Trauma-Erfahrungen und Störungen des ‚Selbst‘: Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen 9783110681376, 9783110683028, 9783110683165, 2019955294

The volume explores media and literary configurations of life-world traumata. On the basis of texts that deal with traum

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Inhalt
Störungen des ‚Selbst‘ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen
I. Trauma und Störungen – Theoretische Aspekte
Verschollene Erinnerungen: Dissoziative Amnesien als Beeinträchtigungen von Selbst und Narration durch unzureichend verarbeitete Traumata und Stresssituationen
Zur ‚Kategorie Störung‘ – Theorie und Praxis
II. Traumaerfahrungen – Realismus und Jahrhundertwende
Störung macht Epoche – Caspar David Friedrichs autistisches Leiden (an der Gesellschaft) als Voraussetzung für ein singuläres Werk
Brand-Spuren und Schwindel-Erscheinungen. Traumatische und unbewusste Erfahrungen in der Literatur des deutschsprachigen Realismus
„Ich war nicht so entsetzt, wie ihr vielleicht denken mögt“ –Ein Antwortversuch auf eine ungelöste Frage der Conrad-Philologie über den Umweg der Lektüre von „Heart of Darkness“ (1899) als Traumabericht
Apologia pro vita sua: Hermann Hesse und die Rechtfertigung des Aussteigerlebens
Körperbetrachtungen – am Leibe versehrt, seelisch traumatisiert. Narrative Lösungswege der Traumaverarbeitung in den Texten von Franz Kafka „Ein Hungerkünstler“ (1922) und Yoko Tawada „Das Bad“ (1989/2010)
III. Traumatische Erfahrungen – Krieg und Nachkrieg
Die literarische Konfiguration einer posttraumatischen Belastungsstörung am Beispiel der Erzählung „Josefs Frau“ (1931) von Erich Maria Remarque
Das Trauma ‚Stalingrad‘ verarbeiten und neu erinnern – Zur Wiederentdeckung von Heinrich Gerlachs Dokumentarroman „Durchbruch bei Stalingrad“ (1945/2016) und erinnerungstheoretischen Aspekten
Robinson im Bombentrichter – „Der Alpdruck“ (1947) und die Konfiguration von Hans Falladas Nachkriegspoetik
IV. Trauma und Holocaust
Der dritte Weg. Traumatischer Realismus in autobiographischen Texten von Ruth Klüger, Otto Dov Kulka und Saul Friedländer
Der unzuverlässige Zeuge – Störungen im Erinnerungsdiskurs ‚Shoah‘
Entstörung durch Erzählen? Die unausgesprochene Traumatisierung des Erzählerprotagonisten durch die Judenvernichtung in Alfred Anderschs „Efraim“ (1967)
Holocaust und transgenerationelle Traumatisierung in Narrationen der Post-DDR-Literatur
Lenka Reinerovás Lebensgeschichten. Trauma und Widerstand
V. Traumaerfahrungen und Gegenwartsliteratur
Traumatische Wanderer zwischen Diesseits und Jenseits – Metaphysische Störungen und Irritationen in den Werken von Benjamin Stein, Thomas Lehr, Thomas Hettche und Hartmut Lange
„Eine Wunde, die nicht heilt“ – Darstellung und Funktion traumatischer Erlebnisse in Reinhard Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“ (1995)
Eher Trauma als erfüllter Traum: Flüchtlinge aus der DDR in Julia Francks Roman „Lagerfeuer“ (2012) und in Christian Schwochows Film „Westen“ (2013)
„Hier ist Aufhängen und In-den-Fluß-springen.“ – Ritual und Manie, Exzess und Eskapismus in Thomas Bernhards „Gehen“ (1971) und Barbi Markovićs „Ausgehen“ (2009)
Trauma und Musik – Johann Sebastian Bachs „Goldberg Variationen“ in Thomas Bernhards „Der Untergeher“ (1983) und Anna Enquists „Kontrapunkt“ (2008)
Im (kulturellen) Dazwischen: Trauma als ‚Störung‘ des Subjekts im Kontext postkolonialer Diskurse in Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012)
Krieg in Afghanistan – Trauma-Erfahrung und ihre künstlerische Darstellung in Jochen Rauschs „Krieg“ (2013)
Topographische Grenzgänge in die Unterwelt: Sterben als (Sprach-)Suche in David Grossmanns „Aus der Zeit fallen“ (2013)
„Gezeichnete Fluchtromantik? Auf keinen Fall“ – Die Geschichte des Fluchtversuchs ‚Tunnel 57‘ im Comic zwischen bildungspolitischer Wissensvermittlung und Abenteuererzählung
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 9783110681376, 9783110683028, 9783110683165, 2019955294

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Trauma-Erfahrungen und Störungen des ‚Selbst‘

Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte

Band 159

Trauma-Erfahrungen und Störungen des ‚Selbst‘ Mediale und literarische Konfigurationen lebensweltlicher Krisen Herausgegeben von Carsten Gansel

ISBN 978-3-11-068137-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-068302-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-068316-5 ISSN 0083-4564 Library of Congress Control Number: 2019955294 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Carsten Gansel Störungen des ‚Selbst‘ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen  1

I. Trauma und Störungen – Theoretische Aspekte Hans J. Markowitsch & Angelica Staniloiu Verschollene Erinnerungen: Dissoziative Amnesien als Beeinträchtigungen von Selbst und Narration durch unzureichend verarbeitete Traumata und Stresssituationen  9 Carsten Gansel Zur ‚Kategorie Störung‘ – Theorie und Praxis  29

II. Traumaerfahrungen – Realismus und Jahrhundertwende Detlef Stapf Störung macht Epoche – Caspar David Friedrichs autistisches Leiden (an der Gesellschaft) als Voraussetzung für ein singuläres Werk  51 Dominik Pensel Brand-Spuren und Schwindel-Erscheinungen. Traumatische und unbewusste Erfahrungen in der Literatur des deutschsprachigen Realismus  65 Matthias N. Lorenz „Ich war nicht so entsetzt, wie ihr vielleicht denken mögt“ – Ein Antwortversuch auf eine ungelöste Frage der Conrad-Philologie über den Umweg der Lektüre von „Heart of Darkness“ (1899) als Traumabericht  91 Mario Bosincu Apologia pro vita sua: Hermann Hesse und die Rechtfertigung des Aussteigerlebens  109

VI 

 Inhalt

Anna Sawko von Massow Körperbetrachtungen – am Leibe versehrt, seelisch traumatisiert. Narrative Lösungswege der Traumaverarbeitung in den Texten von Franz Kafka „Ein Hungerkünstler“ (1922) und Yoko Tawada „Das Bad“ (1989/2010)  129

III. Traumatische Erfahrungen – Krieg und Nachkrieg Söhnke Post Die literarische Konfiguration einer posttraumatischen Belastungsstörung am Beispiel der Erzählung „Josefs Frau“ (1931) von Erich Maria Remarque  143 Carsten Gansel Das Trauma ‚Stalingrad‘ verarbeiten und neu erinnern – Zur Wiederentdeckung von Heinrich Gerlachs Dokumentarroman „Durchbruch bei Stalingrad“ (1945/2016) und erinnerungstheoretischen Aspekten  155 Nicolas von Passavant Robinson im Bombentrichter – „Der Alpdruck“ (1947) und die Konfiguration von Hans Falladas Nachkriegspoetik  179

IV. Trauma und Holocaust Jan Süselbeck Der dritte Weg. Traumatischer Realismus in autobiographischen Texten von Ruth Klüger, Otto Dov Kulka und Saul Friedländer  193 Stephanie Willeke Der unzuverlässige Zeuge – Störungen im Erinnerungsdiskurs ‚Shoah‘  209 Matthias Aumüller Entstörung durch Erzählen? Die unausge­sprochene Traumatisierung des Erzähler­protagonisten durch die Juden­vernichtung in Alfred Anderschs „Efraim“ (1967)  229

Inhalt 

Carola Hähnel-Mesnard Holocaust und transgenerationelle Traumatisierung in Narrationen der Post-DDR-Literatur  243 Florian Gassner Lenka Reinerovás Lebensgeschichten. Trauma und Widerstand  261

V. Traumaerfahrungen und Gegenwartsliteratur Tomasz Małyszek Traumatische Wanderer zwischen Diesseits und Jenseits. Metaphysische Störungen und Irritationen in den Werken von Benjamin Stein, Thomas Lehr, Thomas Hettche und Hartmut Lange  277 Johanna Vollmeyer „Eine Wunde, die nicht heilt“ – Darstellung und Funktion traumatischer Erlebnisse in Reinhard Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“ (1995)  293 Arianna Di Bella Eher Trauma als erfüllter Traum: Flüchtlinge aus der DDR in Julia Francks Roman „Lagerfeuer“ (2012) und in Christian Schwochows Film „Westen“ (2013)  311 Robin-M. Aust „Hier ist Aufhängen und In-den-Fluß-springen.“ – Ritual und Manie, Exzess und Eskapismus in Thomas Bernhards „Gehen“ (1971) und Barbi Markovićs „Ausgehen“ (2009)  327 Viktoria Müller Trauma und Musik – Johann Sebastian Bachs „Goldberg Variationen“ in Thomas Bernhards „Der Untergeher“ (1983) und Anna Enquists „Kontrapunkt“ (2008)  349 Martina Kofer Im (kulturellen) Dazwischen: Trauma als ‚Störung‘ des Subjekts im Kontext post­ko­lo­nialer Diskurse in Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012)  365

 VII

VIII 

 Inhalt

Monika Wolting Krieg in Afghanistan – Trauma-Erfahrung und ihre künstlerische Darstellung in Jochen Rauschs „Krieg“ (2013)  385 Anda-Lisa Harmening Topographische Grenzgänge in die Unterwelt: Sterben als (Sprach-)Suche in David Grossmanns „Aus der Zeit fallen“ (2013)  403 Dennis Bock „Gezeichnete Fluchtromantik? Auf keinen Fall“ – Die Geschichte des Flucht­versuchs ‚Tunnel 57‘ im Comic zwischen bildungspolitischer Wissensvermittlung und Abenteuererzählung  421 Beiträgerinnen und Beiträger  463

Carsten Gansel

Störungen des ‚Selbst‘ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration – Vorbemerkungen Im Zentrum des Bandes steht das Vorhaben, sich Phänomenen der Störung bzw. der ‚Kategorie Störung‘ zuzuwenden. Dabei wird an Ergebnisse angeknüpft, die im Rahmen eines Vorhabens zu „Perturbationen – Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften“ 2013 publiziert wurden.1 Einen Schub haben Forschungen zu Störphänomenen mit dem 11. März 2011 erhalten. Das Erdbeben, der Tsunami und die dadurch ausgelöste Katastrophe im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi hatten zur Folge, dass der Begriff des „Störfalls“ massenmedial wie politisch an Bedeutung gewann. In der Folge fanden sich weitere Versuche, den Störungs-Begriff theoretisch zu bestimmen und mit Blick auf verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme zu diskutieren.2 Die Beiträge des vorliegenden Bandes zielen allerdings weniger darauf, die „Polysemie des Störfall-Begriffs“ zu erfassen, es geht vielmehr darum, die bereits vorliegende Darstellungen, die die ‚Kategorie Störung‘ in Verbindung mit Untersuchungen zum Handlungs- und Symbolsystem Literatur sehen, zu vertiefen.3 Grundsätzlich wird in diesem Zusammenhang davon ausgegangen, dass ‚Störungen‘ eben nicht bevorzugt als Dysfunktion zu betrachten sind oder ein Hindernis bzw. Unfall für und im Zeichentransfer darstellen. Vielmehr werden Störungen in ihrer produktiven und gleichsam stabilisierenden Bedeutung betrachtet. Als Marker von Grenzen sorgen Störungen für eine fortgesetzte Anpassung an die aktuellen Bedingungen von Kommunikation. Dies gilt sowohl für den Bereich des zwischenmenschlichen Informationsaustauschs als auch für soziale Systeme.

1 Siehe Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/Boston: de Gruyter 2013. 2 Vgl. Koch, Lars / Pertersen, Christer / Vogl, Joseph (Hrsg.): Störfälle. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, H. 2/2011. 3 Dazu liegen inzwischen Vorschläge vor. Siehe u. a. Gansel, Carsten (Hrsg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. H. 4/2014, Göttingen: V&R 2014, S. 315 – 332 (Der Einleitungsbeitrag des Verfassers wird in diesem Band erneut abgedruckt, siehe Gansel, Carsten: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: ebd., S. 315 – 332). https://doi.org/10.1515/9783110683028-009

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 Carsten Gansel

Deutlich wird zudem, dass das ‚System Kultur‘ wie seine künstlerischen Hervorbringungen als besonderer Ort von Störungen gelten können und bevorzugte Medien von Störungen sind. Mit Kunst und Literatur schaffen (moderne) Gesellschaftssysteme sich Formen der Autopoiesis. Entsprechend gilt Literatur mit Recht als „ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften“.4 Als „kulturelle[r] Raum semiotischen Probehandelns“ – so hatten bereits Frank und Lukas betont5 – kann Literatur zu einem Medium von gesellschaftlicher Selbstverständigung auch deshalb werden, weil Autoren in ihren Texten das subversive Unterlaufen von normativen Grenzen gestalten und diskursive Randphänomene auf irritierende Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken können. Insofern besteht eine Hauptfunktion von Literatur in ‚offenen‘ und ‚geschlossenen‘ Gesellschaften in der „Bereitstellung von Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen“.6 Wollte man nunmehr konkret Störungen im Bereich Literatur erfassen, hat es sich als produktiv erwiesen, zwischen Handlungs- bzw. Sozialsystem auf der einen und Symbolsystem Literatur auf der anderen Seite zu unterscheiden.7 Im literarischen Handlungssystem kann es zu Störungen auf den Ebenen von Produktion, Distribution und Rezeption kommen. Im Symbolsystem, also den aus den Handlungsrollen von Produktion und Distribution hervorgegangenen Texten mit ihren Stoffen, Themen, Darstellungsweisen, betreffen Störungen das „Was“ und „Wie“ der Darstellung. In dem Fall, da Störungen, Irritationen oder eben Denormalisierungen auf der Ebene der Texte (Symbolsystem Literatur) angesprochen sind, geht es um eine „Ästhetik der Störung“ oder auch um „Figurationen der Störung“. Bei Störungen, Irritationen oder Denormalisierungen auf der Ebene des Handlungssystems geraten Interaktionen zwischen Literaturproduzenten, den Organen und Medien der Literaturvermittlung und den Rezipienten in den Blick. Hier kommt es immer wieder dazu, dass über Provokationen und Skandale

4 Böhme, Harmut: Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 42 (1998), S. 476 – 485, hier: S. 480. 5 Frank, Gustav / Lukas, Wolfgang. ,Grenzüberschreitungen‘ als Wege der Forschung. In: Dies. (Hrsg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau 2004, S. 19 – 27, hier: S. 20. 6 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Ausgabe. Göttingen 2006, S. 25. 7 Siehe Gansel, Carsten: Archivöffnungen als Aufstörung. Literatur aus der DDR als Irritation für die Literaturgeschichtsschreibung und das kulturelle Gedächtnis. In: SICHTUNGEN: Archiv. Bibliothek. Literaturwissenschaft 10/11 (2009). S. 139 – 162; Ders.: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel / Ächtler, Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 31 – 56.

Vorbemerkungen 

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die Aufmerksamkeit auf bestimmte Autoren und Texte gelenkt wird. In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich zu beachten: Im Handlungssystem Literatur – ob in ‚offenen‘ oder ‚geschlossenen‘ Gesellschaften – geht es letztlich vor allem darum, symbolisches Kapital zu generieren, mithin um Prestige, Autorität, Berühmtheit, Bekanntheit, Anerkennung, Reputation, ja um die „Macht bzw. Kraft, etwas in der Erinnerung wach zu halten“.8 Niklas Luhmann würde in diesem Zusammenhang von einem symbolisch generierten Medium sprechen (Ruhm, Erfolg, Kanonisierung, Gedächtnis, Archivierung). Dabei gehört das gezielte Überschreiten von vermeintlich geltenden Normen und Regeln historisch wie aktuell zu Prinzipien, mit denen im Literatursystem ‚gearbeitet‘ wird. Auch daher ist die Vorstellung illusionär, Autoren würden ihr symbolisches Kapital einzig über die Bedeutung ihrer Texte erlangen. Wenn Uwe Johnson in einem Ost-West-Gespräch aus dem Jahre 1964 dafür plädiert, dass man Schriftsteller nur nach dem beurteilen solle, was sie geschrieben haben, dann verkennt dies die Tatsache, dass Literaturgeschichte natürlich gerade auch an den Autoren und den Kontexten, unter denen sie gelebt und geschrieben haben, interessiert ist und eben auch an den Skandalen.9 Zudem kann angenommen werden, dass Autoren Autorität, Bekanntheit, Berühmtheit aus sehr verschiedenen Gründen erlangen. Diese sind von historischen Kontexten, politisch-kulturellen Machtkonstellationen, ästhetischen Codes oder dem jeweiligen Literaturbegriff ebenso abhängig wie von der Fähigkeit des Autors, sich durch Irritationen und Störungen innerhalb der Gesellschaft Aufmerksamkeit zu sichern.10 In literaturgeschichtlicher Perspektive wird das Überschreiten gesellschaftlicher Toleranzgrenzen – das sei nochmals betont – als Störung von Normalität und gegebenenfalls sogar als Destabilisierung wahrgenommen. Aufstörende Handlungen dieser Art mit den entstehenden Produkten, also den Texten, können Sanktionen nach sich ziehen. Dass es Autoren und ihre Texte innerhalb einer ‚geschlossenen‘ Gesellschaft weitaus leichter haben, aufstörend zu wirken, steht außer Frage, weil die Grenzen des Systems durch Codes erkennbar markiert sind und die normativen Vorgaben, Tabuisierungen, Diskursverbote einen engen Rahmen ziehen. Allerdings sollte man in Rechnung stellen, dass selbst-

8 Vgl. Jurt, Josef: Die Theorie des literarischen Feldes. Zu den literatursoziologischen Arbeiten Bourdieus und seiner Schule. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 5 (1981), H. 5, S. 454 – 479, hier: S. 464. Vgl. auch Bourdieu, Pierre: Sozialer Raum und „Klassen“. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985 (= suhrkamp-taschenbuch wissenschaft 500), S. 11 sowie Ders.: Rede und Antwort. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1992 (= edition suhrkamp 1547), S. 37. 9 Johnson, Uwe: In: Ost-West-Gespräch vom März 1964. In: Gansel, Carsten (Hrsg.): Wenigstens in Kenntnis leben. Notate zum Werk Uwe Johnsons. Neubrandenburg: Federchen 1991, S. 123 – 146, hier: S. 133. 10 Vgl. dazu Gansel, Archivöffnungen als Aufstörung. 2009.

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 Carsten Gansel

verständlich auch in demokratisch verfassten, ‚offenen‘ Gesellschaften sehr wohl Maßgaben existieren, die einen Autor oder Text schnell zum Skandalon machen können. Luhmann hat, lange bevor sich Entwicklungen abzeichneten, in denen Kontrollinstanzen in besonderer Weise darüber wachen, dass mainstreamartige Moralvorgaben eingehalten werden, herausgestellt, in welchem Maße in modernen Informationsgesellschaften Normverstöße besonders dann Beachtung erlangen und möglicherweise skandalisiert werden, wenn es sich um „Moralverstöße“ handelt. „Neuerdings“ gelte dies – so Luhmann bereits 1996 – „auch für Verstöße gegen ‚political correctness‘“.11 Die Vorgänge etwa um Christian Krachts Roman „Imperium“ (2012) waren dafür nur ein Beispiel, wobei der Text selbst, also „Imperium“, im Rahmen der durch einen Kritiker angestrebten Skandalisierung keine Rolle spielte. Seitdem sind die Anlässe in der Literatur, der Musik, der bildenden Kunst, die Auslöser dafür sein können, das Künstlerinnen und Künstler in den Fokus einer moralisierenden Kritik geraten, deutlich gesunken. Die Beiträge des Bandes zielen nun bevorzugt auf das Symbolsystem Literatur, mithin auf ausgewählte Texte. Dabei geht es nicht um Darstellungen, die etwa bestimmte Regeln bzw. Wertmaßstäbe, die jeweils für den Umgang mit Texten zu einem konkret-historischen Zeitpunkt gelten, überschreiten und auf diese Weise Irritationen und Störungen erzeugen. In Rede stehen vielmehr Fragen nach der medialen, literarischen, künstlerischen Darstellung von lebensweltlichen Störungen. Im Mittelpunkt steht somit die Rolle der Künste bei der ‚Verarbeitung‘ von existentiellen Krisensituationen und fundamentalen gesellschaftlichen Zäsuren. In diesem Rahmen erfolgt eine Konzentration auf Texte bzw. Konfigurationen, in denen Traumata eine Rolle spielen bzw. in denen es um die Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen geht. Es können dies Texte sein, die sich mit den Auswirkungen von gesellschaftlichen Krisen (Krieg, Holocaust, Bombenkrieg, Flucht und Vertreibung) auf Individuen beschäftigen, genauso können in ihnen alters-, geschlechts- oder familienbezogene Traumata (Tod, Krankheit, Vergewaltigung, Missbrauch) im Zentrum stehen oder von den vielfältigen Formen schuldhaften Tuns (persönliches Versagen, Denunziation, Verrat) handeln. In diesem Kontext spielt der Begriff der (Primär-)Erfahrung eine Rolle.12 Für die Verarbeitung wie Verbreitung von Erfahrungen besitzt nun das Erzählen eine zentrale Bedeutung, und dies meint den Alltag, aber vor allem natürlich insbesondere Literatur

11 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 44. 12 Der Begriff der Primärerfahrung ist frühzeitig von Reinhart Koselleck eingeführt worden. Siehe in diesem Zusammenhang Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft 2012, Berlin: Erich Schmidt, S. 173 – 198.

Vorbemerkungen 

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und Kunst. Was ist aber in dem Fall – so ist schon mehrfach gefragt worden –, da das ‚Ich‘ Erlebnisse verarbeiten muss, die auf Krieg, Holocaust, Vernichtungslager, Massenmord, Bombentod oder Vergewaltigung bezogen sind? Es handelt sich hier zweifellos um traumatische Ereignisse, die zu einer Störung des Selbst führen und mit ihren grausamen Details nur schwer narrativ zu fassen und erfahrungsbildend zu verarbeiten sind.13 Es nimmt daher nicht wunder, wenn der Trauma-Begriff in den Literatur- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren gerade auch dort genutzt wird, wo es um das Erinnern des Holocaust geht.14 In historischer Perspektive zeigt sich dabei, dass selbst in der Psychotraumatologie Untersuchungen zu Traumafolgestörungen nach dem Zweiten Weltkrieg ausgeblieben und eigentlich erst in der Gegenwart Arbeiten zu Kriegstraumatisierungen entstanden sind. Inzwischen ist anerkannt, dass das Erleben von furchtbaren Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zur Folge haben kann. Anders gesagt: Das Erleben eines Traumas verursacht eine Intrusion, die sich nur in unwillkürlichen und stark belastenden Erinnerungsfragmenten ausdrückt, oder bewirkt gar das Entstehen einer ,Leerstelle‘ des Nichtartikulierbaren im Gedächtnis. Traumatisierte haben insofern große Schwierigkeiten, sich auf einen „narrativen Prozess einzulassen“, weil die Erinnerungen ihnen „nicht als Geschichten zugänglich sind“.15 Während also traumatisierte Menschen in der Realität in vielen Fällen nicht vom Trauma erzählen können, ist genau dies etwa in literarischen Texten oder bildkünstlerischen Darstellungen möglich. Die Figuren werden dabei mit Ereignissen konfrontiert, die zu einer Störung des Selbst führen. Dass das Spektrum möglicher Traumata sehr umfassend ist und entsprechend vielfältig Gestaltung finden kann, steht außer Frage. Es reicht von Darstellungen, die infolge von Kriegstraumatisierungen entstanden sind, über Texte etwa von Julia Franck, Norbert Gstrein, Peter Härtling, Christoph Hein, Reinhart Jirgl, Herta Müller, Jorge Semprun oder Christa Wolf bis zu Filmen, Theaterstücken oder bildkünstlerischen Werken. Im Hinblick auf die Verarbeitung wie Inszenierung von Traumata in literarischen Texten wäre die deutsche Romantik ein Untersuchungsfeld, das zahlreiche Ergebnisse zutage förderte. Da ein spezieller Band derartigen Fragen nachgehen soll, wurde in diesem Rahmen einzig ein Beitrag aufgenommen, der in neuer Weise

13 Vgl. dazu Gansel: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur. 2014. 14 Siehe u. a. grundlegend Bronfen, Elisabeth / Erdle, Birgit R. / Weigel, Sigrid: Trauma: zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln /Weimar/Wien: Böhlau 1999, oder aktuell Catani, Stephanie: Geschichte im Text: Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr/Francke/Attempto 2016. 15 Maercker, Andreas (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Heidelberg: Springer 2013, S. 8 – 9.

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 Carsten Gansel

Erkenntnisse zu jenem Maler fixiert, der gewissermaßen zum Sinnbild der Epoche der Romantik geworden ist: Caspar David Friedrich. Die Beiträge des Bandes gehen in der Folge Störungen und Traumata in Texten nach, die vom deutschsprachigen Realismus und der Jahrhundertwende über Krieg und Nachkrieg sowie Verarbeitung des Holocaust, die Auseinandersetzung mit Diktaturerfahrungen bis hin zur Verarbeitung von Flucht und Migration in der Gegenwartsliteratur reichen. Der Band konnte nur durch die kompetente und engagierte Arbeit von Stephanie Lotzow (Gießen) realisiert werden, die akribisch das Lektorat mit verantwortet hat. Mike Porath (Gießen) ist für die redaktionelle Arbeit zu danken. Torsten Nitsche (vanDerner) hat wiederum das Layout der Edition erstellt. Der Band selbst ist im Rahmen eines Projektes zweier Lehrstühle der Institute für Germanistik an den Universitäten Gießen und Wroclaw entstanden und wurde durch die HumboldtStiftung gefördert, der ebenfalls sehr zu danken ist.



I. Trauma und Störungen – Theoretische Aspekte

Hans J. Markowitsch & Angelica Staniloiu

Verschollene Erinnerungen: Dissoziative Amnesien als Beeinträchti­gungen von Selbst und Narration durch unzureichend verarbeitete Traumata und Stresssituationen 1. Einleitung Erinnerungen zu besitzen, ist wohl eine menschliche Eigenschaft, da Tiere über viele andere kognitive Fähigkeiten verfügen, nicht aber über die, ihre Gedächtnisfähigkeit so zu steuern, dass sie mentale Zeitreisen in Vergangenheit und Zukunft anstellen könnten.1 Endel Tulving, der eine differenzierte Einteilung in unterschiedliche Gedächtnissysteme vorschlug, betonte, dass Tiere über die ersten vier der in Abbildung 1 gezeigten Gedächtnissysteme verfügen, nicht aber über das fünfte – das episodische (oder wie man heute alternativ sagt, das episodischautobiographische2) Gedächtnis; dieses sah er als rein menschliches System an, das sich – wie Forschungen an Kindern zeigten3 – erst nach dem Alter von vier

1 Suddendorf, Thomas / Addis, Donna R. / Corballis, Michael C.: Mental time travel and the shaping of the human mind. In: Philosophical Transactions of the Royal Society, London B 364, 2009, S. 1317 – 1324. Suddendorf, Thomas / Butler, David L.: The nature of visual self-recognition. In: Trends in Cognitive Sciences 17, 2013, S. 121 – 127. Suddendorf, Thomas / Corballis, Michael C.: The evolution of foresight: What is mental time travel, and is it unique to humans? In: Behavioral and Brain Sciences 30, 2007, S. 299 – 313. Roberts, William A.: Are animals stuck in time? In: Psychological Bulletin 128, 2002, S. 473 – 489. Kwan, D. / Carson, N. / Addis, Donna R. / Rosenbaum, R. S.: Deficits in past remembering extend to future imagining in a case of developmental amnesia. In: Neuropsychologia, 48, 2010, S. 3179 – 3186. Nyberg, Lars / Kim, Alice, S. N. / Habib, Reza / Levine, Brian / Tulving, Endel: Consciousness of subjective time in the brain. In: Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA 107, 2010, S. 22356 – 22359. 2 Markowitsch, Hans J.: Das Gedächtnis: Entwicklung – Funktionen – Störungen München: C. H. Beck 2009; Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Memory, autonoetic consciousness, and the self. In: Consciousness and Cognition 20, 2011, S. 16 – 39. 3 Nelson, Katherine / Fivush, Robyn: The emergence of autobiographical memory: a social cultural developmental theory. In: Psychological Review 111, 2004, S. 486 – 511; Perner, Josef / Kloo, Daniela / Rohwer, Michael: Retro- and prospection for mental time travel: Emergence of episodic remembering and mental rotation in 5- to 8-year old children. In: Consciousness and Cognition 19, 2010, S. 802 – 815. https://doi.org/10.1515/9783110683028-010

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 Hans Markowitsch & Angelica Staniloiu

Jahren etabliert. Inzwischen belegen zahlreiche Studien die Richtigkeit dieses Postulats.4 Die Komplexität des episodisch-autobiographischen Gedächtnisses beinhaltet auch, dass es – im Gegensatz zu den anderen vier Langzeitgedächtnissystemen – direkt an emotionale Bewertungen gebunden ist. Somit erfordert seine Verarbeitung auf Hirnebene immer auch die synchrone Rekrutierung von Regionen, die mit kognitiven Fakten und mit affektiver Kolorierung zu tun haben.5 Dieses Zusammenspiel kann allerdings durch vielfältige Einflüsse aus dem Ruder laufen.

Abbildung 1: Die 5 Langzeitgedächtnissysteme nach Tulving, die ontogenetisch und phylogenetisch sich von links nach rechts entwickeln. Die ersten beiden gelten als ‚anoetisch‘, was bedeutet, dass sie implizit, unbewusst ablaufen (z. B. Autofahren oder automatisch an einen Liedtext denken, wenn die Melodie gespielt wird). Das 3. und 4. System wird als ‚noetisch‘ – bewusst angesehen und das 5. als ‚autonoetisch‘. Dieses bezieht sich primär auf persönlich erlebte Episoden.6

4 Souchay, Celina / Guillery-Girard, Bérengére / Pauly-Takacs, Katalin / Wojcik, Dominika / Eustache, Francis: Subjective experience of episodic memory and metacognition: a neurodevelopmental approach. In: Frontiers in Behavioral Neuroscience 7, 2013, Art. 212; Petrican Raluca / Levine, Brian T.: Similarity in functional brain architecture between rest and specific task modes: A model of genetic and environmental contributions to episodic memory. In: Neuroimage 179, 2018, S. 489 – 504. 5 Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Amygdala in action: Relaying biological and social significance to autobiographical memory. In: Neuropsychologia 49, 2011, S. 718 – 733. 6 Die Abbildung wurde ursprünglich von einem der Autoren (HJM) in englischer Fassung entwickelt und mit Endel Tulving abgestimmt.

Verschollene Erinnerungen – Dissoziative Amnesien 

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In erster Linie beeinträchtigen natürlich direkte fokale7 oder auch weitflächige Hirnschäden8 Gedächtnis und Erinnerung. Daneben gibt es aber auf psychischpsychiatrischem Gebiet eine Vielzahl von Störungsbildern, die das Gedächtnis in Mitleidenschaft ziehen. Dies beginnt bei Fehlerinnerungen und Zungenphänomenen (die Information liegt einem auf der Zunge, aber man kommt nicht darauf)9 und setzt sich fort mit schwerwiegenden psychiatrischen Krankheitsbildern, die die gesamte Vergangenheit oder Zukunft unbewusst werden lassen.10 Diese stellen somit Paradebeispiele für verschollene Erinnerungen dar. Um diesen Komplex von Fragen soll es nachfolgend gehen.

2. Dissoziative Amnesien – blockierte Vergangenheit, blockierte Zukunft Schon vor rund 150 Jahren begann die wissenschaftliche Psychiatrie sich mit Krankheitsbildern zu beschäftigen, die das Gedächtnis betreffen. Neben der von Emil Kraepelin11 als Dementia praecox bezeichneten Schizophrenie betraf dies vor allem das Krankheitsbild der Hysterie. Dieses wurde von Charcot12, Janet13 und Freud14, aber auch von Carl Gustav Jung15 mit Vehemenz vertreten. Wie der Name bereits andeutet, galt es ursprünglich als ausschließlich – oder hauptsächlich – bei Frauen auftretendes Krankheitsbild und wurde in einigen Fällen auch entsprechend kurios

7 Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Amnesic disorders. In: Lancet, 380, 2012, S. 1429 – 1440. 8 Seidl, Ulrich / Markowitsch, Hans J. / Schröder, Johannes: Die verlorene Erinnerung. Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei leichter kognitiver Beeinträchtigung und Alzheimer-Demenz. In: Warum Menschen sich erinnern können. Fortschritte in der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hrsg. von Harald Welzer / Hans J. Markowitsch. Stuttgart: Klett 2006, S. 286 – 302. 9 Kühnel, Sina / Markowitsch, Hans J.: Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum 2009. 10 Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J.: Dissociative amnesia. In: Lancet Psychiatry 1, 2014, S. 226 – 241; Markowitsch, Hans / Staniloiu, Angelica: Dissoziative Amnesien. In: Psychologische Medizin 26, 2015, S. 3 – 14. 11 Kraepelin, Emil: Compendium der Psychiatrie. Zum Gebrauche für Studirende und Aerzte. Leipzig: Abel 1883. 12 Markowitsch, H. J., & Staniloiu, A.: History of memory. Hrsg. von William Barr und Linas A. Bielauskas Oxford handbook of the history of clinical neuropsychology (in press). Oxford: Oxford University Press 2018. Bogousslavsky, Julien: Hysteria after Charcot; Back to the future. In: Frontiers in Neurology and Neuroscience 29, 2011, S. 137 – 161. 13 Janet, Pierre: État mental des hystériques. Paris: Rueff 1894. 14 Breuer, Josef / Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Wien: Deuticke 1895. 15 Jung, Carl Gustav: Ein Fall von hysterischem Stupor bei einer Untersuchungsgefangenen. In: Journal für Psychologie und Neurologie 1, 1902, S. 110 – 122.

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behandelt.16 Erst die sogenannten ‚Kriegszitterer‘ des ersten Weltkriegs demonstrierten, dass dieses Krankheitsbild bei beiden Geschlechtern diagnostiziert werden kann.17 Hysterie galt als eine Abkehr von der realen Umwelt, die mit Amnesie einherging. Andre Brouillets Gemälde „Charcot a la Salpetriere“ von 1887 demonstriert eine derartige Szene, in der eine junge Frau (Augustine) ohnmächtig in die Arme von Charcots Assistent (Babinsky) fällt. Erst gut 90 Jahre nach der Entstehung von Brouillets Gemälde wird der Begriff der Hysterie aus dem internationalen Standardhandbuch psychischer Krankheiten gestrichen. Stattdessen wird der Begriff der dissoziativen Störungen eingeführt, von denen mehrere mit Erinnerungsblockaden verbunden sind. Da grundsätzlich eine Gesundung möglich ist, wurde der Ausdruck „Mnestisches Blockadesyndrom“ in die Literatur eingeführt.18 Betont werden sollte, dass der Regelfall einer dissoziativen Amnesie beinhaltet, dass das autobiographische Gedächtnis nicht mehr abrufbar ist, also alle in der Vergangenheit aufgenommenen und gespeicherten persönlichen Erlebnisse und Episoden nicht mehr bewusst verfügbar sind. Man spricht dann von einer retrograden Amnesie (siehe Abbildung 2). Interessant ist dabei auch, dass im Gegensatz zu schwer hirnorganisch gestörten Patienten diese dissoziativen Patienten auch nicht mehr ihren Namen und weitere persönliche Daten kennen, d. h., sie haben keinen bewussten Zugang mehr zu ihrer Identität.19 Ausnahmen

16 Meyn, Jörn: Mit Orgasmen gegen die weibliche Hysterie. https://www.welt.de/print/welt_kompakt/print_lifestyle/article13584655/Mit-Orgasmen-gegen-die-weibliche-Hysterie.html (Zugriff am 24.10.2018). 17 Markowitsch, Hans J.: Intellectual functions and the brain. A historical perspective. Toronto: Hogrefe & Huber Publs. 1992; Staniloiu, Angelica / Feinstein, Anthony: Post-traumatic stress disorder (PTSD) in Canada. http://thecanadianencyclopedia.ca/en/article/post-traumatic-stressdisorder-ptsd-in-canada/ (Zugriff am 24.10.2018) 18 Markowitsch, Hans J.: The mnestic block syndrome: Environmentally induced amnesia. In: Neurology, Psychiatry and Brain Research 6, 1998, S. 73 – 80; Markowitsch, Hans J.: Functional amnesia: the mnestic block syndrome. In: Revue de Neuropsychologie 10, 2000, S. 175 – 198; Markowitsch, Hans J. / Kessler, Josef / Russ, Michael O. / Frölich, Lutz / Schneider, Barbara / Maurer, Konrad: Mnestic block syndrome. In: Cortex 35, 1999, S. 219 – 230. 19 Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J. / Brand, Matthias: Psychogenic amnesia – A malady of the constricted self. In: Consciousness and Cognition 19, 2010, S. 778 – 801; Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J. / Kordon, Andreas: Psychological causes of amnesia: A study of 28 cases. In: Neuropsychologia 110, 2018, S. 134 – 147; Markowitsch, Hans J.: Die Anfälligkeit autobiographischer Erinnerung gegenüber Stress: eine neuropsychologische Perspektive. In: Erzählte Identitäten. Hrsg. von Michael Neumann. München: Fink 2000, S. 215 – 229; Fujiwara, Esther / Markowitsch, Hans J.: Autobiographical memory disorders. In: The lost self: Pathologies of the brain and identity. Hrsg. Von Todd E. Feinberg / Julian P. Keenan. New York: Oxford University Press 2005, S. 65 – 80; Markowitsch, Hans J.: Wer sich an bestimmte Lebensphasen nicht erinnert, dem fehlt ein Stück Identität. In: Psychologie Heute 36, 2014, S. 36 – 41.

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Abbildung 2: Beziehungen zwischen anterograder und retrograder Amnesie. Das Blitzsymbol repräsentiert den Zeitpunkt eines Hirnschadens oder eines bedeutenden psychotraumatischen Ereignisses, das entweder zu anterograder oder retrograder Amnesie oder zu beiden Formen von Amnesie führt. Retrograde Amnesie folgt häufig einem als ‚Ribot’sches Gesetz‘ bezeichneten Gradienten, der besagt, dass weit zurückliegende und damit seit langem abgespeicherten Gedächtnisinhalte meist erhalten sind, während die nahe am Schadenszeitpunkt liegenden meist nicht mehr abgerufen werden können. Dies hat mehrere Gründe: Lange zurückliegende Episoden wurden in einem gesunden, wenig befrachteten Gehirn eingespeichert, sie sind meist emotional bedeutender konnotiert als neuere gleichartige und sie hatten durch wiederholten Wiederabruf die Chance einer tieferen und breiteren Re-Enkodierung und damit Vernetzung. Bei dissoziativ amnestischen Patienten findet sich – sozusagen wider die Natur – dieser Gradient nicht.

vom Regelfall stellen nur sehr wenige Patienten dar, die sich zwar noch mehr oder weniger an Erlebnisse aus ihrer Vergangenheit erinnern, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben keine Möglichkeit mehr zu haben scheinen, neue Erlebnisse bleibend so einzuspeichern, dass sie sie zu späteren Zeitpunkten wieder bewusst abrufen könnten. In der Literatur finden sich bislang weniger als ein Dutzend derartiger Fallbeschreibungen,20 obwohl die erste schon aus der

20 Kessler, Josef / Markowitsch, Hans J. / Huber R, Kalbe Elke, Weber-Luxenburger Gerald / Kolk P. (1997). Massive and persistent anterograde amnesia in the absence of detectable brain damage – anterograde psychogenic amnesia or gross reduction in sustained effort? In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology 19, 1997, S. 604 – 614; Markowitsch Hans J. / Fink, Gereon R. / Thöne, Angelica I. M. / Kessler, Josef / Heiss Wolf-Dieter: Persistent psychogenic amnesia with a PET-proven organic basis. In: Cognitive Neuropsychiatry 2, 1997, S. 135 – 158; Smith, Christine N. / Frascino, Jennifer C. / Kripke, Donald L. / McHugh, Paul R. / Treisman, Glenn J. / Squire, Larry R.: Losing memories overnight: A unique form of human amnesia. In: Neuropsychologia 38, 2010, S. 2833 – 2840; Markowitsch, Hans J., Staniloiu, Angelica: The impairment of recollection in functional amnesic states. In: Cortex 49, 2013, S. 1494 – 1510; Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Amnesic disorders. In: Lancet, 380, 2012, S. 1429 – 1440.

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Zeit Charcots stammt.21 Man spricht bei dieser Symptomatik von anterograder Amnesie (siehe Abbildung 2). Für beide Patientengruppen gilt, dass es zwar vielfältige Nachweise für Veränderungen auf Hirnebene gibt,22 aber man annehmen muss, dass diese eher die Konsequenz als den Grund der Amnesie darstellen. Diese Veränderungen beziehen sich auf eine globale Glukosestoffwechselverminderung im Gehirn und meist noch stärkere Stoffwechselverminderungen in den neuronalen Netzwerken, die mit der Verarbeitung von Erinnerungen zu tun haben. Funktionelle Bildgebungsdaten machen gleichwohl deutlich, dass es möglich ist, hirnanatomische Korrelate für psychiatrische Krankheitsbilder zu finden.23 Damit gilt, was inzwischen von vielen propagiert wird,24 aber schon vor gut 100 Jahren

21 Charcot, Jean-Marie: Sur un cas d’amnesie retro-anterograde. In: Revue de Medicine 12, 1892, S. 81 – 96; Souques, A.: Essai sur l’amnesie retro-anterograde dans l’hysterie, les traumatismes cerebraux et l’alcoolisme chronique. In: Revue de Medicine 13, 1892, S. 367 – 401. 22 Markowitsch, Hans J. / Kessler, Josef / Van der Ven, Christian / Weber-Luxenburger, Gerald / Heiss, Wolf-Dieter: Psychic trauma causing grossly reduced brain metabolism and cognitive deterioration. In: Neuropsychologia 36, 1998, S. 77 – 82; Markowitsch, Hans J. / Kessler, Josef / Weber-Luxenburger, Gerald, Van der Ven, Christian / Albers, Matthias / Heiss, Wolf- Dieter: Neuroimaging and behavioral correlates of recovery from mnestic block syndrome and other cognitive deteriorations. In: Neuropsychiatry Neuropsychology and Behavioral Neurology 13, 2000, S. 60 – 66; Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J.: Searching for the anatomy of dissociative amnesia. In: Journal of Psychology 218, 2010, S. 96 – 108; Staniloiu, Angelica / Vitcu, Irina / Markowitsch, Hans J.: Neuroimaging and dissociative disorders. In: Advances in brain imaging. Hrsg. von Vikas Chaudhary. INTECH – Open Access Publ., 2011, S. 11 – 34. 23 Brand, Matthias / Eggers, C. / Reinhold, Nadine / Fujiwara, Esther / Kessler, Josef / Heiss, WolfDieter / Markowitsch, Hans J.: Functional brain imaging in fourteen patients with dissociative amnesia reveals right inferolateral prefrontal hypometabolism. In: Psychiatry Research: Neuroimaging Section 174, 2009, S. 32 – 39; Markowitsch, Hans J. / Kessler, Josef / Kalbe, Elke / Herholz, Karl: Functional amnesia and memory consolidation. A case of persistent anterograde amnesia with rapid forgetting following whiplash injury. In: Neurocase 5, 1999, S. 189 – 200; Thomas-Antérion, Catherine / Dubas, Erédéric / Decousus, Marielle / Jeanquillaume, Christian / Guedi, Eric.: Clinical characteristics and brain PET findings in 3 cases of dissociative amnesia: Disproportionate retrograde deficit and posterior middle temporal gyrus hypometabolism. In: Neurophysiologie Clinique 44, 2014, S. 355 – 362; Thomas-Antérion, Catherine / Guedj, Eric / Decousus, Marielle / Laurent, Bernard.: Can we see personal identity loss? A functional imaging study of typical „hysterical amnesia“. In: Journal of Neurology, Neurosurgery and Psychiatry 81, 2010, S. 468 – 469; Tramoni, Eva / Aubert-Khalfa, Stéphanie / Guye, Maxime / Ranjeva, Jean P. / Felician, Olivier / Ceccaldi, Mathieu: Hypo-retrieval and hyper-suppression mechanisms in functional amnesia. In: Neuropsychologia 47, 2009. S. 611 – 624. 24 Pietrini, P.: Toward a biochemistry of mind? In: American Journal of Psychiary 160, 2003, S. 1907 – 1908; Insel, Thomas N. / Cuthbert, Bruce N.: Brain disorders? Precisely. Precision medicine comes to psychiatry. In: Science 348, 2015, 499 – 500.

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von mehreren Nervenärzten angemahnt wurde,25 nämlich, dass alles Psychische durch Anatomie und Physiologie erklärbar sein muss.26 Maudsley schrieb 1870 in seinem Buch „Body and Mind“: „Mental disorders are neither more nor less than nervous diseases in which mental symptoms predominate, and their entire separation from other nervous diseases has been a sad hindrance to progress …“ [„Geisteskrankheiten sind nicht mehr und nicht weniger als Hirnkrankheiten, in denen die mentalen Symptome vorherrschen, und ihre völlige Trennung von anderen neurologischen Krankheiten hat sich als trauriges Hindernis für den Fortschritt herausgestellt …“; unsere Übersetzung]. 27 Es gibt zwei teilweise konkurrierende Modelle, die zu erklären versuchen, warum Patienten keinen Zugriff mehr auf ihre Lebenserinnerungen haben. Das eine – wahrscheinlich höchstens eingeschränkt gültige – ist das Fantasiemodell, das – kurz gesagt – annimmt, die Betroffenen hätten eine überschießende Fantasie, die zu Fehlerinnerungen28 und Amnesie führe.29 Viel wahrscheinlicher ist das schon von Sigmund Freud indirekt propagierte Trauma- und Stressmodell. In diesem Modell wird angenommen, dass nicht adäquat verarbeitete stressreiche oder traumatische Erlebnisse, die insbesondere schon in Kindheit und Jugend

25 Flechsig, Paul: Gehirn und Seele. Leipzig: Veit & Comp., 1896; Meynert, Theodor: Psychiatrie. Klinik der Erkrankungen des Vorderhirns, begründet auf dessen Bau, Leistungen und Ernährung. Wien: Braumüller, 1884; Maudsley, Henry: Body and mind: An inquiry into their connection and mutual influence, specially in reference to mental disorders. London: Macmillan and Co., 1870. 26 Freud, Sigmund: Project for a scientific psychology. In: The origins of psychoanalysis, Letters to Wilhelm Fliess, Drafts and Notes: 1887 – 1902. Hrsg. von Marie Bonaparte / Anna Freud / Ernst Kris. New York; Basic Books, 1954; Markowitsch, Hans J.: Organic and psychogenic retrograde amnesia: two sides of the same coin? In: Neurocase 2, 1996, S. 357 – 371; Syz, Hans: Recovery from loss of mnemonic retention after head trauma. In: Journal of General Psychology 17, 1937, S. 355 – 387. 27 Maudsley, Henry: Body and Mind. Palala Press 2015 (1870), S. 41. 28 Freud, Sigmund: Zum psychischen Mechanismus der Vergesslichkeit. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie, 4/5, 1901, S. 436 – 443; Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Vergessen, Versprechen, Vergreifen) nebst Bemerkungen über eine Wurzel des Aberglaubens. In: Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 10, 1901, 1 – 32 und 95 – 143; Kühnel, Sina / Markowitsch, Hans J.: Falsche Erinnerungen. Heidelberg: Spektrum; Kühnel, Sina / Markowitsch, Hans J. (2008). Falsche Erinnerungen. In: Schaltstelle Gehirn: Denken, Erkennen, Handeln. Hrsg. von Andreas Sentker und Frank Wigger. Heidelberg: Spektrum, 2009, S. 50 – 76. 29 Dalenberg, Constance J. / Brand, Bethany L. / Gleaves, David H. / Dorahy, M. J. / Loewenstein, Richard J. / Cardeña, Etzel / Frewen, Paul A. / Carlson, Eve B. / Spiegel, David: Evaluation of the evidence for the trauma and fantasy models of dissociation. In: Psychological Bulletin 138, 2012, S. 150 – 188. Dalenberg, Constance J. / Brand, Bethany L. / Loewenstein, Richard J. / Gleaves, David H. / Dorahy, Martin J. / Cardeña, Etzel / Frewen, Pául A. / Carlson, Eve B. / Spiegel, David: Reality versus fantasy: reply to Lynn et al. (2014). In: Psychological Bulletin, 140, 2014, S. 911 – 920.

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auftraten, zu einer dissoziativen Amnesie oder dissoziativen Identitätsstörung führen können,30 wenn im späteren Erwachsenenalter erneute Stress- oder Trauma-Erlebnisse auftreten und die Person nicht gelernt hat, entsprechend auf diese zu reagieren, also keine adäquaten Coping-Strategien entwickelt hat. Bei der dissoziativen Identitätsstörung kommt es zu einer Aufspaltung der Person in mehrere, gegeneinander weitgehend amnestische Persönlichkeiten.31 Wir wissen alle, dass es immer wieder vorkommen kann, dass einem ein Name oder eine Bezeichnung auf der Zunge liegt, aber man nicht in der Lage ist, Namen oder Bezeichnung auszusprechen („Zungenphänomen“).32 Dieses Phänomen stellt wohl das mildeste dar, bei dem der Gedächtnisabruf stressbedingt nicht gelingt. Andere Situationen von Abruf- oder auch Einspeicherblockaden entstehen in einer kurzfristigen Stresssituation, die man nicht überblickt und von der man nicht weiß, wie sie ausgehen wird. Ein Beispiel hierfür wird nachfolgend zitiert: Prof. Dr. N… ehem. Universität … Sehr geehrter Herr Markowitsch! Ich las in der Zeitung über die Diskussion bezüglich eines möglichen Gedächtnisverlustes in Stress-Situationen. Dazu ein eigenes Erlebnis. Ich machte vor mehreren Jahren eine Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn. Am Bahnhof Tschita, wo der Zug laut Plan 20 Minuten Aufenthalt haben sollte, stieg ich aus und verließ den Bahnsteig, um mir den Bahnhofsvorplatz anzuschauen. Als ich wieder auf den Bahnsteig zurückkehrte, sah ich, dass mein Zug schon in Bewegung war (Hinweis: wenn der Zug Verspätung hat, fährt der Lokführer vorzeitig los, sofern niemand mehr auf dem Bahnsteig steht). In Panik rannte ich hinter dem Zug her, kam ihm tatsächlich näher. Ich sah vor mir die geöffnete Tür des letzten Wagens – und dann stand ich plötzlich im Waggon und die Mitreisenden umarmten mich freudig. Ich fragte, wie ich denn in den Zug gekommen sei, und sie zeigten auf zwei an der Tür stehende Russen, die mich hineingezogen haben sollen. Beim Ausziehen am Abend sah ich an mehreren blauen Flecken an meinen Beinen, dass dieses Hineinziehen recht rau zugegangen sein muss. Diese ganze Stress-Situation war aber völlig aus meinem Gedächtnis verschwunden und ist es bis heute. Vielleicht kann dieser Vorfall (für den es Zeugen gibt) interessant für Sie sein. Mit freundlichem Gruß, …

30 Priebe, Kathlen / Schmahl, Christian: Dissoziative Störungen. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 77, 2009, S. 595 – 606; Schmahl Christian / Stiglmayr, Christian / Priebe, Kathlen: Dissoziation: Theorie und Praxis. Heidelberg: Springer, 2014. 31 Brand, Bethany L. / Sar, Vedat / Stavropoulos, Pam / Krüger, Christa / Korzekwa, Marilyn / MartínezTaboas, Alfonso / Middleton, Warwick: Separating fact from fiction: An empirical examination of six myths about Dissociative Identity Disorder. In: Harvard Review of Psychiatry 24, 2016, S. 257 – 270. 32 Markowitsch, Hans J. / Schreier, Margit M.: Reframing der Bedürfnisse. Heidelberg: Springer, 2019.

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Tatsächlich ist die von diesem Kollegen geschilderte Situation typisch. Auch ein anderer Kollege schilderte, wie er einen leichten Unfall als Fahrradfahrer hatte, der mit einem Auto zusammenstieß, und ihm die Einzelheiten der Situation davor und danach entfallen waren, bzw. er sie wohl mit Fantasie versuchte zu rekonstruieren; das Fantasieprodukt entsprach allerdings nicht dem Polizeiprotokoll, das wiederum von den Umstehenden als korrekt bestätigt wurde. Kritischer werden solche Blackouts, wenn es um schwerwiegende Verbrechen geht.33

2.1 Verwandte Phänomene Wir kennen ähnliche Beispiele auch von Personen, die unter Alkohol- oder Drogeneinfluss – also intoxikiert – Episoden nicht mehr richtig „im Kopf“ haben und dann Tendenzen zeigen, zu konfabulieren – also um einen möglicherweise wahren Kern herum – Geschichten erfinden, die möglicherweise sehr plausibel klingen.34 Interessanterweise kann man zeigen, dass bestimmte neurologische Schäden Tendenzen zur Falschaussage, zur Simulation, zur Erfindung von Geschichten oder zur Konfabulation begünstigen. Die Konfabulationstendenz beispielsweise ist typisch bei sogenannten ‚Korsakowamnestikern‘ zu finden, die meist auf Grund langanhaltenden Alkoholmissbrauchs nur noch Bruchstücke ihrer Erinnerung parat haben, aber so erscheinen wollen, als seien sie weiterhin intellektuell „ganz normal“ (was ihnen als psychiatrisch so bezeichnete Fassade auch gelingen mag).35 Ein weiterer persönlicher Erfahrungsbericht beschreibt den Fall eines älteren Klinikchefs, der durch einen Hirninfarkt bedingt (der ähnliche Hirnregionen schädigte, die auch bei dem Korsakowsyndrom betroffen sind) anterograd und großenteils auch retrograd amnestisch war, aber gleichwohl die Fassade des jovialen Chefarztes aufrechtzuerhalten versuchte.36 Er antwortete auf die Frage, was denn politisch gegenwärtig in der Diskussion sei, damit, dass Politik ihn nicht interessiere. Auf

33 Markowitsch, Hans J.: Implikationen neurowissenschaftlicher Erkenntnisse für die Jurisprudenz am Beispiel von Glaubwürdigkeitsfeststellungen. In: Kriminalistik, 10, 2006, S. 619 – 625; Parwatikar, Sadashiv D.: Medicolegal aspects of TGA, In: Transient global amnesia and related disorders. Hrsg. von Hans J. Markowitsch. Toronto: Hogrefe & Huber Publs., 1990, S. 191 – 205. 34 Werner, Nicole / Kühnel, Sina / Ortega, Alonso / Markowitsch, Hans J.: Drei Wege zur Falschaussage: Lügen, Simulation und falsche Erinnerungen. In: Menschenwürde in der Medizin: Quo vadis? Hrsg. von Jan C. Joerden / Eric Hilgendorf / Natalia Petrillo / Felix Thiele. Baden-Baden: Nomos, 2012, S. 373 – 391. 35 Borsutzky, Sabine / Fujiwara, Esther / Brand, Matthias / Markowitsch, Hans J.: Confabulations in alcoholic Korsakoff patients. In: Neuropsychologia, 46, 2008, S. 3133 – 3143. 36 Markowitsch, Hans J. / von Cramon / Detlev Y. / Schuri, Uwe: Mnestic performance profile of a

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weiteres Nachbohren sagte er dann: „Ach, wissen Sie, unsere ewigen Querelen mit Frankreich, das hängt einem ja zum Hals raus.“ Und dies, obwohl es im Gespräch eigentlich um die Wiedervereinigung ging. Auf die Frage, wie denn sein Gedächtnis sei, antwortete er: „Ganz normal.“ Und auf die insistierende Nachfrage, ob er nicht doch Probleme damit habe, sagte er, er vergesse Witze schnell und auch seine Träume könne er nicht behalten – Beispiele also, die auch Menschen mit einem gesunden Gedächtnis hätten nennen können. Es gibt bestimmte Hirnregionen, deren Schädigung stark mit dem Auftreten von Konfabulationstendenzen korreliert und andere, die mit dem Auftreten von Fehlerinnerungen verbunden sind.37 Darüber hinaus führen auch somatische und psychische Erschöpfungszustände und ein erhöhtes Stressniveau zu einem Anstieg von Fehlerinnerungen. Fehlerinnerungen kommen im normalen („hirngesunden“) Leben weit häufiger vor, als uns bewusst ist. Wie anfällig man gegenüber Fehlerinnerungen ist, zeigen zum einen Untersuchungen im Rahmen von Gerichtsverfahren, zum anderen solche, bei denen Fehlerinnerungen induziert werden. In den USA hat sich vor allem die Psychologin Elizabeth Loftus mit beiden Bereichen beschäftigt.38 In zahlreichen Studien konnte sie demonstrieren, dass häufig subtile Veränderungen in der Außendarstellung von Szenen ausreichen, um Menschen „aufs Glatteis“ – also zu einer Fehlerinnerung – führen zu können.39 Auch anderen Forschern gelang es durch Manipulationen von Fotos oder Erzählungen, Menschen in ihren Erinnerungen drastisch zu manipulieren. Beispielsweise durch eine Fotomontage, in der ein Familienfoto – Vater und Sohn – in eines einmontiert wurde, das einen Heißluftballonkorb zeigt, worauf der als Kind dargestellte, der sich jetzt

bilateral diencephalic infarct patient with preserved intelligence and severe amnesic disturbances. In: Journal of Clinical and Experimental Neuropsychology 15, 1993, 627 – 652. 37 Borsutzky, Sabine / Fujiwara, Esther / Brand, Matthias / Markowitsch, Hans J. Susceptibility to false memories in patients with ACoA aneurysm. In: Neuropsychologia 48, 2010, S. 2811 – 2 823; Kühnel, Sina / Woermann, Friedrich G. / Mertens, Markus / Markowitsch, Hans J.: Involvement of the orbitofrontal cortex during correct and false recognitions of visual stimuli. Implications for eyewitness decisions on an fMRI study using a film paradigm. In: Brain Imaging and Behavior 2, 2008, S. 163 – 176. 38 Loftus, Elizabeth F. / Davis, Deborah: Recovered memories. In: Annual Review of Clinical Psychology 2, 2006, S. 469 – 498; Schacter, Daniel L. / Loftus, Elizabeth F: Memory and law: what can cognitive neuroscience contribute? In: Nature Neuroscience 16, 2013, 119 – 123. 39 Loftus, Elizabeth F.: Remembering what never happened. In: Memory, consciousness, and the brain. Hrsg. von Endel Tulving. Philadelphia, PA: Psychology Press, 2000, S. 106 – 118. Loftus, Elizabeth F.: Our changeable memories: legal and practical implications. In: Nature Neuroscience 4, 2003, S. 232 – 233. Loftus, Elizabeth: Searching for the neurobiology of the misinformation effect. In: Learning and Memory 12, 2005, S. 1 – 2.

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im Heißluftballon „wiederfand“, in 50  % der Fälle erzählte, wie er sich im Heißluftballon gefühlt hatte, obwohl er nicht im Heißluftballon geflogen war. In einer späteren Studie fanden zwei der Autoren der vorangegangenen Studie heraus, dass eine Erzählung zu mehr Fehlerinnerungen führte als ein Bild.40 Kritisch sind verschollene oder veränderte Erinnerungen insbesondere, wenn es um die Frage des sexuellen Missbrauchs in Kindheit und Jugend geht und Therapeuten diese Thematik von sich aus anstoßen und dadurch möglicherweise Fehlerinnerungen induzieren.41 Inzwischen ist es für Therapeuten nicht mehr lege artis, von sich aus dieses Thema anzusprechen; tun sie es, können sie auf Schadenersatz verklagt werden. Das dies sinnvoll ist, zeigt die Vielzahl von plötzlichen Anklagen durch Töchter, die von bestimmten Religionsgemeinschaften vereinnahmt wurden und nach einer Art Gehirnwäsche den Vater beschuldigen, sie in ihrer Kindheit sexuell missbraucht zu haben.42 Die umgekehrte Thematik des induzierten Vergessens wurde schon im Mittelalter von Lehnsherren gegenüber ihren Untertanen angemahnt.43 Heutzutage beschäftigt sich vor allem die Forschergruppe um Michael Anderson aus Cambridge in Großbritannien damit, Vergessen zu induzieren.44 Dies geschieht vor

40 Wade, Kimberley A / Garry, Maryanne / Read, J. Don / Lindsay, D. Stephen: A picture is worth a thousand lies: using false photographs to create false childhood memories. In: Psychonomic Bulletin and Review, 9, 2002, S. 597 – 603; Garry, Maryanne / Wade, Kimberley A.: Actually, a picture is worth less than 45 words: narratives produce more false memories than photographs do. In: Psychonomic Bulletin and Review, 12, 2005, S. 359 – 366. 41 Read, J. Don / Lindsay, D. Stephen: „Amnesia“ for summer camps and high school graduation: Memory work increases reports of prior periods of remembering less. In: Journal of Trauma and Stress 13, 2000, S. 129 – 147. Markowitsch, Hans J. / Merkel, R: Das Gehirn auf der Anklagebank. Die Bedeutung der Hirnforschung für Ethik und Recht. In: Zukunft Gehirn. Hrsg. von Tobias Bonhoeffer und Peter Gruss. München: C.H. Beck, 2011, S. 210 – 240. 42 Inzwischen existiert in Deutschland schon ein Verein betroffener Eltern. 43 Pritzel, Monika / Markowitsch, Hans J.: Über das Vergessen. Heidelberg: Springer, 2017. 44 Anderson, Michael C. / Green, Collin: Suppressing unwanted memories by executive control. In: Nature 410, 2001, S. 366 – 369; Anderson, Michael C. & Hanslmayr, Simon: Neural mechanisms of motivated forgetting. Trends in Cognitive Sciences 18, 2014, S. 279 – 292; Hulbert, Justin C. / Henson, Richard N. / Anderson, Michael C.: Inducing amnesia through systemic suppression. In: Nature Communications 7, 2016, 11003. doi: 10.1038 / ncomms11003; Murray, Brendan D. / Anderson, Michael C. / Kensinger, Elizabeth A.: Older adults can suppress unwanted memories when given an appropriate strategy. In: Psychology of Aging 30, 2015, S. 9 – 25. Wimber, Maria / Alink, Arjen / Charest, Ian / Kriegeskorte, Nikolaus / Anderson, Michael C.: Retrieval induces adaptive forgetting of competing memories via cortical pattern suppression. In: Nature Neuroscience 18, 2015, S. 582 – 589; Benoit, Roland G. / Anderson, Michael C.: Opposing mechanisms support the voluntary forgetting of unwanted memories. In: Neuron 76, 2012, S. 450 – 460; Detre, Greg J. / Natarajan, Annamalai / Gershman, Samuel J. / Norman, Kenneth A.: Moderate levels of activation lead to forgetting

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allem über Hemmprozesse und Interferenzvorgänge.45 Grundsätzlich wird im gesunden Gehirn kaum etwas vergessen; Informationen werden lediglich unterdrückt, weil andere in den Vordergrund gestellt werden. Ein Beispiel soll dies illustrieren: Wir wissen in der Regel nur unsere aktuelle Festnetznummer, nicht aber unsere vorigen. Würde man Hypnose einsetzen, käme man höchstwahrscheinlich an frühere Nummern heran. Aber auch, wenn man sechs alternative Telefonnummern vorgibt, von denen eine der früheren Nummer entspricht, würde man diese wiedererkennen. Schon Freud differenzierte in seinen späten Schriften zwischen Suppression und Repression.46 Repression wird dabei als ein primär unbewusster Vorgang der Abwehr angesehen, während Suppression sich auf eine aktive, willentliche Unterdrückung von Material bezieht. In diesem Zusammenhang kann man auch auf das Phänomen des abrufinduzierten Vergessens hinweisen.47 Dieses Phänomen besagt, dass der Abruf einer bestimmten (Sub-)Menge an Material oder Items das Vergessen anderer Items oder anderen Materials nach sich ziehen kann. Die am weitesten verbreitete Erklärungsannahme ist, dass Hemmmechanismen bewirken, dass der Zugang zu interferierenden Items oder störendem Material reduziert wird. Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung beschrieb 1905 noch ein weiteres Phänomen, die Kryptomnesie, die er als negativen Wahn des Erinnerns definierte: Fakten (die man über Andere erhielt) verlieren ihre mnestischen Assoziationen

in the think / no-think paradigm. In: Neuropsychologia 51, 2013, S. 2371 – 2388; Paz-Alonso, Petro M. / Bunge, Silvia A. / Anderson, Michael C. / Ghetti, Simone: Strength of coupling within a mnemonic control network differentiates those who can and cannot suppress memory retrieval. Journal of Neuroscience 33, 2013, S. 5017 – 5026; van Schie, Kevin / Geraerts, Elke / Anderson, Michael C.: Emotional and non-emotional memories are suppressible under direct suppression instructions. In: Cognition and Emotion 27, 2013, S. 1122 – 1131. 45 Schilling, Christopher J. / Storm, Benjamin C. / Anderson, Michael C.: Examining the costs and benefits of inhibition in memory retrieval. In: Cognition, 133, 2014, 358 – 370. 46 Langnickel, Robert / Markowitsch, Hans J.: Repression and the unconsciousness. Behavioral and Brain Sciences, 29, 2006, S. 524 – 525; Langnickel, Robert / Markowitsch, Hans J.: Das Unbewusste Freuds und die Neurowissenschaften. Sigmund Freud heute. In: Der Vater der Psychoanalyse im Blick der Wissenschaft und der psychotherapeutischen Schulen. Hrsg. von Anton Leitner und Hilarion G. Petzold. Wien: Krammer Verlag, 2010, S. 149 – 173; Markowitsch, Hans J.: Repressed memories. Memory, consciousness, and the brain: The Tallinn conference Hrsg. von Endel Tulving. Philadelphia, PA: Psychology Press, 2000, S. 319 – 330. 47 Kou, Murayama / Toshiya, Miyatsu / Buchli, Dorothy / Storm, Benjamin C.: Forgetting as a consequence of retrieval: A meta-analytic review of retrieval-induced forgetting. In: Psychological Bulletin 140, 2014, S. 1383 – 1409.

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und werden, wenn sie wieder erinnert werden, als eigene Gedanken identifiziert.48 Jung bezeichnete Kryptomnesie als „versteckte Erinnerungen“; er meinte, dass kein noch so kleiner Eindruck aus dem Gedächtnis verloren geht, obwohl das Bewusstsein mit unzähligen Verlusten vorangegangener Ereignisse arbeitet. Mit dieser Ansicht unterstrich er – wohl unwissentlich – was spätere Forscher unter dem Phänomen der Hypermnesie oder Hyperthymesie offenlegten.

2.2 Hypermnesie Das „Nicht-vergessen-Können“ stellt das Gegenstück des gewohnten Phänomens, Informationen aktuell nicht mehr abrufen zu können, dar. Evidenzen für die These, dass wir nicht vergessen, sondern nur zu bestimmten Zeitpunkten nicht an abgespeichertes Material herankommen, bieten erst im hohen Alter wiederkehrende Erinnerungen und nach Dekaden wieder auftretendes Abrufen von in Kindheit und Jugend angeeignetem Wissen. Das folgende Beispiel ist ein Auszug aus einem Brief, der dies belegt und den eine alte Dame einem von uns (H.J.M) vor Jahren zuschickte: Ich hielt mich für sehr vergesslich, was zeitennahe Dinge betrifft. Nun wurde ich an Bismarcks Geburtstag 93 Jahre alt. Und erst im Laufe der letzten zwei Jahre fallen mir Gedichte ein, die ich vor 75 bis 80 Jahren in der Schule lernte und zwar lückenlos, teils lange Gedichte, wie „Die Bürgschaft“ von Schiller oder „Des Sängers Fluch“ von Uhland. Nie habe ich in der langen Zwischenzeit an all die Literatur aus dem Schulunterricht gedacht! Ich habe zwar ein sehr bewegtes, abwechslungsreiches Leben hinter mir, bei meinem hohen Alter begreiflich: Schulabschlussprüfungen, Tanz, Theater, Reisen, Praktikantenjahre, Heirat, zwei Kinder, Umzüge, zwei Kriege und Hungersnöte, mein Mann vier Jahre im Krieg, gleichzeitig das zweite Kind geboren, furchtbare Fliegerangriffe mit Tochter und Baby, Wohnungsverlust, elf Jahre Notwohnung, dann Neubau mit großem Garten, Schulaushilfen noch mit 60 Jahren, Tod meines Mannes, hier eine Kleinwohnung, eine Operation, schmerzhafte Alterskrankheiten, Gehunfähigkeit, Rollstuhl, schöne Reisevorträge über Auslandsreise mit meinem Mann. Und nun ohne eine Veranlassung fallen mir erstmals wieder so viele Gedichte ein, nach 75 bis 80 Jahren. So lange kann ein Gehirn speichern, unbewusst? Meine Leute wundern sich auch, dass ich von frühester Kindheit an noch ganz deutlich Wohnungen und Umgebung vor mir sehe, an zwei Orten, wo ich nur vor meinem sechsten Lebensjahr war.“

48 Jung, Carl Gustav: Kryptomnesie. In: Die Zukunft 13, 1905, S. 103 – 115.

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Ähnliche Beispiele betreffen Erinnerungen alter Menschen an eine Sprache, die sie nur in der Kindheit sprachen und meinten, inzwischen vergessen zu haben oder die Fähigkeit, Liedtexte wieder singen zu können, die über das gesamte erwachsene Leben wahrscheinlich nie wieder abgerufen worden waren.49 Dass unser Gedächtnis erstaunliches zu leisten vermag, ist seit alters her bekannt und wurde immer wieder – so in Max Offners Buch „Das Gedächtnis“ (1924) – beschrieben. Während diese Beispiele zeigen, dass wir wohl tatsächlich wenig vergessen, solange unser Gehirn einigermaßen intakt ist, zeigen Hypermnestiker, dass manche Menschen sich aktiv an unzählige Ereignisse erinnern können, denen sie tagtäglich während ihres Lebens begegnet sind. Schon 1885 schrieb August Forel über derartige Hypermnestiker, wobei er auf die eidetischen Fertigkeiten von manchen von ihnen hinwies: „sie speichern alle sensorischen Eindrücke als ob sie photographiert wären“.50 Er schlussfolgerte, dass das unbewusste Gedächtnis in der Tat kolossal entwickelt wäre.51 Hypermnestiker sind immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Abhandlungen. Beispielsweise beschrieb Alexander Luria – einer der berühmtesten Neuropsychologen des letzten Jahrhunderts –in „The mind of a mnemonist: A little book about a vast memory“ (1968)52 einen Journalisten, den sein Chef zur Rede stellte, weil er sich nie Notizen machte und seinem Chef auf eine diesbezügliche Frage antwortete, er könne sich alles im Kopf merken. Der konsternierte Chef schickte ihn daraufhin zum Psychologen (Luria), der seine exzeptionelle Memorierungsfähigkeit bestätigte. Daraufhin wechselte der Journalist seinen Beruf und verdingte sich als Gedächtniskünstler. Luria beschreibt sein Leben als für ihn wenig glücklich und wenig zufriedenstellend. Er resümiert in der deutschsprachigen Ausgabe: So blieb er denn ein unsteter Mensch, ein Mensch, der sich in Dutzenden von Berufen versuchte, die alle nur „vorübergehend“ waren. Er erfüllte die Aufträge des Redakteurs, er trat in die Musikschule ein, er spielte auf der Bühne, war Rationalisierungsexperte, später dann Gedächtniskünstler. Eines Tages besann er sich darauf, dass er das Althebräische und Aramäische beherrschte, und begann, sein Wissen aus den alten Quellen schöpfend, andere Menschen mit Kräutern zu behandeln.53

49 Offner, Max: Das Gedächtnis. Die Ergebnisse der experimentellen Psychologie und ihre Anwendungen in Unterricht und Erziehung. Berlin: Reuther & Reichard, 1924. 50 Forel, August: Das Gedächtnis und seine Abnormitäten. Zürich: Orell Füssli & Co, 1885, S. 43). 51 Ebd., S. 44. 52 Luria, Alexander R.: The mind of a mnemonist: A little book about a vast memory. New York: Basic Books, 1968. 53 Lurija, Alexander R.: Der Mann, dessen Welt in Scherben ging. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1971.

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Vor einigen Jahren wurde Jill Price als Hypermnestikerin durch die Veröffentlichung ihres Buches bekannt, in dem sie ihr Krankheitsbild beschreibt.54 Zuvor hatte sie sich in einem Brief an den Psychologieprofessor James McGaugh gewandt. In diesem Brief schrieb sie u. a. Folgendes: Ich hoffe, sie können mir helfen. Ich bin 34 Jahre alt und seit ich 11 war habe ich diese unglaubliche Fähigkeit, mich an meine Vergangenheit zu erinnern. Ich kann ein [x-beliebiges] Datum nehmen und Ihnen sagen, auf welchen Wochentag es fällt, was ich an dem Tag tat und ob sich etwas Besonderes an dem Tag ereignete (z. B. die Challenger-Explosion am Dienstag, dem 28. Januar 1986). Wenn im Fernsehen ein Datum gezeigt wird, gehe ich im Geist automatisch dahin zurück und erinnere mich, wo ich da war, was ich tat, auf welchen Wochentag das Datum fiel und so weiter, und so weiter. Es ist Nonstopp, nicht kontrollierbar und erschöpft mich völlig. Manche Leute nennen mich einen menschlichen Kalender während andere in völliger Furcht aus dem Zimmer stürmen, aber die Reaktion, die ich von Allen bekomme, die am Ende von meinem „Gottesgeschenk“ erfahren, ist totales Erstaunen. Dann bewerfen sie sich mit Daten um mich zu überfragen … aber ich wurde bis jetzt nicht überfragt. Die meisten nennen es ein Geschenk, aber ich betrachte es als Bürde. Ich lasse täglich mein ganzes Leben durch meinen Kopf laufen und es macht mich verrückt!!!“ 55

Ein weiterer Erfahrungsbericht aus unserer Forschung geht auf einen Hypermnestiker zurück, der von sich behauptete, er überträfe in seinen Erinnerungsleistungen die von Jill Price, weil diese, wie er sagte, Tagebuch führte, was er wiederum nicht tat.56 Auch er fühlte sich eher nicht sonderlich zufrieden mit seinem Leben. Um seine Hypermnesie zu testen, gaben wir ihm und einer Vergleichsgruppe eine Aufgabe, bei der sie sich an öffentliche Ereignisse erinnern sollten. Hier war er der Vergleichsgruppe klar überlegen, wenngleich er in einer Reihe anderer kognitiver Funktionen nur durchschnittliche Leistungen zeigte. Eine funktionelle Hirnbildgebungsstudie, die wir mit ihm durchführten, ergab, dass er grundsätzlich solche Hirnregionen rekrutierte, wie es auch die Kontrollgruppe tat, er dies aber quasi „ausführlicher“ tat und stärkere Stirnhirnaktivitäten als die Kontrollgruppe zeigte.

54 Price, Jill: Die Frau, die nichts vergessen kann – Leben mit einem einzigartigen Gedächtnis. Aus dem amerikanischen Englisch von Maren Klostermann. Stuttgart: Kreuz-Verlag, 2009, S. 35 [deutsche Übersetzung von H.J.M und A.S.]. 55 Parker, Elizabeth S. / Cahill, Larry / McGaugh, James L.: A case of unusual autobiographical remembering. In: Neurocase 12, 2006, 35 – 49. 56 Fehr, Thorsten / Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J. / Erhard, Peter / Herrmann, Manfred: Neural correlates of free recall of „famous faces“ in a „hypermnestic“ individual as compared to an age- and education-matched reference group. BMC Neuroscience 19, 2018, Art. 35. https://doi. org/10.1186/s12868-018-0435-y.

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Hyperthymesie ist ein Faktum, die Gründe dafür liegen allerdings im Dunkeln, genauso wie die Gründe dafür, dass es Menschen gibt (sogenannte Savants), die trotz sehr niedriger Intelligenzquotienten ganz außerordentliche Rechenleistungen („Inselbegabungen“) zeigen. Sie können beispielsweise blitzschnell sagen, wann Ostern 1598 war und wann es im Jahre 2067 sein wird.57 Häufig handelt es sich um Synästhetiker.58

2.3 Dissoziative Amnesien, Stress und Traumata – typische Fälle Wie oben beschrieben gibt es Fälle mit retrograder Amnesie – die vorherrschende Variante – und Fälle mit anterograder Amnesie – die seltene Variante. Ein typischer Fall mit retrograder Amnesie ist der eines 16-jährigen Mädchens, das in den ersten 12 Lebensjahren erfolgreich die Schule besuchte mit dem Ziel, Ärztin zu werden. Als 12-Jährige stürzte sie im Sportunterricht von einer Schülerinnenpyramide und musste in eine Rehabilitationsklinik. Dort fiel sie Steintreppen hinunter und wurde daraufhin retrograd amnestisch. Später hatte sie noch einen weiteren unverschuldeten Unfall. Nach dem zweiten Unfall war sie nicht nur retrograd amnestisch hinsichtlich ihres Lebens und hinsichtlich schulbezogener Inhaltsstoffe, sondern sie bekam auch eine rein psychisch bedingte Lähmung ihres rechten Armes (Konversionssyndrom). Nach dem letzten Unfall kamen – auch wieder psychisch bedingt – Miktionsstörungen hinzu: Sie konnte nicht mehr urinieren und musste von ihrer Mutter über Monate katheterisiert werden. Sie war inzwischen (nach ihrer Aussage und den Testergebnissen) nicht mehr in der Lage, bis 11 zu zählen – ihr Zahlenraum ging lediglich bis zehn. Ein anderer Fall betraf einen 12-jährigen Jungen, der sich in der Schule mit anderen Kindern gestritten hatte und danach retrograd amnestisch wurde. Er hatte eine etwas „bunte“ Vergangenheit hinter sich mit einem Umzug ins Ausland, fremdsprachigem Kindergarten und Eltern, die verschiedenen Nationen angehör-

57 Markowitsch, Hans J.: Intellectual functions and the brain. Toronto: Hogrefe, 1992; Ho, Eric D. F. / Tsang, Adolf K. T. / Ho, David Y. F.: An investigation of the calendar calculation ability of a Chinese calendar savant. In: Journal of Autism and Developmental Disorder 21, 1991, S. 315 – 327; Dubischar-Krivec, Anna Milena / Neumann, Nicola / Poustka, Fritz / Braun, Christoph / Birbaumer, Niels / Bölte, Sven: Calendar calculating in savants with autism and healthy calendar calculators. In: Psychologial Medicine 39, 2009, S. 1355 – 1363. 58 Bor, Daniel / Billington, Jac / Baron-Cohen, Simon: Savant memory for digits in a case of synaesthesia and Asperger syndrome is related to hyperactivity in the lateral prefrontal cortex. In: Neurocase 13, 2007, S. 311 – 319.

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ten. Inwieweit diese Faktoren Auslöser für die Amnesie waren, ist nicht zu klären gewesen. Während diese Fälle noch vor dem Erwachsenenalter auftraten, sind die meisten Patienten älter, wenngleich häufig noch eher in der 3. oder 4. Lebensdekade. Zwei Patienten mit untypischer, anterograder Amnesie hatten die gleiche Konstellation sogenannter Triggerfaktoren: Bei der jüngeren Patientin waren dies zwei kurz hintereinander auftretende Schleudertraumata, bei dem älteren Patienten zwei hintereinander, aber im Abstand von mehreren Jahren auftretende leichte Kopfverletzungen. Die zum Zeitpunkt des Amnesiebeginns 24-jährige Jurastudentin wurde massiv anterograd amnestisch, während ihre retrograde Erinnerungsfähigkeit überdurchschnittlich gut blieb.59 In einer Untersuchung wurden für sie mehrere Fragen ausgearbeitet, die nachweisen sollten, ob sie tatsächlich trennscharf ab einem Datum im August 1994 keine Erinnerungen – auch nicht an Fakten – hatte, sich aber umgekehrt an die Zeit unmittelbar davor erinnern konnte. Dies konnte bestätigt werden. Auch wenn es um Personen ging, die mehrfach öffentlich in Erscheinung traten, nannte sie das Ereignis, das vor September 1994 stattgefunden hatte, nicht aber das aus der Zeit danach. Beispielsweise wusste sie, dass Christo Bäume an der Seine eingewickelt hatte, nicht aber, dass er den Reichstag eingehüllt hatte. Oder sie wusste, dass Philip Reemtsma die Hamburger Hafenstrasse aufgekauft hatte, nicht aber, dass er (1997) entführt worden war. Durch ihre Amnesie – die bis heute anhält – ist sie in ihrem Leben massiv eingeschränkt, lebt als inzwischen rund 50-jährige Frau bei ihrer über 80 Jahre alten Mutter und verbringt die Tage mit dem Malen von Weihnachtsbildern, mit Spaziergängen im nahgelegenen Park und mit Recherchen am Computer. Außerdem schreibt sie Tagebuch, was sie jeden Morgen nachliest. Ihre Intelligenz war zu zwei Testzeitpunkten – drei und fünf Jahre nach Amnesieausbruch – überdurchschnittlich. Auch hatte sie ein überdurchschnittlich gutes Gedächtnis für einen Zeitraum von ein bis vier Stunden (je nach kognitiver Belastung), sodass sie in Standardtestverfahren, die zur Gedächtnismessung eingesetzt werden, ebenfalls überdurchschnittlich gute Werte aufwies. (Standardtestverfahren messen das Gedächtnis für maximal die zurückliegende halbe Stunde.) Mit ihrem persönlichen Leben haderte sie nicht. Sie sagte, sie wolle auch keine Beziehung zu einem Mann, da dies ja doch nur ein One-Night-Stand wäre, weil sie ihn wieder vergessen würde. Diese Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst findet sich bei vielen Patienten mit dissoziativen Amnesien und wurde schon vor

59 Markowitsch, Hans J. / Kessler, Josef / Kalbe, Elke / Herholz, Karl: Functional amnesia and memory consolidation. A case of persistent anterograde amnesia with rapid forgetting following whiplash injury. In: Neurocase 5, 1999, S. 189 – 200.

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fast anderthalb Jahrhunderten von Pierre Janet als „belle indifference“60 bezeichnet. Gemeint ist damit eine Lässigkeit oder Nachlässigkeit bezüglich der eigenen Situation, die für den Außenstehenden unverständlich und nicht nachvollziehbar ist. Diese „belle indifference“ hat wohl auch bewirkt, dass sich ihre Situation bis heute nicht verändert hat und sie kein Interesse an einer Therapie zu haben scheint. Ernster sah ein rund 50-jähriger Mann seine ebenfalls anterograde Amnesie – wohl auch weil Frau und Töchter unter seiner jahrelangen Untätigkeit und seinem Zustand litten.61 Er hatte ebenfalls einen typischen Leidensweg, der zu Amnesie führen kann: Als eines von neun Kindern hatte er als Neunjähriger seine Familie in Osteuropa zu verlassen und zu Verwandten in die damalige DDR zu gehen. Dort hatte er die deutsche Sprache zu erlernen und avancierte später zum Ingenieur. Nach dem Mauerfall verlor er seine Anstellung als Ingenieur und musste eine Tätigkeit als Zigarettenverteiler für Automaten annehmen. Er hasste diese Arbeit und er hasste Zigaretten, wie sie seine Frau sagte. Zweimal im Abstand von mehreren Jahren unterlief ihm das gleiche Missgeschick: Beim Befüllen der Automaten fielen einzelne Schachteln zu Boden. Als er sich bückte und wieder aufstehen wollte, war die Automatentür weiter aufgegangen und er stieß sich den Kopf an ihr und verlor wohl kurzfristig das Bewusstsein. Als er wieder zu Bewusstsein kam, meinte er, man habe ihn wohl bestohlen und Zigaretten, Geld und möglicherweise auch das Auto seien weg. Beide Male war nichts davon eingetreten, aber nach dem zweiten Geschehnis, wurde er nach kurzem Krankenhausaufenthalt anterograde amnestisch und blieb über Jahre in diesem Zustand. Auch bei ihm, wie auch bei einer kalifornischen Patientin,62 lag seine Gedächtnisspanne bei maximal vier Stunden. Es ist bislang unbekannt, welche Hirnmechanismen diese Zeitepoche repräsentieren könnten. Andere Fälle mit retrograder Amnesie symbolisieren das typische Muster: Missbrauch, Vergewaltigung oder Misshandlungen in der Kindheit, die offensichtlich zu einer eher schwachen Persönlichkeitsentwicklung führten und damit die Betroffenen als Erwachsene anfällig gegenüber weiteren Stresserlebnissen machten, was

60 Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Functional (dissociative) retrograde amnesia. In: Handbook of clinical neurology (3rd series): Functional neurological disorders. Hrsg. von Mark Hallett / Jon Stone / Alan Carson. Amsterdam: Elsevier, 2016. S. 419 – 445; Reinhold, Nadine / Markowitsch, Hans J.: Retrograde episodic memory and emotion: a perspective from patients with dissociative amnesia. In: Neuropsychologia 47, 2009, S. 2197 – 2206. 61 Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: The impairment of recollection in functional amnesic states. In: Cortex 49 2013, S. 1494 – 1510. 62 Smith, Christine N. / Frascino, Jennifer C. / Kripke, Donald L. / McHugh, Paul R. / Treisman, Glenn J. / Squire, Larry R.: Losing memories overnight: A unique form of human amnesia. In: Neuropsychologia 38, 2010, S. 2833 – 2 840.

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dann häufig lang anhaltende Amnesien als Konsequenz hatte.63 Migration und nachfolgende Probleme mit Sprache und Beruf im neuen Land scheinen dabei die Anfälligkeit für dissoziative Störungen zu erhöhen.64 Die Autobiografie der Ärztin und Psychotherapeutin Angelika Berning mit dem Titel „Die Hölle liegt hinter mir“65 belegt eindrucksvoll, wie eine „verkorkste“ Kindheit sich auf die Entwicklung und das spätere Leben auswirken kann. Sie zeigt aber auch, dass selbst in solchen Fällen noch Auswege existieren können, wenngleich man leider eher selten mit derartigen günstigen kompensatorischen Mechanismen rechnen kann, wie sie in ihrem Fall auftraten.

3. Schlussfolgerungen Dissoziative Amnesien stellen als Krankheitsbild ein besonderes Zustandsbild für verschollene, nicht mehr verfügbare, biografische Inhalte dar. Sie demonstrieren gleichzeitig die Verwobenheit von Umwelt und Psyche.66 Anhaltend negative Umwelteinflüsse können Erinnerungen blockieren und eventuell sogar nach

63 Markowitsch, Hans J. / Fink, Gereon R. / Thöne, Angelica I. M. / Kessler, Josef / Heiss, Wolf-Dieter: Persistent psychogenic amnesia with a PET-proven organic basis. In: Cognitive Neuropsychiatry 2, 1997, S. 135 – 158. Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J.: Towards solving the riddle of forgetting in functional amnesia: Recent advances and current opinions. In: Frontiers in Psychology 3, 2012, Article 403, S. 1 – 23. Staniloiu, Aangelica / Markowitsch, Hans J. / Kordon, Andreas: Psychological causes of amnesia: A study of 28 cases. In: Neuropsychologia 110, 2018, S. 134 – 147. 64 Staniloiu, Angelica / Wahl-Kordon, Andreas / Markowitsch, Hans J.: Dissoziative Amnesie und Migration. Zeitschrift für Neuropsychologie / Journal of Neuropsychology 26, 2017, S. 81 – 95; Staniloiu, Angelica / Bender, Ash / Smolewska, Kathy / Ellis, Janet / Abramowitz, Carolyn / Markowitsch, Hans J.: Ganser syndrome with work-related onset in a patient with a background of immigration. Cognitive Neuropsychiatry 14, 2009, S. 180 – 198. 65 Berning, Angelika: Die Hölle liegt hinter mir. Norderstedt: Books on Demand, 2017. 66 Brand, Matthias / Markowitsch, Hans J.: Environmental influences on autobiographical memory: The mnestic block syndrome. In: Memory, aging, and brain. Hrsg. von Lars Bäckman und Lars Nyberg. New York: Psychology Press, 2010, S, 229 – 264; Markowitsch, Hans J. / Piefke, Martina P.: Umwelt-induzierte Gedächtnisstörungen: Neuronale Korrelate für die Auswirkung von Stress auf die Erinnerung. In: Neurokognition der Sprache. Hrsg. von Horst M. Müller und Gert Rickheit. Tübingen: Stauffenberg, 2002, S. 299 – 318; Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Dissoziative Amnesie. In: Psychologische Medizin 26, 2015, S. 3 – 14; Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Gedächtnis und Dissoziation. In: Dissoziation und dissoziative Störungen. Hrsg. von Carsten Spitzer und Annegret Eckhardt-Henn. Stuttgart: Thieme, 2017, S. 173 – 185.

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Jahrzehnten in Demenzzustände münden.67 Nicht über sich und seinen psychischen Zustand reden können, beeinträchtigt die Persönlichkeit eines Menschen erheblich. Um mit Endel Tulving68 zu sprechen, wird aus einem sich seiner selbst bewussten (autonoetisch handelnden) Menschen ein Automat, ein nur noch noetisch agierender Mensch. Dieses Phänomen findet sich in weniger ausgeprägter Form als beim Krankheitsbild der Dissoziativen Störungen bei Kindern, die missbraucht oder negiert wurden.69 Derartige Kinder berichten emotionslos, neutral und wenig detailliert über ihre persönlichen Erlebnisse. In analoger Weise lässt sich diese overgeneral memory effect genannte Veränderung bei Patienten mit Demenz nachweisen, die ebenfalls umso blander und detailarmer über ihre Vergangenheit berichten, je stärker die Krankheit fortschreitet.70 Erinnerungen stellen folglich ein sehr fragiles Gut unserer Persönlichkeit dar; verändern sie sich, verändert sich unser Selbst und der Zugang zu unserem Ich. Deswegen ist es wichtig, unsere psychische Gesundheit und unser mentales Wohlbefinden im Auge zu haben.

67 Staniloiu, Angelica / Markowitsch, Hans J. Understanding psychogenic amnesia and psychiatric disorders as causes of dementia. Journal of General Medicine 22, 2010, S. 41 – 49. 68 Tulving, Endel: Episodic memory and autonoesis: Uniquely human? In: The missing link in cognition: Self-knowing consciousness in man and animals. Hrsg. von Herbert S. Terrace und Janet Metcalfe. New York: Oxford University Press, 2005, S. 3 – 56. 69 Valentino, Kristin / Toth, Sheree L. / Cicchetti, Dante: Autobiographical memory functioning among abused, neglected, and nonmaltreated children: the overgeneral memory effect. Journal of Child Psychology and Psychiatry, 50, 2009, S. 1029 – 1038. 70 Seidl / Markowitsch / Schröder, Die verlorene Erinnerung. 2006.

Carsten Gansel

Zur ‚Kategorie Störung‘ – Theorie und Praxis 1. Einleitung Am 08. August 2014 brachte die Tageszeitung „Die Welt“ eine Nachricht, die die Kunstsammlung Neubrandenburg betraf. Hier hatten Feuerwehrmänner sich angeschickt ein Objekt zu entsorgen, das sie nicht der Kunst zurechnen konnten. „Was für Joseph Beys und Martin Kippenberger die Putzfrauen waren, sind für Holger Stark die Feuerwehrmänner. Kunstnichtkenner, die mit den besten Absichten zu Kunstvernichtern werden“, notierte Barbara Möller.1 Es war eine Installation von Holger Stark, die zum Störfall wurde und bundesweit Aufsehen erregte. Die Installation, die sich dem Betrachter zunächst als eine Sammlung von Abfallholz präsentierte, durchbrach scheinbar die Glasfront zum großen Ausstellungsraum

Abbildung 1: Holger Stark, Installation Kunstsammlung Neubrandenburg (Foto: Carsten Gansel)

1 Möller, Barbara: Das ist Kunst. Das kann nicht weg! In: Welt online vom 08.08.2014 http:// www.welt.de/kultur/article130938785/Das-ist-Kunst-Das-kann-nicht-weg.html (Letzter Zugriff am 08.10.2014). Der vorliegende Beitrag wurde erstmals in dem vom Verfasser herausgegebenen Heft 2/2014 der Mitteilungen des DGV publiziert. Er wird hier in unveränderter Form abgedruckt. https://doi.org/10.1515/9783110683028-011

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der Kunstsammlung Neubrandenburg. Das 17 Meter lange und bis zu vier Meter breite Kunstobjekt, das aus vielen Holzresten bestand, hatte seit Juli eine so nicht erwartete Aufstörung provoziert. Die Installation wurde als Gefahrenherd eingestuft, und es war aus sicherheitstechnischen Gründen der Abbau, ja die Zerstörung gefordert worden. Stark hatte die Installation nicht ohne Hintersinn mit „Risiko“ betitelt. Letztlich konnte ein Kompromiss erzielt werden, Museumsmitarbeiter machten Überstunden und ein Sponsor, die Mecklenburgische Versicherungsgruppe, sicherte eine Bewachung des Objekts. Am 1. September bauten Holger Stark und sein Team die Kunst-Installation wieder ab. Nach der Aufstörung folgte mithin die Entstörung, die Kunstsammlung wurde in ihren Normalzustand versetzt und die Wogen der öffentlichen Erregtheit verschwanden. Es ist die Vermutung nicht unangebracht, dass die Installation in einem Hinterhof von Neubrandenburg oder Gießen keinerlei Erregungen ausgelöst hätte, was den Schluss zulässt, dass in diesem Fall das Zusammenspiel von Materialität (Holzreste) und Ort der Präsentation (Kunstsammlung) für die Störung verantwortlich waren. Die Aufstörungen um die Kunstsammlung Neubrandenburg zeigen – systemtheoretisch argumentiert –, dass autopoietische Systeme über strukturelle Kopplungen sporadisch von Einwirkungen betroffen sind und das „Bewusstsein das soziale Kommunikationssystem oder das Gehirn ständig mit Irritation versorgt“ wird.2 Ganz im Sinne von Niklas Luhmann hatte das irritierende Kunstobjekt einen „Informationsverarbeitungsprozess in Gang“ gesetzt, „der im System operativ gehandhabt“ wurde. Das ist ein gänzlich ‚normaler‘ Vorgang, denn psychische Systeme reagieren auf Störungen, indem sie die Wahrnehmung auf die entsprechende Störstelle lenken und sie zum Gegenstand von Kommunikation machen: „Man fragt zurück, man thematisiert eine Störung“.3 Mögliche Irritationen bzw. Störungen ergeben sich immer aus einem „internen Vergleich“ der noch nicht gekannten Phänomene bzw. Ereignisse mit den bislang im System „etablierten Strukturen, mit Erwartungen“.4 Die jeweilige Irritation verweist zuallererst auf das je eigene System. Daher ist der vereinfachten Vorstellung zu widersprechen, Störungen würden in der Umwelt des Systems existieren. Luhmann betont, dass es „keinen Transfer von Irritation aus der Umwelt in das System“ gibt. Es handelt sich vielmehr immer, „um ein systemeigenes Konstrukt, immer um Selbstirrita-

2 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie. 3. Aufl. Heidelberg: Carl Auer 2006, S. 124. 3 Ebd., S. 127. 4 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Bde. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 118.

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tion – freilich aus Anlaß von Umwelteinwirkungen“.5 Mithin sind Störungen durch eine System-zu-System-Beziehung gekennzeichnet. Ob die Störung im Falle des Kunstobjektes „Risiko“ dann im weiteren bei den Vertretern der Stadtverwaltung eine Selbstreflexion, also eine System-zu-System-Beziehung eingeleitet hat, ist nicht bekannt. Merete Cobarg, die Leiterin der Kunstsammlung Neubrandenburg, allerdings war über das mediale Interesse durchaus erfreut, weil durch die Aufstörung die aktuelle Ausstellung zu „Fünf Positionen der Gegenwart“ eine breite Resonanz gefunden hatte und bei einer Podiumsdiskussion über „Risiko“ intensiv über Kunst diskutiert wurde. Zu danken war dies der medialen Verstärkung, die ein Ereignis, das eigentlich konkret lokal verortet war, weit darüber hinaus wahrnehmbar machte. Der Vorgang bestätigt einmal mehr das Prinzip der Selektivität von Nachrichten, die in modernen Informationsgesellschaften – wie Luhman zu Recht betont – keine „Punkt-für-Punkt-Korrespondenz zwischen Information und Sachverhalt, zwischen der operativen und der repräsentativen Realität“ möglich machen.6 Für die Auswahl bzw. Selektion der Nachrichten – dies entspricht ihrer Systemlogik – gelten entsprechend Parameter wie a) Überraschung und Neuheit, b) Konflikthaftigkeit und Spannung, c) lokaler Bezug, d) Normverstoß sowie e) Aktualität. Vor allem Normverstöße erlangen besondere Beachtung, und dies gilt bevorzugt für „Rechtsverstöße, vor allem aber für Moralverstöße, aber neuerdings auch für Verstöße gegen ‚political correctness‘“.7 Zu der in Rede stehenden Kunstinstallation „Risiko“ wird man vermuten können, dass sie für die Stadtverwaltung eine Art Rechtsverstoß darstellte, da die Vorgaben für die Lagerung von Altholz nicht eingehalten und die öffentliche Sicherheit gefährdet schien. Die überregionalen Medien wiederum interessierte der Vorfall, weil er als Normverstoß ein überraschendes und konflikthaftes Potential besaß. Nun war es der Kunstsammlung gar nicht explizit darum gegangen, eine Aufstörung zu provozieren und sich in die permanenten Versuche einzureihen, Aufmerksamkeit zu erlangen. Gleichwohl zeigt das Ergebnis, dass die mediale Wahrnehmung einer Störung von vielen Faktoren (räumlichen, zeitlichen, politischen, historischen) abhängt. In jedem Fall ist die Intensität des Normverstoßes wie der jeweiligen Grenzüberschreitung maßgeblich dafür, ob und inwieweit die Störstelle zum Gegenstand von Kommunikation wird.8 Bei der Erzeugung

5 Ebd. 6 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 4. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag 2009, S. 41. 7 Ebd., S. 44. 8 Vgl. Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Gansel, Carsten /  Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin/ Boston: de Gruyter 2013, S. 31 – 56.

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wie Wahrnehmung von Störungen lassen sich – das Beispiel zeigt es – durchaus gewisse Muster ausmachen. Es beginnt a) mit der Irritation, der Überraschung, der Normverletzung bzw. der Grenzüberschreitung, darauf folgen b) Erkennen, Enthüllung und gegebenenfalls Verstärkung, es schließen sich c) Kommunikation, Empörung und Anklage an, auf die d) Begründung, Kommentar, Beichte oder standfestes Beharren folgen können, bevor e) der Konflikt ‚entstört‘ und von der Agenda verdrängt wird, wonach schließlich das Vergessen einsetzt. Dabei werden einerseits die Halbwertzeiten für Aufstörungen in der Gegenwart zunehmend geringer – es hängt also von der Intensität der gesamtgesellschaftlichen Erregung ab, ob sich etwas in das kollektive Gedächtnis einschreibt –, andererseits ist in Zeiten des Internets das Vergessen kaum noch möglich. Mit einiger Wahrscheinlichkeit sind auch noch in einigen Jahren Spuren der Aufstörung durch die Installation „Risiko“ im Internet zu finden. Der skizzierte Vorgang um die Kunstsammlung ist ein Beleg dafür, wie durch ein Kunstobjekt der „gesellschaftliche Normalismus“9 aufgestört wurde. Ausgehend davon soll es nachfolgend darum gehen, weitere Aspekte zur Theoretisierung der ‚Kategorie Störung‘ zu ergänzen, und ihre Produktivität für das Handlungs- und Symbolsystem Literatur zu betonen. Daran anschließend soll am Beispiel ausgewählter Texte von Peter Härtling und Jenny Erpenbeck gezeigt werden, welche Möglichkeiten es gibt, verstörende Lebenserfahrung – es geht um erlittene Traumata – literarisch zu konfigurieren.

