Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 126. Ebd., S. 124. Zur »intellektualen Anschauung« bei Novalis vgl. Frank, Manfred: »Intellektuale Anschauung«. Drei Stellungnahmen zu einem Deutungsversuch von Selbstbewusstsein: Kant, Fichte, Hölderlin/Novalis, in: Die Aktualität der Frühromantik, hrsg. v. Ernst Behler, Paderborn u. a. 1987, S. 96 – 126. So notiert er : »Das analytische Ich wird vom Ich begründet und besteht in einem Setzen

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Bewußtseyn. Im Synthetischen Ich schaut sich das analytische Ich an. Das Anschauende Ich wird sein eignes Angeschaute – das synthetische Ich ist gleichsam Spiegel der Realität.«1249 Bewusstes Ich ist demnach sich selbst anschauendes Ich. Dieses angeschaute Ich, in dem das Subjekt sich selbst zum Gegenstand wird, bestimmt Novalis als Objekt und knüpft hier an Fichte an, der das Nicht-Ich als Bild des Ich definiert.1250 Dem Objekt als Bild wird damit offensichtlich kein Sein zugesprochen. Es wird stattdessen als Medium aufgefasst.1251 Indem er sich mit der Rede vom Objekt eines philosophischen Grundbegriffs bedient, sieht Novalis offensichtlich die Notwendigkeit, sein Verständnis desselben näher zu erläutern. So liefert er im Zusammenhang mit dem Objektbegriff eine Bestimmung des Bildbegriffs: Mit dem Object ist nichts zu machen, es ist ein Medium, weiter nichts. Das eigentliche Object, zu dessen Untersuchung wir nunmehr vorschreiten ist das Bild des analytischen Ich. Unsre jetzige Betrachtung wird das Bild, als Bild, angehn i. e. als Object – Das analytische Ich, als Object betrachtet. Das Bild an und für sich ist, wie gesagt, die verkehrte Oberfläche des Gegenstandes – unsre Beschreibung des Bildes wird aber, weil wir sie, als analytisches Ich, anstellen, wieder rechts ausfallen, wenn jene im Verhältniß zum Gegenstande links ist – wir müssen also, um den reinen Character des Bildes als Bild allein zu kriegen – links darstellen; um hingegen das analytische Ich, uns selbst recht zu kriegen, beschreiben wir, wie wir sehn.1252

Was hier mit einiger Umständlichkeit erklärt ist, meint nichts anderes als eine doppelte Spiegelbildlichkeit, oder den Umstand, dass das analytische Ich immer nur spiegelverkehrt darstellen kann. Von diesen Überlegungen zum Erkenntnisprozess des Bewusstseins ausgehend, fragt Novalis weiter, wie sich dieses Bewusstsein intersubjektiv mitteilen kann. Der Bildbegriff, der bislang allein zur Beschreibung der Relationen der geistigen Vermögen herangezogen wurde, wird nun um den Begriff des Zeichens ergänzt. Während Hardenbergs Bildtheorie des Bewusstseins bis zu diesem Punkt noch von einem rein mentalen Bildbegriff ausgeht und keinerlei Elemente eines materiellen Bildbegriffs impliziert, führen schließlich seine weiteren Überlegungen auf einen solchen hin. Unmittelbar an die Deduktion des Bewusstseins

1249 1250 1251

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seiner selbst durch ein Entgegensetzen. Es sezt sich für sich, indem es ein Bild von seinem Begründenden sezt und so die Handlung seines Begründens reproducirt.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 140). Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 142. Vgl. Fichte, GA I/3, S. 179 – 182. Novalis war neben Herder einer der ersten, der den Begriff des Mediums im literatur- und kunsttheoretischen Kontext verwendet hat. Vgl. hierzu Schulte-Sasse, Jochen: Art: Medien/medial, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, S. 1 – 38, bes. S. 10. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 142.

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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als eines Bildes vom Sein im Sein schließen folgende Notizen an: »Nähere Erklärung des Bildes. /Zeichen/ Theorie des Zeichens. /Theorie der Darstellung oder des Nichtseyns im Seyn, um das Seyn für sich auf gewisse Weise daseyn zu lassen/«1253 Novalis ist sich bewusst, dass der von ihm verwendete Bildbegriff noch zu unscharf ist und eine präzise Definition des Bewusstseins nicht zuletzt von der Klärung dieses Terminus’ abhängt. Die oben zitierten Notizen belegen bereits, dass er das Bild semiotisch zu interpretieren und scheinbar auf eine Zeichentheorie hin zu erweitern versucht. Auf den darauffolgenden Seiten finden sich Notizen zu einer Theorie des Zeichens, die anhand des Mediums der Sprache entwickelt werden soll. Während das Wissen oder das Bewusstsein als Bild des Seins im Sein noch rein geistiger Natur ist, soll dieses dennoch intersubjektiv kommunizierbar sein. Mit anderen Worten: das Bewusstsein soll sich einem anderen Bewusstsein mitteilen können. An dieser Stelle wird die (geistige) Bildtheorie in eine (materielle) Sprachtheorie überführt. Im Unterschied zu Fichte, der die Sprache lediglich in einzelnen, relativ knappen und thematisch von seiner Transzendentalphilosophie unabhängigen Abhandlungen problematisiert, zeichnen sich die Gedanken Friedrich von Hardenbergs – wie es auch bei allen anderen Dichtern und Theoretikern der Frühromantik zu beobachten ist – dadurch aus, dass die Sprache als Kommunikationsmedium zwischen materieller und geistiger Welt von tragender Bedeutung ist.1254 Novalis präzisiert die »Theorie des Zeichens« auf die Frage »was kann durch das Medium der Sprache wahr seyn?«1255 Ein Problem, das Novalis in eine Dreierreihe mit der Frage nach »Filosofie überhaupt« und »System selbst« einordnet. Schon hieran lässt sich ablesen, wie grundlegend sich das Zeichenproblem in seiner philosophischen Konzeption darstellt. So setzt er auch Denken, als der grundlegenden Tätigkeit des Philosophierens, unmittelbar mit Sprache in Beziehung: Was ist Denken? Freyes successives Isoliren außerm Raume. 1253 Ebd., S. 106. 1254 So notiert er etwa im Allgemeinen Brouillon »ÆKritick d[er] Sprache – Vorarbeit d[es] W[issenschafts]Lehrers.æ« (Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 384). Und in einer anderen Notiz aus dem gleichen Jahr entwirft er die Funktion der »W[issenschafts]L[ehre] als Idealsprachschema« (Novalis , Bd. 3, S. 421) versehen mit dem Zusatz »Ich – das Urwort z. B.« (Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 421). Aus dieser knappen Notiz lässt sich schließen, dass er mit der Entwicklung einer idealistischen Terminologie zugleich die Vorstellung von einer Rekonstruktion eines metaphysischen Sprachmodells verband. Die Relevanz, die das Thema Sprache in seinem Denken einnahm, belegt auch eine Notiz, die darauf hindeutet, dass Novalis mit dem Gedanken spielte, einen »Essai über die vollkommne Sprache« (Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 251) zu verfassen. 1255 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 108.

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Sprechen und Schreiben? […] Bestimmte Darstellung des Denkens im Raume – Folglich da der Raum und die Zeit wechselseitig sich bezeichnen, und bestimmen, festhalten – bestimmte Zeichen des Denkens.1256

Der in dieser Notiz ausgeführte Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen ist eine Grundfigur des Hardenbergschen Ansatzes. In einer anderen Notiz etwa wird das korrespondierende Verhalten der Sprache zum Denken durch die Bezeichnung der Sprache als »Gedankenmeter« ausgedrückt, wobei erstere letzterem intersubjektiv kommunizierbare Gestalt verleiht.1257 So heißt es – nicht ohne Seitenblick auf magische Konzeptionen – »Denken ist Sprechen. Sprechen und thun oder machen sind Eine nur modificirte Operation«1258, wobei die pragmatische Dimension des Sprechens sogleich am biblischen Bericht belegt wird: »Gott sprach es werde Licht und es ward.«1259 Auf eine ähnliche Überlegung zielt der »Satz: Gegenseitig Bezogenes simultanes Sprechen und Denken (thätiges Betrachten) thut Wunder – erzeugt eine Substanz (Flamme), die beydes, Sprechen und Denken harmonisch erregt – und bildet.«1260 Versteht Novalis das Zeichen als zur Anschauung erhobenes Denken, so wird verständlich, dass für ihn die Mitteilungsfunktion des Zeichens – mit idealistischen Termini gesprochen, die Wechselwirkung zwischen zwei Ichs – von vorrangigem Interesse ist. Ein anderer Dualismus, zwischen dem eine solche Wechselwirkung postuliert werden kann, ist jener des Zeichens und des Bezeichneten. Novalis entwickelt seine Vorstellung von der Art und Weise des Zusammenspiels von Zeichen und Bezeichnetem in einem für seine meist kursorisch gehaltenen Notizen außergewöhnlich langen Gedanken- und Textzusammenhang. Dabei geht er – anders als etwa die Schlegel-Brüder – von einem arbiträren Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat aus. Das Zeichen wird zum Zeichen für ein bestimmtes Bezeichnetes allein durch die Festlegung, die ein Bezeichnender vornimmt. Die Signifikant-Signifikat-Relation beruht damit auf Verabredung und ist durch keinerlei Merkmale weder des Zeichens noch des Bezeichneten motiviert.1261 1256 1257 1258 1259 1260 1261