2. Störungen und „Relevantwerden des Mediums“ Man wird einwenden, dass die Installation „Risiko“ von Rainer Stark eine Irritation bzw. Störung vor allem bei jenen provoziert hat, denen nicht bewusst ist, dass das Durchspielen von Störungen zu den Regularitäten des ‚Systems Kunst‘ gehört. Als Teilbereich des ‚Systems Kultur‘ handelt es sich beim ‚System Kunst‘ in der Tat um einen jener „Dritten Räume“ (third space) ungebändigter Kommunikation,10 in bzw. auf denen es zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und der Aushandlung von gesellschaftlichen Toleranzgrenzen kommt. Insofern ist das ‚System Kultur‘ über Grenzen definiert, die „nicht nur Ordnung und Chaos, sondern auch Eigenes und Fremdes, Hier und Dort, befriedete und feindliche Sphären trennen“.11

9 Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. 3., ergänzte, überarbeitete und neu gestaltete Ausgabe. Göttingen: V&R 2006. 10 Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg 2000. 11 Böhme, Hartmut: Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). – Zur historischen Semantik des Kul-

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Kulturelle Zwischenräume lassen sich somit auch als ‚Räume der Störung‘ beschreiben. In allen Gesellschaften, so hat bereits der Kulturanthropologe Victor Turner festgestellt, gibt es liminale Bereiche, in denen die Entstrukturierung von Ordnung und das Durchspielen von Störungen in spezifischer Weise geprobt werden.12 In Gestalt von Kunst, Musik und Literatur leisten sich Gesellschaften gewissermaßen mediatisierte Strukturen, deren ‚Störcharakter‘ toleriert, in unterschiedlichem Maße kontrolliert und in differenter Skalierung erwünscht ist. Als kommunikative Konfliktzonen werden kulturelle Zwischenräume wiederum von Akteuren bevölkert, die über medial oder performativ sublimierte Formen des Aufstörens dazu beitragen, den Prozess gesellschaftlicher Selbstverständigung voran zu treiben. Handlungsrollen und Kulturpraktiken des Störens machen in diesem Bereich modellhaft wie stellvertretend das Infragestellen und Überschreiten der temporär gesetzten Toleranzgrenzen von Systemen möglich. Mit anderen Worten: Kulturelle Zwischenräume sind der bevorzugte Ort, in dem Störungen offenbar und gegebenenfalls symbolisch ausgehandelt werden. Die Tatsache, dass Störungen in der Lage sind, eingeschliffene Denk- und Verhältnisdispositionen aufzubrechen und Neuerungen in Gang zu bringen, unterstreicht einmal mehr, wie fragwürdig es ist, die Kategorie ‚Störung‘ bevorzugt in Verbindung mit Devianz, Dysfunktion, Unfall zu bringen. Neuere epistemologische und semiologische Definitionen verändern bzw. erweitern denn auch diese eingeschränkte Perspektive und untersuchen die Kategorie der Störung in ihrer Eigenschaft als einer Grundvoraussetzung von Kommunikation und als „zentrales Verfahren der sprachlichen Sinnproduktion“.13 Ludwig Jäger hat treffend herausgearbeitet, wie durch das permanente Wechselspiel von Störimpuls und ‚transkriptiver‘ Bearbeitung Kommunikationsprozesse angeregt und ihnen eine selbstreflexive Dimension eingezogen wird, also Kommunikation über Kommunikation möglich macht. Entsprechend fasst Jäger Störung wie folgt: Störung soll also […] jeder Zustand im Verlauf einer Kommunikation heißen, der bewirkt, dass ein Medium (operativ) seine Transparenz verliert und in seiner Materialität wahrgenommen

turbegriffs. In: Literaturwissenschaft – Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven. Hrsg. von Renate Glaser und Matthias Luserke. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 48 – 68, hier: S. 54. 12 Turner, Victor: Vom Ritual zum Theater. Der Ernst des menschlichen Spiels. Frankfurt/M./New York: Ed. Qumran im Campus-Verlag 1982. 13 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35 – 73, hier: S. 41.

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 Carsten Gansel wird, und Transparenz jeder Zustand, in dem die Kommunikation nicht „gestört“ ist, also das Medium als Medium nicht im Fokus der Aufmerksamkeit steht.14

Der Zustand der Störung wird mithin als das „Relevantwerden des Mediums“ verstanden und der „Zustand der Transparenz“ als sein „Wiedereintritt in den Modus der Vertrautheit“. Es ist also die funktionale Kette von Störung – Transkription – Transparenz, die „die Prozesse kultureller Semantik in Gang hält und stabilisiert“.15 Die Installation „Risiko“ hat nun aber durchaus auch jene irritiert, denen die Kodierungen des ‚Systems Kunst‘ bekannt sind. Mit Mersch wird man im vorliegenden Fall beim Betrachten des Kunstobjekts von „störender Materialität“ und „Blickbrechung“ sprechen können.16 Es bieten sich bei der Installation zudem Bezüge zu einer gänzlich anderen Kunstform an, dem Tafelbild. Hier entstehen Störungen, wie Silke Tammen unter Verweis auf Siegert und Didi-Hubermann gezeigt hat, durch auf den ersten Blick nebensächliche Details oder Teile, die im Bildsinn nicht auflösbar sind. Auf diese Weise entsteht ein „krisenhafter Moment der Wahrnehmung“, der den Blick des Betrachters gerade auf die „Materialität der Bildfläche und damit auf die mediale Bedingtheit des Bilds wie der Wahrnehmung umlenken kann“.17

3. Störungen und Literatur als Handlungsund Symbolsystem Mit Kunst und Literatur schaffen moderne Gesellschaftssysteme sich Formen der Auopoiesis, „um sich selbst zu beobachten: in sich selbst gegen sich selbst“. 18 Literarische Texte praktizieren mithin das „Sichtbarmachen des Unsichtbaren“19 und haben – wie die Kunst insgesamt – die Aufgabe, die „(jeder-

14 Ebd., S. 62. 15 Ebd., S. 63, 65. Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘. 2013. 16 Mersch, Dieter: Bild und Blick. Zur Medialität des Visuellen. In: Meda Synaesthetics. Konturen einer physiologischen Medienästhetik. Hrsg. von Christin Filk u. a.: Köln: Herbert von Halem 2003, S. 95 – 122, hier: S. 104, 109. 17 Tammen, Silke: Stolpersteine – Bodenbilder: Wahrnehmungs- und Erinnerungsverstörungen. In: Gansel / Ächtler, Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 235 – 258, hier: S. 239. 18 Luhmann, Einführung in die Systemtheorie. 2006, S. 127. 19 Luhmann, Niklas: Schriften zur Kunst und Literatur. Hrsg. von Niels Werber. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 201.

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mann geläufige) Realität mit einer anderen Version derselben Realität“ zu konfrontieren.20 Ganz dies hat Uwe Johnson in seinen poetologischen „Vorschlägen zur Prüfung eines Romans“ (1975) betont, dass der Roman ein „Angebot“ sei. „Sie bekommen eine Version der Wirklichkeit“. Die Leser würden „eingeladen, diese Version der Wirklichkeit zu vergleichen, mit jener, die Sie unterhalten und pflegen“.21 In diesem Sinne ist Literatur daher auch als eine „ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften“22 bezeichnet worden. Jürgen Link hat – einen anderen Ansatz entwickelnd – Literatur schon früh als „elaborierten Interdiskurs“23 bezeichnet. Eine Aufgabe von Literatur sieht er darin, dass in Spezialdiskursen aufgehobene Wissen zu kommunizieren und über allgemein verständliche „Applikations-Vorgaben“ in den gesellschaftlichen Elementardiskurs zu (re)integrieren. Als „kulturelle[r] Raum semiotischen Probehandelns“24 wird Literatur gerade deshalb zu einem Medium von gesellschaftlicher Selbstverständigung, weil Autoren das subversive Unterlaufen von normativen Grenzen gestalten und diskursive Randphänomene auf irritierende Weise ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Insofern besteht eine Hauptfunktion von Literatur in offenen und geschlossenen Gesellschaften in der „Bereitstellung von Applikations-Vorlagen für Denormalisierungen“.25 Wollte man nunmehr konkret Störungen im Bereich Literatur erfassen, hat es sich als produktiv erwiesen, zwischen Handlungs- bzw. Sozialsystem auf der einen und Symbolsystem Literatur auf der anderen Seite zu unterscheiden.26 Im literarischen Handlungssystem kann es zu Störungen auf den Ebenen von Produktion, Distribution und Rezeption kommen. Im Symbolsystem, also den aus den Handlungsrollen von Produktion und Distribution hervorgegangenen Texten mit ihren Stoffen, Themen, Darstellungsweisen, betreffen Störungen das ‚Was‘ und ‚Wie‘ der Darstellung. In historischer Perspektive und in Verbindung mit den jeweiligen Literaturbegriffen gelten im Handlungssystem Literatur

20 Ebd., S. 144. 21 Johnson, Uwe: Vorschläge zur Prüfung eines Romans. In: Uwe Johnson. Hrsg. von Rainer Gerlach und Matthias Richter. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 30 – 36, hier: S. 35. 22 Böhme, Vom Cultus zur Kultur(wissenschaft). 1996, S. 48. 23 Link, Jürgen: „Literaturanalyse als Interdiskursanalyse: Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik“. In: Fohrmann, Jürgen / Müller, Harro (Hrsg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 284 – 303, hier: S. 286. 24 Frank, Gustav / Lukas, Wolfgang. ‚Grenzüberschreitungen‘ als Wege der Forschung. In: Dies. (Hrsg.): Norm – Grenze – Abweichung. Kultursemiotische Studien zu Literatur, Medien und Wirtschaft. Passau: K. Stutz 2004, S. 19 – 27, hier: S. 20. 25 Link, Versuch über den Normalismus. 2006, S. 41. 26 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘. 2013.

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bestimmte Regeln bzw. Wertmaßstäbe für den Umgang mit den Texten. Dabei gibt es Unterschiede zwischen ‚offenen‘ und ‚geschlossenen‘ Systemen. Klar ist, dass in ‚geschlossenen‘ Systemen die ‚Grenzen des Sagbaren‘ für Literatur enger gezogen sind. Da das jeweilige System von Gesellschaft zu den anderen Teilsystemen in einem hierarchischen Verhältnis von Über- und Unterordnung steht, gibt es über Leitcodes vor, was „kommunizierbar“ bzw. „nicht-kommunizierbar“27 ist. Die Folgen für die Operationen der Autoren und für das ‚Was‘ und ‚Wie‘ ihrer Texte sind inzwischen mehrfach diskutiert worden.28 Dabei muss betont werden, dass es wissenschaftlich nicht hinreichend ist, Zensur und Selbstzensur im Handlungs- und Symbolsystem Literatur einzig bei ‚geschlossenen Systemen‘ wie etwa der DDR zu entsorgen. Auch die literarischen Vermittlungsinstanzen (Verlage, Literaturkritik) in offenen Gesellschaften verfügen über subtile Methoden, um den „Filter von Vergessen“29 auf Texte zu legen, eine Anschlusskommunikation zu verhindern und die Aufmerksamkeit von den Störstellen der Texte abzulenken.30

4. Störung als „Selbstirritation“ und „Figurationen der Störung“ Mit Blick auf die Darstellung von Störungen im Symbolsystem Literatur fällt der Blick zunächst auf „Figurationen der Störung“ bzw. „Figuren des Dritten“. Albert Kümmel hat entsprechend auf die Bedeutung von Tricksterfiguren aller Art für eine Kulturgeschichte der Störung aufmerksam gemacht. „Jeder Trickstermythos muß“, so Kümmel, „als implizite Störungstheorie gelesen werden“.31 Mit der „Figuration

27 Link, Versuch über den Normalismus. 2006, S. 127. 28 Loest, Erich: Der Pestatem der Zensur. In: Gansel, Carsten / Jakob, Joachim (Hrsg.): Erich Loest. Geschichte, die noch qualmt. Göttingen 2011, S. 311 – 317; Gansel, Carsten: Storytelling from the Perspective of Evolutionary Theory. In: Ders. / Vanderbeke, Dirk (Hrsg.): Telling Stories / Geschichten erzählen. Literature and Evolution / Literatur und Evolution. Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 77 – 109; Ders.: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft. Berlin: Erich Schmidt 2012, S. 173 – 198; Ders., Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘. 2013. 29 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 588. 30 Vgl. Ächtler, Norman: Entstörung und Dispositiv. Diskursanalytische Überlegungen zum Darstellungstabu von Kriegsverbrechen im Literatursystem der frühen Bundesrepublik. In: Gansel / Ächtler, Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013, S. 57 – 81. 31 Kümmel, Albrecht: Störung. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Paderborn: Fink 2005,

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der Störung“ ist ein textimmanentes Phänomen erfasst, dass bevorzugt auf der Ebene der ‚histoire‘ angesiedelt ist. Im literaturgeschichtlichen Prozess (diachron) finden sich reichlich „Figuren der Störung“ (u. a. Adoleszente, Denunzianten, Intellektuelle, Dissidenten, Psychopaten, Terroristen). „Figuren der Störung“ erzeugen durch konkrete Handlungen und Bewegungen im Raum bei den anderen Figuren Irritationen, weil sie gesetzte Normen und Grenzen aufbrechen oder überschreiten. Dass literarische Figuren im Text aufstörende Wirkungen entfalten können, hängt schlichtweg damit zusammen, dass sie – wie im Leben selbst – als autopoietisches System funktionieren und auf bestimmte Reize autonom reagieren können.32 Man kann es auch so sagen: „Figuren der Störung“ im bislang beschriebenen Sinne – wie beim beschriebenen Vorgang um die Kunstsammlung – lösen System-zu-System-Beziehungen aus: Dabei werden die Handlungen der Figur A (psychisches System A) von der Figur B (psychisches System B) auf Grund der eigenen Strukturen als Störung interpretiert. Man könnte mit Tzvetan Todorov auch davon sprechen, dass es hier bevorzugt um Du-Themen geht, also um Beziehungen zwischen Mensch bzw. Figur und Umwelt.33 In dem Fall, da die Figur B durch das Verhalten der Figur A oder durch bestimmte Ereignisse zu einer permanenten Selbstreflexion gezwungen sieht, löst die System-zu-System-Beziehung eine Systemzu-sich-selbst-Beziehung aus, die eine Auseinandersetzung des Ich mit der eigenen Befindlichkeit meint. Bei der System-zu-sich-selbst-Beziehung handelt es sich um „Ich-Themen“, die das Verhältnis der Figuren zu sich selbst, zum Unbewussten zu psychischen Konflikten oder Traumata betreffen.

5. Verstörende Lebenserfahrung und literarische Traumadarstellung Uwe Johnson betrachtete das Roman-Schreiben als den Versuch, ein „gesellschaftliches Modell“ herzustellen. „Das Modell besteht allerdings aus Personen“, so Johnson: „Diese Personen sind erfunden, sind zusammengesetzt aus vielen persönlichen Eindrücken, die ich hatte. Und insofern ist der Vorgang des Erfindens eigentlich ein Erinnerungsvorgang“.34 Johnson betont hier die Rolle der Erfahrung,

S. 229 – 335, hier: S. 230. 32 Autopoietische Systeme im Sinne von Niklas Luhman können Bewusstseinssysteme (psychische Systeme) oder das Kommunikationssystem Gesellschaft sein. 33 Todorov, Tzvetan: Einführung in der phantastische Literatur. Frankfurt/M.: S. Fischer 1992, S. 97 ff. 34 Johnson, Uwe. In: Literarische Werkstatt. Hrsg. von Gert Simmerding und Christof Schmidt.

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die für die Konfiguration von Geschichten grundlegend ist. Für die historische wie kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung hat Reinhard Koselleck die Erfahrung bereits frühzeitig zu einer gewichtigen Kategorie gemacht. „Erfahrung“ so Kosseleck, „ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden kön­nen.“35 Für die Verarbeitung wie Verbreitung von Erfahrungen besitzt nun das Erzählen eine zentrale Bedeutung. In evolutionspsychologischer Perspektive bringt Eckart Voland das Geschichten-Erzählen mit einer Besonderheit des menschlichen Geistes in Verbindung, dem „kognitiven Imperativ“. Dieser zwinge den Menschen zu einer plausiblen, kohärenten Konstruktion des Abbilds des Weltgeschehens, ohne Erklärungslücke, ohne irrationale Inseln. Menschen können Kontingenz, Irrationalität und kausale Ungewissheit offenbar nicht gut aushalten, weil nicht Verstandenes Angst erzeugt.36

Dass das Erzählen schließlich für die Bildung der Identität eine zentrale Rolle besitzt, hat Brigitte Boothe im Rahmen der narrativen Psychologie herausgestellt. „Durch die Konstruktion von Erzählungen“, so Boothe, „kommt es zur subjektiven Produktion von Sinn im Hinblick auf die eigene Person und auf deren Eingebundenheit in den sozialen Kontext“.37 Was ist aber in dem Fall, da das Ich Erfahrungen verarbeiten muss, die auf Krieg, Holocaust, Vernichtungslager, Massenmord, Bombentod oder Vergewaltigung bezogen sind? Es handelt sich hier zweifellos um traumatische Ereignisse, die zu einer Störung des Selbst führen und mit ihren grausamen Details nur schwer narrativ zu fassen sind. Es nimmt daher nicht wunder, wenn der Trauma-Begriff in den Literatur- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahren gerade auch dort genutzt wird, wo es um das Erinnern des Holocaust geht.38 Dabei zeigt sich, dass selbst in der Psychotraumatologie Untersuchungen zu Traumafolgestörungen nach dem

München: R. Oldenbourg 1972, S. 65. 35 Koselleck, Reinhart: Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – zwei historische Kategorien. In: Ders.: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 354. 36 Voland, Eckart. Homo naturaliter religiosus. Umrisse des soziobiologischen Arguments. In: Gewalt und Opfer (MythosEikonPoiesis, Bd. 1/2). Hrsg. von Anton Bierl und Wolfgang Braungart. Berlin/New York: de Gruyter 2007, S. 293 – 315, hier: S. 296. 37 Boothe, Brigitte: Das Narrativ: Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart: Schattauer Verlag 2010, S. 40. 38 Vgl. Catani, Stefani: Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. (Habilschrift). Bamberg 2014. Die instruktive Arbeit ist 2016 bei Narr Francke Attempto (Tübingen) erschienen.

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Zweiten Weltkrieg ausgeblieben und eigentlich erst in der Gegenwart Arbeiten zu Kriegstraumatisierungen entstanden sind.39 Der Mangel an Arbeiten über die Folgen traumatischer Erfahrungen trifft auch – und dies muss verwundern – für Holocaustüberlebende zu, „deren psychische Auffälligkeiten, auch nach mehreren Jahren im Konzentrationslager (KZ), zunächst als Ausdruck einer schon vor der Folter bestandenen Störung betrachtet (wurden)“.40 Inzwischen ist anerkannt, dass das Erfahren von traumatischen Ereignissen eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zur Folge haben kann, die letztlich eine System-zu-sich-selbst-Störung ist. Das Erleben eines Traumas hat nämlich eine Intrusion zur Folge, die sich in unwillkürlichen und belastenden Erinnerungen ausdrückt. Daraus entsteht ein Vermeidungsverhalten, bei dem die bedrängenden Erinnerungen abgeschaltet werden und Teilamnesien entstehen, die das Erinnerte unscharf rekonstruieren. Zu den Vermeidungsstrategien gehört auch die Scheu, „Aktivitäten durchzuführen bzw. Orte aufzusuchen, die an das Trauma erinnern“.41 Entsprechend ist es schwer, ja gar unmöglich, das erfahrene Trauma narrativ zu konfigurieren. „Eine im klinischen Sinne traumatisierte Person kann nicht über eine traumatische Erfahrung berichten“42, so Neuner. Traumatisierte haben insofern große Schwierigkeiten, sich auf einen „narrativen Prozess einzulassen“, weil die Erinnerungen ihnen „nicht als Geschichten zugänglich sind“.43 Während also traumatisierte Menschen in der Realität nicht vom Trauma erzählen können, ist genau dies in literarischen Texten möglich. Die Figuren werden dabei mit Ereignissen konfrontiert, die zu einer Störung des Selbst führen, weswegen die Darstellung in diesen Texten auf die Systemzu-sich-selbst-Beziehung konzentriert bleibt. Die Texte entwerfen also fiktive psychische Systeme (Figuren), die das eigentlich „nicht-kommunizierbar(e)“44

39 Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004; Kuwert, Phillip / Freyberger, Harald J.: Sexuelle Kriegsgewalt: Ein tabuisiertes Verbrechen und seine Folgen. Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder, Heft 2, 2007, S. 10 – 16. 40 Maercker, Andreas (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. Vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl. Heidelberg: Springer 2013, S. 8 f. 41 Ebd., S. 14, 17. 42 Neuner, Frank u. a.: Narrative Expostion. In: ebd., S. 327 – 350, hier: S. 329. Eine traumatisierte Personen ist „noch nicht aus der traumatischen Szene heraus getreten; es hat, im wörtlichen Sinn keine Ex-Position stattgefunden. Die Person selbst ist vielmehr das Trauma. Eine räumliche Verortung und zeitliche ‚Vergeschichtlichung‘ hat nicht stattgefunden“ (ebd.). 43 Ebd., S. 328. Narrationen werden in der klinischen Traumataforschung verstanden als „bilderreiche, anschauliche, gefühlsmäßig packende Erzählungen, die innere Zusammenhänge des Ablaufs der Ereignisse nachvollziehen. Dazu wird verfügbare Information aus dem autobiographischen Gedächtnis abgerufen, also die Antwort auf das ‚Wann‘ und ‚Wo‘“ (ebd.). 44 Luhmann, Einführung in die Systemtheorie. 2006, S. 127.

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kommunizieren und damit (für Leser) beobachtbar machen. Dass dies bevorzugt über Ich-Erzählinstanzen bzw. homodiegetische Erzähler funktioniert, zeigen die Texte von Peter Härtling und Jenny Erpenbeck.

6. Störung und Trauma I Peter Härtling zählt zu jenen Autoren, die als sogenannte „Primärzeugen“ Teile der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts noch selbst erlebt haben und für die auch deshalb das ‚Prinzip Erinnerung‘ ein Grundelement der eigenen Poetik geworden ist. Im Gespräch hat Härtling eingestanden, dass es ihm eigentlich erst beim Schreiben von „Leben lernen“ (2003) richtig gelungen sei, die eigenen Erinnerungen bewusst hervorzurufen. Er habe dabei Angst vor dem gehabt, „was womöglich wieder in der Erinnerung hochkommt“. Und auf die Rückfrage, ob es nach wie vor „Gefängnisse der Erinnerung“ gebe, bestätigt er: „Ja. Es gibt sie nach wie vor. Es gibt nach wie vor Zellen, die der Wärter vorsätzlich vergisst, die er verschließt“.45 Härtling verweist erneut auf traumatische Erfahrungen, die er als Kriegskind machen musste. In „Leben lernen“ notiert er fast nüchtern: „Der Krieg raubte mir meine Eltern und schenkte mir die Gabe, mit den Toten zu sprechen. Der Krieg wird nie aufhören. Ich weiß es“.46 Damit ist einmal mehr auf die Intensität verwiesen, mit dem ein Trauma im ‚heißen Gedächtnis‘ abgespeichert wird, mithin in Form von Bildern, Geräuschen und mit Gefühlen verbunden existiert. Die Neurophysiologie spricht davon, dass die sogenannten „Mandelkerne“ (Amygdalae), die für die Aktivierung von Emotionen und somit für die Speicherung der emotionalen Erinnerung eine entscheidende Funktion besitzen, im Falle von traumatischen Ereignissen „völlig enthemmt“ agieren, was wiederum dazu führt, dass es zu einer „besonders intensiven Einspeicherung heißer Gedächtniselemente“ kommt.47 Weil dies so ist, steht das Ich zum Selbstschutz vor der Notwendigkeit, das Erinnerte gerade nicht in eine narrative Struktur zu überführen, sondern zu vergessen bzw. – wie Härtling im Gespräch sagt – vorsätzlich zu verschließen. Bei Ereignissen, die nicht erzählt werden (können), besteht dann allerdings die Tendenz, dass sie

45 Gansel, Carsten / Hernik, Monika: „Es gibt nach wie vor Zellen, die der Wärter vorsätzlich verschließt“ – Gespräch mit Peter Härtling. In: Gansel, Carsten u. a. (Hrsg.): „Das Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen: V&R 2010, S. 481 – 497, hier: S. 490. 46 Ebd., S. 497. 47 Neuner, Narrative Expostion. 2013, S. 331.

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wiederkehrend in der Form von intrusiven Erinnerungen, von Flashbacks und Albträumen erlebt werden. Zu Härtlings Erfahrungen als Kriegskind gehören Verschleppung und Tod des Vaters, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung und der Selbstmord der Mutter. Diesen Traumata – vor allem dem Tod der Mutter – hat sich Härtling schreibend Stück für Stück genähert. In Texten wie „Janek. Porträt einer Erinnerung“ (1966), „Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung“ (1982) oder in „Eine Frau“ (1983) versucht Härtling zunehmend vom Schicksal seiner Mutter zu erzählen. Aber erst in „Herzwand. Mein Roman“ (1990) gelingt es ihm, das Vergangene umfassender aus dem autobiographischen Gedächtnis abzurufen und den „blinden Fleck“ zu füllen. Betrachtet man die entstandenen Texte in ihrer diachronen Reihung, dann wird erkennbar, wie Härtling sich schrittweise in die Lage versetzt, Elemente des sogenannten „kalten“ und „heißen“ Gedächtnisses zu koppeln. Noch in „Janek“ und „Zwettl“ dominiert ein Zugang zur erfolgten Traumatisierung über das ‚kalte Gedächtnis‘. Es wird geradezu nüchtern, ja fast emotionslos eine räumliche und zeitliche Einordnung des Ereignisses geliefert. Elemente des ‚heißen Gedächtnisses‘ in Form von sensorisch-perzeptuellen und vor allem emotionalen Details bleiben ausgeschlossen. Dies ist in „Herzwand“ anders, erstmals werden durch den Wechsel zwischen erlebendem und erzählendem Ich die emotionalen Komponenten während des Erlebens der traumatischen Situation erfasst. Durch den Wechsel in die interne Fokalisierung wird die Vergangenheit aus der Sicht des erlebenden bzw. erinnerten Ichs gestaltet, damaliges Erleben des Kindes wird literarisch konfiguriert und der gegenwärtige Wissenshorizont tritt zurück. Erinnerungstheoretisch kann man in diesem Fäll mit Daniel Schacter von „Felderinnerungen“ (field memories) sprechen.48 Durchaus im Sinne einer Traumabewältigung entwirft Härtling ein assoziatives Netzwerk, in dem die Aktivierung einzelner Bestandteile des Netzwerks wiederum zu Koaktivierung weiterer Elemente führt. Betrachtet man den literarischen Text genauer, dann zeigt sich, dass er auf der Gegenwartsebene in medias res mit dem „dreizehnten Tag“ einsetzt, es erfolgt sodann ein Wechsel in die Vergangenheit, und mit dem „vierzehnten Tag“ wird auf die Gegenwartsebene zurückgekehrt. Der Prozess des Erinnerns, der fast 200 Seiten umfasst, wird von der Gegenwartsebene, die jeweils nur über zwei bzw. sechs Seiten reicht, wie ein Rahmen umschlossen. Ausgangspunkt auf der Gegenwartsebene ist die Situation des auto-homodiegetischen Erzählers, der sich wegen einer Herzoperation im Krankenhaus befindet und sich der beruhigenden Worte des Arztes vergewissert: „Sollte ein Katheter, von der Leiste durch die Aorta eingeführt ins Herz, dessen

48 Schacter, Daniel L.: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2001, S. 45 – 47.

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poröse Wand durchstoßen, sei dies zwar ein Fehler des Operateurs, doch die auftretende Blutung schadet kaum“49. Der Ich-Erzähler verfolgt den Eingriff am Herzen auf dem Monitor und in dieser Situation setzt die Erinnerung ein: Während das Lachen von der Herzwand ausging, mich inwendig erfasste, hatte ich den Eindruck, ich könnte mich in allen Schichten und Geschichten, in allen Lebensaltern so deutlich wieder erkennen, wie ich mein Inneres auf den Monitoren sah.50

Von der Basiserzählung (Gegenwartsebene) ausgehend, wechselt der Blick ins Innere und über Analepsen erfolgt ein Hinabtauchen in die Vergangenheit. Letztlich ist es der Gedanke an den eigenen möglichen Tod, der zum Katalysator wird, um das zentrale Trauma, den Freitod der Mutter und ihr langsames Sterben, zu erinnern. Die existentielle Bedrohungssituation aktiviert die Trauma-Erfahrung und führt zu ihrer Konfiguration: „Bisher habe ich davon nicht erzählen können“, gesteht der Ich-Erzähler ein. Frühere Versuche den „blinden Fleck“ zu füllen, hätten „verwirrt, mein Wesen und Gedächtnis verändert“. Nun aber würden mit der Erinnerung Schichten frei, die zeigen, wer „ich gewesen bin – nein: die, die ich gewesen bin, ein Kind, ein Junge, ein Mann, drängten sich nach vorn“. Und mit dieser erinnerten Vergangenheit kämen Geschichten zum Vorschein, „die ich vergessen wollte, die ich umerzählt hatte, damit ich sie vergessen konnte“.51 Es war dem Ich-Erzähler also über einen langen Zeitraum weder möglich, das mit dem Sterben der Mutter verbundene Trauma zu erinnern, noch davon zu erzählen. Dies hängt mit der Art und Weise des Todes der Mutter zusammen und der Hilflosigkeit, der Angst, der Verzweiflung wie auch den Scham- und Schuldgefühlen des Kindes. Die Abspeicherung und Integration eines derart traumatischen Ereignisses in die eigene Lebensgeschichte musste angesichts der Ausnahmesituation, in die Geist und Gehirn versetzt worden waren, verhindert werden. Das Trauma wurde abgekapselt, ausgegrenzt, es blieb – ganz im Sinne der Traumaforschung – „ein Fremdkörper, der nicht zum Bestandteil der eigenen Biographie werden kann“.52 In „Herzwand“, also zweiundvierzig Jahre später, existiert mit der bewusst gewordenen Endlichkeit des eigenes Daseins eine Art Bedingungsrahmen, um das Trauma nun erzählerisch zu vergegenwärtigen. Der auto-homodiegetische fragt, ob er imstande ist, „die Gefühle des Jungen zu wiederholen?“, was nichts Anderes als den Versuch bedeutet, ‚kaltes‘ und ‚heißes Gedächtnis‘ zu vernetzen. Dabei bekennt das Ich, dass das Trauma beständig und

49 Härtling, Peter: Herzwand. Mein Roman. Frankfurt/M.: Luchterhand 1990, S. 7. 50 Ebd., S. 9. 51 Ebd. 52 Neuner, Narrative Expostion. 2013, S. 29.

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in unterschiedlicher Form darauf drängte, erzählt zu werden. „Meine Phantasie“, so der Ich-Erzähler, hat die immer jünger werdende Frau, die mit fünfunddreißig Jahren ihr Leben aufgibt, ununterbrochen angeschaut, verändert, kostümiert. Und immer redete ich mich auf Distanz. Nun versuche ich sie aufzuheben. Zweiundvierzig Jahre danach.53

In diesem Prozess der Näherung an den „blinden Fleck“ gesteht der auto-homodiegetische Erzähler sich nun auch zu, das Kind, das er damals war, präzis zu imaginieren und Gefühle des Kindes gegenüber der Mutter auszusprechen. Eifersucht und die Angst vor dem Verlassenwerden spielen ebenso eine Rolle wie Versuche, die Mutter vor Angriffen aus der Außenwelt in Schutz zu nehmen. Die Erinnerungen, die als „Felderinnerungen“ auszumachen sind, werden dabei durch Kommentare aus der Jetzt-Zeit, mithin durch „Beobachtererinnerungen“ (oberserver memories) bzw. den Erwachsenenblick, ergänzt. Über diesen reflexiven Modus erfolgt eine Art Evaluation, wobei die Unzuverlässigkeit der Erinnerungen betont wird. Erst weitere 13 Jahre später in „Leben lernen“ (2003) wird Peter Härtling in der Lage sein, das Trauma auch in ihren emotionalen Details zu konfigurieren.54

7. Störung und Trauma II Peter Härtling gehört – das sei nochmals betont – zu jener Autorengeneration, die über Primärerfahrungen mit den Störungen bzw. Zerstörungen durch Krieg und Nachkrieg verfügen und diese bewusst erlebt haben. Das kann man von der Generation der „Sekundärzeugen“ – dazu gehören etwa Uwe Timm, W. G. Sebald, Monika Maron, Christoph Hein – nicht sagen. Für sie ist zwar eine Nähe zu den traumatischen Ereignissen kennzeichnend, aber traumatisiert wurden sie nur in Ausnahmen. Die dritte Generation – Katrin Schmidt, Marcel Beyer, Tanja Dückers, Lutz Seiler –, also die Enkelgeneration, befindet sich im Status einer ‚Nacherinnerung‘. Marianne Hirsch hat mit Blick auf diese Art der Verarbeitung von traumatischen Erfahrungen – nicht nur des Holocaust – den Begriff der ‚postmemory‘ gebraucht und vermutet, dass ein Trauma „bevorzugt von denen

53 Härtling, Herzwand. 1990, S. 13. 54 In diesem faktualen Text wird die extreme Situation des Sterbens dann so erinnert: „Sie starb am dritten Tag. Drei Tage lang röchelte sie, und wir wischten ihr Schweiz und Schleim aus dem Gesicht. Es gibt keine größere Nähe. Sie ist unzulässig und schamlos. Eine Art Austausch von Atem und Haut“ (Härtling, Peter: Leben lernen. Erinnerungen. München: dtv 2005, S. 77).

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bezeugt und durchgearbeitet“ werden könne, „die es nicht durchleben mussten, sondern die die Auswirkungen des Traumas erfahren haben – verspätet, durch die Erzählungen, Handlungen und Symptome der vorherigen Generation“.55 Das Nichterleben macht freier auch für das literarische Erinnern. Diese über Generationen erfolgende Transformation von Erinnerung, hinter der gerade keine eigene Lebenserfahrung steht, ist die Grundlage für eine Reihe viel beachteter Romane, in denen unterschiedlliche Arten von Störungen der Motor des Erzählens sind. Dazu gehören Texte von Marcel Beyer („Flughunde“, 1995; „Spione“, 2000; „Kaltenburg“, 2008), Tanja Dückers („Himmelskörper“, 2003), Eva Menasse („Vienna“, 2005), Jenny Erpenbeck („Geschichte vom alten Kind“, 1999; „Wörterbuch“, 2004; „Aller Tage Abend“, 2012) oder Julia Franck („Die Mittagsfrau“, 2007). Dass es in den Romaen und Erzählungen keineswegs nur die Traumata der deutschen Geschichte sein müssen, das zeigt sich in Jenny Erpenbecks „Wörterbuch“ (2004), in der erneut eine Ich-Erzählerin erinnert. Allerdings ist zunächst nicht erkennbar, dass traumatische Störungen die System-zu-sich-selbst-Beziehung belasten. Das Ausmaß des Traumas erschließt sich dem Leser erst schrittweise, bis dann zum Ende die schreckliche Wahrheit enthüllt wird: Rückblickend wird über den Reflexionsprozess offenbart, dass gelebte Kindheit und Jugend auf Lügen basieren. Erpenbeck lässt eine homodiegetische Erzählerin, die inzwischen erwachsen ist, zurück in die Kindheit gehen. Erzählt bzw. erinnert wird auch in diesem Fall aus der Kinderperspektive. Das Erzählen der Ich-Erzählerin setzt in medias res mit einer Frage ein, die zu Beginn des Textes aufstörend wirkt: „Wozu sind denn meine Augen da, wenn sie sehen, aber nichts sehen? Wozu meine Ohren, wenn sie hören, aber nichts hören? Wozu all das Fremde in meinem Kopf?“56, fragt das Ich. Das auf der Gegenwartsebene (Basiserzählung) erinnende Ich wird sich der Tatsache bewusst, dass ihm der Blick auf die „wirkliche Wirklichkeit“ verstellt ist. Wo der Kopf voll ist mit Fremdem, muss „Gehirnwindung für Gehirnwindung“ dem Selbst auf den Grund gegangen werden „bis vielleicht am Grund ein Löffelchen voll von mir durchscheint“. Um den „Schlüssel zu Alibas Parole“ (Uwe Johnson) zu finden, muss das Ich seinem früheren Selbst auf die Spur kommen. Das dieser Krebsgang qualvoll seine kann, dessen ist sich das Ich bewusst. „Die Erinnerung hernehmen wie ein Messer und es gegen sich selbst richten, die Erinnerung abstechen mit der Erinnerung“, so lautet der mutmachende Versuch, sich dem Vergangenen zu nähern. Nach dem Einstieg über die erwachsene Ich-Erzählerin erfolgt unmerklich

55 Hirsch, Marianne: Surviving Images. Holocaust Photographs and the Work of Postmemory. In: The Yale Journal of Criticism 14, 2001, H. 1, S. 5 – 37, hier: S. 8 f. 56 Erpenbeck, Jenny: Wörterbuch. Berlin: Eichborn 2004, S. 9.

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ein Wechsel der Perspektive, denn nunmehr wird – ähnlich wie bei Härtling – das Kind, das sie war, erinnert: Vater und Mutter. Ball. Auto. Das vielleicht die einzigen Wörter, die heil waren, als ich sie lernte. Und auch die dann verkehrt, aus mir heraus gerissen und andersherum wieder eingesetzt, das Gegenteil von Ball, wieder Ball, von Vater und Mutter Vater und Mutter. […] Für mich standen die Worte fest, aber jetzt laß ich sie los, und wenn es nicht anders geht, schneide ich den einen oder anderen Fuß lieber ab. Ball. Ball.57

Die Erinnerung funktioniert – wie oft bei Kindheitserinnerungen – über „Felderinnerungen“, wobei es zunächst noch partiell zu einer Evaluation über „Beobachter­ erinnerungen“ kommt, wodurch Distanz zum Vergangenen hergestellt wird („Das waren vielleicht die einzigen Wörter, die heil waren, als ich sie lernte“). Erst im Fortgang des Erinnerns zeigt sich, dass Jenny Erpenbecks Ich-Erzählerin schrittweise ein Trauma konfiguriert: Ob sie Schmerzen hat, fragt meine Mutter. Jetzt verbeißt sich das Tier mit seinen Zähnen aus Stein in meinem Haar und reißt es mir aus, daß dich nicht einmal die eigene Mutter wiedererkennt, die Augenhöhlen geleert den Schädel haarlos schön kühl, so sehe ich endlich das Feuertier aus der Nähe. Ich glaube nicht, sagt mein Vater.58

Zu diesem Zeitpunkt ist nicht klar, dass das Kind die Folter der eigenen Eltern miterleben musste, die dann vom Vater, der nicht der wirkliche Vater ist, ermordet wurden. Auf die Frage der Mutter, die nicht die Mutter ist, folgt übergangslos eine traumatische Erinnerung, die urplötzlich und ohne Kennzeichnung des gänzlich anderen Kontextes in die offensichtliche Drohung der Folterknechte übergeht („daß dich nicht einmal die eigene Mutter wiedererkennt“). Offensichtlich gibt es bei der Versprachlichung der Erinnerung eine sensorische Blockade, die zur Unfähigkeit führt, Sprache angemessen zu produzieren und Kohärenz herzustellen. Immer wieder tauchen in dem Bewusstseinsstrom Flashbacks auf, wobei eine Information über den Zusammenhang der Ereignisse nicht gegeben wird. In diesem Fall sind ‚kaltes‘ und ‚heißes Gedächtnis‘ nicht nur voneinander abgekoppelt wie in Härtlings Texten, sondern es ist dem Ich aus Selbstschutz nicht möglich, die Lebensereignisse aus der Kindheit nachvollziehbar zu ordnen, um selbst verstehen zu können, was vorgefallen ist. Das ‚kalte Gedächtnis‘ ist gestört. Dass es die traumatischen Erfahrungen eines Kindes in einer fiktiven Diktatur in Lateinamerika sind, die hier erinnert bzw. konfiguriert werden, wird erst sukzessive klar. Die Präfiguration des Textes von Erpenbeck bezieht sich auf das Argentinien der letzten

57 Ebd. 58 Ebd., S. 36.

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Jahre unter Perron, dann aber vor allem unter der Militärdiktatur von General Videla zwischen 1976 und 1983. In diesen Jahren wurden von den staatlichen bzw. halbstaatlichen Sicherheitskräften vermeintliche Gegner des Systems ohne richterliche Beschlüsse heimlich verhaftet, entführt, schließlich gefoltert und ermordet. „Desaparecidos“ („Die Verschwundenen“) hießen diese Opfer der Militärdiktatur, weil die Leichen – zumeist im Ozean – spurlos verschwanden. Explizite Hinweise auf Gewalt, Folter, Mord finden sich im Text durchgängig. Auch die motivischen Bezüge – etwa die Geschichte um die legendäre Difunta Correa oder Chopins Mazurka f-Moll (Op. 68, Nr. 4) – verweisen auf den Zusammenhang von Zerstörung und Trauma. Dem Kind ist die mörderische Wirklichkeit vorenthalten worden – die Sprache, das „Wörterbuch“, glättet. Aus Folter werden „Maßnahmen, die eine Konzentration auf das Wesentliche befördern sollten“, wie es der Vater nennt, der oberste Polizeikommandant des Regimes. Mehrfach wird im Text eine Aussage des Vaters erinnert, die das Kind zufällig und in einzelnen Wortfetzen aufgeschnappt, aber nicht verstanden hat: Diejenigen welche, dann deren Freunde, dann die, die sich an sie erinnern, später alle, die Angst haben, und zum Schluß alle. Das sagt mein Vater hinter einer geschlossenen Tür in unserem Haus, die Tür ist zu diesem Zeitpunkt noch riesig für mich […]. Als ich am nächsten Tag auf den Steinernen Teppichmustern der Stadt an der Hand meiner Mutter von Insel zu Insel springe, zähle ich stumm: Diejenigen welche. Dann deren Freunde. Die sich erinnern, Die Angst haben. Und zum Schluß alle.59

Der Satz „Diejenigen welche, dann deren Freunde, dann die, die sich an sie erinnern, später alle, die Angst haben, und zum Schluß alle“ meint nichts anderes als die Liquidation der Gegner des Systems. Dem Kind ist zu diesem Zeitpunkt die Bedeutung des Satzes nicht klar und entsprechend wird das Todesurteil zum kindlichen Abzählvers umfunktioniert. Wiederholt erscheinen im Strom der Erinnerung eine junge Frau und ein junger Mann, die nur von der Ich-Erzählerin wahrgenommen werden und bei denen es sich um Phantasmen der ermordeten Eltern handelt. Der Versuch, das Kind, das sie war, zu erinnern, funktioniert über eine interne Fokalisierung. Über den Einsatz von ‚field memories‘ schlüpft die erwachsene Ich-Erzählerin – wie dies schon bei Peter Härtling der Fall war – in die Situation des damaligen Kindes und betrachtet das Vergangene mit Kinderaugen. Dabei erfolgt keine Korrektur oder Bewertung aus der Sicht der Erwachsenen, auktoriale Passagen fehlen. Nun ist es freilich nur bedingt möglich, die kindliche Weltsicht und etwa den damit in Verbindung stehenden Spracherwerb literarisch umzusetzen. Insofern ist der Kunstcharakter des Textes offensichtlich. Allerdings –

59 Ebd., S. 13.

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und in dieser Hinsicht bleibt Erpenbeck konsequent – wird durchgängig darauf verzichtet, vergangene Kindheit im Licht der Gegenwart zu erfassen. Genau das ist ein weiterer Grund für die mögliche Aufstörung beim Leser: Selbst in dem Augenblick, da die Verbrechen des Vaters offenbar werden, die Diktatur ein Ende hat und der Vater verhaftet und verurteilt wird, gelingt es dem Ich nicht, das Vergangene zu werten. Die Wirklichkeitskonstruktion ist so festgefügt, dass für einen Neuanfang keine Chance besteht. Bezüge zum sogenannten „StockholmSyndrom“ lassen sich herstellen. Obwohl die Ich-Erzählerin durchaus die Ursache ihres Traumas erkennt, gelingt es ihr nicht, sich von der „falschen Geschichte“ zu befreien. Die emotionale Nähe zum Täter ergibt sich aus der Ahnung, dass die gelebte Kindheit und Jugend nicht korrigierbar sind. „Und das ist, glaub ich, das Problem“, so Erpenbeck, „dass sie versucht zu schaun, ob noch etwas von ihr übrig ist, und sie stellt am Ende fest, es ist nichts übrig.“60 Der Text endet mit dem kursiv gesetzten Kommentar eines heterodiegetischen Erzählers, der wie ein Chronist mitteilt, dass die Protagonistin im Haus der falschen Eltern bleibt, die aus der Haft entlassen werden. Letztlich bleibt das autobiographische Gedächtnis gestört, die Lücken sind nicht auffüllbar und verhindern die Ausbildung einer eigenen Identität. Eine Bewältigung des Traumas ist nicht möglich und die Systemzu-sich-selbst-Beziehung bleibt gestört.

60 Funk, Gisa: 1984 irgendwo in Lateinamerika. „Wörterbuch“ von Jenny Erpenbeck. DeutschlandRadio, 01.04.2004 (abrufbar unter: http://www.deutschlandfunk.de/1984-irgendwo-in-lateinamerika.700.de (Letzter Zugriff am 08.10.2014).



II. Traumaerfahrungen – Realismus und Jahrhundertwende

Detlef Stapf

Störung macht Epoche – Caspar David Friedrichs autistisches Leiden (an der Gesellschaft) als Voraussetzung für ein singuläres Werk Caspar David Friedrichs Bilder gehören zur visuellen Grundausstattung des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen und wohl auch weltweit zum Kulturkanon. Der wortkarge Pommer steht wie kein anderer Maler für die Kunst der deutschen Romantik. Seine populärsten Motive wirken außergewöhnlich vertraut. So selbstverständlich wie dieses Phänomen akzeptiert wird, so schwer scheint es begründbar. Plausibel ist der unbestreitbare Befund, dass sein Werk in seiner Zeit einen klar erkennbaren Neuigkeitswert besaß. Aber – im Unterschied zu vergleichbaren Zäsuren in der Kunstgeschichte – erwächst es aus keiner naheliegenden Tradition, weder der des Barock noch der des Klassizismus. Mit dem Minimalismus eines „Mönches am Meer“1 (1809) und der formalisierten Naturdarstellung im „Tetschener Altar“2 (1807) entstand ein Bruch in der zeitgenössischen Auffassung vom Kunstwerk mit seinen kompositorischen, stilistischen und religiös akzeptierten Regeln, wie er absoluter hätte nicht sein können. Bei der Untersuchung des Wirkungsspektrums eines Künstlers der Romantik die Systemtheorie als Analysewerkzeug in Anschlag zu bringen, bedarf einer methodischen Eingrenzung. Niklas Luhmanns Prämisse für die Basisunterscheidung von System und Umwelt, dass Geschlossenheit die Voraussetzung für Öffnung sei, bietet sich für die Betrachtung des ‚verschlossenen‘ Friedrichs und seines schwer zugänglichen Werkes geradezu an. Dabei geht es nicht ausschließlich wie bei der systemtheoretisch betriebenen Kunsttheorie um die systemtheoretische Differenz von Kunst und Theorie. Auch bleibt die Eigenqualität von Kunst außerhalb der Betrachtung. Die ihr immanente Ästhetik und deren systemimmanenter Code ist nicht Sache der Theorie. Die künstlerische Qualität der Werke steht hier nicht zur Debatte. Die Kunst lässt sich systemtheoretisch nur als soziales System

1 Friedrich, Caspar David: Der Mönch am Meer. 1809, Öl auf Leinwand, 110 × 171,5 cm, Nationalgalerie, SMB. In: Börsch-Supan, Helmut / Jähnig, Karl Wilhelm: Caspar David Friedrich: Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen, München: Prestel 1974, S. 303, Nr. 168. 2 Friedrich, Caspar David: Das Kreuz im Gebirge (Tetschner Altar). 1807, Öl auf Leinwand, 115 × 110,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. In: ebd., S. 167 ff., Nr. 168. https://doi.org/10.1515/9783110683028-012

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betrachten, wie das Luhmann in „Die Kunst der Gesellschaft“ deutlich macht.3 Genauer formuliert soll nachfolgend die Rekonstruktion einer sozialen Kommunikation betrieben werden, in dem von Luhmann markierten Sinn, „daß die Operation Kommunikation ist“.4 Da es sich bei der Kunst um ein paradigmatisches Ausnahmesystem handelt, ist die begriffliche Trennschärfe nicht immer gegeben. Kunst bleibt, was eine Theorie nicht benennen kann. Doch Kunst braucht dieses produktive Komplementärverhältnis, um eine solche Unmöglichkeit genauer zu beschreiben. Unter dieser Prämisse stellt Friedrichs Kunst in der Kunsttheorie eine weitgehend ungeklärte systemische Störung dar, die hier genauer beleuchtet werden soll. In der Systematik der kunsthistorischen Lehre gibt es keine vergleichbare Irritation. Denn Friedrich löste keine Disruption aus, wie dies etwa die Pioniere des Impressionismus vermochten. Er hat keinen homogenen, Schule machenden Stil kreiert, wie man das vielleicht von Claude Monet (1840 – 1926) sagen kann. Die wenigen Schüler Friedrichs wie Johann August Heinrich (1794 – 1822) oder Carl Gustav Carus (1789 – 1869) kann man lediglich als Nachahmer in der Motivik bezeichnen, weil der Meister sein Codierungs-System nicht weitergab, mithin es nicht weitergeben wollte und konnte. Die Kunst der Romantik war schon da und wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von den Nazarenern um den Lübecker Maler Friedrich Overbeck (1789 – 1869) dominiert. Der große Einfluss auf die Zeitgenossen, der Friedrich oft zugeschrieben wird, ist eine Projektion des 20. Jahrhunderts. Das hat einen einfachen Grund: Wichtige Werke, darunter der „Wanderer über dem Nebelmeer“ oder die „Kreidefelsen auf Rügen“ (1818),5 konnte das Zeitalter der Romantik überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, weil diese nie öffentlich gezeigt wurden. Wenn man ein Bild aus der Politik bemühen will, dann war er während einer Veranstaltung deren Störer vom Rand der Menge aus. Was er in diesem Sinne vermochte, ist die Verschiebung der Parameter für die Tiefe des melancholischen Gefühlsausdrucks, mit dem er die Wirkung von Kunst radikal veränderte. Die Gegenstände der Betrachtung, die genialen Bilderzählungen blieben für die Exegeten, die den Maler auf den Schild hoben, bis in die jüngste Vergangenheit weitgehend unverstanden. Obwohl die kunsthistorische Forschung über eine enorm verbreiterte Materialbasis verfügt, bestand die systemische Irritation über

3 Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. 4 Huber, Hans Dieter: Interview mit Niklas Luhmann am 13.12.90 in Bielefeld. Veröffentlicht in: Texte zur Kunst Verlag, Vol. I. Berlin 1991, No. 4, S. 121 – 133, hier: S. 122. 5 Friedrich, Caspar David: Wanderer über dem Nebelmeer. 1818, Öl auf Leinwand, 74,8 × 94,8 cm, Hamburger Kunsthalle. In: Börsch-Supan / Jähnig, Friedrich. 1974, S. 349, Nr. 250; Ders.: Kreidefelsen auf Rügen. 1818, Öl auf Leinwand, 90,5 × 71 cm, Museum Oskar Reinhart Winterthur. In: Ebd., S. 353, Nr. 257.

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die Epoche der Romantik hinaus fort. Die operativen Codes der eigenen Disziplin erschienen bislang nicht geeignet, das Ereignis Friedrich informell zu definieren.6 Die Irritation bzw. Störung betrifft also die unzureichende strukturelle Kopplung zwischen dem autopoietischen Arbeitssystem des Malers und dem der Kunstbetrachtung und -analyse. Die Bedeutung, die dem Maler über die Zeit zugewachsen ist, entstand durch das grundsätzliche Unverstandensein seiner Kunst. Das durch die verweigerte Selbstdeutung in einzigartiger Weise abgeschlossene System Friedrich brauchte diese krasse Differenz zu seiner Umwelt, also das alle Möglichkeiten der Interpretation offen lassende Unverständnis, um sich in seiner hieroglyphischen Rolle reproduzieren zu können. Er war sich anfangs absolut nicht sicher, ob er mit seiner Verschlossenheit irgendeinen Erfolg würde generieren können. Doch das Zeitalter der Romantik ergötzte sich am Ungefähren, Unscharfen und Geheimnisvollen. „Eine Hieroglyphe, ein göttliches Sinnbild soll jedes wahrhaft so zu nennende Gemälde sein,“ postuliert Friedrich Schlegel.7 Außerdem wollte man in dem Pommern den wilden melancholischen Nordländer sehen, aus dem ein bewunderter Genius erwächst. Die frühe Romantik suchte nach Idolen, die ihre Kunst leben und nicht eine Schule nachahmen. Von daher gilt es zwei Störungsfelder zu untersuchen: Zum einen Friedrichs verändernden Einfluss auf die Kunst der Romantik im Spiegel der Rezeption und zum anderen die innere Bedingtheit der Malerpersönlichkeit, die ihn an bestimmten sozialen und normativen Regeln der akademischen Kunst scheitern ließ bzw. die Regelverstöße zur eigenen Norm machte. Zunächst zur Wahrnehmungsebene: Friedrichs große zeitgenössische Popularität belief sich nur auf eine vergleichsweise kurze Zeitspanne, es sind dies die Jahre von 1805 bis maximal 1814. Seine Bekanntheit erlangte er außerdem weniger aus eigener Kraft, sondern durch die Aufwertung von, wenn auch nicht immer ganz unumstrittenen, monarchischen, kulturellen und kritischen Autoritäten. Die Rezeption von Friedrichs Werk ist voller Merkwürdigkeiten und von geradezu beispiellosen Diskontinuitäten gekennzeichnet. Der 1774 in Greifswald geborene Maler erfüllte nach seinen Studien in Kopenhagen und Dresden die in seinem Fach gestellten akademischen Anforderungen nur ungenügend. Man hätte ihm in der Kunstwelt über seine beliebten Darstellungen von Landschaften der Insel Rügen hinaus kaum Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ihm nicht 1805 beim

6 Die hier verwendete neue Stand der Erkenntnisse bezieht sich auf: Stapf, Detlef: Caspar David Friedrich. Die Biografie. Berlin: OKAPI 2019 [im Folgenden unter der Sigle „Stapf“ mit Seitenzahl im Text]. 7 Schlegel, Friedrich: Aufforderung an die Maler der jetzigen Zeit. In: Ders.: Kritische Schriften. Hrsg. Wolfdietrich Rasch. München: Hanser 1956, S. 410.

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wichtigsten Wettbewerb jener Zeit, dem der Weimarer Kunstfreunde, die Hälfte des Preisgeldes ex aequo zugesprochen worden wäre. Dabei hatte Friedrich das preiswürdige Thema völlig verfehlt, denn statt der Illustration einer antiken Sage reichte er zwei scheinbar beziehungslose Landschaften ein, heute bekannt als „Wallfahrt bei Sonnenuntergang“ und „Sommerlandschaft mit abgestorbener Eiche“ (1805).8 Diese Entscheidung gegen das Reglement wurde nach einer Intervention von Johann Wolfgang Goethe getroffen, der in der Kunstwelt als höchste Autorität galt. Die Gründe für die Dotation bleiben unklar. Nach heutigem Stand handelt es sich bei den beiden Blättern um die Darstellung einer historischen Überlieferung vom Tollensesee bei Neubrandenburg in der Tradition von didaktischen Reformationsbildern (Stapf, 149). Beim Wissen um diesen Hintergrund hätte man aller Wahrscheinlichkeit nach diese Sepien lediglich als schlichte Illustrationen zu einer belanglosen lokalen Geschichte angesehen. Die außergewöhnliche Beachtung durch ein kunstsinniges Publikum in Adel und Bürgertum fand Friedrich in der Folge nicht durch diese beiden Arbeiten, sondern durch die außergewöhnliche Führsprache, die er durch den Dichterfürsten erfuhr, die wiederum gleichzeitig eine bis dahin unvorstellbare Schwächung von Goethes Autorität verursachte. Denn in der Folge nahm die Künstlerschaft das renommierte Kunstspektakel nicht mehr ernst und die Weimarer Kunstfreunde stellten den Wettbewerb ein. Es sind also spezifische strukturelle Bedingungen in den sozialen Hierarchien der Gesellschaft, die bezüglich einer eher unbedeutenden Störung durch Rückkopplungen im System zu einer enormen Verstärkungswirkung führten, und zwar ohne dass der Künstler eine avantgardistische Absicht hegte oder im heutigen Sinne eine Provokation plante. Auslösendes Ereignis war schlicht die einfältige Handlung eines bis dahin völlig unbedeutenden Malers aus der Provinz. Die Nachwelt will in diesem kuriosen Vorgang gern eine Revolte gegen den etablierten Kunstbetrieb erkennen. Doch eignet sich Friedrich nicht zu einem Aufstörer, der mutig das Weimarer Kunstdiktat herausforderte, die Historie ignorierte und für eine neue Kunstsprache plädierte.9 Auf der Welle dieser zweifelhaften Berühmtheit erlangte Friedrich den Ruf, mit der Darstellung von Hünengräbern und Eichen unangefochten der Maler des dichterischen Kosmos von James Macphersons „Ossian“-Epos zu sein, das gerade zur Lieblingslektüre des gebildeten Europas zählte.

8 Friedrich, Caspar David: Wallfahrt bei Sonnenuntergang. 1805, Pinsel in Braun, 40,5 × 62 cm, Klassik Stiftung Weimar. In: Grummt, Christina: Sämtliche Zeichnungen von Caspar David Friedrich. Zwei Bände. München: C. H. Beck 2011, S. 399, Nr. 416; Ders.: Sommerlandschaft mit abgestorbener Eiche (Herbstabend am See). 1805, Pinsel in Braun, 40,5 × 62 cm, Klassik Stiftung Weimar. In: Ebd., S. 400, Nr. 417. 9 Hofmann, Werner: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. München 2007, S. 28.

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Ein weiteres Ereignis, das den Maler im Wortsinn in die Schlagzeilen brachte, ist von gänzlich anderem Charakter: 1809 stößt sein „Tetschener Altar“ eine bis dahin beispiellose Kunstdebatte an, die auch der Kunstkritik eine noch ungewohnte Rolle zuweist. Der Altertumswissenschaftler Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr (1757 – 1822) übt an dem „Kreuz im Gebirge“ eine vernichtende Kritik, die er mit den Verstößen gegen die geltenden Regeln der Kunsttheorie und gegen die bestehenden ästhetischen Normative begründete. Es geht dabei vor allem um die fehlerhafte perspektivische Darstellung sowie die bislang nicht übliche Verwendung der Natur als ein religiöses Motiv für ein Altarblatt. Die Vorwürfe bleiben unwidersprochen, wenngleich sie nur einem kleinen Kreis von Dresdner kunstinteressierten Intellektuellen bekannt sind. Die Freunde des Malers, die den Altar verteidigen, können der Kritik nicht widersprechen, sondern nur vehement dafür werben, das ‚Neue‘ in der Kunst als Fortschritt anzuerkennen. An diesem Punkt wird noch deutlicher erkennbar, dass die Irritation in der Kopplung zweier kommunikativer Systeme eintritt, die über unterschiedliche operative Codierungen verfügen. Friedrich hatte den Altar für die Kapelle im Schlosspark von Hohenzieritz entworfen, konnte diesen dort aber letztendlich nicht aufstellen. Stattdessen erweckte er den Eindruck, das „Kreuz im Gebirge“ für das böhmische Schloss Tetschen gefertigt zu haben, das über gar keine Kapelle verfügte. Das in technischer Hinsicht kritisierte ‚Neue‘, das seitdem als genial gilt, war im Grunde das Unvermögen seines Schöpfers, eine Idee nach den Regeln der perspektivischen Darstellung umzusetzen. Um einen einzelnen Sachverhalt in aller Verkürzung zu beschreiben: Die skizzierte Geometrie eines in der Kapelle vorhandenen hölzernen Pyramidenstumpfs, auf dem sich ein Kruzifix aus Metall befand, kleidete Friedrich in die landschaftlichen Gegebenheiten eines Berggipfels, was er selbstverständlich nicht zur Erklärung anführen konnte. Das Bild wird zur hieroglyphischen Ikone, der Maler zur geheimnisvollen Figur der Kunstgeschichte. Er erkannte die für sich vorteilhafte Situation und begab sich unversehens in die ihm von seinen Freunden angetragene Rolle des Avantgardisten. Die operativen Codierungen der beiden kommunikativen Systeme (Maler und Öffentlichkeit) verfügten nur über eine minimale (schwache) Kopplung, die eine maximale Irritation bewirkte. Das dritte für Friedrich bedeutende Ereignis seiner Karriere war die Reaktion auf die Ausstellung seiner beiden Gemälde „Mönch am Meer“ und „Abtei im Eichwald“ in der Berliner Ausstellung der Preußischen Akademie der Künste im Herbst 1810. Bei diesen Arbeiten findet man im Kern eine vergleichbare kommunikative Problemlage wie beim „Tetschener Altar“. Allerdings agieren in diesem Fall mehrere sich gegenseitig bedingende Systeme: Zunächst ist dies die Presse in Gestalt der „Berliner Abendblätter“. Deren Herausgeber, Heinrich von Kleist, beauftragt Clemens Brentano und Achim von Arnim mit einer Besprechung von Friedrichs Bildpaar. Die beiden Autoren thematisieren das völlige Unverständ-

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nis des Ausstellungspublikums gegenüber dem „graulichen“ Werk des Malers in einer Persiflage. Kleist druckte diese Schmähungen nicht ab und verfasste selbst einen kongenialen Artikel unter der Überschrift „Empfindung vor Friedrichs Seelandschaft“.10 Des Dichters mächtige Wort machte damit den „Mönch“ zu dem Berliner Kunstereignis des Herbstes. Daraufhin meldeten sich Kaufinteressenten des Kunstmarktes, die jedoch ihre Gebote zurückzogen, als das preußische Königshaus, genauer, der Kronprinz Friedrich Wilhelm, seine Kaufabsicht zu erkennen gab. Der junge Monarch entdeckte in diesen eschatologisch deutbaren religiösen Motiven zwei Trostbilder, die ihn über den Tod seiner Mutter, der Königin Luise, hinweghelfen sollten. Mit dem Interesse des Kronprinzen war Friedrich als Künstler geadelt. Die Aufnahme in die Berliner Akademie schien notwendig. Doch der Senat der Akademie stand der Mitgliedschaft des „Dresdner Ankömmlings“ in Teilen ablehnend gegenüber. Letztlich kam es zu einer Kampfabstimmung, die mit fünf zu vier Stimmen zu Gunsten des Malers entschieden wurde. Alles, was nach 1810 auf Friedrichs Staffelei entstand, fand nicht mehr diese außerordentliche Anerkennung und breite Aufmerksamkeit. Seine Typisierung als ein sog. ‚Nebel- und Friedhofsmaler‘ war abgeschlossen. Bilder, die neue Entwicklungen im Werk dokumentieren, wie der „Wanderer über dem Nebelmeer“, „Zwei Männer in Betrachtung des Mondes“11 (1819) oder die „Kreidefelsen auf Rügen“, heute Ikonen der Romantik, stellte er nicht mehr aus. Arbeiten, die unter der französischen Besetzung oder in der folgenden Zeit der Restauration als politisches Statement zu deuten waren, blieben weitgehend wirkungslos, weil man darin die Grenze dessen überschritten sah, was Kunst im gesellschaftlichen Konsens ausmachen sollte. Als sich Friedrich seiner Einflussmöglichkeiten als politischer Maler und potenzieller Störenfried bewusst wurde, erreichte er kaum noch nennenswerte Resonanz in der Öffentlichkeit. Er verkaufte nun seine Bilder an Kunstliebhaber wie jeder andere Maler und geriet nach 1825 immer mehr in Vergessenheit. Nach seiner Wiederentdeckung Ende des 19. Jahrhunderts spielten die systemischen Bedingungen, unter denen Friedrichs Werk entstand, wenn überhaupt, nur noch eine nachrangige Rolle. Sein Platz in der Kunstgeschichte wurde nach dem Interpretationsbedürfnis der jeweiligen Kunstpolitik oder Theoriebildung definiert. Mal nationalistisch, mal rassistisch, mal linksliberal, mal als Vorläufer des Impressionismus und der Freilicht-, mal als Vater der abstrakten und konstruktiven Malerei. Biografische Daten und Zusammenhänge dienten hauptsächlich dazu, die jeweilige

10 Kleist, Heinrich von: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Berliner Abendblätter vom 13.10.1810. 11 Friedrich, Caspar David: Zwei Männer den Mond betrachtend. 1819, Öl auf Leinwand, 35 × 44 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. In: Börsch-Supan / Jähnig, Friedrich. 1974, S. 356, Nr. 261.

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Ansicht über das Werk zu stützen. Überwiegend ging es darum, die Modernität der zeitgenössischen Kunst mit einer nationalen, deutschen Tradition verknüpfen zu können. Damit verlagerte sich die wahrnehmbare Irritation von der Strukturkopplung „Künstler und Öffentlichkeit“ zu jener von „Werk und Öffentlichkeit“. Das hatte zur Konsequenz, dass sein Werk weiter von seinen Entstehungsparametern isoliert wurde und zunehmend als Projektionsfläche für den Zeitgeist diente. Der „Wanderer über dem Nebelmeer“ ist mittlerweile illustrativer Bestandteil der Popkultur. Die „Kreidefelsen auf Rügen“ erscheinen oftmals in folkloristischen Zusammenhängen. Das Werk als verrätselter Bilderkosmos eignet sich in idealer Weise als eine schier unerschöpfliche Quelle der Theoriebildung in den Disziplinen der Kunst- und Bildwissenschaft, der Ikonografie oder Romantikforschung. Die entscheidende Frage bleibt jedoch, ob die produktive Störung, die das singuläre Werk möglich machte, wie angenommen, nur als Teil der romantischen Bewegung wirken konnte oder es nicht primär in der Persönlichkeit des Malers begründet liegt? Im Weiteren sei der These gefolgt, die die Frage von Friedrichs Persönlichkeit ins Zentrum rückt. Dazu seien zunächst zwei Ereignisse und deren Interpretation nebeneinandergestellt: Friedrich wählte 1798 nach seinem Studium an der Kopenhagener Akademie Dresden als seinen künftigen Arbeits- und Lebensmittelpunkt. Im Sommer 1798 trafen sich in der Stadt an der Elbe einige prominente Intellektuelle aus dem Jenaer Kreis der Frühromantik. Dazu zählten Friedrich und August Wilhelm Schlegel, Wilhelms Gattin Caroline, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Henrik Steffens und Novalis. Es war dies für den romantischen Diskurs eine fruchtbare Zeit. Welche Ideen dort verhandelt wurden, davon berichten u. a. die überlieferten legendären Galeriegespräche.12 Es ist durchaus üblich, Friedrich in diese erlauchte Runde zu stellen, um ihn als einen der großen Romantiker zu deklarieren. Betrachtet man allerdings die aus dieser Zeit erhaltene Korrespondenz Friedrichs, so erscheint die Verortung des Malers in dieser Runde nicht nur unwahrscheinlich, sondern sogar eher unmöglich. Freimütig berichtete Friedrich, wie er sich in seinem Wohnquartier, im Unterschied zu seinem Freund Lund, gegenüber der Wirtin und deren Töchtern benimmt. Lund ist charmant und führt „die beiden Madmosels“ zum Ostravorwerk aus. Friedrich, den sie darum bitten, lehnt diese Ansinnen mürrisch ab. Lund weiß „mit seinen lieblichen Reden zu unterhalten. Friedrichs Reden, wovon das dritte Wort immer scheiße ist, erweckte Eckel“ bei den jungen Damen.13 Von Lunds Küssen glühten

12 Müller, Lothar (Hrsg.): Schlegel, August Wilhelm: Die Gemählde. Gespräch. Dresden: Verlag der Kunst 1996. 13 Zschoche, Herrmann (Hrsg.): Caspar David Friedrich. Die Briefe. Dresden: ConferencePoint 2006, S. 17.

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ihre Wangen, von Friedrichs „Grüßen“ tat ihnen „der Rücken weh“.14 Lund macht den beiden oft großzügige Geschenke, meist Leckereien. Madam bekommt ein Tuch vom Markt, Sohn Eduard einen Rock. Über Friedrich klagen die Mädchen: „aber was sollen wir von ihnen denken sie fressen alles selber auf“. Der Pommer ist „zuweilen Böse“, auch gegen Lund, und stößt „einige heftige Flüche“ aus oder brummelt vor sich hin. Manchmal zeigt er als erwachsener Mann infantile Ausbrüche, die seine Mitmenschen irritierten. Er notiert: sonst bin ich sehr Munter und weiß oft vor Dolheit nicht was ich anfangen soll, vor einiger Zeit kamm ich auf einen Dollen Einfall, ich wollte nemlich wissen obs woll möglich wäre wen ich mich recht hertzhaft in mein Bette würfe durch und durch zu fallen, ich probierte es, und glücklich brach ich durch, über diese Leitfertig[keit] wurde unsre Madam orndlicher Weise ein bischen böse.15

Ihm schien kaum etwas peinlich zu sein. So zeichnete er als Voyeur seine Wirtin bei halb offener Tür im Toilettenhäuschen sitzend.16 In der Summe der Informationen, die aus dieser Zeit über Friedrich im Alter von 25 Jahren überliefert sind, zeigte er nicht selten ein Sozialverhalten, das ansonsten einem 10-Järigen zugebilligt würde. Und in der Tat fiel es ihm schwer, sich mit zunehmendem Alter den sozialen Normen seines Standes anzupassen. Grundsätzlich gab es immer wieder Lebensphasen, in denen er die Gesellschaft anderer Menschen schlecht aushalten konnte und diese für ihn eine Qual darstellten. Die Psychopathographie des Malers zeigt – soweit man das retrospektiv feststellen kann – eine Reihe von Symptomen, die aus heutiger Sicht Störungen im Spektrum von Autismus und Asperger-Syndrom nahelegen. Es gibt Hinweise auf eine frühe, selektive Begabung, in landschaftlichen Zusammenhängen in besonderer Weise geometrisch beschreibbare Informationen, Strukturen und Muster aufzufassen, was eine außerordentliche Leistung darstellt. Dazu passen weitere Eigenschaften, wie das enorme Vermögen, sich Themen autodidaktisch zu erarbeiten, aber ebenso gibt es dauerhaft wiederkehrende depressive Episoden und soziale Ängste. Hinzu kommen infantile Verhaltensweisen im Erwachsenenalter. Dazu gehören die Schwierigkeiten mit dem, was man heute ‚Smalltalk‘ nennt, wie auch das Einpassen in eine soziale Kommunikation. Ferner das späte Erlernen grundsätzlicher sozialer Regeln, das Sich-Überlastet-Fühlen durch äußere Reize oder auch die als Legasthenie deutbaren Konzentrationsschwächen. Wenn Friedrich vorzugsweise urteilend über sein Handeln in der dritten Person schreibt,

14 Ebd. 15 Ebd. 16 Grummt, Sämtliche Zeichnungen Friedrich. 2011, S. 196, Nr. 183.

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trennt er seine problematische gesellschaftliche Existenz von der verschlossenen Innenwelt als einer höheren moralischen Instanz religiösen Charakters ab. Er sprach von einem unbestimmten Wesen, das in ihm wohnt und „Jesum Christum ergeben [ist]“.17 Friedrich war sich durchaus bewusst, dass er mit bestimmten gesellschaftlichen Normen nicht zurechtkam. Er konstruierte deshalb für sich den ewigen mystischen Kampf zwischen dem ‚guten‘ und dem ‚bösen‘ Ich: Der Mensch stehe Gott wie dem Teufel gleich nahe und gleich ferne.18 Als Sohn eines Seifensieders war für Friedrich eigentlich ein Beruf als Handwerker vorbestimmt, den er jedoch an der Schwelle zum Erwachsenwerden, also mit 14 Jahren, nicht ergreifen konnte. Daran hinderte ihn sehr wahrscheinlich nur eine Erkrankung. Später berichtete er über sein „gewöhnliches“ Befinden, beschrieben als „reißen in den Gliedern was sich bei ärgernis oder schlegten Wetter ein zustellen pflegt, und mußte [dafür] höllisch büßen.“19 Das Ärgernis konnte schon durch den Lärm von Kindern ausgelöst werden. In der Psychopathographie des Malers werden aus den geschilderten Symptomen frühe depressive Episoden gefolgert, einhergehend mit „Antriebsarmut bzw. rascher Erschöpfbarkeit sowie eine Wendung der Aggression gegen das Selbst“.20 Es handelt sich offenbar um Impulskontrollstörungen, die als typische Verhaltenskorrelate bei den verschiedenen Formen der Autismus-Spektrum-Störung auftreten. Der junge Friedrich blieb zunächst zwei Jahre ohne berufliche Ausbildung. Der Zufall wollte es, dass zu dieser Zeit Johann Gottfried Quistorp (1755 – 1835) nach Greifswald kam und als Universitätszeichenlehrer auch Zeichenunterricht für die Knaben der Stadt gab und sich des Sohnes des Seifensieders annahm. Die Ruhe des Zeichensaals hatte für den Jungen anscheinend eine therapeutische Wirkung. Für den klassischen Unterricht zeigte dieser allerdings nur ein durchschnittliches Talent, aber früh eine Leidenschaft für die Landschaftsdarstellung. Er offenbarte eine Inselbegabung, indem er in der Natur sog. Lineamente, also geometrische Strukturen, erkannte, wo andere vielleicht nur ein entzückend grünes Chaos sahen. Quistorp muss diese Fähigkeit zumindest erkannt und dafür nutzbare Literatur

17 Zschoche, Friedrich, Briefe. 2006, S. 74. 18 Eimer, Gerhard: Friedrich, Caspar David. Äußerungen und Betrachtungen einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. Bearbeitet von Gerhard Eimer in Verbindung mit Günther Rat. Kritische Edition der Schriften des Künstlers und seiner Zeitzeugen. Teil 1. Frankfurter Fundamente der Kunstgeschichte XVI. Frankfurt/M.: Universität Frankfurt, Kunstgeschichtliches Institut 1999, S. 29. 19 Zschoche, Friedrich, Briefe. 2006, S. 16. 20 Spitzer, Carsten: Zur operativen Diagnostik der Melancholie Caspar David Friedrichs. Ein Werkstattbericht. In: Bormuth, Matthias / Podoll, Klaus / Spitzer, Carsten (Hrsg.): Kunst und Krankheit. Studien zur Pathographie. Göttingen: Wallstein 2003, S. 83 f.

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empfohlen haben, und zwar das Kompendium der „Theorie der Gartenkunst“ von Christian Cay Lorenz Hirschfeld (1742 – 1792).21 Darin liefert der Philosoph, Kunsthistoriker und Gartentheoretiker gleichermaßen für den Landschaftsgärtner und -maler unter dem Oberbegriff „Landschafter“ instruktive Handreichungen, wie durch strukturelle Mittel in der Gestaltung von Landschaften gewünschte Stimmungen zu erzeugen seien. Unabhängig von dem, was Friedrich in der Folgezeit an den Akademien in Kopenhagen und Dresden an handwerklichen und kompositorischen Fertigkeiten erworben hat, baute er sich mit Hilfe von Hirschfelds Anweisungen eine eigene und abgeschlossene Welt der künstlerischen Selbstorganisation. So kamen u. a. die heute als eigenartig betrachteten Preziosen des Werkes zustande, wie die „Ruine Eldena im Riesengebirge“ (1830/34) oder „Das große Gehege“ (1832).22 Eine andere Quelle in dem umfangreichen Œuvre waren die erweckungstheologischen Schriften seines Jugendfreundes, des Neubrandenburger Theologen Franz Christian Boll (1776 – 1818). Als Voraussetzung für Friedrichs bedeutende Bilderzählungen kann man Text und Struktur nennen. Für diese Bilder benötigte er nämlich eine Erzählung und erkennbare Geometrien, die er „mit Tinten verhüllte“.23 Diese erschienen deshalb rätselhaft, weil er seine Quellen nicht preisgab, also Hirschfeld und Boll. Ein weiterer Aspekt ist die Verwendung der Bilder als „Gefühlsäußerung“, zu der er in seinem zwischenmenschlichen Kontakt nicht fähig war. Derart lässt sich ein Serie von Gemälden lesen, die nach dem Tod seiner geliebten Schwester Catharina Dorothea (1766 – 1808) entstand, die für ihn nach dem frühen Tod der Mutter (1781) auch Mutterersatz war und ihm später lange Zeit im Breesener Pfarrhaus eine Ersatzfamilie bot. Für den Maler konnten solche Bilder mit offensichtlicher Verdrängungsleistung eine wichtige Entlastung sein. Otto Rank, für den, wie für Sigmund Freud, die Schwester als der ideale Mutterersatz anzusehen ist, entwarf eine „Psychologie der Stoffwahl“, mit der er die Verdrängungsarbeit der Dichter beschreibt, was für die bildende Kunst wohl ebenso zutrifft.24 Der Psychoanalytiker versucht damit zu erklären, dass sich

21 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz: Theorie der Gartenkunst. Fünf Bände. 1779 bis 1785. Leipzig: hansebooks 2016. 22 Friedrich, Caspar David: Ruine Eldena im Riesengebirge. 1830 / 34, Öl auf Leinwand, 72 × 101 cm, Pommersches Landesmuseum Greifswald. In: Börsch-Supan / Jähnig, Friedrich. 1974, S. 440, Nr. 415; Ders.: Das große Gehege, 1832, Öl auf Leinwand, 73,5 × 102,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden. In: Ebd., S. 431, Nr. 399. 23 Schwarz, Theodor [Pseudonym Theodor Melas]: Erwin von Steinbach oder der Geist der deutschen Baukunst. Hamburg: Verlag Friedrich Perthes 1834, S. 66 f. 24 Rank, Otto [1907/1918]: Der Künstler. Ansätze zu einer Sexual-Psychologie. Wien: Ulan Press 2012; oder Ders. [1932]: Kunst und Künstler. Studien zur Genese und Entwicklung des Schaffensdranges. Gießen: Psychosozial-Verlag 2000.

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Kunstprozess und Träume derselben psychologischen Mechanismen bedienen, damit auch über die Funktionen von Wunscherfüllung und Bündelung psychischer Spannungen verfügen. Friedrich war – so die Überlegung – anscheinend nicht in der Lage, sich mit seinen Leidenschaften einer anderen Person anzuvertrauen. Daher übergibt er das Unsagbare und Unerklärliche seinen Bildern. Hier scheint Friedrich ganz Romantiker zu sein, der Triebe und hemmungslose autistische Wunschvorstellungen in seiner Kunst zum Ausdruck bringt. Man kann also bei Friedrichs angenommener autistischer Psyche davon ausgehen, dass es sich um eine Störung des extrem autopoietischen Systems in der Strukturkopplung zum sozialen System der Gesellschaft an zwei unterschiedlichen „Übergangsstellen“ handelt. Nimmt man Niklas Luhmanns „Theorie der Wahnentwicklung“ als Erklärungsmuster, kann von einer zweifachen „Störung der Kommunikation“ gesprochen werden.25 Zum einen die fehlerhafte Verarbeitung von sozialen Informationen der autistischen Psyche, zum anderen die Blockierung der zur Interpretation erforderlichen Informationen des Werks in Beziehung zum sozialen System der Öffentlichkeit und Kunsttheorie. Letztlich ist es also die autistische Störung des Künstlers, so die These, die den Grund für die unzureichende Formierung eines ganzen Kapitels der Kunstgeschichte bildet. Denn Friedrich war nicht Teil der romantischen Bewegung, sondern er passte mit seinem eigenem Kunstkosmos zufällig ideal in diese Strömung hinein. Was er als romantisch empfand und künstlerisch zum Ausdruck brachte, empfing er auch nicht als Impulse aus umfangreicher Literatur und Philosophie, wie oft behauptet wurde. Für ihn definierte Hirschfeld, wie man ein Bild für einen romantischen Ausdruck entwickelt. Natürlich gab es auch Rückwirkungen aus dem sozialen System Öffentlichkeit auf die Psyche des Malers. Seine Erfolge stabilisierten seine gesundheitliche Lage enorm – übrigens auch durch politische Anerkennung. Als sich der Widerstand gegen die napoleonische Besatzung formierte, bekam Friedrichs stets belächelter Chauvinismus und Franzosenhass plötzlich eine politische Dimension. Der introvertierte Maler wandelte sich im Kreis der in der Sache eher verhaltenen Dresdner Intellektuellen zu einem furios widerständigen Agitator, der Reden schwingend ganze Gesellschaften unterhielt. Ein Teil folgte ihm begeistert, andere belächelten in ihm einen vermeintlich außer Kontrolle geratenen Eigenbrötler.26

25 Maier, Thomas: Wahnentwicklung aus Sicht der Luhmannschen Systemtheorie. Der Nervenarzt. Berlin: Springer Medizin 2003, S. 35 – 39. 26 Es gibt in der Gegenwart vergleichbare Erscheinungen. Insofern ließe sich – um diesen Aspekt pointierend zu verdeutlichen – z.  B. von einem Greta-Syndrom sprechen, denn bei aller gebotenen Zurückhaltung ließe sich auch bei der jungen schwedischen Umweltaktivistin Greta Thunberg ein mit Friedrichs vergleichbares Verhaltensmuster im Sinne einer Wandlung von der Verschlossenheit zur kompromisslosen Aktivität, die in der öffentlichen Wahrnehmung kontrovers diskutiert

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Als die positiven Reaktionen auf sein Werk ausblieben und seine Kunst als krank denunziert wurde, löste das Phasen tiefster Depression aus, verursachte Ängste und Wahnvorstellungen und endete mit dem vollständigen Rückzug aus der Öffentlichkeit. Das verstärkte wiederum die Möglichkeit unkontrollierter Angstentwicklung, denn bei im Spektrum von Autismus und Asperger Betroffenen verändern sich im Laufe ihres Lebens die Symptome, dominieren oder treten zurück. Bei Friedrich kann man eine Entwicklung zum sog. ‚Camouflaging‘ beobachten, insofern er lernte, die Eigenheiten seiner Erkrankung zu verbergen, weshalb es bei ihm mit zunehmendem Alter schwerer wurde, das autistische Muster von außen zu erkennen. Den Begriff „Autismus“ prägte um 1911 der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler bei seinen Forschungen zur Schizophrenie und verstand unter der Erkrankung „die Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen oder absoluten Überwiegen des Binnenlebens.“27 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert deutete man Friedrichs Verhaltensweisen mit mystischen-religiösen Erklärungen. In der Beschäftigung mit der Psyche des Künstlers entstanden die frühen Grundlagen für eine neue Therapieform, die später Psychoanalyse genannt wurde. Gotthilf Heinrich von Schubert (1780 – 1860), Freund des Malers, Arzt, Naturforscher, Mystiker und Naturphilosoph der Romantik, veröffentlichte 1808 seine populären „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“. Darin formuliert er, angeregt durch Friedrichs Arbeiten, die Theorie von einer „Traumsprache“.28 Diese Traumsprache sei eine der „Natur des Geistes“ angemessene „Hieroglyphensprache“, die als Wortsprache aufgrund ihrer Assoziationskraft und Komplexität nach einer „höheren Art von Algebra“ funktioniere, abhängig von schicksalshaften Lebensereignissen.29 Als Beispiel (Modell) für den Wirkungs­mechanismus der „hieroglyphische[n] Bildersprachen“ und der „Traumbildersprache“ führt Schubert Friedrichs „Jahres- und Lebenszeitenzyklus“30 (1803) an, um zu erklären,

wird, erkennen. So bezeichnet Thunberg ihre Erkrankung am Asperger-Syndrom selbst als Quelle ihres Engagements für den Klimaschutz und als einen Teil ihrer persönlichen Geschichte. 27 Zitiert nach Peters, Uwe Henrik: Wörterbuch der Psychiatrie und medizinischen Psychologie. 6. Neuaufl. München: Fischer bei Elsevier 2007, S. 58. 28 Schubert, Gotthilf Heinrich von: Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften. Dresden: Arnoldsche Verlagsbuchhandlung 1808, S. 196 f. 29 Ebd., S. 303 f. 30 Friedrich, Caspar David: Zyklus „Frühling – Morgen – Kindheit“, 1803, 19,2 × 27,5 cm, Pinsel in Braun. In: Grummt, Sämtliche Zeichnungen Friedrich. 2011, S. 365, Nr. 365; Ders.: „Sommer – Mittag – Jugend“ 1803, 19,5 × 27,5 cm, Pinsel in Braun. In: ebd., S. 366, Nr. 366; „Herbst – Abend – Reife“, 1803, 19,1 × 27,5 cm, Pinsel in Braun. In: ebd., S. 367, Nr. 367; „Winter – Nacht – Tod“, 1803, 19,3 × 27,6 cm, Pinsel in Braun. In: ebd., S. 368, Nr. 368.

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„dass die Worte hinter seinem Pinsel weit zurückblieben“.31 Er „bezeichnet jenes innere Organ, was dem Geiste die Traumbilder reflectirt“ als einen „versteckte[n] Poet[en]“.32 Dazu muss man wissen, dass Friedrich seine Bildschöpfungen oft damit erklärte, dass ihm diese im Traum erschienen seien. Schuberts weiterführendes, 1814 erschienenes Hauptwerk, „Symbolik des Traumes“, beeinflusste im 20. Jahrhundert u. a. Sigmund Freud und C. G. Jung. Carl Gustav Carus, Schüler und Freund des Malers, beschäftigte sich weit intensiver als Schubert mit der Rätselhaftigkeit von Friedrichs Werk. Dem Dresdner Arzt, Maler und Naturphilosophen, dessen „freier Naturalismus nur aus unzähligen Naturstudien hervorgeht“, blieb ein Rätsel, wie überhaupt Bilder entstehen können, wenn ein Landschaftsmaler wie Friedrich „in seinem stark beschatteten Zimmer fast fortwährend über seinen Kunstschöpfungen brütet“.33 Er versuchte, insbesondere die irreal-mystischen Schöpfungen des Lehrers nach den damals noch unentwickelten medizinischen Kriterien psychologisch zu deuten. Die Suche nach Antworten trieb das Interesse des Arztes an der noch in den Kinderschuhen steckenden Psychologie voran. So scheint Friedrich Carus’ Kompendium „Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele“, das dieser 1846 veröffentlichte, durchaus nachhaltig beeinflusst zu haben. Darin wird erstmals und nicht, wie oft behauptet, bei Sigmund Freud, der Begriff des „Unbewussten“ verwendet. Carus formuliert dazu seinen theoretischen Ansatz: Der Schlüssel zur Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region des Unbewußtseins. Alle Schwierigkeit, ja alle scheinbare Unmöglichkeit eines wahren Verständnisses vom Geheimnis der Seele wird von hier aus deutlich. […] Wir besitzen zu jeder Zeit, während wir nur einiger wenigen Vorstellungen uns wirklich bewußt sind, Tausende von Vorstellungen, welche doch durchaus dem Bewußtſein entzogen sind, welche in diesem Augenblicke nicht gewußt werden und doch da sind, und folglich zeigen, daß der größte Theil des Seelenlebens in die Nacht des Unbewußtseins fällt.34

Friedrichs vorgebliche Begründung für die Entstehung seiner Bilderfindungen macht Carus zum zentralen Gegenstand seiner Untersuchung: „das Göttliche in unserm Innern, in seiner Entfaltung aus dem Unbewußten zum Bewußten“. Hier liege „der Schlüssel zu dieser Erkenntniß vom Wesen des bewußten Seelenle-

31 Schubert, Gotthilf Heinrich von: Symbolik des Traumes. Bamberg: Verlagsbuchhandlung Kunz 1814. 32 Ebd. 33 Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Bd. 1. Weimar: Kiepenheuer 1965/66, S. 166. 34 Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim: Verlag Flammer und Hoffmann 1846, S. 1.

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bens“, das „nur in der Region des Unbewußtseins aufgefunden werden könne“.35 So hat das psychoanalytische Modell der Seele seinen Ursprung nicht nur in der Romantik, sondern in dem Versuch, Friedrichs unsichtbaren Schöpfungsprozess nachzuvollziehen. Friedrichs produktive Störung hat also nicht nur Theoriebildungen in der Kunstwissenschaft angestoßen, sie konnte auch auf die Eröffnung einer neuen und zukunftsweisenden Disziplin in den Geisteswissenschaften bzw. in der Medizin wirken. Nimmt daher die systemtheoretische Kunsttheorie die Kunst als ein soziales, gleichwohl autonomes und darum geschlossenes System in den Blick, um Friedrichs Leistung gegenüber anderen Systemen der Gesellschaft zu rekonstruieren, zeigt dieser Einzelfall eines Künstlers, dass allein die Störung des Systems ‚Persönlichkeit‘ die Theoriebildung (zu) einer ganzen Epoche beeinflussen kann. Entscheidend dafür war, dass die Kunsttheorie bei der Suche nach dem CodeSystem des Malers dessen Biografie und der Psychopathographie kaum Beachtung schenkte. Die eigentlich unbedeutende Persönlichkeitsstörung konnte auf diese Weise über eine unzureichende Strukturkopplung der Systeme Künstler und Theorie bzw. Werk und Theorie eine enorme Störungsverstärkung erreichen. Das zeigt ganz nebenbei die Bedeutung der Untersuchung von Störungsverstärkung und Resonanz in Systemkopplungen, die auch in vielen Bereichen der Gesellschaftsanalyse vernachlässigt wird. Letztlich kann man – zugespitzt formuliert – den großen Romantiker Caspar David Friedrich gar als einen „Betriebsunfall“ der Kunstgeschichte ansehen.

35 Ebd., S. 11.

Dominik Pensel

Brand-Spuren und Schwindel-Erscheinungen. Traumatische und unbewusste Erfahrungen in der Literatur des deutschsprachigen Realismus 1. Brennende Augen: Trauma – Triebe – Zeichen Am Anfang dieser Überlegungen steht ein Inferno: das apokalyptisch-katastrophale Ende Grete Mindes in Theodor Fontanes gleichnamiger Erzählung von 1879: Ein Feuermeer unten die ganze Stadt; Vernichtung an allen Ecken und Enden, und dazwischen ein Rennen und Schreien, und dann wieder die Stille des Todes. Und jetzt fielen einige der vom Winde heraufgewirbelten Feuerflocken auf das Schindeldach ihr zu Häupten nieder, und sie sah, wie sich vom Platz aus aller Blicke nach der Höhe Turmes und nach ihr selber richteten. Unter denen aber, die hinaufwiesen, war auch Gerdt. Den hatte sie mit ihrer ganzen Seele gesucht, und jetzt packte sie seinen Knaben und hob ihn auf das Lukengebälk, daß er frei dastand und im Widerscheine des Feuers von unten her in aller Deutlichkeit gesehen werden konnte. Und […] alles […] drängte dem Portal der Kirche zu. Aber ehe noch die Vordersten es erreichen […] konnten, stürzte die Schindeldecke prasselnd zusammen […] und alles ging niederwärts in die Tiefe.1

Wie konnte es so weit kommen? Wie konnte Grete Minde mit ihrer Amoktat nicht nur ihr eigenes Kind, nicht nur den entführten Sohn ihrer verhassten Schwägerin Trud und ihres Bruders Gerdt mit sich in die Todestiefe reißen, sondern auch ihre Heimatstadt „Tangermünde […] in Asche“ legen und vernichten (GM, 118)? Immer wieder hat sich so die Forschung gefragt, „[w]elche Motive […] es für Grete Mindes Tat“ solchen brutalen Ausmaßes, den historischen „Racheakt an der Heimatstadt“ gebe und worin der tiefere „Zusammenhang der Handlung“ bestehe.2 Zwar lassen

1 Fontane, Theodor: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik. Bearb. von Claudia Schmitz. Berlin: Aufbau 1997, S. 116 f. (GBA; Bd. I/3) [im Folgenden unter der Sigle „GM“ im Text]. 2 Vgl. dazu: Ester, Hans: Grete Minde. Die Suche nach dem erlösenden Wort. In: Fontanes Novellen und Romane. Hrsg. von Christian Grawe. Stuttgart: Reclam 1991, S. 46; vgl. auch: Pailer, Gaby: Schwarzäugige Mordbrennerin. Fontanes Grete Minde, eine Tochter von Cervantes’ La gitanilla. In: rebellisch verzweifelt infam. Das böse Mädchen als ästhetische Figur. Hrsg. von Renate Möhrmann. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 171 f. https://doi.org/10.1515/9783110683028-013

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sich – von sozialer Stigmatisierung etwa als ‚Zigeunerin‘3 und religiös-konfessioneller Demütigung4 über „lieblose Drosselung ihrer Vitalität“5 oder häusliche (psychische) Gewalt durch ihre Schwägerin bis zur abschließenden Versagung ihres Erbes – zahlreiche Gründe finden, die eine Klassifikation als „Racheakt“ erlauben. Die irrational-apokalyptische Dimension dieser Tat bleibt aber dennoch unerklärlich und führt zu mancher „Irritation über die ambivalente Handlungsmotivierung“.6 Noch irritierender wird dies, bedenkt man, dass Grete keinesfalls, wie zumeist angenommen, ihre Tat nur in einem „Akt wahnhafter Selbstjustiz“ vollzieht.7 Vielmehr hebt der Erzähler explizit hervor, dass „keine Ungeduld über sie“ (GM, 114) komme und sie stattdessen nach einem klar strukturierten Plan völlig rational vorgehe.8 Als rationales Subjekt handelt sie also mit „Klarsicht“ und „Vorsätzlichkeit“ – doch zugleich handelt sie derart unverhältnismäßig, dass sie jedes Maß an „innerer Rationalität des Verbrechens“ übersteigt.9 Angesichts dieser radikalen Unähnlichkeit zwischen vernünftigem Subjekt und unvernünftiger Tat, wird die juristisch notwendige „Zurechenbarkeit der Tat zum Subjekt“ jedoch unmöglich.10 Nicht unähnlich zum berühmten Fall Henriette Corniers, muss daher auch Grete Mindes alle „Rationalität / Begründbarkeit“ übersteigende Tat „von einer besonde-

3 Vgl. Lenczowski, Die ‚Fremdheit‘ Grete Mindes. Zur Repräsentation und Funktion von ‚Zigeunern‘ in Theodor Fontanes Grete Minde (1879). In: transcarpathica 9, 2010, 5 – 85; Pailer, Schwarz­äugige Mordbrennerin. 2012. 4 Lenczowski, Fremdheit. 2010, S. 69 – 79; vgl. auch: Cramer, Sabine: Grete Minde. Structures of Societal Disturbance. In: New Approaches to Theodor Fontane. Cultural Codes in Flux. Hrsg. von Marion Doebeling. Columbia/SC: Camden House 2000, S. 136 – 159. 5 Jensen, Birgit A.: Auf der morschen Gartenschaukel. Kindheit als Problem bei Theodor Fontane. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1998, S. 142; sowie: Ester, Grete Minde. 1991, S. 52 f. 6 Vgl. nochmals: Ester, Grete Minde. 1991, S. 46. 7 Vgl. Pailer, Schwarzäugige Mordbrennerin. 2012, S. 173; vgl. auch: Jensen, Gartenschaukel. 1997, S. 55, 102. 8 In diesem klar strukturierten Plan („darauf hatte sie gewartet“, „noch zu früh“, „nun ist es Zeit“) bezieht sie etwa den Gewittersturm als Brandbeschleuniger ein, „wartet“ auf geeignete Momente, beobachtet und prüft die Lage und berechnet nicht nur das Geschehen – Brandlegung und Entführung – im Vaterhaus („Das war es, was sie wollte“), sondern auch die wie „erwartet“ eintretenden (Re-)Aktionen der Gemeinschaft (vgl. 113 – 117). 9 Ich folge hier: Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974 – 1975). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, hier S. 153; vgl. ferner: Vogl, Joseph: Menschliche Bestien. Zur Entstehung der Triebe. In: Trieb. Poetiken und Politiken einer modernen Letztbegründung. Hrsg. von Jan Niklas Howe und Kai Wiegandt. Berlin: Kadmos 2014, S. 92 – 106. 10 Foucault, Die Anormalen. 2003, S. 164. Da die Handlung im 17. Jahrhundert verortet ist, das neue Strafsystem, in dem „man nicht mehr das Verbrechen, sondern den Verbrecher bestraft“ (vgl. ebd., S. 151), sich aber erst um 1800 durchsetzt, handelt es sich hier inhaltlich um einen – im Realismus häufigen – (technischen) Anachronismus.

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ren Dynamik herrühren“, die den Rechtsmechanismus „durcheinanderzubringen“, zugleich aber auch neu zu begründen vermag.11 Doch worin könnte diese bestehen? Lassen sich etwa Zeichen, Anzeichen, Signale in der kurzen Lebensgeschichte Grete Mindes finden, die auf die spätere Tat und die ihr zugrundeliegenden Antriebe verweisen? Man braucht nicht lange zu suchen, bis man auf eine alte katholische Klostervorsteherin stößt, die „mit scharfen Augen“ (GM, 92) erkennt, dass Grete ein „[u] nglücklich Kind“ sei: Sie habe „das Zeichen“, nämlich „schwarze Augen“, die nicht „lachen“, sondern „brennen“ (GM, 94), woraus sie schließt, dass Grete „keinen dritten Tag mehr“ lebe (GM, 97) – was tatsächlich exakt zutrifft. Der Verdacht drängt sich also auf, dass diese ‚brennenden Augen‘ etwas mit der ‚brennenden Stadt‘ zu tun haben, sodass sich noch weitere An-“Zeichen“ entziffern und daraus vielleicht doch jener fehlende tiefere ‚Zusammenhang der Handlung‘ erkennen lässt. In diesem Sinne wurde die zeichenhafte „Motivverflechtung“ der Erzählung zwar immer wieder bemerkt, zugleich aber als „überzogene romantische Elemente“ auf einer unangemessenen „Ebene des Nicht-Rationalen“ kritisiert.12 Dabei ist es erstaunlich, dass die Forschung bislang nicht versucht hat, diese beiden Ebenen zusammenzudenken, also die semiotischen Netzwerke gerade auf dieser ‚nichtrationalen‘ Ebene ernst zu nehmen und dort im Zuge „einer symptomatologischen Lektüre“ jene ‚Zeichen‘ „als Signalement, das auf das unbekannte Verbrechen […] verweist“13, zu verstehen. Nicht nur, so gilt es im Folgenden zu zeigen, kommt man damit der „‚psychologische[n]‘ Aufgabe“ näher, die Fontane „erzählen“ und „lösen“ wollte.14 Vielmehr kann man auch mit dem alten Vorurteil aufräumen, dass in realistischen Texten „Zeichen der Textebene […] eigentlich nur zur Konstitution der Darstellung“ dienten und daher eine „[a]kribische Lektüre […] nur selten belohnt“ werde.15 Ganz im Gegenteil reflektiert der Text von Beginn an den Status von ‚Zeichen‘ und wirft immer wieder die Frage nach ‚Bedeutung‘ auf (vgl. GM, 10): So werden etwa (non-)verbale „Zeichen, wie der Mensch zum Menschen spricht“ (GM, 29), diskutiert oder es wird betont, dass diese gelesen und interpretiert werden müssen, denn „sie bedeuten ‘was“ (GM, 17). Über Körperzeichen, aber auch historisch signifikante „Steine“, erhält man so einen (archäologischen) Zugang zu indivi-

11 Ebd., S. 169; vgl. Vogl, Menschliche Bestien. 2014, S. 96. 12 Vgl. zu dieser „Verlegenheit der Forschung“: Ester, Grete Minde. 1991, S. 46 f. 13 Vogl, Menschliche Bestien. 2014, S. 105. 14 Vgl. Fontanes Brief an Emilie Fontane vom 11. August 1878 (GBA; I/3, S. 123). 15 Vgl. Baßler, Moritz: Deutsche Erzählprosa 1850 – 1950. Eine Geschichte literarischer Verfahren. Berlin: Schmidt 2015, S. 28 f.

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dueller wie kollektiver „gegenwärtige[r] Vergangenheit“, so dass ein „innere[r] Zusammenhang von Gegenwart und Zukunft“16 entsteht (vgl. GM, 61 ff.). Dies erklärt, warum jene Klostervorsteherin zu einer „wise woman“ mit der „ability to predict the future“, zur „prophecy“ werden kann.17 Doch Fontanes Erzählung geht deutlich darüber hinaus: Offensichtlich arbeitet sie an etwas, das Carlo Ginzburg als ‚Indizien-Paradigma‘ bezeichnet hat, findet man doch neben der „Wahrsagekunst“ auch die zweite Grundform dieses Paradigmas: nämlich das – v. a. mit Gretes Freund und Geliebten Valtin – verbundene „Jägerwissen“ und damit die „Fähigkeit“, aus unscheinbaren „Spuren, Symptome[n] und Indizien“, also „in scheinbar nebensächlichen empirischen Daten eine komplexe Realität aufzuspüren, die nicht direkt erfahrbar ist“.18 Dieser Komplex aus (Nicht-)Wissen, (Un-) Sichtbarkeit und Zeichenhaftigkeit beginnt bereits mit dem nur zu erschließenden Hänflingsnest auf der ersten Seite und ist am deutlichsten in der Verirrungsszene, als Valtin tatsächlich in der „Tiefe des Waldes“ (GM, 33) Naturzeichen und „Spuren zu erahnen, wahrzunehmen, zu interpretieren und zu klassifizieren“ weiß19 und so sicher nachhause findet. Vom ersten Wort an inszeniert „Grete Minde“ somit das ganze Spektrum eines zeichendeutenden „Jäger-, Wahrsage-, Indizien- oder semiotische[n] Paradigma[s]“ als „epistemologisches Modell“: also der abduktiven (Re-)Konstruktion eines Wissens durch einen „tiefen Zusammenhang, der die Phänomene der Oberfläche erklärt“, sodass, obschon „eine direkte Kenntnis dieses Zusammenhangs unmöglich“ und die „Realität ‚undurchsichtig‘ ist, […] es doch besondere Bereiche – Spuren – Indizien – [gibt], die sich entziffern lassen“.20 Bedenkt man, dass Ginzburg selbst dieses Modell mit dem Verfahren der Psychoanalyse verbunden hat, so liegt es nahe, Grete Mindes ‚Zeichen‘ auf histoireEbene in diesem Zusammenhang zu verstehen.21 Folglich setzt Fontanes Erzählung – wie alle weiteren hier behandelten – ein ‚nachgeothezeitliches‘ Modell „einer verborgenen, unsichtbaren Psyche und ihres sichtbaren zeichenhaften Ausdrucks“

16 Vgl. dazu: Koselleck, Reinhart: ‚Erfahrungsraum‘ und ‚Erwartungshorizont‘ – zwei historische Kategorien. In: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Hrsg. von Reinhart Koselleck. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 353 f. 17 Cramer, Grete Minde. 2000, S. 150 f. 18 Ginzburg, Carlo: Spurensicherungen: Berlin: Wagenbach 1983, S. 70 f. 19 Ebd., S. 69. 20 Ebd., S. 84 bzw. S. 90. 21 Für den hier relevanten frühen Zeitraum der 1890er Jahre trifft dies sicher zu, insgesamt scheint die Freudsche Psychoanalyse aber doch komplexer: Vgl. dazu: Strowick, Elisabeth: Comparative Epistemology of Suspicion: Psychoanalysis, Literature, and the Human Sciences. In: Science in Context 18, 2005, H. 4, S. 649 – 669.

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voraus:22 Wenn Grete etwa „allem Anscheine nach ruhig aus dem Hause getreten [war]; aber in ihrem Herzen jagte sich‘s wie Sturm“ (GM, 107) und „[u]nwillkürlich beschleunigte sich ihr Schritt“ (GM, 101), dann ist diese Psyche zwar zunächst in der Tiefe ihrer „Seele“ (vgl. u. a. GM, 68), also „in einem Raum jenseits des Sichtbaren“ der wahrnehmbaren Person lokalisiert. Zugleich aber „manifestiert“ sich diese nicht direkt beobachtbare, sondern nur postulierbare Psyche […] prinzipiell an der wahrnehmbaren Oberfläche, und zwar indirekt […]. Die Manifestation erfolgt also unwillkürlich, in „Äußerungen“, die das Subjekt, im Gegensatz zu den von ihm produzierten sprachlichen Äußerungen, nicht bewußt kontrolliert.23

Gretes ‚brennende Augen‘ sind ein ebensolcher ‚indirekter‘ zeichenhafter Ausdruck, ein unscheinbares, aber bedeutendes ‚Zeichen‘, ein Symptom auf der sichtbaren Körperoberfläche, dessen Spur man kombinierend und deutend in die nicht-beobachtbare Tiefe der Person verfolgen und so ein Indizien-Wissen als „Form eines stummen Wissens“ herstellen kann.24 Dass dieses tatsächlich Aufschluss über die irrationale Tat Grete Mindes geben könnte, lässt sich nicht mehr bestreiten, wenn es kurz vor der Tat heißt, dass jener starr-unheimliche Zug […] wieder da [war], der über die Trübungen ihrer Seele keinen Zweifel ließ. Es war ihr mehr auferlegt worden, als sie tragen konnte, und das Zeichen, von dem die Domina gesprochen, heut hätt es jeder gesehen (GM, 113).

Vor diesem Hintergrund handelt es sich bei der alten Klostervorsteherin in Grete Minde also weniger um eine mythisch anmutende Seherin, denn um eine kluge (präpsychoanalytische) Beobachterin: In einer luziden Analysesituation, in der Grete „ins Licht“ der Aufmerksamkeit gerückt ist (GM, 92), (re-)konstruiert die taube Domina ein ‚stummes Wissen‘ von Vergangenheit und Zukunft, indem sie von den Oberflächenzeichen in die Tiefe der Person schließt. Dort aber stößt sie auf ‚Trübungen der Seele‘, auf das, was Grete nicht mehr tragen, nicht ertragen kann – und mithin auf ein schweres psychisches Trauma, auf eine Störung des Selbst. Auf discours-Ebene lässt sich dieses durch Kombination vermeintlich ‚unwesentlicher Details‘ gewonnene symptomatologische ‚stumme‘ Indizien-Wissen mit Jacques Rancières Konzept einer „stummen Sprache“ oder „stumme[n] Schrift der Dinge“ beschreiben, die er als eine spezifische, in der Mitte des 19. Jahrhunderts

22 Vgl. dazu: Lukas, Wolfang: ‚Zeit‘ und ‚Psyche‘. Zwei problematisierte Größen in der Erzählliteratur zwischen Goethezeit und Realismus. In: Kodikas / Code 19, 1996, H. 3, S. 166. 23 Ebd. 24 Ginzburg, Spurensicherung. 1983, S. 91.

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aufkommende, „literarische Sprache als Sprache des Symptoms“ charakterisiert.25 Diese ist nicht mehr einseitig – wie in der „agierenden Sprache“ der klassizistischen Tragödie – von ihrer „zu übermittelnden Bedeutung und einer hervorzurufenden Wirkung geleitet“, sondern gerät als platonisch-‚geschwätzige‘ „stumme Schrift“ der Prosa zu einem „widersprüchlichen Modus einer Sprache“, in dem Buchstaben und Rede vaterlos werden. Derart unreguliert und unkontrolliert, beginnen die „Details“ zu sprechen als „Zeichen […], in denen die Geschichte verschlüsselt ist“, sodass der Leser die Vielheit und Vielseitigkeit der Bedeutungsspuren „entziffern“ muss.26 Dies lässt sich nicht nur mit „Grete Minde“ verbinden, sondern auch mit Fontanes poetologischem Konzept einer „reizvollen Vieldeutigkeit“ und „Unbestimmtheit, die immer da waltet, wo ein reiches inneres Leben sich in seiner Ganzheit vor uns erschließt“ und die „statt einseitiger Befriedigung, eine vielfache und fruchtbare Anregung gibt.“27 Folglich kommen die in die Tiefe der Person führenden Zeichen auf der Körperoberfläche der histoire-Ebene mit denjenigen auf der Textoberfläche der discours-Ebene zusammen – und das Modell des Textes geht mit dem Modell der Psyche einher. Damit ist die Geschichte „Grete Minde“ die Lebensgeschichte Grete Mindes und der Gang in die Tiefe der Person ist zugleich ein Gang in die Tiefe der Erzählung. Folgt man – wie die Klostervorsteherin – also der Spur des Körperoberflächenphänomens der brennenden Augen auf der Textoberfläche, so trifft man beinahe auf jeder Seite auf rote, glühende, feurige ‚Brand‘-Zeichen: vom Stadtbrand, wo es nach Gretes Brandlegung „im nächsten Augenblicke […] in rothen Funken über den First hin[lief]“ (GM, 109; Hervorhebung von D.P.), und ihren „schwarzen Augen“ (GM, 25), die bisweilen „blitzten in einem unheimlichen Feuer“ (GM, 38), über die Sonne, welche ungewöhnlich „heiß“ und „schwül“ „brannte“ (GM, 27; 35; 96; 98), über eine ausgedehnte Grete-als-Hexe-Metaphorik (GM, 31; 74 u. ö.) bis zur ‚glutroten‘ Farbe – sei es auf Gretes erregten Wangen, im „rothe[n] Schein“ am Horizont, als „die Burgthürme bereits im Abendrothe“ (GM, 64) oder die Kirche „wie in lichtem Feuer glühte[n]“ (GM, 43), sei es als giftiger „rothe[r] Fingerhut“ (GM, 74) oder als (wahnhaftes) „rothes Männlein“ (GM, 107). Verfolgt man diese Spur der Brandzeichen – mit Josef Breuer – „rückwärts bis zu der Veranlassung des

25 Rancière, Jacques: Das ästhetische Unbewusste. Zürich/Berlin: Diaphanes 2006, S. 29 bzw. S. 26. Vgl. u. a. auch: Ders.: Die stumme Sprache. Essay über die Widersprüche der Literatur. Zürich/Bern: Diaphanes 2010. 26 Rancière, Ästhetisches Unbewusstes. 2006, S. 26. Tatsächlich wird ja auch Grete selbst „eine Waise“ (GM, 43). 27 Fontane, Theodor: Aus Manchester. In: Aufzeichnungen zur bildenden Kunst. Hrsg. von Rainer Bachmann und Edgar Groß. München: Nymphenburger 1970, S. 145 (NFA; Bd. XXIII/1).

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erstmaligen Auftretens“28, so stößt man gewissermaßen auf ein ‚Ur-Brennen‘, ein Erlebnis, das ihre Lebensgeschichte bis zum Schluss determiniert. Bei einer Puppenspieler-Aufführung ausgerechnet des Jüngsten Gerichts, welche die 13-jährige Grete besonders imaginativ-pathisch rezipiert, ereignet sich ein katastrophales „Unglück“ (GM, 21), ein Unfall, auf der Bühne: mit einem „heftig[en]“ „Knall“ gerät diese plötzlich in Brand und mit ihr bricht der völlig überfüllte Saal in Flammen aus: „alles [ist] Rauch und Qualm und Feuer“, eine Massenpanik, ein „furchtbar Menschengedränge“ entsteht, „zwei Frauen und ein sechsjährig Kind [kommen] elendiglich ums Leben“, Grete „dachte, der letzte Tag sei da“, ihr ist, „als ob sie [sie] erdrückten“, sie hat „nicht Luft und Atem mehr“, sinkt später bewusstlos nieder – und wird erst im letzten Moment von Valtin gerettet, ohne den sie „erdrückt oder verbrannt oder vor Angst gestorben“ wäre (GM, 16 – 24). Handelt es sich hier um ein schockierendes, „durch plötzliche, heftige Gemüthserschütterungen, insbesondere den Schreck hervorgerufen[es]“29, datierbares „persönliches Erlebnis in der Geschichte“ Gretes, das „durch die peinlichen Affekte, die es auslösen kann, subjektiv von Bedeutung ist“30 und „dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, daß die Erledigung oder Aufarbeitung desselben in normal-gewohnter Weise missglückt, woraus Störungen im Energiebetrieb resultieren“31, dann geht es hierbei zweifelsfrei um eine Erfahrung, die man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts traumatisch nennt. Infolge dieser missglückten Aufarbeitung, wirkt das „psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers […], welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muss“ und sich in „Symptomen“, in jener Spur der An-‚Zeichen‘ äußert.32 Mit der klaren Verortung in ihrer „verwilderte[n] Seele“ (GM, 68), also im Psychischen, geht der Text im Jahr 1879 über die meisten zeitgenössischen Theorien

28 Breuer, Joseph / Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Frankfurt/M.: Fischer 1991, S. 55. 29 Kraepelin, Emil: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte. Leipzig: Barth 61899, S. 68. Anhand Kraepelins erstmals 1883 als Compendium der Psychiatrie und von 1887 bis 1927 in neun Auflagen erschienenen Psychiatrie lässt sich der wissenschaftliche Umgang mit dem ‚Trauma‘-Begriff gut erkennen: Erst ab der fünften Auflage 1896 wird er auf die psychische Ebene übertragen, zunächst noch kritisch – da „die bequeme Diagnose der ‚traumatischen Neurose‘ den Anlass zum Übersehen wichtiger Krankheitszeichen“ gebe (51996, S. 754) –, um dann ab der sechsten Auflage die traumatische „Schreckneurose“ – nicht ohne Ambivalenzen – zu integrieren. 30 Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 515. Vgl. zu neueren Definitionen u. a. Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Berlin/Heidelberg: Springer 2013. 31 Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: GW XI, S. 284. 32 Freud, Sigmund / Breuer: Studien über Hysterie. In: GW I, S. 30.

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zum Trauma hinaus33: Bis zu Hermann Oppenheims „Die traumatischen Neurosen“ (1889), Pierre Janets „L’automatisme psychologique“ (1889) und schließlich den Arbeiten Breuers und Freuds dominerte die von John Eric Erichsen in den 1860er Jahren in Verbindung mit Eisenbahn-Unfällen entwickelte und später ‚railwayspine‘ bezeichnete physische Konzeption, wonach Traumata aus Mikro-Läsionen durch Rückenmarks- bzw. Gehirnerschütterungen herrührten. Damit wurden – in Deutschland etwa mit dem auch unter Realisten bekannten Psychiater Wilhelm Griesinger34 – psychische Krankheiten konsequent auf organische Ursachen zurückgeführt und im Sinne des rationalen, autonomen Ich unwillkürliche, psychisch-unbewusste Vorgänge ausgeschlossen. Demgegenüber verweisen aber die „Zeichen“ in „Grete Minde“ erstens symptomatologisch zurück zum psychischen Trauma, das Gretes Handlungen bestimmt, spiegeln zweitens die nicht-bewusste, „unwillkürliche“ Struktur wider, in der sich diese Zeichen aufdrängen und in der ihre Aktionen zu unbewusst fremdbestimmten Re-Aktionen werden, und deuten damit drittens auf eine von dem Trauma initiierte unkontrollierbare, „nackte“ „Dynamik des Unwiderstehlichen“35 hin, einen paroxistischen, blind drängenden Trieb, der ihre – gleichwohl rational geplante und ausgeführte – Tat letztlich antreibt. In diesem Sinne wird nun nachträglich – auch narrativ – deutlich, dass die traumatische Erfahrung der „verhängnißvolle[n]“ Brandkatastrophe die Figur wie den Text ‚Grete Minde‘ nachhaltig prägt (GM, 109): Latent prägt sie – wie es bereits in der Kapitelüberschrift heißt – alles, „was weiter geschah“ (GM, 16), die gesamte Lebensgeschichte bis zum Ende, indem sie „der willentlichen Erinnerung und Symbolisierung entzogen, aber in der Buchstäblichkeit von flashbacks und Wiederholungsträumen terroristisch präsent“ bleibt.36 Sie terrorisiert Grete so lange, bis sich der psychische Terror in der finalen Terrortat entlädt – eine Tat, die nun in ihrem apokalyptischen Ausmaß dem Trauma des Jüngsten Gerichts durchaus ‚ähnlich‘ ist. Dass derartige, v. a. kindliche, schockierende „Eindrücke“ eine „junge Seele“ lebenslang wie ein „Wachsklümpchen“ prägen und in der Folge „durch nichts

33 Zur (Medizin-)Geschichte des Traumas, vgl. Ellenberger, Henri F.: The Discovery of the Unconscious. New York: Basic Books 1970; sowie: Leys, Ruth: Trauma. A Genealogy. Chicago/London: UCP 2000. 34 Vgl. dazu insgesamt: Thomé, Horst: Autonomes Ich und ‚Inneres Ausland‘. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten (1848 – 1914). Tübingen: Niemeyer 1993, u. a. S. 58. 35 Vgl. Foucault, Die Anormalen. 2003, S. 171. 36 Mülder-Bach, Inka: Einleitung. In: Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkriegs. Hrsg. von Inka Mülder-Bach. Wien: Universitätsverlag 2000, S. 10.

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in der Welt jemahls ganz wieder ausgeglättet oder zernichtet werden können“37, sondern sich vielmehr „oft unmerklich unter unsere übrigen Ideen“ „mischen“ und diese dirigieren, ist spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bekannt.38 Je schockierender diese Eindrücke sind, desto tiefer die Prägung und desto ‚unmerklicher‘ die Wirkmacht. Entsprechend stark muss Gretes Prägung sein, da die traumatische Erfahrung sie in einem imaginativ-pathischen Moment der Verwirrung aller Realitäts- und Subjekt-Objekt-Ebenen trifft, als sie nämlich die Aufführung des Jüngsten Gerichts derart identifikatorisch rezipiert, dass es „ihr war, als würde sie selbst vor Gottes Thron gerufen, und ihr Herz schlug und ihre zarte Gestalt zitterte“ (GM, 19). Dabei ist es kein bloßer, effektvoller Zufall, dass es sich um eine Aufführung des Jüngsten Gerichts handelt. Konnte die junge Grete vorher nicht unter- oder entscheiden, ob etwas „recht“ oder „gut“ oder „bös“ ist (GM, 7; 17), so wird sie im Zuge der Aufführung in eine „Sonderung in Gut‘ und Böse“ bzw. Recht und Unrecht eingewiesen (GM, 18). Da diese Einweisung aber durch die Brandkatastrophe gestört wird, steht Gretes (Un-)Rechtsempfinden fortan in direktem Zusammenhang mit ihrem Trauma. In der Folge kann sie zwar Handlungen und Aussagen – v. a. Truds – als „Unrecht“ und „böse“ (GM, 70; 24) einordnen, doch sie „kann kein Unrecht sehn“ und „wenn ich‘s seh‘“, so gesteht sie, „da gibt es mir einen Stich, hier gerad‘ ins Herz, und ich möchte dann weinen und schrein“ (GM, 47). Zugleich verfällt sie dabei, bisweilen „ohne zu wissen was sie that“ (GM, 68), mit den bekannten Symptomen in unkontrolliert-aggressive, triebhafte Verhaltensmuster, wobei „ihre bis dahin niedergeschlagenen Augen […] in einem unheimlichen Feuer auf[blitzen]“ (GM, 38) und sich „etwas Böses in ihr“ (GM, 32) zu regen scheint. Warum sie derart heftig affektiv überreagiert, kann der Text aber nicht erklären und so bleibt diese vermehrte Reizbarkeit eine Leerstelle, die als Lücke auf das Trauma Gretes verweist. Man kann nur vermuten, dass Grete deshalb ‚kein Unrecht sehen kann‘, weil es die verdrängte Erinnerung an die Brandkatastrophe und also das Trauma wiederbeleben, gewissermaßen also triggern würde. Tatsächlich wird diese Vermutung durch eine Szene bekräftigt, in der Grete nach der emotional aufwühlenden Beerdigung ihres Vaters noch in der Kirche zurückbleibt: Dort denkt sie in einem Wachtraumzustand an die ungerechte Trud und „fühlte deutlich, wie sich ihr das Herz dabei zusammenschnürte“, ihr zunächst „fröstelte“ und sie „plötzlich“ eine Art Illusion bzw. Halluzination erfährt (GM, 42 f.):

37 Campe, Johann H.: Ueber die früheste Bildung junger Kinderseelen im ersten und zweiten Jahre der Kindheit. Hamburg: Bohn 1785. Bd. 2, S. 13 f. 38 Moritz, Karl P.: Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit. In: Werke. Hrsg. von Heide Hollmer und Albert Meier. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag 1999. Bd. 1, S. 821.

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 Dominik Pensel Grete „gewahrte, daß das Abendroth in den hohen Chorfenstern stand und daß alles um sie her wie in lichtem Feuer glühte: die Pfeiler, die Bilder und die hochaufgemauerten Grabsteine. Da war es ihr, als stünde die Kirche rings in Flammen, und von rasender Angst erfaßt, verließ sie den Platz, auf dem sie gesessen, und floh über den Kirchhof hin.“ (GM, 43)

Möglicherweise würde man heute eine solche „Erinnerungsattacke, die durch ihre Plötzlichkeit und Lebendigkeit“ sowie „Nähe zu Illusionen, Halluzinationen und dissoziativen Verkennungszuständen“ charakterisiert ist und mit dem beängstigenden „Gefühl einhergeht, das traumatische Ereignis noch einmal zu durchleben“39, als eine Art flashback bezeichnen. In jedem Fall aber scheint erlittenes Unrecht jene Brand-Male zu evozieren, in denen die verdrängten traumatischen und unbewussten Erfahrungen Grete heimsuchen und mit denen innere, unwiderstehliche „automatische Triebmechanismen“40 höllisch entflammen. Grete leidet darunter, ist „tief-unglücklich“, wobei der Begriff des ‚Unglücks‘ unzweideutig mit dem Brand-„Unglück“ konnotiert ist (GM, 21), und fühlt sich „gefangen und eingemauert“.41 Erfolglos versucht sie ihr „umdunkeltes Gemüth“ (GM, 108) im Sinne einer talking cure ‚abzureagieren‘ und „heruntersprechen von der Seel‘“, was sie „drückt“ (GM, 51). Schließlich sieht sie nur noch die Möglichkeit der Flucht, flüchtet sich zunächst „weit fort in […] Gedanken“ (GM, 62), „um sich in wachen Träumen eine Welt der Freiheit und des Glückes aufzubauen“ (GM, 53) – denn nur „um deshalb halt‘ ich’s aus“ (GM, 62) –, und flieht letztlich auch realiter, denn ihr „brennt der Boden unter den Füßen“ (GM, 69). Da die Flucht aber zugleich noch prekärere soziale, psychische wie ökonomische Umstände mit sich bringt, in deren Folge ihr Freund und Begleiter Valtin stirbt und Grete mit dem gemeinsamen Neugeborenen zurückbleibt, bringt die Flucht abschließend keinesfalls die erhoffte Befreiung. Ihr Gemüt und ihre Seele trüben sich immer mehr, wohingegen aber der innere nicht „gezähmt[e]“ Trieb (GM, 106), der „immer bitterer und leidenschaftlicher aufgährende Groll“, so sehr zu wachsen scheint, dass sie sich kaum mehr gegen ihn „zu schützen wußte“ (GM, 54). Damit nimmt also ihre innere wie äußere Unfreiheit tatsächlich immer mehr zu und zwingt sie schließlich zur Rückkehr zu ihrem Bruder, um ihn um ihr rechtmäßiges Erbe zu bitten. Dies schlägt ihr Gerdt allerdings ab und weiß es auch, als Grete vor dem Stadtrat – ausgerechnet in dem „Saal, in dem […] das verhängnißvolle Feuerwerk

39 Vgl. Maercker, Andreas: Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In: Maercker, PTBS. 2013, S. 18. 40 Vogl, Menschliche Bestien. 2014, S. 96. Vgl. auch: Lenczowski, Fremdheit. 2010, S. 65. 41 Man mag hier an den „eingeklemmten Affekt“ denken (Freud / Breuer, Studien. GW I, S. 97). Tatsächlich spielt dies aber auch auf die unerlaubte Sinnlichkeit der „Stendalschen Nonne“ an, was – wie später explizit in Cécile (1886) – auch hier eine erotisch-sexuelle Dimension eröffnet (vgl. Jensen, Gartenschaukel. 1998, S. 90).

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abgebrannt“ wurde – dagegen klagt, durch Meineid zu verhindern (GM, 109). Dies aber ändert alles: Hatte in Gretes Augen schon nach der Abweisung durch Gerdt auf dessen Schulter „ein rotes Männlein mit einem roten Hut und einer roten vielgezackten Fahne“ gesessen (GM, 107), das – ob Ruppiner Kobold oder Mörikes Feuerreiter – auf die vergangene traumatische wie zukünftige Brandkatastrophe verweist, so blitzt nun „jener starr-unheimliche Zug“ (GM, 113) mit den brennenden Augen, wieder auf. In diesem wahnhaft-halluzinatorischen Zustand, in dem sie, „wenn ihr Zweifel kamen, […] mit sich selbst“ streitet (GM, 115), beschließt sie, „wie nachtwandelnd“ (GM, 114), „wie von einem wirr-phantastischen Hoheitsgefühl ergriffen“ (GM, 112), ihre Rachetat. Damit begeht sie ihre Tat zwar rational, aber ‚wie nachtwandelnd‘, was diese im zeitgenössischen Rechtsdiskurs als „triebhafte Tat“42 qualifiziert, sodass sie schließlich erklärbar wird: Nach der ultimativen unrechten Demütigung an Ort und Stelle ihres Traumas flammt das „Zeichen, von dem die Domina gesprochen“ hatte, überdeutlich wieder auf (GM, 113) und mit ihm ihre traumatischen Erinnerungen, denen sie nun verfällt (vgl. GM, 115), während sie gleichzeitig jener ‚aufgärende‘ unwiderstehliche innere Drang überwältigt und zur Rache an ihrer Stadt treibt. Ganz im Sinne von Friedrich Nietzsches „Ressentiment“ versucht sie, ihren „quälenden, heimlichen, unerträglich werdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgendwelcher Art [zu] betäuben“, sucht metaleptisch-nachträglich „schuldige Täter“ als „Ursache“ ihres Leidens, um „unwillkürlich“ in einer „Reaktion, einer Reflexbewegung“ ihre „Affekte tätlich […] entladen“ zu können.43 Ihr Racheakt erweist sich demnach als eine jener Taten, in denen „vernünftige Subjekte wie im Traum oder in Trance, unbewußt und automatisch, obsessiv und unwillkürlich zu anderen ihrer selbst geworden sind“.44 Darin liegt ihr „wirrphantastisches Hoheitsgefühl“ begründet und deshalb „gehörte diese Stadt ihr“ (GM, 112): weil sie sich entschließt, vom Opfer zur Täterin zu werden, Rache zu üben an der ‚ungerächten‘ Stadt und sich so von ihrer traumatischen Erfahrung zu befreien. Bedenkt man zuletzt, dass auch nach Freuds und Breuers „Studien über Hysterie“ „die Reaktion des Geschädigten auf das Trauma […] eigentlich nur dann eine völlig ‚kathartische‘ Wirkung“ haben kann, „wenn sie eine adäquate Reaktion ist, wie die Rache“45, dann bleibt kein Zweifel mehr, warum es nun, als ‚Tangermünde in Asche liegt‘, über Grete Minde endlich heißt: „Ihr war so frei.“ (GM, 113)

42 Vgl. Foucault, Die Anormalen. 2003, S. 171 f.; Vogl, Menschliche Bestien. 2014, S. 97. 43 Vgl. dazu: Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Berlin/New York: dtv/de Gruyter 1999. Bd. 5, S. 373 f. 44 Vogl, Menschliche Bestien. 2014, S. 96. 45 Freud / Breuer, Studien. GW I, S. 32.

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2. Realistische Schwindel-Erscheinungen: Trauma – Unbewusstes – Störung Entgegen der Forschungsthese von der „zeitliche[n] Lücke“46 zeigt das Beispiel ‚Grete Minde‘, dass die deutschsprachige Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchaus traumatische Erfahrungen erzählt, damit zentrale Probleme der dargestellten Welt verarbeitet und spezifische – etwa zeichenhafte – Textverfahren entwickelt. Dem soll nun im zweiten Teil dieses Beitrags weiter nachgegangen und dabei – ausgehend von der traumatischen ‚Störung des Selbst‘ – die Kategorie der ‚Störung‘ in ihren psychischen, poetischen, sozialen und epistemischen Dimensionen für den deutschsprachigen Realismus fruchtbar gemacht werden. Dabei steht zu vermuten, dass Störmomente dann entstehen, wenn es um Geschichten und Probleme geht, welche die Erzählungen innerhalb des Horizonts ihrer ‚normalen‘ realistischen Welt- und Wirklichkeitsauffassung nicht (mehr) erklären können. Damit werden sie gewissermaßen zu experimentellen Versuchsräumen einer Beobachtung zweiter Ordnung: Durch „Erzeugung von Differenzen“47 werden produktive Störungen provoziert, sodass die Texte „im Modus einer hypothetischen Situation etwas narrativ durchdenken“ und Fiktionsräume mithin als „Modi einer Exploration des Möglichen“ fungieren.48 „Literarischer Text und Wissensordnung“ können also nicht in einem eindimensional-relationalen Übertragungs- bzw. „Abbildverhältnis“ stehen.49 Stattdessen registriert die Literatur Irritationen bestehender Wissensordnungen, spielt mögliche Folgen vortheoretisch durch und schafft so einen (sprachlichen) Möglichkeitsraum, der zwar keine Genealogien oder Kontinuitäten, durchaus aber Interferenzen zwischen Literatur und Wissen(schaft) – etwa mit den frühen Theorien Freuds – eröffnet. In dieser Konstellation können die Versuchsanordnungen dann durchaus wie im Fall der unerklärlichen Tat Grete Mindes in „das ganze Gebiet des Trieblebens“ vorstoßen, das – wie August Wilhelm Grube 1861 schreibt – „als ein unbewußtes und unwillkürliches dem selbstbewußten Geiste und freien Willen

46 Vgl. dazu kritisch: Grugger, Helmut: Trauma – Literatur – Moderne: Poetische Diskurse zum Komplex des Psychotraumas seit der Spätaufklärung. Wiesbaden: Metzler 2018, S. 159. 47 Vgl. Rheinberger, Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006, S. 280. 48 Horn, Eva: Enden des Menschen. Globale Katastrophen als biopolitische Fantasie. In: Apokalypse und Utopie in der Moderne. Hrsg. von Reto Sorg und Bodo Würffel. München: Fink 2010, S. 105. 49 Vgl. allgemein: Vogl, Joseph: Einleitung. In. Poetologien des Wissens um 1800. Hrsg. von dems. München: Fink 1999, S. 14 f.

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gegenübersteht“.50 Damit erweist sich das Problem traumatischer Erfahrungen und deren Folgen als Problem einer ‚Erfahrung des Unbewussten‘. Doch ein individuelles psychisches Unbewusstes ist – ebenso wie Triebe oder traumatische Erfahrungen – innerhalb der ‚realistischen‘ Ordnungen nicht vorgesehen. Es ist weder wirklich noch wahr(scheinlich). Als geschlossenes „literarisches Symbol-System“ mit strikten „Grenzen des Sagbaren“51 will der Realismus aus programmatisch-theoretischer Perspektive „die Welt noch einmal“ schaffen, „nicht ein Stück Welt, sondern eine ganze, geschlossene“.52 Diese poietische Welt basiert auf einer „Ordnungsstiftung“53 durch doppelte Ausschließung: Dabei wird zunächst all das ausgegrenzt, was in einer auf Verfizier- und Beobachtbarkeit ausgerichteten, materialistisch-naturwissenschaftlichen „erfahrungsmäßig erkannte[n] Wirklichkeit“ schlicht nicht existieren kann, also unwirklich ist.54 Da es dem Realismus dann aber nicht um die „wirkliche“, „bloße Sinnenwelt“ geht, sondern um „das Wahre“, schließt er nun durch „poetische Verklärung“55 transfigurativ auch all das aus, was den soziopolitischen Normen der bürgerlichen Gesellschaft nicht entspricht, um eine kausale und geschlossene, wahr(scheinliche) Welt zu schaffen. Neben dem ‚Kranken‘, ‚Falschen‘, ‚Dunklen‘ oder ‚Wilden‘, gehören dazu v. a. die „Schattenseiten“56 und der „Schmutz […] des inneren Lebens“, wie „Triebe“, „das dunkle Suchen der sinnlichen Begier“57 oder der „unheimliche Selbstverlust des Geistes“.58 Das unwirklich-unwahr(scheinlich)e Unbewusste als Erklärungs(ab) grund der traumatischen Lebens-Geschichten ist demnach ein aus den realis-

50 Grube, August Wilhelm: Blicke in’s Triebleben der Seele. Psychologische Studien. Leipzig: Friedrich Brandstetter 1861, S. V. Grubes Studie fand einige Verbreitung in den Kreisen des deutschsprachigen Realismus und befand sich bspw. auch in Otto Ludwigs Bibliothek. 51 Vgl. dazu: Gansel, Carsten: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des DGV 61, 2014, H. 4, S. 320. 52 Ludwig, Otto: [Der poetische Realismus]. In: Realismus und Gründerzeit. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1848 – 1880. Hrsg. von Max Bucher u. a. Stuttgart: Metzler 1975. Bd. 2, S. 102. Hier ist aber anzumerken, dass Ludwig selbst dieses Ideal einer kosmisch-geschlossenen Welt – im Gegensatz zu anderen Programmatikern – v. a. auf das Drama und explizit nicht auf Erzähltexte bezieht. In Erzählungen kann er daher auch sogar eine Kritik am programmatischen Realismus entwickeln, wie sie im Folgenden nachvollzogen wird. 53 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2006. 54 Vischer, Fridrich T.: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Stuttgart: Mäcken 1857. Bd. III/2.5, S. 1304. 55 Fontane, Theodor: Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848. In: Realismus. 1975, S. 100. 56 Vgl. Ebd., S. 100 57 Vgl. Homberger, Heinrich E.: Der realistische Roman. In: Realismus. 1975, S. 119. 58 Vgl. Schmidt, Julian: Georg Büchner. In: Realismus. 1975, S. 87.

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tischen Ordnungen doppelt ausgegrenztes, außer-ordentliches ‚Fremdes‘59 mit großem Störpotenzial. Wie groß dies ist, lässt sich erahnen, wenn der Theoretiker Fontane bei Émile Zola die „Negierung des freien Willens des Individuums“ feststellt und notiert: „Die Kunst muß das Entgegengesetzte vertreten, versichern. Und wer das nicht kann, muß schweigen.“60 Dem realistischen Programm geht es also um die Errichtung einer DisziplinarOrdnung, die neben ihrer künstlerisch-ästhetischen auch eine ethisch-moralische und v. a. eine anthropologische und psychologische Dimension hat: Es geht um die ‚Versicherung‘ des ‚freien Willens des Individuums‘, um die „Freiheit von den dunklen Trieben der Natur“61, also um das autonome und selbstbewusste VernunftSubjekt. Dieses konstituiert sich seit der Aufklärung durch zahlreiche Prozesse der Abgrenzung gegen das „Irrationale“, „Irreale“, gegen die innere wie äußere „Natur, de[n] menschliche[n] Leib, die Phantasie, das Begehren, die Gefühle“, also alles, was seinem „Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will“.62 Die Vernunft unterdrückt somit ihr „Anderes“ durch Exterritorialisierung irrationaler Sperrbezirke sowie biopolitische oder diätetische Polizierung, um so ordentliche Gesetzmäßigkeiten bzw. eine totale und geschlossene Herrschafts„Ordnung der Vernunft“ zu errichten.63 Paradigmatisch dafür steht das „Gärtchen“ des Schieferdeckers Apollonius Nettenmair in Otto Ludwigs Erzählung „Zwischen Himmel und Erde“64, deren „Experiment“-Charakter bereits von den Zeitgenossen erkannt wurde.65 Als ein solches literarisches Experiment und damit als einer jener literarisch-experimentellen Versuchsräume reflektiert die 1856 erschienene Erzählung die Ordnungs-

59 Vgl. D.P.: „… tiefer in den Wald hinein“. Zum Raum des Unbewussten in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Ein Ort, viel Raum(theorie). Imaginationen gleicher Orte und Räume in Literatur und Film. Hrsg. von Marlene Frenzel, Kathrin Geist und Claudia Oberrauch. Bamberg: University of Bamberg Press 2019, S. 163 – 199; vgl. dazu allg.: Waldenfels, Grundmotive. 2006. 60 Fontane, Theodor: Literarische Essays und Studien. Hrsg. von Kurt Schreinert u. a. München: Nymphenburger 1974 (NFA XXI/2), S. 342. 61 Schmidt, Julian: Wilhelm Meister im Verhältnis zu unserer Zeit. In: Realismus. 1975, S. 226. 62 Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Die Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Darmstadt: wgb 1998. Bd. 3, S. 22. 63 Vgl. Böhme, Hartmut / Böhme, Gernot: Das Andere der Vernunft. Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 362 – 369 u. ö. 64 Ludwig, Otto: Zwischen Himmel und Erde. Erzählung. Frankfurt/M.: Meidinger 1856, S. 1 – 6 (im Folgenden unter der Sigle „HE“ im Text). Vgl. zum Beginn der Erzählung: Brinkmann, Richard: Wirklichkeit und Illusion. Tübingen: Niemayer 1966, S. 145 – 165. 65 So etwa bei Lazarus, Moritz: Rez. Zwischen Himmel und Erde. In: Literatur-Blatt des deutschen Kunstblattes 18, 1856, 4. September, S. 70.

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prozesse des (programmatischen) Realismus sowie seines Vernunft-Subjekts und demonstriert deren weitreichende Folgen: Da „für den disziplinierten Menschen […] kein Detail gleichgültig“ ist66, errichtet Apollonius seine apollinisch-“reine“ und vernünftige „Ordnung“ einer „streng“ überwachten inneren wie äußeren „Kontrollnatur“67 so penibel, dass die „äußerste Sauberkeit […] dem Beschauer aus dem verstecktesten Winkel entgegen[lächelt].“ Wie bei Eichendorffs Prinz Rokoko aus „Der Adel und die Revolution“ (1857) ist diese poietische Garten-Welt „nicht mit Hacke und Besen gereinigt, sondern gebürstet“, „als wäre sie nicht mit der Schnur, als wäre sie mit Lineal und Zirkel auf den Boden hingezeichnet“ (HE, 3). Derart den kulturell-rationalen Ordnungsmustern der Geometrie und Hygiene unterworfen, ist diese domestizierte Natur im Grunde nichts anderes mehr als Teil des ‚Hauses Nettenmair‘. Wenn aber die „untadelhafte Weiße“ (der „Weste“) Apollonius’ gar „noch sauberer gehalten ist als das Gärtchen“, so wird deutlich, dass er „äußerlich nur das nachgetan, wozu die Natur in ihm selber das Muster geschaffen“ hat (HE, 3 f.). Seine innere Triebnatur ist durch den „reinsten und heiligsten“ „Willen“ (HE, 266) genauso asketisch diszipliniert wie der äußere Naturtrieb: „schweigsame Geschlossenheit“ (HE, 7), beinahe Kantische Pünktlichkeit (vgl. HE, 3) und ein Innenleben ohne „Mißverhältnisse und Widersprüche“ (HE, 177). So scheint die „Regelmäßigkeit der einzelnen Teile seiner hohen Gestalt“ – innen wie außen – „so ängstlich abgezirkelt worden zu sein wie die Beete des Gärtchens“ (HE, 4) und selbst die „Linien“ und „schnurgeraden Zeilen“ seiner Handschrift sind so „abgezirkelt“, dass „keine kleinste Unregelmäßigkeit […] die Stimmung des Schreibers oder eine Veränderung derselben“ verrät (HE, 123). Damit ist klar, worum es geht: um (selbst-)disziplinatorische Abschottung gegen (Ver-)Stimmungen, Gemütsbewegungen, Affekte oder Begehrungen und damit um die strikte Grenzziehung zwischen eigenem Innen und fremdem Außen (was der zeitgenössischen Minimaldefinition von ‚Bewusstsein‘ entspricht).68 Bedenkt man ferner, dass Apollonius‘ „musterhafteste Ordnung“ (HE, 80) „nicht durch einen einzigen Fehl geschändet“ ist (HE, 5) und dass ‚schänden‘ – von stuprare (‚notzüchtigen‘) – ein deutlich sexuell konnotiertes Wort ist69, dann geht es Apollonius v. a. um eine Ab- und Ausschließung der die Reinheit

66 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 179. 67 Vgl. zu den Begriffen der ‚Romantik-‘ und ‚Trieb-‘ und ‚Kontrollnatur‘: Marquard, Odo: Transzendentaler Idealismus, Romantische Naturphilosophie, Psychoanalyse. Köln: Dinter 1987, S. 54 – 57. 68 Vgl. Art. ‚Bewußtsein‘. In: Herders Conversations-Lexikon. Freiburg/Breisgau: Herder 1857. Bd. 1, S. 522 f. 69 Vgl. Jacob Grimm / Hermann Grimm: Deutsches Wörterbuch. Leipzig: Hirzel 1890. Bd. 14, Sp. 2143.

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beschmutzenden triebhaft-sexuellen Erotik.70 Im Sinn hat er dabei wohl sein Liebesbegehren gegenüber seiner Schwägerin Christiane, die er in seiner Jugend geliebt, dann durch Intrigen seines Bruders Fritz verloren und nun seine alte „Neigung […] besiegt zu haben [meint]“ (HE, 33). Damit dies aber auch so bleibt, ist sein „nach außen abgeschlossene[s] Dasein“ (HE, 5) wie die „Wetterseite des Hauses […] von Kopf bis Fuß mit Schiefer geharnischt“ (HE, 2). Nur durch diese ‚Verpanzerung‘ des Ich kann er sich also als geharnischtes Vernunft-Subjekt konstituieren und erhalten.71 Wenn sich das „realistische Subjekt“ – folgt man der Forschung – nur über sein „Bewußtsein definiert, indem es alles ausgrenzt, was diesem inkompatibel ist“72, dann inszeniert der Text hier Apollonius und seine ‚musterhafteste Ordnung‘ als Ideal-Typus eines Realismus, der nach gängiger Auffassung ebenso durch „weitestgehend konstante und starre“ „psychische Grenzziehungen […] zwischen Ich und Außenwelt“ bzw. „bewusstem Ich und Unbewusstem“ bestimmt wird.73 Doch „Zwischen Himmel und Erde“ belässt es nicht dabei, sondern demonstriert vielmehr den prekären Status dieses Grenzziehungssystems sowie seines geharnischten Vernunft-Subjekts, dessen Statik zunehmend schwindet, indem es von Schwindel heimgesucht wird. Erzählt wird dies erneut anhand einer traumatischen Erfahrung: Bei der Renovierung eines Kirchturmdachs wirft Fritz seinem Bruder eine Affäre mit Christiane vor und stürzt nach einer Auseinandersetzung in den Tod. Zwar vermag Apollonius die Erinnerungen daran einigermaßen zu verschließen und durch „Zuwachs von Arbeit“ zu verdrängen (HE, 272). Doch er wird blasser und kränklicher und sobald er den Turm betritt oder den Glockenschlag hört, zu dem der Körper des Bruders aufschlug, sucht ihn „unwillkürlich“ eines der später klassischen TraumaSymptome74, ein „Anfall von Schwindel“ heim (HE, 275). „Die ersten Zeichen der Krankheit schienen körperlicher Natur“ (ebd.), doch der hinzugezogene Arzt – offenbar seiner Fachwelt voraus – erkennt schnell, dass „so tief hinein, als wo diese

70 Vgl. zu Ludwigs Konzeption eines Triebhaft-Sexuellen auch die frühere Novelle „Maria“ (1843). 71 Vgl. dazu in der Folge Norbert Elias’ und Claus Theweleits: Böhme / Böhme, Andere der Vernunft. 1983. 72 Wünsch, Marianne: Vom späten ‚Realismus‘ zur ‚Frühen Moderne‘. Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels. In:: Moderne und Gegenwart. Erzählstrukturen in Film und Literatur. Hrsg. von Lutz Hagestedt und Petra Porto. München: belleville 2012, S. 14. 73 Titzmann, Michael: ‚Grenzziehung‘ vs. ‚Grenztilgung‘. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ‚Realismus‘ und ‚Frühe Moderne‘. In:: Realismus und frühe Moderne. Beispielinterpretationen und Systematisierungsversuche. Hrsg. von Lutz Hagestedt. München: belleville 2009, S. 278 und S. 283 f. 74 Vgl. Baltzer, Berit: Freud und Hitchcock avant la lettre: Der Schwindel in Zwischen Himmel und Erde. In: Und Wahrheit ging mir von jeher über Schönheit. Otto Ludwig neu entdecken. Hrsg. von Helga Schmidt. Leipzig/Hildburghausen: Salier 2012, S. 72 f.

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Krankheit sitze, […] keins von seinen Mitteln [wirke]“ (HE, 274), weil hier kein physisches „Übel“ vorliege, sondern ein „Seelenleiden“ (HE, 290), dessen „Keim“ in den – vermeintlich abgepanzerten – „Gemütsbewegungen“ des Patienten liege (HE, 274). Eine erstaunliche Diagnose in einem 1856 publizierten Text, zumal dieser ja zuvor noch dem ‚heiligen‘ Vernunft-Subjekt gehuldigt hatte! Noch erstaunlicher ist es aber, dass Ludwigs Erzählung den Grund für die (traumatische) Störung des Selbst nicht „in dem Schrecken über des Bruders Unglück, sondern in dem Zustande, worin der Schreck ihn traf“ (HE,  275), verortet, einem „dunkle[n]“ Zustand, in dem „sein Herz und Kopf voll gewesen“ seien von „bösen Gedanken“ und „wilden verbotenen Wünschen“ (HE, 278). Diese Diagnose zeigt, dass hier nicht nur der rationale, (selbst-)bewusste Protagonist krankt, sondern mit ihm auch die zuvor eingeführte und durchexerzierte programmatische Konzeption des Realismus als starres und konstantes Grenzziehungssystem. In dieses System streut Ludwigs Erzählung also produktive Störmomente in Form von Schwindelsymptomen, mit denen die Ordnungen des programmatischen Realismus gewissermaßen zu Schwindelerscheinungen werden und deren Grenzen sich als lückenhaft, permeabel und mithin als dynamische erweisen. Doch wie konnte jener doch gegen alles Nicht-Vernünftige abgeschlossene Harnisch der Vernunft-Ordnung lückenhaft werden? Versucht man – wie es bemerkenswert explizit heißt –, die „Geschichte“, die „man […] schon fertig erhielt“, neu „zusammenzusetzen“, indem man erneut „rückwärts auf […] kaum beachtete Umstände Gewicht“ legt (HE, 260), so wird deutlich: Es sind jene Ordnungs- und Grenzziehungsprozesse selbst, die dazu führen, dass der Ordnung des VernunftSubjekts und des (programmatischen) Realismus’ eine dynamische, unheimliche Struktur innewohnt: inmitten der Vernunftordnung lauert mithin der (Ab-)Grund ihres Zusammenbruchs sowie des Apollonius’schen Traumas. Denn mit der – in „Grete Minde“ beobachteten – post-romantischen Entdeckung der Triebe setzt sich die Erkenntnis durch, dass, wie etwa Adalbert Stifter schreibt, „wir Alle“, „nicht wissen[d]“, eine uns „unterjochen[de] und zu Entsetzlichem“ treibende „tigerartige Anlage“75 haben, und dass selbst bei Apollonius diese „Tierheit im Menschen unter der hergebrachten Schminke sogenannter Bildung“ (HE, 277) jederzeit hervorbrechen kann. Spätestens mit dieser „Wachablösung der Romantiknatur“ durch eine destruktive, kultur- und vernunftfeindliche „ästhetisch nackte“ „Triebnatur“76 ist der ‚Vernunftmensch‘ unrettbar an sein Anderes verloren. Lässt sich – wie die Realisten genau registrierten – das ‚Andere der Vernunft‘, die „wildeste Sinnlichkeit“

75 Stifter, Adalbert: Zuversicht. In:: Erzählungen. Hrsg. von Johannes John und Sibylle von Steinsdorff. Stuttgart u. a.: Kohlhammer 2002, S. 86 (Historisch-kritische Gesamtausgabe; Bd. 3/1). 76 Marquard, Transzendentaler Idealismus. 1987, S. 178 und 198 f. und passim.

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der „dunklen Triebe der Natur“, nun auch ästhetisch nicht mehr als ‚Romantiknatur‘ oder im goethezeitlichen „poetischen Princip“ der „harmonischen Ausbildung einer schönen Seele“77 ausgleichen, so muss es aggressiv unter- und hinabgedrückt, verstoßen werden in die eigene Tiefe. Dies legt folgende Schlussfolgerungen nahe: Erstens dient – nicht unähnlich zu Giorgio Agambens ‚anthropologischer Maschine‘78 – die Grenze zwischen bewusstem Ich und Unbewusstem dem ‚Grenzziehungssystem Realismus‘ nicht mehr als selbstdefinitorische Außengrenze, sondern verläuft als dynamische Grenze tatsächlich mitten durch das psychische wie poetische System hindurch. Damit ist zweitens, wie Hartmut und Gernot Böhme gezeigt haben, die VernunftOrdnung immer „durch dieses Andere mitbestimmt, wie sie dies andere durch Ausgrenzung zum Anderen macht“, sodass fortan „Abwehr und Angst […] die Herrschaft der Vernunft“ begleiten.79 Je größer diese Angst, desto zwanghafter wird auch die „ängstliche Gewissenhaftigkeit“ (HE, 186), das „ängstliche Ordnungsbedürfniß“ des Vernunft-Subjekts (HE, 134). Daher ist die apollonische KleingärtchenWeltordnung ein zwangsneurotisches80, hypochondrisches81 und letztlich fetischisiertes Züchtigungsprodukt eines superlativischen ‚Zu Sehr!‘, das aber dem ‚Nicht zu Viel!‘ eines apollinischen Prinzips geradezu entgegenwirkt. Folgt man nämlich Odo Marquard, dann führen diese ängstlichen Unterdrückungsprozesse der postromantischen ‚Triebnatur‘ drittens zur Entstehung der Denkfigur der Verdrängung sowie damit zu einem psychischen Unbewussten:82 Denn glaubte Apollonius, sein Liebesbegehren zu Christiane durch seine asketisch-disziplinatorische und sublimatorische Vernunft-Ordnung „besiegt“ zu haben, so ist „in seinem Innern […] der Kampf selbst nicht ausgekämpft“ (HE, 239), was ihm aber nicht bewusst ist: denn er „wußte nicht, daß doch nur sie es war“, die ihn an-“trieb“ (HE, 33). Insbesondere über Blick- und Wissensordnungen, also über genau jene unvollständigen Innen-Außen-Grenzziehungen, inszeniert der Text ein nicht-bewusstes

77 Vgl. Schmidt, Wilhelm Meister. 1975, S. 226 f. Vgl. dazu: Pensel, Raum des Unbewussten. 2019, S. 176 – 184. 78 Vgl. Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. 79 Böhme / Böhme, Andere der Vernunft. 1983, S. 249; vgl. Begemann, Christian: Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zur Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M.: Athenäum 1987. 80 Vgl. dazu erst gut zehn Jahre später: Griesinger, Wilhelm: Ueber einen wenig bekannten psychopathischen Zustand [1868]. In: Gesammelte Abhandlungen. Hrsg. von Wilhelm Griesinger. Berlin: Hirschwald 1872. Bd. 1, S. 180 – 191. 81 So lautet zumindest die Diagnose des Autors selbst (vgl. Schmidt, Julian: Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit. Leipzig: Duncker & Humblot 1875, S. 189). 82 Vgl. Marquard, Transzendentaler Idealismus. 1987, S. 228 – 243.

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Wollen, ein individuelles psychisches Unbewusstes in allen Personen, das „leise“, „unwillkürlich“ alle Handlungen bestimmt (vgl. u. a. HE, 35; 89; 122; 159). Dies gilt nicht nur für die beiden Brüder, auch Christiane glaubt, bspw. auf einem Ball absichtslos umherzublicken, doch „wußte nicht, daß sie jemand suchte“. Ihr sie beobachtender Mann hingegen „wußte mehr als sie; er wußte, wen sie suchte“ (HE, 89). Mit der Verdrängung entsteht also ein nunmehr völlig unkontrollierbares, wildes, dunkles, dem Bewusstsein entzogenes ‚Außer-ordentliches‘ als ‚Fremdes in uns‘, das umso bedrohlicher wird, desto mehr es der vernünftigen Kontrolle entzogen, desto mehr es un- bzw. mittelbewusst ist. Mit diesem fremden Raum eines verdrängten Unbewussten entsteht nun aber auch die Gefahr einer Wiederkehr des Verdrängten.83 Trotz oder gerade wegen aller diätetischen „Sauberkeit des Leibes und der Seele“ (HE, 26) drängt sich Apollonius nun eine – die Tradition der diskursiven (Vor-)Geschichte des Unbewussten zitierende84 – „dunkle Vorstellung“ mit einem „nicht klar[en]“ „tiefen und wilden Gefühl“ auf (HE, 237). Als ihm dann noch ein „aufregender Traum“ die „alten Wünsche“ in „Lebhaftigkeit“ erweckt (HE, 253 f.), kann er „ihrer Gewalt nicht entfliehen“ (HE, 232). Der „Sieg“ der Vernunft wird „unmöglich“ (HE, 236) und die „schrecklich klugen, verfüh­rerisch flüsternden, wilden, heißen, verbrecherischen Gedanken“ (HE, 126) gehen mit ihm zur Arbeit auf das Kirchdach … In diesem ‚Zustand‘ lässt Apollonius tatsächlich eine „Lücke“ im Schieferharnisch, der nun „aus seinen Fugen“ gerät (HE, 277 f.): Bezeichnet er diese „Stelle“ nämlich als „leeres Grab“ (ebd.), dann sind einerseits die „bösen Gedanken“, die besser „im Sarg“ hätten „schlafen“ sollen (HE, 122), unstrittig wiedergekehrt und mit der ‚Lücke‘ als „böse[m] Fleck“ ist die befürchtete ‚Schändung‘ nun doch erfolgt (HE, 277). Andererseits zeigt sich wieder, wie dieser Text gezielt auch zeitgenössische theoretisch-programmatische Versatzstücke aufgreift und gegeneinander ausspielt: Denn es handelt sich bei dieser ‚Lücke‘ oder ‚Stelle‘ auch um eine jener „gewisse[n] offene[n] Stellen“, durch die – nach Vischer – das aus der poetischverklärten (Vernunft-)Ordnung Ausgeschlossene wieder „durchbricht“.85 Ist also – wie es Hermann Hettner 1850 formuliert – im Sinne der „freien Selbstbestimmung“ aus dem realistischen „Reiche des Lichtes […] die dämonische Nachtseite der Natur hinausgedrängt“ worden, so „ragt“ nun nicht mehr nur „dann und wann

83 Dies reflektiert auch der zeitgenössische Diskurs über das Unbewusste bereits, wie sich etwa in Johann Friedrich Herbarts „Lehrbuch zur Psychologie“ (1816) oder Gustav Theodor Fechners „Elemente einer Psychophysik“ (1860) an zahlreichen Stellen zeigen ließe. 84 Der Text spielt also nicht nur mit der etymologischen Vorgeschichte des Unbewussten als Ungewussten, sondern auch mit der epistemologischen Tradition der Leibniz’schen ‚pietits perception‘, den ‚dunklen Vorstellungen‘. 85 Vgl. Vischer, Ästhetik. 1857, S. 1305.

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unheimlich die drohende Hand des verdrängten Gegners hervor“86, sondern dieser Gegner, das Fremde der Vernunft, ist seinem Abgrund bereits entstiegen. Damit steht diese ‚Lücke‘ im Harnisch des Ich als eine „offene Wunde“ und mithin als „Bild“ (HE, 276) für die misslungene und immer misslingende Produktion einer nach außen abgegrenzten, geschlossenen Vernunft-Ordnung des Selbst. Mit dem so gestörten psychischen System, daran lässt „Zwischen Himmel und Erde“ keinen Zweifel, geht aber auch das poetische Symbolsystem des Realismus, wie er von der Programmatik konzipiert wurde, zugrunde. Daraus ergeben sich abschließend drei zentrale Folgen. Erstens: Wenn sich Apollonius vor diesem Hintergrund nachträglich fragt, ob sein Bruder auch dann gestorben wäre, wäre „sein Herz und Kopf nicht voll von den wilden verbotenen Wünschen“ gewesen (HE, 287), so impliziert dies einen doppelten Schuldkomplex: zum einen, weil das erotische Begehren zu einer verheirateten Frau ihm als „böses“, „verbotenes“ und damit auch als Wunsch schon „sündhafte[s]“ gilt (HE, 131 f.); zum anderen, weil Apollonius an Christiane dachte, als er den Schritt zur Seite trat, woraufhin Fritz stürzte, sodass diese (unbewussten) Wünsche wohl tatsächlich nicht unbeteiligt am Tod des Bruders waren. Wenn der für die traumatische Erfahrung ursächliche „Zustande, worin der Schreck ihn traf“ (HE, 275), also in diesen ‚Gemütsbewegungen‘ besteht, so führt die Erzählung das Trauma eindeutig auf einen ‚psychischen Konflikt‘ zurück: Fritz‘ Tod eröffnet – wie in Freuds „Fräulein Elisabeth v. R.“87 – die Möglichkeit einer Heirat, doch Apollonius „fühlte in der Heirat eine Schuld“ und dieses „Gespenst der Schuld“ verhindert die Aufarbeitung der traumatischen Erfahrung. Stattdessen versucht er, „den Druck dunklen Schuldgefühls […] zu schwächen“, zu verdrängen, was aber zu einer „Entzweiung seines Innern“ führt (HE, 281 f.), die Statik seines psychischen Systems destabilisiert und ihn krank und schwindelig macht. Daher erweist sich die in den Traumafolgestörungen sichtbare Störung des Selbst also als eine Störung des Vernunft-Ich infolge einer Erfahrung des Unbewussten. Zweitens: Mit Apollonius als Musterfall eines ‚realistischen Subjekts‘ werden nun auch die Ganzheitsphantasmen der programmatisch-realistischen Poetik infrage gestellt, was der Text v. a. durch Montage extrem interner Fokalisierungen demonstriert, die zusammen keine konsistente Realität88, also keine ‚ganze, geschlossene Welt‘ mehr ergeben. Wird so in ihren Zwischenräumen wie bei Apollonius oder Christiane Unbewusstes als Ungewusstes beobachtbar, dann erweist sich

86 Hettner, Hermann: Die romantische Schule in ihrem inneren Zusammenhange mit Göthe und Schiller. In: Realismus. 1975, S. 364 f. Hervorhebung von D.P. 87 Vgl. dazu: Freud / Breuer, Studien. GW I, S. 234 f. 88 Vgl. dazu bereits: Brinkmann, Wirklichkeit und Illusion. 1966, S. 145 – 216.

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diese Aufsplitterung von Perspektiven und die damit einhergehende Irritation der narrativen (Welt-)Ordnung gleichermaßen als Resultat wie Entdeckungsinstrument unbewusster Erfahrungen. Eine zunächst erstrebte, distanzierte, das Geschehen aus einer souveränen All-Sicht zu einer „fertige[n] Geschichte“ (HE, 259) ordnende Erzählweise ist vor diesem Hintergrund aber nicht mehr möglich.89 Stattdessen stößt diese immer weiter in die Innensicht der Figuren vor, bis sie zu erlebter Rede und sogar ansatzweise zu innerem Monolog durchbricht. Will der Realismus also einerseits seiner Programmatik folgen und „über jeden einzelnen Moment im Leben und in der Seelenbewegung seiner Figuren die vollständigste Auskunft […] geben“90, so muss er andererseits mit einer gravierenden Störung der narrativen Ordnung rechnen: die Erzählperspektiven sowie die Bezüge der Personalpronomina wechseln unvermittelt, Kontexte werden immer schwerer rekonstruierbar und die kosmischen Erzählwelten, ja „überhaupt die narrative Konsistenz der erzählten Welt“ löst sich zunehmend auf.91 In diesem Sinne heißt es an einer besonders anschaulichen Stelle bspw. einmal über Fritz: Die Kinder sind ja nicht mehr sein. Er ist ja ihr Vater nicht mehr. Er ist’s. Er! Seine Kinder sind’s. Er ist ihr Vater. […] Und […] dieses Weib, Sein Weib, Seins […]. Wie sie auffahren würde, sagte ihr einer in den Traum hinein, den sie von ihm träumt, denn sie lächelt, er geht! Er, ihr – Nein! ich will nicht gehen! Nein! ich kann nicht gehen! Lieber tausendmal sterben! (HE, 249; vgl. u. a. auch HE, 151)

Die Grenzen zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt „vermischen“ sich also auch hier (HE, 284), werden intrasubjektiv dynamisiert; in der Innensicht stört der Einfluss des Unbewussten das Eigene, das Fremde redet mit und selbst die Syntax wird brüchig, das grammatische Subjekt wird ambig. Doch realistische Texte wie „Zwischen Himmel und Erde“ belassen es nicht bei der bloßen Ver- oder Zerstörung, sondern konzipieren die Störung – gemäß dem beginnenden terminologischen Wandel92 – als produktives Prinzip. Indem ihre fiktionalen Experimente Handlungs- und Textebene kombinieren, verweisen

89 Dies verweist auf den prekären Status des durchaus als bürgerlich-programmatischer Realist agierenden Erzählers, der zunehmend unzuverlässig wird und sich somit zwischen Handlungsals der Textebene positioniert. 90 Schmidt, Julian: Der neueste englische Roman und das Princip des Realismus. In: Realismus. 1975, S. 91. 91 Vgl. dazu auch: Simon, Ralf: Übergänge. Literarischer Realismus und ästhetische Moderne. In: Realismus. Epoche – Autoren – Werke. Hrsg. von Christian Begemann, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, S. 219 f. 92 Vgl. Lehmann, Johannes F.: Von der Störung der Ordnung zur Rettung des Lebens. Überlegungen zum Verhältnis von Narrativ und Politik (vor und um 1800). In: Behemoth 9, 2016, H. 1, S. 24 – 27.

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(figuren-)psychologische traumatische ‚Störungen des Selbst‘ als Folgestörungen auf produktive ‚Selbstirritationen‘ des literarischen Symbolsystems. Eine Destabilisierung des psychischen Systems im Text kann so „zum Gegenstand selbstreflexiver systemischer Introspektion“ des Texts werden, „Akte erneuerter und erneuernder Selbstverständigung“ provozieren und mithin eine „Dynamisierung und Flexibilisierung von Sinngrenzen notwendig machen“.93 Werden damit die starren Innen-Außen- bzw. Bewusstseinsgrenzen dynamisiert, so resultiert daraus ein dynamischeres Modell sowohl der Psyche als auch der realistischen Poetik. Der Mechanismus ist dabei folgender: Erzählen die Texte von traumatischen (und unbewussten) Erfahrungen und ihren verstörenden Folgen für das Subjekt sowie die erzählte Welt, so stören sie „etablierte Strukturen“ der bürgerlich-realistischen „Ordnung des Normalen“94 und erzeugen so eine „‚paradoxe Intervention‘ […] in Bereichen, die bisher unter die Prämisse der Normalität fielen und als unproblematisch erfahren wurden“.95 Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Lücken, Leer- und Störstellen, die Bruchstellen der wirklich-wahr(scheinlich) en Welt, gelenkt; die erzählte Wirklichkeit wird als „geordnete (deshalb: ‚schöne‘) Gesamtheit aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge“ erkennbar und mithin in Bewegung versetzt.96 Dadurch kann deutlich werden, dass sich die (ver-)störende Geschichte nur von jenseits der Ordnungen, durch Reintegration des ausgeschlossenen Fremden, also des Unbewussten, erklären und erzählen lässt. Die erzählte Welt kann – in der Logik des Realismus – dann aber nur noch wahrscheinlich bleiben, wenn Nach- oder Neujustierungen der Systeme vorgenommen werden. So kann zwar auf Handlungsebene noch eine Negierung der Störung und Restitution der früheren Ordnung erfolgen, etwa indem Apollonius zuletzt durch eine weitere Form der katharsis, eine Art re-enactment auf dem Kirchturm, vermeintlich geheilt wird (HE, 299). Doch der Störungsmechanismus lässt dem Leser keine andere Wahl mehr, als die Traumata und ihre katastrophalen Folgen für das Subjekt und die erzählte Welt durch die Annahme eines psychischen Unbewussten in der Person zu erklären. Als Beobachtungen zweiter Ordnung regen die literarischen Experimente des Realismus so zu Beobachtungen ihrer Beobachtungen an und ermöglichen schließlich veränderte Sichtweisen auf die (textuelle) Realität.97

93 Vgl. Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Einleitung. In: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 13. 94 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus: Wie Normalität produziert wird. Göttingen: V&R 2006. 95 Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. Bd. 4, S. 92. 96 Ebd., S. 93. 97 Vgl. Gansel / Ächtler, Einleitung. 2013, S. 13.

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3. „… bis er ihr Gefäß zerbrach“: Störungen sozialer Systeme Drittens: Es ist vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass mit den psychischen, poetischen, textuellen bzw. narrativen und epistemologischen Ordnungen auch soziale Systeme und Subsysteme im Text gestört werden.98 Dies soll abschließend zumindest angedeutet werden. Ein Blick auf einige der hier übergangenen Erzählungen zeigt die Diversität der betroffenen sozialen Systeme: So verbindet Stifters „Condor“ (1840) ein kosmologisches Trauma bei einer Ballonfahrt mit dem sich wandelnden Wissenschaftssystem, Raabes „Else von der Tanne“ (1865) führt die traumatischen Folgen des Krieges vor, in Storms „Schweigen“ (1883) wird mit dem Selbst auch der Arbeitsraum und in Fontanes „Cécile“ (1886) das Moralsystem gestört. Meyers Novelle „Die Richterin“ (1885) schließlich produziert eine Störung im Rechtssystem, indem das auf objektiven Urteilen mittels verdrängender Entsubjektivierung basierende Gerichtsverfahren durch den störenden Einfluss wiederkehrender traumatischer Erinnerungen unmöglich wird. Besonders häufig sind aber Literarisierungen kindlicher Traumata, die sich neben Fontanes „Grete Minde“ bspw. auch in Stifters „Granit“ (1848/1853), Heyses „L’Arrabbiata“ (1854), Marlitts „Reichsgräfin Gisela“ (1869) oder Storms „Ein Doppelgänger“ (1887) finden und meist von psychischer oder physischer familiärer Gewalt ausgehen. Diese Texte kritisieren dabei nicht nur das (patriarchal-)bürgerliche Familienmodell, sondern sie problematisieren mit der Familie als Definitionsraum des Bürgertums99 und – wie Wilhelm Heinrich Riehl 1855 schreibt – als „Urgrund aller organischen Gebilde in der Volkspersönlichkeit“100 pars pro toto auch die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Auch Apollonius’ Zusammenbruch der psychischen Vernunftordnung, der störende Einfluss seines Unbewussten, bedeutet zugleich eine gravierende Störung der bürgerlichen Kleinfamilie: Denn die (ratiozentrischen) Ordnungsprozesse des psychischen Systems gehen einher mit denjenigen des Familiensystems, das als Katalysator für die Störung der Vernunft-Ordnung dient, mit der wiederum eine Störung der familialen Ordnung einhergeht. So wurde die Familie im 19. Jahrhundert zunehmend im Sinne jenes „nach außen abgeschlossene[n] Dasein[s]“ (HE, 5) als

98 Dass auch das soziale ‚Handlungssystem Literatur‘ davon betroffen sein kann, muss hier übergangen werden. 99 Vgl. dazu: Harnisch, Antje: Keller, Raabe, Fontane. Geschlecht, Sexualität und Familie im bürgerlichen Realismus. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1994, S. 16. 100 Riehl, Wilhelm H.: Die Familie. Stuttgart/Augsburg: Cotta 1855, S. VI (Naturgeschichte des Volkes; Bd. 3).

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„Idyll“ verklärt, als abgegrenzter, mit „poetischer Lebendigkeit“ erfüllter Schutzraum vor dem fremden Draußen.101 Werden mit dieser „Konzentration auf die Kernfamilie“ als „Raum des Privaten“ im Innern des familiären Hauses – vorher v. a. kollektivökonomisch gefasste – Verwandtschaftsbeziehungen nun „individuell und emotional besetzt“102, so wächst damit auch die Notwendigkeit zur Kanalisierung bzw. Disziplinierung von Leidenschaften, Emotionen und Begehrungen.103 Gemäß dem Ideal der Heiligen Familie bzw. Familie in christo soll „die heilige Liebe die irdische“ substituieren (HE, 317), so dass im „unbefleckten Innern“ (HE, 87) der Familie „etwas rücksichtsvoll Förmliches“ und „eine Art Ritterlichkeit“, also genau jene apollonische „schweigsame Geschlossenheit“ herrscht, im Zuge derer „ein Aussprechen von Wünschen und Meinungen“ vermieden wird (HE, 6 f.). „[D]ie eigentümliche ‚Desexualisierung‘ der Familie wird zu einem unhinterfragbaren sittlichen Wert erhoben“ und „das traute Heim nachgerade zu einer Festung“104, die ständig durch ihr nicht-idyllisches, nicht-poetisches Außen, ihr ‚Außer-ordentliches‘, bedroht ist. Doch auch dieses Grenzziehungssystem der bürgerlichen Familie weist die uns bekannten Lücken und Inkonsistenzen auf: Wenn nämlich dieser desexualisierte Raum zugleich „einzig legitime[r] Ort der Fortpflanzung“ sein soll, „so ist doch der Akt der Fortpflanzung selbst in der Ordnung der bürgerlichen Familie nicht unterzubringen“ und das Erotisch-Sexuelle muss „in der Familie versenkt“ werden.105 Wieder haben wir es also mit einer Innen-Außen-Verschränkung zu tun: Wie die Protagonisten „vor sich selbst“ in die Innenräume des ‚Hauses Nettenmair‘ fliehen und „die Thür hinter sich verriegel[n]“ (HE, 126; 113), so versenken sie ihre Leidenschaften und Begehren in die Tiefe eines Außenraums der Familien-Ordnung, der aber zugleich ein Innenraum ist. Wiederum verläuft die Außengrenze also mitten durch die Ordnung und das Ausgegrenzte wird zu einem unter der ‚reinen‘ Oberfläche schwelenden Verdrängten, das jederzeit durchbrechen kann – und spätestens mit der ‚Lücke‘ im Vernunftharnisch auch durchbricht: Mit der Störung des psychi-

101 So etwa von Hegel oder Vischer. Vgl. dazu: Koschorke, Albrecht u. a.: Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution. München: Fink 2010, S. 20 f. 102 Frei Gerlach, Franziska: Geschwister. Ein Dispositiv bei Jean Paul und um 1800. Berlin/Boston: de Gruyter 2012, S. 73; vgl. auch: Koschorke, Albrecht: Die heilige Familie und ihre Folgen. Frankfurt/M.: Fischer 2000. 103 Vgl. Frei Gerlach, Geschwister. 2012, S. 79; sowie: Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München: Fink 1999, S. 20 – 35. 104 Koschorke u. a.: Vor der Familie. 2010, S. 41 f., 43. 105 Ebd., S. 42 f. Hervorh. D.P. Ähnlich paradox ist die als Ideal erstrebte und zugleich als „sexuelle Perversion“ stigmatisierte Keuschheit (vgl. Elm, Susanna / Vinken, Barbara: Braut Christi. Familienformen im Spiegel der sponsa. In: Braut Christi. Familienformen im Spiegel der sponsa. Hrsg. von Susanna Elm und Barbara Vinken. Paderborn: Fink 2016, S. 20 f.).

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schen Vernunft-Systems wird auch das familiale System gestört und die verdrängte Triebnatur kehrt wieder. So muss Apollonius mitansehen, wie mit dem Unbewussten „Mißverhältnisse und Widersprüche in das innerste Leben dessen, was ihm das Heiligste war, gedrungen [sind], in das Herz seiner Familie, in sein eigenes, und er mußte sie wachsen sehn und die Hände waren ihm gebunden“ (HE, 177). All das wird erneut anhand eines Traumas sichtbar, das wiederum tödlich endet: Das „immer dunkler[e], immer schwüler[e]“ ‚Haus Nettenmair‘ (ebd.) wird zum Treibhaus, in dem sich die Triebe regen, und je mehr das Liebesbegehren des einen Bruders hervordrängt, desto gewaltiger packen die „Krallen“ der Eifersucht und Aggression den anderen (HE, 153). Daher sucht Fritz – wie Grete in der Logik des ‚Ressentiments‘ – ‚schuldige Täter‘, um seine Affekte in psychischer und später physischer Gewalt zu ‚entladen‘, und findet seine Tochter Ännchen: Da sie ihrem Onkel nahesteht, wird sie für Fritz zur „Kupplerin“ (HE, 105), der fortan ihre „Liebe […] so oft […] zurückstieß […], bis er ihr Gefäß zerbrach“ (HE, 247). Damit wirkt die Störung der familialen Ordnung nun wiederum zurück auf ihre Mitglieder und bewirkt eine traumatische Störung des Selbst: Denn die Tochter leidet an diesem „Zustand, ohne ihn zu verstehn“, das „häusliche Zerwürfniß [lastet] auf dem Kinde“ und „[macht] es bleich“ und „krank“ (HE, 119). Doch die Machstrukturen der bürgerlich-patriarchalen Familienordnung duplizieren diese Gewalt sogar noch, indem nicht etwa Fritz, sondern Christiane sich „für ihr Kind“ zu „bezwingen“ habe (HE, 161). Als Hausfrau könne sie – wie der etwa von Ludwig intensiv rezipierte Riehl betont – „ihrer Natur nach gar nicht anders“, als „unter die Autorität des Mannes“ zu treten und Missverhältnisse auszugleichen.106 Handelt sie allerdings doch wider ihre Natur und also wider das hegemonial-männliche, patriarchale System, so kann innerhalb des „nicht rechtlich kontrollierbar[en]“ Familienraums durchaus „ehemännliche und väterliche Gewalt ausgeübt werden.“107 Dies bekommen nicht nur Christiane und Ännchen zu spüren, sondern auch Grete Minde, deren Liebesentzug den Nährboden ihres Traumas bildet, sowie Laurella in Heyses „L’Arrabiata“ und Christine in Storms „Doppelgänger“, die beide die (tödliche) Vergewaltigung der Mutter durch den Vater miterleben und lebenslang darunter leiden. Während erstere in jedem Geliebten den gefürchteten Vater erblickt, wodurch jede Liebesverbindung gestört wird108, vermag letztere „keine feste Erinnerung“ an ihren Vater „zu gewinnen“, da ihre „Phantasie das Schreckbild in jene von

106 Riehl, Familie. 1855, S. 106; vgl. bspw. auch: Klencke, Hermann: Das Weib als Gattin. Leipzig: Kummer 1872. 107 Harnisch, Geschlecht, Sexualität und Familie. 1994, S. 9. 108 Vgl. Heyse, Paul: L’Arrabbiata. In: Romane und Novellen. Hrsg. von Paul Heyse. Berlin/ Stuttgart: Cotta 1907. Bd. 1, S. 11.

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Erinnerung leere Zeit hinabschob“ und die Vaterfigur in eine gute und eine böse aufspaltet.109 Ännchen gelingt diese schützende dissoziative Abspaltung der traumatischen Erfahrung nicht. Zwar versucht ihre Mutter sich zu ‚bezwingen‘ und Fritz‘ „Heftigkeit“ auf sich zu lenken, doch die traumatisch-fremden Erfahrungen prägen sich Ännchen mehr und mehr ein, gewinnen Gewalt über sie und entfremden sie so sehr, dass sie „auf einmal im Bette […] wie mit fremder Stimme“ aufschreit, „dann nicht mehr sprechen“ kann (HE, 160) und etwas später sich „in Krämpfen zusammen[rollt]“ und stirbt (HE, 165). Und doch: So zerstörend die Folgen der Störung des familialen Systems auch sind, so können sie gleichwohl eine auf- bzw. verstörende und potenziell produktive Dimension entfalten. Denn gerade durch ihre Drastik lenken sie die Aufmerksamkeit auf die (machtpolitischen) Grenz- bzw. Disziplinar- und Rollenstrukturen und eröffnen dadurch einen diskursiven Möglichkeitsraum, in dem diese Strukturen verändert werden können und bspw. ein neues Vaterschaftsmodell eines „besseren Vater[s]“ denkbar wird (HE, 166).110 Damit verweisen diese Störungen immer auch in die Zukunft und so scheint es kein Zufall zu sein, dass gerade im deutschsprachigen Realismus zahlreiche hochreflektierte Literarisierungen traumatischer und – mit ihnen – unbewusster Erfahrungen entstehen, die in der vorherrschenden „Weltanschauung […] als ein störender Eingriff“ fungieren.111 Denn realistische Texte stehen immer auch auf der Schwelle zur Moderne – und je morscher der Boden dort wird, desto sensibler reagieren die realistischen Grenzziehungssysteme darauf, experimentieren in ihren fiktionalen Versuchsanordnungen mit bestehenden Denkmustern der ‚Ordnung des Normalen‘ und registrieren bzw. inszenieren dort folgenschwere (Ein-)Brüche und Störeffekte: von der Störung des Selbst als aufgeklärtes, (selbst-) bewusstes Vernunftsubjekt durch das Unbewusste im psychischen System über Irritationen der sozialen sowie der poetischen Systeme bis hin zu narrativen, textuellen und Wirklichkeitsordnungen. Wie diese Einbrüche eines Außer-ordentlichen stellt aber auch die traumatische Erfahrung einen Bruch mit vertrauten Erfahrungs- und Denkmustern dar und eignet sich daher zur Veranschaulichung der (doppeldeutigen) multiplen Störungen des Realismus – an deren Ende nach der traumatischen und der unbewussten Erfahrung eben durchaus auch eine Erfahrung der Moderne stehen kann.

109 Vgl. Storm, Theodor: Ein Doppelgänger. In: SW 3, S. 527. 110 So deutet die Erzählung ein Konzept kulturell-adoptiver statt biologischer Vaterschaft an, in dem die maximale, ‚naturgewollte‘ Abhängigkeit durch einen sich „väterlich“ dem „Familienwesen […] und der Kinder“ annehmenden, sorgenden Vater überwunden wird (HE, 7). 111 So schreibt Eduard von Hartmann 1901 rückblickend in: Die moderne Psychologie. Eine kritische Geschichte der deutschen Psychologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Eduard von Hartmann. Leipzig: Haacke 1901, S. 116.

Matthias N. Lorenz

„Ich war nicht so entsetzt, wie ihr vielleicht denken mögt“ –Ein Antwortversuch auf eine ungelöste Frage der Conrad-Philologie über den Umweg der Lektüre von „Heart of Darkness“ (1899) als Traumabericht Am Himmel über der Themse, die die Weltstadt London mit dem offenen Meer verbindet, genau am Beginn des „sea-reach of the Thames“1 – also dort, wo die unsichtbare Grenze zwischen Binnengewässer und Meeresarm verläuft –, spielt sich ein Kampf ab. Während die umliegende Landschaft in „[a] haze“ (HoD, 3) [einem „Nebelschleier“ (HdF, 5)] versinkt, konzentriert sich „a mournful gloom […] motionless over the biggest, and the greatest, town on earth“ (HoD, 3) [eine „trübe […] Düsternis […] reglos über der größten und großartigsten Stadt dieser Erde“ (HdF, 5)]. In der entgegengesetzten Richtung liegt „the luminous estuary“: „The water shone pacifically, the sky without a speck was a benign immensity of unstained light“ (HoD, 3 f.) [die „leuchtende […] Meeresbucht“: „Das Wasser glitzerte friedlich, der Himmel war wolkenlos, eine gütige Unermeßlichkeit makellosen

1 Reitz, Bernhard: Anmerkungen. In: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Hrsg. von Bernhard Reitz. Stuttgart: Reclam 2010, S. 167, Anm. 2. – Wo nicht anders angegeben, zitiere ich aus der wohl besten (vgl. hierzu Czennia, Bärbel: Joseph Conrad Heart of Darkness: Marlows ‚Impressionen‘ und Reaktionsweisen deutscher Übersetzer. In: Erlebte Rede und impressionistischer Stil. Europäische Erzählprosa im Vergleich mit ihren deutschen Übersetzungen. Hrsg. von Dorothea Kullmann. Göttingen: Wallstein 1995, S. 491 – 528) deutschen Übersetzung von „Heart of Darkness“, der von Daniel Göske erstmals 1991 für Reclam verfassten: Conrad, Joseph: Herz der Finsternis. Übersetzt und hrsg. von Daniel Göske. Stuttgart: Reclam 2009 ([Seitenangaben fortlaufend im Text mit dem Kürzelim Folgenden unter der Sigle „HdF“ im Text]). Für den Originaltext wird auf die textkritisch rekonstruierte englische Fassung zurückgegriffen, die Robert Kimbrough 1988 für die „Norton Critical Edition“ ediert hat und die seither als maßgeblich gelten kann: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. [Edited by Robert Kimbrough]. In: Conrad, Joseph. Heart of Darkness. Authoritative Text. Backgrounds and Contexts. Criticism. Hrsg. von Paul Armstrong. New York/ London: Norton 2006, S. 3 – 77 ([im Folgenden unter der Sigle Seitenangaben fortlaufend im Text mit dem Kürzel „HoD“ im Text]). Dieser Beitrag bündelt und vertieft Überlegungen, die meiner Studie „Distant Kinship – Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads Heart of Darkness in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht“ (Stuttgart /Weimar: Metzler 22018 = Schriften zur Weltliteratur, Bd. 5) zugrunde liegen. https://doi.org/10.1515/9783110683028-014

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Lichts“ (HdF, 5 f.)]. Dieses Idyll ist gefährdet, denn „[o]nly the gloom to the west brooding over the upper reaches became more sombre every minute as if angered by the approach of the sun.“ (HoD, 4) [„die im Westen über dem oberen Flußlauf brütende Düsternis verdunkelte sich mit jeder Minute, wie zornig über das Nahen der Sonne.“ (HdF, 6) Die untergehende Sonne stößt von oben gegen jene Wolkenbank, von der sie verschluckt wird: the sun sank low, and from glowing white changed to a dull red without rays and without heat, as if about to go out suddenly, stricken to death by the touch of that gloom brooding over a crowd of men. Forthwith a change came over the waters, and the serenity became less brilliant but more profound (HoD, 4). ihr glühendes Weiß verwandelte sich in ein trübes Rot, das weder Licht noch Hitze ausstrahlte, als würde sie gleich jäh verlöschen, zu Tode getroffen von der Berührung mit jener Düsternis, die über einer riesigen Menschenmasse brütete. Alsbald kam eine Veränderung über das Wasser, und die heitere Klarheit verlor an Leuchtkraft, gewann aber an Tiefe (HdF, 6).

Der Kampf, den Joseph Conrad hier zu Beginn von „Heart of Darkness“ inszeniert, ist weit mehr als nur eine Drapage zur Stimmungserzeugung. Conrad lässt hier auf knappstem Raum bereits den Kern seines Romans ablaufen: Das Licht nähert sich der Dunkelheit, die den Kontakt nicht ‚will‘ und das Licht zu ‚töten‘ scheint, es tatsächlich jedoch zunächst lediglich transformiert: zu einem Phänomen des Dazwischen, weder reines Licht noch absolute Schwärze. Der Rahmenerzähler fühlt sich bei dieser Erscheinung an „the great spirit of the past“ (HoD, 4) [„den Geist einer großen Vergangenheit“ (HdF, 7)] der Themse erinnert, über die schon viele Entdecker und Eroberer in die Welt aufgebrochen seien. Kapitän Marlow jedoch nimmt das Naturschauspiel ganz anders wahr, für ihn scheint es ein Trigger zu sein, der an eine Art Trauma rührt, von dem er in den folgenden Stunden stockend, nicht linear und oft nur undeutlich zu berichten versuchen wird. Bärbel Czennia weist auf Marlows auffällige Gedächtnislücken hin, die es ihm verstellen, „in souveräner Weise mit seinem Erzählstoff umzugehen.“ Czennia: Streckenweise ist […] noch nicht einmal klar, ob Marlow überhaupt primär für Außenstehende […] erzählt, oder ob er nicht vornehmlich in einer Art Meditation sich selbst Gewißheit zu verschaffen sucht, über die Auswirkungen der eigenen, nur unzureichend verarbeiteten Wahrnehmungen.2

2 Czennia, Marlows ‚Impressionen’ und Reaktionsweisen deutscher Übersetzer. 1995, S. 493, Anm. 7. – Vgl. zur mündlichen Erzählsituation in Conrads Werk Griem, Julika: Brüchiges Seemannsgarn. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Werk Joseph Conrads. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1995.

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Bernhard Reitz ergänzt, dass „[…] Marlow erzählt, im Wissen, daß seine Zuhörer ihm nicht werden folgen können, […] der Akt des Erzählens ist, und darin liegt seine Bedeutung für den Erzähler selbst, der Akt der Bewältigung einer extremen Erfahrung.“3 Dass Marlow versucht, „sich selbst über die Bedeutung der traumatischen Erlebnisse klar zu werden“4, ist mittlerweile ein Gemeinplatz in der Auseinandersetzung mit „Heart of Darkness“ geworden, jedoch ohne dass die Rede vom Trauma interpretatorisch wirklich ernst genommen worden wäre. Der Zugang über Marlows Trauma scheint jedoch durchaus angemessen, da der Erzählvorgang selbst Hinweise auf traumaspezifische Verarbeitungsweisen gibt. Dass Extremtraumatisierte etwa ihre Erlebnisse unter anderem deshalb kaum mitteilen können, weil ihren Zuhörern hierfür die Plotstruktur fehlt,5 ist vor allem von der Forschung zur Autobiografik des Holocaust herausgearbeitet worden,6 es ist aber ein Phänomen universeller Natur, wie Martina Kopf darlegt: „Was es so schwer macht, ein Trauma zu erzählen, ist nicht nur das Fehlen eines sprachlichen Ausdrucks für ein bestimmtes Geschehen. Was darüber hinaus fehlt, ist das Gefühl dafür, dass es Sinn macht, davon zu sprechen, genauer: mit der / dem Anderen zu sprechen.“7 Auch Marlow thematisiert dieses Problem, wenn er seine Hörer anspricht: „Do you see the story? Do you see anything? It seems to me I am trying to tell you a dream – […] that comingling of absurdity, surprise, and bewilderment in a tremor of struggling revolt, that notion of being captured by the incredible“ (HoD, 27) [„Seht ihr die Geschichte vor euch? Seht ihr überhaupt etwas? Mir kommt’s vor, als versuche ich euch einen Traum zu erzählen – […] jene Mischung aus Widersinn, Staunen und Verwirrung, gegen die man sich in verzweifelten Zuckungen auflehnt,

3 Reitz, Anmerkungen. 2010, S. 167. 4 Czennia, Marlows ‚Impressionen‘ und Reaktionsweisen deutscher Übersetzer. 1995, S. 495; vgl. aus traumatologischer Sicht auch Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein 2004, S. 60: „Marlow versucht in London beim Warten auf das Auslaufen des Schiffes den Anwesenden seine Geschichte zu erzählen, um sich so über Kurtz und seine Erlebnisse klar zu werden, scheitert jedoch“. 5 Vgl. Kopf, Martina: Trauma und Literatur. Das Nicht-Erzählbare erzählen – Assija Djebar und Yvonne Vera. Frankfurt/M.: Brandes und Apsel 2005, S. 42, 45 f. 6 Vgl. z. B. Welzer, Harald: Jenseits der Erfahrung. Die Unerzählbarkeit der Vernichtung. In: Verweilen beim Grauen. Hrsg. von Harald Welzer. Tübingen: edition Diskord 1997, S. 127. – Welzer übernimmt den Begriff der Plotstruktur von Hayden White (White, Hayden: Tropics of discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 61994, S. 132 f.). – Vgl. auch Reemtsma, Jan Philipp: Die Memoiren Überlebender. Eine Literaturgattung des 20. Jahrhunderts. In: Mittelweg 36, 1997, H. 1, S. 20 – 39; Felman Shoshana / Laub Dori (Hrsg.): Testimony. Cries of Witnessing in Literature, Psychoanalysis, and History. New York/London: Routledge 1992. 7 Kopf, Trauma und Literatur. 2005, S. 43 (Hervorhebung im Original).

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jenes Gefühl, gefesselt zu sein vom Unfaßlichen“ (HdF, 47 f.)]. Marlow bekräftigt schließlich die Erkenntnis, sich nicht wirklich mitteilen zu können, indem er binnen nur vier Zeilen dreimal konstatiert: „it is impossible“ (HoD, 27) [„es ist unmöglich“ (HdF, 48)]. Wie zur Bestätigung dessen machen Marlows Zuhörer nur zu deutlich, dass sie nicht in der Lage sind, ihn zu verstehen. Sie sind mal gleichgültig, mal pikiert (vgl. HoD, 5, 7, 34; HdF, 9, 12, 60) und lassen ihn wissen, dass sie das Geschilderte für absurd halten – was Marlow verzweifelt zur Kenntnis nimmt: „‚Absurd!‘ he cried. ‚This is the worst of trying to tell. … […]‘“ (HoD, 47) [„‚Absurd!‘ rief er aus. ‚Das ist das Schlimmste, wenn man versucht zu erzählen … […]‘“ (HdF, 84)]. Am Ende seines Berichts kehren seine Zuhörer übergangslos zur Tagesordnung zurück, wenn sie feststellen: „‚We have lost the first of the ebb‘“ (HoD, 77) [„‚Wir haben den Beginn der Ebbe verpaßt‘“ (HdF, 137)]. Die Reaktion Extremtraumatisierter auf dieses normalisierende Verhalten ihrer Umwelt spricht Marlow gegen Ende seiner Erzählung aus. Wie dem jungen Holocaustüberlebenden8 in Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“9 kann ihm nach seiner Erfahrung der ‚Finsternis‘ das Verhalten ‚normaler‘ Menschen nurmehr lächerlich erscheinen: I found myself […] resenting the sight of people […] whose knowledge of life was to me an irritating pretence because I felt so sure they could not possibly know the things I knew. Their bearing, which was simply the bearing of commonplace individuals going about their business in the assurance of perfect safety, was offensive to me like the outrageous flauntings of folly in the face of danger it is unable to comprehend (HoD, 70 f.). Ich […] fühlte mich belästigt vom Anblick der Leute, […] deren Kenntnis des Lebens mir wie unausstehliche Heuchelei vorkam, weil ich mir so sicher war, daß sie unmöglich von den Dingen wissen konnten, die ich kannte. Ihr Gebaren, das bloß das gewöhnlicher Leute war, die im Gefühl vollkommener Sicherheit ihrem Gewerbe nachgehen, war mir zuwider wie die unerträgliche Prahlerei eines Schwachkopfs angesichts einer Gefahr, die zu begreifen er völlig unfähig ist (HdF, 126).

Worin aber besteht Marlows Trauma – und was ist der Grund dafür, dass die Zuhörer seinem Bericht gegenüber verschlossen bleiben?

8 Vgl. zu den Parallelen zwischen Marlows Bericht und den Memoiren von Holocaustüberlebenden auch Romanick Baldwin, Debra: The Horror and the Human: The Politics of Dehumanization in ‚Heart of Darkness‘ and Primo Levi’s ‚Se questo è un uomo‘. In: Conradiana 37, 2005, H. 3, S. 185 – 204. 9 Vgl. Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen (dt. v. Christina Viragh). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch 2005 [orig. Sorstalanság, 1975], S. 259 – 287. – Der Protagonist stellt fest: „ich begann allmählich einzusehen: über bestimmte Dinge kann man mit Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren, um es so zu sagen“ (ebd., S. 271.).

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Der Trigger, der die traumatische Erinnerung reaktualisiert, scheint jene „brütende Düsternis“ zu sein, die der Rahmenerzähler auf den ersten dreieinhalb Seiten nicht weniger als vier Mal beschwört (vgl. HoD, 3 f., 5; HdF, 5 f., 8), um jene Wetterfront zu charakterisieren, „brooding over a crowd of men“ (HoD, 4) [„die über einer riesigen Menschenmasse brütete“ (HdF, 6)]. Wer Marlows Bericht kennt, kann nicht umhin, diese Beschreibung des Himmels über London als Anspielung auf die Menschenmassen Afrikas zu beziehen. Marlow selbst stellt diese Verknüpfung sofort mit den ersten Worten, die er im Roman spricht, her: „‚And this also‘, […] ‚has been one of the dark places of the earth.‘“ (HoD, 5) [„‚Und auch dies‘, […] ‚ist einer der finsteren Orte auf Erden gewesen‘“ (HdF, 8)]. Und er entfaltet das Panorama der römischen Besetzung Britanniens vor 1900 Jahren, bei der sich die Römer gefühlt haben müssten wie die imperialistischen Eroberer der Gegenwart, während die vom Rahmenerzähler als so lieblich geschilderte Themselandschaft damals „utter savagery“ (HoD, 6) [„tiefste Wildnis“ (HdF, 10)] und voller Gefahren gewesen sei: „Sandbanks, marshes, forests, savages precious little to eat […] – cold, fog, tempests, disease, exile, and death – death skulking in the air, in the water, in the bush. They must have been dying like flies here.“ (HoD, 6) [„Sandbänke, Sümpfe, Wälder, Wilde, herzlich wenig Genießbares zu essen […] – Kälte, Nebel, Stürme, Seuchen, Verbannung, und Tod – der in der Luft, im Wasser, im Dickicht lauert. Wie die Fliegen müssen sie hier gestorben sein“ (HdF, 9 f.)]. Dies sind exakt die Fährnisse, denen Marlow im Kongo begegnet ist, und die Römer werden als ebensolche zwielichtige Eindringlinge charakterisiert wie die Weißen im Dschungel (vgl. HoD, 23, 68, HdF, 40, 121): They were no colonists, their administration was merely a squeeze, and nothing more, I suspect. […] It was just robbery with violence, aggravated murder on a great scale, and men going at it blind – as is very proper for those who tackle a darkness. The conquest of the earth, which mostly means the taking it away from those who have a different complexion or slightly flatter noses than ourselves […]“ (HoD, 6 f.). Das waren keine Kolonisten, ihre Verwaltungstätigkeit bestand wohl nur aus Erpressung und sonst nichts. […] Es war bloß schwerer Raub mit Körperverletzung, Mord in großem Stil, blindlings begangen, wie es sich gehört für die, die einer Finsternis entgegentreten. Die Erde zu erobern – was meist bedeutet, sie denen wegzunehmen, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen haben als wir […] (HdF, 11).

Marlow hat die Grausamkeit des Kolonialismus erlebt und bietet seinem Publikum vorab einen ‚westlichen‘ Referenzrahmen an, um Analogien zu seinen Schilderungen herstellen zu können. Indem er die Briten um 55 v. Chr. aus der Sicht der römischen Eroberer als barbarische Wilde schildert und den römischen Herrschaftsanspruch wiederum ausschließlich als Raubzug, mutet er seinen Hörern

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gleich eine doppelte Provokation zu, die das zeitgenössische Bewusstsein vom Unternehmen des Kolonialismus – den ‚niederen Rassen‘ das ‚Licht der Zivilisation‘ zu bringen – nicht wenig herausfordert. Wenn man dies als Kolonialismuskritik versteht, stellt sich jedoch die Frage, wie sich dann das Anfangsbild des Kampfes zwischen Hell und Dunkel erklärt – schließlich wird am Himmel über London nicht das Dunkle vom Hellen verheert, sondern exakt das Gegenteil findet statt: Zunächst gewinnt das Helle noch an ‚Tiefe‘, dann sinkt es tödlich getroffen herab. Diese Vertikalbewegung ist eben jene, die der eigentliche, wenn auch negative Held von Marlows Geschichte durchläuft, der sagenumwobene und pervertierte Leiter der Inneren Station am Kongo, der Elfenbeinhändler Kurtz. Liest man die Hell-Dunkel-Metaphorik gemäß der zeitgenössischen Identifikation der europäischen Aufklärung mit dem Licht und Afrika als ‚dunkler Kontinent‘, so muss auch Kurtz erstens als ein hehrer Verfechter des zivilisatorischen Fortschritts in den Urwald aufgebrochen sein, wurde zweitens durch sein Vordringen in die ‚Tiefe‘ eines ‚zornigen‘ Afrika auf mysteriöse Weise verändert und musste drittens schließlich sterben. Und tatsächlich finden sich genau zu dieser Überwältigung eines ‚hellen‘ Gutmeinenden durch das ‚Dunkle‘, der dadurch zu einem Unmenschen wird, Hinweise im Text. Kurtz ist den alteingesessenen Kolonialbeamten unbequem. Er gilt als Vertreter einer neuen „gang of virtue“ (HoD, 25 [„Garde der Tugendhaften“ (HdF, 44)], die die konsequenzlose Selbstherrlichkeit der Weißen gefährden. Der Direktor der Gesellschaft zitiert ihn: „‚Each station should be like a beacon on the road towards better things, a centre for trade of course but also for humanising, improving, instructing‘ […] – that ass!“ (HoD, 32) [„‚Jede Station sollte wie ein Leuchtfeuer sein auf dem Weg in eine bessere Zukunft, ein Zentrum für den Handel, natürlich, aber auch für Humanisierung, Veredelung, Belehrung.‘ […] – dieser Esel!“ (HdF, 57)]. Kurtz reist tatsächlich im Auftrag einer „international Society for the Suppression of Savage Customs“ (HoD, 49) [„Internationale[n] Gesellschaft zur Abschaffung barbarischer Sitten“ (HdF, 88)], die ihn beauftragt hat, einen Bericht zu verfassen: „He began with the argument that we whites, from the point of development we had arrived at, ‚must necessarily appear to them [savages – M.N.L.] in the nature of supernatural beings – we approach them with the might as of a deity,‘ and so on, and so on,“ (HoD, 50) [„Er begann mit der Behauptung, daß wir Weißen, aufgrund des Entwicklungsstandes, den wir erreicht hätten, ‚ihnen [den Wilden – M.N.L.] notwendigerweise als übernatürliche Wesen erscheinen müssen – wir nähern uns ihnen mit der Allmacht einer Gottheit‘, und so weiter, und so weiter.“ (HdF, 88)] Wie konnte es dazu kommen, dass aus diesem Idealisten ein Monster wurde? Diese Frage ist bislang weitgehend übergangen worden. Robert Stockhammer

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nennt sie „eine ungelöste Frage der Conrad-Philologie“.10 Dabei hält der Roman zu dieser Frage eine schlüssige Antwort bereit, wenn man die Fragmente von Marlows Bericht zusammenfügt. Kurtz muss tatsächlich mit hochmögenden Ambitionen am Kongo aufgetaucht sein. Er will zeigen, dass sein Vorgehen bessere Ergebnisse bringen wird und übernimmt die Leitung der „important station“ (HoD, 22) [„wichtige[n] Station“ (HdF, 39)] im Innern. Einen seines Erachtens unfähigen Stellvertreter schickt er flussabwärts zurück und bleibt allein, er will demonstrieren, „what he could do“ (HoD, 31) [„wozu er im Stande ist“ (HdF, 55)]. Auch als die Nachschublieferungen ausbleiben, gibt er nicht auf. Obwohl krank und ohne Nahrung und Tauschwaren, bleibt er im Innern – er will, obwohl er vom Direktor ganz offensichtlich boykottiert wird, beweisen, dass er es auch allein schafft. Die Intrige des Direktors erstreckt sich auch auf Marlows Arbeit, indem der Direktor nur zwei Tage vor Marlows Ankunft den Dampfer, dessen Kommando dieser übernehmen sollte, ohne geeigneten Kapitän losfahren und auf Grund laufen lässt. Das Schiff ist somit für eine Rettungsexpedition ins Innere auf Monate unbrauchbar. Die Konsequenz ist, dass Kurtz, der zu stolz ist, um zurückzukehren, nun anders mit den Afrikanern umgehen muss, da ihm jede Tauschware fehlt. Er hat Dörfer im Inland entdeckt, wo noch kein first contact mit Weißen stattgefunden hatte. Er erscheint diesen Schwarzen als Gott und beweist seine Überlegenheit mit „thunder and lightning“ (HoD, 56) [„Blitz und Donner“ (HdF, 99)]. Die unterworfenen Stämme befehligt er nun bei seinen Elfenbeinraubzügen, statt Tauschwaren benutzt er Gewalt. Dabei setzt er einfach jene Erkenntnis um, die er schon in seinem Traktat formuliert hatte: dass die Weißen den Schwarzen als übermächtige Götter erscheinen (vgl. HoD, 50; HdF, 88). Als Marlow Kurtz am Ende stellt und auf das Schiff zurückbringt, gesteht dieser das Scheitern seiner ursprünglichen Pläne ein, wofür er dem Direktor die Schuld zu geben scheint: „‚I had immense plans,‘ he muttered irresolutely. […] ‚I was on the threshold of great things,‘ […] ‚And now for this stupid scoundrel…‘“ (HoD, 65) [„‚Ich hatte ungeheure Pläne‘, murmelte er unschlüssig. […] ‚Ich stand an der Schwelle zu großen Dingen‘, […] ‚Und jetzt, bloß wegen dieses blödsinnigen Halunken …‘“ (HdF, 116 f.)]. Fügt man alle Hinweise zusammen, die „Heart of Darkness“ gibt, lässt sich diese Hintergrundgeschichte zusammensetzen, die auf der bloßen Handlungsebene zumindest fragmentarisch einigermaßen plausible Anhaltspunkte für Kurtz’ Verwandlung gibt. Marlow beschwört jedoch über weite Strecken seiner Erzäh-

10 Stockhammer, Robert: Ruanda. Über einen anderen Genozid schreiben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 138.