Ebd., S. 108. Vgl. Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 349. Ebd., S. 297. Ebd., S. 297. Ebd., S. 443. Tokarzewska missversteht diese Passage völlig, wenn sie meint, sie höre »sich seltsam an, denn wir sind gewöhnt, die Sprache als eine Konvention zu verstehen, die die Bedeutung von vornherein bestimmt und den Gesprächspartnern kaum Spielraum lässt.« (Tokarzewska, Monika: Bewusstsein, Sprache und Individualität. Zu Novalis’ Auseinandersetzung mit Fichte, in: Convivium 2002, S. 177 – 191, hier S. 187). Gerade eine solche Konvention muss sich jedoch erst entwickeln und genau nach der Möglichkeit der Entwicklung einer solchen konventionell verabredeten Sprache fragt Novalis hier. Hardenbergs

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Verhältnis des Zeichens zum Bezeichneten. Beyde sind in verschiednen Sfären, die sich gegenseitig bestimmen können. Das Bezeichnete ist eine freye Wirkung[,] das Zeichen ebenfalls. Gleich sind sie sich also im Bezeichnenden – sonst völlig ungleich – aber auch dis nur für den Bezeichnenden – beyde sind in Beziehung auf einander blos im Bezeichnenden. Insofern der Bezeichnende ganz frey entw[eder] in der Wirkung des Bezeichneten oder in der Wahl des Zeichens, nicht einmal abhängig von seiner in sich selbst bestimmten Natur, ist – insofern ist beydes nur für ihn in wechselseitiger Beziehung da und keins von beyden steht für einen zweyten Bezeichnenden in einer nothwendigen Beziehung auf das Andre. [Sie] sind für einen zweyten Bezeichnenden völlig getrennt.1262

Soweit das Verhältnis von Zeichen und bezeichnetem Gegenstand bis hierhin dargestellt worden ist, vollzieht es sich allein im Bewusstsein – im Denken – eines einzelnen Menschen. Möchte er dieses Denken aber einem Gegenüber mitteilen, so muss genau ein solches Zeichen – eine zur Erscheinung und damit zur Anschauung gebrachte Vorstellung – zur Anwendung kommen. Eine vollkommene Arbitrarität zwischen Zeichen und Bezeichnetem, so schlussfolgert Novalis weiter, kann das Gelingen eines solchen Mitteilungsversuchs kaum gewähren: Das Denken kann aber nur einem zweyten Bezeichnenden, so wie alles von außen, nur d[urch] d[en] Raum, mittelst einer Anschauung, oder eines Gefühls mitgetheilt werden. […] Folglich nur durch ein Zeichen. Sind aber, wie oben, Zeichen und Bezeichnetes völlig getrennt, ist ihre Beziehung blos im ersten Bezeichnenden, so kann es nur ein Zufall oder Wunder seyn, wenn durch ein solches Zeichen das Bezeichnete dem 2ten Bezeichnenden überkommt.1263

Folglich bedarf es, so Novalis, »notwendiger« Zeichen, Zeichen also, deren Bezug zum Bezeichneten allgemein evident erscheint. Man könnte zunächst meinen, Novalis hänge hier dem Konzept vom »natürlichen« Zeichen an. So einfach gestaltet sich die Sache jedoch nicht. Die freie Wahl des Zeichens durch den Bezeichnenden stellt er nicht in Frage. Insofern handelt es sich – dem Fichteschen Wortgebrauch gemäß – um »willkürliche« Zeichen. Objectiv und subjectiv nothwendige Zeichen, /welches im Grunde einerley ist/ sind daher die Einzigen, wodurch sich ein Gedachtes mittheilen läßt. Der erste Bezeichnende braucht also nur, um sich mitzutheilen, solche Zeichen zu wählen, die eine in dem homogenen Wesen des 2ten Bezeichnenden begründete Nothwendigkeit der Beziehung auf das Bezeichnete haben. Die Homogenetaet des fremden Wesens mit dem Seinigen in dieser Beziehung wird also sein Studium bey Sätze sind also nicht gegen ein Verständnis von Sprache als einem System von vereinbarten Zeichen gerichtet, sondern gegen die Vorstellung von (äußerlich, durch den bezeichneten Gegenstand) motivierten Zeichen. 1262 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 108. 1263 Ebd., S. 108 f.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

dieser Mittheilung seyn müssen. Die Nothwendigkeit der Beziehung eines Zeichens auf ein Bezeichnetes soll in einem Bezeichnenden liegen. In diesem aber wird beydes frey gesetzt. Es muß also eine freye Nothwendigkeit der Beziehung beyder im Bezeichnenden vorhanden seyn. Frey soll sie seyn in Rücksicht dieses Bezeichnenden – nothwendig kann sie also nur in Rücksicht des Bezeichnenden überhaupt oder d[er] andern Bezeichnenden seyn. Freye Nothwendigkeit könnte man Selbstbestimmung nennen – folglich wäre Selbstbestimmung Character des Bezeichnenden überhaupt[.]1264

Auf welcher Ebene siedelt Novalis nun die notwendige Korrespondenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem an? Anders als in den geläufigen zeichentheoretischen Diskursen, die sich mit der Frage nach »natürlichen« Zeichen beschäftigen, liegt dieser Zusammenhang für ihn nicht in einer visuell- oder akustischmimetischen Qualität des Zeichens begründet. Dieser Gedanke ist für Novalis allein daher schon nicht möglich, da seine Zeichentheorie ihren Ausgangspunkt nicht beim angeschauten, materiellen Gegenstand der Außenwelt nimmt, sondern bei der Vorstellung im Bewusstsein des Bezeichnenden, die einem Gegenüber mitgeteilt werden soll. So verortet er die Eigenschaften, die das Zeichen intersubjektiv kommunizierbar machen, in den Strukturen des menschlichen Bewusstseins. Diese nennt er – in Anlehnung an Kant – Schema: Jedes verständliche Zeichen also muß in einem schematischen Verhältniß zum Bezeichneten stehn. […] Das Schema steht mit sich selbst in Wechselwirkung. […] Das 1ste Bezeichnende hat also im zweyten Bezeichnenden ein ursprüngliches Schema gefunden – und diesem zufolge wählt es die mitzutheilenden Zeichen.1265

Anders als Kant, der das Schema einfach postuliert, fragt Novalis danach, inwiefern einem Bewusstsein die Möglichkeit gegeben ist, dieses Schema zu erkennen und Zeichen diesem Schema gemäß zu bilden. Hier kommt wieder die Bild-Konzeption des Bewusstseins zum Tragen: Frage? wie? d[as] Erste [Bezeichnende, Y.A.] dieses Schema erkennen und sich darnach richten könne? /Das erste Bezeichnende wird unvermerkt vor dem Spiegel der Reflexion sein eignes Bild gemahlt haben, und auch der Zug wird nicht vergessen seyn, daß das Bild in der Stellung gemahlt ist, daß es sich selbst mahlt./1266

Mittels der Reflexion ist dem Bewusstsein eine Selbstanschauung – man könnte auch sagen ein Selbstbewusstsein – möglich. Diese Selbstbetrachtung bestimmt Novalis wiederum als Bild des Bezeichnenden (des Ich), mit dessen Hilfe das 1264 Ebd., S. 109. 1265 Ebd., S. 109 – 110. 1266 Ebd., S. 110.