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lung noch ein anderes Motiv: Afrika. Schon vor Reiseantritt hatte Marlow den Kongofluss als etwas Böses personifiziert: „fascinating – deadly – like a snake.“ (HoD, 10) [„faszinierend – tödlich – wie eine Schlange“ (HdF, 17)]. Bei der Anreise sind für ihn die Flüsse, die aus dem Kontinent ins Meer strömen, „streams of death in life, whose banks were rotting into mud, whose waters, thickened into slime, invaded the contorted mangroves that seemed to writhe at us in the extremity of an impotent despair“ (HoD, 14). [„Ströme des Todes mitten im Leben, deren Ufer zu Schlick verfaulten, deren zu Schleim verdicktes Wasser die verdrehten Mangroven überschwemmte, die sich uns in der ohnmächtigen Verzweiflung ihres Todeskampfes entgegenzukrümmen schienen“ (HdF, 24)]. Marlow entwirft das Bild eines überalterten Afrika, dem das Blut in den Adern stockt und das stirbt. Der ‚Tiefe‘, die das Helle bei seinem Verglühen in der Düsternis gewinnt, wohnt somit eine Doppeldeutigkeit inne. Angespielt wird zwar einerseits auf die Tiefe des geografischen Raumes, aber die Tiefe lässt sich auch zeitlich lesen. Ein Grund für Kurtz’ entzivilisiertes Verhalten liegt darin, dass das vorzeitliche Afrika verschüttete barbarische Atavismen in ihm geweckt hat: […] the wilderness had […] whispered to him things about himself which he did not know. […] – and the whisper had proved irresistibly fascinating. It echoed loudly within him because he was hollow at the core“ (HoD, 57 f.). […] die Wildnis hatte […] ihm Dinge über ihn selbst zugeflüstert, von denen er nicht wußte, […] – und dies Flüstern hatte eine unwiderstehliche Faszination auf ihn ausgeübt. Es hallte dröhnend in ihm wider, denn er war im Innern hohl (HdF, 102 f.).

Der Kontakt mit Afrika hat Kurtz seines gemäßigten ‚europäischen‘ Inhaltes beraubt. An dessen Stelle ist ungezügelte Begierde getreten, die über allen Weißen zu liegen scheint wie ein Fluch: „The word ‚ivory‘ rang in the air, was whispered, was sighed. You would think they were praying to it.“ (HoD, 23, vgl. auch 35) [„Das Wort ‚Elfenbein‘, geflüstert, geseufzt, hing in der Luft. Man hätte denken können, daß sie es anbeteten“ (HdF, 40, vgl. auch 61)]. Damit aber stellt sich die Frage, ob das Böse eigentlich ein Produkt Afrikas ist, oder ob es vielmehr aus den Weißen selbst stammt. Denn ‚hohl‘ sind sie augenscheinlich alle, nicht nur Kurtz. Und so bezieht sich die Leitmetapher des Herzens der Finsternis keineswegs allein auf Afrika, vielmehr lässt Conrad sie durch die Geschichte wandern. Sie mutiert unter anderem zu Kurtz’ „gift of expression, […] the most exalted and the most contemptible“ (HoD, 47) [„Gabe der Rede, […] diese erhabenste und niederträchtigste Gabe von allen“ (HdF, 83)]. Und „the door of Darkness“ (HoD, 11) [das „Tor zur Finsternis“ (HdF, 18)] stellt bereits das (Brüsseler) „company’s office“ (HoD, 9) [„Bureau der Gesellschaft“ (HdF, 16)] dar. Damit entpuppt sich das Herz der Finsternis mindestens ebenso als eine innere Disposition des Bösen in den Weißen. Marlow stellt fest:

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The thing was to know what he belonged to, how many powers of darkness claimed him for their own. That was the reflection that made you creepy all over. It was impossible – it was not good for one either – trying to imagine“ (HoD, 48 f.). Es kam darauf an zu erkennen, wem er gehörte, wie viele Mächte der Finsternis ihn als ihr Eigentum beanspruchten. Das war der Gedanke, der einem Schauer über den Rücken jagte. Der Versuch, sich das vorzustellen, war unmöglich – und obendrein nicht ratsam (HdF, 86).

Genau hier liegt der Grund für Marlows Beunruhigung: das entsetzliche Wissen darum, vor diesem ‚Rückfall‘ in unmenschliches Verhalten nicht gefeit zu sein. Und so erlebt Marlow, der mit Kurtz eine tiefe Abscheu vor den anderen Weißen im Kongo teilt, dessen Niedergang als seinen eigenen. Nirgends kommt Marlow der Gefahr, der Kurtz erlegen ist, näher als am Rand des Urwaldes, in dem die ‚Wilden‘ nachts ‚toben‘. Er spürt den Schlag ihrer Trommeln als eigenen Herzschlag. Der Wald schlägt ihn in seinen Bann. Marlow ringt mit der Wildnis um Kurtz: „I tried to break the spell, the heavy mute spell of the wilderness that seemed to draw him to its pitiless breast by the awakening of forgotten and brutal instincts“ (HoD, 65). [„Ich versuchte, den Zauberbann zu brechen, den schweren, stummen Zauber der Wildnis, die ihn an ihre erbarmungslose Brust zu ziehen schien, indem sie rohe und längst vergessene Instinkte in ihm weckte“ (HdF, 117)]. Indem er bereit ist, mit jener Macht zu kämpfen, erkennt Marlow sie als faktisch vorhanden an und gleitet damit selbst in paranormale Wahrnehmungen ab: „I was anxious to deal with this shadow by myself alone“ (HoD, 64). [„Ich wollte mit diesem Schatten unbedingt allein fertig werden“ (HdF, 114)], erklärt er seinen Versuch, Kurtz heimlich zum Boot zurückzubringen. Marlow zeigt so genau die gleiche Hybris, die auch Kurtz angetrieben hatte, der allein bestehen wollte. Hatte Marlow die Niederträchtigkeit der anderen Weißen im Kongo noch abwehren können, gerät seine innere Stabilität in dem Augenblick in Gefahr, in dem er erkennen muss, dass jene Gegenfigur zu den korrupten Weißen, die er sich in Gedanken aufgebaut hat, nicht nur ebenso niederträchtig ist wie diese, sondern sich noch weit schlimmerer Exzesse schuldig gemacht hat. Die Frage, die sein Selbstbild ins Wanken bringt, ist: Wurde Kurtz zu einem Monster, obwohl er als Philanthrop aufgebrochen war – oder gerade weil er (ganz genau wie Marlow selbst) anders, humaner, idealistischer war? Letzteres motiviert jene Angst, die Marlow „Schauer über den Rücken“ (HdF, 86) jagt: Nicht allein eine kulturelle Einflussangst11 vor dem ‚dunklen‘ Kontinent, sondern Angst angesichts des eigenen

11 Vgl. zu diesem Begriff Frank, Michael C.: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts. Bielefeld: Transcript 2006.

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Unbewussten, das möglicherweise unter einem Firnis zivilisierten Verhaltens nur schlummert und unter bestimmten Bedingungen ausbrechen kann. Großbritannien ist demzufolge nur zufällig und nur im Moment nicht barbarisch (vgl. HdF, 9, 11) – darin liegt die Provokation Marlows, die auch den Widerspruch seiner Zuhörer herausfordert (vgl. HdF, 64, 84). Damit bewegt Conrad sich dicht an den Erkenntnissen der sozialpsychologischen Täterforschung, die die Faktoren für exzessive Gewaltausbrüche vor allem in begünstigenden situativen Rahmenbedingungen verortet.12 Hierzu zählt die vorausgegangene Entsolidarisierung mit den Opfern – ein Schritt, der im Falle der Afrikawahrnehmung des 19. Jahrhunderts gar nicht erst gemacht werden musste, da Schwarze in Europa weithin als überkommenes Relikt früherer menschlicher Lebensformen galten. Chinua Achebe hat Recht, wenn er kritisiert, dass „Heart of Darkness“ diese Wahrnehmung fortschreibt. Die Verdinglichung sterbender Afrikaner, die nur rudimentär vorhandene Figurenrede Schwarzer, ihr ständiges ‚Toben‘ und ‚Rasen‘ entfalten rassistische Bilder.13 Marlows Blick auf die Afrikaner ist äußerst distanziert, was sich auch in seiner ironisch unterlegten Erzählung vom Tod seines Steuermanns, der bei einem Angriff zu seinen Füßen stirbt, äußert: „And the intimate profundity of that look he gave me when he received his hurt […] – like a claim of distant kinship affirmed in a supreme moment“ (HoD, 51) [„Und die vertrauliche Abgründigkeit seines Blicks, den er mir zuwarf, als er getroffen wurde, […] – wie ein im entscheidenden Augenblick bekräftigter Anspruch auf entfernte Verwandtschaft“ (HdF, 90)]. Achebe hat moniert, „daß Conrad, sorgfältig wie immer mit seinen Worten, weniger die ‚ferne Verwandtschaft‘ betont als den Umstand, daß jemand Anspruch auf sie erhebt.“14 Dass Marlow in der Situation selbst wohl nicht so gelassen war und nun während des Erzählens mit Ironie seine damalige Panik zu kaschieren versucht, sollte allerdings nicht unberücksichtigt bleiben, zeigen doch gerade die Normalisierungsversuche im Erzählen die vorausgegangene Traumatisierung an. Judith Lewis Herman hat darauf hingewiesen, dass das Erzählen eines Traumas paradoxerweise sehr häufig zugleich mit einem Ablenken von der Traumatisierung einhergeht: „Der Konflikt“, so Herman,

12 Ähnlich fällt Elmar Schenkels knappe Einordnung des Romans aus: „Jeder und vor allem jeder als Teil einer Gruppe kann das Böse entfalten“, sei Conrads bestürzende Erkenntnis (vgl. Schenkel, Elmar: Fahrt ins Geheimnis. Joseph Conrad. Eine Biographie. Frankfurt/M.: S. Fischer 2007, S. 153). 13 Vgl. den Nachweis rassistischer Darstellungen im Einzelnen bei Achebe, Chinua: Ein Bild von Afrika: Rassismus in Conrads ‚Herz der Finsternis‘ (dt. v. Wulf Teichman). In: Ders.: Ein Bild von Afrika. Essays. Berlin: Alexander Verlag 2002, S. 7 – 40. 14 Ebd., S. 25.

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zwischen dem Wunsch, schreckliche Ereignisse zu verleugnen, und dem Wunsch, sie laut auszusprechen, ist die zentrale Dialektik des psychischen Traumas. Menschen, die ein Trauma überlebt haben, erzählen davon oft so gefühlsbetont, widersprüchlich und bruchstückhaft, daß sie unglaubwürdig wirken. Damit ist ein Ausweg aus dem Dilemma gefunden, einerseits die Wahrheit sagen und andererseits Stillschweigen wahren zu müssen.15

Diesem Muster entspricht auch die unangemessene Ironie von Marlows Darstellung, die sich etwa in dem Witz äußert, der tote „second-rate helmsman“ (HoD, 51) [„zweitrangige[…] Rudergänger“ (HdF, 91)] hätte für die Kannibalen an Bord zu einer „first-class temptation“ (HoD, 51) [„erstklassigen Versuchung“ (HdF, 91)] werden können. Diese Ironie bricht, als er mit dem Vorwurf konfrontiert wird, sein Bericht sei „absurd“ (HoD, 47; HdF, 84). Zu seiner Verteidigung gesteht er seine damalige Panik ein: My dear boys, what can you expect from a man who out of sheer nervousness had just flung overboard a pair of new shoes? Now I think of it, it is amazing I did not shed tears“ (HoD, 47 f.). Liebe Leute, was kann man schon erwarten von einem, der aus purer Nervenschwäche gerade ein Paar nagelneuer Schuhe über Bord geschleudert hat? Wenn ich jetzt drüber nachdenke, kommt’s mir erstaunlich vor, daß ich nicht in Tränen ausgebrochen bin (HdF, 84).

Und schon in diesem Eingeständnis des Traumas ringt der Erzähler wieder sprachlich um eine Normalisierung, indem er sich abermals ironisch gibt: als sei der Verlust der „nagelneuen“ Schuhe das Problem gewesen und nicht, dass der Erzähler in besagten Schuhen bis zu den Knöcheln im Blut des sterbenden Steuermanns stand. Die Erzählstrategie, traumatische Erlebnisse zu überspielen (und dabei dann letztlich zu scheitern), trifft auch auf eine weitere Schlüsselszene des Romans zu: Bei der Anfahrt auf Kurtz’ Station nimmt Marlow einen Gartenzaun wahr, dem zwar die Latten fehlen, dessen Pfosten jedoch „certain attempts at ornamentation“ (HoD, 57) [„gewisse Ansätze einer Verzierung“ (HdF, 101)] aufweisen. Beim Näherkommen wird ihm schlagartig klar, dass es sich um Pfähle handelt, auf die abgeschlagene Köpfe gespießt wurden: Now I had suddenly a nearer view and its first result was to make me throw my head back as if before a blow. Then I went carefully from post to post with my glass, and I saw my mistake. These round knobs were not ornamental but symbolic; they were expressive and puzzling, striking and disturbing – food for thought and also for vultures if there had been any looking down from the sky; but at all events for such ants as were industrious enough to ascend the pole. They would have been even more impressive, those heads on the stakes, if their faces

15 Herman, Judith Lewis: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. München: Kindler 1994, S. 9.

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had not been turned to the house. Only one, the first I had made out, was facing my way. I was not so shocked as you may think. The start back I had given was really nothing but a movement of surprise. I had expected to see a knob of wood there, you know“ (HoD, 57). Nun sah ich es plötzlich näher vor mir, und ich warf meinen Kopf zurück, wie um einem Schlag auszuweichen. Dann ließ ich mein Fernglas langsam von Pfosten zu Pfosten wandern und ich erkannte meinen Irrtum. Diese runden Knäufe waren keine Verzierungen, sondern Symbole; ausdrucksvoll und verwirrend, befremdend und bestürzend – sie boten Nahrung für mancherlei Gedanken und auch für die Geier, wenn denn welche vom Himmel herabgespäht hätten; auf jeden Fall aber für die Ameisen, die emsig genug waren, den Pfosten zu erklimmen. Sie wären noch ausdrucksvoller gewesen, diese gepfählten Köpfe, wenn ihre Gesichter nicht dem Haus zugewandt gewesen wären. Nur einer, der, den ich zuerst ausgemacht hatte, war mir zugekehrt. Ich war nicht so entsetzt, wie ihr vielleicht denken mögt. Mein Zurückzucken war wirklich nicht mehr als ein überraschtes Stutzen gewesen. Ich hatte erwartet, einen hölzernen Knauf zu erblicken, müßt ihr wissen (HdF, 101 f.).

Das Panorama, dass Marlow hier ausbreitet, ist grauenvoll, doch der Erzähler tänzelt förmlich darum herum: Der Schock im ersten Satz wird erst mehrere Sätze später in einem betont beiläufigen Einschub begründet („diese gepfählten Köpfe“). Zunächst will er sich jedoch in mancherlei Gedanken ergangen, die Perspektive von Ameisen und Geiern sowie die Ausrichtung der Köpfe bedacht und dieselben auch noch auf ihre kulturelle Symbolik hin befragt haben. Das Entsetzen der Szene wird nach dem Eingeständnis des Schocks gleich wieder einzufangen versucht mit der männlich-überlegenen Behauptung, ja gar nicht erschrocken gewesen zu sein ob der Grausamkeit des Entdeckten, sondern nur aufgrund der Diskrepanz von Erwartung (Verzierungen) und Wirklichkeit (abgeschlagene Köpfe). Vor allem wenn Marlow seine körperlichen Reaktionen wiedererlebt, scheint er sich präzise zu erinnern – was wiederum den Erkenntnissen der Traumaforschung entspricht, die von der Unsteuerbarkeit der Erinnerung an das Trauma ausgeht, das sich als „somatische Erinnerung“ in den Körper eingeschrieben habe.16 Die aufkommende Panik, als das Blut des sterbenden Steuermanns seinen Schuh durchnässt, oder wie hier das geschockte Zurückzucken „wie um einem Schlag auszuweichen“ sind heftige vegetative Erfahrungen jenseits bewusster Steuerung –, was er darüber hinaus berichtet und wie er es einordnet, steht jedoch häufig im Widerspruch zu diesen Schockmomenten, die er ganz offensichtlich durch Ironie oder das Ausweichen auf nebensächliche Details zu glätten versucht. Marlow, so viel steht fest, ist in seinem Tonfall nicht immer zu trauen, er sucht nach Strategien, um mit seiner Panik umzugehen, und das uneigentliche Sprechen zählt dazu.

16 Vgl. Kopf, Trauma und Literatur. 2005, S. 36.

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Hannes Fricke hat die Erkenntnisse der Traumaforschung auf zahlreiche Werke der Weltliteratur angewendet und dabei Merkmale von Texten, in denen Traumata zur Sprache kommen bzw. inszeniert werden, herausgearbeitet. Das Trauma äußert sich im Erzählen durch die „ungewöhnliche Art der Speicherung von Erinnerungen“, die eine Folge der Diskrepanz zwischen dem hohen Grad der empfundenen Bedrohung und den minimierten eigenen Bewältigungsmöglichkeiten des Bedrohten ist.17 Traumatisierte erleben eine ausweglose Situation, jegliche Handlungsoptionen, um die Bedrohung abzuwenden, sind ihnen genommen. Überwältigung und Ohnmacht sind die maßgeblichen Erfahrungen Traumatisierter;18 Fricke nennt das daraus resultierende Gefühl einen „geschlossenen Horizont“19, aus dem die Betroffenen nicht ausbrechen können. Die Energie des traumatischen Erlebnisses bleibt so gestaut und kehrt daher auch immer wieder. Die Traumatologie spricht diesbezüglich von einem Zustand des ‚Eingefrorenseins‘; bestimmte Schlüsselreize können die bedrohliche Situation jederzeit wieder aufrufen, die dann nicht erinnert, sondern erneut durchlebt wird. Die Auslöser von Flashbacks können dabei bestimmte Gerüche, visuelle Eindrücke, Geräusche etc. sein. Dies hängt damit zusammen, dass die Filter- und Ordnungsfunktionen des Gehirns in der Situation der Traumatisierung partiell versagen und somit alle Elemente des Erlebnisses als gleichwertig abgespeichert werden: „Es fallen damit Sinnfragmente ohne räumlichen, zeitlichen oder kausalen Zusammenhang an, die ohne Zusammenhang mit der Ausgangssituation und damit dekontextualisiert abgespeichert werden.“20 Diese Sinnfragmente „treten an die Stelle geordneter Wahrnehmungsbilder“.21 Da alle Elemente gleichwertig erscheinen, keiner Ordnung unterliegen und zudem partielle Amnesien auftreten können, gelten die Erinnerungen Traumatisierter als tendenziell unzuverlässig.22 Fricke untersucht unter anderem Arundhati Roys „Der Gott der kleinen Dinge“ (1997), einen Roman, der dezidiert an „Heart of Darkness“ anknüpft.23 Seine Beobachtungen zum Trauma in Roys Roman könnten ebenso auch Conrads Prätext beschreiben:

17 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 9, vgl. S. 15. 18 Vgl. Kopf, Trauma und Literatur. 2005, S. 30. 19 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 15. 20 Ebd., S. 18. 21 Ebd. 22 Vgl. ebd., S. 16. 23 Vgl. Farn, Regelind: Colonial and Postcolonial Rewritings of ‚Heart of Darkness‘. A Century of Dialogue with Jospeh Conrad. Boca Raton (FL): Dissertation.com 2005, S. 242 – 249.

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[…] der gesamte Text inszeniert sich als ein […] geschlossener Horizont. Ständig wird vorund zurückverwiesen, als ob das Geschehen unausweichlich eingetreten sei und nicht hätte verhindert werden können. […] Dabei werden die Motive zunächst nicht erklärt, sondern erst viel später und in unerwartet anderem Zusammenhang erneut hervorgeholt und erläutert. Mit dieser Verschiebetechnik wird eine Atmosphäre von Ausweglosigkeit und gleichzeitig von Unsicherheit geschaffen, da das Geschehen zwar anscheinend wie ein Uhrwerk abläuft, jedoch zu keinem Zeitpunkt auch nur im Ansatz überblickt werden kann.24

All dies trifft auch auf „Heart of Darkness“ zu, Marlow selbst nennt den geschlossenen Horizont „that notion of being captured by the incredible“ (HoD, 27) [„jenes Gefühl, gefesselt zu sein vom Unfaßlichen“ (HdF, 48)]. Unter dem Blickwinkel des Traumaberichts erscheinen die auf der Handlungsebene des Romans zahlreichen rätselhaften Motive und Details sowie die Sprünge in der Erzählung, die insbesondere in der Episode vom Tod des Steuermanns ins Auge fallen (die von seinem Tod bis zur Entsorgung der Leiche immer wieder aufgegriffen, aber nicht chronologisch, sondern nur in Ausschnitten erzählt wird), nicht mehr als willkürlich oder ästhetizistisch verspielt. Vielmehr entfalten sie, als Traumabericht gelesen, eine eigene Logik, die mit der strukturierten Wahrnehmung Nichttraumatisierter schlicht nicht kompatibel ist. Gerade durch Marlows Unvermögen, seinen Bericht selbst zu ordnen, durch seine unmotiviert erscheinende Aufwertung von Details bei gleichzeitigem Auslassen zentraler Elemente (etwa der Intrige des Direktors), und durch seine Versuche, besonders traumatische Erfahrungen zu verharmlosen, erweist er sich als der typische unzuverlässige Erzähler seines Traumas. Er weist partielle Amnesien auf, ihm erscheinen die verschiedenen Elemente seines Berichts alle gleichwertig, er vermag nicht zu hierarchisieren, zu ordnen und zu deuten. Das berühmte Conrad’sche delayed decoding etwa in der Situation des Angriffs auf das Schiff spiegelt das Freeze des Erzählers, auf den eine Unmenge von Sinneseindrücken einprasselt, die er überhaupt nicht mehr fassen kann. Noch in der späteren Erinnerung an diesen Angriff, dem der Steuermann zum Opfer gefallen ist, wo ihm aus der Rückschau von Beginn an klar sein muss, dass er mit Pfeilen beschossen wurde, fällt er zurück in seine fragmentierte Wahrnehmung und spricht von Stöckchen, die heranfliegen. Das Aufschieben bestimmter, für das Verständnis zentraler Erzählteile ist, so Fricke, denn auch ein weiteres strukturelles Merkmal des Traumaberichts, für dessen Interpretation er empathische Verstehensbemühungen einfordert: Auf den ersten Blick erschweren sie [die Aufschiebungen bestimmter Erzählteile – M.N.L.] ein Verständnis, auf den zweiten Blick […] sind sie für ein angemessenes Verständnis aber

24 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 56 ff.

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grundlegend, begegnen hier doch oft beispielhaft die Schwierigkeiten der Protagonisten, ihre Erfahrungen sprachlich zu fassen.25

Fricke hat einen Katalog von Textmerkmalen entwickelt, die häufig in Trauma­ erzählungen anzutreffen sind. Er unterscheidet dabei eine Mikro- und eine Makro­ perspektive: Als Strukturen, die eher einzelne Stellen prägen, fielen im Zusammenhang mit der Schilderung traumatischer Erfahrungen Parataxe, einfache Wortwahl, Figuren der Auslassung und des Abbruchs oder der plötzliche Wechsel in eine seltsam schimmernde Form des Präsens auf. Betrachtet man den Text in seiner Gesamtheit, begegnen Klammermotive, bestimmte sprachliche Figuren oder Denkfiguren, sich wiederholende Handlungsschemata, die Möglichkeit, Texte erst auf den zweiten Blick aus der Sicht eines durch eine traumatische Erfahrung vorgeprägten Protagonisten zu verstehen, […] sowie die Möglichkeit – oder Unmöglichkeit –, eine durchgehende, wohlgeordnete narrative Struktur aufzubauen und zu halten.26

Eine ganze Reihe der genannten sprachlichen und erzählerischen Strukturen weist auch Marlows Bericht auf. Marlows vorgezogene Erinnerung an sein Zusammentreffen mit Kurtz, das einmal mehr die eigenwillig unchronologische Erzählstruktur belegt, die sein Bericht mit Traumatexten teilt, weist einige von ihnen auf: Auslassungen und Abbrüche, Interjektionen, auch Ein-Wort-Sätze und Anakoluthe finden sich.27 Hinzu kommen „schleifenartig wiederaufgenommene Motive“28 wie etwa die zu entsorgenden blutdurchtränkten Schuhe (vgl. HoD, 46, 47 f., 51; HdF, 81, 82, 83, 84, 90). Auch in der medizinischen Traumaforschung gelten derlei scheinbar unmotivierte, erzählerisch jedenfalls keineswegs zielführende Wiederholungen als Symptom einer Traumatisierung.29 Zwar wechselt Marlow nicht ins Präsens, was sprachlich besonders plastisch das erneute Durchleben des Traumas im Flashback anzeigen könnte, vereinfacht auch nicht das Register seiner Wortwahl und spricht nicht wie paralysiert in gleichförmigen parataktischen Hauptsätzen. Doch zweifelsohne tragen die von Fricke zusammengetragenen Stilfiguren traumatisierten Erzählens, die Conrad einsetzt,

25 Ebd., S. 228. 26 Ebd., S. 229 f. 27 Abbrüche („Voices, voices – even the girl herself – now. … He was silent for a long time.“ – HoD, 48), Interjektionen („Oh yes,“ „– ah –“ – ebd.), Ein-Wort-Sätze und Anakoluthe finden sich in: „‚I laid the ghost of his gifts at last with a lie,‘ he began suddenly. ‚Girl! What? Did I mention a girl?‘“ (HoD, 48) [„‚Ich bannte den Geist seiner Begabungen schließlich mit einer Lüge‘, begann er plötzlich. ‚Mädchen! Was? Hab ich ein Mädchen erwähnt?‘“ (HdF, 85)]. 28 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 224. 29 Vgl. hierzu Kopf, Trauma und Literatur. 2005, S. 36.

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genau dazu bei, „temporale beziehungsweise kausale Zusammenhänge“30 aufzulösen. „Ein Schema“, so Fricke, kann „oft erst aus dem Rückblick der Geschichte künstlich übergestülpt werden – vorausgesetzt, dass man Teile und ihre Abfolge überhaupt rekonstruieren könnte.“31 Dazu müssen die zahlreichen Klammermotive, Sprünge, Auslassungen und Verschränkungen der Realitätsebenen durch interpretatorischen Aufwand vereindeutigt werden, was ich exemplarisch anhand der im Hintergrund von Marlows Erzählung aufscheinenden Intrige des Direktors gezeigt habe. Marlows Erzählen als Traumabericht ernst zu nehmen, kann helfen, seine sprunghafte, unklare und nebulöse Geschichte zu strukturieren und sich der Frage zu nähern, was denn eigentlich jenes unbestimmte „Es“ sei, das durch die Geschichte geistert und immer wieder als so bedrohlich geschildert wird.32 Die Suche nach jener Macht, der Kurtz verfallen ist, gipfelt in dessen irgendwie unbefriedigend erscheinenden letzten Worte: „The horror! The horror!“ (HoD, 69) [„Das Grauen! Das Grauen!“ (HdF, 123)]. Bereits vorher hat Marlow diese famous last words kommentiert: „No eloquence could have been so withering to one’s belief in mankind […]“ (HoD, 66) [„Keine noch so große Beredsamkeit hätte einem den Glauben an die Menschheit wirksamer zersetzen können […]“ (HdF, 118)]. Mehr kann ein Extremtraumatisierter über das so oft beschworene Gefühl, aus der Welt gefallen zu sein,33 vermutlich nicht mitteilen. Insofern bleibt die Erkenntnis des sterbenden Kurtz nicht ganz so leer, wie gemeinhin behauptet wird.34 Der Sprechakt an sich spiegelt über den Inhalt des Erzählten hinaus die Traumatisierung des Erzählers. Indem Marlow an Bord der „Nellie“ erzählt, versucht er, das Trauma durch Vergegenwärtigung und Verbalisierung in seine Lebensgeschichte zu integrieren – ein Anliegen, das ebenso der Selbsttherapie dient wie der Zeugenschaft. Seine Erkenntnis dieser Selbstprüfung kulminiert in „The horror! The

30 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 224. 31 Ebd., S. 227. 32 Vgl. hierzu Miller, J. Hillis: Should We Read ‚Heart of Darkness‘?. In: Conrad, Joseph: Heart of Darkness. Authoritative Text. Backgrounds and Contexts. Criticism. Hrsg. von Paul B. Armstrong. New York/London: Norton 42006, S. 467, 472. 33 Die Leitlinie zur Posttraumatischen Belastungsstörung spricht von der „Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses“ (zitiert nach Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 15). Vgl. zu dieser Metapher für die sozialen Folgen der Traumatisierung auch Reemtsma, Jan Philipp: Im Keller. Hamburg: Hamburger Edition 1997, S. 72 f., der wiederum auf Jean Amérys Analyse der eigenen Folterung durch die SS rekurriert, deren Effekt Améry in „Jenseits von Schuld und Sühne“ (1966) als Verlust des „Weltvertrauens“ beschrieben hat (vgl. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966]. Stuttgart: Klett-Cotta 72012, S. 62). 34 Vgl. etwa J. Hillis Miller: „If ‚it‘ is wholly other it is wholly other, and nothing more can be said of it […].“ (Miller, Should We Read ‚Heart of Darkness‘?. 2006, S. 472).

Joseph Conrads „Heart of Darkness“ als Traumabericht 

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horror!“ (HoD, 69) – eine Erfahrung, die sich letztlich weder anderen vermitteln (Kurtz’ Braut gegenüber konnte er die Worte noch nicht einmal aussprechen und belog sie stattdessen – vgl. HoD, 77; HdF, 137) noch sich in die eigene Biografie integrieren lässt. Marlow, noch immer ein Versehrter seines Kongo-Abenteuers, kommentiert lapidar Kurtz’ letzte Worte: „He had something to say. He said it.“ (HoD, 70) [„Er hatte etwas zu sagen. Er sagte es“ (HdF, 125)]. Diese maximal nüchterne Einschätzung gilt genauso für seinen eigenen, wortreicheren Bericht, den Marlow eingangs wie folgt zusammenzufassen versucht: yet to understand the effect of it on me you ought to know how I got out there, what I saw, how I went up that river to the place where I first met the poor chap. It was the farthest point of navigation and the culminating point of my experience. It seemed somehow to throw a kind of light on everything about me – and into my thoughts. It was sombre enough too – and pitiful – not extraordinary in any way – not very clear either. No. Not very clear. And yet it seemed to throw a kind of light“ (HoD, 7). Aber um zu verstehen, was es für mich bedeutete, solltet ihr doch wissen, wie ich nach dort draußen gelangte, was ich sah, wie ich flußaufwärts kam bis zu dem Ort, wo ich dem armen Kerl zuerst begegnete. Es war der äußerste Punkt auf dem schiffbaren Teil des Flusses und der Höhepunkt meiner Erlebnisse. Irgendwie schien es ein gewisses Licht auf alles um mich herum zu werfen – und in mein Inneres. Eine ziemlich düstere Geschichte – und erbärmlich – nicht irgendwie außergewöhnlich – auch nicht sehr klar. Nein. Nicht sehr klar. Und doch schien es ein gewisses Licht auf alles zu werfen (HdF, 12).

Mit einem Licht-Phänomen hatte ja auch die Erzählung des Rahmenerzählers begonnen, jene auffällige Irritation von Oben und Unten sowie Ost und West, eingebettet in eine Situation eines Dazwischen, zwischen den Gezeiten, zwischen Tag und Nacht. Diese Verunsicherung und Auflösung fester Bezugsgrößen macht letztlich den besonderen Rang aus, den Conrads Roman im Diskurs über den Imperialismus tatsächlich beanspruchen kann: Während klassische Reiseberichte und -erzählungen bis ins 20. Jahrhundert hinein stets versuchen, die Fremdheitserfahrung durch Analogien zur Heimat handhabbar, erzählbar und für ihre Leserschaft konsumierbar zu machen,35 dreht Conrad als erster Schriftsteller

35 Das von Hochschild zitierte Beispiel eines bereits 1816 von einem Kapitän James K. Tuckey angestellten Vergleichs von Kongo und Themse entspricht noch voll diesem Muster (vgl. Hochschild, Adam: Schatten über dem Kongo. Die Geschichte eines der großen, fast vergessenen Menschheitsverbrechen (dt. v. Ulrich Enderwitz / Monika Noll / Rolf Schubert), Stuttgart: Klett-Cotta 72006, S. 30), das ich andernorts am Beispiel des deutschen Samoareisenden Otto E. Ehlers untersucht habe (vgl. Lorenz, Matthias N.: Die Perle der Südsee und der Hass auf das Hybride. Über Otto E. Ehlers’ Reisebericht aus Samoa von 1895. In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 2, 2011, H. 1, S. 77 – 94).

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des Westens die Blickrichtung auf derart radikale Weise um.36 Anstatt sich die Fremde durch Vergleiche gefügig zu machen, macht er sich und seinen Lesern das Eigene, sicher Geglaubte durch den Vergleich mit dem Anderen fremd. Der Traumabericht Marlows ist für eine derart herausfordernde Erfahrung eine geeignete Form der Narrativierung. Joseph Conrads eigenes „Congo Diary“, das seinen Aufenthalt in der zweiten Jahreshälfte 1890 im Kolonialstaat der belgischen Krone dokumentiert und überliefert ist, verrät dadurch, dass die Eintragungen in keiner Weise Anzeichen einer tatsächlichen Traumatisierung des Autors aufweisen, 37 dass Conrad diese Form als ein literarisches Mittel für sich entdeckt hat: „Heart of Darkness“ basiert auf einem literarisch fingierten Traumabericht – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

36 Osterhammel und Jansen betonen die Unmöglichkeit jeglicher Annäherung von Kolonialherren und Kolonisierten im 19. Jahrhundert, die sich hier als Grund dafür anführen lässt, dass jedwede Gemeinsamkeiten zwischen Europäern und den Vertretern der ‚Kolonialvölker‘ ausgeschlossen schienen: „Charakteristisch für den modernen Kolonialismus ist der weltgeschichtlich seltene Unwille der neuen Herren, den unterworfenen Gesellschaften kulturell entgegenzukommen. […] Im 19. Jahrhundert ist die Unmöglichkeit solcher Annäherungen durch die Existenz angeblich unüberwindlicher ‚rassischer‘ Hierarchien begründet worden.“ (Osterhammel, Jürgen / Jansen, Jan C.: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München: C. H. Beck 72012, S. 19.) 37 Vgl. hierzu näher Matthias N. Lorenz: Distant Kinship – Entfernte Verwandtschaft. Joseph Conrads Heart of Darkness in der deutschen Literatur von Kafka bis Kracht (= Schriften zur Weltliteratur, Bd. 5). Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 22018, S. 60 – 67.

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Apologia pro vita sua: Hermann Hesse und die Rechtfertigung des Aussteigerlebens

1. Hermann Hesse als Aussteiger Dass Hermann Hesse ein „Autor der Krisis“1 war, hat Ralph Freedman am prägnantesten betont. In seiner Eigenschaft als „a poet of crisis who achieved his identity as a pilgrim into the inner life“ gelang es ihm nämlich, „his own personal crises in the crises of his time“ zu erleben, „which eventually encompassed the crises of his entire culture.“2 Das spezifische Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, innerhalb dieser Perspektive aufzuzeigen, dass einige Texte Hermann Hesses eine Biodizee bzw. eine störungsbedingte Rechtfertigung des bíos des modernen Menschentypus des Aussteigers enthalten und dass sie mithilfe psychoanalytischer Kategorien analysiert werden können. Die nachstehenden Betrachtungen nehmen also ihren Ausgang von Ludger Lütkehaus’ Hinweis, dass die „Biodizee-Frage nach der Rechtfertigung des menschlichen leidbehafteten gebürtigen Lebens“3 ein nicht zu übersehender Bestandteil der philosophischen Reflexion über die conditio humana ist. Im Folgenden wird der Ausdruck ‚Biodizee‘ angewandt, um die argumentierte Rechtfertigung einer Lebensform zu bezeichnen, die als eine apologiebedürftige psychogene Störungsquelle empfunden wird. Im Zusammenhang damit steht die von Giorgio Agamben hervorgehobene Unterscheidung zwischen der zoē als natürlichem, bloßem Leben und dem bíos als einem Einzelmenschen oder einer Menschengruppe eigener Daseinsform.4 Gerade durch eine spezifische Existenzweise ist der Aussteiger gekennzeichnet, da er sich als der „antimoderne Verweigerer“5

1 Käch, Rudolf: Eichendorffs Taugenichts und Taugenichtsfiguren bei Gottfried Keller und Hermann Hesse. Bern/Stuttgart: Verlag Paul Haupt 1988, S. 112. 2 Freedman, Ralph: Hermann Hesse: Pilgrim of Crisis. A Biography. London: Jonathan Cape 1978, S. 13. 3 Lütkehaus, Ludger: Vom Anfang und vom Ende. Zwei Essays. Frankfurt/M./Leipzig: Insel Verlag 2008, S. 32. 4 Agamben, Giorgio: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino: Einaudi 1995, S. 3. 5 Haß, Ulrike: Militante Pastorale. Zur Literatur der antimodernen Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert. München: Wilhelm Fink Verlag 1993, S. 12. https://doi.org/10.1515/9783110683028-015

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definieren lässt, der ein starkes Unbehagen an der herrschenden Zivilisation, an ihrer Wert- und Vorstellungswelt und an ihren Zwängen fühlt und der sich deshalb zum Bruch mit ihr entschließt.6 Von diesem Standpunkt aus weist der Aussteiger bestimmte Ähnlichkeiten mit dem Outsider-Typus auf, wie ihn Colin Wilson konturiert hat, dem zufolge die Existenzweise des Außenseiters durch die Grundhaltung der „non-acceptance of […] human life lived by human beings in a human society“7 charakterisiert ist, was ihn auch dazu antreibt, freimütig unbequeme Wahrheiten mitzuteilen,8 um den Adressaten seiner Reden die Augen für die Schattenseiten der Moderne zu öffnen. Aus diesem Grund lässt er sich in die Kategorie der „Figuren der Störung“ einordnen, die „gesetzte Normen und Grenzen aufbrechen oder überschreiten.“9 Ein Musterbeispiel für die irritierende Kommunikationsform des Aussteigers bot Henry David Thoreau, dessen lebensreformerischer Erlebnisbericht „Walden, or Life in the Woods“ (1854) von Hesse begeistert rezensiert wurde.10 Insbesondere bestand ein Grundaspekt der Kulturkritik Thoreaus darin, dass er,

6 Zu Hesses Selbstporträt als Aussteiger siehe die folgende Stelle aus der „Nürnberger Reise“ (1927): „Mein Widerwille gegen jenen Glaubenssatz der modernen Welt [d. h. „Zeit ist Geld“ – M.B.] und gegen diese moderne Welt selbst, worunter ich die ganze Maschinenkultur verstehe, ist so groß, daß ich es, wo irgend möglich, verschmähe, mich den Gesetzen dieser Welt anzupassen“ (Hesse, Hermann: Die Nürnberger Reise. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Bd. 11, S. 136 – 137). Dazu äußert sich Peter de Mendelssohn wie folgt: „Der Fehlschlag des Identifikationsbemühens, die Unmöglichkeit, eine Zugehörigkeit zur sogenannten Wirklichkeit zu finden und festzustellen, konnte Hesse in seiner Abwehr der Normalmenschen-Umwelt nur verstärken und ihn tiefer in eine allgemeine Zivilisationsfeindlichkeit drängen“ (de Mendelssohn, Peter: Repräsentanz des Außenseiters. In: Über Hermann Hesse. Zweiter Band (1963 – 1977). Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 143). 7 Wilson, Colin: The Outsider. London: Weidenfeld & Nicolson 2001, S. 18. 8 Ebd., S. 15. 9 Zitiert nach Gansel Carsten: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Hrsg. von Carsten Gansel. Göttingen: V&R 2014, H. 4, S. 321. 10 Bemerkenswerterweise schrieb Hesse 1927 dazu: „Die amerikanische Literatur, so kühn und großartig sie ist, hat kein schöneres und tieferes Buch aufzuweisen, und die Weltliteratur bietet wohl Vollendeteres und Glänzenderes, aber nichts Innigeres und Reineres“ (Hesse, Hermann: Henry David Thoreau „Walden oder das Leben in den Wäldern“. In: Die Welt im Buch. Leseerfahrungen IV. Rezensionen und Aufsätze (1926 – 1934). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003, S. 41). Zur Rezeption Thoreaus und Emersons bei Hesse hat August Stahl angemerkt: „Thoreau und Emerson waren um die Jahrhundertwende ‚in vogue in Germany‘, wie Mason schrieb, und das nicht nur, weil sich 1903 der Geburtstag Emersons zum 100. Mal jährte. Ihre Botschaft passte auch zur Stimmung der Jahrhundertwende, zum Jugendstil und der Sehnsucht nach Erneuerung, nach Einfachheit und Natürlichkeit“ (Stahl, August: Rainer Maria Rilke – Hermann Hesse und die amerikanischen Reformer. In: Hermann Hesse und die Moderne. Diskurse zwischen Ästhetik, Ethik und Politik. Hrsg. von Detlef Haberland und Géza Horváth. Wien: Praesens Verlag 2013, S. 256).

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unter dem Einfluss des Ideals des Homo Americanus als eines neuen, unverdorbenen Wesens,11 seine „twilight civilization“12 scharf kritisierte. Dabei machte er auf ihr gewinnorientiertes und arbeitszentriertes Zeit- und Subjektivitätsregime aufmerksam, das seine Landsleute auf einen „ant-like“13 „market-man“14 reduziert hatte, und versuchte den Wert des persönlichkeitserweiternden Müßiggangs wieder aufzustellen.15 Bezeichnenderweise stellte Hesse selbst in einem Brief aus dem Jahr 1916 fest: „Ich z.B. bin mir seit langem darüber klar, daß meine Stellungnahme (auch innerhalb meiner amtlichen Tätigkeit) mich eines Tages zum Bruch mit Heimat, Stellung, Familie, Namen etc. führen kann, und ich bin entschlossen, es darauf ankommen zu lassen.“16 Wie aus dem Zitat ersichtlich, sprach er also explizit von seiner Bereitschaft zum Aussteigertum. Mehr noch, im Reisetagebuch mit dem Titel „Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur“ (1925) sah er in der Frage nach der Weigerung, sich der bürgerlichen Gesellschaft anzupassen, ein Leitmotiv seines Werks: Ich schreibe […] diese Notizen aus Baden nicht, um andere anzuklagen oder mich rein zu waschen, sondern um Erlebnisse aufzuzeichnen, seien es auch die seltsam verzerrten Erlebnisse des Psychopathen. Jene andere, verwickeltere Frage nach der Berechtigung des Psychopathen, jene furchtbare und erschütternde Frage, ob unter gewissen Zeit- und Kulturumständen es nicht würdiger, edler, richtiger sei, Psychopath zu werden, als sich diesen Zeitumständen unter Opferung aller Ideale anzupassen – diese schlimme Frage, die Frage aller differenzierten Geister seit Nietzsche, lasse ich auf diesen Blättern unberührt; sie bildet ohnehin das Thema fast aller meiner Schriften.17

11 Dazu siehe Lewis, Richard Warrington Baldwin: The American Adam. Innocence, Tragedy and Tradition in the Nineteenth Century. Chicago: The University of Chicago Press 1955, S. 1 – 5. 12 Thoreau, Henry David: Journal 1837 – 1846. In: The Writings of Henry David Thoreau. Boston/ New York: Houghton, Mifflin and Company 1906. Bd. 7, S. 445. 13 Ebd., S. 34. 14 Thoreau, Henry David: Walking. In: Excursions. Boston/New York: Houghton, Mifflin and Company 1893, S. 261. 15 Diesbezüglich lese man die folgende Stelle aus Walden: „Sometimes, […] I sat in my sunny doorway from sunrise till noon, rapt in a revery, amidst the pines and hickories and sumachs, in undisturbed solitude and stillness, while the birds sang around or flitted noiseless through the house, until by the sun falling in at my west window, or the noise of some traveller’s wagon on the distant highway, I was reminded of the lapse of time. I grew in those seasons like corn in the night“ (Thoreau, Henry David: Walden. Princeton/Oxford: Princeton University Press 1971, S. 111). 16 Hesse, Hermann: Zwei Kinderbriefe. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frank­ furt/M.: Suhrkamp 2004. Bd. 15, S. 158. 17 Hesse, Hermann: Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Bd. 11, S. 79.

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Hesses Verweis auf Nietzsche ist von fundamentaler Bedeutung, zumal er sich auch den Autor des „Zarathustra“ – „den Unzeitgemäßen und Vereinsamten, dessen Stimme stärker als jede andere zur deutschen Jugend sprach“18 – zum Vorbild für sein modernitätskritisches Aussteigen aus den Zivilisationszwängen nahm. Exemplarisch thematisierte Nietzsche selbst seine Distanznahme gegenüber der Zeit der fortschreitenden Plebeisierung der Kulturwelt wie folgt: Eine gemeinere Gattung von Menschen bekommt das Regiment (statt der noblesse oder der Priester): erst die Kaufleute, nachher die Arbeiter. Die Masse tritt auf als Herrscher: das Individuum muß sich zur Masse lügen.— Nun werden immer noch solche geboren, die in früheren Zeiten zu der herrschenden Klasse der Priester, Adels, Denker gehört hätten. Jetzt überschauen sie die Vernichtung der Religion und Metaphysik, Noblesse und IndividualBedeutung. Es sind Nachgeborene. […] Sie sind die Beobachter der Zeit und leben hinter den Ereignissen. Sie üben sich, sich frei von der Zeit zu machen und sie nur zu verstehen, wie ein Adler, der darüber fliegt.19

Dieses Fragment veranschaulicht das Selbstverständnis Nietzsches als eines unzeitgemäßen Außenseiters, der im Massenzeitalter eine scharfsinnige Zeitdiagnose gerade dadurch zu stellen und mitzuteilen vermag, dass er an sich selbst im Zeichen der cura sui20 arbeitet, um sich von der inneren Tyrannei der idola saeculi zu befreien. Daran wird somit deutlich, dass sich der deutsche Philosoph einigermaßen in die Tradition des kynischen bíos stellt21, der „völlig und in allen Punkten mit den traditionellen Formen der Existenz“22 brach, nicht zuletzt weil er auf dem Prinzip der unbeschränkten parrhesia bzw. des gottgewollten freimütigen Wahrsprechens aufgebaut war.23 In diesem Zusammenhang sei auch bemerkt, dass

18 Hesse, Hermann: Zu „Zarathustras Wiederkehr“. In: Die Welt im Buch. Leseerfahrungen III. Rezensionen und Aufsätze (1917 – 1925). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 93. 19 Nietzsche, Friedrich: Nachlaß 1880 – 1882. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv / de Gruyter 1988. Bd. 9, S. 200 – 201. 20 Zur antiken cura sui (gr. epimeleia heautou) hat Foucault angemerkt: „Die epimeleia bezeichnet stets auch eine Reihe von Handlungen, und zwar solche, die auf einen selbst gerichtet sind, Handlungen, durch die man für sich selbst Sorge trägt, durch die man sich verändert, reinigt, verwandelt und läutert“ (Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesung am Collège de France (1981/82). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004, S. 27). 21 Zu Nietzsches Verhältnis zum Kynismus siehe Niehues-Pröbsting, Heinrich: Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 306 – 340. 22 Foucault, Michel: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France (1983/84). Frankfurt/M.: Suhrkamp 2010, S. 319. 23 Zur Parrhesia vgl. diese Anekdote aus dem Leben des Diogenes: „Gefragt, was unter Menschen das Schönste sei, antwortete er: ‚Das freie Wort‘“ (Laertius, Diogenes: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Erstes Buch. Leipzig: Meiner 1921, S. 289). Zum Kyniker als Wahrheitsboten bemerkte Epiktet: „er muß vielmehr wissen, daß er einerseits als Bote von Zeus zu den Menschen

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das philosophische Heldentum, d. h. die Lebensgestaltung gemäß bestimmten Prinzipien, Foucault zufolge in der Moderne verschwunden ist, weil die Praxis der Philosophie „zu einem Lehrberuf geworden ist.“24 Zur gleichen Zeit behauptet der französische Denker allerdings, dass die moderne Kunst die Funktion „des Trägers der kynischen Lebensweise“ übernommen hat, da sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert die Vorstellung durchgesetzt hat, „daß nur der Künstler als solcher ein einzigartiges Leben haben sollte, das nicht völlig auf die gewöhnlichen Dimensionen und Normen reduziert werden konnte.“25 Bei genauerem Hinsehen lässt sich aber am Beispiel Nietzsches und Hesses hinzufügen, dass manche Spuren der kynischen Lebensform – in Bezug auf die Anwendung der verstörenden Redeform der parrhesia vonseiten eines zivilisationsabgewandten Aussteigers – sowohl in der Philosophie als auch in der Literatur der Moderne in dem Maße zu finden sind, in dem sie eine kulturkritische Funktion erfüllen. In diesem Sinn bieten einige Texte Hesses ein gutes Beispiel dafür, wie er angesichts der „heillosen Zeit“, in der sich das „todkranke Europa“26 befand, die Rolle einer ‚Störfigur‘ bzw. eines zivilisationskritischen Parrhesiastikers spielte. Man lese z. B. die folgende Passage aus der Spätschrift „Danksagung und moralisierende Betrachtung“ (1946): Zwei Geisteskrankheiten […] sind es nach meiner Meinung, denen wir den heutigen Zustand der Menschheit verdanken: der Größenwahn der Technik und der Größenwahn des Nationalismus. Sie geben der heutigen Welt ihr Gesicht und ihr Selbstbewußtsein, sie haben uns zwei Weltkriege samt ihren Folgen beschert und werden, bis sie sich ausgetobt haben, noch manche ähnliche Folgen zeitigen. Der Widerstand gegen diese beiden Weltkrankheiten ist

gesandt ist, um ihnen zu zeigen, daß sie über das Gute und das Böse nicht Bescheid wissen und das Wesen des Guten und des Bösen dort suchen, wo es nicht ist, und nicht ahnen, wo es ist, und daß er andererseits wie Diogenes, als er nach der Schlacht bei Chaironeia zu Philipp geführt wurde, ein Kundschafter ist. Denn tatsächlich ist der Kyniker ein Kundschafter für das, was den Menschen freundlich und was ihnen feindlich ist. Und es ist notwendig, daß er alles genau auskundschaftet und dann zurückkehrt, um die Wahrheit zu verkünden, ohne von Angst befallen zu sein und dann diejenigen als Feinde zu bezeichnen, die es in Wirklichkeit gar nicht sind, oder auf andere Weise von seinen Einbildungen und Vorstellungen betört oder verwirrt zu sein“ (Epiktet/ Teles/Musonius: Ausgewählte Schriften. Zürich: Artemis Verlag-AG 1994, S. 207). 24 Foucault, Der Mut zur Wahrheit. 2010, S. 280. Schon Thoreau bemerkte sehr pointiert dazu: „There are nowadays professors of philosophy, but not philosophers. Yet it is admirable to profess because it was once admirable to live. To be a philosopher is not merely to have subtle thoughts, nor even to found a school, but so to love wisdom as to live according to its dictates, a life of simplicity, independence, magnanimity, and trust. It is to solve some of the problems of life, not only theoretically, but practically“ (Thoreau, Walden. 1971, S. 14 – 15). 25 Ebd., S. 246. 26 Hesse, Hermann: Danksagung und moralisierende Betrachtung. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 457 – 458.

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heute die wichtigste Aufgabe und Rechtfertigung des Geistes auf Erden. Diesem Widerstand hat auch mein Leben gedient, eine kleine Welle im Strom.27

In diesem Kontext gewinnen die folgenden Aussagen den Charakter eines poetologischen Manifests: „Ich glaube nicht an den Wert der Literatur unsrer Zeit. […] Dagegen sehe ich den Wert einer Übergangsliteratur, einer problematisch und unsicher gewordenen Dichtung darin, daß sie bekenntnishaft ihre eigene Not und die Not ihrer Zeit mit möglichster Aufrichtigkeit ausspricht“28, denn „welchen Sinn hätte das Schreiben, wenn nicht der Wille zur Wahrheit dahinter stünde?“29 Beispielhaft für diesen auktorialen Wahrheitswillen ist der folgende Passus, in dem Hesse „his own personal crises“, verbunden mit seinem „Eremiten- und Sonderlingtum,“30 und „the crises of his time“ miteinander in Verbindung bringt: Da vollzog sich die Vereinigung der beiden Ich, des essenden und des zuschauenden, und plötzlich mußte ich das Glas schnell wegstellen, denn mich erschütterte von innen her eine plötzlich aufgesprungene, ungeheure Lachlust, eine ganz kindische Fröhlichkeit, eine plötzliche Einsicht in die unendliche Lächerlichkeit dieser ganzen Situation. Für einen Augenblick schien mir im Bilde des Saales voll kranker, unlustiger, verwöhnter und träger Leute (wobei ich annahm, es sehe in den Seelen der andern ähnlich aus wie in meiner) unser ganzes zivilisiertes Leben gespiegelt, ein Leben ohne starken Antrieb, zwangsläufig in festgelegten Gleisen rollend, unlustig, ohne Verbindung mit Gott und mit den Wolken am Himmel. Ich dachte einen Augenblick lang an die tausend Speisesäle, in welchen es ebenso aussah, dachte an die hunderttausend Kaffehäuser mit befleckten Marmortischen […], an die Hotels und Büros, an all die Architektur, die Musik, die Gewohnheit, innerhalb deren unsre Menschheit lebt, und alles schien mir an Bedeutung und Wert ähnlich wie das gelangweilte Spiel meiner müßigen Hand mit der Fischgabel.31

Die asketisch32 erworbene Vogelperspektive Nietzsches auf seine Zeit weicht einer jähen Epiphanie, dank deren das Gesamtbild der abendländischen sinn- und lebensentleerten Zivilisation dem Aussteiger enthüllt wird, der sich selbst deshalb als eine Art von Seher legitimieren kann.

27 Ebd., S. 457. 28 Hesse, Die Nürnberger Reise. 2003, S. 161. 29 Hesse, Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. 2003, S. 54. 30 Ebd., S. 75. 31 Ebd., S. 108 – 109. 32 Foucault fasst „Askese in einem sehr allgemeinen Sinne […], also nicht im Sinne einer Moral des Verzichts, sondern in dem einer Einwirkung des Subjekts auf sich selbst, durch die man versucht, sich selbst zu bearbeiten, sich selbst zu transformieren und zu einer bestimmten Seinsweise Zugang zu gewinnen“ (Foucault, Michel: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. In: Dits et Ecrits. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005. Bd. 4, S. 876).

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2. Psychoanalyse und Biodizee An diesem Punkt geht es darum, näher zu erforschen, wie das Thema des Aussteigertums bei Hesse mit demjenigen der störungsbedingten Biodizee zusammenhängt. In seinem 1918 veröffentlichten Aufsatz über „Künstler und Psychoanalyse“ heißt es, dass es den Künstlern nicht um „die möglichst bequeme Anpassung an die Welt und ihre Sitten“33 geht, weil sie lediglich an der Entwicklung ihrer einmaligen Einzigartigkeit interessiert sind. Zugleich verdient dieser Essay besondere Aufmerksamkeit, weil Hesse auch die nachstehenden aufschlussreichen Bemerkungen zur Psychologie der Künstler formuliert: „Betrachtet der Künstler sich selbst analytisch, so bleibt ihm nicht verborgen, daß zu den Schwächen, an denen er leidet, ein Mißtrauen gegen seinen Beruf gehört, ein Zweifel an der Phantasie, eine fremde Stimme in sich, die der bürgerlichen Auffassung und Erziehung recht geben und sein ganzes Tun „nur“ als hübsche Fiktion gelten lassen will.“34 Hesse gesteht also ein, dass jeder Künstler die Krise erlebt, die darauf zurückzuführen ist, dass er die bürgerliche Abwertung seines Berufs als müßiger Spielerei verinnerlicht hat, sodass das Über-Ich seine Stimme erhebt, um ihn zu verurteilen.35 Daher rühren das Leiden an seinem eigenartigen Sein sowie das Bedürfnis, sich der Psychoanalyse zu bedienen, um seinem eigenen bios eine hohe Funktion zuzuschreiben. Dazu schreibt Hesse lapidar: „Die Analyse

33 Hesse, Hermann: Künstler und Psychoanalyse. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 141. 34 Ebd., S. 139. 35 Zu den psychologischen Folgen der Erziehung Hesses hat Limberg bemerkt: „Dabei war, bedingt durch die Erziehung in seinem Elternhaus, seine Beziehung zur Kunst nicht ohne Probleme: In einem Brief an seine Schwester erinnerte er sie 1926 daran, daß es zwar oft vorkam, ‚daß Papa oder Mama über ein Gedicht oder eine Musik sehr anerkennend sprachen, mit einem verräterischen Lächeln, dann aber stets hinzufügten, daß das alles natürlich nur Stimmung, nur Kunst sei, und im Grunde halt doch lang nicht so hoch stehe, wie Moral, Charakter, Wille, Ethik usw. Diese Lehre hat mein Leben verdorben, und ich kehre nicht zu ihr zurück‘“ (Limberg, Michael: Vorwort. In: Hermann Hesse und die Psychoanalyse. Kunst als Therapie. Hrsg. von Michael Limberg. Bad Liebenzell/Calw: Verlag Bernhard Gengenbach 1997, S. 8). Zu Hesses „Suchen nach dem wahren Selbst“, bedroht „vom Verlust der Liebesobjekte“ (Miller, Alice: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 154), sowie zu dem von ihm erlittenen Prozess der Über-Ich-Bildung vgl. die von Alice Miller zitierte Stelle aus der Erzählung „Kinderseele“ (1919): „,Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so wüßte ich kein anders Wort als: Angst. Angst war es, Angst und Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden des gestörten Kinderglücks empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherisch empfand‘“ (ebd., S. 155). Den Hinweis auf Alice Millers Ausführungen über Hesse verdanke ich Carlo Saviani.

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bestätigt den Künstler vor sich selbst.“36 Im Aufsatz tritt deshalb das Thema der vom Künstler innerlich verspürten Notwendigkeit auf, seine Eigennatur vor sich selbst zu legitimieren und dadurch die intrapsychische Störung zu bewältigen, die ihre Wurzeln im inneren Konflikt zwischen dem Willen zum Selbstsein und einer ÜberIch-Instanz hat. Diesbezüglich herrscht Konsens darüber, dass Hesse ein beredter und unermüdlicher Prediger der Ethik der Authentizität war, was aus der folgenden Passage aus dem Essay über den „Eigensinn“ (1919) klar hervorgeht: „Wer eigensinnig ist, gehorcht einem […] einzigen, unbedingt heiligen […] Gesetz, dem „Sinn“ des „Eigenen“.“37 Mehr noch: Hesse sah in den Dichtern selbst die lebendigen exempla dieses ethischen Strebens: „In seinen Dichtern und Denkern, soweit sie […] den vollen Mut zu sich selber haben, besitzt jedes Volk seine edelsten, doch auch gefährlichsten Vorbilder.“38 In diesem Kontext sei auch daran erinnert, dass der deutsche Autor die von Emerson und Nietzsche übernommene Ethik der Sorge um den individuellen Seinsmodus in seinen Werken durch die Jung’sche Theorie und Praxis der Individuation39 als Weg zu sich selbst ergänzte, der die Integration des Unbewussten, und zwar einer Wesenskomponente seiner selbst, erforderte. In Anbetracht des lebenslangen Bemühens Hesses, seinen Lesern zur Individuation zu verhelfen, sind manche autobiografischen Texte daher besonders interessant, gerade weil sie Licht auf die Kehrseite der Medaille werfen: Wer eigensinnig ist, leidet auch gewissermaßen an seinem Sinn bzw. an seinem Anderssein. Infolgedessen gehört Hesses Auseinandersetzung mit der Frage nach der Authentizität und dem für ein Individuum spezifischen Sosein sowohl zur Geschichte der Subjektivität und der Selbsttechniken, um mit Foucault zu sprechen, als auch zur Geschichte der Störungen des Selbst. In seiner Studie zur „Politics of Authenticity“ (1972) hat Marshall Berman darauf hingewiesen, dass sich die Suche nach dem eigenen Selbst in der modernen Welt als eine Herausforderung darstellt, denn „this world […] represses, alienates, divides, denies, destroys the self,“40

36 Hesse, Hermann: Künstler und Psychoanalyse. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 140. 37 Hesse, Hermann: Eigensinn. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 194. 38 Hesse, Hermann: Kunst – Die Sprache der Seele. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008, S. 65. 39 Jung liefert die folgende Definition des Individuationsprozesses: „Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden“ (Jung, Carl Gustav: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Marianne Niehus-Jung, Lena Hurwitz-Eisner, Frank Riklin und Leonie Zander. Ostfildern: Patmos Verlag 1995. Bd. 7, S. 183). 40 Berman, Marshall: The Politics of Authenticity. Radical Individualism and the Emergence of modern Society. New York: Atheneum 1972, S. XVI.

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und Denker wie etwa Emerson und Nietzsche haben sprachgewaltig für die Selbstwerdung in Opposition zu jeder Selbstentfremdungs-Instanz plädiert. Im Vergleich zu solchen Philosophen besteht die Spezifik Hesses als Schriftsteller darin, dass seine ambivalenzenreichen Texte klarmachen, dass das Selbstsein keine leidensfremde Errungenschaft ist. Ganz im Gegenteil ist es eine schmerzvolle Bürde, die aufs Engste mit dem Erlebnis einer tiefgreifenden Krise und mit dem daraus resultierenden Bedürfnis nach einer Biodizee verknüpft ist. Hesses Versuch einer apologia pro vita sua sowie sein Hin- und Hergerissensein zwischen gegensätzlichen psychischen Polen kommen in spannungsreichen Texten zum Vorschein. Man lese z. B. „Die Nürnberger Reise“, in der er sein müßiggängerisches Aussteigerleben verherrlicht, das ihn von den meisten Menschen unterscheidet, „welche eine geregelte, organisierte Arbeit leisten, welche gewohnt sind, täglich um acht und um zwei Uhr ihre Arbeit zu beginnen“41 und welche, mit anderen Worten, durch das kapitalistische arbeitszentrierte Zeitregime innerlich versklavt sind. Zu diesem Lobpreis des otium litteratum, das das Dasein des Schriftstellers als „eines stillen, wenig reisenden Dorfbewohners und Studierzimmermenschen“ kennzeichnet, gehört auch die These, dass dieser, im Gegensatz zu den „Virtuosen“, die „sich für halbe und ganze Jahre voraus auf bestimmte Tage und Stunden verpflichten müssen“, Gelegenheit hat, sich ständig „der Stimmung und Laune des Augenblicks“42 zuzuwenden. Anders ausgedrückt: Hesse zeichnet ein aristokratisches Bild seiner Schriftstellerei, indem er an die jahrhundertelange Tradition des einsamen musischen Lebens43 anknüpft, wie es zum Beispiel Seneca pries. Der stoische Philosoph legte großen Wert auf das volle Erlebnis der Eigenzeit: „Nichts“, schrieb er im ersten Brief an Lucilius, „ist unser wahres Eigentum außer der Zeit.“44 Dieses Eigentum war aber sorgsam zu behüten, wie es in „Von der Kürze des Lebens“ heißt, da sich der Einzelne nur dadurch als ein Weiser konstituieren konnte, dass er, im Unterschied zu „den mit Geschäften Belasteten“45 – ein Leben „fern von aller unfreien Geschäftigkeit führend“ – seine ganze Eigenzeit gewissermaßen hortete und bewirtschaftete. Insbesondere erheischte die Chrono-Ökonomie desjenigen, der die Weisheit erlangen wollte, die Konfrontation mit seiner Vergangenheit:

41 Hesse, Die Nürnberger Reise. 2003, S. 134. 42 EBd.  43 Nicht zufällig beschreibt Hesse sich selbst als einen „Einsiedler“ (ebd., S. 149). 44 Seneca: Briefe an Lucilius. In: Philosophische Schriften. Hrsg. von Otto Apelt. Wiesbaden: Marix Verlag 2004, S. 2. 45 Seneca: Von der Kürze des Lebens. In: Philosophische Schriften. Hrsg. von Otto Apelt. Wiesbaden: Marix Verlag 2004, S. 128.

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Niemand läßt sich gern wieder auf die Vergangenheit ein, außer dem, der alle seine Handlungen der strengsten und nie sich täuschenden Selbstprüfung unterwarf. […] Der Gegenwart gehört nur immer ein Tag um den anderen und auch dieser nur von Augenblick zu Augenblick; aber die Tage der Vergangenheit werden auf euer Geheiß sich euch sämtlich zur Verfügung stellen und sich nach eurem Belieben betrachten und festhalten lassen, wozu die Geschäftsmänner keine Zeit haben.46

Der weise otiosus stellt sich deswegen als derjenige dar, der sich, im Gegensatz zu den gegenwartsorientierten und mithin zeitlich eindimensionalen occupati, seiner Vergangenheit bemächtigt, um sie einer Gewissensprüfung zu unterziehen. In seiner Abhandlung über die Seelenruhe kritisierte auch Plutarch die zeitlich verarmten Menschen, die sich selbst infolge ihrer Vergangenheitsvergessenheit dieses Besitzes beraubten, statt ihr Dasein um die Erinnerung vergangener Ereignisse zu bereichern.47 Es liegt also auf der Hand, dass sich Hesse in der Rechtfertigung seines antibürgerlichen Lebens auf den Topos des musischen otiosus beruft, jedoch mit der Weisheitstradition der bewusstseinszentrierten Vergangenheitshinwendung bricht, da er den Künstler als den müßiggängerischen Gegenwartsmenschen schlechthin schildert. Der Grund dafür liegt darin, dass Hesse die volle Individuation des Subjekts befürwortet. Schon in einer 1904 verfassten Frühschrift mit dem Titel „Die Kunst des Müßiggangs. Ein Kapitel künstlerischer Hygiene“ forderte er seine Leser zur Wiedergewinnung der Muße auf. Hesse zufolge waren Wissenschaft und Schule bemüht, „uns der Freiheit und Persönlichkeit zu berauben und uns von Kindesbeinen an den Zustand eines gezwungenen, atemlosen Angestrengtseins als Ideal einzutrichtern.“48 An dieser Krisensituation litten insbesondere die Künstler, die den Wert der Persönlichkeit „inmitten des großen Kulturbankrotts“ zu bewahren versuchten: „Für uns ist Persönlichkeit kein Luxus, sondern Existenzbedingung, Lebensluft, unentbehrliches Kapital.“49 In der „Nürnberger Reise“ verdankt sich Hesses Plädoyer für die Gegenwartsorientierung gerade seiner Sorge um die volle Entwicklung der Persönlichkeit des Künstlers als eines schöpferischen Menschen. Die Selbsttechnik des otium ermöglicht es dem Schriftsteller nämlich, sich auf die zeitliche Dimension des Augenblicks bzw. des kairos zu konzentrieren, der für die Entstehung eines Kunstwerks ausschlaggebend ist. Charakteristischerweise bemerkt Hesse dazu: „Der Kairos ist die gute Stunde

46 Ebd., S. 129. 47 Vgl. dazu Grilli, Alberto: Stoicismo, epicureismo, letteratura. Brescia: Paideia 1992, S. 184 – 185. 48 Hesse, Hermann: Die Kunst des Müßiggangs. Ein Kapitel künstlerischer Hygiene. In: Die Kunst des Müßiggangs. Kurze Prosa aus dem Nachlaß. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 7. 49 Ebd., S. 9.

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oder die rechte Zeit, oder der glückliche Augenblick. Damit ein Werk oder Werkchen entstehe, bedarf es des Kairos, nicht der Absicht, noch weniger eines fremden Auftrags.“50 Damit meint er, dass ein Autor nicht imstande ist, nur vernünftig und planmäßig an einem Text zu arbeiten, da er letzten Endes auf die autonomen Regungen des Unbewussten angewiesen ist. Aus dem Aufgeschlossensein für „die Stimmung und Laune“ des sich im Augenblick aktivierenden Urgrunds des schöpferischen Unbewussten bezieht der Schriftsteller daher die Möglichkeit, sich seiner Imagination zuzuwenden und dadurch eine Bewusstseinserweiterung zu Tiefenschichten hin zu vollziehen.51 Dennoch erschöpfen sich Hesses Bemerkungen zur Rolle des AussteigerSchriftstellers in einer Krisenepoche nicht in einem Loblied auf sein hohes Amt. Besondere Beachtung verdienen die Passagen aus der „Nürnberger Reise“, in denen Hesse von seinem „regellosen und vertanen Leben“52 spricht und in denen es heißt: „Diese Menschen [die zeitdisziplinierten Bürger – M.B.] haben […] keine Ahnung davon, in wie müßiggängerischer, ungeregelter, launischer, zeitvergeudender Weise ein Dichter sein fragwürdiges Leben hinbringt!“53 Solche Stellen lassen sich anhand der Ausführungen von Francesco Orlando über die Rolle des Abwehrmechanismus der Verneinung bei der Rückkehr unterdrückter Seeleninhalte analysieren.54 In seinem Buch mit dem Titel „Zu einer Freud’schen Theorie der Literatur“ (1973) bezieht sich Orlando auf die These, die Freud in seinem 1925 publizierten Aufsatz über die Verneinung vertrat: „Ein verdrängter Vorstellungs- oder Gedan-

50 Hesse, Kunst – Die Sprache der Seele. 2008, S.  18. Zur kairoshaften Genese seiner Werke notierte Hesse: „Eine neue Dichtung beginnt für mich in dem Augenblick zu entstehen, wo eine Figur mir sichtbar wird, welche für eine Weile Symbol und Träger meines Erlebens, meiner Gedanken, meiner Probleme werden kann. Die Erscheinung dieser mythischen Person […] ist der schöpferische Augenblick, aus dem alles entsteht“ (Hesse, Hermann: Eine Arbeitsnacht. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 303). 51 Zur Wichtigkeit der stetigen Beziehung zum Unbewussten siehe die folgenden Anmerkungen: „Wir sind nicht Denkmaschinen, sondern Organismen, und in unsrem Organismus nimmt das Unbewußte eine ähnliche Stelle ein wie der Magen im berühmten Gleichnis des römischen Redners. […] Das, was ich in den letzten Jahren erlebt habe, erscheint mir im Bild dieses Gleichnisses so, als sei ich ein See gewesen, dessen Tiefenschicht abgeschlossen lag, woraus Qual und Todesnähe entstand. Nun aber fließt wieder Oben und Unten reger ineinander, vielleicht noch mangelhaft, vielleicht noch lange nicht rege genug – aber immerhin, es fließt“ (Hesse, Hermann: Einkehr. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Bd. 11, S. 627). 52 Hesse, Die Nürnberger Reise. 2003, S. 136. 53 Ebd., S. 135. 54 Dazu siehe Orlando, Francesco: Per una teoria freudiana della letteratura. Torino: Einaudi 1973.

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keninhalt kann […] zum Bewußtsein durchdringen, unter der Bedingung, dass er sich verneinen läßt.“55 Der italienische Literaturwissenschaftler wendet diese Auffassung des Verneinungsvorgangs auf die Studie der Texte an, welche die von einer Gesellschaft tabuisierten und unterdrückten Ideen zum Gegenstand haben. Er hält fest, dass die Verneinung die Strategie ist, die das Auftauchen solcher verstörenden Seeleninhalte im Bereich der Literatur unter der Voraussetzung erlaubt, dass sie explizit verurteilt werden.56 Anthropologisch ausgedrückt: Literatur stellt sich als einer jener „liminalen Bereiche“57 dar, in denen Störungsphänomene toleriert und kontrolliert werden. Orlando zufolge ist die Literatur nämlich „the imaginary site of a return of the repressed“, denn „literature is either openly or secretly concessive, indulgent, partial, favorable, or complicit toward everything that encounters distancing, diffidence, repugnance, refusal, or condemnation outside of the field of fiction.“58 Innerhalb dieser Perspektive gewinnt Hesses Insistenz auf der Fragwürdigkeit seines müßig verschwendeten Lebens eine klare Bedeutung: Ins Spiel kommt die Verneinung-Instanz, die bürgerliche „Sicherheitsbehörde,“59

55 Freud, Sigmund: Die Verneinung. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud. London: Imago Publishing Co. 1948. Bd. 14, S. 12. 56 Unter Unterdrückung versteht Orlando die Folge der sozialen Zensur, der bewusste Inhalte, die mit den ethischen und ideologisch-politischen Prinzipien der bestehenden Gesellschaftsordnung unvereinbar sind, unterzogen werden. Infolgedessen lassen sie sich nur unter der Tarnung ihrer expliziten Verurteilung in die Domäne der Literatur ‚einschmuggeln‘. Hinsichtlich der Freud’schen Auffassung der ästhetischen Form hat Gärtner bemerkt: „Für Freud steht (ästhetische) Form dem Inhalt als etwas Äußerliches gegenüber: Form stellt eine Art Verkleidung dar, die unbewußte oder anstößige Gedanken für die innere wie äußere (soziale) Zensur akzeptabel werden lässt“ (Gärtner, Michael: Zur Psychoanalye der literarischen Kommunikation: Dichtung und Wahrheit von Goethe. Würzburg: Königshausen & Neumann 1998, S. 63). In diesem Sinne orientiert sich der psychoanalytische Interpretationsansatz an der Freud’schen Analyse des Witzes: „Die Angriffsobjekte des Witzes“, so Freuds These, „können […] sowohl Institutionen sein, Personen, insofern sie Träger derselben sind, Satzungen der Moral oder der Religion, Lebensanschauungen, die ein solches Ansehen genießen, daß der Einspruch gegen sie nicht anders als in der Maske eines Witzes, und zwar eines durch seine Fassade gedeckten Witzes auftreten kann“ (Freud, Sigmund: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von Anna Freud. London: Imago Publishing Co. 1940. Bd.  6, S.  119), denn gerade diese Maske ermöglicht es, „Einschränkungen“ zu umgehen und „unzugänglich gewordene Lustquellen“ (ebd., S. 113) zu eröffnen. 57 Gansel, Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. 2014, S. 318. 58 Orlando, Francesco: Obsolete Objects in the Literary Imagination: Ruins, Relics, Rarities, Rubbish, Uninhabited Places, and Hidden Treasures. New Haven/London: Yale University Press 2006, S. 5. 59 „Zum Verhältnis des Bürgers zur Psyche bemerkt Hesse: „Der Bürger hat zwischen sich und seiner Seele einen Wächter, ein Bewußtsein, eine Moral, eine Sicherheitsbehörde gesetzt, und er anerkennt nichts, was direkt aus jenem Seelenabgrund kommt, ohne erst von jener Behör-

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der Hesse sich beugen muss, um sein antibürgerliches Dasein verherrlichen zu können, mit dem Ergebnis, dass sich diese Passagen als eine literarische Kompromissbildung bzw. als ein textualisiertes Seelenprodukt strukturieren, in dem sich zwei entgegengesetzte Kräfte zu versöhnen suchen. Ironischerweise gelangt der deutsche Autor folglich dazu, unter dem Zwang psychischer Faktoren die „Zweistimmigkeit der Lebensmelodie“60, die er als sein nie verwirklichbares stilistisches Ideal ansah, erklingen zu lassen. Was aber noch wichtiger ist: Dieses Kompromissgebilde hat seinen Ursprung letzten Grundes im Inneren Hesses, der sich das bürgerliche Veto gegen jede Abweichung von der sozialkonformen Lebensform des „brauchbaren Menschen“61 so innig zu eigen gemacht hat, dass er nicht umhin kann, die ihm so teure regellose Existenzweise des Aussteigers unter dem Diktat des Über-Ichs zu geißeln. Weit davon entfernt, ein blutleeres exemplum der Eigensinn-Tugend zu verkörpern, erscheint Hesse demnach als eine innerlich entzweite und janusköpfige Figur. Ein weiterer Text, der Licht auf sein zwiespältiges Seelenleben wirft, trägt den Titel „Phantasien“ (1918). In dieser bekenntnishaften Selbstanalyse – die im Zeichen eines strengen Wahrheitswillens sich selbst gegenüber steht62 – ist der folgende Passus beachtenswert: „Bisher war meine Rolle die des Dichters und „Geistigen“ gewesen, der nicht ohne Schadenfreude und nicht ohne geheime Angst seine Art, sein Wesen, sein Talent, sein geistiges Bedürfnis verteidigte, auf Kosten des Normalen.“63 Der Hinweis auf die tiefsitzende Angst, die die Aus-

de abgestempelt zu sein“ (Hesse, Hermann: Sprache. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 62). Merkwürdigerweise treffen diese psychologischen Betrachtungen gerade auf Hesse zu. 60 Hesse, Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. 2003, S. 127. 61 Hesse, Hermann: Kurzgefasster Lebenslauf. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 4, S. 473. 62 Ziolkowski hat bemerkt, dass „die Hinwendung zur offenen Selbstdarstellung bei Hesse eine direkte Folge der Psychoanalyse war“ (Ziolkowski, Theodore: Der Schriftsteller Hermann Hesse. Wertung und Neubewertung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979, S. 110), und Hesse selbst zählte zu den Forderungen der Psychoanalyse „eine Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, an die wir nicht gewohnt sind“ (Hesse, Künstler und Psychoanalyse. 1957, S. 140). Dieses Ideal einer schonungslosen Selbstentblößung taucht auch im Geleitwort zu „Krisis. Ein Stück Tagebuch“ (1928) auf: „Mit zunehmenden Jahren nun, da das Schreiben hübscher Dinge an sich mir keine Freude mehr macht und nur eine gewisse spät erwachte, leidenschaftliche Liebe zur Selbsterkenntnis und Aufrichtigkeit mich noch zum Schreiben treibt, mußte auch diese bisher unterschlagene Lebenshälfte ins Licht des Bewußtseins und der Darstellung gerückt werden. […] Man kann nicht das Ideal der Aufrichtigkeit haben und immer nur die hübsche und bedeutende Seite seines Wesens zeigen“ (Hesse, Hermann: Krisis. Ein Stück Tagebuch. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1977, S. 6). 63 Hesse, Hermann: Phantasien. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 151.

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übung seiner Rolle begleitet, ist ein klares Indiz für sein Gestörtsein durch das Aussteigertum und das Leben des entgleisten Einzelgängers, dessen Psychologie im „Steppenwolf“ (1927) am ausführlichsten anatomisiert wird. Noch wichtiger aber ist, dass er sich vornimmt, die Gedankenkette zu rekonstruieren, deren Ausgangspunkt die Debatte der Nachkriegszeit um die Politisierung des Geistes ist. Hesse ist der festen Überzeugung, dass der Aufruf zum Engagement zur Reduktion der Dichter auf „Journalisten und Geschäftemacher oder Klugredner“ 64 führt, und entwirft deshalb ein diametral entgegengesetztes Ideal mit Blick auf die Zweiteilung der Menschheit in normale Bürger und in grenzüberschreitende Künstler: Also war „normal“ eigentlich […] nur der Name für eine Funktion, nämlich für die konservative, arterhaltende. […] Zwischen beiden Polen spielte das Leben der Menschheit: Festhalten, was man erreicht hat, und Erreichtes wegwerfen, um Weiteres anzustreben! Das war es. Und des Dichters Funktion war die, auf der idealen Seite mitzutun, Ahnungen zu haben, Ideale zu schaffen, Träume zu haben.65

Hesses Selbstauslotung fährt folgendermaßen fort: Bis zu diesem Punkt war die „Gedankenreihe“ mühelos und glatt abgerollt, aus dem spielenden Unbewußten heraufgeperlt wie die Luftbläschen in einem Quellwasser. Jetzt gab es einen kleinen Bruch, irgendein Glied entglitt mir, ich war plötzlich gestört, sah die Reihe von eben gehabten Vorstellungen wesenlos hinter mir zerflattern und war in keiner Verbindung mehr mit ihr. Statt dessen stand jetzt ein unbehagliches Gefühl, ein unbehaglicher Gedanke da, der hieß etwa so: „Warum hast du das alles gedacht? Das sind ja nicht Gedanken, das sind ja lauter Masken und Verkleidungen, hinter denen ein Trieb sich verbirgt!“66

Es handelt sich um das Bedürfnis, „mich vor mir selber als Dichter zu rechtfertigen,“67 und Hesse fördert daher „die heimliche eigensüchtige Quelle“68 seines Gedankengangs zutage. Psychoanalytisch ausgedrückt: Er kommt zu dem Schluss, dass eine Art von Rationalisierungsmechanismus seinem Idealbild des Dichters zugrunde liegt.69 In seinem Aufsatz über die „Rationalisierung im Alltagsleben“ (1908) charakterisiert Ernest Jones diese psychische Strategie wie folgt:

64 Ebd.  65 Ebd., S. 153. 66 Ebd., S. 154. 67 Ebd.  68 Ebd., S. 155. 69 Die Analyse der von ihm eingesetzten Strategie der Verleugnung verdeutlicht, dass Hesse selbst mit der freudianischen Theorie der Abwehrmechanismen vertraut war. Er erinnert sich daran, dass er, bei seiner Ankunft im Kurort, „alle jene Gestalten, welche jünger, aufrechter, rüs­

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„Eine irrationale Handlung wird […] dadurch gerechtfertigt, daß […] eine falsche Erklärung gegeben wird, die rational plausibel klingt. […] Man kann zwei Arten von falschen Erklärungen unterscheiden, je nachdem, ob die Erklärung für das Individuum selbst gedacht ist oder für seinen Bekanntenkreis […]. Die erste Art würde ich als ‚Ausflucht‘ bezeichnen, die zweite als ‚Rationalisierung‘“.

Dementsprechend lässt sich die Hypothese aufstellen, dass Hesse von einem Ausflucht-Mechanismus Gebrauch macht, der die Apotheisierung der Sendung des Dichters im Gefolge hat, um sein Aussteiger-Leben zu positivieren und dadurch zu rechtfertigen. Letzten Endes kann man deshalb die These wagen, dass diese Biodizee-Strategie auch im Zentrum der „Nürnberger Reise“ steht. Die dithyrambische Verklärung des Schriftstellers zum freien Müßiggänger auf der Suche nach dem Selbst70 in einer zeit- und bewusstseinsregulierten Sklavenwelt und zum einsamen Wahrsprechenden in einer Notzeit lässt sich auch als ein weiterer Versuch zur Bewältigung des Unbehagens Hesses an seinem vertanen Aussteigerdasein betrachten. Dieser unterdrückungsfähige Gedankeninhalt kann in dem Maße zutage treten, indem er in ein positives Gewand gekleidet wird. Neben dem Mechanismus der Verneinung tritt demzufolge derjenige der Positivierung des Sonderlingslebens in Funktion. Übrigens liefert Hesse selbst einen Schlüssel zum Verständnis seiner ambivalenten und gewissermaßen überdeterminierten Aussagen: „Die reine Beichte ist einfach das Ausbrechen gärender Säfte, ist Entledigung, Entäußerung, Lüftung. Das künstlerische Bekenntnis dagegen neigt stets und unfehlbar nach der Selbstrechtfertigung.“71

ti­ger und gesunder waren als ich selber, gar nicht wahrnahm.“ Und er fährt fort: „Vielmehr, ich nahm sie wahr, aber ich weigerte mich, sie mit in die Vergleichung zu ziehen, ja, während des ersten und zweiten Tages war ich sogar ganz primitiv davon überzeugt, alle jene Menschen, welche ich ohne Stock und ohne merkbares Lahmen oder Hinken mit vergnügten Gesichtern dahinwandeln sah, seien keineswegs Brüder und Kollegen, seien keine Kurgäste und Konkurrenten, sondern normale, gesunde Einwohner der Stadt“ (Hesse, Kurgast. Aufzeichnungen von einer Badener Kur. 2003, S. 44). 70 Nach Jung „ist […] das Selbst eine dem bewußten Ich übergeordnete Größe. Es umfaßt nicht nur die bewußte, sondern auch die unbewußte Psyche und ist daher sozusagen eine Persönlichkeit, die wir auch sind“ (Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. 1995, S. 187). 71 Hesse, Hermann: Tagebuch 1920/1921 (Nach einer Krankheit). In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Bd. 11, S. 633.

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3. Knulp: Die apologia pro vita sua eines Aussteigers Das Thema der Legitimierung des störungsbehafteten Aussteigerdaseins taucht in „Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps“ (1915) auch im Hinblick auf das Verhältnis des Helden zur Zivilisationsgeschichte auf. In dieser Hinsicht ist die folgende Feststellung aus der Schrift „Über die Landstreicher“ (1929) erhellend: „Es gibt für sie keine Zeit, keine Geschichte, kein Streben, und nicht jenen seltsamen Götzen der Entwicklung und des ‚Fortschritts‘, an den die Hausbesitzer so verzweifelt glauben.“72 Diese Distanziertheit des Wanderers gegenüber dem Geschichtsverlauf zeigt sich in Knulps Abneigung gegen langfristige Versprechungen,73 und eine solche Verweigerungshaltung lässt sich ihrerseits vor dem Hintergrund der Überlegungen Nietzsches zur gewaltsamen Erziehung des Menschen zum Versprechen-Können als Bestandteil des Zivilisationsprozesses verstehen. Bekanntlich basiert der in der „Genealogie der Moral“ (1887) entwickelte Forschungsansatz auf der These, der zufolge die Analyse der europäischen Zivilisationsgeschichte langzeitliche menschenumgestaltende Dynamiken in den Fokus nehmen soll, wie sie sich beispielsweise im Falle des jahrhundertelangen Bestrebens abgespielt haben, „ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf.“74 Pointiert schreibt Nietzsche zum Vorgang der Gedächtnisbildung als Vorbedingung für die Entstehung eines solchen Menschentypus: „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtnis? […]“... Dieses uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine Mnemotechnik. „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis“ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. […] Es ging niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Kastrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte […] – alles das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth.75

72 Hesse, Hermann: Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 127. 73 „Er machte nicht gern Pläne oder Versprechungen auf lange Zeit. Wenn er nicht die freie Verfügung über den kommenden Tag in der Tasche hatte, fühlte er sich nicht wohl“ (ebd., S. 14). 74 Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Gior­ gio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv / de Gruyter 1988. Bd. 5, S. 291. 75 Ebd., S. 295.

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Daraus folgt, dass der Mensch alles andere ist als eine naturgegebene Entität: Er ist ein historisches Konstrukt und vor allem „das noch nicht festgestellte Thier“76, dessen Subjektivitätsform mit dem Gedächtnis als „körperlicher Einschreibung“ eng zusammenhängt, sodass Jan Assmann mit Recht dazu bemerkt hat: „Was bei Nietzsche der Schmerz, die nie vernarbende Wunde, das ist bei Freud das Trauma.“77 Trotzdem kann der Prozess der Entfaltung der „Sittlichkeit der Sitte“ zur Emanzipation von ihren Zwängen führen, weil „das souveräne Individuum“, das endlich die Fähigkeit erlangt hat, sich selbst zu Willensanstrengungen bzw. zum Versprechen-Sollen zu nötigen, die so errungene Verfügungsgewalt über seinen Willen auch dazu verwenden kann, nicht moralisch zu handeln, um ein „autonomes übersittliches Individuum“78 zu werden. Mit Recht hat Andrea Orsucci also darauf aufmerksam gemacht, dass Nietzsches Zivilisationstheorie zwischen der regressiven Utopie der Rückkehr zur „vollkommnen Funktions-Sicherheit der regulirenden unbewussten Instinkte“79 und der Verherrlichung der „Lust“ oszilliert, jenseits jeglicher Moral „sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben.“80 Hesse stimmt mit Nietzsche (und Freud) darin überein, dass jede Kultur auf der „Domestizierung des Menschen“81 beruht, aber er unterscheidet sich von ihm darin, dass er keine rückwärtsgewandte Utopie skizziert und kein Bild eines schmerzgezeichneten Übermenschen zeichnet, sondern Knulp gleichsam als ein fossiles Überbleibsel der vorzivilisatorischen Freiheit charakterisiert, da sich dieser vom kulturinduzierten „Selbstzwang“82 zum langfristigen Versprechen auf Kosten der freien Verfügung über seine Eigenzeit emanzipieren kann. In dieser Perspektive erscheint auch

76 Nietzsche, Friedrich: Jenseits von Gut und Böse. In: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Gior­gio Colli/Mazzino Montinari. München: dtv / de Gruyter 1988. Bd. 5, S. 81. In Anknüpfung an Nietzsche bemerkte Hesse 1918: „Der Mensch […] ist nicht Tier, er ist überhaupt nichts Festes, Gewordenes und Fertiges, nichts Einmaliges und Eindeutiges, sondern etwas Werdendes“ (Hesse, Hermann: Krieg und Frieden. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Bd. 15, S. 202). 77 Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis: zehn Studien. München: C. H. Beck 2000, S. 16. 78 Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. 1988, S. 293. 79 Ebd., S. 273. 80 Ebd., S. 326. Dazu siehe Orsucci, Andrea: La genealogia della morale. Introduzione alla lettura. Roma: Carocci 2000, S. 113 – 114. 81 Hesse, Hermann: Die Brüder Karamasoff oder Der Untergang Europas. Einfälle bei der Lektüre Dostojewskijs. In: Gesammelte Schriften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1957. Bd. 7, S. 170. 82 Zur „Umformung der Fremdzwänge in Selbstzwänge“ als Erfordernis der „Modellierung zu einem zivilisierten Wesen“ siehe Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. Bd. 2, S. 353; 343.

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dieser Taugenichts als eine Aussteigerfigur: Er entzieht sich einigermaßen dem Druck der Gesellschaft und entfremdet sich bis zu einem gewissen Grad einer der Grunddynamiken der Zivilisationsgeschichte. In diesem Sinne gibt es auch für ihn „keine Geschichte.“ Die unter dem Titel „Wanderung. Aufzeichnungen“ (1920) gesammelten lyrischen Betrachtungen thematisieren dagegen den gescheiterten Versuch eines Einzelgängers, geschichtsresistent zu leben. Dahinter steht das Grunderlebnis des Ersten Weltkrieges, auf das Hesse folgendermaßen zurückblickt: Ich bin diese Straße schon einmal gegangen […]. Das war in der Zeit des Krieges, und mein Urlaub war zu Ende, und ich mußte wieder wegreisen und auf Landstraßen und Eisenbahnen mich beeilen, zur rechten Zeit wieder dabei und im Dienst zu sein. Krieg und Amt, Urlaub und Einberufung, rote Zettel und grüne Zettel, Exzellenzen, Minister, Generale, Büros – was war das für eine unwahrscheinliche, schattenhafte Welt, und lebte doch, und hatte doch die Macht, die Erde zu vergiften, und mich kleinen Wanderer und Aquarellmaler aus meiner Zuflucht hervorzutrompeten.83

Die Geschichte, die „große Zeit,“84 wird demzufolge als eine gewaltige Instanz dargestellt, die vermöge der Machthaber einen engen Zugriff auf den Einzelnen auch in der Form eines Zeitzwangs ausübt, um ihn in den Dienst ihrer Ziele zu stellen. Der Versuch, möglichst geschichtsunabhängig zu leben, ist aber ein Grundaspekt der Rebellion Hesses gegen die moderne Zivilisation, und sein non serviam gegenüber dem unerbittlichen Geschichtsverlauf tritt im „Brief an einen Kommunisten“ (1931) deutlich zutage. Zwar ist er davon überzeugt, dass die Heraufkunft des Kommunismus „unentbehrlich und unumgänglich“85, aber zukunftsträchtig ist: „Wer heute auf seiten des Kommunismus steht, der bejaht die Zukunft.“86 Er ist allerdings von „einem unbändigen Drang nach Unabhängigkeit“87 beseelt, der ihn als Aussteiger dazu führt, Widerstand gegen die Selbstgleichschaltung gemäß dem massenergreifenden Rhythmus des Zeitgeschehens zu leisten. Damit trachtet er danach, von den „Wehen und Erschütterungen des Morgens und Übermorgens“88 nicht berührt zu werden und so sehr als möglich eine Art von Unverletzlichkeit gegenüber dem Weltlauf zu erlangen.

83 Hesse, Hermann: Wanderung. Aufzeichnungen. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2003. Bd. 11, S. 13 – 14. 84 Ebd., S. 14. 85 Hesse, Hermann: Brief an einen Kommunisten. In: Sämtliche Werke. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004. Bd. 15, S. 354. 86 Ebd., S. 353. 87 Ebd., S. 357. 88 Ebd., S. 355.

Hermann Hesse und das Aussteigerleben 

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Wie oben erwähnt, strebt auch Knulp in gewissem Maße danach, aus dem Rahmen der Geschichte auszusteigen, aber ein tiefes Leiden an seinem OutcastLeben geht damit einher. Kurz vor seinem Tod versucht der alte Wanderer nämlich, seine Existenz zu rechtfertigen: „Er hatte zu viel zu denken gehabt und war auf allen den langen, mühsamen, nutzlosen Wegen immer tiefer in das Gewirr seines verfehlten Lebens geraten, wie in zähe Dornranken, ohne den Sinn und Trost dazu zu finden.“89 Daher rührt die Notwendigkeit, sich an Gott zu wenden, um von ihm erleuchtet und getröstet zu werden, was bedeutet, dass er dabei „eigentlich Gericht mit sich selbst“90 hält. Knulp sprach unaufhörlich mit ihm. Furcht hatte er keine; er wußte, daß Gott uns nichts tun kann. Aber sie sprachen miteinander, Gott und Knulp, über die Zwecklosigkeit seines Lebens, und wie das hätte anders eingerichtet werden können, und warum dies und jenes so und nicht anders habe gehen müssen.91

Insbesondere beklagt der Landstreicher, dass das traumatische Scheitern der Affäre mit Franziska – als er sehr jung war – ihn zu einem Taugenichts gemacht hat: „Dann ist irgend etwas in mir kaputtgegangen oder verpfuscht worden, und von da an habe ich eben nichts mehr getaugt.“92 Bemerkenswert daran ist, dass sich Knulps Ressentiment gegen Gott bzw. gegen sich selbst aus dem internalisierten bürgerlichen Leistungsprinzip speist, aber bei weitem interessanter und erforschenswert ist das post-psychoanalytische Menschenbild, das seinem Selbstgespräch zugrundeliegt und dessen Hauptcharakteristika Richard Rorty herausgearbeitet hat. Ausgehend von der Überzeugung Freuds, dass der Zufall das Menschenleben durchwaltet,93 verdeutlicht der amerikanische Denker das Spezifikum der Moralpsychologie Freuds folgendermaßen: Freudian moral psychology cannot be used to define social goals, goals for humanity as opposed to goals for individuals. […] His only utility lies in his ability to turn us away from the universal to the concrete, from the attempt to find necessary truths, ineliminable

89 Hesse, Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. 1988, S. 118. 90 Käch, Eichendorffs Taugenichts und Taugenichtsfiguren bei Gottfried Keller und Hermann Hesse. 1988, S. 139. 91 Hesse, Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. 1988, S. 119. 92 Ebd., S. 119 – 120. 93 „He [Freud – M.B.] says: If one considers chance to be unworthy of determining our fate, it is simply a relapse into the pious view of the Universe which Leonardo himself was on the way to overcoming when he wrote that the sun does not move… we are all too ready to forget that in fact everything to do with our life is chance, from our origin out of the meeting oft he spermatozoon and ovum onwards“ (Rorty, Richard: Contingency, Irony, and Solidarity. Cambridge: Cambridge University Press 1989, S. 30 – 31).

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beliefs, to the idiosyncratic contingencies of our individual pasts, to the blind impress all our be­havings bear.94

Daraus zieht Rorty deshalb den folgenden Schluss: „He [Freud – M.B.] leaves us with a self which is a tissue of contingencies rather than an at least potentially wellordered system of faculties.“95 Knulp erfährt sich selbst als ein solches Gewebe von Zufälligkeiten, da die „idiosyncratic contingencies“ seiner Vergangenheit ihn nolens volens in die Rolle eines Aussteigers hineingezwungen haben. Das ist der Grund, warum er sich im Zeichen eines Ausflucht-Mechanismus an Gott wendet und dadurch versucht, sein Leben auf irgendeine Art und Weise zu rechtfertigen. Genauer gesagt: Es handelt sich darum, die Dimension der sinnlosen Kontingenz durch die These einer gottinspirierten Sendung des Aussteigers zu überwinden, die Knulp seinem Gesprächspartner in den Mund legt, damit diese Idee die höchste Plausibilität gewinnen kann: „Sieh’“, sprach Gott, „ich habe dich nicht anders brauchen können, als was du bist. In meinem Namen bist du gewandert und hast den seßhaften Leuten immer wieder ein wenig Heimweh nach Freiheit mitbringen müssen“. […] „Ja“, sagte Knulp und nickte schwer mit dem Kopf. „Ja, es ist so, ich habe es eigentlich immer gewußt.“96

Das hiobische Modell der Auseinandersetzung mit Gott wird demzufolge mit dem Ziel aufgegriffen und umkodiert, dem sterbenden Aussteiger das Viatikum einer Biodizee zu spenden.