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Schema erkannt werden kann. Das Schema unterscheidet sich vom Bild dadurch, dass die Reziprozität des Verhältnisses des Bilds zum Bezeichnenden mitgedacht wird. Ermöglicht wird eine solche am Schema orientierte Bezeichnung allein durch die Reflexion. Die Reflexion ist also das Vermögen, das das Sein in Distanz zu sich selbst treten lässt und damit zur Voraussetzung von Selbsterkenntnis wird. Diese ist aber nicht unmittelbar identisch mit dem Sein, sondern bietet sich nach der Struktur des Bildes als reziprok Korrespondierendes dar. Hier rekurriert Novalis auf die gleiche Metapher des sich selbst portraitierenden Malers, die er auch zur Beschreibung der Natur und des Menschen als Antithese Gottes herangezogen hat. Der Zusatz, es sei nicht vergessen, dass das Bild in der Stellung des sich selbst Portraitierens gemalt sei, meint nichts anderes, als dass die Reziprozität zwischen dem ersten Bezeichnenden und dessen Bild bedacht wird. An diesem Zitat wird auch deutlich, dass das Bild nicht schon identisch mit dem Zeichen ist, sondern lediglich die Grundlage zur Generierung der Zeichen bildet.1267 Damit ist auch der Annahme Drüghs zu widersprechen, Novalis überführe seine Bewusstseinstheorie durch Einführung des Bildbegriffs in eine Semiotik.1268 1267 Diese Unterscheidung wird in der Forschung vielfach verkannt. So etwa bei StruzekKrähenbühl, wenn sie davon spricht, Novalis setze »Bild und Zeichen in eins« (vgl. Struzek-Krähenühl, Oszillation und Kristallisation, S. 34) oder bei Trokarzewska, die die Vereinheitlichung noch weiter treibt, wenn sie schreibt »In Hardenbergs Auffassung bedeuten Bild und Zeichen zugleich Wort, und letzteres ist immer ein konkreter Name.« (Tokarzewska: Bewusstsein, Sprache und Individualität, S. 185). 1268 Vgl. Drügh, Heinz J.: Anders-Rede, S. 130. Drüghs These, »[d]as Bewusstsein wird von Novalis – und das ist die Initialidee der Fichte-Studien – als zeichenhaft aufgefaßt«, verkürzt die Differenz zwischen Novalis’ Bild- und Zeichenkonzeption. Richtig ist, dass die Bildtheorie den Kern der Fichte-Studien bildet, das eigentliche Zeichen ist bei Novalis jedoch sehr deutlich vom Bild als erkenntnistheoretischem Modell unterschieden. Unklar bleibt auch der im Fortgang von Drüghs Argumentation eingeführte Verweis auf das Allegorische. So schreibt Drügh: »Es stellt sich heraus, daß das Bestreben einer Darstellung des Absoluten das strukturelle Problem des Allegorischen impliziert: des Versuchs einer Verbildlichung des Bildlosen, der sich immer mit den Bedingungen von Zeichenhaftigkeit konfrontiert sieht.« (S. 131). In Hardenbergs Bewusstseinstheorie, über die Drügh in diesem Abschnitt spricht, ist das Bild jedoch gerade als Spiegelbild und damit als Abbild konzipiert, nicht als die Darstellung des Bildlosen. Drügh konstruiert weiterhin eine »Bilder-Skepsis« Hardenbergs, die er auf die Rede vom Bild als »d[em] Verkehrte[n] vom Seyn« stützt und daraus schlussfolgert, dass der »Rekurs auf die christliche Tradition menschlicher Gottesebenbildlichkeit […] eher ein Ausdruck der besagten Darstellungskrise als ein Indiz christlicher Zuversicht in die Geschlossenheit eines womöglich heilbringenden Zeichen-Prozesses« sei. (S. 131). Die Rede vom »Verkehrten vom Seyn« pejorativ im Sinne von »falsch« zu interpretieren ist eine Missdeutung des von Novalis Gemeinten, die mit den unterschiedlichen Semantiken des Wortes »verkehrt« operiert. Eine solche dekonstruktivistische Interpretation hilft jedoch zum Verständnis der Philosophie Hardenbergs nicht weiter. Der Rückgriff auf die Gottesebenbildlichkeit sagt weniger über eine mögliche Darstellungskrise aus, als dass Novalis sie heranzieht, um

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Dass Novalis das Bild nicht einfach unter die Klasse der Zeichen subsumiert, lässt sich schon an der Vielzahl von Notizen belegen, die um das Verhältnis von Bild und Zeichen kreisen. Bild und Zeichen, das wurde bereits deutlich, wirken im Kommunikationsprozess zusammen. Dieses Verhältnis soll im Folgenden näher untersucht werden. Während Novalis im ersten Konvolut noch im Rahmen einer längeren, zusammenhängenden Textpassage das Problem des Bezeichnens erörtert, fallen seine Notizen zum Verhältnis von Bild und Zeichen ebenso wie zum Realitätsbezug von Sprache, die im zweiten Konvolut angesprochen werden, weit kursorischer aus. Entsprechend erschwert dies auch eine eindeutige Interpretation des von ihm Gemeinten. Das zweite Konvolut enthält Notizen, die den Versuch erkennen lassen, das Verhältnis von Bild und Zeichen näher zu bestimmen. Zur gegenseitigen Abgrenzung dieser beiden Begriffe voneinander zieht Novalis das ihnen korrespondierende Begriffspaar Vorstellung und Anschauung heran. Hardenberg ist bestrebt, eine möglichst vollständige Kartographie der menschlichen Erkenntnisvermögen aufzuzeichnen, die alle bestehenden Korrespondenzen der Vermögen untereinander abbildet: /Bild ist eine vorgestellte Anschauung. Zeichen eine angeschaute Vorstellung./ /Symbolische Bildungskraft. Imagination./1269

Bild und Zeichen sind in diesem Korrespondenzgefüge die beiden Produkte, die aus der Verbindung zwischen Anschauung und Vorstellung hervorgehen. Im Bild realisiert sich eine Anschauung virtuell als Vorstellung, während sich im Zeichen eine Vorstellung materiell manifestiert. Bei jeder dieser Erkenntnisformen handelt es sich nicht um das jeweils eigentliche Vermögen, sondern um eine vermittelte Form desselben. Das Bild evoziert eine nicht unmittelbar gegebene Anschauung, das Zeichen eine nicht unmittelbar gegebene Vorstellung. Dies geschieht im jeweils entgegengesetzten Vermögen – beim Bild durch die seine erkenntnistheoretische Position zu formulieren. Novalis sucht in Auseinandersetzung mit Fichtes Ich-Philosophie nach einer anderen Möglichkeit das Verhältnis von Bewusstsein und Welt zu beschreiben, die auch die Natur in ihr Recht setzt. Der Ebenbildlichkeits- und der Spiegelbildbegriff werden eingeführt, um ein erkenntnistheoretisches Problem – das Verhältnis von Bewusstsein und Welt (Sein) – zu beschreiben; sie dienen zunächst keinem zeichentheoretischen Diskurs. Das Zeichen kommt erst dann ins Spiel, wenn es darum geht, die Bewusstseinsinhalte intersubjektiv zu kommunizieren. Die Rede vom Bild, das als Spiegelbild konzipiert ist, dient Novalis überdies auch dazu, seine Theorie von der durchgängigen Gegensätzlichkeit aller Dinge, seinen ordo-inversus-Gedanken, zu entfalten. Damit geht gewiss eine gegenseitige Verweisstruktur einher, die man zeichentheoretisch deuten kann. Eine Darstellungskrise lässt sich in dieser Konzeption jedoch nicht konstatieren. 1269 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 171.

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Vorstellung, beim Zeichen durch die Anschauung. Das Geistesvermögen, das dieses Zusammenspiel von sinnlicher und geistiger Erkenntnisform ermöglicht, ist das Vermögen, symbolisch darzustellen – die Einbildungskraft: »/Vorgestellte Anschauung, und angeschaute Vorstellung machen also das Wesen der Einbildungskraft aus./«1270 In unterschiedlicher Wirkweise produziert die Einbildungskraft beide: »D[ie] Einbild[ungs]Kr[aft] ist Schöpfungskr[aft] in Beziehung auf d[ie] Anschauung – Darstellungskr[aft] in Beziehung auf d[ie] Vorstellung – Anschauung könnte ich Materie nennen.«1271 Novalis lotet in den folgenden Notizen das Verhältnis von Anschauung und Vorstellung zueinander weiter aus. Das Zusammenspiel beider ist nach Hardenbergs Auffassung Grundlage aller Realität: Vorstellung hängt von Anschauung ab und umgekehrt. Dem singulären Auftreten einer der beiden Komponenten kommt lediglich der Status des Scheins zu: »Vorstellung ohne Anschauung ist Schein et vice versa. Begriffe und Ideen giebts, aber keine bloßen Vorstellungen. Sensationen und Empfindungen giebts, aber keine bloßen Anschauungen. Beyde sind bloßer Schein.«1272 Somit setzt sich jeder Gegenstand aus Anschauung und Vorstellung zusammen: »Jedes Ding ist ein Ganzes, das aus Anschauung und Vorstellung besteht«1273 Indem der Gegenstand aber auf diesen beiden Komponenten beruht – und hier ist Novalis wieder ganz Idealist – ist er allein durch das Subjekt konstituiert: »Wenn ich frage, was eine Sache ist, so frage ich nach ihrer Vorstellung und Anschauung – ich frage mich nur nach mir selbst.«1274 Tritt jedoch eine der beiden Komponenten allein auf, so handelt es sich um Schein. Das Problem des Scheins, das Novalis für eine von der Vorstellung abgezogene Anschauung ebenso wie für eine von der Anschauung gelöste Vorstellung diagnostiziert hat, hat auch Konsequenzen für seine sprachtheoretischen Reflexionen. In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei dem Medium der Sprache – Zeichen und Bild – lediglich um Schein handelt, stellt sich unweigerlich die Frage nach dem Realitätsbezug von Sprache selbst: Was kann Sprache für Realität enthalten? Verhältniß der Sprache zur Anschauung, Denkkraft, und Einbild[ungs]Kr[aft]. Geschriebene – gesprochene – gedachte Sprache. Sprache ist materialer und Formaler Schein – Zeichen – Bild. Im Zeichen praevalirt der Begriff – im Bild die Anschauung – Sprach oder Begriffbild.1275 1270 1271 1272 1273 1274 1275