94 Ebd., S. 34. 95 Ebd., S. 31. 96 Hesse, Knulp. Drei Geschichten aus dem Leben Knulps. 1988, S. 123.

Anna Sawko von Massow

Körperbetrachtungen – am Leibe versehrt, seelisch traumatisiert. Narrative Lösungswege der Traumaverarbeitung in den Texten von Franz Kafka „Ein Hungerkünstler“ (1922) und Yoko Tawada „Das Bad“ (1989/2010) Den narrativen Lösungswegen der Traumaverarbeitung in einem literarischen Text nachzuspüren, ist ein Unterfangen, das eine präzise Textanalyse voraussetzt und nach einem Zusammenspiel zwischen Text und Leser verlangt. Die Betrachtung und Zurschaustellung des Körpers in den bildendenden Künsten ist dagegen ein gängiges Phänomen und ermöglicht die Gestalt und die Form in all ihren Dimensionen wahrzunehmen. Die Dreidimensionalität des Körpers in Wort und Text zu fassen, verlangt von dem Leser eine Vorstellungskraft, um auf der imaginären Ebene die Sprache als dreidimensionales Gebilde entstehen zu lassen. Um die Verwandlung und die Plastizität der Sprache sichtbar zu machen, kann das Betrachten und das Wahrnehmen einer Skulptur wegweisend sein, da es den Schritt und die Verwandlung der Sprache zum Gebilde erleichtern kann. Das, was für das Betrachten einer Skulptur selbstverständlich ist – die Form, das Licht, die Technik – muss für das Betrachten eines Textes neu gedacht und imaginiert werden. Für die ausgewählten Texte bieten die schmalen und schlaksigen Skulpturen von Alberto Giacometti1 (1901 – 1966) und die Arbeiten von Wanda Czełkowska2 (geb. 1930), die die Raumwahrnehmung verändern, sowie körperbetonte Installationen und Bilder von Bruce Naumann3 (geb. 1941) eine passende Projektionsfläche. Einen Grenzfall in vielerlei Hinsicht bietet die Arbeit Gunther von Hagens4 (geb. 1945), dem bekannten Plastinator, die in ihrer künstlerischen Darbietung etwas eigen ist. Hautentblößte Körper, magersüchtige Gestalten, verformte Köpfe wirken auf den Zuschauer ohne „erzählt“ werden zu müssen. Das kunsthistorische Wissen

1 Giacometti, Alberto: Käfig 1950. http://previewfbey.boros-live.de/sammlung/werk/detail/67-lacage-premiere-version/ (Zugriff am 31.05.2019). 2 Czełkowska, Wanda: Köpfe 1971. https://exhibitionsnoticeboard.blogspot.com/2018/06/rosemarie-castoro-wanda-czelkowska.html (Zugriff am 31.05.2019). 3 Nauman, Bruce: Bid now on Cockeye Lips and Neck Pull from Infrared Outtakes works by Bruce Nauman. https://www.artsy.net/artwork/bruce-nauman-cockeye-lips-and-neck-pull-from-infraredouttakes (Zugriff am 31.05.2019). 4 Gunther von Hagens: Körperwelten. https://koerperwelten.de/ (Zugriff am 31.05.2019). https://doi.org/10.1515/9783110683028-016

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und Zuordnen, Betrachten und Klassifizieren der Kunstwerke hilft und informiert über die Feinheiten des Handwerks und die Eigenheiten des jeweiligen Künstlers, aber es ist nicht zwingend notwendig, um das Gesehene und Erlebte auf sich wirken zu lassen. Die Rezeption einer Skulptur unterscheidet sich wesentlich von der Rezeption eines literarischen Textes. Sie ist eindeutiger und direkter, als die Rezeption eines Körpers, der durch die Beschreibung sehr individuell entstehen kann und sie erlaubt es von Fall zu Fall immer einen anderen Körper, eine andere Form entstehen zu lassen. Daher verläuft die Auseinandersetzung mit einem Text, in dem ein gestörter oder verformter Körper beschrieben wird, auf einer anderen Ebene, verlangsamt durch das Lesen und sich Vorstellen. Etwas träge und schwerfällig scheinen sich die Bilder und Formen im Text zu entfalten, deren Aussage aber nicht weniger präsent ist, wie der Vergleich zwischen Nauman und Beckett in der Diplomarbeit von Stefanie Keitz5 deutlich macht: „Beckett und Nauman laufen von verschiedenen Orten aufeinander zu. Beckett definiert Räume durch Personen, Nauman definiert Personen durch Räume.“6 Und weiter: „Nauman imaginiert den fehlenden Text, Beckett das fehlende Bild.“7 – „Nauman muß man folglich lesen, Beckett benötigt unser imaginäres Auge.“8 Das Erzählen von Körpern ähnelt auf den ersten Blick einem Tattoo, dessen Funktion einerseits mit der Mode oder andererseits lediglich mit der jeweiligen ästhetischen Präferenz zusammenhängt. Auf den zweiten Blick ist ein tätowierter Körper beschriftet, seine nackte Körperlichkeit versteckt, seine Aussage deformiert – auch im positiven Sinne. Den Körper zu beschriften, zu bemalen, um von seiner eigentlichen Aussage abzulenken, von seiner Schutzlosigkeit und Gebrechlichkeit, von seiner Form, seiner Vollkommenheit oder Unvollkommenheit, oder auf sie aufmerksam zu machen, ist nichts Neues in der Menschheitsgeschichte. Körperbemalungen haben eine lange Tradition und sind von den Maoris bis zu den Aborigines weit verbreitet. Sie haben verschiedene Funktionen, können beispielsweise traditionelle, ästhetische oder kriegerische Absichten andeuten; sie sind der Paratext, die Fußnote in der optischen Wahrnehmung eines Menschen, eines Körpers und deuten häufig unbeabsichtigt die Dissonanz zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen an. Das Nichtgesehene wird sichtbar, das

5 Keitz, Stefanie: Deforme Körper. Betrachtungen an Beispielen von Bruce Nauman, Louise Bourgeois, Jan Svankmajer, Francis Bacon. Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller 2009. 6 Ebd., S. 18. 7 In der Arbeit von Stefanie Keitz zitiert nach: Hoffman, Christine / Glasmeier, Michael: Samuel Beckett, Bruce Nauman. Kunsthalle Wien 2000, S. 14. 8 Keitz, Deforme Körper. 2009, S. 18.

Körperbetrachtungen und Traumaverarbeitung bei Franz Kafka und Yoko Tawada 

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Nichtgesagte erzählt. Die Darstellung eines Körpers, auch eines gestörten Körpers im Text beruht auf einem gegensätzlichen Prinzip: Das Gesehene verbirgt sich im Text, der Körper wird erzählt und mit ihm entfaltet sich das Narrationsumfeld oder er, der Körper, entfaltet das Narrationsumfeld. Die klassische Textanalyse betrachtet einen Text wie einen menschlichen Körper, in dem verschiedene Organe bzw. narrative Elemente ihre Funktionen zu erfüllen haben und die in der Summe den Menschen oder den Text leben und wirken lassen. Auf der Textbasis sind die gattungsspezifischen Fragestellungen, die Wahl der rhetorischen Mittel, die Erzählweise und vieles mehr Bestandteile eines Textkörpers, der dann eine bestimmte Aussage oder Botschaft vermittelt. Diese Bestandteile stehen nicht lose im Raum bzw. im Text sondern sind durch Kontext, Figuren, Motive etc. miteinander verwoben und bieten eine Topographie an, die es einerseits erlaubt, einen Text als fixes, abgeschlossenes Produkt zu sehen, ihn aber andererseits als plastisches, formbares und mehrdimensionales Gebäude zu erkennen weiß, ähnlich einer Landkarte, die nach genauen Vermessungen der Landschaft entsteht. Umso mehr fällt es ins Auge, wenn es in einem Text dezidiert, deutlich und recht plakativ um menschliche Organe, Körperteile oder sogar den ganzen Organismus geht. In beiden für diesen Beitrag ausgewählten Texten ist die körperliche Verstümmelung – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – eine sichtbare, fast anfassbare Aussage und eine Folge bestimmter Handlungen, aber sie ist auch ein Versuch die Verwundung, das Leid zu verarbeiten und darzustellen. Die körperliche Versehrtheit hat eine seelische Traumatisierung zur Folge. Eine Anschaulichkeit wird angestrebt, ähnlich dem Versuch von Gunther von Hagens und dessen präparierten Körperwelten. Die Handlungskulisse in Kafkas „Hungerkünstler“9 ist die des Künstlermilieus bzw. die am Ende des 19. Jahrhunderts populäre Schaukunst. Alle vier Texte aus dem Sammelband: „Erstes Leid“, „Eine kleine Frau“, „Josefine, die Sängerin oder Das Volk der Mäuse“ und „Ein Hungerkünstler“ setzen sich mit dem Thema Künstlerdasein auseinander. Zwei Texte, „Hungerkünstler“ und „Erstes Leid“, sind im Zirkusmilieu verortet, einer geschlossenen und teilweise skurrilen Welt, in der es von Kleinwüchsigen, Akrobaten und Clowns wimmelt; von Menschen, die auffallen entweder durch ihr Äußeres oder durch besondere körperliche Qualitäten. Dem Erzähler ist es ein Anliegen, von dem schwindenden Interesse an dieser besonderen Kunstart, von dem Untergang eines Schaustellerberufes zu berichten. Das schwindende Interesse von Seiten des Publikums, das langsame, finale Aus-

9 Kafka, Franz: Ein Hungerkünstler. In: Ein Landarzt und andere Prosa. Stuttgart: Reclam 1995, S. 110 – 121 [im Folgenden unter der Sigle „HK“ im Text].

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sterben einer Profession und das Schwinden des Körpers vermitteln einerseits eine Untergangsstimmung, andererseits zeigen sie die Bedeutungslosigkeit, Geringfügigkeit und schließlich Sinnlosigkeit des „sich auf den letzten Knochen Hungerns“. Denn der Wille, einen lebenserhaltenden Trieb zu unterdrücken und dadurch die eigene Stärke zu demonstrieren, bietet dem Publikum zu wenig Unterhaltungspotential und die tatsächlichen, banalen Gründe interessieren kaum jemanden. Die räumliche Teilung im Text ist sehr klar formuliert, innen der Käfig und sein Bewohner, außen der schaulustige Schwarm, bestehend aus Erwachsenen und Kindern, Frauen und Männern, Wächtern und einem Impresario. Für das Thema dieses Beitrags erscheinen die Körperbeschreibungen, die im Laufe des Textes auftauchen, von Bedeutung: Während er für die Erwachsenen oft nur ein Spaß war, an dem sie nur der Mode halber teilnahmen, sahen die Kinder staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei der Hand haltend, zu, wie er bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig vortretenden Rippen, sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem Stroh saß, einmal höflich nickend, angestrengt lächelnd Fragen beantwortete, auch durch das Gitter den Arm streckte, um seine Magerheit befühlen zu lassen, dann aber wieder ganz in sich selbst versank, um niemanden sich kümmerte, nicht einmal um den für ihn so wichtigen Schlag der Uhr, die das einzige Möbelstück des Käfigs war, sondern nur vor sich hinsah mit fast geschlossenen Augen und hie und da aus einem winzigen Gläschen Wasser nippte, um sich die Lippen zu feuchten (HK, 111).

Das vollständige Zitat kann auf die relevanten Stellen reduziert werden und dadurch die Bedeutung bestimmter Körperteile hervorheben: Bleich, mit mächtig vortretenden Rippen, höflich nickend, angestrengt lächelnd, mit ausgestrecktem Arm zwecks Überprüfung seiner Knochenarbeit, mit geschlossenen Augen, am Wasser nippend, um seine Lippen zu befeuchten. Und noch weiter: Rippen, Arm, Augen, Lippen – dies sind die Teile des Körpers, die beschrieben werden und die auf den krankhaften Zustand des Mannes hinweisen. Er scheint einsam und eingekerkert in seiner Kunst, der Kontakt nach Außen ist sehr sparsam, vorsichtig und auf die einzelne Geste beschränkt. Im mittleren Teil des Textes heißt es: Und er blickte empor in die Augen der scheinbar so freundlichen, in Wirklichkeit so grausamen Damen und schüttelte den auf dem schwachen Halse überschweren Kopf. […] Der Impresario kam, hob stumm […] die Arme über dem Hungerkünstler, so, als lade er den Himmel ein, sich sein Werk hier auf dem Stroh einmal anzusehn, diesen bedauernswerten Märtyrer, welcher der Hungerkünstler allerdings war, nur in ganz anderem Sinn; faßte den Hungerkünstler um die dünne Taille, wobei er durch übertriebene Vorsicht glaubhaft machen wollte, mit einem wie gebrechlichen Ding er es hier zu tun habe; und übergab ihn – nicht ohne ihn im geheimen ein wenig zu schütteln, so daß der Hungerkünstler mit den Beinen und dem Oberkörper unbeherrscht hin und her schwankte – den inzwischen totenbleich gewordenen Damen. Nun duldete der Hungerkünstler alles; der Kopf lag auf der Brust, es war, als sei er hingerollt und halte sich dort unerklärlich; der Leib war ausgehöhlt; die Beine

Körperbetrachtungen und Traumaverarbeitung bei Franz Kafka und Yoko Tawada 

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drückten sich im Selbsterhaltungstrieb fest in den Knien aneinander, scharrten aber doch den Boden, so, als sei es nicht der wirkliche, den wirklichen suchten sie erst; und die ganze, allerdings sehr kleine Last des Körpers lag auf einer der Damen, welche hilfesuchend, mit fliegendem Atem – so hatte sie sich dieses Ehrenamt nicht vorgestellt – zuerst den Hals möglichst streckte, um wenigstens das Gesicht vor der Berührung mit dem Hungerkünstler zu bewahren, […] (HK, 114 f.).

Auch in diesem Zitat werden bestimmte Körperteile genannt: die Augen, der schwache Hals, der überschwere Kopf, die dünne Taille, Beine und Oberkörper, der Leib, die Knie, das Gesicht. Doch im Unterschied zum ersten Zitat ist die Beschreibung viel detaillierter, der Körper liegt schmächtig in der Hand der Helfer, ausgeliefert – aber aufgefangen: Das unfreiwillige Bad in der Menge, die Berührungen, die eine helfende Funktion erfüllen. In der Schlussszene hat die Beschreibung des Körpers eine ganz andere Funktion: „Du hungerst noch immer?“ fragte der Aufseher, „wann wirst du denn endlich aufhören?“ „Verzeiht mir alle“, flüsterte der Hungerkünstler; nur der Aufseher, der das Ohr ans Gitter hielt, verstand ihn. „Gewiß“, sagte der Aufseher und legte den Finger an die Stirn, um damit den Zustand des Hungerkünstlers dem Personal anzudeuten, „wir verzeihen dir.“ „Immerfort wollte ich, daß ihr mein Hungern bewundert“, sagte der Hungerkünstler. „Wir bewundern es auch“, sagte der Aufseher entgegenkommend. „Ihr solltet es aber nicht bewundern“, sagte der Hungerkünstler. „Nun, dann bewundern wir es also nicht“, sagte der Aufseher, „warum sollen wir es denn nicht bewundern?“ „Weil ich hungern muß, ich kann nicht anders“, sagte der Hungerkünstler. „Da sieh mal einer“, sagte der Aufseher, „warum kannst du denn nicht anders?“ „Weil ich“, sagte der Hungerkünstler, hob das Köpfchen ein wenig und sprach mit wie zum Kuß gespitzten Lippen gerade in das Ohr des Aufsehers hinein, damit nichts verlorenginge, „weil ich nicht die Speise finden konnte, die mir schmeckt. Hätte ich sie gefunden, glaube mir, ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle.“ (HK, 120 f.).

In diesem Abschnitt werden der Körper des Aufsehers und der Körper des Hungerkünstlers beschrieben. Es scheint eine intellektuelle Auseinandersetzung stattzufinden, eine Begegnung. Das Ohr des Aufsehers, das Zuhören, nicht mehr also das Visuelle sondern das Akustische steht im Vordergrund; Der Finger auf der Stirn, als Hinweis auf abnormales Handeln. Das kleine Köpfchen des Hungerkünstlers, die „zum Kuß gespreizten Lippen“ und die gebrochenen Augen deuten eine demütige Haltung, das Bitten um Verzeihung an. Die drei zitierten Textpassagen scheinen eine Abfolge zu dokumentieren, die vor allem die Isolation der Figur durch die Beschreibung der Körperteile belegen, das beginnende vorsichtige Berühren, die unfreiwillige Befreiung und sogar das letzte Gespräch, vielleicht sogar die erleichternde Beichte vor der Selbstaufgabe und dem endgültigen Verschwinden. In Kafkas Text beschreibt der Körper einen Seelenzustand und vermittelt eine Fülle von Gefühlen und Emotionen.

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An dieser Stelle ist eine Parallele zu Giacomettis Skulptur „Käfig“ zu erkennen, in der der schmächtige Körper in einem Käfig eingesperrt wurde. Monika Flacke, eine Kunsthistorikerin hat diese Parallele in Worte gefasst: Der Betrachter begegnet im „Käfig“ Figuren, die ihr individuelles Leben bereits abgelegt haben. Da ihnen keine Eigenschaften mehr anhaften, mit denen der Betrachter sich identifizieren oder von denen er sich abwenden möchte, rufen die Figuren, ähnlich wie die Protagonisten in Franz Kafkas Prosa, Grundgefühle oder: Modelle von Gefühlen hervor, wie sie sich normalerweise nicht aus der Begegnung mit wirklichen Menschen ergeben, aber allen Begegnungen zugrundeliegen: Nähe, Distanz, Wärme, Hast, Ruhe, Kälte, Stärke. Giacometti beharrt auf der Figur; er gibt sie nicht auf, so klein, so schmal, so fern sie auch sein mag.10

Kafka gibt die Figur auf. Tawada – und damit leite ich zum zweiten Text, „Das Bad“ (1989/2010)11 über – besteht auf der Beschreibung der Körperlichkeit und erweckt ebenfalls ein breites Spektrum an Emotionen, von Zuneigung bis Ekel. Schon zu Beginn des Romans heißt es: Der menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser bestehen, es ist daher auch kaum verwunderlich, dass sich jeden Morgen ein anderes Gesicht im Spiegel zeigt. Die Haut an Stirn und Wangen verändert sich von Augenblick zu Augenblick wie der Schlamm in einem Sumpf, je nach der Bewegung des Wassers, das unter ihm fließt, und der Bewegung der Menschen, die auf ihm ihre Fußspuren hinterlassen. Neben dem Spiegel hing in einem Rahmen eine Portraitaufnahme von mir. Mein Tag begann damit, dass ich beim Vergleich des Spiegelbilds mit der Fotografie Unterschiede entdeckte, die ich dann mit Schminke korrigierte (DB, 7).

Interessant erscheint auch gegen Ende der Erzählung eine Stelle, die wieder auf das Motiv Wasser zurückgreift: Der Weltball soll zu siebzig Prozent mit Meer überzogen sein, es ist daher kaum verwunderlich, dass die Erdoberfläche jeden Tag ein anderes Muster zeigt. Das unterirdische Wasser bewegt die Erde von unten, die Wellen des Meeres nagen an der Küste, oben sprengen die Menschen Felsen und legen in den Tälern Felder an und graben das Meer um. So verändert sich die Gestalt der Erde. Ich breite eine Weltkarte aus. Auf der Karte hat das Wasser seine Bewegung eingestellt, daher scheinen die Städte immer an derselben Stelle zu liegen. Die

10 Knott, Marie Luise: Zu Alberto Giacometti „La cage (première version) 1949/50“. In: Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945. Europaratsausstellung. Hrsg. von Monika Flacke. Dresden: Sandstein Verlag. Deutsches Historisches Museum 2012 (Digitaler Katalog). http://marie-luiseknott.net/Texte/alberto-giacometti-verfuehrung-freiheit (Zugriff am 23.07.2019). 11 Tawada, Yoko: Das Bad. Tübingen: Konkursbuch 2015 [im Folgenden unter der Sigle „DB“ im Text].

Körperbetrachtungen und Traumaverarbeitung bei Franz Kafka und Yoko Tawada 

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zahllosen roten Linien, die von Stadt zu Stadt gezogen sind, bezeichnen Flugrouten und Fangnetze. Das in den Netzen gefangene Gesicht der Erde wird von den Menschen jeden Tag nach dem Modell der Karte geschminkt (DB, 145 ff.).

In beiden Passagen ist die Veränderbarkeit des Körpers das Thema und der Drang des Menschen das ursprüngliche bzw. bekannte Gesicht des Selbst oder der Erde zu rekonstruieren. Der 1989 zuerst publizierte Roman der japanischen Autorin ist nicht unbedingt derjenige, den man mit Franz Kafka in Verbindung bringen könnte. Denn Tawada selbst hat sich zwar von Kafka inspirieren lassen, es ging ihr dabei aber um einen anderen Text, und zwar die berühmte „Verwandlung“(1915), eine Erzählung, die sie in einem Theaterstück „Kafka Kaikokou“12 verarbeitet hat. Da es in diesem Text um den Körper eines Käfers und nicht eines Menschen geht, liegt meines Erachtens der Text „Ein Hungerkünstler“ näher an dem Thema der gestörten Wahrnehmung eines Körpers. Die sich im Spiegel betrachtende Frau ist die Ich-Erzählerin, eine Dolmetscherin, die zeitweise mit einem Fotografen, Xander, arbeitet und sich von ihm porträtieren lässt. Nach einem Arbeitstreffen wird sie ohnmächtig und fällt in „ein bodenloses Tal“ (DB, 53). Im Traum begegnet sie einer Frau, die sich am Ende des Textes als ihr zweites Ego erweist. Der Text verändert sich und die Körperfunktionen bzw. Körperfertigkeiten beginnen sich aufzulösen: Sprechen, Lesen und Sehen schwinden und am Ende schwindet auch die Hülle, der Körper. Die Ähnlichkeit mit Kafkas Erzählung besteht in der Auflösung des Körpers. In beiden Fällen handelt der Text von menschlichen Körpern, die zuerst genau betrachtet, analysiert, verformt werden, um schließlich zu verschwinden. Tawadas Text ist eine erstaunliche Geschichte der Begegnungen zwischen Sprache, Bild und Körper. Allein die Gestaltung des Textes – mit leicht negligierten Damen im Bad illustriert – und die gleichzeitig abgedruckte japanische Version vermitteln den Eindruck einer Dreidimensionalität, die durch die Narration zwischen Traum und Wirklichkeit gesteigert wird. Die klare und verständliche Sprache von Tawada täuscht darüber hinweg, dass der Text im Allgemeinen leicht verständlich ist. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wahrnehmung des Körpers zerfließt in der etwas absurd anmutenden Geschichte. Die surrealistischen Bilder, um es mit Bettina Brand13 zu sagen, helfen einem Autor, vor allem einem Autor mit ausländischen Wurzeln, nicht auf diese offen-

12 Tawada, Yoko, Kafka Kaikokou. In: Tawada, Mein kleiner Zeh war ein Wort. Theaterstücke. Tübingen: Konkursbuchverlag 2013. 13 Brand, Bettina: Schnitt durchs Auge. Surrealistische Bilder bei Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Herta Müller. In: Hrsg. Heinz Ludwig Arnold. Text und Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband. München: edition text + kritik 2006, S. 76.

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sichtliche Tatsache reduziert zu werden. Die Reduktion entsteht in beiden Texten auf einer anderen Ebene, auf der Ebene des Körpers: In der Ferne hörte ich ein knisterndes Geräusch. Ich wollte die Augen öffnen, konnte aber von innen meine Lieder nicht ausfindig machen. Hinter dem Eisengitter der Kapillare versuchte ich, mich an irgendein Gesicht zu erinnern. Meine Mundhöhle war ausgetrocknet und schorfig. Gaumen und Zunge waren wie verklebt miteinander. Ich konnte nur durch die Nase atmen. Jetzt der Geruch kochender Milch. […] Das Innere meines Mundes wurde nach und nach feuchter; ich konnte die Zunge wieder bewegen. Etwas Weiches berührte meine Lippen. Eine Seezunge. Sie schlüpfte in meinen Mund hinein und spielte mit meiner Zunge. Erst zärtlich, dann heftiger, zuletzt biss sie hinein und aß sie auf (DB, 55).

Die erwähnten Körperteile bzw. Organe, die Augen, das Gesicht, die Mundhöhle, der Gaumen, die Zunge, die Nase und die Lippen sind die Organe der Wahrnehmung, ihre Funktionen scheinen gestört zu sein und am Ende kommt es zu einer brutalen Verstümmelung: Die Zunge ist weg, das Sprechen unmöglich, die Karriere als Dolmetscherin wohl beendet. Bemerkenswert und charakteristisch für das Entstehen der surrealistischen Bilder ist ihr überraschendes Auftauchen: In surrealistischen Bildverfahren, die durch Zufall und Plötzlichkeit geprägt sind, werden Dinge, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören, zusammengesetzt und das, was gern zusammengedacht wird, getrennt. Dadurch werden die verwendeten Elemente aus ihrem realen Zusammenhang gerissen und für noch nicht aufgetretene Kombinationen und Konstruktionen freigesetzt, durch die die Welt neu gelesen, gesehen und entdeckt werden kann.14

Das Ende der Geschichte ist dramatisch und entlässt den Leser mit einem merkwürdig sonderbaren Eindruck. Vieles bleibt im Dunkeln, vor allem die Verbindung zwischen den beiden Frauen, die am Ende zu einer unsichtbaren Toten verschmelzen: Aber es sollte ein Curriculum Vitae geben, das mit dem Sterbedatum beginnt. Weil ich keine Zunge habe, kann ich nicht dolmetschen, kann ich, was jene Frau sagt, nicht ins Leichtverständliche übersetzten. Weil ich die Buchstaben vergessen habe, bin ich auch keine Typistin mehr. […] Erst recht bin ich kein Fotomodel, denn ich bin auf Fotos gar nicht zu sehen. Ich bin ein transparenter Sarg (DB, 165).

Unsichtbar und stumm bleibt die Frau aus dem Text zurück und erinnert an die moderne Version der Dracula Figur, die kein Spiegelbild mehr hat, aus dem bekannten Roman „Dracula“15 von Bram Stoker. Wenn man dem Volksglauben Glauben

14 Brand, Schnitt durchs Auge. 2006, S. 75. 15 Stoker, Bram: Dracula (1897). Aus dem Engl. übersetzt von Ulrich Bossier. Nachwort von Elmar Schenkel. Stuttgart: Reclam 2012.

Körperbetrachtungen und Traumaverarbeitung bei Franz Kafka und Yoko Tawada 

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schenkt, ist die Sprachgewandtheit der Vampire relativ stark eingeschränkt und damit rückt die Ich-Erzählerin in die Sphären des Unheimlichen und Surrealen. Ihr Selbstbild wird durch das traumatische Erlebnis zwischen der Wirklichkeit und dem Traum gestört. In beiden Texten der aus verschiedenen Schreibtraditionen stammenden Autoren wird die Körperlichkeit zum großen Teil als Deviation beschrieben und aus diesem Unterschied resultiert die Inszenierung der Körperbeschreibung. Es ist sicher festzuhalten, dass beide Texte den Körper in seiner entstellten Form zeigen. Die Abnormitäten werden auf recht unterschiedliche Art und Weise erzählt und sind eng an die jeweilige Schreibtradition gekoppelt. Was mit Kafkas direktem Wirklichkeitsbezug zu tun haben könnte – die Furore der um die Jahrhundertwende verbreiteten Völkerschauen und Schaubuden – und seiner direkten Arbeitserfahrung, in der er als Mitarbeiter einer Versicherungsanstalt nach dem Ersten Weltkrieg mit Kriegsversehrten und psychisch Geschädigten zu tun hatte, sowie Kafkas Konflikt mit dem Vater, der sich teilweise auch zu den Essgewohnheiten äußerte, sein Fremdheitsgefühl in Prag – als Jude und deutschsprachiger Schriftsteller – dieses Fremdheitsgefühl ist auch bei Tawada erkennbar, als Japanerin in Deutschland. Hinzu kommt das Ergebnis ihrer Beschäftigung mit der Sprache, als Schriftstellerin und Übersetzerin, das Interesse an der Verwandlung der Sprache und der des Körpers, dessen Wandel man auf diese Weise festhalten kann; und weil Sprache für sie ein materielles Gut ist, das sie als Nicht-Muttersprachlerin fühlen, anfassen kann und klingeln hört, wird die Sprache auch zu einem Körper. In einem Interview für Zeit-Online äußerte sich Tawada 2008 zu diesem Thema folgendermaßen: Dass der Körper sich immer wieder verändert. Das kann auch durch Reisen passieren, oder wenn man zu Hause ist. Und auch durch die Sprache kann es passiert sein, dass sich der Körper verändert, dass das Leben sich verändert, welches keine feste Form hat. Das hat auch wieder mit dem Wasser zu tun. Verwandlung, Mutation, Deformierung.16

In der Inszenierung der Körperbeschreibung liegen beide Texte nahe beieinander, in ihrer Detailliertheit bei der Beschreibung und dem langsamen Verschwinden des Körpers, aber auch in einem gestörten Verhältnis der Hauptfiguren zur Sprache: der Hungerkünstler spricht leise und kraftlos, die Übersetzerin stottert. Die Autonomie und Freiheit der Kunst bis hin zur Selbstaufgabe kommen zwar auf recht unterschiedliche Art und Weise zur Sprache, aber sie kommen beim Leser an, z. B. durch die selbstzerstörerische Auflehnung auf der thematischen Ebene bei Kafka und ein mehrspuriges, surrealistisches Erzählverfahren bei Tawada, das sehr viele

16 Interview mit Yoko Tawada geführt von Carsten Klook für Zeit-Online am 16.09.2008. https:// www.zeit.de/online/2008/38/yoko-tawada/seite-3 (Zugriff am 21.06.2019).

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 Anna Sawko von Massow

Interpretationsmöglichkeiten zulässt und durch diese Offenheit das Schreiben als Kunst in die metaphysischen Regionen torpediert. In der Narration der Körperlichkeit sind beide Texte sehr unterschiedlich. Kafkas Text ist bereits mehrfach zur Frage nach seiner Narration untersucht worden. Sein parabelhafter Charakter und die Besonderheit der mehrfachen Analogien, der auktoriale Erzähler, dem seine Göttlichkeit abhandengekommen ist – all dies sind Eigenschaften, die den Text als ein Kuriosum zeigen und auf die Autonomie der Kunst hinweisen, denn nicht für das Publikum hungert der Mann, sondern aus dem tiefsten Ekel und der Abneigung dem Essen gegenüber. In Tawadas Text berichtet ein Ich-Erzähler bzw. eine Erzählerin, metaphernreich und symbolisch vom Hungern: „Die Haut meines Magens zog sich zu einem Dudelsack zusammen und musizierte“ (DB, 51). Sinnlose Wörter und Lautmalereien durchsetzen den Text. Auch in der Relation von Körper und Textkörper bzw. Sprachkörper geht Tawada einen eigenen Weg und macht die Bedeutung des Textkörpers, insbesondere in der zweisprachigen, illustrierten Version, sichtbar. Was bei Kafka recht klassisch daherkommt, ist für Tawada ein Spielraum, um mit der Sprachgestaltung zu experimentieren, Bilder hinzuzufügen und auf die Unterschiede in der deutschen und japanischen Textgestaltung hinzuweisen.  Die Inszenierung des Körpers durch Sprache muss, um überzeugend zu wirken, ungewöhnliche Wege gehen und die Grenzen der klassischen Narrationsweise überschreiten, um die Materialität des Körpers lesbar zu machen. Auch wenn beide Autoren in unterschiedlichen Schreibtraditionen wurzeln, ist die Überzeugungskraft ihrer Texte gegeben. Es zeigen sich in beiden Texten Ähnlichkeiten, vielleicht auch u. a. aus dem Grund, dass für Tawada auch Franz Kafka zu ihrer „Schreibsozialisierung“ gehört. In einem Interview für die Heinrich Böll Stiftung aus dem Jahr 2009 fiel die übliche Frage an einen Autor, der als Nicht-Muttersprachler auf Deutsch schreibt: Gibt es AutorInnen, die Sie zur deutschen Sprache gebracht haben? Kafka liebe ich schon lange, ihn habe ich schon als Schülerin gern gelesen, dann Celan, Kleist, E.T.A. Hoffmann. Kafka ist in Ostasien sehr bekannt und leichter zu verstehen als z. B. die Nachkriegsliteratur. Kafka hat etwas, das ich wirklich beneidenswert finde: Er ist so klein in seinen Problemen, mit seinem Vater und seinem Leben in einer ganz kleinen Gasse, in seinem Prag – und doch von so großer Reichweite.17

Die beiden Texte zeigen eine Gemeinsamkeit: sie zeigen den leidenden, menschlichen Körper und bieten verschiedene narratologische Lösungswege an, mit diesem Trauma umzugehen. Ob das Trauma des Nicht-Essen-Könnens oder -Wollens bzw.

17 Interview mit Yoko Tawada geführt von Claire Horst für Heinrich-Böll-Stiftung.https://heimatkunde.boell.de/2009/02/18/fremd-sein-ist-eine-kunst-interview-mit-yoko-tawada (Zugriff am 21.06.2019).

Körperbetrachtungen und Traumaverarbeitung bei Franz Kafka und Yoko Tawada 

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nicht Sprechen-Könnens durch das Verschriftlichen überwunden wird? Sicher ist es für den Erzähler und den Autor ein Anliegen mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, glaubhaft die Qual zu darzustellen. Es ist aber auch sicher für den Autor die Schreibmotivation, mit den eigenen Traumata fertig zu werden, sie zu überwinden und wie durch ein Vergrößerungsglas in ihrer Auflösung zu erkennen. Auch der Aspekt des „aus der Zeit Fallens“ spielt dabei eine wichtige Rolle und findet immer wieder Bestätigung, nicht nur in der präzisen Erzählweise von Kafka oder Traumbeschreibung von Tawada, sondern immer wieder auch in den theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Erzählen, z. B. in der These von Frank Witzel, die er vor einem Jahr im Rahmen der Heidelberger Poetikdozentur nach Mark Epstein18 formulierte: „das Trauma nimmt uns aus der Zeit“.19 Veranschaulicht wird die Besonderheit einer traumatischen Situation, das Verschwinden der gewohnten Zeitabläufe, der routinierten Alltagshandlungen und am Ende auch das Verschwinden des Körpers. Die Zeit spielt für den Hungerkünstler keine Rolle, die Uhr beachtet er nicht, das Hungern ist ihm ein Vergnügen, das er immer wieder und immerfort fortsetzen möchte. Auch für die Übersetzerin spielt die Zeit keine Rolle. Sie hat sie und sie wartet: Ich war eine ungeprüfte Übersetzerin und musste oft auf Arbeit warten. Jeden Tag, nach Beendigung der Toilette, ging ich ins Büro und wartete, ob Aufträge hereinkommen. Wenn ich einen ganzen Tag vergeblich auf einen Anruf gewartet habe, kehrte ich am Abend wieder nach Hause zurück, ohne etwas getan zu haben (DB, 37).

Wie in einer Zeitlupe wird das Problem fixiert, von verschiedenen Seiten beleuchtet und es erfasst den Text in seiner Übermacht; die Einwirkung des Traumas auf das tägliche Leben, sei es im Traum, sei es in der Wirklichkeit, wird durch die Schilderung des sich wandelnden Körpers potenziert. In den beiden Texten können Ursachen und Folgen der traumatischen Erfahrung mit und durch den Körper benannt und beschrieben werden, um das Ausmaß, dessen Auswirkung und die Intensität zu ermessen. Das Verhältnis des Autors und des Lesers zu einem gestörten Körper wird durch die „Versprachlichung“ verarbeitet und trägt möglicherweise zur Bewältigung des Traumas bei. Knapp 100 Jahre liegen die beiden Texte auseinander und bieten gerade deswegen ein spannendes Spektrum zum Thema Körperbetrachtung. Sie zeigen die Dramatik der körperlichen Verstümmelung im Spiegel der jeweiligen Gegenwart und veranschaulichen, wie das Selbst unter einer traumatischen Erfahrung leidet.

18 Epstein, Mark: The Trauma of Everyday Life. (dt. Das Trauma des Alltags). New York: The Penguin Press 2013. 19 Witzel, Frank: Über den Roman – hinaus. Heidelberger Poetikdozentur. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2018, S. 75.



III. Traumatische Erfahrungen – Krieg und Nachkrieg

Söhnke Post

Die literarische Konfiguration einer posttraumatischen Belastungsstörung am Beispiel der Erzählung „Josefs Frau“ (1931) von Erich Maria Remarque 1. Die Posttraumatische Belastungsstörung im 1. Weltkrieg Im 1. Weltkrieg wurden psychische Erkrankungen bei Soldaten zu einem Massenphänomen. Die Ausmaße der industriellen Kriegsführung verursachten seelische Verwundungen, die sich in zahlreichen damaligen zeitgenössischen künstlerischen Darstellungen wiederfinden. Die Auswirkungen des Krieges manifestierten sich in den psychischen Erkrankungen der Soldaten. Eckart illustriert diese schrecklichen Einwirkungen des Krieges eindrücklich: Der moderne hochtechnisierte Krieg traf an allen Fronten Menschen, die dem apokalyptischen Inferno des pausenlosen Kugel- und Granathagels, dem grellen Leuchten, Blitzen und Flackern der Frontabschnitte, dem infernalischen Brüllen und Kreischen berstender Metallgeschosse, dem perfiden Zwitschern, Summen und Pfeifen der Projektile und Querschläger, dem Kreischen und Gurgeln der Verletzten, dem tausendfachen Anblick entseelter Leiberfetzen in den Stahlgewittern Flanderns […] nicht mehr standhalten wollten oder konnten.1

Die Soldaten, die dies an der Front miterlebten, litten oft unter dem sogenannten Shell Shock, der Gas Neurosis oder der Buried Alive Neurosis. In Deutschland wurde in diesem Zusammenhang von Kriegszittern, Kriegsneurosen oder der Kriegshysterie gesprochen. Durch diese despektierlichen und pathologischen Bezeichnungen verlieh man den erkrankten Soldaten bereits ein Etikett der Schwäche und Ausgrenzung. Das bis dahin vorherrschende Konzept eines Soldaten, der sich im Kampf heldenhaft behauptete, war nicht mehr mit den Möglichkeiten einer industriellen Kriegsführung zu vereinbaren. Heute erkennt man in den Symptomen der betroffenen Soldaten dissoziative und somatoforme Störungen, die unter dem Krankheitsbild einer Posttrauma-

1 Eckart, Wolfgang: „Vom kuriosen Experiment zur Elektrotherapie und Elektrodiagnostik im 19. und frühen 20. Jahrhundert.“ In: Herzblut. Geschichte und Zukunft der Medizintechnik. Hrsg. von Technoseum. Stuttgart: Theiss 2014, S. 63. https://doi.org/10.1515/9783110683028-017

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tischen Belastungsstörung (PTBS) gefasst werden können.2 Die grundlegenden Erschütterungen des Selbst- und Weltbildes begründen die vegetative Überregtheit, emotionale Stumpfheit und Symptome des Wiedererlebens (Flashbacks), die sich bei vielen Soldaten zeigten, die von der Westfront zurückkehrten. Damals wurde ihre Erkrankung nicht selten als eine allgemeine Charakterschwäche definiert.3 Darin zeigt sich bereits eine sozialdarwinistische Sicht auf das Leiden, die das Überleben des Fronteinsatzes in die Nähe eines sozial verwerflichen Zustandes rückt. Zur Diagnose und Behandlung der Symptome der betroffenen Soldaten stand in der Regel kein qualifiziertes Personal, das über psychiatrische und psychologische Kompetenzen verfügte, zur Verfügung.4 Häufig kamen fragwürdige Therapien zum Einsatz, die mit elektrischen Stromstößen, Röntgenbestrahlungen in Dunkelkammern, wochenlanger Isolation oder fingierten Operationen arbeiteten. Die Therapie sollte schrecklicher als das vorher Erlebte sein, um eine schnelle Rückkehr an die Front zu ermöglichen.5 Die behandelnden Ärzte waren im zeitgenössischen medizinischen und ideologischen Denken stark verwurzelt und konnten in der Regel keine angemessene Behandlung anbieten.6 Oft galten psychisch Erkrankte als Menschen vom ethischen Tiefstande, die Feigheit und Simulation dem vaterländischen Dienst an der Front vorziehen würden. So hieß es in damaligen zeitgenössischen Beurteilungen: Die besten werden geopfert, die körperlich und geistig Minderwertigen, Nutzlosen und Schädlinge werden sorgfältig konserviert, anstatt dass bei dieser günstigen Gelegenheit eine gründliche Katharsis stattgefunden hätte, die zudem durch den Glorenschein des Heldentodes die an der Volkskraft zerrenden Parasiten verklärt hätte.7

2 Vgl. Zimmermann, Peter / Hahne, Hans-Heiner / Bieshold, Karl-Heinz / Lanczik, Mario: Psychogene Störungen bei deutschen Soldaten des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Eine vergleichende Betrachtung unter psychotraumatologischen Gesichtspunkten. In: Fortschritte der Neurologie – Psychiatrie 73, 2005, H. 2, S. 91 – 101. 3 Vgl. Bonhoeffer, Karl: Psychiatrie im Krieg. In: Deutsche Medizinische Wochenzeitschrift 40, 1919, H. 40, S. 1777 – 1779. 4 Vgl. Nesselhauf, Jonas: Der ewige Albtraum. Zur Figur des Kriegsheimkehrers in der Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Paderborn: Fink 2018, S. 42. 5 Seidler, Günter: Einleitung: Geschichte der Psychotraumatologie. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Heidelberg: Springer Medizin 2013, S. 8. 6 Bald, Detlef: Soldaten im Abseits. Zum Umgang mit psychisch Kranken in der Weimarer Republik. In: Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik 159, 2012, H. o. A., S. 8 – 15. 7 Nonne, Max: Therapeutische Erfahrungen an den Kriegsneurosen in den Jahren 1914 bis 1918. In: Handbuch der ärztlichen Erfahrung im Weltkriege 1914/1918. Hrsg. von Karl Bonhoeffer. Leipzig: Barth 1922, S. 112.

Posttraumatische Belastungsstörung in Erich Maria Remarques „Josefs Frau“ 

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Diese Einschätzungen bilden, trotz der Vorlage erster neurologischer Erkenntnisse zu Traumatisierungen8, die damals vorherrschende Meinung gegenüber traumatisierten Soldaten ab. Aus der Sicht der militärischen Führung waren nur physische Verletzungen als tatsächliche Einschränkung der Kriegstauglichkeit zu betrachten. Dazu passt auch, dass das Militär versuchte, die massenhafte Erkrankung der Soldaten herunterzureden und den öffentlichen Diskurs zu vermeiden. Die zahlreichen traumatisierten Soldaten sollten durch eine offizielle Anerkennung ihrer Leiden, die Moral an der Front und in der Heimat nicht negativ beeinflussen. Dabei war das Auftreten von Traumata keine Neuheit. Das seelische Leiden an den Folgen eines Krieges ist ein kulturinvariantes Phänomen, doch waren die Konzeptualisierungen von psychischen Störungen stark an den jeweiligen normativen Diskurs gebunden. In diesem Zusammenhang ist es besonders interessant, literarische Konfigurationen einer PTBS in Augenschein zu nehmen, die einen genauen und sensiblen Umgang mit dem Trauma fordern.

2. Remarques literarische Darstellung einer PTBS Die Erzählung „Josefs Frau“ von Erich Maria Remarque wurde 1931 in der Zeitschrift Collier’s Weekly veröffentlicht. Sie bietet ein eindrückliches Beispiel für den literarischen Umgang mit traumatischen Erlebnissen. In Deutschland wurde die Erzählung erst spät wiederentdeckt und erschien 1990 in dem Erzählband „Der Feind“9, welcher heute als eine wesentliche Ergänzung des Gesamtwerks von Remarque gilt. Er thematisiert die zentrale Frage, die Remarques literarisches Schaffen motiviert: Was macht der Krieg mit dem menschlichen Leben? Der aggressive Eingriff des Krieges in das menschliche Leben ist letzten Endes auch immer eine Frage der traumatischen Wirkungsdimensionen, die er auf den Menschen hat. Hier spielt die PTBS als ein Massenphänomen des 1. Weltkrieges eine zentrale Rolle. Die Medizin klassifiziert die PTBS als verzögerte und protrahierte Reaktion auf schwere Belastungen und außergewöhnliche Bedrohungen unter der Kennnummer ICD 10, F43.1.10 Einige der typischen Merkmale sind: Nachhallerinnerungen (Flash-

8 Vgl. Oppenheim, Hermann: Die traumatischen Neurosen nach den in der Nervenklinik der Charité in den letzten 5 Jahren gesammelten Beobachtungen. Berlin: August Hirschwald 1889. 9 Remarque, Erich Maria: Der Feind. Sämtliche Erzählungen zum 1. Weltkrieg. Hrsg. von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014 [1959] [im Folgenden unter der Sigle „F“ im Text.] 10 Vgl. ICD: Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen. http://www.icdcode.de/icd/code/F43.1.html (Zugriff am 01.08.2018).

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backs), Albträume, sozialer Rückzug, Teilnahmslosigkeit, Freudlosigkeit, Schlafstörungen und Entfremdungsgefühle.11 An der Symptomatik und Existenz der PTBS besteht heute keinerlei Zweifel, doch deckt die medizinische Perspektive nur eine Seite des Phänomens Trauma ab. Ein umfassendes Verständnis desselben kann nur gelingen, wenn sowohl die biologisch-materielle als auch die soziale und kulturelle Seite der menschlichen Existenz bedacht wird.12 In diesem Zusammenhang kommt der literarischen Auseinandersetzung eine besondere Rolle zu. Sigrid Thielking schreibt einleitend in dem Band „Kulturvermittlung und Öffentliche Didaktik“: „Oftmals kann Literatur eine präzise Sprache für etwas finden, das sonst ungesagt bliebe.“13 In der literarischen Konfiguration liegt also ein Mehrwert, wenn vielseitige Perspektiven auf ein gesellschaftliches Phänomen gesucht werden, um sie fassbar, verstehbar, gar erlebbar für den Rezipienten zu machen. Außerdem vermag Literatur dem Unausgesprochenen in Krisen, Umbrüchen oder traumatischen Erfahrungen einen Erfahrungsraum zu verschaffen, „in dem die Literatur Themen aufgreift und Überlegungen und Entscheidungen kommunikativ zu verflüssigen hilft. Sie knüpft damit an kollektive und individuelle Herausforderungen an und zeigt Erinnerungskulturen und Gegenwartsentwicklungen auf.“14 Remarque, der selbst Soldat an der Westfront war, greift die gesellschaftlichen und individuellen Konsequenzen des 1. Weltkrieges literarisch auf. Das Schreiben erscheint ihm als eine Notwendigkeit, die er bestärkt: „Ich habe den Krieg für meine literarische Arbeit gebraucht.“15 So versucht er eine kommunikative Verflüssigung des Phänomens PTBS zu erreichen, indem er den Offizier Josef Thiedemann, einen Kriegsheimkehrer, als Betroffenen darstellt. Jener wurde an der Westfront in einem Unterstand mit ein paar anderen Soldaten verschüttet und er überlebte nur, weil sich ein Holzstück vor ihn schob und ihn dadurch vor dem Zerquetschen bzw. Ersticken rettete.

11 Für ein ausführliches Systemcluster vgl. Maercker, Andreas: Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Heidelberg: Springer Medizin 2013, S. 13 – 32. 12 Vgl. Röhrs, Steffen: Körper als Geschichte(n). Geschichtsreflexionen und Körperdarstellungen in der deutschsprachigen Erzählliteratur (1981 – 2012). Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, S. 83 (Epistemata Literaturwissenschaft; Bd. 864). 13 Thielking, Sigrid / Dannecker, Wiebke: Kulturvermittlung und Öffentliche Didaktik – zum Auftakt. In: Öffentliche Didaktik und Kulturvermittlung. Hrsg. von Wiebke Dannecker und Sigrid Thielking. Bielefeld: Aisthesis 2012, S. 10. 14 Thielking, Sigrid: „Wir sind mit Grund überzeugt, daß ein Leben und eine Gesellschaft ohne Literatur und Kunst arm sind.“ Literatur als lebenslange Vermittlerin von Kulturbewusstheit und Öffentlicher Didaktik. In: Öffentliche Literaturdidaktik. Grundlegungen in Theorie und Praxis. Hrsg. von Christine Ott und Dieter Wrobel. Berlin: Erich Schmidt 2018, S. 44. 15 Wagner, Klaus: Remarque. Weltbürger wider Willen. In: Der Spiegel 2, 1952, H. 2, S. 22.

Posttraumatische Belastungsstörung in Erich Maria Remarques „Josefs Frau“ 

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Aber Thiedemann erkannte niemanden – nicht einmal seine Frau […]. Er war im Juli 1918 von einem Granatwerfer verschüttet worden, als er mit ein paar Kameraden im Unterstand saß. […] Ein Krankenträger rüttelte ihn an der Schulter […]. Da seufzte er und brach zusammen. […] Er hatte offenbar einen schweren Schock erlitten, und fast ein Jahr wechselte er von einer Nervenklinik zur anderen. Dann gelang es seiner Frau schließlich, […], ihn nach Hause zu bekommen. (F, 50)

Remarque bezieht sich bereits am Beginn der Erzählung auf Aspekte der sogenannten Buried Alive Neurosis, die als ein traumatisches Erlebnis gilt und eine PTBS verursachen kann. Der emotionale Überflutungszustand Thiedemanns, begründet durch diesen externen Impuls, wird deutlich. Das knappe Entrinnen vor dem Tod ist der Ursprung erster sozialer Rückzugstendenzen des Offiziers. Jenen verleiht Remarque ein besonderes Gewicht, wenn er sie vor die eigentliche Schilderung der genauen Umstände des Granateneinschlags setzt. Somit zeigt er bereits in den ersten Sätzen der Erzählung die lange Wirkungsdauer sowie die einschneidenden Konsequenzen der traumatischen Erfahrung an. Ebenso wird auf die mangelnde medizinische Unterstützung verwiesen. Erst auf Bestreben seiner Frau Anna entkommt Thiedemann der Behandlung in der Nervenklinik. Die Vorkommnisse dort verbleiben in Leerstellen, einzig belegt bleibt die Wirkungslosigkeit etwaiger Therapien. An einer anderen Stelle der Erzählung greift Remarque dieses Motiv wieder auf, wenn er einen gut bezahlten Arzt beschreibt, der Thiedemann nach einjähriger Behandlung als unheilbar diagnostiziert. Thiedemanns Frau bezahlt zwar den Arzt, aber nimmt seine Diagnose nur ungerührt zur Kenntnis. Die Wirkungslosigkeit der schulmedizinischen Bestrebungen bleibt ihr nicht verborgen und sie gibt sich keinen Illusionen hin (F, 52). Thiedemann ist scheinbar lediglich physisch in die Heimat zurückgekehrt, während seine Persönlichkeit in einer weitreichenden Veränderung begriffen zu sein scheint. So erkennt ihn sein Hund zwar wieder, doch begreift selbst jener die tiefgreifenden Eingriffe in Thiedemanns Sein. Es heißt: „Der Hund, der ihn erst aufgeregt beschnüffelt hatte, legte sich wieder neben den Ofen und winselte. Er leckte ihm nicht die Hände und sprang auch nicht an ihm hoch.“ (F, 50) Thiedemann erscheint als Fremder in seiner alten Heimat, eine wirkliche Ankunft gelingt ihm nicht. Das Trauma hält ihn im Krieg fest. Das wird deutlich, wenn Remarque die Darstellung der PTBS fortsetzt: Thiedemann drehte den Kopf erst hierhin, dann dorthin, als suche er etwas. Aber dann sank er wieder zurück und blieb wieder teilnahmslos, sogar als […] seine Mutter hereinkam. […] Nachts litt er oft an Erstickungsanfällen. Dann sprang er auf und schlug um sich und schrie. […] Ab und zu, wenn er zufällig ein Stück frisch gesplittertes, helles Holz sah, weinte er und war nicht leicht zu trösten (F, 51).

Neben Thiedemanns Affektverkümmerung, er zeigt sich gegenüber seinem engsten Familienumfeld entrückt, verweist der Erzähler auf die Symptomatik der Nachhallerinnerungen, die oft im Zusammenhang mit einer PTBS auftreten. Er ist an das

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Erlebte gebunden, das sich in Bildern, Geräuschen oder anderen Sinneseindrücken in seinen wachen Bewusstheitszustand drängt oder ihn im Schlaf heimsucht. Es kommt zu einem emotionalen Überflutungszustand, der ihn zurück in den verschütteten Unterstand bringt. Das frisch gesplitterte Holz reaktiviert das Trauma sensorisch und versetzt Thiedemann in das akute Bedrohungsszenario zurück. Darüber hinaus werden auch in seinen Träumen emotionale Erinnerungen an das traumatische Erlebnis offengelegt. Das ist besonders dramatisch, da Thiedemann, typisch für betroffene Kriegsteilnehmer, an periodisch wiederkehrenden Traumatisierungen leidet.16 Er durchlebt die Schrecken des Frontkampfes immer wieder in einem assoziativen Netzwerk bzw. die Aktivierung einer sensorisch-perzeptuellen Repräsentation. Die Erinnerung wird nicht gewusst, sie wird wiedererlebt. Auch das illustriert Remarque eindrücklich in der Schilderung von Thiedemanns Verhalten, wenn er ein paar Kinder bei der Suche nach Heidelbeeren begleitet: Aber kaum hatten sie den Schutz der letzten Bäume hinter sich gelassen, als er unruhig wurde. Verängstigt und aufgeregt rief er den Kindern etwas zu und warf sich auf den Boden. […] Er zog den Kleinen neben sich auf die Erde herunter und ließ sich nicht überreden, aufrecht weiter über das offene Feld zu gehen. Er wollte kriechen und bückte sich dauernd. […] Und als sie [die Kinder – S.P.] sich über die Felder davonmachten, rief Thiedemann äußerst beunruhigt hinter ihnen her und machte die Augen zu, als ob gleich etwas Schreckliches passieren würde (F, 51).

Thiedemann erkennt in der freistehenden Wiese einen Gefahrenort, die so zu einem retraumatisierenden Ort wird. Risikopunkt: Er denkt an den Stellungskrieg und die Wiese wirkt als sensorischer Katalysator, während die kognitiven sowie emotionalen Elemente eine physiologische Reaktion hervorrufen. Thiedemann durchlebt einen Flashback. Das Trauma hat ihn besetzt und macht ihm zum Spielball unkontrollierter Gedächtnisprozesse. Remarque belässt seine Figur jedoch nicht in dieser tristen Aussichtlosigkeit auf Heilung. Mit Thiedemanns Frau Anna konstruiert er eine Figur, die intuitiv therapeutische Maßnahmen einleitet. Thiedemann spricht unverständliche Worte und scheint in seinen Äußerungen kontextlos zu sein. Es besteht eine sprachliche Mauer zwischen ihm und seiner Frau, die er nicht überwinden kann. Sie versucht ihn jedoch wiederholt in ein Gespräch über das Erlebte zu bringen. Der Erzähler berichtet: „Sie horchte auf ihn und stellte Fragen und sprach ihn an. Er antwortete nicht, wurde aber ruhiger […]“ (F, 53). In dieser Schilderung finden sich zwei Aspekte, die einen therapeutischen Umgang mit einer PTBS anbahnen. Thiedemann leidet unter der Nichterzählbarkeit des traumatischen Erlebnisses. Er verfällt in Vermeidungstendenzen und scheint sich

16 Neuner, Frank / Schauer, Margarete / Elbert, Thomas: Narrative Exposition. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Heidelberg: Springer Medizin 2013, S. 333.

Posttraumatische Belastungsstörung in Erich Maria Remarques „Josefs Frau“ 

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keiner narrativen Struktur mehr bedienen zu können. In Anbetracht des Entstehungszeitpunktes der Erzählung ist es bemerkenswert, dass Remarque Thiedemanns Frau eine erste imaginative Exposition durchführen lässt. Sie stellt Fragen zum Erlebten und unternimmt den Versuch eines Furchtabbaus. Dabei ermutigt sie ihn indirekt, sich auf das ehemals vertraute Umfeld zu beziehen. Ein Expositionsverfahren aktiviert die Furchtstruktur und bietet die Möglichkeit, korrigierende Informationen, z. B. durch gezielte Nachfragen zu integrieren. Das Ziel des Verfahrens ist eine Modifizierung der Erinnerungsstrukturen. Als Ergebnis dieser Modifizierung kann es zu einer Abnahme der PTBS-Symptome kommen.17 Thiedemann reagiert allerdings nicht auf die imaginative Exposition seiner Frau. Er leidet unter einer Sprachlosigkeit, die ein zentrales Merkmal seines Traumas darstellt. Im versuchten Gespräch über das Erlebte steigt seine Belastung extrem. Es drohen sich Therapiehürden aufzubauen. In diesen Momenten versucht Anna Thiedemann, die Überregung ihres Mannes zu regulieren, indem sie sich gegen ihn drückt und ihn die Wärme ihres Körpers spüren lässt. (vgl. F, 52). Die Konfrontation mit dem traumatischen Erlebnis wird unterbrochen. Sie setzt ein Verfahren ein, das heute in zahlreichen Therapiemanuals zu finden ist.18 Darüber hinaus gibt sie nach dieser ersten Erfahrung nicht auf, sondern betrachtet den Rückzug ihres Mannes als ersten Schritt auf einen wirksamen Weg der Heilung. Thiedemann ist in einer Ambivalenz gefangen. Einerseits möchte er seine schmerzhaften Erinnerungen verdrängen, andererseits hegt er den Wunsch, sich endlich über das Erlebte auszutauschen. Anna Thiedemann stellt ihre therapeutischen Bemühungen nicht ein. Ohne jegliche medizinische Kenntnis entscheidet sie sich für ein Vorgehen, das heute als Exposition in vivo bezeichnet wird. Diese Exposition ist unter anderem an Situationen und Orte gebunden, die von der traumatisierten Person aufgrund traumabezogener Ängste oder Unsicherheitsempfindungen vermieden werden.19 Anna Thiedemann befragt einen ehemaligen Kameraden ihres Mannes und lässt sich den Ort der alten Stellungen detailliert erläutern. Sie strebt eine Rückkehr ihres Mannes zum Ort des Traumas an. Auch der ehemalige Kamerad zeigt sich an einer Rückkehr zum Ort des Krieges interessiert, doch scheint mit inneren Widerständen belegt. Er sagt: „Wir würden alle gern einmal wieder hinfahren.“ (F, 54). Eine mögliche Option scheint dies für ihn

17 Hembree, Elisabeth / Rothbaum, Barbara / Foa, Edna: Expositionsfokussierte Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker. Heidelberg: Springer Medizin 2013, S. 225. 18 Boss, Anne: Kognitive Verhaltenstherapie nach chronischer Traumatisierung. Ein Therapiemanual. Göttingen: Hogrefe 2005, S. 163. 19 Hembree / Rothbaum / Foa, Expositionsfokussierte Therapie der posttraumatischen Be­las­tungs­ störung. 2013, S. 340.

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jedoch nicht zu sein, was auf ein etwaiges Trauma bzw. die massenhafte Traumatisierung der Soldaten verweist. Anna Thiedemann ist von der Notwendigkeit eines erneuten Aufsuchens der Front fest überzeugt. Auf die Frage nach dem Sinn der Reise erwidert sie nur: „Es muss sein.“ (F, 54). Thiedemann selbst scheint auf die geplante Rückkehr an die ehemalige Front zunächst negativ zu reagieren. Es heißt: „Die Reise war schwierig. Vor der Fahrt bekam Thiedemann Kopfschmerzen […].“ (F, 54). Die Verschlechterung seines körperlichen Zustandes, in Erwartung des Wiederaufsuchens der Front, passt zu typischen Reaktionsmustern von PTPSPatienten. Ein wesentliches Merkmal der PTBS besteht in der Vermeidung der Beschäftigung mit traumatischen Erinnerungen.20 Dass Thiedemann den, im heutigen Sinne, Therapievorschlag, annimmt, passt dennoch zu den Ergebnissen von Untersuchungen zur Therapieakzeptanz von PTBS-Patienten.21 Remarque zeichnet diese Exposition in vivo bei Thiedemann an zwei Begebenheiten nach. Er schreibt: Thiedemann blieb vor einem Unterstand stehen und beugte sich hinunter. […] Ein paar verrottete Bretter, […], ragten aus dem Eingang heraus. Thiedemann untersuchte sie mit den Händen, tastend, vorsichtig. „Eine Explosion!“ rief der Dolmetscher und lief hinüber. „Sie haben beim Graben eine Granate erwischt“ [Der Erzähler bezieht sich hier auf Metallsucher, die entfernt stehen und denen das Unglück passiert – S.P.] […] Der Schrei kam von Thiedemann. Er lag flach auf dem Boden, als hätte er sich wie verrückt in Deckung geworfen. Seine Schultern hoben sich, und er brüllte in die Erde hinein. Der Dolmetscher sah ihn erstaunt an und wollte ihn aufheben. Aber die Frau hielt ihn zurück. […] Dann setzte sie sich auf die Stufen des Unterstands und wartete (F, 57 f.).

Zunächst scheint sich die Hoffnung Anna Thiedemanns zu erfüllen. Josef Thiedemann kann die Erinnerung an das Erlebte aktivieren, ohne direkt in einen unkontrollierten Angstzustand zu verfallen. Er scheint keine akute Bedrohung zu spüren und sich am Beginn einer kontextuellen Repräsentation zu befinden, die das Erlebte in einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang bringt. Doch dann explodiert der Blindgänger, der ihn akut in das Trauma zurückversetzt. Nach einiger Zeit scheint er jedoch die Situation nicht mehr maßgeblich unter den Zwängen der PTBS-Symptome zu erleben: Die Dämmerung brach herein, und Thiedemann wurde ganz still. Er lag jetzt auf dem Boden wie damals […]. Thiedemann tastete über den Boden. Seine Hände lockerten ein Stück der Holzverschalung. […] Dann saß er da und strich immer wieder mit den Händen über das Gras. Er hob den Kopf und drehte sich langsam hin und her. […] Ein Vogel fing an, über den Köpfen der beiden Menschen zu singen. Thiedemanns Hände beruhigten sich. „Anna –“ sagte er, leicht erstaunt. […] Ein paar Wochen später konnte Thiedemann den Hof wieder übernehmen (F, 58 f.).

20 Ebd., S. 233. 21 Ebd.

Posttraumatische Belastungsstörung in Erich Maria Remarques „Josefs Frau“ 

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Die Exposition in vivo scheint bei Thiedemann Wirkung zu zeigen. Er kann sich an das Erlebte erinnern, ohne in eine lähmende Angstreaktion zu verfallen. Die Explosion des Blindgängers tat dieser Wirkung keinen Abbruch. Das entspricht auch der heutigen Einschätzung der Psychotraumatologie, die zur Vermeidung einer chronischen PTBS die Angstaktivierung im Rahmen der Behandlung als zentralen Indikator für den Therapieerfolg ansetzt. Thiedemann erlebt die Konfrontation mit dem Trauma in einem sicheren Rahmen. Er stabilisiert sich und baut ein autobiographisches Gedächtnis auf, das es ihm erlaubt, das Erlebte zu kontextualisieren. Die neuen Erfahrungen an der ehemaligen Front sind mit den pathologischen Elementen der traumabezogenen Erinnerung nicht zu vereinbaren und ermöglichen eine Neustrukturierung. Ist die plötzliche Wendung in der Erzählung Remarques, im Sinne der schnellen Normalisierung seines anschließenden Lebens, mindestens ‚unterkomplex‘, so belegen heutige Studien, dass Expositionsverfahren „eine sowohl statistisch signifikante als auch klinisch relevante Verminderung der PTBS-Symptomatik (und meist auch von Depressivität und Angst) von der Prä- zur Postmessung mit standardisierten Maßen“22 bewirken können. Josef Thiedemann kehrt nun auch psychisch heim. Dies lässt sich auch aus dem Verweis des Erzählers auf das Singen des Vogels ablesen, den Thiedemann bewusst wahrnimmt. Nesselmann spricht im Kontext der literarischen Darstellung von Heimkehr und Ankunft von einem sich öffnenden Blick für die Natur23, der eine beginnende Verarbeitung der Vergangenheit anzeigt. Thiedemann löst sich von seinem Trauma und erfährt den Beginn einer gesellschaftlichen Reintegration.

3. Interdisziplinäre Potenziale der literarischen Darstellung einer PTBS In der Analyse wurde deutlich, dass Remarque die Ursachen, Symptomatik und potentielle Therapie einer PTBS literarisch darstellt. Er nimmt eine künstlerische Konfiguration des Traumas vor. Remarques Wahl, eine PTBS literarisch darzustellen, unterliegt einer besonderen Motivation: Das Schreiben selbst ist als ein Akt der Narration zu betrachten, den Remarque wählt, um das eigene Erlebte darzustellen und zu verarbeiten. Im Sinne einer interdisziplinären Perspektive ist

22 Hembree / Rothbaum / Foa, Expositionsfokussierte Therapie der posttraumatischen Belas­tungs­ störung. 2013, S. 229. 23 Vgl. Nesselhauf, Der ewige Albtraum. 2018, S. 269.

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eine kurzzeitige Entfernung von dem Credo der strikten Trennung zwischen Autor und literarischer Figur notwendig. In diesem Kontext kann jedoch die literarische Narration als eine Narrative Exposition verstanden werden. Remarque stellt in systematischer Weise und mit einer bestechenden Genauigkeit traumatisches Erleben dar. Es ist nicht auszuschließen, dass es sich um einen literaturtherapeutischen Versuch der Artikulation bzw. Kontextualisierung handelt, was in diesem Fall auf eine autodiegetische Erzählperspektive hinweisen könnte. In der Psychotraumatologie wird sowohl der Geschichte als auch der literarischen Erzählung ein besonderer Stellenwert zugesprochen. Geschichten sind für den Menschen prägend für sein Erleben und Verhalten. Sie organisieren die Informationen über das Leben einer Person und bestimmen die Perspektiven eines Menschen auf sein Leben. Neuner betont: „Narrative Therapie bedeutet, diese Geschichten, die jeder im Inneren trägt, hervorzuheben, sie zu verstehen und sie, falls uns die bisherige Interpretation schadet, anders zu erzählen.“24 In diesem Zusammenhang kommt der Literatur eine besondere Fähigkeit zu. Sie kann sich experimentell an die Krisen und unheilvollen Erfahrungen des Menschen annähern. Die PTBS wird über ein literarisches bzw. literaturtherapeutisches Verfahren künstlerisch konfiguriert. Die literarische Verarbeitung ermöglicht die Narration und beweist ihren psychotraumatologischen sowie gesellschaftlichen Mehrwert. Die Literatur verleiht dem Individuum Sprache und hilft, das erlebte Trauma zu verbalisieren. Durch die Fiktionalisierung erschließen sich Wege zum eigenen Selbst, die vorher nicht begangen werden konnten. Über die Fiktion entsteht Distanz zur eigenen Betroffenheit, was wiederum eine Kontextualisierung des erlebten Traumas erlaubt. Dabei muss sich die Literatur nicht für die fiktive Darstellung rechtfertigen, sondern begreift den Wert der Problematisierung einer traumatischen Erfahrung unabhängig von einem tatsächlichen Geschehensbericht. Es ist also nicht entscheidend, ob es den Soldaten Thiedemann wirklich gab oder wie sich das tatsächliche Schicksal gestaltet hat. Entscheidend ist seine Rolle als Stellvertreter für eine Masse betroffener Soldaten, die über die literarische Figur kommunikative Ressourcen abrufen kann. Die Perspektive des Soldaten und seiner Angehörigen auf das Trauma werden über die literarische Verarbeitung legitim. Der fiktionale Text bietet einen Experimentalraum und ein Irritationspotenzial für ein gesellschaftlich relevantes Phänomen.25 Darüber hinaus schafft es die Literatur, einen Dialog mit dem Leser aufzubauen. Sie macht das Trauma relevant und zeigt gesellschaftliche Herausforderungen an. Dazu zählt auch die PTBS, da die ‚Nichterzählbarkeit‘ von traumatischen

24 Neuner, Frank: Stabilisierung von Konfrontation in der Traumatherapie – Grundregel oder Mythos? In: Verhaltenstherapie 18, 2008, H.2, S. 108 – 118. 25 Vgl. Nesselhauf, Der ewige Albtraum. 2018, S. 260.

Posttraumatische Belastungsstörung in Erich Maria Remarques „Josefs Frau“ 

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Erlebnissen auch immer ein Spiegel der gesellschaftlichen Erwartungshaltungen und Vermeidungsreflexe darstellt. Die PTBS ist im gesellschaftlichen Diskurs ein vernachlässigter und oft unerwünschter Gegenstand der Diskussion. Eine seelische Unverwundbarkeit gilt, besonders für Soldaten, noch immer als eine erwartete Norm und Selbstverständlichkeit. Ein seelisches Leiden wird häufig mit unzureichender Männlichkeit oder einer ungenügenden Abhärtung begründet. Auch heute fühlen sich heimkehrende Soldaten mit ihren Erlebnissen oft allein gelassen. Die Öffentlichkeit vermeidet einen Diskurs über die Problematik von auftretenden traumatischen Störungen. Dabei stellte bereits Remarque mit Blick auf heimkehrende Soldaten die entscheidenden Fragen: „Was wird aus uns werden? Wie werden wir nachher leben können? Wie wird es werden, wenn man uns wieder ins Leben hineinlässt, nachdem wir uns mit dem Tode auseinandergesetzt haben?26 Dies sind Fragen, die bis heute periodisch auftauchen, denn auch im 21. Jahrhundert kommen auf einen körperlich verletzten sechs traumatisierte Soldaten.27 Die Literatur kann genau für solche Fragen sensibilisieren und eine vielseitige Betrachtung dieser Problembereiche anregen. Narrative Texte entwerfen Welt- und Werteordnungen, die mit den Konzepten der Leser konformgehen oder aber brechen. Jedenfalls ermöglichen sie das Nachvollziehen eines Phänomens, das sich sonst durch Sprach- und Zeichenlosigkeit auszeichnet. Die Fiktionalität der Literatur bietet Platz, sich den oben genannten Fragen in einem geschützten Raum zu stellen und gesellschaftliche Transformationen anzudeuten bzw. auszuhandeln. Die eigenen Wertehaltungen sowie deren gesellschaftliche Reflexionsflächen werden so zur Disposition gestellt, denn im Grundsatz gilt: „All naratives are didactic.“28 Die Literatur wirkt so in normative Aushandlungsprozesse der Gesellschaft hinein. Sie rückt das betroffene Individuum in den Fokus des gesellschaftlichen Diskurses. Gerade die Figur des traumatisierten Kriegsheimkehrers taucht, unabhängig vom dem analysierten Beispiel, vielfältig in der Geschichte der Literatur auf. Neuere Untersuchungen sehen im traumatisierten Kriegsheimkehrer eine kollektive Sozialfigur. Nesselhauf schreibt in diesem Zusammenhang: Damit ist die literarische Figur des Kriegsheimkehrers insgesamt eine kollektive Sozialfigur, programmatisch für die vergangenen 100 Jahre, anhand derer sich gesellschaftlicher Umgang und diskursives Wissen verhandeln lassen, eine Symbolfigur für die Wahrnehmung und das

26 Luft, Friedrich: Das Profil. Gespräch mit Erich Maria Remarque (1963). In: Ein militanter Pazifist. Texte und Interviews. Hrsg. von Thomas F. Schneider. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1998, S. 121. 27 Vgl. Metz, Karl Heinz: Geschichte der Gewalt. Krieg – Revolution – Terror. Darmstadt: Primus 2010, S. 75. 28 Greiner, Thomas / Abraham, Ulf: Die Lehre der Literatur oder Was Literaturlehrende von ihrem Gegenstand lernen können. In: Sprache und Literatur 33, 2002, H. 1, S. 58.

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Verständnis der menschlichen Komponente des Krieges, innerhalb des Textes ebenso eine Reflektionsfigur, die sich ihrem eigenen Zustand und ihrer literarischen Tradition metareflexiv bewusst ist, und in alledem: Eine transnationale Konstante in der Literaturgeschichte, die sich in verschiedensten Erscheinungsformen durch das 20. und 21. Jahrhundert zieht und an deren Diskurs sich einer diachronen Perspektive Veränderungen und Entwicklungen ablesen lassen.29

Hier wird auf eine Konzeption von kultureller Praxis und Reflexion verwiesen, die auch über eine geschichtliche Komponente den Auf- und Ausbau eines historischen Bewusstseins30 fördert. Die Literatur hat die Fähigkeit, als Vermittlerin und Debattensetzerin in die Gesellschaft hineinzuwirken. Darüber hinaus ist ihr ein therapeutisches Potenzial inhärent. Sie kann Phänomene wie die PTBS fassbar, verstehbar und erlebbar machen. Das betrifft auch die historische Dimension und die sich daraus entwickelnden Vorstellungen eines Traumas, die seine heutige Interpretation in kulturellen Kontexten prägt. Dies wird exemplarisch an Remarques Erzählung „Josefs Frau“ deutlich. Nicht zuletzt ist er es selbst, der die gesellschaftlichen Wirkungsabsichten seines literarischen Schaffens pointiert darlegt und betont: „Man kann sich hinsetzen und sein wenig, ein kleines bisschen dafür tun und daran arbeiten. Vielleicht hilft es auch etwas.“31 Mit dieser Aussage zeigt Remarque sich überaus anschlussfähig für Fragen einer kulturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturdidaktik32, die Aspekte des eigentlichen Mehrwerts von Literatur für den Menschen, auch in gesellschaftlichen Kontexten, diskutiert. Remarques literarische Konfiguration einer PTBS zeigt, dass sich dieser Diskurs weit über die klassischen Grenzen des Faches erstreckt und vielversprechende Synergien, z. B. mit der Psychotraumatologie, freisetzen kann.

29 Vgl. Nesselhauf, Der ewige Albtraum. 2018, S. 327. 30 Vgl. Ott, Christine / Wrobel, Dieter: Öffentliche Literaturdidaktik. Zum Denkrahmen. In: Öffentliche Literaturdidaktik. Grundlegungen in Theorie und Praxis. Hrsg. von Christine Ott und Dieter Wrobel. Berlin: Erich Schmidt 2018, S. 7. 31 Luft, Das Profil. 1998, S. 133. 32 Vgl. Abraham, Ulf: Literarisches Lernen aus kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leseräume – Zeitschrift für Literalität in Schule und Forschung 2, 2015, H. 2, S. 6.

Carsten Gansel

Das Trauma ‚Stalingrad‘ verarbeiten und neu erinnern – Zur Wiederentdeckung von Heinrich Gerlachs Dokumentarroman „Durchbruch bei Stalingrad“ (1945/2016) und erinnerungstheoretischen Aspekten 1. Vorbemerkung Anfang November 2015 wurde ein Schlusspunkt unter das Nachwort für die Edition der Urfassung von Heinrich Gerlachs wiedergefundenem Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ gesetzt. Damit war eine über Jahre gehende Spurensuche an ihr vorläufiges Ende gelangt. Nach ersten Recherchen am Anfang der 1990er Jahre hatte es nach der Entdeckung des verschollenen Manuskriptes im Militärarchiv von Moskau im Februar 2012 weitere vier Jahre gedauert, um die Odyssee von Heinrich Gerlach durch sowjetische Gefangenenlager und die Geschichte seines Stalingradromans zu rekonstruieren.1 Über die Jahre hatten die Recherchen in den Archiven oftmals geheime Akten zutage gefördert, die es möglich machten, Heinrich Gerlachs Geschichte zu erzählen, die auch in erinnerungstheoretischer Perspektive ein einzigartiges Material zur Verfügung stellt. Nachfolgend kann es nur um einige wenige Aspekte gehen. Anders als zahlreiche filmischen Inszenierungen von Stalingrad insbesondere in den 1950er Jahren – sie sind ein Thema für sich – ist Heinrich Gerlachs Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ (1945/2016) nachweislich autobiographisch grundiert. Gleichwohl hebt Gerlach im Nachwort zu seinem Roman den fiktionalen, also künstlerischen Charakter, seiner Darstellung hervor: Dieses Buch ist ein Roman. Hinter den Trägern der Handlung (soweit sie nicht – wie Feldmarschall Paulus oder General v. Seydlitz – einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden sind) bestimmte Gestalten der Wirklichkeit zu suchen, ist abwegig und könnte zu einem Unrecht gegen Tote und Lebende werden. Dennoch ist in diesem Buch nichts

1 Siehe dazu im weiteren ausführlich Gansel, Carsten: Nach 70 Jahren aus der Kriegsgefangenschaft zurück – Heinrich Gerlachs Roman „Durchbruch bei Stalingrad“ und seine abenteuerliche Geschichte. In: Heinrich Gerlach: Durchbruch bei Stalingrad. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Galiani Verlag: Berlin 2016, S. 519 – 693. https://doi.org/10.1515/9783110683028-018

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„erfunden“. Alles, was die Romanhandlung an Begebenheiten schildert, war irgendwann und irgendwo auf den Schneefeldern vor Stalingrad und in den Trümmern der Stadt einmal Wirklichkeit. Nur mit Ort, Zeit und den beteiligten Personen ist der Verfasser nach eigenem Ermessen verfahren.2

Es ist bekannt: Von den 300.000 Soldaten der 6. Armee kommen 91.000 in Gefangenschaft und nur 6.000 von ihnen werden Jahre später nach Deutschland zurückkehren. Der Autor, Heinrich Gerlach, gehört zu ihnen. Doch zunächst kommt er schwer verwundet in das erste Lager nach Beketowka. Über weitere Stationen gelangt Gerlach schließlich in das Speziallager 27 in Lunjowo bei Moskau. Hier gehört er im September 1943 zu den Gründungsmitgliedern des Bundes Deutscher Offiziere (BDO), der sich mit dem Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD) zusammenschließt. Gerlachs Engagement im Bund Deutscher Offiziere kann nicht verhindern, dass ihm immer wieder die traumatischen Erlebnisse der Katastrophe von Stalingrad vor Augen stehen. Er sieht eine Chance, sich davon zu befreien – im Schreiben! Gerlach beginnt mit Tagebuchnotizen, kommt aber damit nicht voran, weil sich das Geschehen verdichtet, ja im zunehmenden Abstand an Monstrosität gewinnt und die Dringlichkeit der Verarbeitung der Erlebnisse sich ständig steigert.3 Gerlach entscheidet sich daher im Herbst des Jahres 1943 von den tagebuchartigen Einträgen auf die epische Form zu wechseln und zu erzählen. Dazu braucht er Figuren, er braucht Schauplätze, er braucht eine zeitliche Abfolge der Ereignisse. Das alles hat Gerlach, denn mit Stalingrad und der Zerschlagung der 6. Armee ist die histoire, das ‚Was‘ der Darstellung, in gewisser Weise vorgegeben. Ganz im Sinne von Uwe Johnson kann Gerlach sich an die Devise halten, „das Erzählen beginnt, wenn die Geschichte zu Ende ist“. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 8. Mai 1945 setzt er den Schlusspunkt unter seinen Stalingradroman, für den er nur ca. 18 Monate benötigt hat. Im November 1945 – der Zweite Weltkrieg ist seit 6 Monaten beendet – kommt es auf Befehl von Stalin zur Auflösung des Bundes Deutscher Offiziere und des Nationalkomitees. Für Gerlach beginnt eine Odyssee durch verschiedene Gefangenenlager, sein dickes Manuskript, das mit Schusterzwirn zusammengebunden ist, versteckt er im Rucksack und kann es vor dem Zugriff des sowjetischen Geheimdienstes bewahren. In freien Minuten arbeitet er im Geheimen weiter, er streicht, verbessert und ergänzt die Darstellung. Doch im Mai 1949 wird das 614 Seiten starke Manuskript vom Ministerium des Innern beschlagnahmt, alle Versuche,

2 Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad. 2016, S. 515. 3 Siehe Gerlach, Heinrich: Odyssee in Rot. Bericht einer Irrfahrt. Herausgegeben, mit einem Nachwort und dokumentarischem Material versehen von Carsten Gansel. Berlin: Galiani 2017.

Das ‚Trauma Stalingrad‘ verarbeiten – Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“ 

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den Roman zurückzuerhalten, scheitern.4 Als Heinrich Gerlach dann endlich am 21. April 1950 aus der Gefangenschaft entlassen wird, erreicht er den Schlesischen Bahnhof in Berlin ohne das Manuskript. Um freizukommen, hat er einer Zusammenarbeit mit dem russischen Geheimdienst und einer Rückkehr in die DDR zugestimmt. Aber in Berlin angekommen, fährt er sofort in den Westsektor und verweigert jegliche Zusammenarbeit mit den russischen Agenten. Aus Angst vor einer Entführung plant er langfristig, West-Berlin zu verlassen, und nimmt eine Stelle am Gymnasium in Brake / Unterweser an. Hier trifft er zu Ostern 1951 ein und geht sofort an die Re-Konstruktion seines Stalingradromans. Doch er hat das, was man einen „writers block“ nennt. Er schafft es nicht, die episodischen Erinnerungen, die bei ihrer Einspeicherung wie bei ihrem Abruf sehr stark mit Gefühlen verbunden sind – es sei auf zahlreiche Untersuchungen von Hans J. Markowitsch verwiesen –, wieder aufzurufen. Die Verbindung zwischen „subjektiver Zeit, autonetischem Bewusstsein und dem sich erfahrenden Selbst“ kommt nicht zustande.5 Wie sich die Situation ausnimmt, hatte Gerlach in einem ersten Brief an einen Psychiater, bei dem er anfragt, ob er ihm bei der Wiederherstellung seines Romans helfen könne, im Januar 1951 beschrieben: Ich habe mich an den Versuch einer Rekonstruktion gemacht, aber auch dieser Versuch ist fehlgeschlagen. Bei jedem Versuch schiebt es sich wie ein Schleier davor. Es geht nicht! Bis auf einen Abschnitt, der mir besonders am Herzen lag, die Schilderung des Weihnachtsabends 1942. Diesen Abschnitt konnte ich in den Weihnachtstagen des vorigen Jahres (1950) in starker Gemütsbewegung in einer halben Stunde ohne jede Korrektur niederschreiben.6

Gerlach fragt nun bei dem Münchener Spezialisten, Dr. Schmitz, nach, ob der es für möglich halte, „einen ‚Bewußtseinsinhalt‘, wie den geschilderten auf hypnotischem Wege so lebendig werden zu lassen, daß man ihn niederschreiben

4 Siehe ausführlich das Nachwort zur „Odyssee in Rot“: Gansel, Carsten: Widerstandsheld, Vaterlandsverräter, wacher Demokrat und Zeitzeuge? – Heinrich Gerlach, seine Odyssee durch die sowjetischen Gefangenenlager und sein Schicksal in der sich neu formierenden Bundesrepublik. In: ebd., S. 691 – 915. 5 Kühnel, Sina / Markowitsch, Hans J.: Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses. Heidelberg: Springer 2009, S. 54. 6 Dieses Zitat aus dem Brief von Gerlach stammt aus einem Vortrag, den Karl Schmitz zehn Jahre später vor der deutschen Sektion der internationalen Gesellschaft für ärztliche Hypnose in Lindau (3. Mai 1962) gehalten hatte und der dann in Folge der Tagung veröffentlicht wurde. Der Beitrag gibt einen guten Einblick in den Ablauf der Therapiesitzungen. Siehe Schmitz, Karl: Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. Bericht über die Wiedererinnerung eines Romans. In: Praxis der Psychotherapie, 8. Jg. (1963), S. 82 – 83, hier: S. 83.

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kann.“7 Dr. Schmitz hatte sofort großes Interesse an einer Therapie von Gerlach. Sein Buch „Was ist – was kann – was nützt Hypnose?“ stand kurz vor der Veröffentlichung und er sah die Möglichkeit, mit einem spektakulären Experiment für die Hypnose als Heilmethode – und natürlich für sich – zu werben.8 Nachdem Sigmund Freud die Hypnose als therapeutisches Verfahren verworfen hatte, begann sie in Deutschland Anfang der 1950er Jahre gerade erst wieder populär zu werden. Gleichwohl warnte Schmitz Gerlach davor, zu große Hoffnungen zu haben. Es handle sich hier um ein „großes hypnotisches Experiment“. Er sehe aber durchaus eine Möglichkeit, „die Erlebnisse, vielleicht vollständig wiedererleben zu lassen“, und von daher würde er den Versuch wagen.9 In einem aufsehenerregenden Prozess gelingt es Heinrich Gerlach unter Zuhilfenahme von Dr. Schmitz die Schreibblockade im Sommer 1951 zu lösen und erneut einen Zugang zum episodischen Gedächtnis zu finden. Die Illustrierte „Quick“ finanziert das Experiment und erwirbt damit das Anrecht, über diesen bis dahin einzigartigen Vorgang zu berichten. Die Sensations-Reportage erscheint in der Ausgabe der „Quick“ am 26. August 1951. Die Schlagzeile, die sich den Lesern in großen Lettern darbietet, lautet: „Ich weiss wieder was war …“. Der Untertitel lüftet dann das sensationelle Geheimnis: „Rußland-Heimkehrer erhält durch Hypnose-Behandlung sein Gedächtnis zurück“.10 Eingeführt wird die Reportage mit dem Verweis auf die Gefangennahme bei Stalingrad, die Odyssee durch Gefangenenlager und das Verwischen der Erinnerungen an diese traumatisierende Zeit: Im achten Jahr seiner Gefangennahme bei Stalingrad, nach Jahren in russischen Kriegsgefangenenlagern, die ihn zermürbt haben, kehrt er in seine Heimat an der Weser zurück. Wie ein grauer Schleier sind ihm die Jahre der Gefangenschaft, immer undeutlicher verschwimmen die Bilder. Ineinander gleiten die Ereignisse, die Jahre, die Landschaften. Verwischen sich. Wie war es doch? Er weiß es nicht mehr.11

7 Ebd. 8 Siehe Schmitz, Karl: Was ist – was kann – was nützt Hypnose? Der Weg zur inneren Freiheit aus Experimenten, Erfahrungen und menschlichen Dokumenten. München: J. F. Lehmanns Verlag 1951. 9 Schmitz, Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. 1963, S. 83. 10 Ich weiss wieder was war. Russland-Heimkehrer erhält durch Hypnose-Behandlung sein Gedächtnis zurück. In: Quick vom 26.08.1951, S. 1109 – 1111, 1131, hier: S. 1109. 11 Ebd.

Das ‚Trauma Stalingrad‘ verarbeiten – Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“ 

Abbildung 1: Erste Seite der Reportage in der Illustrierten „Quick“ vom 26. August 1951.

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Dr. Schmitz hatte Gerlach durch Hypnose erneut nach Stalingrad und in die Situation des Schreibens im Gefangenenlager versetzt, wobei auch die „Gefühle von damals“ in der Gegenwart reaktiviert werden. Schmitz notiert: Das Experiment verlief durchaus erfolgreich: Drei Wochen lang, täglich zweimal je zweieinhalb bis drei Stunden, versetzte ich Gerlach in tiefe Hypnose und schickte ihn gewissermaßen wieder nach Stalingrad zurück. Ich ließ ihn die Geschehnisse seines Buches, die er vollkommen vergessen hatte, wieder erleben.12

Dass die Darstellung von Schmitz zutreffend ist, bestätigt eine Selbstbeobachtung Gerlachs nach der Hypnosesitzung, die ich in einem Münchener Archiv 2014 finden konnte: Zu Beginn der Versuche war ich voller Zweifel. Diese Zweifel traten in der Versenkung in Erscheinung in Form von Gedankenfetzen, die seitlich als farbige Blitze in die Bewußtlosigkeit hineinflackerten, einmal auch in Gestalt eines kichernden Kobolds, der vom Hinterkopf her rief: „Ätsch, es ist ja alles Quatsch!“ – Während der Versenkung bin ich im Zustand einer Bewußtseinsspaltung. Ich weiß, daß ich bei Dr. Schmitz sitze u. daß er auf mich einspricht, zugleich aber erlebe ich mich in der jeweils durch die Hypnose herbeigeführten Situation der Vergangenheit. Beide Bewußtseinsinhalte wechseln in ihrer Stärke jeweils nach der Tiefe des Schlafes. Einmal (Diesmal) während eines sehr tiefen Schlafes hatte ich das Gefühl, ich hätte mich nur mir selbst herausgehoben … schwebte etwa 50 cm über meinem schlafenden Körper. Meistens erlebe ich die Vorstellungsbilder wieder, die mir seinerzeit beim Schreiben des Buches vorschwebten. Bei Szenen, die stark auf persönlichen Erlebnissen beruhen, werden auch diese Erlebnisse unmittelbar wieder lebendig, z.T. unter starken Gemütsbewegungen. – Diese Erlebnisse setzen sich unmittelbar nach dem Erwachen fort und gewinnen während des Erzählens noch an Deutlichkeit. – Die Beschreibung der nach dem Aufwachen geschauten Bilder erfolgt langsam, unbeholfen, an die ursprüngliche stilistische Formung habe ich gewöhnlich keine Erinnerung. Alles rollt vor mir ab, wie ein ganz langsamer Film.13

Gerlachs Notizen liefern ein Bild davon, wie durch die hypnotische Versenkung die Erinnerung angestoßen wurde und Teile des Manuskriptes aus dem Vergessen aufschienen. Freilich lassen die Impulse von Dr. Schmitz bei der Hypnose wie auch Gerlachs Notizen noch weitergehende Vermutungen zu jenen psychischen Vorgängen zu, die beim Schreiben ablaufen und die an dieser Stelle nicht Gegenstand der Betrachtung sein können.

12 Schmitz, Hypnose und schriftstellerisches Schaffen. 1963, S. 83. 13 Gerlach, Heinrich: Ders.: Eigene Beobachtungen während des Experiments. In: Archiv der Kassenärztlichen Vereinigung München. Ohne Signatur.

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Für Dr. Schmitz war das Experiment der Rekonstruktion von Teilen eines Romans durch Hypnose in den folgenden Jahren eine wichtige Grundlage, um Rückschlüsse auf das Funktionieren von Gedächtnis und Erinnerung zu ziehen. So vermutete er, dass alles, was wir gelernt haben, aus „Sinnessempfindungen von Situationen“ besteht, zum Beispiel „gelesenen, gehörten, gefühlten“, wobei das „Allermeiste […] längst aus dem Bewußtsein entschwunden [ist]“. „Aber“, so Schmitz, „im Geheimen wirken alle diese UbV [unbewußten Vorstellungen – C. G.] weiter und regieren unsere Anschauungen, unser Wirken und Können.“14 Das waren Erkenntnisse, die beim Stand der Psychologie der 1950er Jahre durchaus als gewichtig einzuschätzen sind. Hans J. Markowitsch hat in diesem Kontext angemerkt, dass die Hypnose auch heute noch ein schwieriges Thema ist, wenngleich dazu in den letzten Jahren verstärkt geforscht wurde.15 Im Zusammenhang mit dem, was man retrograde Amnesie nennt, also einen Zustand, bei dem es den Personen nicht möglich ist, sich an bestimmte Geschehnisse zu erinnern, verweist Markowitsch auf Versuche, bei denen es gelang, durch Hypnose die Erinnerungen von Patienten wieder zu reaktivieren.16 Gegenwärtig geht man davon aus, dass die Hypnose sich der „starken Wirkung von Aufmerksamkeit und Suggestion“ bedient, um eine „breite Vielfalt von subjektiv als zwingend empfundenen Erfahrungen und Verhaltensweisen zu erzeugen, zu verändern und zu verstärken.“ Neuere Studien zeigen, wie die „Manipulation von subjektivem Bewußtsein im Labor durch Hypnose Einsichten in Mechanismen des Gehirns bieten kann, die bei der Aufmerksamkeit, der Motorik, der Wahrnehmung von Schmerzen, Überzeugungen und der Volition (Willenskraft) involviert sind“.17 Insofern sind die Bemühungen von Dr. Schmitz, Heinrich Gerlachs Erinnerungen über Hypnose zu reaktivieren, auch aus heutiger Sicht durchaus ein innovativer Versuch. Wenn Schmitz später betont, dass Gerlach leicht zu hypnotisieren war, dann ist dies zudem ein Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang zwischen

14 Schmitz, Heilung durch Hypnose, a.a.O., S. 40. 15 Ich danke Hans J. Markowitsch für Hinweise zum aktuellen Stand der Forschung zu Fragen der Hypnose. Zu Fragen des Gedächtnisses siehe u. a. Markowitsch, Hans J. / Welzer, Harald: Das autobiographische Gedächtnis. Stuttgart: Klett-Cotta 2005; Kühnel / Markowitsch, Falsche Erinnerungen. 2009; Markowitsch, Hans J.: Das Gedächtnis. Entwicklung, Funktionen, Störungen. München: C. H. Beck 2009. 16 Markowitsch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: Retrograde Amnesia. O. J. Siehe auch: Dies.: Dissociation, Memory and Trauma Narrative. In: Journal of Literary Theory 6, 2012, H. 1, S. 159 – 186. 17 Oakley, David A. / Halligan, Peter W.: Hypnotic suggestion: opportunities for cognitive neuroscience. In: Nature Reviews | Neuroscience, Vol. 14 | Aug. 2013, S. 565 – 576. Siehe auch: Dies.: Hypnotic suggestion: opportunities for cognitive neuroscience. In: Trends in Cognitive Sciences 13, 2009, H. 6, S. 264 – 270.

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Persönlichkeitsstruktur und Erinnerung. Wenngleich man trotz vielfältiger Bemühungen in den letzten Jahrzehnten bislang keine psychologischen Korrelate für eine sogenannte „unterschiedliche Suggestibilität“ bei Menschen gefunden hat, bestätigen aktuelle Forschungen gleichwohl, dass es Beziehungen „zwischen Suggestibilität und geistigem Vertieftsein“ und einer „zu Phantasien geneigten Geistesverfassung, Kreativität und Empathie“ zu geben scheint.18 Dies trifft in hohem Maße auf Heinrich Gerlach zu. Es sei angemerkt, dass es weitere fünf Jahre dauerte, bis er den verlorenen Stalingradroman erinnert bzw. neu geschrieben hat. Im Herbst 1957 erscheint die „Verratene Armee“ und wird ein Bestseller.19 Es soll nachfolgend eine Konzentration auf die beiden Fassungen des Romans erfolgen. Die Urfassung „Durchbruch bei Stalingrad“ ist unmittelbar nach der Stalingradkatastrophe und den traumatischen Erfahrungen entstanden, die Neufassung im sicheren Abstand zum Krieg und unter den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der 1950er Jahre in der Bundesrepublik. Von daher ist zu vermuten, dass es durch einen Textvergleich möglich wird, das Verhältnis von Erinnerung und Narration zu diskutieren. Dabei ist zu betonen, dass es an dieser Stelle nur um einige wenige Beispiele gehen kann.

2. Trauma erinnern Es ist bekannt, dass für die Verarbeitung wie Verbreitung von Erfahrungen das Erzählen eine zentrale Bedeutung besitzt.20 Brigitte Boothe hat in verschiedenen Studien gezeigt, welche Rolle das Erzählen für die menschliche Organisation von Erfahrung und die Bildung der Identität besitzt. Danach würden Menschen einen großen Teil ihrer Erfahrungen in Geschichten verwandeln und in Form von (Alltags-)Erzählungen kommunizieren. „Durch die Konstruktion von Erzählungen“, so Boothe, „kommt es zur subjektiven Produktion von Sinn im Hinblick

18 Oakley / Halligan, Hypnotic suggestion. 2013, S. 566. 19 In der Folge kommt es zu einem Rechtsstreit. Dr. Schmitz kann ein Dokument vorweisen, in dem Heinrich Gerlach zugestimmt hat, im Falle einer erfolgreichen Publikation, 20  % des Honorars an den Psychiater abzutreten. Ein in der Literatur- wie Rechtsgeschichte einmaliger Prozess nimmt seinen Anfang. Erst 1961 wird der Prozess mit einem Vergleich enden. Siehe dazu: Gansel, Widerstandsheld, Vaterlandsverräter, wacher Demokrat und Zeitzeuge? 2017, S. 742 f. 20 Gansel, Carsten: Storytelling from the Perspective of Evolutionary Theory. In: Ders. / Vanderbeke, Dirk (Hrsg.): Telling Stories / Geschichten erzählen. Literature and Evolution / Literatur und Evolution. Berlin/Boston: de Gruyter, 2012, S. 77 – 109.

Das ‚Trauma Stalingrad‘ verarbeiten – Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“ 

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auf die eigene Person und auf deren Eingebundenheit in den sozialen Kontext“.21 Welche Kategorien sind jedoch erzählerisch heranzuziehen, wenn es darum geht, Erfahrungen zu vermitteln, die sich auf Nationalsozialismus, Krieg, Kesselschlacht beziehen oder die fatale Situation von Soldaten beschreiben, die um den Preis des Lebens zum Töten verdammt waren, den eigenen Tod vor Augen hatten und für die der Kriegstod eine beständige Erfahrung war? Es handelt sich dabei zweifellos um traumatische Ereignisse, die zu einer Störung des Selbst führen und mit ihren grausamen Details nur schwer narrativ zu konfigurieren sind.22 Aber genau damit bekommt es Heinrich Gerlach bzw. sein Alter Ego Oberleutnant Breuer zu tun! Es geht um die Grenzen der analytischen Fähigkeiten, es geht um Grenzen der Leidensfähigkeit, es geht um Grenzen der ethischen Sicherheit.23 Die zahlreichen Episoden, in denen die Figuren den Schrecken des Krieges ausgeliefert sind, belegen dies: Harras hat das Gesicht in den Schnee gepreßt, die Hände an die Ohren gedrückt. Sein Rücken hebt und senkt sich in wilden Atemstößen, er zittert bin in die letzten Fasern seines Körpers. Fort! Schluß! Ende … – irgendwie! ist sein einziger Gedanke. Aber er kann kein Glied regen. Eine furchtbare Erschütterung reißt den langgestreckten Körper für Augenblicke vom Boden hoch. Da trifft ihn ein Schlag an den Kopf. Harras wird es schwarz vor den Augen – – – Von der Gruppe gelingt es zwei Mann nach Stunden, die eigenen Stellungen zu erreichen. Sie sind zu Tode erschöpft und völlig teilnahmslos. Das schreckliche Schreien des Verwundeten geht langsam in ein wimmerndes, von immer längeren Pausen unterbrochenes Stöhnen über, das den Rest der Nacht und den ganzen nächsten Tag über anhält. Nach Einbruch der Dunkelheit gelingt es Krankenträgern, sich an den Mann heranzuarbeiten. Als man ihn nach stundenlangen Bemühungen in den eigenen Stellungen hat, ist er tot.24

Gerlach bestätigt in seinem später erschienenen Bericht „Odyssee in Rot“, dass ein großer Teil jener 90.000 Soldaten und Offiziere, die es ins erste Lager nach Beketowka schafften, traumatisiert war. Vor dem Hintergrund heutiger Erkenntnisse würde man sagen: Ein Großteil der Überlebenden hatte eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Dabei zeigt sich, dass Untersuchungen zu Trauma-

21 Boothe, Brigitte: Das Narrativ. Biografisches Erzählen im psychotherapeutischen Prozess. Stuttgart: Schattauer 2011, S. 40. 22 Vgl. dazu bereits Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft 2012, Berlin: Erich Schmidt, S. 173 – 198. 23 Vgl. Geertz, Clifford: Dichte Beschreibung: Bemerkungen zu einer deutenden Theorie der Kultur [Erstausgabe 1973]. In: Ders.: Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. 24 Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad. 2016, S. 162.