Ebd., S. 177. Ebd., S. 188. Ebd., S. 180. Ebd., S. 180. Ebd., S. 232. Ebd., S. 189.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Sprache, so lässt sich die elliptische Notiz ausformulieren, ist auf jeder ihrer Ebenen Schein. Gedachte Sprache, im Sinne von vorgestellter Anschauung, ist formaler Schein, gesprochene und geschriebene Sprache aber, im Sinne von angeschauter Vorstellung, ist materialer Schein. Dabei kann Sprache stärker begriffs- oder stärker anschauungsbezogen sein. Die Zuordnung »Zeichen – Begriff«, »Bild – Anschauung« legt nahe, dass das Bild hier analog zum Zeichen als sinnlich wahrnehmbarer Gegenstand gedacht wird. In einem anderen Fragment bringt Novalis dies nochmals auf den Punkt: »Sprache: Verknüpfung des besondern sinnlichen Gedankenstoffs mit sinnlichen Zeichen. Zeichen ist eine hypothetische Anschauung, bedingt durch eine Vorstellung.«1276 In immer neuen Begriffsrelationen und -konstellationen lotet Novalis die Semantik dieser beiden Grundtermini seiner Erkenntnistheorie, Bild und Zeichen, aus. In einer anderen Notiz wird dem bereits bekannten Begriffspaar »Bild – Anschauung« die binäre Relation »Idee – Begriff« gegenübergestellt. Letztere substituiert damit das vorherige Begriffspaar »Zeichen – Begriff«: /Idee ist der Begriff von Begriffen./ Bild ist die Anschauung von Anschauungen./ /Begriff von einem Begriffe ist nicht möglich – Ein Begriff kann nur angeschaut seyn. Ein angeschauter Begriff ist ein Zeichen. Eine Anschauung kann nicht angeschaut – sie kann nur begriffen werden. /Ein einfacher Begriff ist ein Unding – Eine einfache Anschauung ebenfalls.1277

Die Relation, die innerhalb der Begriffspaare hergestellt wird, ist nun allerdings eine andere als in der oben besprochenen Notiz. In der oben besprochenen Relation von Bild und Anschauung sowie von Zeichen und Vorstellung waren Bild und Zeichen jeweils die Medien, mit denen das ihnen zugeordnete Geistesprodukt evoziert werden konnte. In der hier zitierten Notiz hingegen sind Idee und Bild die übergeordneten Geistesvermögen. Sie sind die – in idealistischer Terminologie gesprochen – transzendentalen Kategorien zu den Vermögen des Begriffs und der Anschauung. Idee und Bild bündeln damit eine Vielzahl von Begriffen bzw. von Anschauungen. Eine metareflexive Bezugnahme auf einen einzelnen Begriff hingegen kann nur durch sein Pendant der Anschauung erfolgen und umgekehrt kann auch eine einzelne Anschauung nie einer anderen Anschauung, sondern nur einem Begriff zum Gegenstand werden. Der angeschaute Begriff wird – analog zur angeschauten Vorstellung – als Zeichen bestimmt.1278 Für die begriffene Anschauung gibt Novalis auffälligerweise keine Bezeichnung. Müsste er hier nicht analog zur vorgestellten Anschauung auf das 1276 Ebd., S. 189. 1277 Ebd., S. 169. 1278 So heißt es an anderer Stelle auch: »Das Wesen des Begriffs ist im Zeichen der Wahrnehmung darstellbar.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 228).

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Bild rekurrieren? Dann aber hätte er eine irreführende semantische Doppelbesetzung des Terminus Bild, der in der unmittelbar vorausgehenden Deduktion der übergeordneten Kategorie der Anschauung von Anschauungen vorbehalten war. Der Bildbegriff behält damit eine eigentümliche Unschärfe. Weiterhin stellt sich die Frage, weshalb in dieser Notiz die Idee an die Stelle des Zeichens getreten ist. Wurde an anderer Stelle gesagt, dass im Zeichen der Begriff das tragende Moment bildet (und entsprechend im Bild die Anschauung), wird dem Zeichen dennoch nicht die entsprechende syntaktische Stelle in der Potenzierung des Begriffs (entsprechend der Potenzierung der Anschauung durch das Bild) zugewiesen. Worauf ist dies zurückzuführen? Das Bild ist in der Hardenbergschen Verwendungsweise – anders als das Zeichen – ein mentaler Gegenstand. Somit kann es zur übergeordneten Kategorie der Anschauung avancieren. Das Zeichen als materieller Gegenstand ermangelt dieser Qualität. Es ist die Idee als mentales Produkt der Vernunft, die dem Bild hier korrespondieren kann. Diese philosophischen Reflexionen über Sprache und das in ihr manifest werdende Verhältnis von Zeichen und Bild werden bei Novalis nicht weiter ausgeführt. Er scheint hier seine Überlegungen zur Manifestation von Vorstellung und Anschauung im (sprachlichen) Bild und Zeichen an eine Grenze getrieben zu haben, die ihm das systematische Fortschreiten auf diesem Weg untersagt. Stattdessen geht er die Fragestellung in seinen späteren Aufzeichnungen von einer anderen Perspektive aus an. Er betrachtet nun die Funktion der Sprache bei der sich ausdifferenzierenden Unterscheidung von Philosophie und Poesie.

3.2

Symptom, Medium, Tropus – Die philosophischen und poetologischen Aufzeichnungen

Während Novalis in den Fichte-Studien und in deren Umfeld das Sprachproblem vor allem als philosophisches Problem behandelt, findet er im Rahmen seiner naturmystischen und magischen Studien zu einer veränderten Sprachauffassung. Diese befreit die Sprache aus dem Korsett einer notwendigen Relation mit der Philosophie und gelangt zu einem erweiterten, kabbalistisch-magisch aufgeladenen – für die Romantik typischen – Sprachbegriff. Der Nexus »Sprache – Philosophie« wird nun durch jenen zwischen Sprache und Poesie abgelöst. Um zu verstehen, wie Novalis sein Nachdenken über Bild und Sprache, das bisher im Rahmen seiner philosophischen Aufzeichnungen betrachtet wurde, auf die Poesie hin ausdehnt, muss man sich zunächst die romantische Weltsicht vor Augen halten. Der Grundgedanke der Frühromantiker war der Wunsch, zu einem einheitlichen und allumfassenden Weltverständnis zurückzugelangen.

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Sprache und Bild in Philosophie und Poetologie der Frühromantik

Schon in den Fichte-Studien ist dieser Gedanke in der Zurückweisung des Fichteschen Ichs als oberstem Prinzip angelegt. Damit geht die Ablösung des transzendentalen Idealismus durch Hardenbergs magischen Idealismus einher. Novalis versteht die Natur nicht mehr als vom Ich abhängiges, sekundäres Objekt, sondern betrachtet auch diese als durch eine mental-physische Doppelstruktur konstituiert, die sie dem Ich als eigenständige Subjektivität gegenüber treten lässt. Entsprechend treten Ich und Welt in ein Dialogprinzip zueinander.1279 Die Poesie soll in dieser Konzeption als Mittel der Weltdeutung dienen. Das Bestreben der romantischen Bewegung beruht auf der Annahme, dass eine Wiedererlangung dieses universellen Wissens über Welt prinzipiell möglich ist: »Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder.«1280 Dieses Erfassen von Sinn kann jedoch, so die These, nicht mit Hilfe der diskursiv-begrifflichen Sprach- und Denkstrukturen der Philosophie geleistet werden. Stattdessen soll dieser Weg über die Poesie führen, die, anders als die Philosophie, einen Zugang zum Verständnis der Semantiken bildlich-tropischer Redeweisen hat. Wie aber denkt Novalis das Verhältnis von Poesie und Sprache? Die Annahme einer ursprünglichen Identität von Sprache und Poesie, die August Wilhelm Schlegels Poetik prägt, findet sich auch bei Novalis wieder. Bei Schlegel ist dieser Gedanke allerdings ungleich weiter ausgeführt und zu einer geschlossenen Theorie hin erweitert, während er bei Novalis lediglich eine ausprobierte Option auf einem weiten Experimentierfeld darzustellen scheint. Novalis notiert: Mittheilungs, Bestimmungskunst oder Sprache, und Darstellungs, Bildungskunst, oder PoÚsie sind noch Eins. Erst später trennt sich diese rohe Masse – dann entsteht Benennungskunst, Sprache im eigentlichen Sinn – Philosophie – und schöne Kunst, Schöpfungskunst, PoÚsie überhaupt.1281

1279 Die reziproke Wechselwirkung zwischen geistiger und physischer Struktur kommt in einer längeren Aufzeichnung aus dem Allgemeinen Broullion deutlich zum Ausdruck: »Wenn ihr die Gedanken nicht mittelbar (und zufällig) vernehmbar machen könnt, so macht doch umgekehrt, die äußern Dinge unmittelbar (und willkürlich) vernehmbar – welches eben so viel ist, als wenn ihr die Gedanken nicht zu äußern Dingen machen könnt, somacht die äußern Dinge zu Gedanken. Könnt ihr einen Gedanken nicht zur selbstständigen, sich von euch absondernden – und nun auch fremd – d[as] h[eißt] äußerlich vorkommenden Seele machen, so verfahrt umgekehrt mit den äußerlichen Dingen – und verwandelt sie in Gedanken. Beyde Operationen sind idealistisch. Wer sie beyde vollkommen in seiner Gewalt hat ist der magische Idealist.« (Bd. 3, S. 301). Zur Entwicklung des magischen Idealismus aus der Kritik an Fichtes Wissenschaftslehre vgl. ausführlich: Wanning, Statt Nicht-Ich – Du!, bes. S. 161 – 168. 1280 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 545. 1281 Ebd., S. 572.