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folgestörungen nach dem Zweiten Weltkrieg über Jahrzehnte ausblieben und eigentlich erst in der Gegenwart Arbeiten zu Kriegstraumatisierungen entstanden sind.25 Andreas Maercker hat darauf verwiesen, dass der Mangel an Arbeiten über die Folgen traumatischer Erfahrungen auch – und dies muss verwundern – für Holocaustüberlebende zutrifft, „deren psychische Auffälligkeiten, auch nach mehreren Jahren im Konzentrationslager (KZ), zunächst als Ausdruck einer schon vor der Folter bestandenen Störung betrachtet (wurden)“.26 Durch das Erleben eines Traumas – darüber herrscht in der Forschung Einigkeit – entsteht eine Intrusion, die sich in unwillkürlichen und belastenden Erinnerungen ausdrückt. Daraus resultiert ein Vermeidungsverhalten, bei dem die bedrängenden Erinnerungen abgeschaltet werden. Teilamnesien sind die Folge, wobei das Erinnerte unscharf re-konstruiert wird. Zu den Vermeidungsstrategien gehört auch die Scheu, „Aktivitäten durchzuführen bzw. Orte aufzusuchen, die an das Trauma erinnern“.27 Hinzu kommt die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit, das erfahrene Trauma narrativ zu konfigurieren. „Eine im klinischen Sinne traumatisierte Person“, so die Frank Neuner u. a., kann nicht über eine traumatische Erfahrung berichten. Sie ist noch nicht aus der traumatischen Szene herausgetreten; es hat, im wörtlichen Sinn keine Ex-Position stattgefunden. Die Person selbst ist vielmehr das Trauma. Eine räumliche Verortung und zeitliche „Vergeschichtlichung“ hat nicht stattgefunden.28

Traumatisierte Menschen haben daher große Schwierigkeiten, sich auf einen „narrativen Prozess einzulassen“, weil die Erinnerungen ihnen schlichtweg „nicht als Geschichten zugänglich sind“.29 Vergleichbares erinnert noch Jahrzehnte später Dr. Gerth Arras, ein Freund von Heinrich Gerlach, der ihm bei der Rekonstruktion seines Romans geholfen hatte, auf die Frage, nach den Erfahrungen im Kessel von Stalingrad:

25 Siehe etwa Bode, Sabine: Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart: Klett-Cotta 2004, oder Kuwert, Philipp / Freyberger, Harald J.: Sexuelle Kriegsgewalt: Ein tabuisiertes Verbrechen und seine Folgen. Trauma & Gewalt. Forschung und Praxisfelder 2 (2007), S. 10 – 16. 26 Maercker, Andreas (Hrsg.): Posttraumatische Belastungsstörungen. 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Aufl. Heidelberg: Springer 2013, S. 8 – 9. 27 Ebd. 28 Neuner, Frank u. a.: Narrative Exposition. In: ebd., S. 327 – 350, hier: S. 329. 29 Ebd., S. 328. Narrationen werden in der klinischen Traumaforschung verstanden als „bilderreiche, anschauliche, gefühlsmäßig packende Erzählungen, die innere Zusammenhänge des Ablaufs der Ereignisse nachvollziehen. Dazu wird verfügbare Information aus dem autobiographischen Gedächtnis abgerufen, also die Antwort auf das ‚Wann‘ und ‚Wo‘“ (ebd.).

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Es war so schlimm, so schlimm, daß man nicht mehr (stammelt). Ich habe also nicht mehr gesprochen nach der Rückkehr. Was soll ich den Menschen erzählen, wie furchtbar das ist, wenn man das nicht erlebt hat, kann man das nicht nachdenken. Es ist nicht möglich […].30

Noch sechzig Jahre danach befragt, deuten Arras und andere Überlebende von Stalingrad an, dass sie die Bilder vom Krieg nicht aus dem Gedächtnis bekommen haben. Damit ist einmal mehr auf die Intensität verwiesen, mit dem ein Trauma im ‚heißen Gedächtnis‘ abgespeichert wurde, mithin in Form von Bildern, Geräuschen und mit Gefühlen verbunden existiert. Die Neurophysiologie spricht davon, dass die sogenannten „Mandelkerne“ (Amygdalae), die für die Aktivierung von Emotionen und somit für die Speicherung der emotionalen Erinnerung eine entscheidende Funktion besitzen, im Falle von traumatischen Ereignissen „völlig enthemmt“ agieren, was wiederum dazu führt, dass es zu einer „besonders intensiven Einspeicherung heißer Gedächtniselemente“ kommt.31 Weil dies so ist, steht das Ich zum Selbstschutz vor der Notwendigkeit, das Erinnerte gerade nicht in eine narrative Struktur zu überführen, sondern zu vergessen. Bei Ereignissen, die nicht erzählt werden (können), besteht dann allerdings die Tendenz, dass sie wiederkehrend in der Form von intrusiven Erinnerungen, von Flashbacks und Albträumen erlebt werden.32

3. „Zeugnis im Namen der Toten“ ablegen Heinrich Gerlach gehört zu den wenigen, die nach Stalingrad und dann nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft in der Lage sind, das Erfahrene in eine narrative Struktur zu überführen und darüber zu sprechen. Gerlach hat – so erinnert die Tochter Dorothee Wagner-Gerlach – so etwas wie ein Schuldgefühl. Immer wieder stellt er sich die Frage, warum gerade er überlebt hat? Er leitet daraus für sich die Verpflichtung ab, Zeugnis von der Katastrophe in Stalingrad zu geben. Nachdem die Familienverhältnisse sich langsam zu ordnen begannen, so Heinrich Gerlach jr., entschloss sich der Vater, „den Roman über die Schlacht um Stalingrad noch einmal zu schreiben“. Enttäuscht über die Ergebnisse des Hypnose-Experiments mit der Illustrierten „Quick“ sieht er die einzige Möglichkeit darin, „an Hand der erarbeiteten Bruchstücke und seiner Erinnerung den Roman von Anfang an

30 Bruchhäuser, Hanns-Peter: Zeitzeugengespräch mit Dr. Gerth Arras am 28.11.2003 in Neuhausen bei Stuttgart. In: Ders.: Heinrich Abel – eine deutsche Karriere. Magdeburg: WissenschaftsVerlag 2009, S. 116. 31 Neuner, Narrative Exposition. 2013, S. 331. 32 Vgl. ebd., S. 333.

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neu zu schreiben“. 33 So sei dann in den folgenden Jahren unter Anteilnahme der Familie Kapitel für Kapitel neu entstanden. „Das war das absolute Thema, Stalingrad“, betont die Tochter. In den Entstehungsprozess des Romans bezieht Heinrich Gerlach die gesamte Familie mit ein, er machte „immer so eine Art Leseprobe, wenn er ein Kapitel fertig hatte, und stellte sich den kritischen Zuhörern“. Dorothee Wagner-Gerlach sieht rückblickend zwei Aspekte, die die permanente Arbeit an der Wiederherstellung des Romans mit sich brachte. Einerseits habe sie sich als Tochter ernst genommen gefühlt, zumal Heinrich Gerlach die Einwürfe seiner Kritiker durchaus bedachte und daraufhin Veränderungen am Manuskript vornahm. Andererseits sei es schon belastend gewesen. „Er brachte den Krieg zurück, und eigentlich waren wir als Kinder überfordert“, so ihre Erinnerung. Dennoch fällt ihr Resümee sechzig Jahre später positiv aus: „Ich möchte es heute nicht missen“.34 Da die Urfassung verschollen bzw. in einem russischen Archiv verschwunden war, konnte Heinrich Gerlach selbst nicht wissen, ob sein Versuch der Neuschaffung dicht am Original war oder er in den verschiedenen Bearbeitungsstufen bis 1957 größere Veränderungen vorgenommen hatte. Erst ein Vergleich beider Fassungen macht es fast 60 Jahre später möglich, dieses Rätsel zu lösen. Zunächst lässt sich sagen, dass die Voraussetzungen für eine Re-Konstruktion des Stalingrad-Romans – vom zeitlichen Aufwand und der psychischen Belastung einmal abgesehen – ab 1951 günstig standen. Und dies aus mehreren Gründen: Gerlach hatte den Verlauf der Stalingrad-Katastrophe in der Urfassung chronologisch entwickelt und konnte daher zunächst die an die eigenen Erlebnisse gebundenen Stationen um Stalingrad erinnern. Es ging mithin darum, die Handlungen, Ereignisse und Geschehnisse sowie die daran beteiligten Personen und die Schauplätze miteinander in Verbindung zu bringen und in eine fortlaufende Geschichte zu übertragen. Da Gerlach zudem an seinen Roman in der Gefangenschaft auch nach der Fertigstellung immer wieder gearbeitet und Korrekturen angebracht hatte, mussten sich viele Details fest im Gedächtnis eingeprägt haben. Hinzu kam der Umstand, dass ihm bei der Anfertigung einer geheimen Miniaturabschrift Anfang 1949 nicht nur die 614 Seiten erneut vor Augen standen und sich einprägten, sondern mit Notwendigkeit erneut auch die Vorgänge um Stalingrad. Was Gerlach also nach der Lösung der Schreibblockade u. a. tun musste, das war mit dem vergleichbar, was man heute eine mentale Zeitreise nennt. Es ging darum, aus seinem episodisch-autobiographischen Gedächtnis Stück für

33 Gerlach jr., Heinrich: Hans aus Lück. Band 2. Brake o. J. (unv.), S. 89, 91. 34 Gansel, Carsten: Gespräch mit Dorothea Wagner und Gisela Gerlach, der Schwiegertochter von Heinrich Gerlach, im August 2012 in Hamburg.

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Stück die Stalingraderlebnisse erneut herauszuholen. Dabei musste er die vielen Einzelepisoden, die untereinander wiederum vielfach verknüpft waren, zu einer großen Geschichte zusammensetzen.35 Es nimmt daher nicht wunder, wenn sich auf den ersten Blick zeigt, dass es Gerlach bei der Neuschaffung der „Verratenen Armee“ gelungen ist, die Tragödie um Stalingrad in ihren grundlegenden Stationen zu rekonstruieren. Kurz gesagt, wesentliche Elemente des Plots sind in beiden Fassungen gleich; auch die in Versalien gesetzten Überschriften stimmen zu 70 % mit dem Urmanuskript überein. Aber es ist bekannt, dass man ein und dieselbe Geschichte auf unterschiedliche Weise erzählen kann. Und genau dies zeigt sich beim Vergleich der beiden Fassungen des Stalingrad-Romans, die eben nur auf den ersten Blick übereinstimmen. Bei einer genaueren Betrachtung ergeben sich denn auch eine Reihe von Unterschieden, die durchaus als gravierend zu bezeichnen sind. Grundsätzlich lässt sich sagen: Heinrich Gerlachs Neu- bzw. Umarbeitung folgt der bereits im Titel markierten veränderten Sicht auf Stalingrad. Bei der „Verratenen Armee“ wird mit dem Adjektiv und dem davon abzuleitenden Prädikat „verraten“ – dem Diskurs der 1950er Jahre folgend – das Schwergewicht auf die ideelle Dimension der Stalingrad-Katastrophe gelegt; es geht um den Vorgang des Verrats von Hitler und der Nazi-Führung, die 300.000 Soldaten und Offiziere im Stich lassen und den Befehl geben, im Kessel auszuharren. Die Urfassung sah anders aus. Mit dem titelgebenden „Durchbruch“ hob Gerlach stärker auf die militärische Lage und die existentielle Situation der deutschen Landser im Kessel von Stalingrad ab. Bereits der unterschiedliche Textanfang beider Fassungen unterstreicht dann, wie Gerlach seine Neubearbeitung strukturiert. Während die Urfassung eine Art Einstieg in die Geschichte liefert und mit der genauen Ortsangabe Kotluban zum winterlichen Schauplatz des Geschehens um Stalingrad führt, setzt die Neufassung unvermittelt mit einer direkten Rede und der Einführung der Hauptfigur des Oberleutnant Breuer ein. Das mag belanglos erscheinen, aber hier offenbart sich bereits ein Grundprinzip, das beide Texte unterscheidet: Die Urfassung ist mit Blick auf die militärischen Gegebenheiten zwischen Oktober 1942 und dem Ende der Kampfhandlungen in Stalingrad Anfang Februar 1943 durchweg präziser. Es tauchen wie in einem Bericht immer wieder genaue Ortsnamen auf, die für die Kesselschlacht um Stalingrad Bedeutung haben. Mit der Markierung der Bahnstation von Kotluban zu Beginn des Textes beispielsweise ist ein Verweis auf die konkrete militärische Lage gegeben, denn in der genannten Region startet die Rote Armee ab Mitte September 1942 eine zweite Offensive, die maßgeblich für das Schicksal der Stalingrad-Armee in den folgenden Monaten ist. Gerlach

35 Siehe dazu Kühnel / Markowitsch, Falsche Erinnerungen. 2009, S. 54 ff.

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gelingt es in der Originalfassung besser, die immer aussichtsloser werdende militärische Lage der 6. Armee zu erfassen, er beschreibt atmosphärisch dichter die verzweifelte Situation der Landser und Offiziere. Die offensichtlich werdende größere Präzision reicht bis in kleinste sprachliche Details, die zunächst nicht auffallen. Während in der Urfassung von einem „Geschwindmarsch“ die Rede ist, wird dieser Terminus in der Neufassung durch das in den 1950er Jahren verständlichere Synonym „Eilmarsch“ ersetzt.36 Dabei geht allerdings eine Assoziation verloren, denn „Geschwindmarsch“ ist nicht nur ein gebräuchlicher militärischer Begriff, der zum Zeitpunkt der Handlung im Herbst 1942 zur Sprache der Landser gehört, sondern eben auch die Bezeichnung für einen preußischen Armeemarsch nach Motiven aus den Quadrillen von Johann Strauß (Vater). Überhaupt folgt die Figurensprache im „Durchbruch“ stärker als in der Neufassung der Gerlach vertrauten Landser-Sprache, die oft verkürzt und banal erscheint, aber umso treffender die konkrete Situation erfasst. Klar ist, dass – davon war bereits die Rede – beide Fassungen des Stalingrad-Romans letztlich auf die episodisch-autobiographischen Erinnerungen von Gerlach zurückgehen. Als er die Urfassung schreibt, steht ihm die Katastrophe allerdings noch direkt vor Augen, denn er beginnt mit ersten Notizen bereits im Herbst 1943, wenige Monate nach der Kapitulation der 6. Armee. Dies ist angesichts der Traumatisierung, die Stalingrad auch für Gerlach bedeutet hat, ein kurzer Zeitraum, was nicht ohne Folgen für das Erinnern sein konnte und sich auf das Erzählen auswirken musste. Gerlach wählt entsprechend keinen narrativen Modus, mit dem ein Abstand zum Erzählten hergestellt würde, sondern im Gegenteil, er setzt auf das, was man den dramatischen Modus nennt, und erzählt weitgehend ohne Distanz. Gerade dort, wo die Schrecken des Krieges über die verzweifelten Soldaten hereinbrechen, geht die Präsenz des Erzählers zurück, wodurch eine unmittelbare Nähe zum erzählten Geschehen entsteht. Als er etwa die Situation der erschöpften rumänischen Divisionen schildert, die die deutschen Truppen unterstützen sollen, bricht die Katastrophe herein, ein Angriff der Roten Armee: Da – ! Plötzlich zischt und schwirrt es böse und unheimlich. Schreckensschreie, Warnrufe. Und schon bricht das Unwetter los. Urplötzlich steht da ein Wald von Stichflammen auf der dröhnenden Erde, Splitterhagel fegt pfeifend daher, Wolken schwefeligen Qualms wälzen sich über die Fläche. So plötzlich dieser Feuerüberfall, so unerwartet in der trägen Ruhe des Morgens, daß hier selbst der immer wache Instinkt des Frontsoldaten versagt. Ein Teil nur der ahnungslos herumstehenden Männer hat die drohende Warnung des Rauschens

36 Gerlach, Heinrich: Die verratene Armee. Ein Stalingrad-Roman. München: Nymphenburger Verlagsbuchhandlung 1957, S. 14.

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erfaßt und ist blitzschnell in Deckung gesprungen. Die übrigen sind niedergemäht, ehe noch ihr Bewußtsein begriffen hat. Die Beschießung nimmt an Stärke zu. Zu der Unzahl von „Stalinorgeln“ gesellen sich Geschütze aller Kaliber. Eine Wand von haushohen Erdfontänen schießt empor, schiebt sich über die berstenden Minenfelder im Vorgelände hinweg, zerfetzt die Drahthindernisse, befällt die Gräben und Maschinengewehrnester, Holtzeile, Waffen und Menschenleiber mit sich emporwirbelnd, und rollt auf die rückwärtigen Artilleriestellungen zu. Das brodelt und rauscht und heult und kracht … Die Erde selbst, zerrissen und zerfetzt, duckt sich unter dem höllischen Ausbruch der Materie. Was ist der Mensch …!37

Ein genauer Blick auf die Urfassung und die handschriftlichen Korrekturen zeigt, in welchem Maße Gerlach gerade hier korrigiert und nach einer Sprache gesucht hat. Auf die Frage, ob die Primärerfahrung – in Abhängigkeit von der Dimension des Erlebten bzw. Erfahrenen – zu einem emotionaleren Erzählen führe, hat Hans J. Markowitsch bestätigend notiert: „Ja, ganz klar“. Das ‚Wie‘ des Erzählens wiederum, also der discourse, spielt dann im Weiteren für die Rezeption eine entscheidende Rolle. Die „Art und Weise des Erzählens“, so Markowitsch, „kann aus einer Erzählung ein Erlebnis machen. Dafür sind durch Sprache erzeugten Elemente der Emotionalität, des Mitfühlens, der unmittelbaren Vorstellung des Geschehens entscheidend.“38 Anders als in der Urfassung nimmt sich die Darstellung in der „Verratenen Armee“, also der rekonstruierten bzw. neu geschriebenen Fassung aus, in der das Chaos nicht unvermittelt ausbricht, sondern ein Erzähler lenkend und aus der überschauenden Perspektive zu dem Ereignis hinführt („Mit einmal war da etwas in der Luft“). Durch das gewählte Erzähltempus, es ist das Präteritum, geht die Unmittelbarkeit der Urfassung verloren, und es wird letztlich ein Abstand zum Erzählten hergestellt. Ganz abgesehen davon ist die Schilderung des russischen Angriffs in der Neufassung deutlich kürzer. Ähnlich sieht die Darstellung bei einer weiteren Aktion aus, die der Einkesselung der 6. Armee vorausgeht und erneut einen Feuerüberfall der Roten Armee schildert. Der Angriff löst bei den deutschen Landsern und Offizieren höchste Panik aus und zwingt den Divisionsstab in der Folge zur Flucht. Mitten in der Nacht stürzt ein Fremder in das Haus, in dem der Stab sich eingerichtet hat, und bricht fast erschöpft zusammen. Es ist ein junger Wachtmeister, „ohne Mantel und Kopfbedeckung, abgerissen und über und über mit Schmutz beschmiert. Das Haar hängt ihm wirr in die Stirn, am Kopf klafft eine blutende Wunde“. Zunächst kann er nur „Die Russen, Herr Oberleutnant, die

37 Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad. 2016, S. 18, 39 (Hervorhebungen – C. G.) 38 Private E-mail von Hans J. Markowitsch an Carsten Gansel.

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Abbildung 2: Urfassung von Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“

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Abbildung 3: Urfassung von Heinrich Gerlachs „Durchbruch bei Stalingrad“

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Russen!“ hervorstoßen. Die nachfolgende Schilderung der Ereignisse vermittelt dem Leser dann einen authentischen Eindruck des Geschehens, er wird sozusagen direkt in die existentielle Situation hineingezogen: „Wir lagen im Bett, völlig ahnungslos … Plötzlich ein Krach, die ganze Decke uns auf den Kopf … und schon brennt der Kasten … Ich zum Fenster raus ins Freie! Dort war der Teufel los. Das halbe Dorf in Flammen. Überall knallt es, alles rennt wie wild durcheinander. Dazwischen russische Panzer … sie schossen in die Häuser … Unsere Gäule vom Pferdelazarett rasten umher… ein Teil war aus den brennenden Ställen nicht mehr herausgekommen. Sie schrieen … schrieen … Es war schrecklich …“ Der Mann rutscht erneut in sich zusammen.39

Die Unmittelbarkeit der Darstellung entsteht nicht zuletzt durch die abgehackt wirkenden Satzfetzen in ihrer elliptischen Form, die ohne finite Verbformen auskommt und auf diese Weise sprachlich adäquat die Gehetztheit des jungen Soldaten ausdrückt. Anders nimmt sich auch hier die Neufassung aus, die in der Figurenrede die Situation deutlich gefasster schildert und mehrfach die abschwächenden Partikel „wohl“ nutzt („Na ja, jedenfalls schliefen wir wohl ziemlich fest […] Alles taghell, das halbe Dorf brannte wohl schon“).40 Bereits nach diesen offensichtlichen Unterschieden der beiden Fassungen stellt sich die Frage, ob und in welcher Weise die besondere Schreibsituation Einfluss auf die Darstellung hatte? Hier das Gefangenenlager, dort die sichere Atmosphäre als Gymnasiallehrer für Deutsch und Latein in der Adenauer-Zeit der 1950er Jahre. Mit Blick auf die Urfassung hat Heinrich Gerlach notiert, dass das Niederschreiben seines Stalingrad-Romans der Versuch „einer psychischen Selbstheilung“ war, durch den er „von den Schreckensbildern des Stalingrad-Geschehens freizukommen hoffte“.41 Daher spielen beim Abfassen des Berichts Anpassung und Selbstzensur keine Rolle. Gerlach ging es vielmehr darum, möglichst dicht an die traumatisierenden Erlebnisse zu kommen. Nur so war es möglich, dass das Schreiben eine Art „psychische Heilungsaufgabe“ als „Deckerinnerung“ erfüllen konnte.42 Die Art und Weise, wie Gerlach die Stalingraderlebnisse dann konfigurierte, bestätigt diese These. So dominiert im Original eine Mischung aus epischem Bericht und Dialog. Es bleibt wenig Raum für eine Evaluation und Bewertung. Das hat Gründe: Kognitionspsychologisch werden in der Originalfassung sog. ‚Felderinnerungen‘, field memories, inszeniert. Solche Felderinnerungen sind

39 Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad. 2016, S. 24, 49. 40 Gerlach, Die verratene Armee. 1957, S. 45. 41 Kühne, Paul: Erinnerung und Hypnose. In: Berliner Ärzteblatt, 71. Jg., H. 5 (1958), S. 108 – 109, hier: S. 109. 42 Ebd.

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dadurch gekennzeichnet, dass sie die vergangenen Ereignisse tendenziell „aus der ursprünglichen Perspektive des damaligen Erlebens rekonstruieren“. Anders bei den sog. ‚Beobachtererinnerungen‘, oberserver memories, denn hier geht es um Erinnerungen, in denen wir uns vorrangig als „distanzierte Beobachter“ verhalten und auf diese Weise „modifizierte Versionen des ursprünglichen Ereignisses“ produzieren, das wir „anfänglich aus einer Feldperspektive wahrgenommen haben“.43 Dass im „Durchbruch bei Stalingrad“ Felderinnerungen dominieren und in der „Verratenen Armee“ eher Beobachtererinnerungen wird allein schon dadurch belegt, dass in der Urfassung stärker auf ein personales Erzählen gesetzt wird und auf diese Weise die Erfahrungen des erlebenden Ichs auf der Handlungsebene im Vordergrund stehen. In der Neufassung agiert dagegen weitaus stärker ein heterodiegetischer Erzähler, der ordnet und wertet. Dass und wie sich der Diskurs der 1950er Jahre in den neugeschriebenen Text der „Verratenen Armee“ drängt und die Felderinnerungen überdeckt, das lässt sich an zahlreichen Beispielen zeigen. Es sei in diesem Zusammenhang auf ein für die damalige Zeit ausgesprochen sensibles Kapitel verwiesen, nämlich auf die Frage, ob und inwieweit die Deutsche Wehrmacht an Kriegsverbrechen beteiligt war? Hannes Heer ist in seiner ansonsten differenzierten Darstellung über den Vernichtungskrieg im Osten in einem Punkt nicht zuzustimmen, nämlich der Auffassung, dass die Soldaten der Wehrmacht in der Literatur nicht mit Kriegsverbrechen in Zusammenhang gebracht wurden bzw. Darstellungen dazu fehlen. „Kein Roman erzählte, was in den besetzten Gebieten im Osten und Südosten an Verbrechen begangen worden war“, so Heer, „und es gab keine Figur, die sich – als Mörder – zu diesen Taten bekannte oder sich gar selbst das Urteil sprach.“44 Norman Ächtler hat in seiner profunden Arbeit „Generation in Kesseln“ nachgewiesen, dass dem nicht so war und sehr wohl auch in der Literatur Kriegsverbrechen der Wehrmacht zur Sprache kamen.45 In dem Fall, da in der Tat in den Romanen auf Verbrechen der Wehrmacht verwiesen wurde, erlangte dieser Umstand in der öffentlichen Wahrnehmung allerdings keine Dominanz, da diese Episoden marginalisiert und an den Rand des kollektiven Gedächtnisses gedrängt wurden. Heinrich Gerlach gehört daher zu jenen Autoren, bei denen Ver-

43 Schacter, Daniel: Wir sind Erinnerung. Gedächtnis und Persönlichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 45. 44 Heer, Hannes: Vom Verschwinden der Täter: Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin: Aufbau 2004, S. 198. 45 Ächtler, Norman: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945 – 1960. Göttingen: Wallstein 2013; sowie Ders.: „Sieh hin, scheener Herr aus Daitschland“. Vom Auftauchen der Täter im deutschen Kriegsroman. In: Mittelweg 36, 23. Jg, 2014, H. 1, S. 75 – 98.

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brechen der Wehrmacht sehr wohl thematisiert werden. So erinnert Lakosch, der Fahrer von Gerlachs Hauptfigur, Oberleutnant Breuer, kurz bevor er für sich die Entscheidung trifft, zu desertieren, Kriegsverbrechen der Wehrmacht, an denen er beteiligt war. In der im sowjetischen Gefangenlager entstandenen Urfassung bedenkt er „ein Erlebnis aus dem Sommer 41“. In der „ukrainischen Ortschaft Talnoje an der Nordoststrecke des Uman-Kessels“ trifft Lakosch auf eine johlende Menge von Soldaten, die eine Schar kleiner, fremdartig-schwarzer Gestalten vor sich hertrieben. „Was ist denn los hier?“ fragt er. „Aus einem Keller haben sie geschossen!“ „Wer, die hier?“ „Weiß nicht! Irgendwer!“ „Na und?“ „Na und? Umgelegt werden sie! Die sind doch schuld an allem, die Schweine!“ Lakosch schloß sich dem Zuge an.46

Im Folgenden wird sehr knapp aus der Sicht von Lakosch mitgeteilt, wie eine Gruppe von 50 jüdischen Männern mittleren Alters, die bereits auf das Schwerste misshandelt worden waren, von Arbeitsmännern, Flaksoldaten und Landsern aus „allen möglichen Einheiten“ exekutiert werden soll. Ein Flakunterroffizier, dessen „ausgeschriene Stimme“ nur noch ein „tierisches Brüllen“ hervorbringt und der hemmungslos wütet, hat die Führung übernommen.47 Die eskalierende Situation wird durch einen Offizier gestoppt: „Was ist hier los!“ Die Landser duckten sich, plötzlich ernüchtert. Der Unteroffizier kam heran, großmäulig und mit wilden Gesten. „Nehmen Sie Haltung an, Mensch!“ fuhr ihn der Offizier an. „Wer hat Ihnen den Befehl dazu erteilt?“ Der Unteroffizier, urplötzlich aus seinem Rausch erweckt, verstummte mit offenem Mund und sackte in sich zusammen. Mit einem wütenden Hieb schlug ihm der Offizier die Pistole aus der Hand: „Verschwinden Sie, Sie Vieh!“ Der Unteroffizier entfernte sich auf der Stelle ohne ein Wort. „Und ihr andern hier, weg mit euch, augenblicklich!“ Murrend wichen die Landser zurück, in weitem Umkreis standen sie lauernd herum.48

In der Urfassung hat Gerlach gerade hier deutlich korrigiert und die zunächst entworfene Darstellung überklebt. Die erschreckende Szenerie endet mit einer Dankbezeugung der jüdischen Männer, auf die hin der Offizier sich schroff abwendet und notiert: „Machen Sie, daß Sie fortkommen […] und lassen Sie sich nicht wieder hier blicken!“49 Nach der direkten Rede wird in die interne Fokalisierung, also die Mitsicht von Lakosch gewechselt, wenn es heißt:

46 Gerlach, Durchbruch bei Stalingrad. 2016, S. 182. 47 Ebd. 48 Ebd., S. 184. 49 Ebd.

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Auch Lakosch hatte damals eine Sauwut gehabt, weil ihm durch das Dazwischenkommen des Offiziers eine schaurige Sensation entgangen war. Aber die Erinnerung an das Erlebte verließ ihn nicht mehr. Und diese Erinnerung wandelte seine Empfindungen. Wenn er jetzt an die Gesichter der siebzehnjährigen Jungen vom Arbeitsdienst dachte, lüsterne, vom Blutrausch verzerrte Kindergesichter – dann empfand er nur noch Scham und Ekel. „Nein“, dachte er und erschauerte in der Erinnerung, „das ist kein Krieg mehr, das ist …“. Er fand keine Worte für das, was ihn bewegte.50

Diese Episode ist im „Durchbruch bei Stalingrad“ durch den schnellen Wechsel zwischen Dialog und knappem Erzählerbericht ausgesprochen komprimiert mitgeteilt. Anders auch hier in die „Verratene Armee“, in der sich jeweils Kommentare des Erzählers finden. Zum Flakunteroffizier heißt es entsprechend: „Er hatte ein Gesicht, wie man es überall hinter Schaltern und auf Büroschemeln finden kann. Doch in diesem nichtssagenden Gesicht schien ein Teufel sein Spiel zu treiben.“51 Während es in der Urfassung keinerlei Hinweise darauf gibt, warum die jüdischen Männer exekutiert werden sollen, mithin die Selbstverständlichkeit des Mordens offenbar wird, liefert die Neufassung eine Begründung für die Enthemmung der Landser. Lakosch, der nach dem „Warum“ der Tötungsabsicht fragt, erhält die Antwort, dass sie letztlich „schuld an allem sind“, worauf es kommentierend heißt: Lakosch schämt sich seiner Frage, er war über die Juden durch Schulungsbriefe und Vorträge eingehend unterrichtet worden. Er nahm seinen Karabiner von der Schulter und drängte sich nach vorn. Ihn erfüllte eine grimmige Genugtuung, mit den wahren Schuldigen an diesem Krieg endlich persönlich abrechnen zu können.52

Mit diesem Einschub des Erzählers wird expliziert auf die Rolle der nazistischen Propaganda verwiesen, die die Mitschuld an der Verrohung der jungen Leute trägt. Nachfolgend wird die Konfliktsituation im Vergleich zur Urfassung deutlich dramatischer angelegt und zu einer regelrechten Konfrontation zwischen bestialischem Landser und humanem Offizier entwickelt. Der Offizier als Antagonist des enthemmten Landsers wird unübersehbar in Szene gesetzt, und sein couragiertes Einschreiten gewinnt durch Rede- und Gegenrede an Bedeutung. Um eine Eskalation zu verhindern, muss er gar zur Pistole greifen. Die Reaktion auf den Dank der geretteten jüdischen Männer fällt sodann freundlicher aus als im Manuskript des „Durchbruchs“, wenn der Offizier fast sorgenvoll ruft: „Schnell, schnell! Weg von

50 Ebd. 51 Gerlach, Die verratene Armee. 1957, S. 184. 52 Ebd., S. 183.

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Abbildung 4: Heinrich Gerlachs Kriegsgefangenenakte

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hier! – Und auch ihr dort‘“.53 Die Episode wird durch die zugespitzte Darstellung unter der Hand zu einem Ausnahmefall und einer Auseinandersetzung zwischen einem korrekt handelnden Wehrmachtsoffizier und einem blutrünstigen Landser. Die nachfolgende Reflexion von Lakosch bestärkt die Einmaligkeit des Geschehenen und die offensichtliche Sympathielenkung. Die geschilderte Episode ist nur ein Beispiel dafür, auf welche Weise der „Verratenen Armee“ der Diskurs der 1950er Jahre eingeschrieben ist. Weitaus stärker wird in der Neufassung die existentielle Vereinzelung des Individuums herausgestellt. Die Entscheidungssituationen, vor der Einzelne stehen, erfahren eine existenzialistische und eschatologische Aufladung. Entsprechend der in den 1950er Jahren dominanten ‚Großen Geschichte‘ wird die Frontgeneration als Opfer von Gewaltherrschaft und Krieg entworfen.54 Die „Verratene Armee“ folgt damit dem Entwurf einer Generationsgestalt, die in Essays und dann bevorzugt in Romanen und Erzählungen inszeniert wurde und den Landser zum Opfer eines diktatorischen Systems machte.55

4. Abschluss Abschließend lässt sich resümierend sagen: Das noch im Gefangenenlager geschriebene Urmanuskript unterscheidet sich deutlich von der rekonstruierten Fassung, die nach Heinrich Gerlachs Rückkehr nach Deutschland in den Jahren 1950 – 1956 entstanden ist und im Tonfall des Erzählers unübersehbar die Nachkriegsdiskurse der 1950er Jahre transportiert. Der 1957 publizierte Roman besitzt den Status einer authentischen Dokumentation, die vergleicht und abwägt, so dass die Sprache auffällig in die Breite geht, abgerundeter und glatter erscheint und durch den Erzähler das für die 1950er Jahre kennzeichnende soldatische Opfernarrativ zu installieren sucht. Der Erzähler des Urmanuskripts problematisiert und kommentiert weniger. Er vermag daher in der ‚harten Schreibweise‘ seiner Darstellung wesentlich authentischer ein Kaleidoskop nicht allein des deutschen Landsers in einem Feldzug, sondern des ‚Menschen‘ im Kessel von Stalingrad zwischen Illusion, Hoffnung

53 Ebd., S. 186. 54 Zum Soldatischen Opfernarrativ siehe Ächtler, Generation in Kesseln. 2013. 55 Siehe ausführlich Gansel, Carsten: „Krieg im Rückblick des Realisten“ – Hans Werner Richters „Die Geschlagenen“. In: Gansel, Carsten / Nell, Werner (Hrsg.): „Es sind alles Geschichten aus meinem Leben“. Hans Werner Richter als Erzähler und Zeitzeuge, Netzwerker und Autor. Berlin: Erich Schmidt 2011, S. 10 – 26.

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und übermenschlichem Leiden ohne außerliterarische Rücksichtnahme zu gestalten. Sein ungeschönter und gleichwohl identifikatorischer Blick nimmt sich des Menschen an. Die Darstellung dringt bis unter die schmutzige Uniform des Soldaten und offenbart seine jammervolle Gier nach Büchsenfleisch, Zigaretten, Feuerholz und imitierten Weihnachtsbäumen ebenso wie seine Einsamkeit, die Ausgeliefertheit, Verzweiflung und Verelendung in den vereisten Bunkern. Die kompromisslose Darstellung erzeugt bei aller moralischen und auch erzählerischen Distanz zu den politischen und ideologischen Hintergründen durchaus eine gewisse Sympathie, nicht für den deutschen Soldaten als Krieger, wohl aber den traumatisierten Menschen in seiner Schwäche und Stärke. In Gerlachs Urmanuskript steht mithin das, was „Kameradschaft“ genannt wird, weitaus mehr im Zentrum als in der rekonstruierten und neu geschriebenen Fassung. Diese offenkundige Anteilnahme für den „Soldatenmenschen“ ist dabei Folge der unmittelbaren Eindrücke und traumatischen Erfahrungen des ehemaligen Offiziers und Zeitzeugen der Schlacht um Stalingrad, Heinrich Gerlach, der sich im Gefangenenlager eruptiv davon freizuschreiben suchte.

Nicolas von Passavant

Robinson im Bombentrichter – „Der Alpdruck“ (1947) und die Konfiguration von Hans Falladas Nachkriegspoetik Denkt man heute an die Auseinandersetzung Hans Falladas mit der Nazizeit, so wird einem als erstes sein letzter Roman „Jeder stirbt für sich allein“ (1947) einfallen: Seit der Jahrtausendwende hat der Roman durch neue Übersetzungen ins Französische (2002) und Englische (2009), der Publikation der ungekürzten Originalfassung (2012) und eine Verfilmung mit Emma Thompson und Brendan Gleeson (2016) eine zweite Welle der Rezeption erlebt. Wesentlich unbekannter war und blieb dagegen „Der Alpdruck“, der erste Roman, den Hans Fallada nach 1945 abgeschlossen hat und der ebenfalls 1947, kurz nach dem plötzlichen Tod des Autors, erschienen ist. Doch obschon er nicht dieselbe Resonanz erfahren hat, ist „Der Alpdruck“, so die These, im Hinblick auf die Entwicklung von Falladas Nachkriegspoetik nicht weniger interessant. Bis zu diesem Zeitpunkt hat Falladas Poetik bereits einige Wendungen hinter sich: Der Autor ist gegen Ende der Weimarer Republik zunächst zu nationaler, mit „Kleiner Mann – was nun?“ 1932 auch zu internationaler Bekanntheit gelangt. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs wusste er sich dann mit der Nazizensur vorerst zu arrangieren und publizierte weitere Romane, wobei er sich zunehmend auf die Veröffentlichung harmloser Kinder- und Erinnerungsbücher beschränkte. Dass Fallada während der Kriegszeit wesentlich kritischere Texte unter Verschluss gehalten hat, zeigt die postume Publikation etwa des „Trinker“-Manuskripts (1950) und des „Gefängnistagebuchs“ (2009) – Texte, die 1944 entstanden sind. Dieser Artikel zeichnet nach, wie Hans Fallada in „Der Alpdruck“ diesen kritischen Ton der unveröffentlichten Texte zur Grundlage seiner Nachkriegspoetik macht, dabei zugleich jedoch auch sehr direkt an Verfahren seiner frühen Romanpoetik anschließt: Im Abgleich mit Passagen aus „Kleiner Mann – was nun?“ erweisen sich motivische und dramaturgische Kontinuitäten in Falladas Schreiben, anhand derer sich bei zugleich deutlichen Modifikationen in der Erzählkonstruktion zeigen lässt, wie der Autor seine Romanpoetik in der Nachkriegszeigt neu konfiguriert.

https://doi.org/10.1515/9783110683028-019

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1. Lehm im Mund Der Titel „Der Alpdruck“ spielt auf sich wiederholende Albträume des Protagonisten an, die sich zunächst nicht auf die NS-Zeit beziehen, sondern auf die Zeitspanne unmittelbar nach der Befreiung. Doll, so heißt der Protagonist, träumt: Er lag am Grunde eines ungeheuren Bombentrichters, auf dem Rücken, die Arme fest an die Seiten gepresst, im nassen gelben Lehm. Ohne den Kopf zu bewegen, konnte er die in den Trichter herabgestürzten Baumstämme sehen, auch die Fassaden von Häusern mit den leeren Fensterhöhlen, hinter denen nichts mehr war (A, 17 f.).1

In seinem Traum fürchtet Doll, von Trümmern erschlagen und von Tieren attackiert zu werden, oder dass „tausend Wasseradern und Quellen, Doll überschwemmend, seinen Mund ganz mit dem gelben Lehmbrei füllen würden“ (A, 18). Diesem subjektiven, zunächst unmittelbar körperlichen Bedrohungsgefühl kommt nach einer Überlegung des Protagonisten jedoch auch eine allgemeinere, gesellschaftliche Bedeutung zu. Der Bombentrichter, in dem Doll im Traum liegt, stehe, wie er vermutet, für die angebrochene Friedenszeit, nämlich für die Angst, „aus eigener Kraft nie aus diesem Trichtergrunde aufstehen [zu] können […]. Mit ihm lag seine ganze Familie hier und das ganze deutsche Volk und überhaupt alle Völker Europas“ (A, 18). Dieser Engführung von subjektiver und gesellschaftlicher Perspektive liegt eine Technik zugrunde, die bereits aus früheren Werken Falladas bekannt ist: Einerseits erhält der Protagonist mit seiner klaustrophobisch-regressiven Angstphantasie psychologische Tiefe, wird also als Individuum plastisch. Zugleich aber steht er als Symptomfigur und Stellvertreter für eine allgemeine Problem- und Stimmungslage. Als Unterschied zu den früheren Romanen fällt jedoch auf, dass die Hauptfigur Doll dabei in der Lage ist, diesen Zusammenhang zwischen eigenem und kollektivem Trauma bewusst zu reflektieren. Darauf ist im Zusammenhang generellerer Überlegungen zum Neuentwurf von Falladas Poetik in der Nachkriegszeit zurückzukommen. Zunächst gilt es, den erzählerischen und historischen Kontext des Albtraums etwas näher zu beleuchten: Nach dem Aufenthalt in einer Haftanstalt und der Trennung von seiner Ehefrau ist Doll gegen Kriegsende ins Berliner Umland gezogen, wo er – mittlerweile mit einer anderen Frau – ein Außenseiterdasein führt. Nachdem die russische Armee die Gegend eingenommen hatte, wird er von der neuen Verwaltung als politisch unverdächtig eingeordnet und interimsmäßig zum Bürgermeister der Kleinstadt ernannt.

1 Die Zitatangaben im Text folgen der Ausgabe Fallada, Hans: Der Alpdruck [1947]. Berlin: Aufbau 2 2014 [im Folgenden unter der Sigle „A“ im Text].

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Zentral ist hier für die weitere Entwicklung des Romans eine Szene, in der er zum Antritt seines neuen Amts eine Rede vom Balkon des Ratshauses hält und eine Art Déjà-vu-Erlebnis hat. Als seine Rede beklatscht wird, sagt er sich: „Na, wartet nur!, dachte Doll ärgerlich. Es ist doch kaum drei Wochen her, da habt ihr noch ‚Heil Hitler!‘ geschrien und habt vor der SS gekatzbuckelt und habt im Volkssturm euch Ämter zugeschanzt“ (A, 72). Und auch bei seinen sonstigen Tätigkeiten wird ihm neben dem Elend der Menschen auch immer wieder deutlich, wie tief viele von ihnen von der faschistischen Propaganda geprägt sind. In der psychiatrischen Haft gegen Kriegsende, der Trennung von der Ehefrau und auch der Erkennung zum Bürgermeister sind dabei unschwer Parallelen zu Falladas Biografie zu erkennen, sodass die Forschung zunächst einer biografischen Lesart des Romans gefolgt ist.2 Dies birgt in diesem Fall jedoch Tücken, die über die allgemeinen Verkürzungen einer biografistischen Lesart noch hinausgehen: Denn auch Fallada saß, wie der Held des Romans, aufgrund politischer Umstände in Nazi-Haft. Das spielte sich jedoch kurz nach der Machtergreifung Hitlers ab und die Haft dauerte nur kurz. Eine längere Verwahrung, die dem Zeitabschnitt im „Alpdruck“ gegen Schluss der Kriegszeit entspricht, erfolgte, weil er betrunken mit einer Pistole in Richtung seiner Frau geschossen hatte.3 Und auch die Ablehnung der Bevölkerung, durch die sich Doll dann zum Außenseiter stilisiert, hatte bei Fallada ebenfalls eher private als politische Gründe.4 In einer Legitimationsschrift zuhanden der russischen Verwaltung hat Fallada diese Umstände verwischt, wie dies Anja Hübner in einem sehr aufschlussreichen Artikel dokumentiert.5 Und ähnlich kann man diese offensichtlichen, aber in diesem Zusammenhang ebenfalls geschönten Anspielungen in „Der Alpdruck“, von denen Fallada wohl erwarten durfte, dass sie von der sowjetischen Verwaltung

2 Vgl. zur frühen Rezeption Caspar, Günter: Zwischen Roman und Konfession. Der Alpdruck des Dr. Doll. In: Ders.: Fallada-Studien. Berlin/Weimar: Aufbau 1988, S. 232 – 2 83, besonders S. 276 ff. Einer verkürzten autobiografischen Lesart folgt noch Zachau, Reinhard K.: Hans Fallada als politischer Schriftsteller. Bern u. a.: Peter Lang 1990, S. 211 ff. 3 Diese Ereignisse finden sich in den Fallada-Biografien von Jenny Williams und Hans Walther ausführlich dargestellt (vgl. Williams, Jenny: Mehr Leben als eins. Hans Fallada. Biographie. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2011, S. 135; Walther, Peter: Hans Fallada. Die Biographie. Berlin: Aufbau 2017, S. 247 f.). 4 Vgl. ebd., S. 328 f. 5 Vgl. Hübner, Anja Susan: „Erfolgsautor mit allem Drum und Dran“. Der Fall Fallada oder Sollbruchstellen einer prekären Künstlerbiografie im ‚Dritten Reich‘. In: Im Pausenraum des Dritten Reiches. Zur Populärkultur im nationalsozialistischen Deutschland. Hrsg. von Carsten Würmann und Ansgar Warner. Bern u. a.: Peter Lang 2008, S. 197 – 214, besonders 206 ff.

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als autobiografisch entschlüsselt würden, auch als Teil einer Rehabilitierungsstrategie in eigener Sache lesen.6 Dass der Roman jedoch über diese zweifelhafte werkpolitische Dimension hinaus interessant ist und sich somit nicht auf diese reduzieren lässt, zeigt sich bereits in der äußerst düsteren Stimmungslage, die Fallada vom Zustand seiner Hauptfigur zeichnet. So lesen wir über Doll: „Wahrscheinlich war er gar nichts, ein ausgeblasenes Ei; er hatte sich mit Selbsttäuschungen gefüttert, und nun zerging alles! Nichts blieb mehr von Doll“ (A, 68). Mit seiner Rolle als Schlichter zwischen den ihm widerwärtigen Dorfnachbarn ist der neuernannte Bürgermeister überfordert: „[M]it ihnen reden, etwas von ihnen erzwingen, Tränen sehen, Schluchzen, Proteste, Einsprüche, Bitten hören –: Sein Kopf glich oft einem lärmerfüllten Abgrund“ (A, 82). Und es beschleicht ihn „das unsichere Gefühl, als rinne er ganz leer aus, eines Tages werde er nichts sein als ein hohles Knochengerüst, nur mit Haut überzogen“ (ebd.). Im Vorwort zum „Alpdruck“-Roman wertet Fallada den dokumentarischen Gehalt des Buchs höher als den ästhetischen: es sei eine „Krankheitsgeschichte […], kein Kunstwerk“ (A, 14). Anstatt mit optimistischen Aufrufen nach der Befreiung, wie es sich die russische Verwaltung wohl von Fallada versprochen hat, als man ihn zu einem Vorzeigeschriftsteller aufzubauen versuchte,7 bekommt man es zunächst mit krassen Selbstauflösungsängsten zu tun: Die Beschreibungen dieser Zustände reichen dabei vom surrealen ausgeblasenen Ei bis zu ausgemergelten Körpern, wie man sie von den Bildern nach der Befreiung von Ausschwitz und Buchenwald kennt und die auf eine bis zur Selbstzersetzung reichende Empathiefähigkeit des Protagonisten weisen. Doll beschließt, für das Bürgermeisteramt nicht zu taugen, denn er habe doch „immer am liebsten allein für sich gelebt“ (A, 81 f.). Diese Rückzugsbewegung mündet in eine Morphiumabhängigkeit, wiederum begleitet von Regressionsphantasien: „[H]ier stehe ich und empfinde nichts wie Ekel und sehne mich nur nach meinem Bett, in dem ich schlafen, schlafen, schlafen möchte und all dies vergessen“ (A, 82).8

6 Roman Luckscheiter spricht in seinem Artikel über den „Alpdruck“-Roman von einem „po­ten­ tielle[n] Beispiel für Selbstzensur und instrumentalisierte Gedächtniskonstruktion“ (Luckscheiter, Roman: Am Nullpunkt der Literatur. Falladas Roman „Der Alpdruck“ als Pathologie der unmittelbaren Nachkriegszeit. In: Zeit vergessen, Zeit erinnern. Hans Fallada und das kulturelle Gedächtnis. Hrsg. von Carsten Gansel und Werner Liersch. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 57 – 67, hier: S. 67). 7 Zu den Beziehungen zum „Kulturbund“ der Sowjetischen Besatzungszone und den kommunistischen Organen „Tägliche Rundschau“ und „Deutsche Volkszeitung“, die über Johannes R. Becher laufen, vgl. Walther: Hans Fallada. 2017, S. 379 ff. 8 Den „Alpdruck“-Roman in Zusammenhang mit Falladas Suchtbiografie erläutert Resch,

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2. Robinson-Regression Doll versucht sich in seine alte Wohnung in Berlin zurückzuziehen, findet diese jedoch halb zerbombt, halb von anderen Personen bewohnt. Erschöpft wickelt er sich dort notdürftig in einen alten Teppich ein. Obschon der Teppich unbequem ist, so heißt es, fand sich der Frierende plötzlich in einer Einschlafphantasie, der er von seinen frühesten Knabentagen an sich immer dann hingegeben hatte, wenn ihm seine Lebensumstände besonders bedroht erschienen waren. Diese Phantasie lief darauf hinaus, dass er Robinson war auf der wüsten Insel, aber ein Robinson ohne Freitag und ein Robinson, der jeden Besuch weißer Menschen verabscheute und der bei dem Gedanken, von ihnen „gerettet“ zu werden, Angst empfand. Sondern dieser andere Robinson tat alles, um sich gänzlich vor seinen Mitgeschöpfen zu verstecken. Die Pflanzung um seine Höhle herum konnte gar nicht dicht und der Weg durch sie hin nicht verwachsen und versteckt genug sein. Ja, am liebsten erfand er sich einen tiefen Talkessel zwischen hohen und steilen Felswänden, und in diesen Kessel führte nur ein langer dunkler Felsentunnel, der leicht mit Steinen zu verrammeln war. Der Talkessel selbst hatte einen lockeren und doch von oben durchsichtigen Baumbestand, der Robinson auch gegen Fliegereinsicht abdeckte (A, 177).

Bei dieser Phantasie, von der ziemlich genau in der Mitte des Romans berichtet wird, handelt es sich offenkundig um ein Gegenstück zum Nachkriegs-Albtraum: Auf das dortige Ausgeliefertsein im Bombentrichter antwortet hier eine Regressionsbewegung, über die sich Doll mit der Felsenhöhle bzw. dem alten Teppich in das zurückzieht, was man mit einem Begriff aus der Architekturtheorie ein Phantasma der ‚Urhütte‘ nennen kann; einer jener unmittelbaren Nahräume, in denen man Geborgenheit erfährt und eine gewisse Handlungsfähigkeit wiederzugewinnen vermag.9 Und tatsächlich ist ja Regression auch in der Psychoanalyse kein rein negativer Begriff, sondern hat als Abwehrmechanismus zunächst eine gewisse Stabilisierungs- und Schutzfunktion.10 Die Forschung hat die Robinson-Passage als Wendepunkt der Handlung identifiziert: Doll fasst am nächsten Morgen neuen Lebensmut und beginnt eine

Stephan: Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Bern u. a.: Peter Lang 2007, S. 69 – 84. 9 Vgl. zur Genealogie des Urhütten-Konzepts Rykwert, Joseph: Adams Haus im Paradies. Die Urhütte von der Antike bis Le Corbusier [1972]. Übersetzt von Jonas Beyer. Berlin: Gebr. Mann 2005. Dem Aspekt anthropologischer Konstanz der Urhütte geht Rykwert am Beispiel von Kinderspielen und religiösen Ritualen nach (vgl. ebd., S. 171 ff.). 10 Vgl. den Eintrag zu ‚Regression‘ in Laplanche, Jean / Pontalis, Jean-Bertrand: Das Vokabular der Psychoanalyse [1967]. Übersetzt von Emma Moersch. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 436 ff.

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Auseinandersetzung mit seiner, aber auch mit der gesellschaftlichen Situation.11 Was sich beim Robinsonvergleich jedoch über den Plot hinaus in einem umfassenderen werkgenetischen und poetologischen Zusammenhang ereignet, blieb bislang unentdeckt. Es lässt sich aber auch erst seit Kurzem für die öffentliche Leserschaft ermitteln – seit nämlich Carsten Gansel das bei der Erstpublikation stark gekürzte Originalmanuskript von „Kleiner Mann – was nun?“ herausgegeben hat. Darin findet sich eine später im Lektoratsprozess gestrichene Stelle, die in diesem Zusammenhang höchst aufschlussreich ist.12 Der Held Pinneberg, der kleine Mann, wird in diesem frühen Roman den wirtschaftlichen Zusammenbruch der späten 20er Jahre erleben und schließlich, arbeitslos, mit Frau und Kind in einer gespenstischen Barackensiedlung enden. Die im Folgenden zitierte Passage entstammt einem der früheren Kapitel: Pinneberg hat seinen Job noch nicht verloren, spürt jedoch bereits Vorbeben der Krise, als er an einer Schlange von wartenden Arbeitslosen vorbeikommt. Und dort heißt es in der Druckfassung von 1932: „Er ist einer von diesen [den Arbeitslosen – N.P.], jeden Tag kann es kommen, dass er hier steht wie sie, er kann nichts dazu tun. Nichts schützt ihn davor“.13 Während die Szene in der früheren Druckfassung hier abbricht, geht die Passage im Manuskript weiter: „Solidarität der Angestellten, Appell an das deutsche Volk, Volksgemeinschaft, es gibt nur eine Gemeinschaft, die Gemeinschaft der Mikroben, verreck schon, was kommt es auf dich an, es gibt Millionen wie dich.“14 Sonst sehr nahe an der Wahrnehmung und den Gedanken des Protagonisten erzählt, spielt sich der Erzähler kommentierend in den Vordergrund, indem er erklärt: „Denkt Pinneberg dies [dass die Angestellten ohne Solidarität ersetzbar werden – N.P.]? Nein, er denkt nicht daran, aber etwas Ähnliches muss er fühlen […], Pinneberg, Johannes, denkt an Robinson. Das ist ungefähr dasselbe.“15

11 Jens Priwitzer schreibt, die Robinson-Episode erfülle in „Der Alpdruck“ als „Imagination der Schutzsuche“ eine Funktion der Sinn-Rekonstruktion: „Durch den Rückgriff auf eine vertraute literarische Figur kann Doll sich in seiner Umgebung verorten und die eigene Identität zurückfinden.“ (Priwitzer, Jens: Berlin als Stadt- und Erinnerungslandschaft in Falladas Roman „Der Alpdruck“. In: Zeit vergessen, Zeit erinnern. Hans Fallada und das kulturelle Gedächtnis. Hrsg. von Carsten Gansel und Werner Liersch. Göttingen: V&R unipress 2007, S. 69 – 93, hier: S. 89). 12 Der bislang wohl einzige Verweis auf die Nähe der im Folgenden zitierten Passage findet sich als knappe Notiz bei Günter Caspar, der der Sache jedoch nicht weiter nachgeht (vgl. Caspar, Fallada-Studien. 1988, S. 273). 13 Fallada, Hans: Kleiner Mann – was nun? [1932] Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 201968, S. 91. 14 Fallada, Hans: Kleiner Mann – was nun? Ungekürzte Neuausgabe. Mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Berlin: Aufbau 2016, S. 171. 15 Ebd.

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Nachdem „Kleiner Mann – was nun?“ ansonsten weitgehend auf Augenhöhe mit seinem Protagonisten erzählt ist, distanziert sich der Erzähler hier also stärker von ihm. Denn um als kleiner Mann glaubhaft zu bleiben, darf er die Gründe für seine Misere nicht durchschauen, politische Überlegungen müssen über einen extradiegetischen Erzähler laufen.16 Gerechtfertigt wird dieser für den Roman, wie erwähnt, untypische Exkurs dadurch, dass die Überlegungen an das Gefühl der Figur rückgebunden werden. Unklar ist aber zunächst natürlich, was das nun mit Robinson zu tun hat und warum dieser für „ungefähr dasselbe“ steht wie der Solidaritätsverlust unter den Angestellten. Die Erklärung lautet wie folgt: Als er ein Kind war – und er war kein sehr mutiges Kind –, lernte er Robinson kennen. Dies war alles zu verstehen: Man kam auf eine Insel, man war völlig allein, man baute sich sein Leben um sich auf. […] Man war der Herr seines Lebens, und wenn man hungern musste, lag es nur daran, dass man nicht aufgepasst hatte, Korn nicht zur Zeit gesät, oder so etwa. Von dem Augenblick an, wo die Fußspur entdeckt wurde, wo die Wilden kamen, wo Freitag kam, wurde es uninteressant für Pinneberg, das war gerade das, was er nicht wollte. […] Nun gut, der Robinson ging durch Pinnebergs Leben mit. Manchmal trat er ganz zurück, […] das waren die Zeiten, wenn Pinneberg sorgenlos war.17

Hier schaltet sich erneut der Erzähler ein, um diesen Zusammenhang noch etwas weiter auszuführen: Pinneberg ist ein erwachsener, normaler Mensch, normal ruhig, normal ängstlich. Aber nicht umsonst haben Jahre auf ihn mit Geldnot und Kündigungsfurcht […] eingewirkt: In seinen Wunschträumen kriecht er in die Erde zurück, in den Beutel, die Gebärmutter, in den Mutterschoß, in dem man ihm nichts tun kann, in dem er keine Angst zu haben braucht.18

Hergeleitet wird die Regressionsphantasie, die in Pinnebergs früherem Traum in eine „Höhle wie ein Hamsternest“19 führt, also aus einer kindlichen Abwehrreaktion, in die der Erwachsene unter starkem psychischen Druck wieder zurückfällt.

16 Auf den Zusammenhang zwischen dem Bruch mit der Erzählperspektive und der politischen Reflexion macht schon Carsten Gansel in seinem Nachwort zur Manuskript-Edition von „Kleiner Mann – was nun?“ aufmerksam (vgl. Gansel, Carsten: Von Robinson Crusoe, Charlie Chaplin und den Nazis. Das wiederentdeckte Originalmanuskript von Hans Falladas „Kleiner Mann – was nun?“. In: Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun? Ungekürzte Neuausgabe. Mit einem Nachwort von Carsten Gansel. Berlin: Aufbau 2016, S. 513f.). 17 Fallada: Kleiner Mann. 2016, S. 171. 18 Ebd., S. 172. 19 Ebd.

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3. Die Konfiguration der Nachkriegspoetik Als er 1945 einen Radiovortrag über seine literarischen Vorbilder hält, erinnert sich Hans Fallada an dieses Robinson-Motiv und weist sie als eigenes Phantasma aus.20 Und wie unschwer zu erkennen ist, baut er kurz darauf die Passage aus „Kleiner Mann – was nun?“ 15 Jahre nach ihrer dortigen Streichung bis in Ähnlichkeiten der Formulierung hinein in seinen „Alpdruck“-Roman wieder ein. Diese Rückführung des Robinson-Motivs auf das „Kleiner Mann“-Manuskript zeigt Falladas Bemühen, nach dem Krieg an die Poetik der früheren Romane wieder anzuschließen: Wie der gebeutelte Pinneberg als Symbolfigur für die von der Wirtschaftskrise getroffene Bevölkerung steht, so wird Doll seine Depressionen als symptomatisch für die europäische Nachkriegssituation lesen – eine psychologische Gemengelage wird über Regressionsphantasmen in gesellschaftliche Verhältnisse hineingespiegelt. Ebenso sprechend wie die Ähnlichkeiten im Wiederaufgreifen des Regressionsmotivs und des Verfahrens seiner Darstellung sind jedoch auch die Unterschiede zwischen den beiden Passagen – und zwar ebenfalls sowohl in psychologischer als auch in poetologischer Hinsicht. Wie erwähnt, wird die Robinson-Phantasie in „Kleinen Mann, was nun?“ über eine Konstruktion eingeführt, in welcher das Erinnerungsgeschehen durch einen intervenierenden Erzähler kommentiert wird: Indem Pinneberg kein Intellektueller ist, bleiben Zeitdiagnosen und psychologische Erklärungen von der Figur getrennt. Anders verhält es sich im „Alpdruck“. Nach dem dortigen RobinsonTraum heißt es: „Im Grunde […] – und das wusste Doll seit der Lektüre Freud’scher Schriften recht gut – bedeutete diese Felsenhöhle oder der geschützte Talkessel nichts anderes als den Schoß der Mutter, in die sich der Bedrohte zurückwünschte“ (A, 178). Während die psychologische Aufschlüsselung demselben Muster folgt, ist die Erzählkonstruktion hier eine andere: Nun hat die Figur selber Freud gelesen und kann diese Reflexion somit selber leisten. Und der Erzähler muss deshalb von der Figur auch nicht mehr abrücken, die Fokalisierungssituation innerhalb der Szene bleibt unverändert.

20 Im Vortragstext „Meine Ahnen“, der 2018 für eine Anthologie von Liebesgeschichten Falladas zum ersten Mal in voller Länge ediert wurde, heißt es als Reminiszenz an die Crusoe-Lektüre als Kind: „[S]tets in meinem Leben, wenn meine Lage schwierig oder gefährlich wurde, nahm ich bei den Robinson-Phantasien meine Zuflucht […]. Als die Bombennächte in Berlin meinen Nerven fast unerträglich wurden, wurde ich wieder zum Robinson und baute mir und den Meinen einen Bunker, in dem wir nicht nur solche Bombennächte, sondern auch den Krieg und alles danach überdauert hätten.“ (Fallada, Hans: Meine Ahnen [1945]. In.: Ders.: Junge Liebe zwischen Trümmern. Mit unveröffentlichten Erzählungen. Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Walther. Berlin: Aufbau 2018, S. 183 – 189, hier: S. 184).

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Figurenpsychologisch – und damit verknüpft dann auch politisch – bedeutet dieser Zusatz an Reflexivität eine tiefgreifende Veränderung: Der kleine Mann Pinneberg geht in seiner Opferrolle auf; die Verlängerung des Robinson-Traums ist bei ihm eben die besagte Barackensiedlung, in der er am Schluss landet. „Der Alpdruck“ hingegen gewinnt der Robinson-Phantasie auch Aspekte ab, die über das Rein-Regressive hinausgehen, sodass sich auch produktive Seiten des ‚Urhütten‘-Phantasmas zeigen. Und diese kann Doll aufgrund seiner höheren psychologischen Einsicht nun ausspielen. So wird er sich später im Roman sagen: „nie wieder […] in die Gewohnheiten der letzten Monate verfallen, in die Stumpfheit und Apathie, in das gleichgültige Sichgehenlassen“, und „es war ihm, als laufe er von seiner ganzen zerschlagenen, entgötterten Vergangenheit fort, in der er mit einem falschen und dummen Stolz auf sein Einzelgängertum und seine Robinsonade gelebt hatte“ (A, 199 f.). Die regressive Tendenz der Robinsonphantasie hilft Doll somit, in seiner Teppich-Urhütte einen neuen Selbstbezug zu entwickeln. Damit dieses Selbstverhältnis dann aber nicht in Stumpfheit und Apathie regressiv endet, muss er sich von seiner höhlenhaften Gemütsseligkeit aber auch wieder zu distanzieren lernen. Auch diese progressive Wendung des Robinson-Motivs findet sich in einem postum erschienenen Text vorgeprägt, nämlich in der Gefängniserzählung „Drei Jahre kein Mensch“ aus den späten 20er-Jahren.21 Dort heißt es: Der Mann, der zum ersten Male ins Gefängnis kommt, gleicht Robinson, den der Sturm auf eine wüste Insel verschlug. Alle Fähigkeiten, die er in seinem Leben draußen entwickelte, helfen ihm hier nichts, sie sind ihm eher hinderlich. Er muß noch einmal von vorn anfangen. Will er ein erträgliches Leben führen, muß er verlernen, was er wußte, und lernen, was Robinson lernte.22

Zunächst ist bei der Adaption des Robinson-Themas aus der früheren Romanpoetik im Alpdruck vor allem die Verbindung von Individualpsychologie und gesellschaftlicher Situation über das Prinzip einer psychologischen Schutzfunktion wichtig. Nun aber gewinnen zusätzlich dazu auch die anderen Seiten des Robin-

21 Wie das Nachwort von Günter Caspar zu einem gleichnamigen Band rekonstruiert, geht die Erzählung auf Tagebuchaufzeichnungen von Falladas dreimonatiger Inhaftierung 1924 sowie auf Erlebnisse der längeren Haftstrafe von 1926 bis 1928 zurück. Der damals unpublizierte Text ging offenbar 1929 an Rowohlt (vgl. Caspar, Günter: Zu den Texten. In: Fallada, Hans: Drei Jahre kein Mensch. Erlebtes. Erfahrenes. Erfundenes. Geschichten aus dem Nachlaß 1929 – 1944. Hrsg. und mit einem Nachwort von Günter Caspar. Berlin: Aufbau 1997, S. 140 – 144). 22 Hans Fallada: Drei Jahre kein Mensch [1929]. In: Ders.: Drei Jahre kein Mensch. Erlebtes. Erfahrenes. Erfundenes. Geschichten aus dem Nachlaß 1929 – 1944. Hrsg. und mit einem Nachwort von Günter Caspar. Berlin: Aufbau 1997, S. 40.

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son-Motivs an Gewicht; die Prinzipien reflexiver Selbstdistanz und der eigenen Anpassungsfähigkeit an neue Umstände, welche die regressive Tendenz konterkarieren. Und diese reflexive Wendung wird im Zusammenhang des „Alpdruck“Romans auch in politischer Hinsicht wichtig, wenn Doll von den ersten Anhörungen der Nürnberger Prozesse erfährt. Die Prozesse haben nur wenige Monate vor Beginn der Niederschrift des Romans begonnen und werden weit über sein Erscheinungsdatum hinausgehen. Hier reagiert der Roman also auf unmittelbarstes, noch im Vollzug begriffenes Zeitgeschehen. Angesichts der bei den Prozessen bekannt – oder bewusst – werdenden Ausmaße des Schreckens der Naziherrschaft ruft Doll aus: Das habe ich nicht gewusst! Dass es so schlimm war, habe ich nie geahnt! Hieran habe ich mich nicht mitschuldig gemacht. Aber dann kam immer wieder der Augenblick, wo er sich besann. Nicht noch einmal wollte er einer feigen Selbsttäuschung verfallen (A, 40).

In dieser Passage finden sich beide hier herausgestellten Bewegungen kondensiert: Einerseits den Rückbezug auf das Gemüthafte: „Das habe ich nicht gewusst“ – also Leugnung aus einem Betroffenheitsgefühl heraus. Und andererseits das reflexive Moment der Besinnung; „Nicht noch einmal wollte er einer feigen Selbsttäuschung verfallen“. Und in dieser Wendung liegt offenkundig auch ein Appell an die Leserschaft. Denn anders als Pinneberg kann der Protagonist des „Alpdrucks“ eben unmittelbares Zeitgeschehen kommentieren und einordnen. Und dasselbe fordert der Roman nun auch von seinen Lesern. Diese beiden Bewegungen von Regression und Reflexion, die sich in der Auseinandersetzung mit der unmittelbaren politischen Vergangenheit verdichten, stellen das dramaturgische Prinzip des ganzen Romans, und der These nach, auch die Grundlage von Falladas Nachkriegspoetik überhaupt dar: Aus dem Frühwerk wird die Logik des psychologisch-regressiven Protagonisten als gesellschaftliche Symptomfigur übernommen. Was im Frühwerk ebenfalls in nuce bereits im Erzählerkommentar vorhanden war, dort jedoch gestrichen wurde – das reflexive und das politische Moment –, wird nun von der Erzählkonstruktion bis hin zur politischen Aussage zum bestimmenden Prinzip.

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4. Fazit Fallada kategorisiert den „Alpdruck“-Roman im Vorwort, wie erwähnt, als Krankheitsgeschichte, woraufhin die Forschung die dokumentarische Qualität des Romans besonders betont hat.23 Ohne diese in Zweifel zu ziehen, macht ein Blick auf die Adaption der früher gestrichenen Robinson-Passage auf poetologische Zusammenhänge aufmerksam, anhand derer sich auch herausstellen lässt, wie stark sich Fallada zugleich motivisch und dramaturgisch auf die literarischen Verfahren seiner frühen Romane zurückbezieht, und mit welchen Mitteln er diese Verfahren zugleich modifiziert und weiterentwickelt, eben um sie auf die Situation nach 1945 hin anzupassen. In der Rückwendung auf die psychologische Schreibweise des Frühwerks leistet Fallada zu Beginn seines Romans die Darstellung eines Zustands psychischen und gesellschaftlichen Verfalls, die sich auch oder wohl sogar vornehmlich an jene Teile seiner Leserschaft richtet, die als Überlebende der Täter-Seite in den Narrativen der Nachkriegszeit gewissermaßen moralisch kein Anrecht auf die Aufarbeitung einer Traumatisierung geltend machen können. Um das Abgleiten in ein Opfernarrativ abzuwenden, wie es der früheren Poetik nahe liegt, leistet „Der Alpdruck“ eine Neukonfiguration von Falladas Romanpoetik. Beibehalten wird das kindliche und darin anthropologisch verallgemeinerbare Regressionsmotiv. Vermittels seiner politischen Neukonfiguration gelingt dann jedoch eine Umlenkung des titelgebenden Trauma-Motivs auf die Auseinandersetzung mit den Nürnberger Prozessen: An die Stelle von Phantasmen einer regressiven Restauration tritt die Beschäftigung mit den Verheerungen der nationalsozialistischen Diktatur. Und diese Aufarbeitung stellt der „Alpdruck“Roman – wiederum analog zu der im Roman geschilderten Krise auf psychologischer Ebene – als Voraussetzung einer gesellschaftlichen Erneuerung dar. Der Roman kann also, so die These, sein reflexives Potenzial besser entfalten, wenn man ihn aus den beiden bislang dominanten Lesarten befreit – der biografischen wie der dokumentarischen: Die biografische Lektüre folgt, wie dargestellt, entweder der Selbststilisierung des Autors allzu bedenkenlos, oder aber sie entwickelt dazu angesichts der biografischen Anleihen zu Beginn des Buchs eine kritische Haltung, die ihrerseits jedoch nur beschränkt aussagekräftig ist. Denn

23 Vgl. die bereits zitierten Texte Caspar: Zwischen Roman und Konfession. 1988; Zachau: Hans Fallada als politischer Schriftsteller. 1990; Luckscheiter: Am Nullpunkt des Erinnerns. 2008; Priwitzer: Berlin als Stadt- und Erinnerungslandschaft. 2008; sowie den Aufsatz Bernhardt, Rüdiger: Wirklichkeit und Traumwelt eines Chronisten. Zu Hans Falladas „Der Alpdruck“. In: Hans Fallada Jahrbuch 4 (2003), S. 9 – 42.

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zwar ist Falladas Bemühen, sich der russischen Verwaltung anzudienen – zumal aus sicherer historischer Distanz –, leicht zu beanstanden. Die politische Poetik des Romans trifft eine solche Kritik jedoch nur sehr bedingt. Und auch eine primär dokumentarische Lesart erweist sich als defizitär. Denn obschon der Roman interessante Einblicke in die Nachkriegsgesellschaft gibt, verstellt eine solche Lektüre den Blick auf die poetologischen Anknüpfungen an die früheren Bücher. Wie jedoch gerade die Beobachtungen an den zitierten Robinson-Passagen zeigen, leistet „Der Alpdruck“ im Rückgriff auf Elemente der frühen Werke jene dezidiert romanpoetische und politische Selbstverständigung zur Entwicklung einer Nachkriegsliteratur, welche dann auch die konzeptionelle Grundlage für den dokumentarischen Stil in „Jeder stirbt für sich allein“ darstellt.



IV. Trauma und Holocaust

Jan Süselbeck

Der dritte Weg. Traumatischer Realismus in autobiographischen Texten von Ruth Klüger, Otto Dov Kulka und Saul Friedländer 1. Einleitung Vor einigen Jahren erschien ein zweiter Teil von Saul Friedländers Autobiographie „Wenn die Erinnerung kommt“ (1979).1 In der späten Fortsetzung „Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben“ (2016) beginnt der Historiker und Shoah-Überlebende mit einer verblüffenden Anekdote. Er liegt nachts wach und kann sich nicht daran erinnern, was „Aubergine“ auf Hebräisch heißt, obwohl er einen Großteil seines Lebens in Israel verbrachte. Ihm fällt nur das englische Wort für dieses Gemüse ein, „eggplant“. Schließlich muss es ihm seine Lebensgefährtin Orna sagen: Das Wort, das er sucht, ist „Hatzilim“ (ML, 9).2 „Ein Erinnerungsbuch mit einer kleinen Geschichte über Gedächtnisverlust zu beginnen, mag wie ein Scherz anmuten“ (ML, 10), schreibt Friedländer weiter, aber es beschreibe ein „reales Problem, mit dem man trotz allem umgehen“ könne (ML, 10). Der Autor betont, dass er mit seinen Aufzeichnungen nach seinem 81. Geburtstag begann, „unter der ständigen Gefahr eines sporadischen Gedächtnisverlusts“ (ML, 12). Um das Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses gegenüber dem im Alter verbesserten Langzeitgedächtnis auszugleichen, gibt der Historiker an, Notizen über gegenwärtige Ereignisse gemacht und diese an bestimmten Stellen in seinen Text eingefügt zu haben, um lange Vergangenes „in ein neues Licht zu rücken“ (ML, 12). Wie geht das, Erinnerungen aufzuschreiben, die mit einem schweren Trauma zusammenhängen? Gewiss muss man vorsichtig damit sein, die Schriften Überlebender des Holocaust allzu kurzschlüssig zu vergleichen. Jede ihrer Erfahrungen musste schon allein dadurch einzigartig sein, dass sie inmitten des Grauens durch unvorhergesehene Zufälle und, wenn man in dem Zusammenhang überhaupt davon sprechen kann, glücklichen Fügungen bestimmt wurde. Der 1932 geborene Friedländer, der zur Zeit des Holocaust fast im gleichen Alter war wie Ruth Klüger (geboren 1931)

1 Friedländer, Saul: Wenn die Erinnerung kommt. Autobiographie. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich. München: Deutsche Verlagsanstalt 1979 [im Folgenden unter der Sigle „E“ im Text]. 2 Friedländer, Saul: Wohin die Erinnerung führt. Mein Leben. Aus dem Englischen übersetzt von Ruth Keen und Erhard Stölting. München: C. H. Beck 2016 [im Folgenden unter der Sigle „ML“ im Text]. https://doi.org/10.1515/9783110683028-020

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und Otto Dov Kulka (geboren 1933), überlebte als Kind mit einer neuen Identität, versteckt in einem katholischen Internat in Frankreich. Die anderen beiden, deren Erinnerungen hier genauer analysiert werden sollen, wurden dagegen selbst nach Auschwitz deportiert und gehören zu den wenigen Opfern, denen danach die Flucht gelang. Wie sich allerdings zeigen wird, ist Friedländers konstruktiver Umgang mit der Realität der kognitiven Entrückung der Geschichte des eigenen Überlebens in der subjektiven Erinnerung typisch für die „Schreibszene“ des Gedächtnisses von Überlebenden, um Rüdiger Campes Begriff aus der Schreibforschung zu zitieren, den der Literaturwissenschaftler in der ihm eigenen, leicht kryptischen Diktion als „nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“ definiert.3 Die Hürden, die beim Verfassen von Erinnerungstexten Holocaust-Überlebender in der Sprache, in der Wahl des schreibtechnischen Mediums und der damit eng verbundenen Gestik der Niederschrift zu überwinden sind, sind eng mit der schwierigen Unterscheidung von Fakten und Fiktionen verknüpft. Wie sich im Folgenden zeigen wird, dachte Friedländer in ähnlicher Weise wie Klüger und Kulka über die Schwierigkeit nach, im Bewusstsein der postmodernen Infragestellung absoluter Wahrheiten und der Wandelbarkeit der menschlichen Erinnerung dennoch dezidiert Zeugnis abzulegen, um der drohenden Relativierung von Auschwitz etwas entgegenzusetzen. Nach der Beobachtung von Karolin Machtans entsteht diese selbstreflexive autobiographische Kohärenz bei Friedländer nicht „durch das Ausblenden einzelner Lebensabschnitte oder das Einebnen des Lebenslaufs in eine chronologische Darstellung, sondern gerade in der Wahrnehmung seiner Disparatheit“.4 Die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen wird dabei keinesfalls aufgelöst, zugleich aber die Möglichkeit eines „erlösenden Abschließens“ der wissenschaftlichen und literarischen Erinnerungsarbeit kategorisch zurückgewiesen.5 Genauso wie Klüger und Kulka reflektiert auch Saul Friedländer „den eigenen Erinnerungs- und Schreibprozess als immer konstruierten, prozesshaften“.6

3 Campe, Rüdiger: „Die Schreibszene. Schreiben“. In: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 759 – 772. Hier: S. 760. Siehe dazu auch Stingelin, Martin: „‚Schreiben‘. Einleitung“. In: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hrsg. von Martin Stingelin unter Mitarbeit von Sandro Zanetti und Davide Giuriato. München: Fink Verlag 2004, S. 7 – 21. 4 Machtans, Karolin: Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt: Saul Friedländer und Ruth Klüger. Tübingen: Niemeyer 2009, S. 74. 5 Ebd., S. 66. 6 Ebd., S. 117.

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2. Generelle Fragen zur Genese autobiographischen Schreibens nach Auschwitz Sind Autobiographien Fiktion? Die Psychologen und Neurobiologen meinen: ja. Nach der Formulierung von Machtans besteht autobiographisches Erinnern in der „Neuordnung und Interpretation der vergangenen Ereignisse, die an den Deutungsanspruch der Gegenwart angepasst werden und so permanenten Veränderungen unterliegen“.7 Mit anderen Worten: Das menschliche Gehirn kann gar nicht anders, als unser Bild der Vergangenheit und dasjenige unseres eigenen Lebens immer wieder neu zu konstruieren und dazu Erfahrungen und Informationen aus der Gegenwart zu verwenden. Sind Memoiren also schon erfunden, bevor sie überhaupt aufgeschrieben werden? Was ist hier Dichtung, was Wahrheit? Längst ist klar, dass es schwierig ist, hier eindeutige Trennlinien zu ziehen. Spätestens seit 1945 begannen jene Definitionen von Dichtung und Geschichtsschreibung drastisch zu verschwimmen, die man im 19. Jahrhundert noch für selbstverständlich gehalten hatte. Nach Hayden White hat jedoch nichts die Hierarchieverschiebungen zwischen Wissenschaft und Kunst in der Moderne so sehr verändert wie die Vernichtung der europäischen Juden – „nothing has been more radically disturbing of these changes to inherited ideas of both (social) science and art, than the event known by the different names of Holocaust, Shoah, the Destruction, the Extermination“.8 Um damit zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Sind alle publizierten Erinnerungen an die Shoah bloße Fiktionen? Nein. Die Vernichtung der europäischen Juden mit diesem Argument in Zweifel zu ziehen, wäre Antisemitismus. Allerdings sind sich neuere Autobiographien Shoah-Überlebender des Problems der rekonstruierenden Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses in hohem Maße bewusst und versuchen, diesen Unsicherheits- und Verfremdungsfaktor offensiv für ihre Meta-Poetik literarischen und zugleich historischen Erinnerns nutzbar zu machen. Die radikale Offenlegung der Subjektivität und der gebrochenen Ästhetik dieser Texte erzeugt eine besondere selbstkritische Wahrhaftigkeit. Sie erheben einen stets sich selbst hinterfragenden Referenzanspruch, der diese Literatur als Geschichtswissenschaft mit anderen Mitteln erscheinen lässt.9

7 Ebd., S. 4. 8 White, Hayden: The History Fiction Divide. In: Holocaust Studies 20, 2014, H. 1 – 2, S. 17 – 34. Hier: S. 32. 9 Vgl. dazu auch Machtans, Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt. 2009, S. 7.

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3. Ruth Klügers Poetologie der kognitiven Empathie Die folgenden Überlegungen beziehen sich vor allem auf zwei der wichtigsten UrheberInnen der späten Shoah-Autobiographik nach 1990. Beide haben – genauso wie Saul Friedländer – eine lange akademische Karriere hinter sich. Die Autorin Ruth Klüger ist Literaturwissenschaftlerin, so wie der Zeitzeuge Otto Dov Kulka als professioneller Historiker über die Shoah arbeitet. Beide waren zur gleichen Zeit als Kinder in Theresienstadt interniert, wurden etwa im selben Alter – Kulka mit zehn bzw. elf Jahren, Klüger mit zwölf – ins sogenannte Familienlager B II b in Auschwitz deportiert. Dass sie zur gleichen Zeit an den gleichen Orten waren, lässt einen näheren Vergleich beider Fälle umso naheliegender erscheinen. Michael Rothberg definiert Klügers autobiographischen Ansatz als „traumatischen Realismus“. Dabei handelt es sich um eine paradoxe Denkfigur, die ziemlich genau das beschreibt, was „weiter leben“, der Titel von Klügers erstem ShoahErinnerungstext, andeutet. Im Wissen um die Unmöglichkeit einer ‚wirklichen‘ erinnernden Wiederbelebung des Geschehenen und der Toten wird deren anwesende Abwesenheit im Alltag der Überlebenden zu einer literarisch immer wieder neu zu konfigurierenden Realität, die in kreisenden, zweifelnden Bewegungen des Weiterlebens umschrieben wird. Gerade weil der traumatische Realismus vom Skeptizismus gegenüber seinem eigenen Projekt geprägt ist, beharrt er auf dem Ziel, das Vergangene durch diesen Zweifel hindurch begreifbar zu machen: „The abyss at the heart of trauma entails not only the exile of the real but also its insistence“, schreibt Rothberg. Und weiter: „In the wake of modern and postmodern skepticism, traumatic realism revives the project of realism – but only because it knows it cannot revive the dead.“10 An dem Trauma, lebenslang über den gewaltsamen Tod ihres Vaters und ihres älteren Bruders Schorschi nachdenken zu müssen, die beide im Baltikum bei deutschen Massenerschießungen ermordet wurden, arbeitet sich auch Ruth Klüger in ihren autobiographischen Texten immer wieder ab. Insbesondere die Existenz eines englischsprachigen Paralleltextes zu „weiter leben“ belegt die Unabschließbarkeit dieser Erinnerungsarbeit im Zeichen des traumatischen Realismus. Sie ist das zentrale Thema sowohl in der deutschen als auch in der erst zehn Jahre später vorgelegten, stark umgeschriebenen, teils gekürzten und ergänzten Übersetzung, die in Amerika als „Still alive“ und in Großbritannien mit dem Titel „Landscapes of Memory“ erschien.

10 Rothberg, Michael: Traumatic Realism: The Demands of Holocaust Representation. Minneapolis 2000, S. 140.

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Klüger und ihre Mutter wussten zeitlebens lange gar nicht, wohin ihre deportierten Verwandten genau verschleppt und wie genau sie gestorben waren bzw. ob dies überhaupt geschah. Beide Verwandten wurden für Klüger zu Gespenstern, die sie zur ständigen Rekonstruktion ihrer wahrscheinlichen oder denkbaren Todesarten zwangen. „Wo kein Grab ist“, schreibt Klüger in „weiter leben“, höre die Trauerarbeit nicht auf: „Oder wir werden wie die Tiere und leisten gar keine. Mit Grab meine ich nicht eine Stelle auf einem Friedhof, sondern das Wissen um das Sterben, den Tod eines Nahestehenden. Für meine Mutter gab es nie einen Tag, an dem sie mit Sicherheit gewußt hätte, daß die zwei, der Mann und der Bub, dem Massenmord nicht entkommen waren“ (WL, 94; SA, 80).11 Es dauerte Jahrzehnte, bis Klüger den tatsächlichen Tatort der Ermordung ihres Bruders bei Riga erfuhr, der in einer der von den deutschen Besatzern organisierten Massenerschießungen im Jahr 1940 umkam. Zu ihrem Entsetzen hörte sie davon bei einem akademischen Abendessen in Princeton. Ein Historiker-Kollege erzählte beim Cognac von einem der Deportationszüge in die lettische Stadt, ohne zu ahnen, dass er damit eine Thema anschnitt, dass für Ruth Klüger persönliche traumatische Bedeutung hatte (WL, 96 f.; SA, 82 f.). Mit Marianne Hirsch kann man im Blick auf Klügers Erfahrungen mit der Opfergeschichte ihres Bruders von einem Postmemory-Effekt sprechen, auch wenn die Autorin selbst eine Auschwitz-Überlebende ist. Marianne Hirsch beschreibt Postmemory primär als „response of the second generation to the trauma of the first,“12 also eine familiäre Kommunikation, die auf Seiten der Kinder u. a. darin besteht, nur schemenhaft tradierte Traumata der überlebenden Eltern mittels bekannter Holocaust-Bilder, Fotos, Texte oder historischem Allgemeinwissen selbst neu zu konstruieren und schließlich so ins eigene Gedächtnis zu übernehmen, als handele es sich dabei um eine reale persönliche Erinnerung. Marianne Hirschs Definition lautet: „Postmemory“ describes the relationship that the „generation after“ bears to the personal, collective, and cultural trauma of those who came before – to experiences they „remember“ only by means of the stories, images, and behaviors among which they grew up. But these experiences were transmitted to them so deeply and affectively as to seem to constitute memories in their own right. Postmemory’s connection to the past is thus actually mediated not by recall but by imaginative investment, projection, and creation.13

11 Klüger, Ruth: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen: Wallstein Verlag 1993 [nachfolgend unter der Sigle „WL“ im Text]. Vgl. auch Dsb.: Ruth Kluger: Still alive. A Holocaust girlhood remembered. Foreword by Lore Segal. New York: The Feminist Press at the City University of New York 2001 [nachfolgend unter der Sigle „SA“ im Text]. 12 Hirsch, Marianne: Surviving Images. Yale Journal of Criticism 14, 2001, H. 1, S. 5 – 37, hier: S. 8. 13 Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York 2012, S. 5.

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Klüger gehört als Kind eines im Holocaust ermordeten Vaters jedoch gewissermaßen zur „1.5 generation of child survivors,“14 da sie zwar selbst in Auschwitz war, jedoch zugleich an einer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter laborierte, die das Vernichtungslager zusammen mit ihr überlebte. Klüger war seither dabei auf sich selbst zurückgeworfen, sich genau auszumalen, was ihre of mysteriös agierende Mutter damals genau gedacht bzw. wie ihr Bruder und ihr Vater genau gestorben sein mochten. Sie kämpfte also nicht nur mit ihrem eigenen Auschwitz-Trauma, sondern zugleich mit dem per se unerfüllbaren Wunsch, ihre unberechenbare Mutter zu verstehen bzw. für sich selbst eine ‚heilende‘ Nacherzählung des Todes ihres Vaters und ihres Bruders zu finden. In einem für Überlebende typischen Verantwortungsgefühl für jene Verwandten, die weniger Glück hatten als sie selbst, versuchte Klüger zudem symbolische Gegenleistungen für ihr eigenes Überleben gegenüber den grausam ermordeten Angehörigen zu erbringen. Dazu gehörte das jahrzehntelange Behalten der Auschwitz-Nr. auf ihrem Arm, wie sie in ihrer zweiten Autobiographie „unterwegs verloren. Erinnerungen“ (2008) berichtet. Die Nr. sei ihr sowohl als „Andenken“ (UV, 11)15 an die Gespenster erschienen, als auch als „Verpflichtung den Toten gegenüber“ (UV, 15). Klüger schrieb als junges Mädchen aber z. B. auch ein Gedicht über ihren Vater, in dem sie sich vorstellte, er sei im Meer ertrunken. Oder sie malte sich aus, er habe sich vor seiner zunächst noch von ihr angenommenen Vergasung im Deportationszug noch schnell mit Tabletten umbringen können. Diese ‚beruhigenden‘ Postmemory-Phantasien über die Ermordung des eigenen Vaters hat Klüger in „Still alive“ an einer drastischen Stelle, die in „weiter leben“ so konzise und verknappt noch nicht formuliert wurde,16 in besonders selbstkritischer Weise als bloße Wunscherfüllung analysiert und dekonstruiert: I stubbornly rejected that thought by fantasizing that he committed suicide on the train, for wasn’t he a doctor with access to suicide pills? It took me half a life and more to come to the obvious conclusion that this is pure wish fulfillment. My German and English poems for him were a kind of exorcism, to gloss over the fact that he didn’t drown in every, or even any, sea, but was made to breathe poison in a cramped room full of people. The symbolic claptrap was a kind of security blanket, for since we have researched everything about the fate of the victims, we know how they died in the gas chambers. The strong climbed on top of the weak in the last agony, as they choked. So the men were always on top when they pulled out the corpses, and the women and children at the bottom.

14 Ebd., S. 15. 15 Klüger, Ruth: unterwegs verloren. Erinnerungen. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2008 [im Folgenden unter der Sigle „UV“ im Text]. 16 Vgl. dazu die ausführlichere und komplexer angelegte, mit anderen Vater-Gedichten illustrierte Passage in weiter leben, S. 32 – 36.

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That is what came to my mind when I heard that he liked to say he had no elbows: the question of wether he trampled on those who where weaker. My father did this? On kids like me, when he died? Perhaps he didn’t, since he had no elbows. But do you have a choice, or have you reached the limits of freedom, when you are choking on poison gas? These are the questions I cannot answer and cannot shed (SA, 39).

Diese selbst thematisierte Unfähigkeit, bestimmte Fragen über das konkrete Schicksal der eigenen Familienmitglieder im Holocaust abschließend zu beantworten, zeichnet den traumatischen Realismus von Klügers Autobiographien aus. Ihre Texte bewegen sich demnach in einem ästhetischen Zwischenraum, der gerade in seinen selbstreflexiven Momenten auf konkrete Erkenntniseffekte auch im Publikum zielt und dessen mögliche problematische emotionale Reaktionen durch die direkte herausfordernde Kommunikation mit den RezipientInnen zu erschweren sucht. So wie Klüger die unüberbrückbare Distanz ihres eigenen Traumas zu dem ihrer ermordeten Verwandten anerkennen muss, macht sie auch ihren LeserInnen stets deutlich, dass eine wohlfeile Identifikation der Öffentlichkeit mit ihrer Überlebensgeschichte für sie als Autorin untolerierbar ist. Es gibt in diesem dialogischen Schreiben keine Ausflucht vor dem bohrenden Vorwurf, den die Geschichte der Shoah für alle Weiter- und Nachlebenden bedeutet, es existiert kein Happy End und keinerlei Regression in abschließenden, erlösenden Erzählungen. Die Autorin spricht zugleich als bekennende Wissenschaftlerin, als praktizierende Autobiographin, als Frau und als Jüdin zu ihren LeserInnen. Sie macht dabei keinen Hehl daraus, dass sich diese multiplen Identitäten im Laufe ihres Lebens stets gegenseitig beeinflussten – und sich nicht etwa ausschlossen. Laut Machtans greifen hier „wissenschaftliche Auseinandersetzung und autobiographisches Projekt ineinander“. Darüber hinaus verweise die Form des Essays in Klügers Büchern „auf die Vorläufigkeit des Gesagten“ und impliziere, dass „eine abschließende Deutung“ der eigenen Lebensgeschichte ebensowenig wie die literarischer Dokumente existiere.17 Darin liegt wohl einer der wesentlichen Verdienste Klügers für eine verantwortungsvolle Erziehung nach Auschwitz – die regressive Neigung des Publikums zur selbstbezogenen Sentimentalität pädagogisch in, so der Terminus bei Ann Rider, kognitive Empathie zu verwandeln. Damit ist eine Form des Mitleids gemeint, die nicht auf egoistischen Affekten sogenannter „trace memories“ beruht, also dem Versuch, das Gelesene durch eigene, scheinbar ähnliche Erlebnisse verständlich und nachfühlbar zu machen, sondern auf dem differenzierten, historisch kontextualisierten Verständnis dessen, was den ‚Anderen‘ angetan wurde. Rider arbeitet heraus, dass Klügers Autobiographie die Aktivierung dieser „trace memories“, also

17 Machtans, Zwischen Wissenschaft und autobiographischem Projekt, 2009, S. 245.

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eigener Erinnerungen der Leser, die diese zur (historisch gesehen unmöglichen) persönlichen Identifikation und Empathie mit der Erzählerin heranziehen zu können glauben, stets zu durchkreuzen versucht. Dazu zähle letztlich sogar Klügers eigener Versuch, eine Erinnerungs-Brücke zur Erfahrung der Vergasungsopfer zu konstruieren, da der Text die Vergeblichkeit dieses Bestrebens sogleich mit einräume: But paradoxically her search for meaning reveals that the „bridges“ she so fervently wishes for simply do not exist. Readers are thereby prompted to recognize that their trace memories cannot compare to he horror of the camps. And ultimately, that is as it should be. Understanding, then, is aporetic: it requires both comparison and uniqueness.18

Und dennoch: Im Wissen um die Schwierigkeit, extreme Ereignisse wie den Tod in der Gaskammer als Überlebende mimetisch zu erfassen, verweigert Klügers traumatischer Realismus zugleich die postmoderne Flucht in unverbindliche Allgemeinplätze wie den der generellen ‚Undarstellbarkeit‘ der Shoah.

4. Otto Dov Kulkas Wanderung an den Grenzen der Erinnerung Auch Otto Dov Kulkas fragmentarisches Buch „Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft“ (2013), zunächst in Teilen auf Hebräisch erschienen und dann in viele europäische Sprachen übersetzt, ist ein (post-)moderner Text, der u. a. eine Reihe von (Alp-) Traum-Protokollen collagiert.19 Bereits im zitierten Untertitel und in seinem Vorwort betont der Autor, dass es sich bei seinem Text lediglich um Gedächtnisfragmente handele. Kulka nennt seine Erinnerungen, die er von 1991 bis 2001 zunächst auf Tonbänder aufsprach, „Bilder“, die aus seinem „Gedächtnis aufstiegen“ und die er in diesen Aufzeichnungen als „Kindheitslandschaften aus Auschwitz“ zu beschreiben versuchte:

18 Vgl. Rider, Ann N.: The Perils of Empathy: Holocaust Narratives, Cognitive Studies and the Politics of Sentiment. In: Holocaust Studies 19, 2013, H. 3, S. 43 – 72. Hier: S. 61. Vgl. dazu auch ebd., S. 43 – 72. Hier: S. 62: „Thus, Klüger’s critical voice provides pedagogical insight and explores the path that leads away from a culturally determined propensity for sentimentality, and toward a productive cognitive empathy.“ 19 Kulka erzählt in einem online zu findenden Gespräch bei der Jewish Book Week in London 2014 über sein Projekt, dass er den Entschluss zur Transkription seiner ca. 4.000 Seiten umfassenden Audio-Erinnerungen und zur Kondensierung dieses Konvolutes zu einem Erinnerungsbuch Ende der 1990er-Jahre nach einer Krebs-Operation fasste, als der Arzt ihm eröffnet hatte, dass er nur noch zwei oder drei Jahre zu leben habe. https://vimeo.com/88658799 (Zugriff am 25.08.2018).

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Es handelt sich bei den Aufnahmen weder um ein historisches Zeugnis noch um autobiographische Erinnerungen, sondern um die Betrachtungen eines Menschen in seinen späten Fünfzigern und Sechzigern, der jene Fragmente der Erinnerung und der Vorstellungskraft in seinen Gedanken hin- und her wendet, die aus der Welt des staunenden Kindes von zehn bis elf Jahren, das ich damals war, geblieben sind (L, 9).20

Wie auch schon bei Klüger wird in Kulkas Buch die Unzuverlässigkeit des Gedächtnisses, die dabei deutlich wird, nie geleugnet. So ist es dem Autor etwa nicht möglich, sich zu erinnern, ob es in dem Kinder-Block von B II b, in dem u. a. Schulunterricht und Theateraufführungen stattfanden, Bänke gab oder ob man einfach auf dem nackten Boden saß.21 Die Einzigartigkeit von Kulkas Werk besteht in der zehn Jahre währenden Textgenese über zunächst nur für den Autor selbst bestimmte Kassettenaufnahmen. Kulka betont, dass er versuchte, den Rhythmus der Sprache auf seinen TapeRecordings in seinem Transkript möglichst genauso zu belassen, wie er spontan aufgenommen und formuliert worden war. Mit dem Linguisten Ludwig Jäger, der Grundlagen der Schreibprozessforschung mit denen der ethnomethodologischen Gesprächsanalyse verbindet und so Ansätze zu einer anthropologischen Perspektive auf Formen medialer Transkriptivität entwickelt, ließe sich Kulkas kreativer Umgang mit seinen traumatischen ‚Störungen des Selbst‘ als Form der Audioliteralität kennzeichnen: Nach Jäger kann die intermediale „Übersetzung“, die „Logik des Transkriptiven“ in Kulkas Schreibprozess, als ein „rekursives Verfahren der autohermeneutischen Transkription“ verstanden werden.22 Dieses phonographische Verfahren folgt einer Praxis, die Jäger – ursprünglich mit Blick auf das Medium des Hörbuchs – als audioliterales Schreiben bezeichnet und das in seinen Augen „durchaus in Analogie zum literarischen Schreiben verstanden werden darf“.23 Eine genuine Verknüpfung der Erinnerung mit der persönlichen Form der Artikulation in einer bestimmten Sprache gibt es wiederum auch bei Ruth Klüger,

20 Dov Kulka, Otto: Landschaften der Metropole des Todes. Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und der Vorstellungskraft. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2013 [im Folgenden unter der Sigle „L“ im Text]. 21 Ebd., S. 36: „Dieses Detail konnte ich unter keinen Umständen aus meiner Erinnerung heraufholen.“ 22 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München 2004, S. 37 – 73, hier: S. 47. 23 Jäger, Ludwig: Audioliteralität. Eine Skizze zur Transkriptivität des Hörbuchs. In: Das Hörbuch. Praktiken audioliteralen Schreibens und Verstehens. Hrsg. von Natalie Binczek und Cornelia Epping-Jäger. München 2014, S. 231 – 253; hier: S. 232.

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deren Wiener Dialekt ihre Autobiographie von der Kindheit her auffällig prägt,24 etwa in umgangssprachlichen Formulierungen wie: „ich komm nicht von Auschwitz her, ich stamm aus Wien“ (WL, 138). Der Siegener Literaturwissenschaftler Jörg Döring hat für diese Souveränität gegenüber literarischen Formen durch die Imitation gesprochener Sprache den Begriff der „sekundären Oralität“ geprägt.25 Es ist ein strikt privates, für den Autor nicht mit dem Diskurs der Literatur nach Auschwitz vereinbares Gedächtnis, dem Kulka in seinen Kassettenaufnahmen, den Tagebucheintragungen und deren Transkription in den „Landschaften der Metropole des Todes“ genauer nachzugehen versucht. Er sei ausgezogen, dieses „Gedächtnis zu erforschen“, betont der Historiker, er schreibe jedoch „keine Erinnerungen“ (L, 66). Was Kulka dabei findet, vermag er sich paradoxerweise eher mit Franz Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ (1915) zu erklären als mit geschichtswissenschaftlichen Mitteln. Wie in Kafkas Türhüter-Legende gebe es ein Tor zu seiner privaten Mythologie, das nur für Kulka selbst bestimmt gewesen sei und durch das ihm bei dessen Schließung ein neues Licht zuleuchte – so zumindest die vorsichtige Vermutung des Autors am Ende seines Tape-Transkripts (L, 119 – 124). Daher auch die Verstörung bei Hayden White, den Kulkas literarische Zitations- und Verfremdungstechniken in den „Landschaften des Todes“ an den Rand des Nicht-Verstehens manövrieren, wenn er als Historiker versucht, Kulkas interpretationsoffene Traumprotokolle, seine Kafka- und Kleist-Zitate oder auch seine Verwendung von – in diesem Kontext automatisch mehrfach codierten – fotografischen Illustrationen auf einen Nenner zu bringen. „Although it is narrated and contains a number of different narratives, the text as a whole resists anything like narrativistic or plot-like coherence,“ stellt White erstaunt fest.26 Mit Jacques Derrida könnte man sagen, dass Otto Dov Kulkas Erinnerungssuche nach der verlorenen Kindheit in Auschwitz im Bewusstsein aufgezeichnet wurde, dass sie der genuinen Rätselhaftigkeit und Vermitteltheit von Sprach-, Rede- und Text-Substituten nie entkommen können. Kulka weiß, dass seine unvermeidlichen Gedächtnislücken trotz vielfacher intermedialer Akte der Transkription oder der

24 Vgl. Klügers Bemerkung in Schmidtkunz, Renata: Im Gespräch. Ruth Klüger. Wien: Mandelbaum 2008, S. 23 f. Klüger deutet an, dass ihre Sprache eine Form des Redens konserviert zu haben scheint, die mit dem Wiener Judentum untergangen ist: „Wien ist die einzige Stadt in der Welt, der einzige Ort in der Welt, wo die Leute so reden wie ich, obwohl man mir sagt: Wie ich spreche, ist ein Schönbrunner Deutsch oder etwas ganz Altmodisches.“ 25 Döring, Jörg: „Redesprache, trotzdem Schrift“. Sekundäre Oralität bei Peter Kurzeck und Christian Kracht. In: Verkehrsformen und Schreibverhältnisse. Medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jörg Döring,  Christian Jäger und Thomas Wegmann. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 226 – 233. 26 White, The History Fiction Divide. 2014, S. 27.

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intertextuellen Allegorisierung von Flashbacks und wiederholten Alpträumen stets von der Unerreichbarkeit der früheren Realität des Shoah-Traumas künden werden: „Il n’y a pas de hors-texte.“ In den Worten des amerikanischen Komparatisten Jonathan Culler: „‚There is no outside-of-text‘: when you think you are getting outside, to ‚reality itself‘, what you find is more text, more signs, chains of supplements.“27 Bei Kulka ist das wörtlich zu nehmen. Eine der zahlreichen verwendeten Abbildungen in seinem Werk stammt etwa aus W. G. Sebalds 2001 erschienenem Roman „Austerlitz“ (L, 53). Damit wird die Vexierbildhaftigkeit seines Textes auf die Spitze getrieben: Der in der Tschechoslowakei geborene und als Kind von Theresienstadt nach Auschwitz deportierte Kulka zitiert damit ausgerechnet einen Roman eines deutschen Autors, der die nicht ganz fiktive Geschichte eines tschechisch-jüdischen Jungen aus Prag nacherzählt, welcher durch seine rettende Verschickung mit einem der letzten Kindertransporte nach England überlebte, als erwachsener Mann seine verlorenen Erinnerungen an seine Jugend wiederzufinden versucht und auf den Spuren seiner ermordeten Mutter nach Theresienstadt fährt.28 Allein schon die Erläuterung der komplexen intertextuellen Verknüpfungen und Widersprüche, die sich durch die Verwendung jenes fotografischen Deckerinnerungs-Motivs zwischen Sebalds Text und dem Kulkas ergeben, das eine verschwommene historische Ansicht der Londoner Liverpool Street Station zeigt, würden den Rahmen des vorliegenden Beitrags sprengen. Hier nur einige kurze Andeutungen zu dieser vertrackten Gemengelage: Der auratische UntergrundBahnhof avanciert in „Austerlitz“ für den jüdischen Protagonisten zu einem „Eingang zur Unterwelt“, einem „Ort der spektralen Wiederkehr der Toten“, der zu einem Auslöser gespenstischer Holocaust-Flashbacks wird.29 Erstaunlich ist dieser illustrative Verweis bei Kulka vor allem deshalb, weil in der Forschung umstritten ist, ob Sebald, der in „Austerlitz“ ungefragt die Überlebensgeschichte der Kindertransport-Zeugin Susi Bechhöfer verarbeitete, sich in seinen Büchern nicht einer wiederholten literarischen Aneignung, einer cultural appropriation von jüdischen Opfergeschichten aus deutscher Sicht schuldig mache, die man auch als „vicarious victimhood“ beschrieben hat.30

27 Culler, Jonathan: Literary Theory. A Very Short Introduction. Oxford/New York: Oxford University Press 2011, S. 12. 28 Sebald, W. G.: Austerlitz. Roman. München: Hanser 2001. 29 Vgl. dazu Horstkotte, Silke: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau Verlag 2009, S. 228 f. 30 Vgl. ebd., S. 170 f. Horstkotte verweist hier u. a. auch auf Sebalds Roman „Die Ausgewanderten“ (1992), in dem der Autor die Flüchtlingsgeschichte von Marcel Reich-Ranickis Cousin, dem britischen Maler Frank Auerbach, verarbeitete und diesen durch den geänderten Namen Max Aurach

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Katra A. Byram arbeitet jedenfalls in einer differenzierten narratologischen Studie heraus, wie die Stimme des namenlosen deutschen Erzählers und des traumatisierten Holocaust-Überlebenden Jacques Austerlitz in Sebalds Roman mittels Thomas Bernhard’scher Inquitformeln in problematischer Weise ineinander verschwimmen.31 Mehr noch: In der im narrativen Diskurs immer wieder an die Oberfläche drängenden, unklaren Traumatisierung des namenlosen deutschen Erzählers wird dabei laut Byram in Sebalds „Austerlitz“ eine nicht vollständige Unterdrückung einer dräuenden Opferkonkurrenz erkennbar, die jedoch aus ethischen Gründen im Text nicht explizit ausformuliert werden darf. Ohne diese gegenwartsliterarische Kontextualisierung in ihrer Studie selbst vorzunehmen, beschreibt die amerikanische Literaturwissenschaftlerin damit eine Erzähl-Konstellation in „Austerlitz“, wie sie etwa auch in Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ (1995) deutlicher zu beobachten ist: „In this text“, schreibt Byram über „Austerlitz“, „the German narrator is a traumatized victim of a history that has been silenced in favor of the Jewish victim’s story. As a result, the narrator cannot hope to process his trauma or to experience a healing release from it. He is the unrecognized victim of the past that haunts Austerlitz.“32 Diese vieldeutigen und kaleidoskopartig verspiegelten Symboliken traumatischer Deckerinnerungen bei Sebald sind bereits scharf kritisiert worden. Die Literaturwissenshaftlerin Silke Horstkotte etwa spricht im Blick auf die kryptischen Foto-Illustrationen in „Austerlitz“, von denen die Liverpool Station nur ein Beispiel ist, in ihrer Habilschrift gar von einem „System paranoiden Sammelwahns“ bei Sebald,33 das nur noch von der kompletten Sinnentleerung der Auschwitz-Motivik zur schauerliterarischen Überdeterminierung der belanglosen eigenen deutschen Familiengeschichte in Stephan Wackwitz’ Pseudo-Sebald-Roman „Ein unsichtbares Land“ (2003) übertroffen werde.34

zu einem „alter ego des Autors“ stilisierte, da der Vorname Max wiederum ein selbstgewähltes Pseudonym Sebalds war. 31 Byram, Katra A.: Ethics and the Dynamic Observer Narrator: Reckoning with Past and Present in German Literature. Columbus: Ohio State University Press 2015, S. 210: „The narrator has blurred the distinctions between himself and his subject to the extend that the reader can determine no clear voice for either one. In other words, despite Sebald’s clear emphasis on maintaining distance between the narrator and Austerlitz, the text undermines that distance in many ways.“ Siehe dazu auch die treffende Formulierung auf S. 208: „In other words, the text shows a constant tension between the narrator’s self-erasure and the insistent need, both psychological and and ethical, to insert himself in the story.“ 32 Ebd., S. 217. 33 Horstkotte, Nachbilder. 2009, S. 253. 34 Ebd., S. 280. Bei Wackwitz werde das Sebald’sche Verfahren gespenstisch anmutender Bebilderungen des Textes mit unerläuterten Fotos „dadurch problematisch, daß es hier gar nicht um

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Kurz: All diese problematischen Kontexte deutscher literarischer Aneignungen des Auschwitz-Topos halten Kulka jedoch keineswegs davon ab, genau solche Polyphonien des Schreibens vor und nach Auschwitz in seine eigenen fragmentarischen Erinnerungen als tatsächliches Holocaust-Opfer zu reintegrieren, um damit die Prekarität, Unheimlichkeit und Unwägbarkeit seines betont subjektiven literarischen Projektes offensiv zu unterstreichen. Nicht ohne Verblüffung hebt jedenfalls auch Hayden White die Tatsache hervor, dass Kulka als ein Historiker bereits ganz am Anfang seines Werks mittels eines Kafka-Mottos insinuiert, seine Geschichte der „Metropole des Todes“ kreise um ihre eigene Undeutbarkeit: I confess that after having studied (and even researched) this epigraph, I both do not know and know exactly what it means – in the way that I both do not know and know precisely what any Kafka parable is getting at. Yet it is puzzling that a professional historian, well-known for the objectivity and impersonality of his accounts of modern German history, should introduce his book with an epigraph that speaks of the „inexplicability“ of history and, indeed, of history’s inexplicability arising from its „ground“ in „truth“.35

Das zitierte Motto stammt aus Kafkas kurzem Prosatext „Prometheus“ (1917) und lautet in der von Kulka modifizierten Version, die im Buch auf seine eigenen Fotografien der Reste des Lagers B II b aus dem Jahr 1978 zu verweisen scheint: „Es blieb die unerklärliche Ruinenlandschaft. – Die Geschichte versucht, das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muss sie wieder im Unerklärlichen enden. Nach einer Parabel von Franz Kafka“ (L, 5).36

die Bebilderung des Holocaust zum Zwecke historischer Zeugenschaft, sondern vielmehr um eine Illustration der eigenen Familiengeschichte durch Bild- und Textzitate gehe, diese Familiengeschichte selbst jedoch in keinerlei Beziehung zum Vernichtungslager Auschwitz“ stehe. Damit handele es sich um eine „extreme Form der Sinnentleerung“ des „Plastikwortes“ Auschwitz, hin zu einer von Aleida Assmann beschriebenen „Universalisierung des Holocaustnarrativs“ mit „frei flottierenden Signifikanten für Analogiebildungen“. 35 White, The History Fiction Divide. 2014, S. 27. 36 Kulka hat dieses Motto und seine leichte Abwandlung bereits ausführlich kommentiert, siehe Dsb: Some Reflections on ‚History and Fiction‘ in my Landscapes of the Metropolis of Death. Comments on Hayden White’s ‚The History Fiction Divide‘. In: Holocaust Studies, 2014, 20:1-2, S. 35 – 44, hier: S. 38 ff. Kafkas originale Formulierung lautet demnach: „There remained the inexplicable mass of rock. The legend tries to explain the inexplicable. As it comes out of a truth-ground it must end in the inexplicable.“ Vgl. die Erstausgabe von Kafka, Franz: „Prometheus“. In: Kafka, Franz: Beim Bau der chinesischen Mauer. Hrsg. von Max Brod und Hans-Joachim Schoeps. Berlin, Kiepenheuer Verlag 1931, S. 42: „Blieb das unerklärliche Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.“ Ein weiteres Beispiel ist hier Kulkas nach Kafkas gleichnamiger Erzählung benanntes Kapitel über eine öffentliche Folter und Hinrichtung in Auschwitz, „In der Strafkolonie“, siehe

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Doch selbst wenn Kulka sein Buch nicht als Autobiographie und nicht als historisches Zeugnis verstanden wissen will, so ist es das in gewisser Weise doch, und zwar trotz der offensichtlichen Lücken der Darstellung und gerade aufgrund der Komplexität des Versuchs, das Heraufbeschwören von Erinnerungsbildern intertextuell und literarisch fassbar zu machen. Zudem räumt Kulka ein, dass er sein Buch ohne seine Erfahrung als professioneller Historiker gar nicht hätte schreiben können, genauso wie es ohne die vorher gemachten Kassettenaufnahmen undenkbar gewesen sei.37 Nicht zuletzt betont er, dass Geschichte und Privatmythologie in seinem Text unauflösbar verflochten seien.38 Fast schon unheimlich mutet es dabei an, dass selbst Kulkas Kafka-Referenzen bei einem Blick in die weitere Familienbiografie des Prager Schriftstellers mit dem so ähnlich klingenden Namen wieder zurück zur konkreten Geschichte Kulkas, Klügers und der Shoah in Theresienstadt bzw. im Auschwitz-Lager B II b führen. Kam doch Kafkas Schwester Ottla David-Kafka mit der gleichen Septemberdeportation im Jahr 1943 nach Auschwitz, in der auch Kulka ins Todeslager gebracht wurde, und wurde dort kurz darauf vergast – eine historische Koinzidenz, die Kulka in seinem Buch seltsamerweise noch nicht einmal erwähnt.39 Insgesamt wurden drei Schwestern Kafkas Opfer der Judenvernichtung, und viele seiner Freunde und Bekannten starben im Holocaust.

Otto Dov Kulka, Landschaften der Metropole des Todes. 2013, S. 67 ff. Um die Komplexität der intertextuellen Verrätselung weiter zu erhöhen, spielt Kulka auf S. 63 zudem auf Heinrich von Kleists vieldeutige Erzählungen „Michael Kohlhaas“ und „Das Erdbeben von Chili“ an. Auch Ruth Klüger erwähnt Kafkas Text „In der Strafkolonie“ in „unterwegs verloren“, und zwar im Kontext ihres Kapitels über ihre Entscheidung, sich im Alter ihre Auschwitz-Nummer entfernen zu lassen: „Das reichte mir: Nicht länger wollte ich wie die Opfer in Kafkas ‚Strafkolonie‘ das ungerechte, das absolute, das unverständliche und der Vernunft nicht zuträgliche Gesetz eingeritzt im Körper haben. Die Nummer hat immer nur mit mir und den Ermordeten zu tun gehabt, und ich wünschte mir ein paar Jahre mit kurzen Ärmeln in der Sonne.“ Siehe Klüger, unterwegs verloren. 2008, S. 28. 37 Kulka, Some Reflections. 2014, S. 37, S. 40 und S. 42. 38 Ebd., S. 41. 39 Näheren Aufschluss gibt das Online-Lexikon „Theresienstadt 1941 – 1945. Ein Nachschlagewerk“: „Ottla arbeitete im Ghetto als Kinderpflegerin. Im Sommer 1943 war sie eine der Pflegerinnen der 1.200 Kinder aus Bialystok, die plötzlich von der SS nach Theresienstadt transportiert und außerhalb der Ghettomauern in Holzbaracken untergebracht waren. Sechs Wochen nach ihrer Ankunft, am 3. Oktober, wurden diese Kinder und das ihnen zugeteilte Pflegepersonal nach Auschwitz deportiert und in den Gaskammern ermordet, auch Ottla David-Kafka.“ Siehe den Artikel: David-Kafka, Ottla (1892 – 1943). In: Theresienstadt 1941 – 1945. Ein Nachschlagewerk, verfügbar unter: http://www.ghetto-theresienstadt.info/pages/d/davidkafkao.htm (Zugriff am 26.08.2018).

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5. Eine neue Form der Holocaust-Geschichtsschreibung Sowohl für Saul Friedländer, der sich im Alter ebenfalls intensiv mit Kafka beschäftigt und sogar eine Monographie über den Prager Schriftsteller vorgelegt hat,40 als auch für Ruth Klüger und für Otto Dov Kulka gilt, dass ihre Konzentration auf die intuitive Erinnerung als eine Form von traumatischem Realismus, die laut Kulka gar eine „private mythology“41 oder Teil einer „ganz persönlichen Mythologie“ (L, 53) sei, den Schwerpunkt zugleich auf die Darstellung des Zweifels, also auf die Schwierigkeit der Erinnerung selbst legt. Dadurch wird es möglich, einen Teil der Nachgeschichte des Holocaust ‚realistisch‘ darzustellen, der nach wie vor der genaueren Untersuchung harrt – den komplexen Prozess der Erinnerung selbst bzw. dessen, was Marianne Hirsch „Postmemory“ genannt hat. Auch Kulka arbeitet sich bis heute an dem ihm rätselhaften Verhalten seiner Mutter ab, die ihn als kleinen Jungen in Auschwitz zurücklassen musste und danach im KZ Stutthof umkam. Ähnlich wie für Klüger gehört auch er damit zur von Hirsch so genannten „1.5 generation“ Auschwitz überlebender Kinder. Eng damit verbunden ist also in beiden Fällen die schwierige Auseinandersetzung mit der Erinnerung an die (mutmaßlichen) Erlebnisse überlebender oder umgekommener Familienmitglieder. Alle drei hier verglichenen AutorInnen betonen vor allem die Untrennbarkeit wissenschaftlichen und autobiographischen Schreibens. Aufgrund der hervorgehobenen und offensiv vertretenen Subjektivität ihres selbstreflexiven Erinnerns gibt es für sie kein „über die Zeit gültiges, objektives ‚Masternarrativ‘“ mehr, wobei diese Feststellung von Karolin Machtans aus ihrer Dissertation noch nicht das Werk von Otto Dov Kulka mit einbeziehen konnte, das hier deshalb eingehender interpretiert wurde als das seines HistorikerKollegen Friedländer.42 Um es abschließend mittels einer Paraphrase der Überlegungen Hayden Whites43 zusammenzufassen: Die traditionelle Trennung zwischen historischen Fakten und literarischen Fiktionen wird durch das hier analysierte ästhetische Spektrum erinnernden Schreibens über das Überleben der Shoah grundlegend in Frage gestellt. Es verhält sich zu der althergebrachten Opposition zwischen Literatur und Historiographie wie die Schnittmenge in einem Mengenlehre-Diagramm.

40 Friedländer, Saul: Franz Kafka. München: C. H. Beck 2012. 41 Kulka, Otto Dov: Landscapes of the Metropolis of Death. Reflections on Memory and Imagination. Translated by Ralph Mandel. London / New York: Penguin Books 2013, S. 28. 42 Machtans, Zwischen Wissenschaft und Autobiographie. 2009, S. 248. 43 Siehe White, The History Fiction Divide. 2014, S. 32.

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Dieser dritte Weg – oder vielleicht auch third space – der Autobiographie trägt zentralen Problemen der literarischen Gattung nach Auschwitz Rechnung. Die Shoah als Ereignis von immenser historischer Tragweite hat die Erinnerung und das Vergessen, die Vergangenheit und die Gegenwart sowie die Geschichte und die Fiktion in ein gänzlich verändertes Verhältnis gesetzt, das progressive Formen autobiographischen Schreibens nicht nur erlaubt, sondern geradezu verlangt. Die Darstellung des Holocaust wird damit keineswegs verfehlt. Sie sprengt lediglich die Grenzen früherer ästhetischer Ordnungen.

Stephanie Willeke

Der unzuverlässige Zeuge – Störungen im Erinnerungsdiskurs ‚Shoah‘

1. Einleitung ‚Die Massenvernichtung als literarische Inspiration‘, das ist ein Widerspruch in sich selbst. Wie in vieler Hinsicht hebt Auschwitz auch hier sämtliche geltende Gesetze auf, zerstört es alle Grundsätze. […] Zwischen unserem Erinnern und der Wiedergabe unserer Erinnerung steht eine Wand, die nicht durchbrochen werden kann.1

Diese Sätze von dem Nobelpreisträger Elie Wiesel verweisen direkt auf eine Grundproblematik der Zeugnisse von Überlebenden der Shoah. Die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse können kaum in Worte transformiert werden, die Massenvernichtung entzieht sich der Sprache. Auf der anderen Seite muss erinnert werden, damit die Opfer, wie Wiesel es ausdrückt, nicht ein drittes Mal sterben durch das Vergessen.2 In dieses Dilemma, in dieses Ringen mit den Worten und zugleich gegen die Worte,3 schreiben sich die Zeugnisse der Überlebenden ein. Die Schriften der ersten Generation zeichnen sich primär durch einen dokumentarischen Zeugnischarakter aus und den dort verarbeiteten Erinnerungen wird aufgrund der Zeugenschaft der Autor*innen der Status historischer Faktizität zugesprochen: Das „individuelle Dort-Gewesen-Sein [wird] zum Beleg für das objektive So-Gewesen-Sein“.4 Die Berichte avancieren in der Rezeption so zu einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung, die zudem durch ihre Rhetorik, die oftmals eine dokumentarische Realitätswiedergabe suggeriert, unterstützt werden.5 Auch der Rückgriff auf traditionelle Erzählweisen zeigt den Anspruch auf Glaubwürdigkeit, Fiktion hingegen erscheint als „Verrat am Erlebten“.6 Somit wird der ‚autobiographi-

1 Wiesel, Elie: Die Massenvernichtung als literarische Inspiration. In: Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmords am jüdischen Volk. Hrsg. von Eugen Kogon und Johann Baptist Metz. Freiburg/Basel/Wien: Herder 1979, S. 21 – 50, hier: S. 25 f. 2 Vgl. ebd., S. 42. 3 Vgl. ebd., S. 27. 4 Langer, Phil C.: Schreiben gegen die Erinnerung? Autobiographien von Überlebenden der Shoah. Hamburg: Krämer 2002, S. 38. Herv. i.O. 5 Düwell, Susanne: „Fiktion aus dem Wirklichen“. Strategien autobiographischen Erzählens im Kontext der Shoah. Bielefeld: Aisthesis 2004, S. 7. 6 Körte, Mona: Der Krieg der Wörter. Der autobiographische Text als künstliches Gedächtnis. In: https://doi.org/10.1515/9783110683028-021

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sche Pakt‘,7 der die Einheit der Trias Autor – Erzähler – Figur beinhaltet, in diesem Kontext besonders stark mit einer normativen Moral verknüpft, die die Wahrhaftigkeit der Aussagen an die Integrität der Autoreninstanz koppelt.8 Dabei fungieren die Zeugnisse als eine Art Schnittstelle zwischen dem öffentlichen Diskurs und dem individuellen Erinnern der Überlebenden, wie Christoph Parry herausstellt: Als öffentlicher Diskurs verwandelt Literatur einerseits individuelle Erlebnisse in kollektive Erfahrung. Andererseits wird durch den öffentlichen Charakter der Literatur die individuelle Erinnerung des Schreibenden, ob er sie unmittelbar wiedergibt oder durch Fiktionalisierung verfremdet, zwangsläufig auf die Eckdaten des kollektiven Gedächtnisses bezogen.9

Diese binären Verbindungslinien stehen auch in Zusammenhang mit den das individuelle und das kollektive Gedächtnis prägenden sozialen Rahmen, dementsprechend konstatiert Jan Assmann mit Blick auf Maurice Halbwachsʼ Theorie, dass jegliche Erinnerungen „durch Kommunikation und Interaktion im Rahmen sozialer Gruppen“ entstehen würden.10 In dieser Fluchtlinie nehmen literarische Texte eine besondere Position ein, da durch verschiedene Verfahrenstechniken auch pränarrative Erfahrungen wie traumatische Erlebnisse, die sich als „andauernder Fremdkörper im Gedächtnis, als ‚verkörperte‘ Erinnerung, […] einer konstruktiven Verarbeitung entzieh[en]“,11 inszeniert und damit zum Gegenstand des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses gemacht werden können, die in anderen Kontexten unartikulierbar bleiben.12 Die Reziprozität von Literatur und öffentlichem

Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. Hrsg. von Nicolas Berg. München: Fink 1996, S. 201 – 214, hier: S. 201. 7 Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994. 8 Vgl. Mensink, Dagmar: Das Rätsel eines Vertrauensverhältnisses. Über die Autorität von Holocaust-Zeugnissen für die Nachgeborenen. In: Von Gott reden im Land der Täter. Theologische Stimmen der dritten Generation seit der Shoa. Hrsg. von Katharina von Kellenbach, Björn Krondorfer und Norbert Reck. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 179 – 195. 9 Parry, Christoph: Die Rechtfertigung der Erinnerung vor der Last der Geschichte. Autobiographische Strategien bei Timm, Treichel, Walser und Sebald. In: Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Band 2: Grenzen der Fiktionalität und der Erinnerung. Hrsg. von Christoph Parry und Edgar Platen. München: Iudicium 2007, S. 98 – 110, hier: S. 99. 10 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C. H. Beck 62007, S. 36. 11 Neumann, Birgit: Literatur, Erinnerung, Identität. In: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Theoretische Grundlegung und Anwendungsperspektiven. Hrsg. von Astrid Erll und Ansgar Nünning. Berlin/New York: de Gruyter 2005, S. 149 – 178, hier: S. 154. 12 Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart/ Weimar: Metzler 2005, S. 173.

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Diskurs zeigt auch auf, dass das Erzählen primär ein durch spezifische literarische Verfahren Kohärenzen herstellender Akt der Sinnstiftung ist, wodurch Ereignisse grundlegend erklärbar und damit in ein Ordnungssystem integrierbar gemacht werden. Dieser Prozess ist im Kontext von Themenkomplexen wie Erinnerungen an traumatische Ereignisse besonderen Anforderungen ausgesetzt, zeichnen sich diese doch gerade dadurch aus, dass sie als Fragmente einer zwanghaften Reproduktion unterliegen13 und „sich der literarischen Präsentation [versperren], weil für sie keine Narrative und andere kulturelle […] Schemata bereitstehen“.14 So versuchen die Zeugnisse nicht nur das ‚Undarstellbare‘ darzustellen, sondern sind zugleich von einer bestimmten Erwartungshaltung der Rezipient*innen determiniert, die Sinn in sinnnegierenden Ereignissen suchen. An dieser auch an moralische Kriterien gekoppelten Lesart der Zeugnisse hat sich kaum etwas geändert, auch nicht die Ergebnisse der vor allem seit den 1990er Jahren verstärkt an kognitions-psychologischen und konstruktivistischen Strömungen orientierten Erinnerungstheorien.15 So belegen zahlreiche neurobiologische Studien16 über das individuelle Gedächtnis, dass es „kein Speicher ist, sondern aus im Nervensystem

13 So führt beispielsweise Juliane Spitta im Kontext der Debatte um Möglichkeiten und Grenzen der Oral History aus: „Traumatisierte (Zeitzeugen) leben nicht mit der Vergangenheit und ihren Erinnerungen an sie, sondern innerhalb der Gleichzeitigkeit eines doppelten Bewusstseins. Die ihnen widerfahrenen Ereignisse konnten nicht ins Bewusstsein eingearbeitet werden und sie widersetzen sich den herkömmlichen Raum-Zeit-Koordinaten örtlich gebundenen Geschehens, den eindeutigen Bestimmungen von Anfang und Ende. Die Unmöglichkeit der Trennung von Zeitebenen, die Nachträglichkeit und die unbewusste Wiederholung bleiben ihrem Gedächtnis auf der Spur.“ Spitta, Juliane: Trauma und Erinnerungskultur – Oral History in der historisch-politischen Bildung nach Auschwitz. In: Trauma und Erinnerung. Oral History nach Auschwitz. Hrsg. von Juliane Spitta und Hanns-Fred Rathenow. Kenzingen: Centaurus 2009, S. 11 – 67, hier: S. 16. 14 Assmann, Aleida: Wem gehört die Geschichte? Fakten und Fiktionen in der neueren deutschen Erinnerungsliteratur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 36, 2011, H. 1, S. 213 – 225, hier: S. 219. 15 Auch die Prämissen der heterogenen Ansätze des Poststrukturalismus haben großen Einfluss auf die wissenschaftliche Untersuchung der Gattung der Autobiographie, da hier ein Text-Außen, was auch die Autor*innen der Texte einschließt, kritisch hinterfragt wird. So wird in diesem Kontext häufig die „Idee einer historisch verbürgten Wahrheit […] durch die Idee einer literarischen Wahrheit bzw. durch den Begriff der (subjektiven) Authentizität ersetzt.“ Costazza, Alessandro: Benjamin Steins Die Leinwand in der modernen Autobiographietheorie. In: Logik der Prosa. Zur Poetizität ungebundener Rede. Hrsg. von Astrid Arndt, Christoph Deupmann und Lars Korten. Göttingen: V&R unipress 2012, S. 301 – 333, hier: S. 302. Vgl. dazu auch die ausführliche Untersuchung von Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar: Metzler 2005. 16 Vgl. dazu beispielsweise Markowitsch, Hans J.: Neuropsychologie des Gedächtnisses. Göttingen/Toronto/Zürich: Hogrefe 1992.

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dauerhaft angelegten kognitiven Strukturen besteht. Erinnerung erweist sich so als Aktivierung von Erregungsmustern.“17 Damit legen die Ergebnisse zum einen eine Abkehr von dem zuvor als maßgeblich geltenden Bild des Gedächtnisses als Speicher, in dem Erinnerungen beliebig aufbewahrt und hervorgeholt werden können, nahe und zeigen zum anderen, dass Erinnerungen keine Abbildungen der vergangenen Realität sind, sondern sich stets durch ihren subjektiven und perspektivischen Charakter auszeichnen. Darüber hinaus sind Erinnerungen in höchstem Maße selektiv und werden immer in der Gegenwart reaktiviert, was die enge Verbindung von Erinnerungen und der aktuellen Situation des Individuums unterstreicht. In diesem Sinne beeinflussen auch gegenwärtige Affekte und Motive sowie nachträglich erworbene Informationen den Erinnerungsprozess, was bei jeder Rekonstruktion potentiell zu einer Neubewertung führen kann.18 Trotz dieser Entwicklungen der theoretischen Basis kann für den Diskurs um die Erinnerungen an die Shoah festgehalten werden, dass er sich, mit Jürgen Link gesprochen, durch eine protonormalistische Strategie mit maximaler Ausklammerung von Friktionsfaktoren zur Bildung des Normalfeldes auszeichnet.19 Michel Foucault, auf den sich Link unter anderem bezieht, hält in der „Ordnung des Diskurses“ in Bezug auf die äußere Formation von Diskursen fest, dass sie von der Gesellschaft eingedämmt würden, indem deren Produktion „kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert“20 werde. Zu diesen Ausschließungsmechanismen zählen unter anderem das Verbot, das eine Unterscheidung in Sagbares und Nicht-Sagbares evoziert, sowie der Wille zur Wahrheit, der dazu tendiert, auf andere Diskurse Druck und Zwang auszuüben, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.21 Diese wenigen Schlaglichter zeigen bereits, dass der Erinnerungsdiskurs ‚Shoah‘ aufgrund seiner normierenden Konstitution äußerst störanfällig ist.22

17 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 85. Vgl. auch Schmidt, Sigfried J.: Der Kopf, die Welt, die Kunst. Konstruktivismus als Theorie und Praxis. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 1992, S. 101. 18 Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 7. 19 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Göttingen: V&R 42006, S. 54. 20 Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses. Mit einem Essay von Ralf Konersmann. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 11. 21 Vgl. ebd., S. 11 – 16. 22 Nicht nur für spezifische Themenbereiche, sondern auch für andere Systemarten kann durch die fixe Konstitution ihrer Grenzen ein besonders störanfälliger Charakter ausgemacht werden, wie Carsten Gansel beispielsweise an dem ‚geschlossenen‘ System der DDR gezeigt hat. Vgl. Gansel, Carsten: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 315 – 332.

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Die literarischen Bearbeitungen des Themenkomplexes Shoah der nachfolgenden zweiten bzw. dritten Generation zeichnen sich im Vergleich zu den Zeugnissen der Überlebenden durch andere literarische Darstellungsweisen aus, die vom satirischen Schreibverfahren (beispielsweise bei Maxim Biller) bis hin zum Comic (Art Spiegelmann) reichen. Zudem verarbeiten sie vornehmlich die „Nachgeschichte der Shoah“23 vor allem mit Fokus auf Fragen der jüdischen Identität.24 Dabei wird das Konzept der transgenerationellen Traumatisierung bedeutsam, das zeigt, dass Traumafolgestörungen „in symptomatisch modifizierter Form an deren Nachkommen tradiert werden“25 können, wodurch mit der „Zeitstruktur der Nachträglichkeit […] die Grenze einer individuellen Biographie und des psychischen Apparats eines Individuums“26 überschritten wird. Auffällig ist hier, dass viele Autor*innen nicht versuchen, das Undarstellbare, das sie selbst nicht bezeugen können, direkt zu literarisieren. Vielmehr geht es, wie Sigrid Weigel herausstellt, „um das komplizierte Verhältnis von Erzählungen und dem, was in ihnen Verschwiegenes zum Ausdruck kommt, um die sprechenden Zeichen und Bilder, die auf die Lücken, auf das Verschlossene und Vergrabene verweisen und es fremdkörperartig erinnern.“27 Dabei sind auch diese literarischen Texte nicht frei von normativen Setzungen, wie zum Beispiel Michael Braun formuliert: „Freilich ist die literarische Imagination kein Freischein für ungehemmte Erfindungskunst. Kohärenz der Geschichte, Überzeugungskraft und Wirkungsabsicht auf den Leser – das sind die Kriterien, an denen die Erinnerungsliteratur von Nachkommen der Zeitzeugen gemessen werden muss.“28

23 Hofmann, Michael: Literaturgeschichte der Shoah. Münster: Aschendorff 2003, S. 130. 24 Vgl. dazu Steinecke, Hartmut: Die Shoah in der Literatur der „zweiten Generation“. In: Shoah in der deutschsprachigen Literatur. Hrsg. von Norbert Otto Eke und Hartmut Steinecke. Berlin: Erich Schmidt 2006, S. 135 – 153, hier: S. 140. 25 Neumann, Birgit: Trauma und Traumatheorien. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar: Metzler 5 2013, S. 764 – 765, hier: S. 765. 26 Weigel, Sigrid: Télescopage im Unbewußten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. 51 – 76, hier: S. 65. 27 Ebd., S. 69. Herv. im Original 28 Braun, Michael: Geschichte im Gedächtnis. Literatur als Erinnerungskultur. In: Die politische Meinung Nr. 480, 2009, S. 10 – 16, hier: S. 11.

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Die beiden Romane, die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen, „Jeder Tag wie heute“ von Ron Segal29 und „Die Leinwand“ von Benjamin Stein30, können dieser nachfolgenden Generation zugeordnet werden. Eine der prägnantesten Besonderheiten dieser Texte liegt in der Darstellung (vermeintlicher) Überlebender, die auch über die Lagererfahrung sprechen, wodurch die Shoah vermittelt durch den jeweiligen Protagonisten Eingang in die Erzählung findet. Dabei sind sie allerdings, gegen die diskursiv-normsetzenden Aspekte in Bezug auf den Wahrheitsgehalt, als unzuverlässige Erzähler konzipiert – und damit als literarische Vermittlerfiguren, die sich ad nomine einer sinnhaften Erzählung störend widersetzen. Der Fokus der folgenden Überlegungen liegt besonders auf den literarischen Verfahren, also auf den dargestellten Modi der Erinnerungen.31 Die Dichotomie von Erinnern und Vergessen sowie die von Sigrid Weigel für die Texte der nachgeborenen Generation ausgemachten Lücken spielen auch hier eine bedeutende Rolle, allerdings in einer ganz spezifischen Form. Damit in unmittelbarem Zusammenhang, so soll gezeigt werden, wirkt die innerliterarische Störung durch die Darstellung von Akteuren des literarischen Feldes, die als Schriftsteller und Verleger aktiv in den Erinnerungsdiskurs eingreifen, auch auf der Ebene der Refiguration.

2. Die Shoah zwischen Erinnern und Vergessen – „Jeder Tag wie heute“ (2014) von Ron Segal Der Debütroman „Jeder Tag wie heute“ von dem in Berlin lebenden israelischen Schriftsteller Ron Segal stellt den Autor Adam Schumacher in den Mittelpunkt seiner Handlung. Er und seine Frau Bella haben die Internierung in Auschwitz überlebt und sind nach Israel ausgewandert, wo Bella Jahre vor dem Einsetzen der Handlung in ihrer Wohnung erschlagen wurde. Nun besucht Schumacher seit seiner Emigration das erste Mal wieder Deutschland und seinen Verleger

29 Segal, Ron: Jeder Tag wie heute. Göttingen: Wallstein 2014 [im Folgenden unter der Sigle „JT“ fortlaufend im Text]. 30 Stein, Benjamin: Die Leinwand. München: dtv 2012 [Seitenangaben fortlaufend im Text, der Struktur des Flipbooks Rechnung tragend, mit der Sigle „L“ und entweder dem Zusatz „Z“ für den Zichroni-Teil oder dem Zusatz „W“ für den Wechsler-Teil]. 31 Vgl. Gansel, Carsten/Zimniak, Pawel: Zum „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 – Vorbemerkungen. In: Das „Prinzip Erinnerung“ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Hrsg. von Carsten Gansel und Pawel Zimniak. Göttingen: V&R unipress 2010, S. 11 – 15, hier: S. 13.

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und Freund Max, vordergründig um für seine Zeitschrift einen Fortsetzungsroman zu schreiben. Dass er bereits an Alzheimer erkrankt ist, teilt er Max nicht mit, dies wird aber im Laufe der Handlung immer deutlicher und weist Schumacher als unzuverlässigen Erzähler aus. Ansgar Nünning konstatiert im Zusammenhang dieser Vermittlerfigur, dass deren Erkennen eine Interpretationsstrategie der Rezipient*innen ist, die auf Textsignalen sowie kontextuellen Bezugsrahmen basiert.32 Solche textuellen Signale, wie zum Beispiel explizite Widersprüche des Erzählers oder Diskrepanzen zwischen der Wiedergabe der Ereignisse durch den Erzähler und seinen Erklärungen für das Geschehen,33 finden sich an zahlreichen Stellen des Romans. Solchermaßen berichtet der homodiegetische Erzähler beispielsweise von Gesprächen, an denen er selbst nicht teilgenommen hat – entweder, weil er währenddessen schlief (JT, 67) oder weil die Gesprächsteilnehmer*innen zu weit entfernt standen, um sie hören zu können (JT, 59) – oder die dargestellten historischen Fakten, die durch Jahreszahlen belegt werden, stimmen nicht mit dem Alter der Figuren überein.34 Wenn man in Bezug auf diese Stellen von auffälligen, aber dennoch kleineren Ungenauigkeiten sprechen kann, tritt der unzuverlässige Erzähler auf der inhaltlichen Ebene deutlich markanter in Erscheinung, wenn er zwei Versionen seiner Vergangenheit im Zweiten Weltkrieg wiedergibt: Während ein Erzählstrang von einer Flucht nach Ungarn berichtet, wo seine Familie entdeckt (JT, 66 f.) und daraufhin nach Auschwitz deportiert wurde, wird in einem anderen erzählt, dass Adam Schumacher in einem Kameliterkloster versteckt war, wo er dann bei einer Durchsuchung aufgespürt und deportiert wurde (JT, 79 ff.). Diese unterschiedlichen Versionen stehen einer linearen Erzählung entgegen und damit auch dem Primat, das mit den Zeugnissen der Überlebenden verbunden ist. Genau die Prämissen der Wahrhaftigkeit und Authentizität der Erinnerungen werden hingegen immer wieder betont. So wird von dem homodiegetischen Erzähler bereits im Prolog konstatiert:

32 Vgl. Nünning, Ansgar: Unreliable Narration zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens. In: Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Hrsg. von Ansgar Nünning. Trier: WVT 22013, S. 3 – 39, hier: S. 27 – 32. 33 Vgl. ebd., S. 27 f. 34 So wird zum Beispiel beschrieben, dass Adam Schumacher 1910 im Alter von sechs Jahren Hitler das erste Mal in einem Wiener Männerwohnheim begegnet (JT, 62); er ist allerdings auch noch im Alter eines Jungen, als er von seinem Vater in ein Kameliterkloster gebracht wird, um ihn vor den Ressentiments der Nationalsozialisten – und damit über zwanzig Jahre später in der Mitte der 1930er Jahre – zu schützen.

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Die Ereignisse, die ich hier schildern werde, sind wirklich geschehen. […] Ich werde die Ereignisse so schildern, wie sie mir geschehen sind, wie ich sie früher bereits erzählt habe, und eines wird den Beweis für meine Glaubwürdigkeit erbringen, falls mein über die Jahre erworbener guter Ruf nicht schon allein dafür bürgen sollte: Meine Geschichte ist konsequent. So wie sie hier erzählt wird, wurde sie früher erzählt, und der einzige Unterschied liegt in den Satzzeichen (JT, 8 f.).

Die Rhetorik der Augenzeugen, die mittels „Authentisierungsstrategien“35 auf die Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen insistieren, deren Beglaubigung unmittelbar an die eigene Person gekoppelt wird, wird auf der inhaltlichen Ebene im direkten Anschluss unterminiert, wo es heißt: „Ich werde, wie man es von mir erwartet, nicht mit dem Anfang beginnen“ (JT, 10). Damit werden nicht nur direkt zu Beginn des Romans die Authentisierungsstrategien fraglich, sondern gezeigt wird hier ganz deutlich, dass die Reihenfolge, die Ordnung des Erzählten, „eine Funktion des Erzählens [ist] und nicht der Ordnung des erzählten Geschehens“36 entspricht. Die Erinnerungen werden vielmehr in ein narratives, kulturell geprägtes Schema zusammengefügt.37 Das hat auch Auswirkungen auf Schumachers Bericht über seine Lagererfahrung, also dem am stärksten normierten Aspekt des Shoah-Diskurses, der unmittelbar mit der Erinnerungsthematik verbunden wird: Als Kind im Lager stellte ich mir vor, alle Offiziere hätten als Kopf ein Transistorgerät, eingestellt auf einen Sender, der Hitlers Reden in Endlosschleifen wiederholte, wie die Reden, die ich in den Wochenschauen gesehen hatte […]. Vielleicht genügt das, um zu verstehen, wie das Gedächtnis eines alten Mannes an seine Kindheit arbeitet, das sich an den Walzer aus dem Transistorradio erinnert, aber nicht daran, dass Letzteres noch gar nicht erfunden war (JT, 94).

Neben der Erinnerung wird hier eine metafiktionale Ebene inszeniert, die das Erinnern selbst reflektiert. Nicht das Hinterfragen oder gar Leugnen des Lagergeschehens werden dadurch angestoßen, sondern das Spiel mit den Ebenen führt zu einer Synthese zwischen fiktionalen und metafiktionalen Momenten.38 Diese narrative

35 Langer, Schreiben gegen die Erinnerung?. 2002, S. 43. Herv. i.O. Langer führt zu diesen Strategien aus: „In Shoah-Autobiographien wird auf verschiedenen Wegen der Eindruck erzeugt, es seien die reinen ‚Fakten‘ (letztlich der Vernichtung selbst), die hier durch die Stimme des bzw. der Überlebenden hindurch mitgeteilt werden (bzw. die Erzählung rekurriere wahrheitsgetreu auf eben diese Fakten).“ Ebd. 36 Schmidt, Siegfried J.: Kulturbeschreibung ÷ Beschreibungskultur. Umrisse einer Prozessorientierten Kulturtheorie. Weilerswist: Velbrück 2014, S. 116. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. zur theoretischen Grundlegung: Catani, Stephanie: Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto 2016, S. 182.

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Inszenierung von Prozessen des Erinnerns zeigt, wie verschiedene Zeitebenen in der Erinnerung ineinanderfließen. Ein neues Bild, das die Vergangenheit aus der Gegenwart heraus reaktiviert und beurteilt, wird zusammenfügt, wodurch ein komplexes Gewebe entsteht, dass sich vor allem durch seinen Konstruktionscharakter auszeichnet. Inszeniert wird des Weiteren, dass die literarischen Erinnerungen zusätzlich auf anderen Ebenen beeinflusst werden, wie an den poetologischen Überlegungen, die in dem Roman zu finden sind, deutlich wird. Der Titel von Ron Segals Roman „Jeder Tag wie heute“ wird gleich mehrfach in dem Roman aufgegriffen,39 am markantesten als der Titel des ersten Romans von Schumacher.40 Besonders interessant ist an diesem intradiegetischen Roman, dass in den Exemplaren der ersten Auflage das 5. Kapitel fehlt und der Grund dafür erst nach und nach enthüllt wird. Zuvor wird an mehreren Stellen deutlich, dass mit diesem Kapitel ein Streit zwischen dem Verleger Max und dem Schriftsteller Adam verbunden ist: Max […] hat mit mir heftig darüber gestritten, und, als wir uns nicht einigen konnten, das Thema abrupt fallengelassen und mich nicht wieder daran erinnert. Er hat das Kapitel einfach eigenmächtig gestrichen, aber vergessen, die Nummerierung anzupassen. So hat das Buch eine Auflage mit falscher Nummerierung erlebt […] (JT, 104).

An dieser Stelle wird bereits die Produktion des intradiegetischen Buchs zweifach mit dem Vergessen in Verbindung gebracht: Der Schriftsteller hat das Streitthema vergessen, der Verleger, die Zahlen in der Druckfassung anzupassen. Die dadurch entstandene Lücke zwischen dem 4. und 6. Kapitel ist nicht nur ein deutlich wahrnehmbares Irritationsmoment für die intradiegetischen Rezipient*innen, sondern stellt auch eine Lücke dar, die präsent hält, dass etwas fehlt, dass die dargelegte Geschichte nicht vollständig ist. Und wiederum wird diese Lücke mit dem Vergessen verbunden, wenn Schumacher an anderer Stelle erwähnt, dass es eine einzige Fußnote am Ende des 4. Kapitels in diesem Roman gebe: „‚In der Lebensgeschichte eines jeden Menschen finden sich Kapitel, die man mit ‚Verpasste Gelegenheiten‘ überschreiben könnte.‘ Ich weiß nicht mehr, woran diese Anmerkung mich hatte erinnern sollen oder wie sie hierher gelangt war […]“ (JT, 34 f.). Nicht nur die Exklusivität der singulären Fußnote, die die Lücke des fehlenden Kapitels noch potenziert, ist bemerkenswert, sondern auch, dass der auf den ersten Blick fast

39 Beispielsweise als das Versprechen, das sich das frisch verliebte Paar Adam und Bella Schumacher geben (JT, 21). 40 Darin wird davon berichtet, wie sich vier Figuren – Max, der in die amerikanische Armee eingetreten ist, dessen Freundin Eva, die in dem bereits erwähnten Kameliterkloster entdeckt und deportiert wurde, sowie Adam und Bella – nach dem Zweiten Weltkrieg wieder begegnen (JT, 83).

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plattitüdenhafte Inhalt der Fußnote seine Bedeutung erst im Zusammenhang mit dem Inhalt des intradiegetischen 5. Kapitels entfaltet, das in Ron Segals Roman integriert ist (JT, 115). Berichtet wird darin, wie Bella, Adams Ehefrau, die als Kind im KZ auf einer provisorisch angefertigten Harfe für SS-Offiziere spielte, Rache für die Ermordung ihrer Schwester an einem dieser Soldaten nimmt, indem sie ihn mit einer Saite der Harfe tötet.41 Die Erklärung für den Eingriff in das intradiegetische Erinnerungsbuch ist augenscheinlich: Der Verleger befürchtete, dass sich die Rezeption ausschließlich auf die „Rachehandlung stürzen [würde] statt auf all die Gräueltaten, die zu ihr führten“ und diese anprangern würde (JT, 121). Der unantastbare Status der Opfer sollte durch das Streichen dieses Kapitels geschützt werden – freilich zu dem Preis, nicht alle Aspekte des Erlebten erzählen zu können. Damit erklärt sich auch die für Schumacher nicht einordbare Fußnote mit den ‚verpassten Gelegenheiten‘: Das beglaubigende Zeugnis dient nur der Etablierung einer bestimmten Seite; ein Mord, der das Ansehen der Opfer beschädigen könnte, kann nicht dargestellt werden, womit die Gelegenheit, eine vollumfängliche Erinnerung darzulegen, verwirkt wurde. Der Verleger greift hierdurch deutlich in die Rezeption und dementsprechend auch in den Erinnerungsdiskurs ein – ein Eingriff, der ohne das Störmoment der Lücke zwischen dem 4. und dem 6. Kapitel gar nicht bemerkt worden wäre. Es deckt den Konstruktionscharakter des gesamten intradiegetischen Buchs auf und hält das Nicht-Erzählte in seiner Abwesenheit präsent. Dieses Störmoment spiegelt sich auch in dem Roman von Ron Segal wider: Nicht nur der die beiden Romane verbindende Inhalt und der gleiche Titel sowie das immer wiederkehrende Motiv des Vergessens, sondern vor allem das Ende negiert einen objektiven Status der dargestellten Erinnerungen. Seinen Antrieb, seine Erinnerungen niederzuschreiben, beschreibt Schumacher mit einem Vergleich: Im Moment bin ich meiner selbst noch gewiss, aber so wie einer, der unterm Galgen steht, die Schlinge schon um den Hals; jeden Augenblick kann ein neues Symptom der Krankheit den Schemel, auf dem ich stehe, umstoßen… Ich stehe am Rand einer persönlichen Katastrophe (JT, 42).

Dass der bildliche Schemel durch die fortgeschrittene Alzheimererkrankung bereits umgestoßen worden sein könnte, das heißt, dass es bereits zu spät sein könnte, um die Erinnerungen in schriftlicher Form festzuhalten, zeigt sich nicht nur an den

41 „[A]ls Anton [der Offizier – S.W.] sie das nächste Mal besuchen kam, hatte er das Brot noch gar nicht aus der Jacke gezogen, als schon eine Harfensaite gezückt und ihm um den Hals geschlungen wurde, und Bella verkürzte rasch die Oktaven: Hier verwandelt sich ein Halbton in c-Moll; dort klingt ein C-Dur voll, und die Saite verschwindet in der Haut, und einen kurzen Moment lang beläuft sich der ganze Schaden auf eine haarfeine Wunde, und dann kommt das Blut“ (JT, 120).

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verstreuten Hinweisen, dass der Schriftsteller durch einen Schlaganfall evtl. temporär nicht mehr sprechen kann (JT, 53) oder durch die Erläuterungen des Arztes über Aphasie, einer Sprachstörung, die Kommunikations- und Verständigungsprobleme auslöst (JT, 59), sondern ganz pointiert im Epilog: „Eva, rufe ich, bringe aber nur ‚wa, wa‘ heraus“ (JT, 137). Dieser Epilog steht damit spiegelverkehrt zu der innerliterarischen Empfehlung des Redakteurs Max, der konstatiert, dass man die Stimmung und damit die Rezeptionshaltung durch Prolog und Epilog beeinflussen könne und empfiehlt, den Epilog so zu gestalten, dass die Leser*innen lächeln können (JT, 86), ein Rat, der in Segals Roman dezidiert nicht umgesetzt wird. Auf der einen Seite stellt sich diese Nichtbeachtung des redaktionellen Rats gegen die bereits herausgestellte zensorische Einwirkung des Akteurs aus dem literarischen Feld und damit gegen die Modifikation des Erinnerungsdiskurses. Auf der anderen Seite bietet dieses Ende aber die Interpretationsmöglichkeit, dass das Ziel, gegen das Vergessen anzuschreiben, nicht erreicht wurde, der gesamte Roman könnte aus einem einzigen Gedankenstrom des Protagonisten bestehen, der die Gelegenheit verpasst hat, Zeugnis abzulegen. Damit bleibt der Roman nicht nur in seiner Gesamtheit unbestimmt, sondern verweist auch auf die Lücken, auf das Nichtgesagte des Erinnerungsdiskurses und damit auf eine Störung, die nicht durch Entstörungsprozesse behoben werden kann.

3. Die Shoah zwischen Erinnern und Erfinden – „Die Leinwand“ (2010) von Benjamin Stein Der Roman „Die Leinwand“ von Benjamin Stein macht den sogenannten ‚Fall Wilkomirski‘ zum Ausgangspunkt seines Erzählens. Der Schriftsteller Binjamin Wilkomirski verfasste 1995 das mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnete Werk „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948“42, das im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erschien. Darin wird beschrieben, wie der Autor als Kind in den Konzentrationslagern Majdanek und Auschwitz-Birkenau interniert war und nach der Befreiung in ein Schweizer Kinderheim gebracht wurde.43 Dabei wird die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung durch verschiedene Authentizitätsmarker beglaubigt, so findet sich beispielsweise schon zu Beginn des Werks der programmatische Satz: „Ich bin kein Dichter, kein Schriftsteller“ (B, 8). Auch das mit „B. W.“ unterzeichnete

42 Wilkomirski, Binjamin: Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948. Frankfurt/M.: Jüdischer Verlag 1995 [im Folgenden unter der Sigle „B“ fortlaufend im Text]. 43 Vgl. zu der Aufarbeitung des gesamten Falls: Mächler, Stefan: Der Fall Wilkomirski. Über die Wahrheit einer Biographie. Zürich/München: Pendo 2000.

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Nachwort verweist auf Spezialisten, Historiker und jahrelange Forschungsarbeit (B, 143), die für die Faktizität der niedergeschriebenen Erinnerungen bürgen sollen. Zudem bezeugte Wilkomirski außerliterarisch zum Beispiel durch Interviews und Podiumsdiskussionen immer wieder den Gültigkeitsanspruch der geschilderten Erinnerungen. Darüber hinaus entwickelte er gemeinsam mit dem Psychologen Elitsur Bernstein ein umstrittenes Therapiekonzept, um Erinnerungen aus frühester Kindheit zu ‚bergen‘, und hielt dazu sogar eine Vorlesung an der Ostrauer Universität mit dem Titel „Kindergedächtnis als historische Quelle“.44 Der sich um den Autor und sein Werk konstituierende Skandal verlief fast nach dem prototypischen Muster, das Carsten Gansel für die Wahrnehmung von Störungen entfaltet hat.45 Am Anfang steht hier das Erkennen und die Irritation: Drei Jahre nach der Veröffentlichung der „Bruchstücke“, erschien in der „Weltwoche“ ein Artikel des Schweizer Schriftstellers Daniel Ganzfried, der behauptete, Wilkomirski sei in Wahrheit Bruno Dösseker, sei in der Schweiz und nicht in Polen geboren worden und habe auch die Zeit während des Zweiten Weltkrieges dort verbracht. Diese Enthüllung zog eine Welle der Empörung in allen gesellschaftlichen Bereichen nach sich und führte sogar zu der Einleitung mehrerer juristischer Verfahren. Die Auswirkungen des Skandals im literarischen Feld sind besonders prägnant: Neben der Aberkennung zahlreicher Literaturpreise46 wurde auch die Diskussion angestoßen, wie es dazu kommen konnte, dass die dargelegte Geschichte für authentisch – und damit für wahr – gehalten werden konnte. Aleida Assmann beispielsweise

44 Vgl. ebd., S. 266 ff. 45 Vgl. Gansel, Zur ‚Kategorie Störung‘. 2014, S. 315 – 332. 46 Die Aberkennung der Literaturpreise zeigt besonders eindringlich, dass die Enthüllung Ganzfrieds auch Auswirkungen auf die Rezeption bzw. auf die Rezeptionshaltung hatte, da eben nicht nur der Autor kritisiert wurde, sondern auch sein Werk, sowohl auf inhaltlicher Ebene – einige Kritiker sprachen von ‚Gewaltpornographie‘ – als auch auf formaler, beispielsweise in Bezug auf den Sprachstil (vgl. zur Rezeption der „Bruchstücke“: Mächler, Der Fall Wilkomirski. 2000). Ruth Klüger erklärt diese divergierende Rezeption mit dem Gattungswechsel von der Autobiographie zum Roman: „Wir haben es mit einem Text zu tun, der sich geändert hat, weil er von einer Gattung in die andere übergegangen ist. Und er liefert uns ein besonders anschauliches Beispiel dafür, daß sich mit diesem Wechsel auch der ästhetische Wert ändert, denn dieser ist kein Geist, der über den Wassern schwebt.“ Klüger, Ruth: Kitsch ist immer plausibel. Was man aus den erfundenen Erinnerungen des Binjamin Wilkomirski lernen kann. In: Süddeutsche Zeitung vom 30.09.1998, S. 17 – 18, hier: S. 17. Trotzdem zeigt die Aberkennung der Literaturpreise doch auf, dass theoretische Prämissen, die für andere literarische Erzeugnisse gesetzt sind, wie beispielsweise die durch Roland Barthes 1967 pointiert formulierte Theorie vom „Tod des Autors“, im Shoah-Diskurs nicht die gleiche Wirkung entfalten, dass die Schriften und die damit verbundenen Auszeichnungen vielmehr unmittelbar mit dem Autor verbunden werden.

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erklärt den Erfolg dieses Buches auf einer theoretischen Grundlage in Anlehnung an Maurice Halbwachsʼ ‚Gedächtnisrahmen‘: Seine [Wilkomirskis – S. W.] Erinnerungen waren nicht authentisch, aber „korrekt“. Sie waren „korrekt“ nicht nur im Sinne der Brauchbarkeit aus der Opferperspektive, sondern auch im Sinne der sozialen Akzeptanz. […] Der soziokulturelle Hintergrund des Buches ist die mit der Entstehung einer „Opferkultur“ verbundene Sensibilitätsveränderung, bei der sich […] die Haltung der Distanznahme und Verachtung gegenüber den Opfern zu „begeisterter Zustimmung“ verschoben hat.47

Sander L. Gilman, der eingesteht, nach der Rezeption des Werks von dessen Echtheit überzeugt gewesen zu sein, erklärt, dass sowohl die Ähnlichkeit der „Bruchstücke“ zu anderen Texten von Überlebenden der Shoah als auch die theoretischen Prämissen, wie sie beispielsweise in Saul Friedländers Erinnerungen zum Ausdruck kämen, dazu geführt hätten. Pointiert formuliert Gilman seine auch moralisch geprägte und vor allem an die Integrität des Autors gekoppelte Einschätzung: „Und wenn ein Überlebender wie Saul Friedländer so etwas behauptet, muß es auch wahr sein, denn er hat, wie Wilkomirski, alles selbst erlebt.“48 Der Jüdische Verlag bemühte sich zunächst um Schadensbegrenzung, er habe von Ungereimtheiten gewusst, allerdings werde in dem Nachwort der „Bruchstücke“ dezidiert darauf hingewiesen, dass Wilkomirskis Dokumente nicht mit seiner Erzählung übereinstimmen: „Das Dokument, das ich in Händen halte – ein behelfsmäßiger Auszug, keine Geburtsurkunde –, gibt den 12. Februar 1941 als mein Geburtsdatum an. Aber dieses Datum stimmt weder mit meiner Lebensgeschichte noch mit meinen Erinnerungen überein“ (B, 143). Genau in dieser Differenzierung zwischen juristischer und erinnerter Identität macht Ruth Klüger indes ein zentrales Problem aus: „Leser möchten aber zwischen erzählter und historischer Identität unterscheiden, denn in der Autobiographie, anders als im Roman, sind Erzähler und Autor identisch.“49 Die letzte Stufe der Störung ist hier die interessanteste. Während sich Wilkomirski aus der Öffentlichkeit zurückzog, aber weiterhin auf seiner Version der Wahrheit beharrte, distanzierte sich der Verlag nach diesem Skandal von seinem Autor und verlegte sein Werk nicht mehr. Nachdem sich der Neuigkeitscharakter

47 Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck 2006, S. 153 f. 48 Gilman, Sander L.: Das Phänomen der eingebildeten Erinnerung. Zum Fall Wilkomirski. In: Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Hrsg. von Irene Diekmann und Julius H. Schoeps. Zürich/München: Pendo 2002, S. 13 – 25, hier: S. 14. 49 Klüger, Kitsch ist immer plausibel. 1998, S. 17.

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gelegt und ein unabhängiger Historiker50 den Fall aufgearbeitet hat und zudem mehrere Sammelbände51 publiziert wurden, wurde der Fall dem Vergessen überlassen.52 Der Skandal macht sichtbar, dass der Shoah-Diskurs moralisch aufgeladen ist, was zum Beispiel in den Fragen, wer erinnern darf, d. h. wer eine Sprecherposition innehaben darf, und wie Erinnerungen an die Shoah gestaltet sein dürfen, zum Ausdruck kommt. Zum anderen zeigt dieser Literaturskandal auf, welche kulturellen Verhaltensroutinen diesen Diskurs auszeichnen, besonders in Bezug auf einen spezifischen Wahrheitsbegriff, der an authentische Erfahrungen gebunden ist. Diese Aspekte evozieren eine diskursive Differenzierungslogik, die zwischen Sagbarem und Nicht-Sagbarem unterscheidet. Die klare Aburteilung des Autors und seines Werks offenbaren darüber hinaus die Mechanismen der Entstörung, die die Normalitätsgrenzen wiederherzustellen versuchen und damit die Grenzen des Diskurses tradierend aufrechterhalten. Die Störung hat für den Diskurs somit eine stabilisierende Funktion. Dem Vergessen, dem letzten Schritt des Störungsprozesses, tritt der Roman „Die Leinwand“ von Benjamin Stein entgegen: Er arbeitet den Fall, der in den 1990er Jahren einen derartigen Skandal auslöste, neu auf. Bereits durch diese inhaltliche Komponente wird der Konnex mit dem Thema Erinnerungen deutlich: „Die Leinwand“ inszeniert das Gedächtnis des Symbolsystems Literatur, das durch ein intertextuelles Verfahren einen diachronen Zusammenhang zwischen literarischen Texten herstellt und so an sich selbst erinnert.53 Allein die äußere Form des Romans stellt sich der Vorstellung einer geradlinigen, homogenen Wahrheitsbehauptung störend entgegen: Er hat die Form eines Flipbooks und kann dementsprechend von beiden Seiten aus gelesen werden. Die erzählten Geschichten der beiden Flipsites finden ihre Verbindung in der Figur Minsky, die nach dem Vorbild Wilkomirskis ausgearbeitet ist. Während ein Teil

50 Vgl. Mächler, Der Fall Wilkomirski. 2000. 51 Beispielsweise: Dieckmann, Irene / Schoeps, Julius H. (Hrsg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Zürich/München: Pendo 2002; Ganzfried, Daniel (Hrsg.): … alias Wilkomirski. Die Holocaust-Travestie. Enthüllung und Dokumentation eines literarischen Skandals. Berlin: Jüdische Verlagsanstalt 2002. 52 Jan Assmann hält wiederum mit Maurice Halbwachs fest, dass das Vergessen in unmittelbarem Zusammenhang mit den sozialen Rahmen des Gedächtnisses stehe: „Das Gedächtnis lebt und erhält sich in der Kommunikation; bricht diese ab, bzw. verschwinden oder ändern sich die Bezugsrahmen der kommunizierten Wirklichkeit, ist Vergessen die Folge.“ Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. 2007, S. 37. 53 Vgl. zur theoretischen Grundlegung: Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 64.

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den Psychiater Amnon Zichroni in den Mittelpunkt stellt, der mit Minsky in einem halb therapeutischen, halb freundschaftlichen Verhältnis steht, fokussiert der andere Teil einen Schriftsteller mit dem sprechenden Namen Jan Wechsler, der ein Enthüllungsbuch über Minsky geschrieben hat, sodass alle zentralen Figuren des Literaturskandals um den ‚Fall Wilkomirski‘ aufgerufen werden. Dabei wird Minsky in der „Leinwand“ nicht als Hochstapler und Betrüger gezeichnet, sondern als schwer traumatisierter Mann, nicht von der Shoah, aber trotzdem psychisch äußerst labil. Seine Version der Geschichte wird somit nicht als Lüge diffamiert, sondern als Ausdruck seines psychischen Leidens gewertet. Da das Wissen über den Literaturskandal um den Autor Wilkomirski als vorausgesetzt gelten kann, wird offenkundig, dass „Die Leinwand“ durch die Neukonfiguration eine Gegenrealität konzipiert. Aber mehr noch: Der Zusammenhang zwischen Erinnerung und Identität verläuft innerhalb der Flipsites in gegensätzliche Richtungen: Während sich Minsky durch die gemeinsame Recherche mit Zichroni seiner Identität und seiner Lebensgeschichte immer sicherer wird, potenziert sich im Handlungsverlauf die Erkenntnis des Autors Wechsler, dass er sich an kaum etwas aus seiner Vergangenheit erinnern kann, nicht einmal, wer er ist und nicht daran, das Enthüllungsbuch geschrieben zu haben – und fungiert damit als Störfigur par excellence. Auch in diesem Roman wird das Verhältnis von Wahrheit, Erinnerung und Fiktion ausgelotet.54 Auf der Grundlage konstruktivistischer Erinnerungstheorien lehnen beide Antagonisten, Wechsler und Zichroni, einen Wahrheitsbegriff, der mit einem Absolutheitsanspruch verbunden ist, ab – sowohl für das Erinnern innerhalb als auch außerhalb der Literatur. In diesem Kontext referiert Wechsler den Skandal um Minsky, indem er sein eigenes Enthüllungsbuch rezipiert – ohne davon auszugehen, dass er selbst der Verfasser ist, trotz der Namensgleichheit. Ausgangspunkt der „Maskeraden“ ist die Anprangerung des „Geschäft[s] mit dem Holocaust“, das auf „Hochtouren“ (LW, 46) laufe:55

54 So konstatiert Jan Wechsler zum Beispiel: „Niemand wüsste besser als ich, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in jeder Erzählung mäandernd inmitten der Sprache verläuft, getarnt, unfassbar – und beweglich. Selbst das Wort ‚Wirklichkeit‘ führt ins Unabwägbare. Wer könnte sagen, ob es ein Synonym für Realität ist oder nicht doch vielleicht für all das steht, was wirkt – ein sehr subjektives Bild, das mehr vom Auge des Betrachters abhängt als vom Gegenstand, der wahrgenommen wird“ (LW, 14). Auch der Psychiater Amnon Zichroni argumentiert in diese Richtung: „Erinnerung aber ist unbeständig, stets bereit, sich zu wandeln. Mit jedem Erinnern formen wir um, filtern, trennen und verbinden, fügen hinzu, sparen aus und ersetzen so im Laufe der Zeit das Ursprüngliche nach und nach durch die Erinnerung an die Erinnerung. Wer wollte da noch sagen, was einmal wirklich geschehen war?“ (LZ, 7 f.). 55 Vgl. dazu auch: Willeke, Stephanie: Konstruierte Wahrheiten. Benjamin Steins Die Leinwand.

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Heute, so Wechsler, würde das Geld mit dem Kult ums Erinnern und um die postulierte Schuld verdient. Um Milliarden an Entschädigungen würde geschachert, für Millionen HolocaustDenkmäler ausgeschrieben und realisiert. Und nicht zuletzt fänden Presse, Fernsehen, Kino und Literatur nach wie vor Fleddernswertes unter den Leichen von Auschwitz (LW, 46).

Somit rückt vor allem der wirtschaftliche Aspekt der sogenannten „HolocaustIndustrie“ (LW, 47),56 der mit den Erinnerungen an die Shoah unmittelbar verbunden ist, in den Fokus der Kritik. Neben der Anspielung auf das Berliner Denkmal, wird auch der künstlerische Bereich erwähnt, der wiederum auf den gesellschaftlichen Habitus im Umgang mit der Shoah verweist. Angeprangert werden hier also sowohl die kulturellen, diskursiven Praktiken des Erinnerns als auch die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses selbst. Die Konstellation der zweifach gebrochenen Perspektive – die inhaltliche Darstellung eines intradiegetischen Werks innerhalb des Romans, dessen Protagonist vergessen hat, dass er selbst der Verfasser ist – wird im weiteren Verlauf auf die Spitze getrieben: Jan Wechsler bezeichnet den Autor der „Maskeraden“,

In: Das Radikale. Gesellschafts-politische und formal-ästhetische Aspekte in der Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Stephanie Willeke, Ludmila Peters und Carsten Roth. Berlin: Lit 2017, S. 147 – 172. 56 Dieser Begriff kann als eine intertextuelle Anspielung auf Norman Finkelsteins 2001 in deutscher Übersetzung erschienene Publikation „Holocaust-Industrie. Wie das Leid der Juden ausgebeutet wird“ verstanden werden. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass der Politikwissenschaftler Thesen entfaltet zu einer gemeinschaftlichen ökonomischen Ausbeutung jüdischer Eliten und der amerikanischen Regierung von den in der Zeit des Nationalsozialismus ermordeten Juden. Das Geld komme nicht den Angehörigen der Opfer und den Überlebenden, sondern vornehmlich der „Holocaust-Erziehung“ (Finkelstein, Norman G.: Holocaust-Industrie. Wie das Leiden der Juden ausgebeutet wird. München: Piper 42001, S. 141.) zugute, die zionistisch motiviert sei. Ungeachtet des fragwürdigen Wahrheitsgehaltes vieler Thesen, (vgl. zu deren kritischer Beleuchtung: Benz, Wolfgang: Was ist Antisemitismus? München: C.H. Beck 2004, bes. S. 137 – 145) sind zwei Aspekte besonders interessant. Zum einen hat dieses Buch eine immens ablehnende Reaktion in Gesellschaft und Wissenschaft ausgelöst – obwohl (oder gerade weil?) der Autor einen familiären Bezug zu der Shoah aufweist. (Vgl. Finkelstein, Holocaust-Industrie. 2001, S. 11 ff.) Damit wird intertextuell auch an dieser Stelle auf einen, in diesem Fall auf wissenschaftlicher Ebene angesiedelten, Tabubruch aufmerksam gemacht, womit die engen Grenzen des Normalfeldes und die restriktiven Exklusionsmechanismen dieses Themas wiederum aufgezeigt werden. Darüber hinaus ist signifikant, dass Finkelstein den ‚Fall Wilkomirski‘ in seiner Abhandlung anführt und im Sinne seiner These der ‚Holocaust-Industrie‘ interpretiert: Die „übergreifende Wahrheit“ sieht Finkelstein darin, „daß die Holocaust-Industrie, die auf einer betrügerischen Aneignung der Geschichte zu ideologischen Zwecken aufgebaut ist, darauf aus war, die Erfindung Wilkomirskis zu feiern.“ (Ebd., S. 69.) Damit wird hier eine Argumentationslinie deutlich, die ebenfalls die Hauptursache des Skandals nicht in der Erfindung der Erinnerung und damit bei dem Autor Wilkomirski ausmacht, sondern darin, dass der Diskurs primär durch die „Huldigung an das Holocaust-Dogma“ (ebd., S. 66.) bestimmt ist.

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also sich selbst, als „Demagogen“ (LW, 46). Er kritisiert somit die Kritik an der Erinnerungspolitik, die er selbst niedergeschrieben hat, und stellt sich auf die entgegengesetzte Seite: War die einzige Möglichkeit, angemessen mit dem Phänomen Ausschwitz und den Millionen Ermordeten umzugehen, die, Stillschweigen zu bewahren und die Überlebenden, ohne ihnen eine Entschädigung zugebilligt zu haben, sterben zu lassen? Sollte nichts dokumentiert werden? Und wenn schon, dann ausschließlich pro bono? (LW, 46 f.).

Folglich vereint die Figur Jan Wechsler zwei gegensätzliche Positionen in Bezug auf den Shoah-Diskurs. „Die Leinwand“ lenkt so das Augenmerk weg von dem störenden Skandal um Minsky hin zu dem Diskurs, der normgebend urteilt und stellt dessen Glaubwürdigkeit auf die Probe. Besonders durch die unfreiwillige Selbstkritik Wechslers, der eine Sprecherposition innerhalb des Diskurses bekleidet, wird zudem deutlich, dass der Inhalt des Diskurses ein konstruierter Aushandlungsprozess ist, der auch anders hätte verlaufen können. Somit wird hier literarisch eine Störung inszeniert, die zeigt, dass es ein objektives Richtig und Falsch nicht geben kann, dass die Akteure, die darüber entscheiden, was wahr und was falsch ist, nicht objektiven, sondern eben subjektiven Maßgaben folgen.

6. Störungen im Shoah-Diskurs – Schlussbetrachtung Die literarisch inszenierte Störung ist dazu in der Lage, „wesentlich zur Generierung von gesellschaftlich relevantem Wissen“57 beizutragen. Die Störung, die hier in Form der Romane präsentiert wird, fungiert in diesem Sinne als „Erkenntnisoperator“58 und erzeugt eine Erweiterung des Wissensbestandes auf zwei unmittelbar miteinander verbundenen Ebenen: das im Diskurs und das über den Diskurs generierte Wissen. Diese Extension konstituiert sich durch das Insistieren auf den Konstruktionscharakter individueller Erinnerungen, der von den unzuverlässigen Erzählern deutlich ausgestellt wird, und setzt sich damit zugleich mit den Erkenntnissen konstruktivistisch orientierter Gedächtnisforschung auseinander. Astrid Erll führt allgemein für das gedächtnisreflexive Potenzial literarischer Erinnerungsfiktionen aus, dass so die Aufmerksamkeit der Rezipient*innen auf die

57 Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 44, 2014, H. 173, S. 94 – 115, hier: S. 95. 58 Ebd., S. 96.

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 Stephanie Willeke

Strategien gelenkt wird, „durch die solche Vergangenheitsversionen im Medium der Literatur konstruiert werden“ und damit „selbstreflexiv auf ihre eigenen Repräsentationsformen“59 verweisen. Diese Aushandlung im Spannungsfeld zwischen dem Erinnern und Vergessen findet auf der syntagmatischen Achse der Kombination statt, wobei hier zentral ist, dass es Akteure aus dem literarischen Feld sind, zumal Zeitzeugen, deren Erinnerungen in einer solchen Form inszeniert werden, was für den normierenden Diskurs um die Zeugnisse einen Tabubruch darstellt. Damit hängt die zweite Ebene der wissenserweiternden und -formierenden Perspektive zusammen: Indem die Romane zumindest zum Teil auch das Ausgeschlossene, das im Diskurs Nichtgesagte bzw. Verschwiegene darstellen, machen sie die Selektionsmechanismen auf der paradigmatischen Achse transparent. Diese Ausschließungsmechanismen werden sowohl durch die Funktionsweise des individuellen Gedächtnisses evoziert als auch von anderen Akteuren, die auf die Produktion, Distribution und Rezeption der literarischen Werke einwirken. Deren Anpassungen und Modifikationen der literarischen Verarbeitungen haben Konsequenzen in Bezug auf den Inhalt des kulturellen Gedächtnisses im Ganzen. Durch diese Selbstreferentialität werden die Rezipient*innen in die Position von Beobachtern60 versetzt, die das Signal ganzheitlich wahrnehmen und damit die sonst im Verborgenen liegenden Entscheidungssysteme dechiffrieren können. Die Störungen machen in diesem Sinne die Routinen und Selbstverständlichkeiten des Diskurses zuallererst sichtbar, indem sie seine Mechanismen und das Ausgeschlossene ausstellen. Diese Betrachtungsweise über den Diskurs birgt wiederum das Potential, das innerhalb des Diskurses generierte Wissen zu reflektieren und zu hinterfragen. Dabei geht es keinesfalls um eine Differenzierung in wahre und falsche Aussagen, sondern vielmehr darum, so stellt Joseph Vogl in Bezug auf die Poetologien des Wissens heraus, unter welchen Bedingungen eine Aussage zustande kommt und innerhalb des Diskurses Wirkung entfaltet.61 In diesem Kontext liegt das besondere Moment darin, dass die Literatur, die selbst durch eine Ordnung des Wissens produziert wird,62 genau dies in einem selbst­ reflexiven Gestus als Teil dieses Systems dekonstruiert. Durch die Störung, die mit

59 Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. 2005, S. 197. 60 Vgl. zur Instanz des Beobachters: Niebisch, Arndt: Noise – Rauschen zwischen Störung und Geräusch im 19. Jahrhundert. In: ‚Das Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 83 – 95; Schüttelpelz, Erhard: Frage nach der Frage, auf die das Medium eine Antwort ist. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albert Kümmel und Erhard Schüttelpelz. München: Fink 2003, S. 15 – 29. 61 Vogl, Joseph: Einleitung. In: Poetologien des Wissens um 1800. Hrsg. von Joseph Vogl. München: Fink 22010, S. 7 – 16, hier: S. 14. 62 Vgl. ebd., S. 15.

Störungen im Erinnerungsdiskurs ‚Shoah‘ 

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Ludwig Jäger als ein Aggregatzustand der Kommunikation beschreibbar ist, kann das Medium in seiner Materialität wahrgenommen werden.63 Störungen sind in diesem Sinne „Prozesse der rekursiven Selbstverarbeitung, d. h. der autoreflexiven Anwendung von Kommunikation auf die Ergebnisse von Kommunikation“.64 Die Selbstreferentialität bezieht sich auf die dargestellten inhaltlichen Erinnerungen und auf die Literatur als Teil des kulturellen Gedächtnisses. Dergestalt kann die Störung als „Medium gesellschaftlicher (Selbst)Verständigung“65 eine Reflexion anstoßen. Damit schreiben sich die Romane in den Shoah-Diskurs ein, machen die Diskursgrenzen und Ausschließungsmechanismen sichtbar und schließen zugleich einen Teil der Lücken, indem sie eine andere, neue Realität konfigurieren. In dieser Fluchtlinie finden die inszenierten Störungen ihren Kristallisationspunkt in den Praktiken der Erinnerungskultur selbst.

63 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Fink 2004, S. 35 – 73, hier: S. 59. 64 Ebd., S. 64. 65 Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften – Einleitung. In: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 7 – 13, hier: S. 13.

Matthias Aumüller

Entstörung durch Erzählen? Die unausge­sprochene Traumatisierung des Erzähler­protagonisten durch die Juden­ vernichtung in Alfred Anderschs „Efraim“ (1967) 1. Einleitung Über Alfred Anderschs 1967 erschienenen Roman „Efraim“ kann man heute kaum etwas sagen, ohne auf die teilweise recht kritische – wenn nicht sogar vernichtende – Rezeption einzugehen, die etwa ein Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung einsetzte.1 Auch hier wird es nicht ganz vermieden werden können. Allerdings wird darauf nur insoweit eingegangen, als es für das Argument von Bedeutung ist. Der Kern der Kritik betrifft die als unangemessen empfundene Darstellung des Umgangs mit der Judenvernichtung. Ziel dieses Beitrags ist es, die vermeintlich anstößigen Textstellen als Teil einer übergeordneten Textstrategie zu interpretieren, der zufolge diese Textstellen nicht als Botschaft des Textes zu verstehen sind, sondern als Ausdruck einer Einstellung, die Efraim, der Titelheld und Ich-Erzähler, am Ende überwindet. Da der Roman im Gegensatz zu Anderschs Bericht „Kirschen der Freiheit“ (1952) und seinem ersten Roman „Sansibar oder der letzte Grund“ (1957) nicht zum Bestand germanistischen Allgemeinwissens zählt und außerhalb der HolocaustLiteraturforschung wenig Beachtung gefunden hat, soll der Roman zunächst kurz vorgestellt werden. Dabei werden nicht alle Aspekte des Romans berücksichtigt

1 Andersch, Alfred: Efraim. Zürich: Diogenes 1967 [im Folgenden unter der Sigle „E“ im Text]. Dieser Beitrag wäre nicht ohne die großzügige Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds SNF zustande gekommen, der seit 2017 das Projekt „Literaturgeschichte, Interpretationstheorie und Narratologie. Über ihr Zusammenwirken am Beispiel des unzuverlässigen Erzählens im deutschsprachigen Nachkriegsroman“ von Tom Kindt und mir an der Universität Fribourg fördert. Die hier präsentierten Ergebnisse sind Teil einer detaillierten Einzeluntersuchung des Romans, die in ihrer Gesamtheit in einem Kapitel einer Monographie nach Abschluss des Projekts dokumentiert werden. Dort findet sich auch eine Aufarbeitung der hier aus Platzgründen nicht berücksichtigten Sekundärliteratur zu „Efraim“. https://doi.org/10.1515/9783110683028-022

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 Matthias Aumüller

werden können; vielmehr liegt der Fokus auf seiner m. E. raffinierten Erzählweise, deren Kenntnis für die nachfolgende Argumentation unabdingbar ist. Danach werden einige Interpretationen aufgegriffen, die sich kritisch mit Efraims Einstellung auseinandersetzen, insbesondere mit der für den Roman zentralen Zufallstheorie. Im vierten Abschnitt soll gezeigt werden, dass Efraims Einstellung nicht mit der Botschaft des Romans zu verwechseln ist. Efraim ist mithin ein unzuverlässiger Erzähler, dessen Überzeugungen nicht alle mit den Überzeugungen Anderschs übereinstimmen. Mit einigen Überlegungen darüber, wie sich Handlung und Thematik zum Begriff der Störung verhalten, schließt der Beitrag ab. Der Begriff der Störung eignet sich nicht zur Beschreibung der Shoa, wohl aber zur Beschreibung des Verhältnisses Efraims zu sich selbst.

2. Handlung und Erzählweise Eine der frühen erzähltheoretischen Interessen war es, Erzähltexte systematisch zu segmentieren, etwa in Vor-, Haupt- und Nachgeschichte, sowie Kriterien dafür zu benennen.2 So lassen sich die Grenzen der Hauptgeschichte etwa dadurch bestimmen, dass in ihr Erzählzeit und erzählte Zeit sich – relativ zu ihrem Verhältnis in Vor- und Nachgeschichte – einander annähern. In „Efraim“, einem Roman mit einem zwar komplizierten und verwirrenden, aber penibel konstruierten Zeitgerüst, lässt sich die stark fragmentiert dargebotene Hauptgeschichte gut von Vor- und Nachgeschichte abgrenzen. Dabei ist zu beachten, dass sich der temporale und narrative Charakter der Nachgeschichte gänzlich von dem Charakter der Vorgeschichte unterscheidet. Man könnte annehmen, dass die Haupthandlung gleich auf der ersten Seite einsetzt, als der Journalist George Efraim, der sich bereits seit ein paar Tagen erstmals wieder seit seiner Jugend in seiner Geburtsstadt Berlin aufhält, im Hotel aufwacht. Es ist der 28. Oktober 1962, ein Sonntag, und Efraim ist seit Donnerstag in der Stadt, offiziell mit dem Auftrag, für seine britische Zeitung über die deutschen Reaktionen während der Kuba-Krise zu berichten. Er folgt aber auch einem inoffiziellen Auftrag: Für seinen Chef, den Briten Keir Horne, soll er den Verbleib von dessen unehelicher Tochter Esther recherchieren. Das Besondere an der Angelegenheit ist, dass Esthers Mutter Jüdin war und mit den anderen

2 Vgl. die Aufsätze Michail Petrowskijs aus den 1920er Jahren. Auf Deutsch: Petrovskij, Michail: Die Morphologie von Puškins „Der Schuss“. Übersetzt und kommentiert von Matthias Aumüller. In: Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen. Hrsg. von Wolf Schmid. Berlin/New York: de Gruyter 2009, S. 67 – 89.

Traumatisierung in Alfred Anderschs „Efraim“ 

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Berliner Juden deportiert und ermordet wurde und Keir Horne sich seinerzeit ihrer Bitte widersetzt hatte, Esther als Tochter anzuerkennen und auf diese Weise in Sicherheit zu bringen. Zudem kannte Efraim die um wenige Jahre jüngere Esther in seiner Jugendzeit. All diese punktuell erwähnten Ereignisse, die vor 1962 liegen, bilden die Vorgeschichte. Ein Teil der Haupthandlung bzw. Hauptgeschichte besteht nun aus den Berliner Erlebnissen Efraims Ende Oktober 1962 sowie aus einigen Episoden der anschließenden beiden Wochen, die er in Rom verbringt. Es zeigt sich, dass der Beginn der Haupthandlung aber durchaus nicht an dem besagten Sonntag einsetzt, sondern einen Tag früher, am Samstag, dem 27. Oktober 1962, einem – wie später noch zu klären sein wird – symbolischen Datum. Über seine Ankunft zwei Tage zuvor und den folgenden Tag ist indes kaum etwas zu erfahren, weshalb der Ankunftstag nicht mehr Bedeutung für die Handlung hat, als dass Efraim eben an diesem Tag nach jahrzehntelanger Abwesenheit in seiner Geburtsstadt Berlin eingetroffen ist. Efraims samstägliche Erlebnisse (Besuch einer Party, während der er handgreiflich wird und Anna Krystik kennenlernt) markieren damit den eigentlichen Beginn der Haupthandlung. Doch werden sie erst in der Romanmitte ausführlich dargestellt. Dies hat einen kompositorischen Grund: Diese Erlebnisse markieren zugleich einen Kulminationspunkt der zeitversetzten inneren Handlung (also Efraims emotionaler und kognitiver Entwicklung), die durch den Schreibprozess ausgelöst wird und sich parallel zum Fortlauf des Texts vollzieht und eben nicht parallel zur äußeren Handlung, die aus den sukzessiven Tagesereignissen bzw. -erlebnissen besteht. Der andere Teil der Haupthandlung setzt sich zusammen aus Efraims Erlebnissen Mitte November, als er von Rom aus nach London fliegt, um Keir über seine Erkenntnisse zu informieren und seine von ihm schon lange getrennt lebende Frau Meg zu treffen. Auch hier kulminiert die Handlung in einem bestimmten Punkt, und zwar in Efraims Eingeständnis seines privaten Desasters, das Andersch so wichtig war, dass er zunächst das Symbol dieses Desasters, den Schaukelstuhl, auf dem Keir und Meg ihn betrogen, als Romantitel erwogen hatte.3 Die Haupthandlung endet mit der bevorstehenden Rückreise aus London nach Rom. Dann setzt die Nachgeschichte ein, die – wie bereits angedeutet – anders geartet ist als die Vorgeschichte. Das liegt an der größeren narrativen Mächtigkeit dieser Nachgeschichte. Sie reicht bis in den Sommer 1965 und berichtet von Efraims Niederschrift in Rom, einigen Spaziergängen und Gesprächen sowie

3 Vgl. Lamping, Dieter: Kommentar. In: Alfred Andersch: Gesammelte Werke, Bd. 2. Zürich: Diogenes 2004, S. 395; 436 f.; Reinhardt, Stephan: Alfred Andersch. Eine Biographie. Zürich: Diogenes 1990, S. 430.

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seinen Erfahrungen mit Verlagsleuten, die sein Manuskript als Roman veröffentlichen wollen. Charakteristisch für die Erzählweise des Romans ist nun, dass er nicht nur nicht chronologisch komponiert ist (durch Permutation temporal geschlossener Episoden), sondern dass er auch die Linearität der Einzelepisoden aufgibt, ohne dabei jedoch die konventionelle Chronologizität der Ereignisse in Frage zu stellen. Das Aufbrechen der Linearität erreicht der Roman vorwiegend dadurch, dass er nicht nur die drei Zeitebenen – also Vor-, Haupt- und Nachgeschichte – und zusätzlich die Ereignisfolgen innerhalb dieser Zeitebenen ständig miteinander überblendet, sondern – und das ist nun ganz entscheidend – auch dadurch, dass die zentralen Ereignisse in Berlin nur vorgeblich präsentisch präsentiert werden. Was soll das heißen? Efraim beginnt seinen Roman im Stil eines inneren Monologs, einer präsentischen Darstellungsweise, die darauf schließen lässt, dass das, wovon die Rede ist, gerade passiert und als Bewusstseinsinhalt der Erzählinstanz zu betrachten ist. Im weiteren Verlauf aber stellt sich heraus, dass dieser innere Monolog ein fiktionalisierendes Erzählverfahren ist und Efraim die Unmittelbarkeit des Erzählens nur vorgetäuscht hat. Tatsächlich hatte er zunächst vor, einen aus seiner Sicht konventionellen literarischen Text im Präteritum und in heterodiegetischer Erzählweise zu verfassen, den er später auch zitiert. Diesen Plan verwirft er jedoch und schreibt nun seinen Text auf der Basis von Notizen, die er zeitnah angefertigt hat, und zwar so, als erlebte er gerade, wovon er schreibt. In Wahrheit aber handelt es sich um eine im Text fingierte Unmittelbarkeit.4 Die fast drei Jahre andauernde Nachgeschichte bildet damit den Prozess des Schreibens ab, auf den Efraim zwischendurch immer wieder zu sprechen kommt. Es handelt sich dabei um die sich über Jahre verschiebende Erzählgegenwart, wohingegen die präsentisch präsentierten Berliner und Londoner Ereignisse als Hauptgeschichte der Vergangenheit angehören und die Ereignisse der Vorgeschichte (also Efraims Bekanntschaft mit Esther im Berlin der frühen 30er Jahre, seine Emigration nach London, seine Kriegserlebnisse usw.) der Vorvergangenheit. Dadurch werden die inhaltlich offenen Fragen (neben derjenigen nach Esthers Schicksal auch die Frage nach der privaten Beziehung zwischen Keir, Efraim und Meg) gewissermaßen auf der kompositorischen Ebene von den lange offen gehaltenen zeitlichen Relationen der einzelnen Erzählabschnitte gespiegelt.

4 Dass dies keine bloße erzähltechnische und ansonsten bedeutungslose Spielerei ist, führe ich an anderer Stelle aus. Vgl. Aumüller, Matthias: Tradition und Funktion des unzuverlässigen Erzählens. Alfred Anderschs Efraim. In: Der deutschsprachige Nachkriegsroman und die Tradition des unzuverlässigen Erzählens. Hrsg. von Matthias Aumüller und Tom Kindt. Berlin/Boston: de Gruyter. In Vorbereitung.

Traumatisierung in Alfred Anderschs „Efraim“ 

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3. Zur Bedeutung der Romanereignisse: Kritische Interpretationen Wie üblich wird die Erzählweise sowohl in der Literaturkritik als auch in der Literaturwissenschaft erwähnt, aber kaum in ihrer spezifisch literarischen Funktionalität erörtert. Stattdessen geht man gleich zur Interpretation der Handlung über, als ließe diese sich von der literarischen Komposition trennen. Selbstverständlich ist die im Roman dargestellte Konstellation, für sich allein betrachtet, höchst fragwürdig: Ein deutscher nicht-jüdischer Autor schreibt aus der Perspektive eines jüdischen Emigranten darüber, dass ein Brite, ein Repräsentant der Alliierten also, seine Tochter, die er mit einer Jüdin gezeugt hatte, nicht rettet. Das ist ein zentrales Moment der Handlung, und mit diesem Moment wird ein fraglos deprimierendes Kapitel der internationalen Flüchtlingsgeschichte aufgerufen: nämlich die verbreitete Weigerung vieler Staaten, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen. Skandalös ist nun, dass mit dieser Akzentuierung in der Romanhandlung der Eindruck entsteht, dass die Primärschuld der Deutschen, entweder an der Judenvernichtung aktiv beteiligt gewesen zu sein oder aber sie geschehen lassen zu haben, im Roman kaum zur Sprache kommt, ja, dass sogar nur solche vorbildlichen Deutschen darin zur Sprache kommen, die die deutsche Schuld anerkennen; dass damit also Figuren zu Wort kommen, die nicht repräsentativ für die (bundes)deutsche Gesellschaft der 1960er Jahre sind, sodass ein grob fehlerhaftes Bild der deutschen Gesellschaft durch den Roman vermittelt wird.5 Aber nicht nur das ist skandalös. Als bekannt wurde, dass Andersch seine erste Frau mit ihrer jüdischen Mutter noch während des Krieges durch die Scheidung von ihr in Lebensgefahr gebracht hatte, konnte man erkennen, dass er sein eigenes Versagen in der Figur des Keir externalisiert hat. Aus der Sicht der Kritiker hatte Andersch sowohl die Beziehung von Haupt- und Folgeschuld in Bezug auf die Judenvernichtung mit seiner Geschichte umgekehrt als auch seine individuelle Schuld auf eine Romanfigur abgewälzt.6 Zumindest der zweite Punkt scheint in der Forschung mittlerweile als eine Invektive eingeschätzt zu werden, die Andersch und der biographischen Angelegenheit nicht gerecht wird. Stattdessen mag es für Andersch ein Versuch gewesen

5 Klüger, Ruth: Gibt es ein „Judenproblem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: Krüger, Ruth: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen: Wallstein 1994, S. 9 – 38. 6 Vgl. Sebald, W. G.: Der Schriftsteller Alfred Andersch. In: W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. München: Hanser 1999, S. 121 – 160.

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sein, überhaupt mit dieser Situation umzugehen und sein persönliches Versagen mit Hilfe literarischer Mimikry zu verarbeiten.7 Problematisch ist nun aber nicht nur die erwähnte Grundkonstellation, wie sie sich gemäß einer Interpretationskonzeption ergibt, nach der fiktive Ereignisse als repräsentativ für reale Bewertungen gelten (also ein Brite als Repräsentant der Alliierten, der seine eigene Tochter verrät). Anstoß erregen kann auch, was Efraim im Rahmen seiner von ihm selbst so genannten Zufallstheorie äußert.8 Eine dafür zentrale Textpassage handelt von Efraims Besuch seines Elternhauses. In diesem Haus wohnt mittlerweile Familie Heiß, der das Haus vom Senat zur Miete überlassen wurde. Nachdem Efraim sich am Vortag nicht getraut hat, das Haus aufzusuchen, und schon an der Straßenmündung kehrt gemacht hat, ringt er sich an jenem Sonntag zu einem Besuch durch und wird gleich von der Bewohnerin überraschend offen begrüßt. Anscheinend um Frau Heiß von Schuldgefühlen freizusprechen, sagt Efraim etwas, das man nicht anders als eine mehr als platte, ja provokante Relativierung des Holocaust auffassen muss. Enteignung habe es immer schon gegeben, meint Efraim (E, 46), und marginalisiert damit die massenhafte Tötung von Juden, wofür die Enteignungen nur das Vorspiel waren. Doch Frau Heiß lässt sich davon nicht beirren, sondern hält dagegen. Sie besteht auf der Einzigartigkeit des Verbrechens. Ähnlich verläuft später der Dialog mit Werner Hornbostel, einem Avantgarde-Musiker, den Efraim über Anna Krystek kennenlernt, die junge Schauspielerin, mit der er viel Zeit in Berlin verbringt. An zentraler Stelle des Romans leugnet Efraim jegliche „Erklärung für Auschwitz“ (E, 229) und besteht auf der Zufälligkeit der Judenvernichtung. Hornbostel, der Sohn eines Nazis, widerspricht, indem er darauf hinweist, dass die Judenvernichtung und jeder einzelne Mord gewollt worden seien. (Es folgen, genau in der Mitte des Romans, einmontierte Zitate aus den Frankfurter Auschwitz-Prozessen, die die pure Mordlust der Täter bezeugen). Damit vertritt Hornbostel, ebenso wie Frau Heiß, in zwei zentralen Fragen die Gegenposition zu Efraim. Es ist klar, dass solche Äußerungen wie die von Efraim mehr als seltsam klingen, nicht nur aus dem Mund einer jüdischen Figur. Unangemessen erscheint es auch, dass es ausgerechnet deutsche Figuren sind, die Efraims krude Behauptungen zurückweisen. Wenn man nun nicht bei einer Interpretation stehen bleiben

7 Vgl. Heidelberger-Leonard, Irene: Erschriebener Widerstand? Fragen an Alfred Anderschs Werk und Leben. In: Alfred Andersch. Perspektiven zu Leben und Werk. Hrsg. von Irene HeidelbergerLeonard und Volker Wehdeking. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994, S. 51 – 61, hier: S. 59; Joch, Markus: Vom Existenzialismus light zur verdeckten Selbstkritik. Biografie, Diskurs und Ästhetik bei Alfred Andersch. In: Alfred Andersch. Engagierte Autorschaft. Hrsg. von Norman Ächtler. Stuttgart: Metzler 2016, S. 212 – 230, besonders S. 227 f. 8 Vgl. Klüger, „Judenproblem“ 1994, S. 21.

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möchte, die diese Konstellation als in nicht angemessener Weise repräsentativ für die wahren Verhältnisse in Deutschland versteht, muss man die Frage beantworten, warum Efraim solche in hohem Maße befremdlichen Reden schwingt.9 Eine Antwort wurde in der Andersch-Forschung längst gefunden, aber sie wurde nicht immer berücksichtigt.10 Im vierten Abschnitt werde ich diesen Interpretationsansatz aktualisieren, mit neuen Belegen unterfüttern und ihn, wie ich meine, in einen ihn erhellenden theoretischen Kontext stellen, nämlich in den des unzuverlässigen Erzählens. Dazu ist es nötig, zuvor eine jüngere kritische Interpretation zurückzuweisen, die auf der These basiert, dass Efraim ein besonders zuverlässiger Erzähler sei. Aus der Beobachtung, dass im Roman akribisch topographische Beschreibungen vor allem von London eingearbeitet sind („Realitätsreferenzen“), sowie aus der großen Anzahl an Rekurrenzen mit Bezug auf das Motiv des Zufalls schließt Sascha Feuchert auf eine Glaubwürdigkeitssteigerung des Erzählers. „Denn wer so skrupulös erzählt, wer so mit sich ringt, verleiht dem, was schließlich von der Erzählung Bestand hat, enormes Gewicht“.11 Feuchert schließt demnach von formalen bzw. stilistischen Eigenschaften der Erzählerrede auf die epistemische Qualität der Aussagen: Durch die Anlage eines jüdischen Ich-Erzählers, der seine Glaubwürdigkeit durch seine vielen metanarrativen Kommentare noch einmal extrem erhöht, kommt seinen Positionen besonderes Gewicht zu. Mithilfe von Wiederholungen werden dabei Aussagen profiliert, die durch vorgetragene und dann entkräftete Gegenargumente noch einmal als besonders reflektiert erscheinen.12

Hierbei handelt es sich nicht nur um ein idiosynkratisches Verständnis von Glaubwürdigkeit, sondern auch um einen, das muss man sagen, krassen Fehlschluss. Idiosynkratisch ist, dass Glaubwürdigkeit darauf reduziert wird, rhetorisch-stilistisch bestätigt oder verworfen werden zu können. Zwar gibt es durchaus rhetori-

9 Im gesamten Text gibt es ungefähr vierzig Textstellen, die den Zufall thematisieren. 10 Insbesondere Irene Heidelberger-Leonard hat sich um eine angemessene Interpretation verdient gemacht, die von den Kritikern seltsamerweise nicht angefochten oder diskutiert, sondern fast vollständig ignoriert wird. Vgl. das entsprechende Kapitel in ihrer Monographie „Alfred Andersch: Die ästhetische Position als politisches Gewissen. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Wirklichkeit in den Romanen“. Frankfurt/M.: Lang 1986. 11 Feuchert, Sascha: Realitätsreferenzen, inadäquate Erzähler und verantwortungsfreie Zonen: Zu Alfred Anderschs Roman Efraim im Kontext des Diskurses der Holocaust- und Lagerliteratur. In: Alfred Andersch. Engagierte Autorschaft im Literatursystem der Bundesrepublik. Hrsg. von Norman Ächtler. Stuttgart 2016, 163 – 177, hier: S. 170. 12 Ebd., S. 172.

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sche und andere Strategien zur Steigerung von Glaubwürdigkeit. Entscheidend für die Beurteilung von Glaubwürdigkeit ist jedoch, ob der Sprecher etwas Falsches sagt. Das wird hier ausgeblendet. Zum anderen kann selbstverständlich nicht von der rhetorischen Versiertheit eines Sprechers oder Erzählers auf die Wahrheit seiner Aussagen geschlossen werden, weil damit die Wahrheit einer Aussage nicht von den Tatsachen abhängig wäre, sondern von der Geschicklichkeit des Sprechers, seine Aussagen wahrheitsgemäß zu organisieren. Wie Feuchert allerdings zu Recht schreibt, blendet Efraims Zufallstheorie die Täter aus. Efraim versucht, das Böse und das Tragische – z. B. auch den Selbstmord der Schülerinnen, von dem am Anfang die Rede ist – naturalistisch zu deuten, indem er solche Ereignisse in ein deterministisches Weltbild einpasst, das Mord und Selbstmord als Folge von Umweltbedingungen erklärt. Efraim liefert damit also doch eine Erklärung für solche Ereignisse, obwohl er wiederholt sagt, Auschwitz lasse sich nicht erklären, und genau diese Absage ist es, die für Empörung etwa bei Ruth Klüger sorgte und die auch Feuchert als Botschaft des Textes deutet. Aber es gibt offensichtlich einen Widerspruch: Efraim liefert selbst eine Erklärung und lehnt zugleich alle Erklärungen ab. Wie kann das sein?