Poetik zwischen Erkenntnistheorie und Mystik – Sprache und Bild bei Novalis

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Anders als in den ausschließlich philosophisch ausgerichteten Ausführungen zur Sprache der Fichte-Studien, wird in dieser Notiz neben der Mitteilungsfunktion auch das Moment der Darstellung berücksichtigt. Dabei weist Novalis aus dem Funktionsspektrum semiotischer Kommunikation der Sprache und der Poesie jeweils unterschiedliche Aufgabenbereiche zu. Die Funktion der Mitteilung und der Bezeichnung obliegt der Sprache, während die Darstellungsfunktion (und damit das, was August Wilhelm Schlegel unter Bildlichkeit subsumiert), in den Bereich der Poesie fällt. Liegt für Schlegel jedoch die ideale Form in der möglichst vollkommenen Verbindung dieser beiden Grundfunktionen, so kann für Novalis lediglich aus der Spezialisierung eine Perfektionierung entstehen. Aus einer Differenzierung erst entstehen für ihn »Sprache im eigentlichen Sinn – Philosophie« und »Kunst, […] Poesie überhaupt«. Weiterhin fällt an Novalis’ Denken nicht allein die Unterscheidung von Poesie und Sprache auf, sondern auch die klare Identifizierung von Philosophie und Sprache, so dass diese ursprüngliche Differenzierung erst das Gegensatzpaar »Philosophie – Poesie« hervorgebracht hat. Diesem Gedankengang entsprechen wiederholte Überlegungen Hardenbergs, wonach die Sprache dem Bereich der Philosophie zuzuordnen sei. Während er hier die Mitteilungsfunktion so eindeutig der Philosophie zuschlägt, denkt er in einer anderen Notiz auch über die Relevanz der Mitteilung für die (Kunst-)Poesie nach: Die Sprache im eigentlichsten Sinn gehört ins Gebiet der künstlichen PoÚsie. Ihr Zweck ist bestimmte Mittheilung. Wenn man also Sprache – Ausdruck einer Absicht nennen will, so ist die ganze künstliche PoÚsie Sprache – ihr Zweck ist bestimmte Mittheilung – Erregung eines bestimmten Gedanckens.1282

Der Widerspruch zur oben zitierten Notiz ist schärfer kaum möglich – war dort die Philosophie Sprache im eigentlichen Sinn, so ist es hier die (künstliche) Poesie. Zugleich findet sich bei Novalis auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Sprache. Zwar ist immer wieder von der Unentbehrlichkeit der Sprache für das Denken die Rede – einmal in der grammatikalisch ambivalenten Notiz »Ist Sprache zum Denken unentbehrlich.«1283, die durch die Inversion von Verb und Subjekt einen Frageduktus suggeriert, der durch das Satzzeichen widerlegt wird. Und in unmittelbarer Nähe zu dieser Notiz hält er fest: »Die Sprache ist für die Philosophie, was sie für Musik und Mahlerey ist, nicht das rechte Medium der Darstellung.«1284 In einer anderen Aufzeichnung trifft die Kritik die Sprache selbst, die als unzulängliches Hilfsmittel der Mitteilung gebrandmarkt wird: 1282 Ebd., S. 572. 1283 Ebd., S. 257. 1284 Ebd., S. 573.

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Der Buchstabe ist nur eine Hülfe der philosophischen Mittheilung, deren eigentliches Wesen in Erregung eines bestimmten Gedanckengangs besteht. […] Die Worte sind ein trügliches Medium des Vordenckens – unzuverlässige Vehikel eines bestimmten, specifischen Reitzes.1285

Denken ist für Novalis – das belegt diese Notiz – prinzipiell von Sprache unabhängig. Insofern Sprache für das Denken nicht konstitutiv ist, dient sie lediglich zur nachträglichen Mitteilung des Gedachten. Allerdings wird sie dieser Funktion nicht immer gerecht. Mit diesem Problem sieht Novalis vor allem die Philosophie konfrontiert. Vergleicht man obige Aussage mit den Aufzeichnungen, die sich mit der Verwendungsweise der Sprache in der Dichtung beschäftigen, so beschleicht einen der Verdacht, dass laut Novalis die Sprache für die Philosophie – im Gegensatz zur Poesie – nicht das geeignete Medium zu sein scheint. Oder noch deutlicher : der Umgang mit Sprache und die Art und Weise ihrer Anwendung in der Philosophie sind ihr nicht angemessen und müssen deshalb notwendig scheitern. Es ist der Dichter, der sich der Sprache auf richtige Weise zu bedienen vermag. So nimmt Novalis im Umkreis dieser Notiz auch eine Verhältnisbestimmung zwischen den beiden – andernorts noch neutral unterschiedenen – Disziplinen der Philosophie und der Poesie vor, die eine klare Unterordnung der Philosophie als Hilfswissenschaft der Poesie begründet: »Phil [osophie] ist die Theorie der PoÚsie. Sie zeigt uns was die PoÚsie sey, daß sie Eins und alles sey.«1286 Wollen die Versuche, Philosophie und Poesie deutlich voneinander abzugrenzen, nicht recht gelingen, so findet auch Novalis zum Konzept der Transzendentalpoesie, die aus einer Verbindung der beiden Disziplinen hervorgeht.1287 In den PoÚticismen von 1798 notiert er : »Die transscendentale PoÚsie ist aus Philosophie und PoÚsie gemischt.«1288 Weiter vermutet er über die Eigenschaften dieser »transscendentalen Poesie«: »Von der Bearbeitung der transscendentalen Poesie läßt sich eine Tropik erwarten – die die Gesetze der symbolischen Construction der transscendentalen Welt begreift.«1289 Hier klingt bereits jenes Konzept an, das die spezifische Sprachtheorie und Poetik seines magischen Idealismus prägt. Dessen Elemente sind eine tropisch konstruierte 1285 Ebd., S. 522. 1286 Ebd., S. 591. 1287 Die Idee der Transzendentalpoesie ist im Jenaer Kreis entwickelt worden. Friedrich Schlegel darf womöglich als Urheber angesehen werden, da er sie in einem seiner Athemaeums-Fragmente recht ausführlich erläutert. Das im Juni 1798 erschienene Fragment dürfte schon deutlich früher geschrieben worden sein. Novalis’ Notiz wird von der Forschung auf die erste Hälfte des Jahres 1798 datiert. Die Unterschiede des Schlegelschen und des Hardenbergschen Konzepts der Transzendentalphilosophie untersucht Roland Heine in seiner Monographie: Transzendentalpoesie, Bonn 1974. 1288 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 536, Nr. 47. 1289 Ebd., S. 536.

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Sprache, die die Gegenstandsbeziehungen der Wirklichkeit analog abbildet. Die Beziehungen der Gegenstände der »transcendentalen Welt« – gemeint ist hier ist die geistige Welt –, so lautet die These, beruhen auf symbolischen Relationen; indem die Poesie die Sprache in einer Weise gebraucht, dass sie in ihrer Semantik ebenfalls solche symbolischen Beziehungen aufbaut, ist es ihr möglich, die Verhältnisse dieser »transcendentalen Welt« darzustellen. Damit ist die Grundlage für ein magisches Weltverständnis gelegt, das aufgrund seiner symbolisch-vermittelten Wirkweise auch die Sprache als Zeichensystem in den universalen Wirkmechanismus mit einschließt. Wie dieses Modell von Welt im Einzelnen aussieht und welches Sprach- und Bildverständnis es einschließt, soll im Folgenden genauer untersucht werden. Von diesem Grundgedanken ausgehend, versucht Novalis den erkenntnistheoretisch erarbeiteten Leitgedanken einer universellen reziproken Gegensätzlichkeit und das daraus resultierende Zeichenmodell auf ein umfassendes Modell von Weltdeutung zu übertragen. Wieder gehen seine Überlegungen von der Mitteilung aus. Der Begriff der Mittelung, der in den philosophischen Aufzeichnungen noch an die sprachliche Artikulation gebunden war, wird nun auf das Modell von einer allgemeinen Verweisstruktur zwischen materiellen und geistigen Gegenständen hin erweitert. Im magischen Idealismus werden die Gegenstände der Natur nicht mehr als dem reinen Subjekt des Ich entgegengesetztes reines Objekt verstanden, sondern beide, Ich und Welt bestehen aus einer Subjekt-Objekt-Doppelstruktur.1290 Nach diesem Verständnis von Welt hat jeder Gegenstand ein Entgegengesetztes, auf das er verweist. Dieses Entgegengesetzte besteht für Hardenberg – dem Leib-Seele-Dualismus gemäß – in einem Geistigen. Dabei wird der physische Gegenstand zum materiellen Zeichen, durch das sich seine geistige Komponente artikuliert. Die physische Welt wird so als umfassendes System von Zeichen verstanden, deren Bedeutung nicht mehr bekannt ist.1291 In diesem Zuge erfährt auch der Begriff der Mitteilung, der in den philosophischen Studien noch als das wesentliche Merkmal des philosophischen Sprachgebrauchs firmierte, eine enorme semantische Erweiterung: Alles, was wir erfahren ist eine Mittheilung. So ist die Welt in der That eine Mittheilung – Offenbarung des Geistes. Die Zeit ist nicht mehr, wo der Geist Gottes verständlich war. 1290 Vgl. Wanning, Statt Nicht-Ich – Du!, S. 168, wo sie schreibt: »Bei Novalis ist die Natur hingegen aus dem Chaos heraus mit dem Ich gleichursprünglich. Aus dieser nichthierarchischen Konstellation ergibt sich, daß die Natur ein eigenständiges Sein hat, das nicht im Ich fundiert ist, aber ebenso wenig dieses begründet. Natur tritt deshalb nicht als Entgegensetzung, noch dazu funktionalisiert wie bei Fichte, dem Ich gegenüber, sondern als strukturell gleiches Subjekt-Objekt.« 1291 »Ehemals war alles Geistererscheinung. Jetzt sehn wir nichts, als todte Wiederholungen, die wir nicht verstehn. Die Bedeutung der Hieroglyfe fehlt.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 545).

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Der Sinn der Welt ist verlohren gegangen. Wir sind beym Buchstaben stehn geblieben. Wir haben das Erscheinende über der Erscheinung verlohren. Formularwesen.1292

Novalis legt mit der Vorstellung von der Welt als umfassender Mitteilung eine Konzeption vor, die er bei den Mystikern und deren neuplatonischen Wurzeln, insbesondere der Signaturenlehre Jacob Böhmes, entlehnt hat.1293 So hält Novalis in einer Notiz zu seinem Enzyklopädistik-Projekt fest: »Der Mensch spricht nicht allein – auch das Universum spricht – alles spricht – unendliche Sprachen./ Lehre von den Signaturen./«1294 Und eine andere Notiz aus dem Allgemeinen Brouillon, in der vermerkt ist: »Von dem Verhältniß zwischen Gegenstand und Vorstellung – eine kritische Bemerkung (Symbolisch sympathisch nach der Lehre v[on] den Signaturen.)«1295, lässt erahnen, dass er die Beziehung zwischen Vorstellung und Gegenstand der Signaturenlehre gemäß als symbolisch-sympathische (magisch aufeinander einwirkende) zu beschreiben plante. Zeichensysteme werden nach dieser Vorstellung nicht mehr rein artifiziell gedacht. Vielmehr wird jegliche Form materieller Gegenständlichkeit als Zeichen gedeutet, in dem sich ein Geistiges artikuliert. Das setzt ein aus dem Neuplatonismus bekanntes Denken voraus, wonach jeglicher Gegenstand aus einer Geist-Körper-Doppelstruktur besteht. Alles Wahrnehmbare verweist auf eine in diesem Gegenstand zur Erscheinung kommende, geistige Entität. Wie aber erschließt sich dem Menschen diese geistige Bedeutung, auf die die materiellen Gegenstände der Welt verweisen? Oder anders gefragt: verfügt der Mensch über ein Interpretationsinstrument für diese gegenständliche Chiffrenschrift?1296 Das Bindeglied zwischen materieller und mentaler Welt findet Novalis in den Sinnen. Er geht vom Leib-Seele-Dualismus aus,1297 nimmt aber 1292 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 594. 1293 Gabriele Rommel zeichnet den Einfluss von Novalis’ naturwissenschaftlichen Studien auf seine Rede von einer Chiffrenschrift der Dinge bzw. seiner Konzeption einer universalen Natursprache nach und zitiert dabei wichtige Quellen. Sie versäumt allerdings, diese Beobachtungen einer eingehenden Interpretation zuzuführen, insbesondere, was die semiotischen und allgemein linguistischen Besonderheiten dieser Universalsprachenkonzeption betrifft. Vgl. Rommel, Gabriele: Magie der Zeichen – Novalis’ Idee einer »Zeichenflächenform(figuren)bedeutungskunst« im Kontext der Freiberger naturwissenschaftlichen Studien, in: Geheimnisvolle Zeichen. Alchemie, Magie, Mystik und Natur bei Novalis. Hrsg. v. d. Forschungsstätte für Frühromantik und Novalis-Museum Schloß Oberwiederstedt, Leipzig 1998, S. 7 – 16. 1294 Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 267 f., Nr. 143. 1295 Ebd., S. 272, Nr. 181. 1296 Die Gegenstände der Natur beschreibt Novalis in seinem Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais als Chiffrenschrift, die auf eine geistige Wirklichkeit verweist. (Vgl. Novalis, Schriften, Bd. 1, S. 79). 1297 Novalis’ Denken im Leib-Seele-Dualismus ist eindeutig in der ebenso knappen wie präzisen Notiz belegt: »Der Mensch ist aus Leib und Geist zusammengesezt.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 227).

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einen – modern gesprochen – Informationsaustausch zwischen den beiden beteiligten Entitäten an. Hergestellt wird diese Verbindung über die Sinne, die eine Mittlerstellung zwischen geistiger und körperlicher Welt einnehmen:1298 Es ist allgemein bekannt, daß man Seele und Körper unterscheidet. Jeder der diese Unterscheidung kennt wird dabey eine Gemeinschaft zwischen beyden statuiren, vermöge deren sie auf einander wechselseitig wirken. In dieser Wechselwirkung kommt beyden eine doppelte Rolle zu – entweder sie wirken selbst für sich auf einander oder ein drittes Etwas wirkt durch eins aufs Andre. Der Körper nemlich dient zugleich auch vermittelst der Sinne zu einer Communication der äußern Gegenstände mit der Seele, und insofern er selbst ein äußrer Gegenstand ist, wirkt er selbst, als ein solcher, mittelst der Sinne auf die Seele. Natürlich wirkt die Seele auf demselben Wege zurück und hieraus ergiebt sich, daß dieser Weg, oder die Sinne, ein gemeinschaftliches, ungetheiltes Eigenthum des Körpers und der Seele sind.1299

Auch diese Form der Mitteilung geschieht nicht unvermittelt, sondern bedarf eines Mediums. Unter Rückgriff auf zeitgenössische physiologische Theorien bestimmt Novalis die Sinne als das Medium, wodurch die voneinander geschiedenen Entitäten Körper und Geist miteinander in Korrespondenz treten können.1300 Die Rolle der Sinne in diesem System ist dabei rein passiver Natur.1301 Ging es in obiger Aufzeichnung um die Wechselwirkung zwischen Körper und Seele eines Individuums, so betrachtet Novalis in einer anderen Notiz die durch die Sinne gewährleistete Kommunikation mit der Außenwelt. Jetzt unterscheidet er zwischen zwei Arten von Sinnen – den geistigen und den physischen: Wir haben 2 Systeme von Sinnen, die so verschieden sie auch erscheinen, doch auf das innigste mit einander verwebt sind. Ein System heißt der Körper, Eins, die Seele. Jenes steht in der Abhängigkeit von äußern Reitzen, deren Inbegriff wir die Natur oder die 1298 Vermittels dieser Zeichen erfolgt auch Erkenntnis. Grätzel und Ullmaier betonen, dass im magischen Denken des Novalis das Erkenntnisvermögen »ein Wechselverhältnis zwischen Innenwelt und Außenwelt« ist. Vgl. Grätzel, Ullmaier, Der magische Transzendentalismus von Novalis, S. 59 f. 1299 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 272. 1300 Caroline Welsh hat darauf hingewiesen, dass die frühromantische Konzeption einer durch die Sinne und die Einbildungskraft hergestellten Vermittlung zwischen Körper und Seele auf zeitgenössischen physiologischen Theorien beruht, die sich mit den hirnphysiologischen Prozessen bei der Interaktion von Sinneswahrnehmungen und mentalen Vorstellungen beschäftigten. Insbesondere verweist sie in ihren Ausführungen zu Novalis auf Samuel Thomas Soemmerrings Schrift »Über das Organ der Seele« von 1796. Vgl. Welsh, Caroline: Die Physiologie der Einbildungskraft um 1800. Zum Verhältnis zwischen Physiologie und Autonomieästhetik bei Tieck und Novalis, in: Die Grenzen des Menschen. Anthropologie und Ästhetik um 1800, hrsg. v. Maximilian Bergengruen, Roland Borgards u. Johannes Friedrich Lehmann, Würzburg 2001, S. 113 – 134, bes. S. 125. 1301 »Zu Sinnen gehört immer ein Körper und eine Seele. Ihre Vereinigung findet mittelst der Sinne statt. Die Sinne sind schlechthin nicht selbstthätig – Sie empfangen und geben, was sie erhalten – Sie sind das Medium der Wechselwirkung.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 272).

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äußre Welt nennen. Dieses steht ursprünglich in der Abhängigkeit eines Innbegriffs innerer Reitze, den wir den Geist nennen, oder die Geisterwelt. Gewöhnlich steht dieses letztere System in einem Associationsnexus mit dem andern System – und wird von diesem afficirt. […] In der Periode der Magie dient der Körper der Seele, oder der Geisterwelt.1302

Die Informationen, die die Sinne aus der jeweiligen Umwelt importieren, können aufgrund der Vernetzung der Sinne untereinander zusammengeführt werden. In den Blüthenstaub-Fragmenten konzentriert Novalis das hier ausgeführte in einem höchst verdichteten Fragment, das zugleich die Seele als Schnittstelle zwischen physischer und geistiger Sphäre anzugeben vermag: »Der Sitz der Seele ist da, wo sich Innenwelt und Außenwelt berühren.«1303 Die für die »Periode der Magie« angegebene Hierarchisierung von Körper und Geist,1304 die das Blüthenstaub-Fragment prägt, schlägt sich mit großer Deutlichkeit in den Aufzeichnungen zu seiner zeichentheoretischen Konzeption eines magischen Idealismus nieder.1305 Bei der Erkenntnis, die über die Sinne – insofern sie Medium sind – erschlossen wird, handelt es sich, so notiert Novalis, um vermittelte und damit um symbolische Erkenntnis: Von der unsinnlichen, oder unmittelbaren Erkenntniß. Aller Sinn ist repraesentativ – symbolisch – ein Medium. Alle Sinnenwahrnehmung ist aus der 2ten Hand. Je eigenthümlicher, je abstracter könnte man sagen, die Vorstellung, Bezeichnung, Nachbildung ist, je unähnlicher dem Gegenstande, dem Reitze, desto unabhängiger, selbstständiger ist der Sinn.1306

Nimmt man an, dass die durch die Sinne erschlossene Erkenntnis – die Erkenntnis also, die sich auf die physische Erscheinung der Gegenstände richtet – symbolisch ist, so impliziert dies, dass aus der physischen Erscheinung der Gegenstände, auf die die Sinne gerichtet sind, ein geistiger Gehalt ähnlich dem rhetorischen Modell der tropischen Redeweise erschlossen werden kann. Es ist diese Vorstellung, die Hardenbergs Konzeption der Beziehung zwischen Körper und Geist bestimmt. Während in der obigen Notiz Körper und Geist noch als zwei selbstständige 1302 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 546 f. 1303 Ebd., S. 419. 1304 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Notiz: »Magie ist = Kunst, die Sinnenwelt willkührlich zu gebrauchen« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 546). 1305 Stephan Grätzel und Johannes Ullmaier haben in ihrem Aufsatz zu Novalis’ magischem Idealismus herausgearbeitet, wie Novalis eine neue Konzeption von Verstehen entwickelt, die das Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt neu bestimmt und dargelegt, wie dieses Denkens von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflusst ist. Vgl. Grätzel, Ullmaier, Der magische Transzendentalismus von Novalis, S. 59 – 67. 1306 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 550.

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Entitäten gedacht werden, die in einem Verhältnis gegenseitiger Einflussnahme zueinander stehen, wird in anderen, mitunter nahezu zeitgleich entstandenen Notizen die Richtung dieses Verhältnisses wiederholt klar bestimmt. Der Geist nimmt dabei die Stelle des wirkenden Elements ein, das sein Wesen im Körper lediglich zur Erscheinung bringt. So findet sich eine nicht geringe Anzahl von Notizen, die das Verhältnis von materieller Welt und Geist in Analogie zur rhetorischen Tropik erklären. So notiert Novalis: »Die Welt ist ein Universaltropus des Geistes – Ein symbolisches Bild desselben.«1307 Während die Begrifflichkeiten von »Universaltropus« und »symbolischem Bild« eher eine synthetische, allumfassende Gesamtschau suggerieren, probiert er in einer anderen Notiz die Vorstellung von einer systematisch gegliederten Zusammenstellung unterschiedlichster Facetten aus: »Was ist Natur? – ein encyclopädischer systematischer Index oder Plan unsers Geistes.«1308 Novalis scheint wohl keine ganz klare Vorstellung davon gehabt zu haben, wie sich dieses sinnbildliche Verhältnis von Welt und Geist konkret vorstellen ließe und lotet verschiedene Denkmodelle aus. Was in den soeben zitierten Notizen über Welt und Natur – also zunächst rein materiell aufzufassende Gegenstände – gesagt wird, sagt er an anderer Stelle über den Menschen aus: »Was ist der Mensch? Ein vollkommner Trope des Geistes. Alle ächte Mittheilung ist also sinnbildsam.«1309 Die Mitteilung, die bereits in den Fichte-Studien einen zentralen Topos der Sprachtheorie bildet, wird ihrem semantischen Schema gemäß tropisch gedeutet. Der Begriff ›Mensch‹ steht hier offensichtlich nicht für eine geistig-körperliche Person, sondern wird vielmehr als Metonymie für den menschlichen Körper verwendet. Dass diese Gedanken bei der christlichen Transubstantiationslehre entlehnt sind, belegt der Satz »Es ist ein ächter Trope den Körper für den Geist zu substituiren«1310, der sich in der Rede Die Christenheit oder Europa findet. Das Verhältnis zwischen physischer Erscheinung und geistigem Wesen bestimmt Novalis in Analogie zur Beziehung zwischen eigentlichem und uneigentlichem Sinn, wie sie aus der tropischen Redeweise bekannt ist. So wie auf sprachlicher Ebene die geistig-abstrakte Vorstellung in ein konkretes Bild übertragen wird, das durch analoge Eigenschaften – dem tertium comparationis – die Vorstellung transportiert, so artikuliert sich – das ist der Kerngedanke dieser Konzeption – im konkret-physischen Gegenstand der Wirklichkeit ein geistiges Wesen. Denkt man das Verständnis des Körpers als Trope des Geistes magisch – im 1307 Ebd., S. 600. 1308 Ebd., S. 583. 1309 Ebd., S. 564. Vgl. ebenso: »Der Mensch – Metapher« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 561) oder in einer anderen Notiz, in der Novalis Mensch und Welt im Sinne von Mikro- und Makrokosmos zueinander in Beziehung setzt: »Der Mensch ist eine Analogieenquelle für das Weltall.« (Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 610). 1310 Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 620.

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Sinne einer kausalen Wirkung des Geistes im Körper –, so gelangt man zur Symptomlehre, auf der Hardenbergs magische Universalsprache letztlich gründet. So verwendet Novalis neben dem Begriff der Chiffre oder der Hieroglyphe auch den Begriff des Symptoms, um das Verhältnis zwischen körperlichen und geistigen Entitäten im Sinne einer universalen Natursprache zu beschreiben. Sind Chiffren oder Hieroglyphen Zeichensysteme, deren semiotische Qualität sich – nach der Klassifikation Peirces – zwischen ikonischen und symbolischen Zeichen bewegen, so nimmt ein symptomatisches Zeichenverständnis einen Kausalzusammenhang zwischen Signifikant und Signifikat an. Mit Peirce gesprochen sind sie Indices. Novalis entwirft seine Symptomtheorie als Alternative zu den geläufigen Sprachtheorien. Dabei sind ihm durchaus die beiden extremen Pole der zeitgenössischen Sprachtheorie bekannt, wonach Sprache entweder als arbiträre Bezeichnung oder als mimetische Gegenstandsrepräsentation aufgefasst wird. Er schiebt aber mit dem Symptombegriff gekonnt eine dritte, aus der – zumeist kabbalistisch gefärbten – Mystik bekannte, Variante dazwischen. So belegt eine Notiz, dass er über den »Unterschied zwischen willkührlicher, symptomatischer, und mimischer Caracteristik oder Sprache.«1311 nachgedacht hat. Dass sich Novalis mit dem (aus der Medizin entlehnten) Symptombegriff medizinisch-naturwissenschaftlicher Terminologie bedient, verwundert nicht, wenn man sich klar macht, dass seine sprachtheoretischen und poetologischen Notizen in größere Notizenkonvolute eingestreut sind, die zu großen Teilen aus naturwissenschaftlichen – und dabei zu einer nicht geringen Anzahl auch medizinischen – Studien und Aufzeichnungen bestehen. Der aus der Medizin übernommene Symptombegriff geht von einem Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen den sichtbaren Zeichen einer Krankheit und den unsichtbaren Auslösern derselben aus.1312 Dass Novalis an diesen naturwissenschaftlich-medizinischen Symptombegriff dachte, belegen seine Aufzeichnungen zur Naturlehre und Mineralogie, die in Auseinandersetzung mit Abraham Gottlob Werners Von den äußerlichen Kennzeichen der Foßilien1313 entstanden sind. Darin notiert er : 1311 Ebd., S. 594. 1312 So heißt es unter dem Lemma »Symptome« in Diderots Encyclop¦die: »1. m. en M¦dicine, se confond ordinairement avec le signe, & on les d¦finit un signe, ou un assemblage de signes dans une maladie, lesquels indiquent sa nature & sa qualit¦, & sont juger quel en sera l’¦v¦nement. Voyez SIGNE. Dans ce sens, le d¦lire est regard¦ comme un symptome de la fievre.« Diderot, Denis; D’Alembert, Jean Le Rond: Encyclop¦die ou Dictionnaire raisonn¦ des sciences des arts et des m¦tiers. Nouvelle impression en facsimil¦ de la premiÀre ¦dition de 1751 – 1780, Stuttgart Bad Cannstatt 1967. 1313 Werner, Abraham Gottlob: Von den äußerlichen Kennzeichen der Foßilien, Wien 1785.

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Freylich hat die angewandte Symptomatik – die reale Symptom[atik], oder die Lehre von den Bedeutungen der Zeichen, noch sehr genauer und systematischer Beobachtungen nöthig, um ihrem Beruf und Titel zu entsprechen – aber ihre Möglichkeit liegt in ihrem Begriff. Man beobachte nur fleißig und mit reducirendem Nachdenken, die äußern Veränderungen bey innern Veränderungen und umgek[ehrt] und ich bin gewiß, man wird auf ächte, stäte, Relationsverhältnisse und Gesetze stoßen. Die medicinische Symptomatik wird schnelle Fortschritte machen, wenn man erst geläuterte Kenntnisse der Lebensprocesse – der Form und Stoffveränderungen im thierischen gesunden und kranken Körper haben wird; An Einzelnen Beobachtungen fehlts nicht. So ist auch die chymische Symptomatik schon ziemlich schnell vorgerückt, seit der verbesserten chymischen Theorie – Am Ende, wenn die einzelnen physikalischen Zeichenlehren – und selbst die Zeichenlehre der äußern Kennzeichen verbessert seyn wird, so wird sich der Zusammenhang der äußern Kennzeichen und der innern Stoffe – und ihrer Veränderungen von selbst ergeben.1314

Diesen Kausalzusammenhang nimmt Novalis für die Relation zwischen materiellen Erscheinungen und geistigen Entitäten in Anspruch. Indem er – ähnlich wie Friedrich Schlegel – den idealistischen Gedanken der Subjektivität auf die gesamte äußere Welt ausweitet und hinter jedem materiellen Gegenstand ein Ich annimmt, bedarf er eines Erklärungsmodells für den Zusammenhang zwischen dieser sichtbaren Erscheinung, in der die Gegenstände sich darbieten und der postulierten, sich dahinter verbergenden Subjektivität. Der Satz »Alles ist sich gegenseitig Symptom«1315 ist eine Variation des bei Novalis ebenso wie bei August Wilhelm Schlegel zu findenden Satzes: »Alles kann Symbol des Andern seyn«1316, Die Substitution des Symbolbegriffs durch den Symptombegriff gibt ihm aber eine deutlich magische Stoßrichtung. Während sich nach Schlegels Definition alle Dinge gegenseitig repräsentieren können – und zwar im Modus des Symbols – so tragen nach Hardenbergs Verständnis alle Gegenstände das Potential gegenseitiger Einwirkung.1317 Die Modifikation dieser Grundthese bei Novalis trifft damit in den Kern seines magischen Idealismus. Dass Novalis seine Symptomlehre durchaus auf seine Sprachtheorie anwendet, belegt bereits der zweite Satz aus der Notiz Nr. 633 zur »COSMOLO[GIE]«. 1314 1315 1316 1317

Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 141. Ebd., S. 381. Ebd., S. 398. Exemplarisch für dieses Denken lässt sich eine Notiz zu den mechanischen Prozessen in der Natur zitieren: »Vielleicht ist alle mechanische Bewegung nur Sprache der Natur. Ein Körper spricht den andern mechanisch an – dieser antwortet mechanisch – Bey beyden ist aber die mechanische Bewegung secundär und nur Mittel – Anlaß zur innern Veränderung und Folge derselben.« Ebd., S. 427.

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Die Grundthese »Alles ist sich gegenseitig Symptom« wird hier näher ausgeführt: »Töne und Striche sind, als diejenige einfache, äußre Erscheinung, die am mannichfaltigsten gebildet, variirt und zusammengesetzt werden kann, am bequemsten zur Bezeichnung des Universums.«1318 Ähnlich heißt es in seinen Blüthenstaub-Fragmenten, ergänzt um eine pragmatische Dimension: Die Bezeichnung durch Töne und Striche ist eine bewundernswürdige Abstrakzion. Vier Buchstaben bezeichnen mir Gott; einige Striche eine Million Dinge. Wie leicht wird hier die Handhabung des Universums, wie anschaulich die Konzentrizität der Geisterwelt! Die Sprachlehre ist die Dynamik des Geisterreichs. Ein Kommandowort bewegt Armeen; das Wort Freyheit Nazionen.1319

Die äußere Erscheinung steht in einem Kausalzusammenhang mit einem geistigen Innern, welches sich in dieser Erscheinung artikuliert und damit intersubjektiv kommunizierbar wird. Es wird, wie in der Sprachtheorie der Kabbala, eine strukturelle Analogie zwischen der Interaktion der Schriftzeichen und jener der von ihnen bezeichneten Dinge angenommen. Diese Vorstellung belegt etwa die Notiz: »Das Äußre ist gleichsam nur ein vertheiltes überseztes Innre – Ein höheres Innre. (W[as] i[st] Erscheinung?)«1320 Das hohe Maß an Flexibilität und Variationsvermögen, das sowohl die phonetische als auch die graphische Sprache auszeichnet, macht sie zu einem so geeigneten Medium zur Bezeichnung jeglicher immanenter und transzendenter Phänomene. Der Begriff »Bezeichnung« findet hier eine eigentümliche, vom zeitgenössischen ebenso wie vom modernen linguistischen Sprachgebrauch abweichende Verwendung, indem er durch die Konnotation des Symptomgedankens einen Kausalzusammenhang zwischen bezeichnetem Gegenstand und Zeichen nahe legt. Dabei schließt Novalis die Willkürlichkeit menschlicher Sprachschöpfung durchaus nicht aus: Sollte der abstracte Verstand – das Sprachvermögen seyn – Hier wird etwas durch willk[ührliche] Verknüpfung mit der an sich bestimmten Affection eines schreibenden und tönenden Instruments fest und erkennbar. Die Verhältnisse der Symptome sind nun für mich die Verhältnisse der Zeichenanlässe (Schätzung der Verh[ältnisse] d[er] Ursachen aus d[en] Verh[ältnissen] und Wirckungen etc.).1321

Auch wenn Sprache Produkt des Verstandes ist, wird sie dennoch auf Gegenstände der Natur – und damit auf Symptome – bezogen. Indem die Symptome als die bezeichneten Gegenstände durch willkürlich festgelegte Zeichen benannt werden, erschließen sich dem Subjekt, das mit diesem selbstgegebenen Zeichensystem operiert, die Verhältnisse der Symptome indirekt durch die Ver1318 1319 1320 1321

Ebd., S. 381. Novalis, Schriften, Bd. 2, S. 413. Novalis, Schriften, Bd. 3, S. 403. Ebd., S. 424.

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hältnisse, die zwischen den arbiträren Sprachzeichen bestehen. So lassen sich an der arbiträr-abstrakten Begriffssprache indirekt die Symptomrelationen ablesen. Versteht man Sprachzeichen und Symptome in einem Ursache-WirkungsZusammenhang, so lässt sich von der Wirkung (Sprache) auf die Ursache (Symptome) schlussfolgern. Dass die Sprache auf diese Weise auf die Symptome Bezug nehmen kann, ist nach Novalis’ Verständnis nur dadurch möglich, dass der menschliche Geist – resp. sein Sprachvermögen – nach Strukturen aufgebaut sein muss, die der Organisation der Natur analog sind. Allg[meines] Sprachproblem – Kupfertafeln und Schreibtafeln – Druckblätter Methode. Gegenseitige Verhältnisse von Flächenzeichen und Bildern und Tönen und Lauten. Der menschl[iche] Geist kann die äußern Symptome und ihre Compositionen approximando nachmachen – er muß also Analogie mit den Bestandtheilen und Naturkräften haben —1322

Was aber wird hier nachgeahmt? Der Verweis auf die Analogie zwischen dem menschlichen Geist und den Bestandteilen der Symptome sowie den in ihnen wirkenden Naturkräften legt nahe, dass es sich womöglich mehr um eine Nachahmung struktureller als visuell-sinnlicher Qualitäten handeln könnte. So scheint Novalis auch die Vorstellung von einer Nachahmung der symptomatischen Erscheinungen nicht recht zu behagen, worauf er ihr die »genetische Nachahmung« entgegensetzt. Er notiert den Gedanken: »Es giebt eine symptomatische und eine genetische Nachahmung. Die lezte ist allein lebendig. Sie sezt die innigste Vereinigung der Einbildungskraft, und des Verstandes voraus.«1323 Die genetische Nachahmung, so lässt der Begriff vermuten, rekurriert nicht auf die äußere Erscheinung des Symptoms, sondern auf die diesem zugrundeliegende Wirkursache. Wird diese aber imitiert, so kann es sich nicht um eine Mimesis der Erscheinung, sondern nur um eine analoge Nachahmung der Wirkmechanismen handeln.