4. Ein Interpretationsangebot für die Erzähl­ konzeption: Efraims narrative Unzuverlässigkeit Meiner Meinung nach versteht Efraim die Absage an Erklärungen anders, als ihm seine Kritiker unterstellen. Die Erklärungen, die er ablehnt, sind solche, die dem Morden nachträglich einen Sinn verleihen und die aus diesem ‚Verständlichmachen‘ der grauenhaften Ereignisse ihre zumindest partielle Rechtfertigung gewinnen. Dem verweigert sich Efraim. So verstanden, wendet sich Efraim gegen historische Relativierungen, nicht aber gegen historische Aufarbeitungen. Krüger wirft Andersch bzw. Efraim vor, mit der Absage an Erklärungen die Shoa zu mystifizieren und damit die Verantwortlichen indirekt zu entlasten. Sie besteht zu Recht darauf, die Täter auch in der Literatur nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Efraims Reaktion auf Hornbostel, als er sich gegen Erklärungen von Auschwitz ausspricht, ist aber anders zu verstehen, denn er durchläuft eine Entwicklung, und bei der Niederschrift des Romans ist Efraim so weit, die einzigartige Grausamkeit der Shoa anzuerkennen, indem er erkennt, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Tod durch Vergasen und dem Tod durch einen Bombenangriff. Er bleibt an diesem Punkt aber nicht stehen, insofern er nicht ausschließt, dass etwas noch Grausameres auch in Zukunft geschehen könnte. Diesem Aspekt hat sich, soweit ich sehe, noch keine Interpretation gewidmet. Dieses Grausamere

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ist die Vernichtung aller Menschen durch einen Atomkrieg der damaligen Supermächte. Stellvertretend dafür ist der äußere Anlass für Efraims Berliner Mission: die Kuba-Krise, die die Welt in der Wahrnehmung der Zeitgenossen eben an den Rand eines Atomkriegs brachte. Auffällig ist, dass für Efraim diese Krise gar keine Bedeutung zu haben scheint. Er redet von ihr nur als lästigem Thema, an dem sich seine Arbeitsmüdigkeit – er spielt schon länger mit dem Gedanken, die Stelle als Korrespondent aufzugeben – manifestiert. Auch in dieser Hinsicht ist Efraim also unzuverlässig. Er missachtet die katastrophalen Nachrichten, indem er egozentrisch vor allem um sich selbst kreist, und übersieht auch den Zusammenhang zwischen dieser existentiellen Bedrohung der Menschheit und seinen Überlegungen zum Zufall, die darauf abzielen, dass sich etwas so Katastrophales oder gar noch Schlimmeres als die Judenvernichtung im Prinzip jederzeit wieder ereignen könnte. Am Anfang habe ich erwähnt, dass Efraim mit zwei Aufträgen nach Berlin entsendet wurde: mit dem inoffiziellen und dem offiziellen Auftrag, wobei Efraim sich hauptsächlich für den inoffiziellen Auftrag interessiert und den offiziellen vernachlässigt. Infolgedessen verliert sich der offizielle Auftrag in seinem Buch mehr und mehr. Das hängt damit zusammen, dass Efraim erstens seiner Arbeit als Journalist müde ist, und zweitens Esthers Schicksal für seine eigene Lebensgeschichte höchst bedeutsam wird. Der Unterschied zwischen den beiden Aufträgen ist aber noch aus dem erwähnten Grund relevant, der in der bisherigen Rezeption meist untergegangen ist. Als Efraim in der erwähnten Schlüsselszene, die den Anfang der Hauptgeschichte markiert, Anna Krystek kennenlernt und dem Partybesucher einen Kinnhaken versetzt, steht die Welt am Abgrund. Es ist Samstag, der 27. Oktober 1962. Die Amerikaner brachten an diesem Tag vor Kuba ein mit Nuklearwaffen bestücktes sowjetisches U-Boot mittels Granatenbeschuss auf, und die Sowjets schossen ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug über Kuba ab, wobei der Pilot getötet wurde.13 Als Efraim am nächsten Tag zu schreiben beginnt, wird über das sowjetische Radio der Abzug der sowjetischen Raketen aus Kuba angekündigt. All das kommt in dem Roman nicht vor. Es interessiert Efraim nicht, und in diesem Auslassen zeigt sich, dass es Efraim um seine privaten Probleme geht, denen sozusagen das öffentliche Interesse zum Opfer fällt. Aber nicht nur das: In der Kubakrise stand nach allgemeiner Auffassung damals der Menschheit ihre eigene Auslöschung kurz bevor. Die Rivalität zweier Supermächte und die potentielle Unnachgiebigkeit und Sturheit der beteiligten Akteure machten es nicht unwahrscheinlich, dass etwas geschah, das die grausamen Ereignisse des Zweiten Weltkriegs samt Holocaust zumindest in der schieren

13 Vgl. Greiner, Bernd: Die Kuba-Krise. Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg. München: C.H. Beck 2010.

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Anzahl der Opfer noch zu übertreffen drohte (wobei die Opfer eines Atomkrieges natürlich in anderer Weise Opfer sind – nämlich lediglich sog. Kollateralschäden – als die jüdischen Opfer der Nazis, die für sie die Hauptsache waren). Vor diesem Hintergrund sollte klar werden, dass ein Teil von Efraims vermeintlich relativierender Rede vom Holocaust, wonach er eine Wiederholung solcher Grausamkeiten prinzipiell für möglich hält, in der damaligen Situation eine reale Grundlage hatte. Die andere Komponente der Zufallstheorie besagt, dass es keinen freien Willen gebe. Das perpetuiert Efraim ein ums andere Mal. Aber am Ende erteilt er dem eine Absage, theoretisch und praktisch. Während er sich anfangs noch willenlos von den Ereignissen treiben lässt, beginnt er, mit dem Schreiben seines Buches die Initiative und damit die Verantwortung für sich selbst zu ergreifen. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Ja, Efraim hält lange an der Zufallstheorie fest und es lassen sich, wie Feuchert es tut, affirmative Zitate als Belege dafür anführen. Aber es lassen sich eben auch andere Aussagen Efraims anführen, die die Zufallstheorie zurückweisen, zunehmend gegen Ende des Ro­mans: „[…] wenn alles auf Zufall beruhte, […] dann wäre es nicht nötig gewesen, mich so zu demaskieren, wie ich mich in der Tat demaskiert habe.“ (E, 468 f.) Efraim lenkt damit ein. Aber auch vorher schon rückt er von der Zufallstheorie ab, etwa wenn er den Tod seiner Eltern mit dem Tod von Anna Krysteks Eltern vergleicht und zu dem Schluss kommt, dass es einen Unterschied bedeute, durch Zyklon B zu sterben anstatt durch einen Bombenabwurf (E, 344). Wäre seine Zufallstheorie wahr, dürfte er hier keinen Unterschied machen. Auch sein spontaner Faustschlag, der sich gegen die unbedarfte Äußerung der Wendung „bis zur Vergasung“ wendet, zeugt davon, dass die Judenvernichtung eine Bedeutung für ihn hat, die er lange leugnet. Das ist der Kulminationspunkt, von dem schon die Rede war. In Efraims Handgreiflichkeit manifestieren sich, gleichsam im ursprünglichen Sinne des Wortes, seine Betroffenheit und Empörung angesichts des Umgangs mit dem zum Zeitpunkt der Handlung nicht einmal zwanzig Jahre zurückliegenden industriell betriebenen Massenmord an den europäischen Juden. Efraim könnte gar nicht empört sein, hätte er sich seine Zufallstheorie tatsächlich zu eigen gemacht. Diejenigen, die wie Feuchert nur den einen Teil von Efraims Aussagen über den Zufall heranziehen, müssen erklären können, wie sie den anderen Teil seiner Aussagen darin integrieren können. Hier nun mein Vorschlag, der insbesondere an Irene Heidelberger-Leonard anschließt. Ihr Argument lautet, dass die Zufallstheorie Efraim dazu dient, mit dem Schrecken der Judenvernichtung überhaupt umgehen zu können: „Seine Zufallsphilosophie leistet ihm sozusagen erste Hilfe; sie schützt ihn lange davor, sich seiner eigenen Zerrissenheit zu stellen.“14 Dafür gibt es auch einen starken

14 Heidelberger-Leonard, Andersch. 1986, S. 150.

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Hinweis im Text: Efraim entwickelt die Zufallstheorie genau in dem Moment, als er von Keir Horne während des Krieges über die Massenvernichtung aufgeklärt wird (E, 89 f.). Eine weitere Schlüsselszene ist die auf dem Böhmischen Gottesacker in BerlinNeukölln, am Grabstein der Luise Zoufal, dessen Inschrift zugleich ein Motto des Romans ist: „Das Los ist mir gefallen aufs Lieblichste“ (E, 7; 333). Efraims Deutung des Spruchs ist zunächst oberflächlich, wenn nicht lächerlich. Es sei „ihr Schicksal [gewesen], lieblich zu leben“ (E, 333), sagt er, vor dem Grab stehend. Anna, seine Begleiterin, hingegen meint, dass der Sinnspruch besage, Luise Zoufal habe ihr Schicksal freudig akzeptiert. Zwar lässt sie sich von der zweiten Bedeutung von „Los“ (das, was man zieht) irritieren, doch hält sie fest: „Sie [Luise] hat gewußt, daß es [das Los, das Schicksal, das Leben – M.A.] ein Zufall war, aber gleichzeitig hat sie den Zufall als ihr Schicksal hingenommen“ (E, 334). Nicht umsonst stellt Efraim im Nachhinein fest: „In Berlin hat mein großes systematisches Gedankengebäude über den Zufall und das Chaos zweimal einen Stoß erlitten“ (ebd.) – und meint damit neben dem Gespräch mit der Nonne über Esthers Verbleib eben das Erlebnis auf dem Friedhof. Es zeigt ihm, dass das, was auf der biophysikalischen Ebene als Zufall beschreibbar ist, auf der Ebene des menschlichen Denkens und Fühlens Bedeutsamkeit haben kann, sogar haben muss. Ein interessantes Detail stützt die Interpretation, dass Efraim auf dem Friedhof einen Erkenntnisschritt vollzieht, der ihn dazu bringt, sich seine Verzweiflung einzugestehen, die er mit Hilfe seiner Zufallstheorie lange überspielt hat. Zum Zeitpunkt des Friedhofbesuchs glaubt er noch an seine Theorie des Zufalls und lässt sich von der deutschsprachigen Assoziation des Namens leiten. Der Name „Zoufal“ erinnert an das deutsche Wort „Zufall“. Seine wahre Bedeutung aber ist eine andere, denn das tschechische Wort, von dem der Familienname abgeleitet ist, lautet „zoufat“ [ˈzɔ͡ʊfat], zu Deutsch: „verzweifeln“. Mit Hilfe der Zufallstheorie bemäntelt Efraim seine tiefe Verzweiflung über die Judenvernichtung, wie die deutsche Interpretation des Namens „Zoufal“, die sich nur auf das Schriftbild stützt, seine wahre Bedeutung (wie auch seinen eigentlichen Klang) verdeckt. Das ist nur ein Detail, aber ein detailversessener, geradezu pingeliger Autor wie Andersch könnte auch das im Blick gehabt haben. Ob intendiert oder nicht, die mehrsprachige Deutung des Namens liefert jedenfalls eine interessante ikonische Profilierung von Efraims gespaltenem Selbst, also dessen, was sich Efraim, in Berlin auf Schritt und Tritt mit seiner Vergangenheit und der seiner nächsten Verwandten konfrontiert, tagtäglich vorhält, und dessen, wovor er sich schützen will. Überdies wird an dieser Episode und ihrer Kommentierung durch Efraim selbst deutlich, dass er Abstand von seiner Zufallstheorie nimmt, die er vor allem während seines Aufenthalts in Berlin in Gesprächen propagiert. In seinen rück-

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blickenden Stellungnahmen während der folgenden drei Jahre beim Schreiben seines Romans stellt er die Zufallstheorie in Frage, bis er sie am Ende ganz aufgibt. Die Feststellung, dass Efraim ein unzuverlässiger Erzähler ist, lässt sich rein textimmanent begründen. Efraims reflektierendes Erzählen erhöht nicht seine Glaubwürdigkeit, sondern sein verwirrendes, pseudospontanes Erzählen begünstigt die Verschleierung seiner Motive. Nicht der Stil (oder die Erzählweise) kann die Glaubwürdigkeit oder Unglaubwürdigkeit des Erzählers begründen, sondern nur die Feststellung, ob das, was der Erzähler sagt, wahr ist.15 Genau dies wird mit Bezug auf die Zufallstheorie durch die zahlreichen Widersprüche im Text in Zweifel gezogen. Für die Unzuverlässigkeit der Erzählerrede lässt sich eine textimmanente Begründung finden (nämlich die psychologische Situation Efraims, der den Schrecken der Judenvernichtung aktiv verdrängt). Ein entsprechendes Erklärungsangebot für die Textstellen, die Efraims Relativierungen und Verdrängungen widersprechen (die Unterscheidung der Todesarten durch Zyklon B einerseits und durch Bombenkrieg andererseits, seine Hemmungen, sein Elternhaus zu besuchen, sein Eingeständnis, dass seine Überzeugungen über den freien Willen durch die Berliner Erlebnisse erschüttert worden sind und dass er sich selbst betrogen hat), fehlt. Demnach ist es plausibler anzunehmen, dass die Botschaft des Romans „Efraim“ nicht darin besteht, Efraims Zufallstheorie Glauben zu schenken, sondern darin, diese anzuzweifeln und damit anzuerkennen, dass Efraim mit dem Schreiben seines Buchs eine Entwicklung durchläuft, die vielleicht sogar zu Selbsterkenntnis, gewiss aber zur Selbstakzeptanz führt. Und schließlich gibt es noch ein weiteres Argument dafür: Efraims Zufallstheorie widerspricht auch Anderschs Überzeugungen. „Efraim“ ist zwar ein vordergründig unpolitischer Roman eines unpolitischen Erzählerprotagonisten, was für die zeitgenössischen Rezipienten ein Indiz für Anderschs zeitweises Desengagement war.16 Aber das ist nicht gleichzusetzen mit dem Propagieren von allgemeiner Gleichgültigkeit. Im Gegenteil, die Botschaft von Efraims Schicksal ist, dass ein jeder zu der ihm angemessenen Aufgabe finden und vordergründige Rechtfertigungen für das eigene Versagen (Zufallstheorie als Rechtfertigung für seinen existentiellen Nihilismus) überwinden muss.

15 Im Rahmen des erwähnten SNF-Projekts wird eine enge Definition des unzuverlässigen Erzählens erarbeitet, die zudem auf heuristische Fruchtbarkeit hin angelegt ist. Bis dahin sei auf Tom Kindts Vorschlag für mimetisch unzuverlässiges Erzählen verwiesen in „Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß“. Tübingen: Niemeyer 2008, S. 51. 16 Améry, Jean: Efraim – oder die kluge Skepsis. In: Jean Améry: Werke, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und zum Film. Hrsg. von Hans Höller. Stuttgart: Klett-Cotta 2003, S. 151 – 157.

Traumatisierung in Alfred Anderschs „Efraim“ 

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5. Entstörung durch Erzählen Wendet man nun den Begriff der Störung auf den Roman im Allgemeinen und die Bedeutung der Zufallstheorie für Efraim im Besonderen an, so ergibt sich folgendes Bild. Ausgehend von einem Störungsbegriff, der nicht vollständig negativ konnotiert ist, sondern auf das kreative oder innovative Potential abzielt,17 das in Störereignissen wie Brüchen enthalten ist, gilt es zunächst danach zu fragen, welche Ereignisse der Handlung als Störung beschreibbar sind. Es könnte sich aufdrängen, dass die Shoa selbst die Rolle einer Störung einnimmt. Doch dagegen spricht nicht nur, dass es grundsätzlich vermessen und verfehlt wäre, darin nach irgendeinem positiven Potential suchen; auch mit Bezug auf den Roman spricht seine Faktur dagegen, denn die Judenvernichtung selbst wird in dem Roman nicht zur Verhandlungssache, sondern sie wird als eine historische Tatsache präsentiert, die als einer seiner Ausgangspunkte in der Vorgeschichte der Haupthandlung angesiedelt ist und in die Handlungsgegenwart fortwirkt, nicht nur in der Erinnerung Efraims an seine deportierten und vergasten Eltern, sondern auch ganz konkret durch die einmontierten Zitate aus den Frankfurter Auschwitzprozessen. Als Störung beschreibbar ist indes Efraims Haltung gegenüber der Judenvernichtung, wie sie sich insbesondere in seinen Gesprächen mit Frau Heiß und Werner Hornbostel zeigt und wie sie in seiner Zufallstheorie verarbeitet wird. Wie sich am Beispiel der kritischen Reaktionen auf den Roman verdeutlichen lässt, ist diese Theorie verstörend. Allerdings erschöpft sich die Störung, die die Zufallstheorie darstellt, nicht darin. Ihr Störpotential ist nicht primär skandalorientiert und nicht darauf ausgerichtet, Anstoß zu erregen, sondern darauf, diese zumal für einen jüdischen Protagonisten unpassenden Einlassungen zu hinterfragen. Die Bedeutung der Zufallstheorie als Störung ist aber nicht nur rezeptionsorientiert, sondern auch werk- bzw. kompositionsorientiert. Sie ist Ausdruck des gestörten Verhältnisses, das Efraim zu sich selbst hat. Er ist natürlich kein Holocaust-Leugner, aber er verleugnet mit Hilfe der Zufallstheorie lange Zeit die Bedeutung, die die Shoa für ihn selbst hat. Darin liegt die Störung, von deren Auswirkungen und Überwindung der Roman erzählt. Die narrativ ungewöhnlich mächtige Nachgeschichte ist die Geschichte des Umgangs mit dieser Störung, der wesentlich in Efraims Aufschreibeprozess besteht. Solange Efraim in der Emigra-

17 Vgl. Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 31 – 56.

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tion lebte, reichte die Zufallstheorie ihm als Krücke, den persönlichen Effekt der Judenvernichtung auf ihn selbst zu verdrängen. In Berlin jedoch mit seiner eigenen und mit Esthers Lebensgeschichte konfrontiert, lässt sich dieser Zustand nicht länger aufrechterhalten. Die Erlebnisse in Berlin leiten die Verhaltensänderung ein, die zur Anerkennung seines Traumas, das zugleich ein Menschheitstrauma ist, führt. Aber in Berlin selbst hat diese Erkenntnis noch nicht eingesetzt. Hier finden nur die auslösenden Ereignisse statt. Erst die mit der mehrstufigen Verschriftlichung einsetzende und dadurch beförderte Reflexion setzt den eigentlichen Erkenntnisprozess in Gang. Das bruchstückhafte Erzählen, mit dem er in der Folge seiner Berliner Erlebnisse beginnt, das Notieren und Aufschreiben zunächst einzelner Erlebnisse hilft ihm, sich über Verdrängtes klarer zu werden und es im Laufe der Zeit auszuformulieren. Dabei ist die anfangs skizzierte Erzählweise des Romans maximal intransparent. Nicht nur die starke Fragmentarizität und mosaikartige Anordnung einzelner Ereignisse und Teilereignisse tragen dazu bei, sondern auch der geschilderte, in der erzählten Welt fingierte innere Monolog (bzw. die Offenbarung dieses Verfahrens) ist ein Mittel, den Diskurs intransparent zu machen. Es handelt sich hierbei um „transkriptive Störungen“, wie Gansel im Anschluss an Ludwig Jäger formuliert.18 Diese Intransparenz veranlasst nicht nur den Leser zur produktiven Überwindung der Diskurs-Störung, sondern profiliert zugleich den produktiven Umgang des fiktiven Produzenten selbst, also Efraims, mit den ihm selbst lange intransparenten Ursachen für seinen eigenen Zustand. Als Fazit kann man nach alldem festhalten, dass Efraim mit Bezug auf leitmotivisch im Text verankerte Aspekte wie die Zufallstheorie über weite Strecken ein unzuverlässiger Erzähler ist. Diese Unzuverlässigkeit wird am Ende aufgehoben. Efraims Problem ist so mehrschichtig wie der Roman. Seine Traumatisierung durch die Judenvernichtung ist ein Teil davon, ebenso wie seine unverarbeitete Trennung von seiner Ehefrau Meg und seine Unzufriedenheit mit seiner Arbeit als Journalist. Im Prozess des Schreibens lernt er mit allen drei Teilproblemen bzw. -störungen umzugehen. Insbesondere den von ihm verdrängten, fortwährenden Ehebruch Megs mit seinem Vorgesetzten Keir Horne sowie mit weiteren Männern gesteht er sich ein. Daneben distanziert er sich, durch die Erlebnisse in Berlin dazu bewegt, von seiner Zufallstheorie und gibt den Journalismus zugunsten seiner Arbeit am Buch auf. Im Erzählen findet Efraim zu sich selbst und entstört damit sein Selbst. Die Störung selbst wird damit nicht mehr verleugnet, sondern anerkannt.

18 Ebd., S. 38.

Carola Hähnel-Mesnard

Holocaust und transgenerationelle Traumatisierung in Narrationen der Post-DDR-Literatur 1. Einleitung Gegenstand der folgenden Überlegungen sind vier in den letzten Jahren relativ zeitnah erschienene Romane ostdeutscher Autorinnen und Autoren, die durch den Holocaust bedingte Traumata auf unterschiedliche Weise literarisch verarbeiten. André Herzberg und Mirna Funk stehen dabei für die jüdische Perspektive der zweiten und dritten Generation, Kathrin Schmidt und Jana Hensel für die nicht-jüdische Auseinandersetzung mit dem Thema. Herzbergs Autofiktion „Alle Nähe fern“ (2015)1 und Schmidts Roman „Kapoks Schwestern“ (2016)2 verhandeln sowohl die nationalsozialistische Verfolgungsgeschichte in historischer Perspektive als auch den in der DDR ‚gestörten‘ Diskurs über Judentum und Holocaust, der die Elterngeneration der jüdischen Remigranten ebenso prägte wie deren Nachfahren. Mirna Funks „Winternähe“ (2015)3 reflektiert stärker die Gegenwartsperspektive eines sich in Deutschland ausbreitenden Antisemitismus sowie „die Notwendigkeit Geschichte in der Gegenwart zu verorten“ bzw. „zu verstehen, dass Geschichte nicht abgeschlossen ist“4, wie Funk in einem Interview kommentiert. Jana Hensels „Keinland“ (2017)5 erzählt, ebenfalls in der Gegenwart, das Scheitern einer deutsch-jüdischen Beziehung. Die Wahl des Korpus erklärt sich in erster Linie aus der expliziten bzw. impliziten Thematisierung transgenerationeller Traumatisierung in den Texten, allerdings ist der ausschließlich ostdeutsche Zusammenhang auch einer Irritation geschul-

1 Herzberg, André: Alle Nähe fern. Berlin: Ullstein 2015 [im Folgenden unter der Sigle „NF“ im Text]. 2 Schmidt, Kathrin: Kapoks Schwestern. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016 [im Folgenden unter der Sigle „KS“ im Text]. 3 Funk, Mirna: Winternähe. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuch 2017 [im Folgenden unter der Sigle „W“ im Text]. 4 Badura, Bozena Anna: Das Debüt im Gespräch mit Mirna Funk „Winternähe“ vom 01.11.2015. https://dasdebuet.com/2015/11/01/interview-das-debuet-im-gespraech-mit-mirna-funk-winternaehe (Zugriff am 22.06.2018). 5 Hensel, Jana: Keinland. Ein Liebesroman, Göttingen: Wallstein 2017 [im Folgenden unter der Sigle „K“ im Text). https://doi.org/10.1515/9783110683028-023

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det, die eine These Wolfgang Emmerichs bewirkt hatte, welche besagt, dass sich weder die DDR- noch die Post-DDR-Literatur ernsthaft mit dem Thema Holocaust auseinandergesetzt habe: „Wo die schreibenden Väter und Mütter aus vier Jahrzehnten DDR über das Thema Holocaust nicht schrieben, da folgten ihnen auch die meisten der etwa zwei Dutzend mittlerweile namhaften jungen ostdeutschen Autoren nach – indem auch sie schwiegen.“6 Diesem literaturgeschichtlich sicher voreiligen Befund gilt es durch exemplarische Textanalysen entgegenzuarbeiten, wobei der vorliegende Beitrag an Überlegungen aus dem Band „Störfall? Auschwitz und die ostdeutsche Literatur nach 1989“ (2016) anschließt.7 „Störfall“, dies ist nicht nur eine Anspielung auf die gleichnamige Erzählung Christa Wolfs als Reaktion auf Emmerichs Titel, sondern auch der Verweis auf die im „Handlungssystem Literatur“8 auftretenden Störungen bei der literaturwissenschaftlichen Rezeption und Vermittlung des Themas Auschwitz in der DDR- und Post-DDR-Literatur. Denn es gibt durchaus Texte, die Emmerichs Thesen entgegenlaufen, weshalb ein „genauer Blick“ notwendig ist, wie Annette Leo und Peter Reif-Spirek es bereits im Zusammenhang mit dem DDR-Antifaschismus einforderten.9 Doch soll es im Folgenden nicht um literaturwissenschaftliche Debatten gehen, sondern um die Frage, wie in den vier ausgewählten Texten transgenerationelle Traumata literarisch inszeniert werden, wobei natürlich auch interessiert, ob und wie die spezifische Geschichte des Judentums in der DDR sowie der offizielle Diskurs über Auschwitz thematisiert werden. Autoren wie W.G. Sebald mit „Die Ausgewanderten“ (1992) und „Austerlitz“ (2001), Kevin Vennemann mit „Nahe Jedenew“ (2005) oder auch Maja Haderlap mit „Engel des Vergessens“ (2011) haben in ihren Werken literarische Figuren der Erlebnisgeneration entworfen, die von Holocaust, Verfolgung und Krieg traumatisiert wurden und der von Susan Suleiman als „1,5. Generation“10 bezeichneten

6 Emmerich, Wolfgang: Kein Holocaust, nirgends. Zur Fortexistenz einer Leerstelle in der ostdeutschen Literatur nach 1990. In: Im Osten geht die Sonne auf? Tendenzen neuerer ostdeutscher Literatur. Hrsg. von Viviana Chilese und Matteo Galli. Würzburg: Königshausen & Neumann 2015, S. 15 – 28, hier S. 26. 7 Störfall? Auschwitz und die ostdeutsche Literatur nach 1989. Hrsg. von Carola Hähnel-Mesnard und Katja Schubert. Berlin: Frank & Timme 2016. 8 Vgl. dazu Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 31 – 56, hier S. 43. 9 Vgl. Leo, Annette / Reif-Spirek, Peter: Plädoyer für den genauen Blick. In: Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus. Hrsg. von A. Leo und P. Reif-Spirek. Berlin: Metropol 1999, S. 7 – 12. 10 Suleiman, Susan Rubin: The 1.5 Generation: Thinking About Child Survivors and the Holocaust.

Holocaust und transgenerationelle Traumatisierung 

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Gruppe angehören, welche die Traumata als Kinder bzw. Jugendliche erlebten. Vor allem Sebald und Vennemann haben genuin literarische Werke geschaffen, die es dem Leser erlauben, die Erfahrungen der Figuren im Falle von Sebalds Max Aurach / Ferber bzw. Austerlitz als Traumafolgestörung zu verstehen,11 oder, in Vennemanns Roman, die traumatisierende Situation eines Pogroms und deren Auswirkungen auf die Protagonisten nachzuvollziehen.12 In den hier untersuchten Texten handelt es sich im Gegensatz dazu um Figuren der zweiten und dritten Generation, die die historischen Ereignisse nicht miterlebt haben und die Perspektive der Nachgeborenen einnehmen. Die Figuren unterliegen entweder als Kinder und Enkel von Überlebenden einer transgenerationellen Weitergabe der Traumata oder kommen als nicht-jüdische Deutsche damit in Kontakt. Im Folgenden soll zunächst das Phänomen der transgenerationellen Traumatisierung erläutert werden, um anschließend nach Formen ihrer literarischen Darstellung zu fragen. Im Anschluss daran werden die durch bestimmte Figuren und gesellschaftliche Konstellationen ausgelösten Störungen aufgezeigt, die die Selbstreflexionen bzw. Handlungen der Figuren motivieren oder zur Veräußerlichung ihres Traumas führen. Diesbezüglich wird auf Sigrid Weigels Befund des Traumas als „Störfall der Genealogie“13 zurückgegriffen.

2. Transgenerationelle Traumatisierung Unter transgenerationeller Traumatisierung versteht man die Weitergabe eines durch sog. „man-made-disasters“ hervorgerufenen Traumas von der Erlebnisgeneration auf die nachfolgenden Generationen. Dabei beschäftigen Werner Bohleber zufolge die konkreten Erfahrungen der ersten Generation die nachfolgende Generation in ihrer „Bilder- und Symbolwelt“; die traumatisch erfahrene Realität

In: American Imago, Vol. 59, Number 3, Fall 2002, S. 277 – 295. 11 Vgl. dazu Catani, Stephanie: Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Tübingen: Narr Francke Attempto 2016, S. 356 – 363. 12 Vgl. Hähnel-Mesnard, Carola: Die Inszenierung von Zeugenschaft im Roman „Nahe Jedenew“ (2005) von Kevin Vennemann. In: Der Nationalsozialismus und die Shoah in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Torben Fischer, Philipp Hammermeister und Sven Kramer. Amsterdam/New York: Rodopi 2014, S. 167 – 186. 13 Weigel, Sigrid: Télescopage im Unbewussten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel. Böhlau: Köln/Weimar/Wien 1999, S. 51 – 76, hier S. 65.

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der Elterngeneration wird von den Kindern „in deren Phantasie identifikatorisch übernommen“14 und kann ihre eigene Entwicklung negativ beeinflussen. Das Spektrum des Umgangs der Elterngeneration mit ihrem Trauma reicht von einer permanenten Auseinandersetzung mit der Geschichte und der narrativen Weitergabe der erfahrenen Erlebnisse bis hin zum Schweigen und der Erzeugung eines „Geheimnisses“ oder – nach Nicolas Abraham – eines „Phantoms“, das sich im Unbewussten der Kinder ansiedelt.15 Der israelische Psychologe Nathan P.F. Kellermann hat auf die Vielschichtigkeit der Weitergabe von Traumata hingewiesen und plädiert für ein integratives Analysemodell, das unterschiedliche Erklärungsansätze berücksichtigt: den psychoanalytischen Zugang zu durch die Eltern unbewusst übertragenen Emotionen, den sozialisationstheoretischen Ansatz des sozialen Lernens, der Erziehungsformen und Rollenmodelle, das Erklärungsmodell des vor allem geschlossenen Familiensystems und der Familienkommunikation sowie biologische und genetische Transmissionsmodelle.16 Die Wirkung der für die zweite Generation beobachteten Übertragungsmodelle schwächt sich auch in der dritten Generation nicht ab, sondern scheint sich noch zu verstärken, vor allem wenn die Familiengeschichte nicht aufgearbeitet wurde.17 Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive wurde die Frage der transgenerationellen Weitergabe des Traumas vor allem von Marianne Hirsch aufgegriffen und in ihrem Konzept der „Postmemory“ reflektiert, welches sie zunächst auf die Kinder der Überlebenden des Holocaust anwendet, also auf die „zweite Generation“, der sie selbst angehört. Das Postgedächtnis sieht sie als eine „Struktur der inter- und transgenerationellen Rückkehr traumatischen Wissens und verkörperter Erfahrung“, als eine „Folge der traumatischen Erinnerung, aber (im Gegensatz zur posttraumatischen Belastungsstörung) im Zuge eines

14 Bohleber, Werner: Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewusstsein. In: Die dunkle Spur der Vergangenheit – Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein. Erinnerung, Geschichte, Identität 2. Hrsg. von Jörn Rüsen und Jürgen Straub. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 256 – 274, hier S. 256. 15 Ebd., S. 262 f. 16 Kellermann, Natan P. F.: Transmission of Holocaust Trauma – An Integrative View. In: Psychiatry. Fall 2001, 64 (3), S. 256 – 267, hier S. 260 – 264. 17 „Können in der zweiten Generation die ihr aufgegebenen Rätsel nicht gelöst, die unverarbeiteten traumatischen Eindrücke nicht integriert und durch Trauerarbeit bewältigt werden, kommt es auch in der dritten Generation zu Gefühlen von etwas Dunklem, Rätselhaftem, Unverständlichem, das in seiner affektiven Qualität bedrückend, irritierend und wie ein Fremdkörper wirkt und zugleich ein unauflösbares Band zu den Eltern oder / und Großeltern und deren Geheimnissen knüpft.“ Moré, Angela: Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen. Journal für Psychologie Jg. 21, 2003, Ausgabe 2. https://www.journalfuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/view/268/310 (Zugriff am 19.06.2018).

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Generationenwechsels.“18 Hirsch unterstreicht vor allem die Lückenhaftigkeit dieses Postgedächtnisses, das keine eigenen Erinnerungen enthält und von Wissen und Nicht-Wissen zugleich geprägt ist: der Bezug der Nachgeborenen zur traumatischen Vergangenheit der Elterngeneration erfolgt durch Projektion, Kreativität und Fantasie.19 In diesem Sinne interessiert sich Hirsch für die literarische und vor allem künstlerische Auseinandersetzung der zweiten Generation mit der Geschichte der Eltern, wobei sie ihr Konzept später erweitert, indem sie neben dem Postgedächtnis auf familialer Ebene nun auch das Postgedächtnis derjenigen reflektiert, die sich durch den Kontakt zur zweiten Generation auf kollektiver Ebene mit deren Geschichte beschäftigen. Hirsch spricht hier von „affiliativem Postgedächtnis“.20 Silke Horstkotte zufolge wirft die zunehmende Tendenz der „Ausweitung des Konzepts auf einen Gedächtnisraum, der allen Nachgeborenen offensteht und folglich auch außerfamiliäre Gedächtnistransfers umfasst“, die Frage nach einer Ethik der Erinnerung auf.21 So müsse man zwischen Gedächtnisdiskursen unterscheiden, „die die Differenz des Anderen respektieren, und der ethisch bedenklichen Verwischung der Grenzen zwischen Selbst und Anderem, Betrachter und Objekt, Täter und Opfer.“22 Dabei gehe es nicht um die ethische Haltung der Autoren selbst, sondern um „das binnenliterarische Verhältnis der Erzähler […] zu dem dokumentarischen Material, dessen sie sich als Gedächtnisstütze bedienen […]“.23 Die von Horstkotte untersuchten Texte beziehen sich vor allem auf die postmemoriale Darstellung der Erfahrungen der Generation der Zeitzeugen, doch betrifft die Frage einer Ethik der Erinnerung auch die künstlerische Verarbeitung des transgenerationellen Traumas der zweiten und dritten Generation.

18 „Postmemory […] is a structure of inter- and transgenerational return of traumatic knowledge and embodied experience. It is a consequence of traumatic recall but (unlike posttraumatic stress disorder) at a generational remove.“ Hirsch, Marianne: The Generation of Postmemory. Writing and Visual Culture After the Holocaust. New York: Columbia University Press 2012, S. 6. 19 Vgl. Interview mit M. Hirsch und die entsprechende Notiz zu „Postmemory“ in der OnlineEnzyklopädie „Encyclopédie critique du témoignage et de la mémoire“. http://memories-testimony. com/motclef/postmemoire/ (Zugriff am 20.06.2018). Siehe auch Hirschs Definition: „[…] because its connection to its object or source is mediated not through recollection but through an imaginative investment and creation.“ Hirsch, Marianne: Family Frames. Photography, Narrative and Postmemory. Cambridge: Harvard University Press 1997, S. 22. 20 „affiliative postmemory“. Hirsch, The Generation of Postmemory. 2012, S. 36. 21 Horstkotte, Silke: Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2009, S. 27. 22 Ebd., S. 30. 23 Ebd., S. 29.

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3. Literarische Darstellung der transgenerationellen Traumatisierung Die vier explizit als Romane gekennzeichneten Werke verhandeln Geschichte im Modus der Familiengeschichte und -erzählung, die sich für die Thematisierung transgenerationeller Traumata besonders eignet, oder, wie im Falle von Hensel, als Beziehungsgeschichte. Die gewählten Erzählperspektiven sind dabei unterschiedlich und entsprechen nicht immer homodiegetischen Erzählinstanzen, wie man es bei der Darstellung traumatisierter Figuren und deren Selbstreflexion erwarten könnte.24 Die literarische Darstellung transgenerationeller Traumatisierung erfolgt sowohl über homo- als auch heterodiegetische Erzählinstanzen sowie durch die Wiedergabe von Figurenrede, bei der vor allem die Erzählhaltung von Bedeutung ist, aber auch durch den Rückgriff auf bestimmte Bilder des kollektiven Gedächtnisses und durch besondere literarische Stilmittel. André Herzbergs Roman „Alle Nähe fern“, der stark autofiktionale Züge25 trägt, ist ein typisches Beispiel für die Kombination von Erinnerungsliteratur und Familienroman, der –ähnlich wie Marion Braschs „Ab jetzt ist Ruhe“ (2012) – die Geschichte jüdischer Remigranten in der DDR erzählt. Der Roman beginnt mit einem Prolog und einer starken Ich-Setzung des autodiegetischen Erzählers: „ICH, JAKOB ZIMMERMANN, bin die Mitte.“ (NF, 5 – Hervorhebung im Original). Erzählt wird von einem Traum – der Zusammenkunft der ganzen Familie –, dem im Leben des Erzählers eine besondere Bedeutung zukommt und auf den später zurückzukommen sein wird. Im Anschluss daran berichtet ein heterodiegetischer Erzähler etwa die Hälfte des Romans über die Geschichte der jüdischen Familie, von Verfolgung, Flucht und Exil der Großeltern und Eltern bis hin zur Rückkehr von Jakobs Eltern in die SBZ / DDR. Mit der Geburt von Jakob Zimmermann übernimmt dieser wieder die Funktion des autodiegetischen Erzählers. Ein immer wiederkehrender Alptraum kann in seiner Erzählung als typisches Merkmal einer transgenerationellen Traumatisierung gedeutet werden: In der nächsten Nacht stehe ich wieder mit vielen anderen Kindern zusammen hinter dem Stacheldraht, und davor steht der Mann in der Mörderuniform mit seinem Gewehr. Ich sehe

24 Vgl. dazu Gansel, Carsten: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Ders.: Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 315 – 332, hier S. 323; 330. 25 Herzberg verarbeitet im Roman seine eigene Familiengeschichte. Hinter den Figuren der Elterngeneration, Lea und Paul, erkennt man den DDR-Journalisten Hans Herzberg sowie die Juristin und Richterin Ursula Herzberg; die Figur des Konrad entspricht dem Onkel des Autors, Bernhard Herzberg, dem das Buch gewidmet ist.

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ein Loch im Zaun, da klettere ich durch, aber der Mann ist immer dicht hinter mir, so schnell ich auch laufe. Er wird mich kriegen (NF, 141).

Erlebnisse der Generation der Überlebenden finden sich in Träumen und Alpträumen der zweiten Generation wieder,26 welche, wie Helen Epstein es formulierte, „im Bann einer Geschichte lebt[e], die sie nicht selbst erlebt hatt[e].“27 Elemente dieser Vergangenheit vermittelt vor allem die Mutter des Erzählers, die im englischen Exil überlebte, während ihre eigene Mutter in einem Vernichtungslager ermordet wurde. So beobachtet der Erzähler, wie das Gesicht der Mutter plötzlich erstarrt, wenn sie im Fernsehen die „Mörderuniform“ sieht (NF, 140); er begleitet sie in die Synagoge in der Berliner Rykestraße, wo er kein Wort außer „Auschwitz“ versteht, welches seine alptraumhafte Vision erneut auslöst: „[…] es ist wie ein Stein auf meiner Brust. […] Ich schließe die Augen. Ich bin mit den Kindern hinter dem Zaun, wir kennen uns nicht, reden nicht miteinander“ (NF, 151). Während eines Besuchs bei einer Tante, der einzigen überlebenden Verwandten der Mutter, berichtet diese in grauenvollen Details von ihren Erlebnissen in Auschwitz und ihrer Begegnung mit Mengele. Das Wissen des Ich-Erzählers über Auschwitz konstituiert sich also einerseits aus den Erzählungen einer Verwandten, die er in ihrer Brutalität abwehrt: „Ich möchte mir aber Tante Fofi nicht nackt vorstellen, ich schließe die Augen, aber es wird noch stärker, ich höre sie noch deutlicher […]“ (NF, 152); andererseits wird es durch das Schweigen der Mutter geprägt, das lediglich durch Mimik, Gestik und für das Kind schwer durchschaubare Rituale28 gebrochen wird. Beachtenswert bei dem immer wiederkehrenden Alptraum des Ich-Erzählers ist dessen Inadäquatheit mit den konkreten Erfahrungen der Eltern und Großeltern im Exil. Hier wird das Familiengedächtnis von Bildern des kollektiven Gedächtnisses überformt, wobei außerdem auffällt, dass das Bild der Ansammlung von Kindern hinter einem Stacheldrahtzaun historisch nicht auf die Zeit im Lager verweisen kann, wie vom Erzähler geträumt, sondern auf Fotos, die nach der Befreiung entstanden sind. Wie Marianne Hirsch am Beispiel von Art Spiegelmanns Vorläufer von „Maus“ aufgezeigt hat, wird die intimste familiäre Weitergabe der Vergangenheit über öffentliche Bilder und Narrative vermittelt.29 Genau dies wird in Herzbergs Roman literarisch dargestellt.

26 Vgl. dazu auch Hirsch, The Generation of Postmemory. 2012, S. 4. 27 Epstein, Helen: Die Kinder des Holocaust. Gespräche mit Söhnen und Töchtern von Überlebenden [1979]. München: C. H. Beck 1987, S. 13. 28 So die Geste der Mutter, immer wieder die „verräterische“ Nase des Jungen zu reiben oder seine Locken glattzustreichen, damit man ihn nicht als Juden erkenne (NF, 151), oder auch die Fahrt zu einem „geheimnisvollen Laden“, in dem die Mutter Matze für Pessach kauft (NF, 153f.). 29 Hirsch, The Generation of Postmemory. 2012, S. 30; 35.

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Mirna Funk wählt für ihren mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichneten Roman „Winternähe“ eine heterodiegetische Erzählinstanz mit Nullfokalisierung, die es erlaubt, auch die Perspektive der Eltern- und Großelterngeneration miteinzubeziehen. Diese Anerkennung unterschiedlicher Perspektiven, die gleichzeitig auf die fehlende Möglichkeit einer endgültigen Wahrheit verweist, war der Autorin wichtig.30 Letztendlich überwiegt trotz auktorialer Erzählpassagen die interne Fokalisierung aus der Perspektive der Protagonistin Lola Wolf, die als Enkelin von Holocaustüberlebenden der dritten Generation angehört. Lola wuchs nach der Trennung der Eltern bei ihren jüdischen Großeltern auf, die nach dem Krieg als Kommunisten in die SBZ / DDR kamen. Da die Großeltern ihre wichtigsten Bezugspersonen sind, wird Lola seit ihrer Kindheit mit den Geschichten der Vergangenheit konfrontiert. Die Großmutter hatte „in ihrem ganzen Leben über nichts anderes als den Holocaust gesprochen […] – über wirklich nichts anderes […]“, während ihr „Großvater vehement zu diesem Thema [schwieg]“ (W, 29). Erst im Alter erzählt Gershom „wie auf Knopfdruck alte Geschichten“ (W, 28), und als die Enkelin den inzwischen in Tel Aviv lebenden Großvater auffordert, diese Geschichten doch auf Tonband aufzunehmen, erwidert dieser, dass er jemanden brauche, um ihm zuzuhören – Worte, die an Dori Laubs Untersuchungen zur Bedeutung des Zuhörers bei der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse denken lassen.31 Auch Lolas Vater war „vom Holocaust besessen. Er redete […] ununterbrochen vom Holocaust. Auch für Simon stand der nächste Holocaust kurz bevor, und so waren seine Lebensthemen die Flucht und das Überleben“ (W, 120). Diese Familienkonstellation macht deutlich, dass Lola als Vertreterin der dritten Generation das „Trauma [der jüdischen Familie – C.H.M.] aufgenommen“ (W, 259) hat; für sie ist – im Gegensatz zu ihren nicht-jüdischen Freunden – die Geschichte ununterbrochen präsent: Für euch ist das alles gefühlte dreihundert Jahre her. Warum aber ist das alles für mich gerade erst passiert? Warum erinnert mich jeder Besuch bei meinem Großvater daran? […] Warum bin ich mein ganzes Leben mit diesen Geschichten groß geworden, von Menschen, die überlebt haben, von Menschen, die ihre gesamte Familie verloren haben, und ihr nicht? Warum seid ihr groß geworden, als hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht einmal gegeben? (W, 37)

Besonders deutlich wird diese Prägung, als Lola sich an ein Gespräch mit ihrem israelischen Freund Shlomo erinnert, der sich bei einem Berlin-Besuch fragte, ob

30 Badura, Das Debüt im Gespräch mit Mirna Funk. 2015. 31 Laub, Dori: Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit des Zuhörens. In: ‚Niemand zeugt für den Zeugen‘. Erinnerungskultur nach der Shoah. Hrsg. von Ulrich Baer. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2000, S. 68 – 83, hier S. 79 f.

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„die Asche der toten Juden in Deutschland durch die Luft weht? Glaubst du, dass ich, wenn ich deutsche Luft einatme, auch die toten Juden einatme?“ (W, 311 f.) Lola bejaht dies in einer langen Replik mit verwirrenden Überlegungen, u. a. betont sie, dass die Asche auf dem Weg der Nahrungskette im Magen eines jeden Deutschen landet: Und die Deutschen nehmen die Asche dieser drei Millionen Juden mit jedem Schnitzel, in das sie beißen, mit jedem Stück Käse, das sie zerkauen, in sich auf. Und deshalb sind alle ermordeten Juden längst durch die Mägen, Hirne, Adern und Zellen eines jeden Deutschen gegangen. […] Das Einzige, was ich nicht verstehe, ist, wieso die Deutschen nicht längst an dieser Asche erstickt sind (W, 312 – 313).

An anderer Stelle erinnert sich Lola an ähnliche Gedanken: „Wenn meine Mutter in eine Karotte biss, fragte ich mich, welches Ohr welches ermordeten Familienmitglieds jetzt von ihren Zähnen zermahlen wurde. Niemals habe ich irgendjemandem davon erzählt, weil ich fürchtete, dass man denken würde, ich spinne“ (W, 314). Diese den Leser bewusst aufstörenden Passagen der Einverleibung, die auch als Entpoetisierung und groteske Umkehrung von Celans Bild des „Grabs in den Lüften“ gelesen werden können, kommen im Roman isoliert, nur an dieser Stelle, vor und entsprechen somit nicht der allgemeinen Erzählhaltung. Die skurrilen Bilder, der Rückgriff auf das Stilmittel der Groteske, unterstreichen noch einmal ganz besonders die Betroffenheit dieser dritten Generation. Sie sind ein Mittel literarischer Gestaltung des Unvorstellbaren ebenso wie der Verdeutlichung der Fantasien und Projektionen der Postmemory-Generation. Gleichzeitig sind diese Zeilen auch ein Hinweis auf die fehlende Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit, denn die Bilder des ‚Durch-Magen-Hirn-und-Zellen-Gehens‘ werden hier in wortwörtlicher Bedeutung gebraucht, und nicht in übertragener, was auf eine entsprechende Auseinandersetzung deuten würde. In Jana Hensels „Keinland“ berichtet eine homodiegetische Erzählerin, eine etwa 30-jährige Ostdeutsche, über ihre Liebesbeziehung zu Martin Stern, einem deutschen Juden der zweiten Generation, dessen Eltern Auschwitz überlebt haben. Was der Leser über Martins psychologischen Zustand erfährt, entspricht auch hier den Symptomen einer transgenerationellen Traumatisierung: seine Eltern sprachen ihr Leben lang nur vom Holocaust und ihr Sohn hatte wie Herzbergs Protagonist Verfolgungsalpträume (vgl. K, 159). Martins Mutter war immer besonders besorgt und protektionistisch, was Nathan P.F. Kellermann zufolge typisch für die soziokulturelle Übertragung des Traumas ist.32 Die Eltern gaben dem Kind als zweiten Vornamen den eines in Auschwitz ermordeten Onkels – auch dies eine

32 Kellermann, Transmission of Holocaust Trauma. 2001, S. 261.

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typische Geste von Überlebenden33 –, welcher dem Nachgeborenen zur unerträglichen Last wird: „Und nun trage ich jeden Tag meines Lebens seinen Namen mit mir herum. Der Name ist immer mit dabei. Ich kann mich von ihm nicht lösen. Ich kann mich von nichts lösen. Ich werde diese Geschichte nicht los. Ich werde all diese Geschichten nicht los.“ (K, 68). Folgen dieser transgenerationellen Traumatisierung sind das Gefühl der Entwirklichung sowie Bindungsunfähigkeit und existentielle Desorientierung: „Ich aber habe keine Zukunft. Ich hatte nie eine Vergangenheit, nur selten eine Gegenwart. […] Ich bin eigentlich gar nicht da, bin es nie gewesen. Meine Vergangenheit hat mir nie gehört. Es ist die Vergangenheit von anderen. All das, was ich erzähle, kenne ich nicht. All das, woran ich mich erinnern will, habe ich nie gesehen. In all den Orten, von denen ich träume, bin ich nie gewesen (K, 64).

In der erzählerischen Konfiguration des Romans erfolgt die Darstellung des Traumas als Fremdbeschreibung aus der Perspektive der nicht-jüdischen deutschen Ich-Erzählerin. Diese ethisch problematische Position des ‚An-der-Stelledes-anderen-Sprechens‘ wird gelegentlich – wie in der oben zitierten Passage deutlich wird – durch Dialoge zwischen den Figuren, das heißt durch eine szenische Erzählform und zitierte Rede, die die Präsenz der Erzählerin reduzieren,34 aufgehoben, sodass deren Stimme hinter diejenige der traumatisierten Figur zurücktritt. Sehr viel häufiger jedoch referiert die Erzählerin ihr Wissen über Martin, wobei vor allem die Projizierung ihrer eigenen Lebenswelt und Erfahrungen auf die Figur sowie eine mangelnde Historisierung problematisch sind. So spricht die Erzählerin folgendermaßen über Martins Alpträume: „Wenn Martin träumte, […], träumte er oft davon, wie meine Leute ihn abholten, wie er sich in eine Ecke hinter das Bett kauerte und hoffte, nicht entdeckt zu werden“ (K, 159). „Meine Leute“ – „deine Leute“, das sind in Hensels Sprache die Täter und die Opfer. Das Possessivpronomen „mein“ soll möglicherweise sogar signalisieren, dass die Erzählerin Verantwortung für die Geschichte übernimmt. Allerdings scheinen die Unterschiede zwischen Opfern und Tätern im gemeinsamen Nomen „Leute“ auch gleich wieder zu verschwimmen – eine eindeutige historische Sprache wird dadurch jedenfalls vermieden. Noch problematischer wird es, wenn die Erzählerin ihre Reflexionen über die eigene ostdeutsche Identität mit Martins existentiellen Problemen vergleicht:

33 Weigel, Télescopage im Unbewußten. 1999, S. 73. 34 Vgl. Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie [1999]. München: C. H. Beck 2009, S. 47.

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wenn sie die Wendeopfer als „unsere Toten“ (K, 92) bezeichnet und sie implizit Martins toten Familienmitgliedern gegenüberstellt, wenn sie die Sperrzäune zwischen Israel und dem Westjordanland mit der Mauer in Deutschland vergleicht oder wenn sie Israel, von dem Martin befürchtet, dass es eines Tages untergehen könnte, mit dem „untergegangenen“ Land DDR vergleicht: „Aber weißt du, mein Land ist wirklich untergegangen, und ich glaube manchmal, ich mit ihm“ (K, 109). Auf dem Buchcover wurde dann auch der Ostberliner Fernsehturm in die Skyline von Tel-Aviv montiert: sicher als Sinnbild der Liebesbeziehung, aber angesichts der historischen Kurzschlüsse im Roman ist es am Ende eine doch eher fragwürdige Assoziation. In Jana Hensels Roman kommt es auf Figurenebene also immer wieder zu einer „Verwischung der Grenzen zwischen Selbst und Anderem“, wie eingangs bei Silke Horstkotte zitiert; gleichzeitig unternimmt die Autorin durchaus den Versuch, die transgenerationelle Traumatisierung der Figur Martins glaubwürdig darzustellen.35 Mit Irene Heidelberger-Leonhard, die dies in Bezug auf W.G. Sebald formulierte, könnte man von einem Oszillieren zwischen Aneignung und Restitution jüdischer Schicksale sprechen.36

4. Trauma als Störung der Genealogie Im Anschluss an diese drei Fallstudien der erzählerischen Konfiguration transgenerationeller Traumatisierung auf Figurenebene sollen nun „Figurationen“ der Störung auf Handlungsebene und deren Auswirkungen auf die Konzeption von Genealogie untersucht werden, welcher in allen Romanen eine zentrale Rolle zugeschrieben wird. In der Regel besteht ein Zusammenhang zwischen Störungen auf der Ebene der Filiation und einem konfliktgeladenen Verhältnis von Juden und Deutschen, sei es als Erfahrung von Antisemitismus oder als Verdrängung des Jüdischen. Jana Hensels Ich-Erzählerin ist Journalistin bei einer Zeitung, die durch einseitige Stellungnahmen im Israel-Palästina-Konflikt unter Antisemi-

35 Von Hensels in jüngster Zeit erkennbarem Interesse an Fragen der transgenerationellen Traumatisierung, aber auch an der Remigration von Juden in die DDR zeugt ihre Rezension zu Annekatrin Hendels Dokumentarfilm „Die Familie Brasch“ (D, 2018), dem sie vorwirft, diese Geschichte weitgehend auszusparen. Vgl. Hensel, Jana: Was erzählen sie von heute? Soll man die DDR im Kino hochleben lassen? Zwei neue Filme werden überall gefeiert, obwohl sie beinahe ostalgisch sind. In: Die Zeit vom 03.09. 2018. https://www.zeit.de/2018/36/ostalgie-ddr-kino-film (Zugriff am 29.09.2018). 36 Heidelberger-Leonard, Irene: Zwischen Aneignung und Restitution. Die Beschreibung des Unglücks von W. G. Sebald. Versuch einer Annäherung. In: W.G. Sebald: Intertextualität und Topographie. Hrsg. von Irene Heidelberger-Leonard und Mireille Tabah. Berlin: LIT Verlag 2008, S. 9 – 23.

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tismusverdacht steht; sie bekommt den Auftrag, eine Reportage zu schreiben und kontaktiert den deutsch-israelischen Wirtschaftsberater Martin Stern. Dieser reagiert am Telefon aggressiv und betont, er wolle mit ihr nichts zu tun haben; später, am Ende ihrer Beziehung, bezeichnet er sie als Verräterin und Mitläuferin, da sie dubiosen, antisemitischen Äußerungen deutscher Geschäftsleute nichts entgegnet hatte. Martins Reaktion verweist sehr eindringlich auf den Bruch, der weiterhin zwischen Juden und Nicht-Juden besteht. Diesen Bruch scheint die Ich-Erzählerin bis zuletzt zu ignorieren, ebenso die Gründe, die letztendlich zum Ende ihrer Beziehung mit Martin führen. Diese Beziehung ist von Anfang an auch durch einen Satz geprägt, den Martin gegenüber der Erzählerin gleich am Abend ihrer ersten Begegnung ausspricht: „Ich wünsche mir nichts so sehr wie ein Kind […]“ (K, 23). Im weiteren Verlauf spricht Martin eines nachts, als er Nadja schlafend glaubt, auf Französisch zu ihr und stellt sich in dieser für ihn neutralen Sprache ein Familienleben mit ihr in Frankreich vor. Gleichzeitig ist sich Martin gewiss, dass er aufgrund der Last der Vergangenheit nie Kinder haben wird: Eines Tages nehme ich sie [die Geschichten der Vergangenheit – C.H.M.] mit in mein Grab, und kein Sohn und keine Tochter werden sich an mich erinnern. Und das ist wahrscheinlich besser so. Diese Erinnerungen erdrücken das Leben, diese Vergangenheiten zermalmen die Gegenwart (K, 68).

Dem ausgesprochenen Wunsch nach Kindern und genealogischer Fortschreibung steht die eigene Traumatisierung entgegen. Diese komplexe psychische Situation bleibt in der Beziehung unverstanden, die Erzählerin kommentiert, dass sie diesem Satz Glauben geschenkt habe: „In diesen Satz bin ich eingezogen wie andere in ein Haus“ (K, 23; 183). Am Ende erwartet die Erzählerin tatsächlich ein Kind, obwohl ihre Beziehung mit Martin inzwischen beendet ist und dieser nichts davon weiß. Sie scheint weiterhin an die „deutsch-jüdische Symbiose“ zu glauben, entgegen aller von Martin ausgehenden Zeichen, dass diese Beziehung ebenso wie die genealogische Fortschreibung für ihn unmöglich ist. Der weiterhin existierende Bruch zwischen Juden und Nicht-Juden wird auch in Mirna Funks Roman „Winternähe“ ganz besonders deutlich. Auslöser der Erzählung und der im Roman folgenden Reflexion sind antisemitische Verhaltensweisen, mit denen die Hauptfigur in ihrem Arbeitsumfeld und im Bekannten- und Freundeskreis konfrontiert wird. Lola bemerkt, dass die „Der-Holocaust-is-so-over“Fraktion (W, 21) in der deutschen Gesellschaft die Oberhand gewinnt. Auf einer Firmenveranstaltung wird ihr Foto mit einem Hitlerbart an die Wand projiziert, den darauffolgenden Prozess verliert sie mit dem Argument, sie sei als Tochter einer nicht-jüdischen Mutter nach den Gesetzen der Halacha keine Jüdin. Bereits ihr ganzes Leben lang hatte sich die Protagonistin mit ihrer hybriden Identität auseinandergesetzt:

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Lola fühlte sich wie ein Oxymoron, nicht nur, weil sie deutsche Jüdin war, sondern weil sie Jüdin und Nicht-Jüdin war. Meistens hatte Lola ein gutes Gefühl zu ihrem OxymoronDasein. In ihr verband sich die Geschichte der Deutschen und der Juden, aber auch die Auseinandersetzung mit dieser Geschichte, in ihr hauste das Vergessen und das Erinnern gleichermaßen (W, 313).37

Doch die verstörende Erfahrung des antisemitischen Übergriffs und die Aberkennung ihrer jüdischen Identität durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft führt noch einmal zu einem Prozess verstärkter Selbstreflexion und Infragestellung ihrer Herkunft und ihres familiären Hintergrundes, während die gegenwärtige deutsche Gesellschaft gleichzeitig jede Form von Antisemitismus negiert. Überlegungen über Gesetze der Abstammung im Judentum begleiten die Figur nun immer eindringlicher und allerorts: eine zufällige Begegnung mit einem orthodoxen Juden im Flugzeug führt zu einer Diskussion über dessen radikale Einstellung und über das Reformjudentum, welches seinerseits die patrilineare Abstammung anerkennt. Unabhängig von der Frage, ob Lola nun als Jüdin anerkannt werden kann oder nicht, scheint sich auch ihre Familie insgesamt in einer problematischen Konstellation zu befinden. Lolas Vater Simon hatte die DDR verlassen, als Lola noch ein Kind war, verweigerte ihr später jeglichen Kontakt und zog sich nach Australien zurück, um endgültig vom „Holocaust-Deutschland“, demgegenüber er nur „Abscheu“ empfand, Abstand zu nehmen (W, 272). Auch auf Simon als Vertreter der zweiten Generation hatte sich das Trauma der Eltern übertragen. Nach dem Tod des Großvaters stößt Lola dann unerwartet auf einen an sie adressierten Brief ihrer bereits früher verstorbenen Großmutter, in dem diese ihr ein Familiengeheimnis offenbart: Simon ist eigentlich nicht der Sohn von Gershom, sondern der eines amerikanischen Soldaten, Joshua Simon Katz, der die Großmutter bei der Befreiung des Lagers aus einem Leichenberg geborgen und so gerettet hatte. Jahre später waren sie sich in Berlin wiederbegegnet. Lola fragt sich nun, ob sie nicht in die USA reisen und die Familie ihres eigentlichen Großvaters Joshua suchen sollte, ist sich aber darüber im Klaren, dass die Offenbarung der Wahrheit nur Chaos stiften würde. Komplexe Familienbeziehungen und eine gestörte Genealogie werden auch in diesem Roman als Folge des Holocaust und der Traumatisierung der unterschiedlichen Familienmitglieder thematisiert.

37 An gleicher Stelle reflektiert die Erzählerin auch die Tatsache, eine Mischung aus jüdischen Opfern und deutschen Tätern zu sein: „[…] weil sie sich immer als eine Mischung aus KZ-Häftling und KZ-Aufseher gesehen hatte. Sie war Simons Tochter und auch Petras. Sie war Täter und Opfer in einem, und daher war es ihr unmöglich, nur eine Seite zu sehen. Es war ihr unmöglich, nicht an den Schmerz aller Juden zu denken und gleichzeitig die sadistische Macht eines KZ-Aufsehers zu spüren“ (W, 313).

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Am stärksten literarisch symbolisiert erscheint diese Frage jedoch in André Herzbergs und Kathrin Schmidts Romanen. Auch dort werden auf Handlungsebene zunächst antisemitische Vorfälle erwähnt: Jakob Zimmermann ist in der Schule, später auch in der Armee, unreflektierten antisemitischen Bemerkungen ausgesetzt und wird wegen seines Äußeren als Rumäne oder Italiener bezeichnet (NF, 151; 180).38 In Kathrin Schmidts Roman „Kapoks Schwestern“, der die Familiengeschichte zweier Ende der 1960er Jahre geborenen Schwestern, Claudia und Barbara Schaechter, erzählt, erfolgt die Auf- und Verstörung der beiden Schwestern durch den Nachbarjungen Werner Kapok, der sie plötzlich als „jüdische Großkotze“ (KS, 170) bezeichnet, obwohl die Mädchen bis dahin noch nicht einmal von ihrer jüdischen Herkunft wussten. Doch gerade dieses Schweigen der Elterngeneration über ihr Judentum ist in beiden Romanen der eigentliche Störfaktor in der Entwicklung der nachfolgenden Generation und beeinträchtigt die genealogische Fortschreibung der Familiengeschichte. Bei Herzberg werden das Schweigen und das Verleugnen der jüdischen Identität vor allem anhand der Figur des Vaters thematisiert. Während durch die Mutter sowohl Berichte über die Verfolgung als auch jüdische Traditionen wenigstens teilweise vermittelt werden, verdrängt der Vater als überzeugter Kommunist seine Herkunft völlig. Eine Auseinandersetzung mit dieser Vaterfigur erfolgt durch zwei von der Handlung auf den ersten Blick unabhängige Episoden, die das biblische Motiv der Opferung Isaaks durch seinen Vater Abraham aufnehmen. Die Opferungsszene wird dabei aus der Sicht des Vaters, später der des Sohns erzählt, und der Leser kommt nicht umhin, in Abraham, dem „Vielredner“ und „große[n] Welterklärer“ (NF, 258), den kommunistischen Vater zu sehen, der bereit ist, seinen Sohn zu opfern. Diese Symbolik der vor dem Vater sterbenden Söhne ist nicht nur eine Anspielung auf Herzbergs Leidensgenossen Thomas Brasch, dessen Familienkonstellation ähnlich war,39 sondern vor allem ein Verweis auf die Störungen in der Generationenfolge, die der Ich-Erzähler verspürt.40

38 Jakobs Mutter wird ihrerseits aufgrund ihres Äußeren mit Anna Magnani oder Indira Ghandi verglichen (NF, 149). Ähnliche Erfahrungen werden auch in Barbara Honigmanns Texten reflektiert. Vgl. dazu Goepper, Sibylle: ‚Wer weiß, wann die Stimmung umkippt‘. Holocaust, Symbiose und Antisemitismus in Barbara Honigmanns Werk. In: Hähnel-Mesnard / Schubert, Störfall? 2016, S. 41 – 62, hier S. 53. 39 Die Familien waren seit dem Exil befreundet. In Herzbergs Roman findet man auch eine Anspielung auf die Verhaftung Thomas Braschs 1968 und die Reaktion des Vaters sowie einen augenzwinkernden Hinweis auf Marion Braschs Familiengeschichte „Ab jetzt ist Ruhe“ (vgl. NF, 156). 40 Anlässlich des Todes von Abraham denkt Isaak im Gespräch mit Rebecca über dessen Tat nach: „Ich weiß es nicht, aber es macht mich traurig, wenn ich daran denke, es macht mich oft

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Nach dem gesellschaftlichen Umbruch 1989 wird sich der Protagonist aus Herzbergs Roman seiner fehlenden Einbindung in eine jüdische Tradition und Familiengeschichte immer stärker bewusst. Er analysiert endlich den Traum, der den Prolog des Romans bildet: eine Familienfeier anlässlich seiner Beschneidung, während der alle lebenden und toten Mitglieder der Familie um das Kind herum versammelt sind. Dieser Traum steht spiegelbildlich im Gegensatz zu dem immer wiederkehrenden Alptraum der Verfolgung, verweist aber auch auf eine Lücke in der Vermittlung der Familiengeschichte, die nun aufgehoben werden soll: es geht einerseits um die Anerkennung aller ermordeten Familienmitglieder, die im Traum präsent sind, gleichzeitig repräsentiert der Traum dieser Filiationsgeschichte die Suche nach der in der DDR verdrängten jüdischen Herkunft und den Wunsch nach generationaler Verbindung. Der Erzähler wird sich selbst beschneiden lassen und so seine jüdische Identität bekräftigen. Wie bereits Abraham wird auch er nach jüdischem Glauben in den Bund mit Gott eintreten und die von seinem Vater unterbrochene Genealogie, ebenso wie das jüdische Erbe und die Tradition, wiederaufnehmen. Auch Kathrin Schmidts Roman „Kapoks Schwestern“ ist eine ausgezeichnete Aufarbeitung des Umgangs der DDR mit Judentum und Holocaust. In zahlreichen Rückblicken wird dargestellt, wie die kommunistischen Eltern, die in die SBZ / DDR remigriert waren und dort Journalisten wurden, ihre jüdische Herkunft verschwiegen: in erster Linie aus Gründen der Selbstdefinition und der politischen Überzeugung, dann aber auch, um sich vor dem Antisemitismus gewisser DDR-Eliten zu schützen. Der Roman zeigt zudem eindringlich, wie die Mutter der Schwestern, Cilly, die Auslöschung ihrer eigenen Familie nie wirklich reflektiert hatte und sich erst damit auseinanderzusetzen begann, als sie als Journalistin eine Rezension zu Günter de Bruyns Hörspiel „Aussage unter Eid“41 (1964) verfassen sollte. Die Schwestern selbst beschäftigen sich erst nach dem Tod der Eltern wieder mit dem Thema, als sie bei der Renovierung ihres Hauses auf dem Dachboden alte Filme und einen Vorführapparat entdecken. Alte Urlaubsfilme zeigen den Vater mit Kippa und beide wundern sich, „[d]ass ihnen nie das Jüdische dieser Kopfbedeckung in den Sinn kam […]“ (KS, 424). Im Nachhinein bedauern sie die fehlende

abwesend, weil ich es nicht aus dem Kopf bekomme, es lässt mir die Welt so dunkel erscheinen. Dann ist auf einmal alles, was nah war, ganz fern.“ (NF, 259). Auf dieser Textstelle beruht auch der Titel von Herzbergs Roman, „Alle Nähe fern“, welcher insofern auf die Bedeutung der Auseinandersetzung mit der Vater-Figur verweist. 41 De Bruyns Hörspiel handelt von einem Kriegsverbrecherprozess in der Bundesrepublik, dessen historische Referenz die Vorgänge im Vernichtungslager Kulmhof sind. Zur Entstehungsgeschichte des Stücks und dessen ideologischen Implikationen vgl. Gerlof, Manuela: Tonspuren. Erinnerungen an den Holocaust im Hörspiel der DDR. Berlin/New York: de Gruyter 2010, S. 187 – 207.

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Kommunikation mit den Eltern, „[…] den Abbruch aller Gespräche ums Jüdische, die sich manchmal, sehr selten, […] angebahnt hatten, als die Eltern noch lebten“ (261 f.). Während die Eltern kaum etwas erzählten, hatten die Schwestern ihrerseits jedoch wenig nachgefragt. In Schmidts Roman wird die Frage der transgenerationellen Traumatisierung im Gegensatz zu den anderen Romanen nicht als Selbstreflexion der Figuren dargestellt oder durch einen Erzähler beschrieben. Sie findet ihren Ausdruck auf der Ebene der histoire, und zwar in der Kinderlosigkeit der beiden Schwestern, die auch auf eine Störung der Familiengenealogie verweist. Eine der Schwestern wollte nie Kinder haben, reflektiert dies jedoch im Nachhinein als einen Mangel in ihrem Leben,42 die andere wurde von besagtem Werner Kapok schwanger und ließ das Kind abtreiben. Daraufhin setzte sie sich stärker mit ihrer jüdischen Identität auseinander, beginnt „jüdische Gebete zu sprechen“ (KS, 370), „versenkte“ diese aber wieder „in [ihrem] Bauch […]“ und reflektiert darüber: „Vielleicht ist das auch der Grund, dass kein Kind daneben mehr Platz finden konnte? […] Wahrscheinlich schmerzt mich die Leerstelle in meinem tiefen, jüdisch beladenen Bauch […]“ (KS, 371). Verdrängte jüdische Identität und Kinderlosigkeit werden hier sehr bildhaft zusammengedacht. Das abgetriebene Kind könnte dann auch für die gescheiterte deutsch-jüdische Symbiose stehen, ganz im Gegensatz zur Botschaft von Jana Hensels Roman, in dem die Ich-Erzählerin – trotz gescheiterter deutschjüdischer Beziehung – am Ende ein Kind erwartet. Die bei Schmidt unterbrochene Filiationsgeschichte findet Jahrzehnte später eine Fortsetzung. Als die Schwestern einen entfernten Verwandten ihrer verstorbenen Mutter in Indien besuchen, wird ihnen auf der Fahrt ins Hotel ein Bündel mit einem kranken Kind durch das offene Taxifenster zugeworfen. Die Schwestern nehmen sich von da an des Kindes an, es bleibt zwar in Indien, wird aber ihr Patenkind. Das fehlende jüdische Kind wird auf das radikal Andere bzw. Fremde projiziert und so wird die Familiengeschichte fortgeschrieben. Gleichzeitig erscheint die Geste des Kind-Weggebens als postkoloniale Umkehrung der Versuche jüdischer Eltern, das eigene Kind vor Deportation und Tod zu retten, und reflektiert auf diese Weise noch einmal das Verdrängte in der eigenen Familiengeschichte. In ihrem Text „Télescopage im Unbewussten“ benutzt Sigrid Weigel den Begriff des télescopage, um ein Bild für das „Unbewusste der Generationen“ zu finden, das sich wie Eisenbahnwaggons bei Unfällen teleskopartig ineinanderschiebt. Das psychische Trauma entspricht für sie einem „Störfall in der Genealogie“43, da die „Nachträglichkeit traumatischer Bedeutungszuschreibung […] die Zeitmarke eines

42 Bzw. in dem Schmidt eigenen bildhaften Stil als „Loch im (doch jüdischen) Bagel“ (KS, 379). 43 Weigel, Télescopage im Unbewussten. 1999, S. 65.

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Lebens [überspringt]“.44 Die „Figur des ‚Transgenerationellen‘, mit der sich traumatische Bedeutungen in das kollektive Gedächtnis einschreiben“, sieht Weigel gleichzeitig auch kritisch als einen Moment der Störung von ‚Geschichte‘, da bisherige Konzepte der Ereignis- und Sozialgeschichte wieder abgelöst und durch eine fast biblische und mythische Zeitvorstellung überlagert und an eine familiale, genealogische Zeitvorstellung gebunden werden.45 Die Romane von André Herzberg und Kathrin Schmidt veranschaulichen eindringlich die These des Traumas als „Störung der Genealogie“. Die von der zweiten Generation aufgenommenen Spuren des Traumas der Erlebnisgeneration werden überlagert von dem Schweigen der Eltern und dem Verdrängen jüdischer Identität aus politischen und ideologischen Gründen. Die gestörte Genealogie wird bei Herzberg durch biblische Motive symbolisiert und durch das Ritual der Beschneidung als Rückkehr zum Judentum wieder „entstört“. Bei Schmidt findet der Gedanke der familiären Fortzeugung durch Projektionen auf den postkolonial Anderen seinen Ausdruck, gleichzeitig erfährt die Familiengeschichte dadurch aber auch eine Öffnung. Geschichte wird in beiden Romanen durchaus mitgedacht und rekonstituiert, sodass das Paradigma der Genealogie als Vektor transgenerationeller Traumatisierung eine Verortung in der Ereignisgeschichte keineswegs ausschließt. Denn wie bereits angedeutet sind Herzbergs und Schmidts Romane ein wichtiger Mosaikstein in der literarischen Aufarbeitung des Themas Holocaust und Judentum im Kontext der DDR. Die Romane der jüngeren Generation verzichten sehr viel stärker auf eine genaue Rekonstitution der historischen Dimension und legen größeren Wert auf die Thematisierung antisemitischer Störungen in der gegenwärtigen Gesellschaft sowie auf die Darstellung ihrer Auswirkungen auf die jüdischen Nachgeborenen, wie eingangs gezeigt wurde. In jedem Fall erscheint die Inszenierung transgenerationeller Traumatisierung in der gegenwärtigen Literatur als eine Möglichkeit der Vermittlung des Themas Holocaust durch die Postmemory-Generation. Sie verweist auf eine Position im literarischen Diskurs der Nachgeborenen, die es erlaubt, auf die Aktualität eines historischen Ereignisses auch nach dem Ableben der Zeitzeugen aufmerksam zu machen, ohne sich in die sicher schwierigere und heiklere Rolle derjenigen zu begeben, die auf literarische Weise versuchen, die Erfahrungen der Erlebnisgeneration darzustellen. In diesem Sinne übernimmt auch die zweite und dritte Generation eine neue Form authentischer bzw. sekundärer Zeugenschaft, je nachdem, ob aus der Perspektive des jüdischen familialen oder des nicht-jüdischen affiliativen Postgedächtnisses geschrieben wird.

44 Ebd., S. 65 f. 45 Ebd., S. 66 f.

Florian Gassner

Lenka Reinerovás Lebensgeschichten. Trauma und Widerstand 1. Einleitung Die Pragerdeutsche Schriftstellerin und Holocaustüberlebende Lenka Reinerová veröffentlichte in den letzten drei Jahrzehnten ihres Lebens, also in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren, vornehmlich autobiographische Prosa. In „Närrisches Prag“ aus dem Jahr 2005 umreißt die Autorin ihre dramatische Lebensgeschichte mit knappen Worten: Ich bin bekanntlich in Prag aufgewachsen. Dann kam die Hitler-Okkupation, in deren Folge ich als ein junges Mädchen eine Reihe von Jahren aus meiner Heimat verbannt war. Aber ich bin wiedergekommen. Und ehe die Stadt von mir und ich von ihr erneut Besitz ergreifen konnte, wurde ich abermals aus ihr verbannt, diesmal auf noch absurdere Weise. Denn in den schlimmen fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war kein Feind in unsere Hauptstadt eingedrungen und war dennoch da. Wir bedienten uns der gleichen Sprache und konnten einander doch nicht verstehen. Dieser neue einheimische Feind war ungemein listig, ließ sich nicht greifen, stellte sich nicht. Er verfolgte seine Mitbürger aufgrund schamlos vorgetäuschter Ideale, in Wirklichkeit jedoch im Namen eines absoluten Machtanspruchs. Als eines seiner zahllosen Opfer setzte er auch mich für längere Zeit hinter Schloß und Riegel, verbannte mich aus dem täglichen Leben der Stadt. Danach mußte ich mich, zum Glück wenigstens von neuem vereint mit Mann und Kind, auch noch an einem anderen, mir zugewiesenen Ort ansiedeln. Und wiederum: Auch diesmal bin ich zurückgekommen nach Prag. Weil ich hier zu Hause bin (NP, 123).1

Bedauerlicherweise kennt das 20. Jahrhundert viele solcher Biographien, die – wie auch im Fall Reinerovás – nicht mit einem Band allein umfasst werden können. Und doch hat die Autorin ein äußerst eigentümliches Erinnerungswerk hinterlassen. Bemerkenswert ist insbesondere, dass sich die Teile nicht zu einer einzigen, linearen Erzählung ergänzen, wie zum Beispiel bei Elias Canetti. Stattdessen begegnet den Lesern die oben umrissene Geschichte, das Kreisen um den Lebensmittelpunkt Prag, in immer neuen Variationen. Reinerová kommt ein ums andere Mal auf dieselben Ereignisse zurück, ohne sie jedoch auf dieselbe Weise zu erzählen. Daraus ergibt sich eine Vervielfältigung ihrer Lebensgeschichte, womit die

1 Reinerová, Lenka: Närrisches Prag. Ein Bekenntnis. Berlin: Aufbau Verlag 2005 (Seitenangaben fortlaufend im Text unter der Sigle „NP“). https://doi.org/10.1515/9783110683028-024

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Schriftstellerin zweierlei erreicht: Sie entkommt den zeitgenössischen Erwartungen an die moderne Zeitzeugenerzählung, und sie erhält sich in ihren Texten jene Selbstbestimmung, die ihr für den größten Teil ihres Lebens versagt geblieben war. Lenka Reinerová wurde 1916 in einer Prager Familie deutscher, jüdischer und tschechischer Abstammung geboren. 1936 begann sie ihre schriftstellerische Karriere als antifaschistische Journalistin an der Seite von Franz Carl Weiskopf; drei Jahre später entkam sie nur knapp und glücklich der Okkupation durch die Nationalsozialisten. Ihre gesamte Familie blieb zurück und wurde später deportiert und ermordet. Reinerová fand in Paris Asyl, wo sie kurzzeitig als unerwünschte Fremde inhaftiert wurde, bevor ihr über Marseille und Marokko die Flucht ins mexikanische Exil gelang. 1948 erfolgte ihre Rückkehr nach Prag, nun mit Mann und Kind, doch nur vier Jahre später wurde sie erneut verhaftet, diesmal vom paranoiden sozialistischen Regime unter Klement Gottwald. Nach fünfzehn Monaten Untersuchungshaft wird Reinerová entlassen, mit einem Schreibverbot belegt und auf das Land verbannt. Erst 1964 ist es ihr wieder erlaubt, in Prag als Journalistin tätig zu sein. Während der sogenannten Normalisierung der 70er Jahre erhält sie erneut Schreibverbot, das erst in den frühen 80er Jahren vollkommen aufgehoben wurde. Seitdem beginnt sie verstärkt mit der Niederschrift ihrer Erinnerungen in enger Zusammenarbeit dem Berliner Aufbau-Verlag, die bis zu Ihrem Lebensende andauerte. Es folgten mehrfache Auszeichnungen und, nach ihrem Tod im Jahr 2008, vielzählige Nachrufe auf diese letzte pragerdeutsche Autorin.2 Reinerovás Spätwerk entzieht sich einer eindeutigen Gattungszuordnung. Inhaltlich lassen sich die Texte von 1983 bis 2007, also von „Der Ausflug zum Schwanensee“ (1983) bis zu „Das Geheimnis der nächsten Minuten“ (2007), am ehesten der autobiographischen Prosa zuordnen. Einerseits identifizieren die Texte die IchErzählerin stets als „Lenka Reinerová“, beispielsweise mittels erzählter Rede, andererseits wird diese Figur immer in einen Zusammenhang mit Personen und Ereignissen aus der Biografie der Autorin gesetzt. Jedoch gibt es zwischen den einzelnen Werken bedeutende formale Unterschiede. Einige bestehen aus klar voneinander abgegrenzten Erzählungen, wie zum Beispiel der 1998 veröffentlichte Band „Mandelduft“. Andere verknüpfen die Erinnerungen durch den inneren Monolog des erlebenden Ich, so auch in „Närrisches Prag“ und „Zu Hause in Prag – manchmal auch anderswo“ (2000). Die Paratexte der Werke bezeugen die formale Vielfalt: Drei Bände präsentieren sich als „Erzählungen,“ zwei als „Erinnerungen,“ ein Text trägt den Untertitel „Ein Bekenntnis“, und bei drei weiteren fehlt jede Gattungsbezeichnung.

2 Siehe beispielsweise: Zimmermann, Dieter: Solange der Frühvogel singt. Zum Tod von Lenka Reinerová, der letzten deutschen Schriftstellerin in Prag. Der Tagesspiegel vom 29.06.2008, S. 22; Wottreng, Willi: Eine Osteuropäische Odyssee. NZZ am Sonntag vom 06.07.2008, S. 18.

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Die Texte selbst stellen keine Reflexion über die Gattung an, jedoch äußert sich die Erzählerin ausdrücklich und wiederholt zum Anlass für ihr Schreiben. Eine entsprechende Passage findet sich beispielsweise in „Närrisches Prag“, wo Reinerová erklärt: [Ich] wollte die Zeit vergegenwärtigen, für mich faßbar machen und ein Kapitel als meine ganz persönliche Vergangenheit festhalten. Zu viel und zu oft wurde mir ein Stück, vielleicht ein gerade wichtiger Bestandteil meiner Vergangenheit, entrissen, verteufelt oder wenigstens verdunkelt. Manchmal tragisch, manchmal eher komisch […]. Auf der Vergangenheit ist jedoch unsere Gegenwart aufgebaut, sie ist ein unentbehrlicher Baustein unseres Lebens. Deshalb klaube ich das bißchen zusammen, das mir in Prag geblieben ist (NP, 72).

Wohl mit Blick auf diese und ähnliche Passagen entscheidet sich Gudrun Salmhofer in der Gattungsfrage für die Kategorie der Zeitzeugenerzählung. Salmhofer schreibt: „Das eigene Überleben, das Reinerová als einziger in ihrer ganzen Familie möglich war, bedeutete für sie Verantwortung zu übernehmen und ihre Erinnerungspflicht zu erfüllen, indem sie sich als (Zeit-)Zeugin verstand.“3 Reinerovás Prosa ist jedoch, wie das obige Zitat vermittelt, nicht zur Zeitzeugenerzählung, sondern ebenso Traumaerzählung. Traumatische Erinnerungen sollen neu vergegenwärtigt und in die eigene Lebensgeschichte integriert werden. Es ist der Versuch, eine von außen her angefochtene und herabgewürdigte Vergangenheit zurückzuerobern. Wie schwer dieses Ziel zu erreichen ist, dieses Problem reflektiert die Autorin jederzeit mit. In „Alle Farben der Sonne und der Nacht“4, Reinerovás erstem umfassenden deutschsprachigen Bericht über ihre Inhaftierung durch die tschechoslowakische Staatssicherheit, spricht sie sogar ausführlich vom Scheitern des Versuchs, ihre Lebensgeschichte durch eine Erzählung zu konsolidieren. Bei der Auseinandersetzung mit „unwiderruflichen Begebenheiten und Erlebnissen“, die „vor einem halben Jahrhundert“ über sie „hinweggegangen sind“, musste sie „stets von neuem innehalten“, da sie die „bösen Erinnerungen“ wie auch ihre „unfaßbare Wehrlosigkeit dem unmenschlichen Vorgehen gegenüber immer wieder bestürzten, aus der Fassung brachten.“ Zunächst hatte sie gehofft, dass die Reife des Alters das Unternehmen begünstigen würden. Sie berichtet: „Weil ich inzwischen mit reichen, neuen Erfahrungen und Erkenntnissen ausgerüstet bin, versuchte ich nun, mir selbst zu erklären, was kaum erklärbar ist.“ Doch schon im Ansatz muss

3 Salmhofer, Gudrun: „Der große Traum meines Lebens ist geblieben. Nur mein Blick hat sich geändert.“ Lenka Reinerovás literarisches Arbeiten am Selbstbild. In: brücken – Germanistisches Jahrbuch Tschechien Slowakei 17, 2009, S. 123. 4 Reinerová, Lenka: Alle Farben der Sonne und der Nacht. Berlin: Aufbau Verlag 2003 [im Folgenden unter der Sigle „SN“ im Text].

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sie vor der Danaidenarbeit kapitulieren: „Das konnte mir nicht gelingen“, erklärt sie. „Ratlos und verzagt, blieben meine Hände auf den Tasten meiner guten alten Schreibmaschine liegen“ (SN, 185). Dabei belässt sie es aber nicht. Ist der Wunsch nach erzählerischer Konsolidierung zu hoch gegriffen, so begnügt sich Reinerová mit dem Sammeln und Gegenüberstellen von Erinnerungen. So habe sich ihr Gedächtnis eines Tages „wie von selbst und hilfreich in Bewegung [gesetzt]“. Sie berichtet weiter: „Neben den nachtschwarzen quälenden wurden mit einemmal auch helle und ermutigende Erinnerungen in mir wach. Die versuchte ich schnell festzuhalten, etwa so, wie man nach einem vorbeihuschenden Schmetterling hascht oder eine schöne Melodie im Kopf zu behalten versucht“ (SN, 185). Diesem Programm entsprechend endet „Alle Farben der Sonne und der Nacht“ nicht mit einer Synthese, einer narrativen Versöhnung. Stattdessen schließt der Band mit drei erhebenden Erinnerungen, die mit der Haupthandlung jedoch in keinem Zusammenhang stehen oder gebracht werden. Reinerová erklärt: Dieser Bruch habe allein die Funktion eines Gegengewichts zu den vorangegangenen Erinnerungen an Unrecht, Gewalt und Trauer. „Ich wollte auch solche [Erlebnisse – F.G.] hervorholen, deren aufrüttelnder Atem Zuversicht, Freude, ja ein bleibendes Glücksgefühl hervorzaubern und vielleicht einem jeden zugänglich sein könnte“ (SN, 190). Zum Schluss steht also Erinnerung gegen Erinnerung, Sonne gegen Nacht. Eine abschließende, harmonisierende Interpretation ist, da nicht möglich, auch nicht gewollt. Die Feuilletons haben diesen Mangel an Sinnstiftung ungünstig aufgenommen. „Unbeantwortet“ blieben der Neuen Zürcher Zeitung zufolge „die Fragen, die Lenka Reinerová […] mit ihrem Buch ‚Alle Farben der Sonne und der Nacht‘ an die Geschichte stellt.“ Man hatte sich mehr erhofft von der Aufarbeitung ihrer Inhaftierung durch die tschechoslowakische Staatssicherheit. „Viele metaphysisch aufleuchtende Fragezeichen“, so der Rezensent „durchziehen einen Rückblick, der die Zeit in der berüchtigten Anstalt Ruzyne eher zur Bühne eines expressiven Stils macht als zum Anlass einer historischen Analyse.“5 Ähnlich äußerte sich Thomas Thiel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über „Das Geheimnis der nächsten Minuten“ (2007), den letzten Band, den Reinerová zu Lebzeiten veröffentlichte. Wie viele ihrer späteren Texte ist auch dieser um ein Leitmotiv herum organisiert, und zwar um den Zustand des Wartens. Thiel kritisiert nun, dass die Autorin „trotz wiederholten Anlaufs […] aus ihrer permanenten Wartesituation keine tiefere Einsicht und keinen weiterführenden Gedanken [gewinnt], sondern lediglich den Anlass zu einer Vielzahl von Anekdoten ohne Pointen.“ Es mangele am Mut zu Abstraktion und Sinnstiftung: „Auch wo sie offensichtlich darauf abzielt, neigt sie nicht zur

5 Jandl, Paul: Dunkle Nächte in Prag. Neue Zürcher Zeitung vom 26.07.2003, S. 44.

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philosophischen Synthese und bleibt dicht an den Ereignissen.“6 Thiel kritisiert also nicht den Stil oder den Gegenstand der Erzählung; allein am erzählerischen Verfahren nimmt er Anstoß, am Mangel einer im klassischen Sinne auktorialen Erzählerstimme. In diesem Sinne beschließt er seine Überlegungen zu Reinerovás „Das Geheimnis der nächsten Minuten“: Der Diskurs ihres Lebens hätte sich in einer linearen Erzählweise vermutlich dichter erschlossen, denn die Ereignisse hätten ja nur erzählt, ihre Biographie nur ins Licht großer tektonischer Verschiebungen im Politischen und Ideologischen gestellt werden müssen, um über das Anekdotische hinauszugehen.7

Thiel wirkt – ähnlich wie der Rezensent der NZZ – fast ein wenig frustriert, da der Autorin die scheinbar leichte Übung misslungen sei, ihre Lebensgeschichte um ein historisches oder ideologisches Motiv herum zu konsolidieren. Diese Schlussfolgerung lässt sich mit Blick auf den einzelnen Text womöglich nachvollziehen. Nimmt man jedoch Reinerovás Spätwerk als Ganzes ins Auge, so erweisen sich die assoziative Erzählweise und der Mangel eines programmatischen Zentrums als strukturelles Prinzip, das alle Erzählungen verbindet – Erzählungen, die, wie gesagt, stets aufs Neue verarbeitet werden. Möchte man also nicht von einer Schwäche des Werks insgesamt sprechen, so erscheint diese Unabgeschlossenheit und Zersplitterung der Lebensgeschichte der Autorin als Teil einer umfassenden Strategie. Ein einschlägiges Beispiel mag dieses Verfahren und seine Effekte vergegenwärtigen.

2. Wiederkehrende Geschichten In ihrem Spätwerk bietet Reinerová immer wieder neue und originelle Erzählungen auf, doch gibt es einen Kernbestand an Erinnerungen, die in den meisten, wenn nicht in allen ihren Büchern, wiederkehren. Diese werden dann, ähnlich einem rhetorischen Topos, mit unterschiedlichen Ansätzen und aus unterschiedlichen Perspektiven jeweils neu aufgearbeitet.8 Dabei bestechen manche durch die Vielzahl der Variationen, andere wiederum aufgrund ihrer Langlebigkeit in Reinerovás

6 Thiel, Thomas: Lob der Warteschleife. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.01.2008, S. 38. 7 Ebd. 8 Lenka Volfová vermutet, dass die Variationsbreite biographisch begründet sein könnte, dass die Entwicklung „mehrere Identitäten“ für Reinerová ein Mittel gewesen sei, um ihr „eigenes Leben zu retten.“ Volfová, Lenka: Rollenspiel – Die Suche nach der Identität. In: „Mir hat immer die menschliche Solidarität geholfen.“ Die jüdischen Autorinnen Lenka Reinerová und Anna Seghers. Hrsg. von Viera Glosíková, Sina Meißgeier und Ilse Nagelschmidt. Berlin: Frank & Timme 2016, S. 41.

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Werk. Ein paradigmatisches Beispiel ist die Auseinandersetzung mit der Inhaftierung im Pariser Frauengefängnis La Petite Roquette in drei verschiedenen Texten: In der Erzählung „Kein Mensch auf der Straße“ aus dem Band „Mandelduft“ (1998), in „Zu Hause in Prag – manchmal auch anderswo“ (2000) und schließlich in „Alle Farben der Sonne und der Nacht“ (2003). Jedes dieser Werke kommt auf die Erlebnisse aus dem Jahr 1939 zu sprechen, als die Erzählerin in Paris, kurz nach Ausbruch des Krieges, als unerwünschte fremde Person vom französischen Staat in Gewahrsam genommen wurde. Es gab keine Anklage und keinen Prozess, nur eine Reihe von Verhören und schließlich die Überstellung in das südfranzösische Gefangenenlager Rieucros bei Mende. In „Kein Mensch auf der Straße“ erhält diese Erinnerung einen äußerst dramatischen Rahmen und damit ein besonderes Gewicht in der Lebensgeschichte der Erzählerin. Sie wird in dem Moment abgerufen, als Reinerová in den 1990er Jahren zum ersten Mal Theresienstadt besucht, für viele ihrer Verwandten der vorletzte Halt auf dem Leidensweg durch die Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Ihrer Familie gilt auch ihr erste Gedanke, als sie die Gedenkstätte erreicht: Als meine Mutter das in diesem Fall weiß und ockergelb umrandete Einfahrtstor einer der Kasernen schon hinter sich hatte und in die Bügelei des Wachpersonals abkommandiert wurde, hielt man mich in einem uralten Zuchthaus in Paris. Die Anstalt hatte einen trügerischen, angenehm klingenden Namen: sie hieß La Petite Roquette, kleine wilde Ranke (KM, 19).9

Es folgen einige Ausführungen über die Geschichte des Gefängnisses, in dem es nichts gab als „bräunliches, schmutziggraues und schwarzes Gemäuer, düstere Korridore“ und „kahle Steinhöfe für den trostlosen Rundgang der gefangenen Insassinnen“ (KM, 19). Dann schließt der Exkurs mit einem Sprung in die jüngere Vergangenheit mit einem „Zeitungsauschnitt mit einem Foto, das in dem Augenblick aufgenommen worden war, in dem die Einfassungsmauer der Petite Roquette niedergerissen wurde“ (KM, 20). Bevor sie in die erzählte Gegenwart zurückkehrt, zieht Reinerová ein bemerkenswertes Fazit, bemerkenswert insbesondere mit Blick auf ihre aktuelle Umgebung: Diese Aufnahme stand lange auf einem meiner Bücherregale und wirkte aufmunternd, wenn ich kleinmütig war. Siehst du, schien sie mir zu sagen, es gibt die Roquette nicht mehr, und es hatte doch den Anschein, als ob sie für immer und unantastbar da wäre. Aber so etwas ist also möglich. Finsteres Unantastbar gilt nicht mehr. (KM, 20).

9 Reinerová, Lenka: Kein Mensch auf der Straße. In: Mandelduft. Berlin: Aufbau-Verlag 1998 [im Folgenden unter der Sigle „KM“ im Text].

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Gestärkt durch dieses optimistische Fazit betritt die Erzählerin nun den Raum, in dem ihrer Familie unsägliches Leid angetan wurde. Die Geschichte schließt dann auch mit einer optimistischen Perspektive. Das ein ums andere Mal leitmotivisch wiederholte „Kein Mensch auf der Straße“, eine Chiffre für die Zerstörung jüdischen Lebens während der Okkupation durch Nazideutschland, wird letzten Endes aufgelöst: „Kein Mensch auf der Straße. Auch das wird sich eines Tages ändern“ (KM, 37). Somit wird die Erinnerung an La Petite Roquette schlussendlich zum Positiven gewendet, mit Blick auf die eigene Biographie, aber auch mit Blick auf die Geschichte. Ganz anders eingeordnet wird die Erinnerung an das Frauengefängnis in „Zu Hause in Prag – manchmal auch anderswo“ (2000). Auch diesen Band strukturiert ein Leitmotiv: die niemals endende Suche nach Heimat, unter vorteilhaften und widrigen Umständen, in freundlichen und feindlichen Gefilden. Bei der Beschreibung von La Petite Roquette scheint es nun zunächst so, als ob es der Erzählerin gelungen wäre, hier zeitweilig heimisch zu werden. Kann in einer aufgezwungenen Behausung überhaupt von Wohnen die Rede sein? Wohnt ein Vogel in seinem Käfig, selbst wenn der blitzblank geputzt in einer blitzblanken Küche steht? Wohnt ein Löwe in seinem nach allen Regeln fachlich ausgerüsteten und bemessenen Auslauf im Zoo? Kann man wohnen, wenn einem seine natürliche Freiheit genommen wurde? Manchmal muß man es, ob man will oder nicht (ZP, 39).10

Eine Wohnung ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einem Zuhause. Das verdeutlicht die Erzählerin anhand derselben Bilder, nachdem sie die erzählte Vergangenheit verlassen hat und wieder in ihrer Gegenwart angekommen ist: einem fingierten Gespräch mit einer Obdachlosen, die ihr bei einem Spaziergang durch London begegnet war. Wenn du jetzt glaubst, Virginia, daß die Einzelhaft in Paris allem Anschein nach ein ganz angenehmer Aufenthalt gewesen sein könnte, irrst du gewaltig. Gefangensein an sich ist schlimm, fast unerträglich. Ein Vogel im Käfig kann nie durch einen Wald fliegen, ein Löwe im Zoo niemals einer Gazelle nachjagen. Mit Menschen im Gefängnis ist es noch ein bißchen anders. Da kommt das quälende Bewußtsein hinzu (ZP, 44).

Im Gegensatz zu „Kein Mensch auf der Straße“ vermittelt „Zu Hause in Prag – manchmal auch anderswo“ mit Blick auf die Pariser Haftzeit kein versöhnliches Fazit. Die Episode in La Petite Roquette steht vielmehr ein für „das quälende Bewußstsein“, das sich aus der Situation der politischen Haft ohne Anklage ergibt.

10 Reinerová, Lenka: Zu Hause in Prag – manchmal auch anderswo. Berlin: Aufbau-Verlag 2000 [im Folgenden unter der Sigle „ZP“ im Text].

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Die Erinnerung an das Pariser Gefängnis erfährt schließlich in „Alle Farben der Sonne und der Nacht“ noch einmal eine ganz andere Wendung. Dieser Band besetzt in Reinerovás Oeuvre eine besondere Stellung als die erste umfassende deutschsprachige Aufarbeitung der fünfzehnmonatigen Freiheitsberaubung, die die Autorin in den Jahren 1952 und 1953 durch die sozialistische Gewaltherrschaft in ihrer tschechischen Heimat erdulden musste. Es ist einer der wenigen Bände Reinerovás, in dem eine lineare Haupthandlung dominiert. Inhaftiert in einem Prager Geheimgefängnis wenden sich die Gedanken der Autorin an das „Frauengefängnis La Petite Roquette, in dem ich bei Kriegsbeginn einsaß und das vor einigen Jahren niedergerissen wurde.“ Wie im Prager Gefängnis konnte mach auch in Paris „durch das Zellenfenster nicht auf die Straße sehen“ (SN, 21). Die Abschottung von der Außenwelt war allumfassend, sogar „beim täglichen Rundgang auf dem Hof waren die Insassinnen von hohen Mauern eingeschlossen“ und „zu den Verhören wurden sie in einer Art ‚grüner Minna‘ in den Justizpalast befördert“ (SN, 21). Durch die Lüftungsschlitze in dem Wagen konnte jedoch, „wer ein Auge zukniff, auf die Straße blicken“ (ebd.). Und dieser Blick auf das Paris der ersten Kriegsmonate leitet nun wiederum versöhnliche Überlegungen ein. Das Kriegsgeschehen befand sich erst im Anfangsstadium, und Paris war die Hauptstadt eines wohl bedrängten, aber doch freien Frankreichs. Im Durchblick aus dem Polizeiauto die Märchenstadt an der Seine. Ich freute mich jedesmal, wenn ich in dem Rumpelkasten verstaut wurde. Die Fahrten waren nicht nur eine willkommene Unterbrechung der eintönigen Einzelhaft, sie beruhigten mich sogar stets: Die Welt war noch nicht ganz aus den Fugen geraten (SN, 21).

Die Gegenüberstellung ist eindrucksvoll: Auf der einen Seite die völkerrechtswidrige Inhaftierung in Frankreich als fremde und unerwünschte Person und auf der anderen die fünfzehnmonatige Freiheitsberaubung durch eben jenes sozialistische System, für welches Reinerová ihr Leben lang eingestanden war. Wiederum wird der Topos von La Petite Roquette variiert: Die Erinnerung an die Haft vergegenwärtigt eine Zeit, in der die Welt „noch nicht ganz aus den Fugen geraten“ war, verglichen mit den anschließenden Kriegsschrecken, verglichen aber auch mit dem Zusammenbruch der Zivilgesellschaft in der Tschechoslowakei der fünfziger Jahre. Lenka Reinerovás Spätwerk kennt eine Vielzahl solcher Kerngeschichten, die in den unterschiedlichen Texten von einer jeweils anderen Perspektive beleuchtet werden. Eine willkürliche und doch repräsentative Auswahl könnte die folgenden Topoi umfassen: Reinerovás Aktivitäten als junge Journalistin in Prag, ihre Inhaftierung in Paris, ihre Internierung im Lager von Rieucros, ihr Exil in Marokko und Mexiko und schließlich ihre Inhaftierung in Prag.

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Einen aussagekräftigen Anfangspunkt in dieser Reihe bildet der Band „Es begann in der Melantrichtgasse“ von 1985, der den Untertitel trägt: „Erinnerungen an Weiskopf, Kisch, Uhse und die Seghers“. An sich geht es also um Dritte, und dennoch bieten die Erzählungen umfassende Details zu Reinerovás Anfängen bei der sozialistischen Arbeiter-Illustrierten-Zeitung in den 1930er Jahren, ihren Erfahrungen im Internierungslager Rieucros und ihrem Exil in den späteren Kriegsjahren. Dieselben biographischen Bausteine integriert die Erzählerin in „Die Premiere. Erinnerungen an einen denkwürdigen Theaterabend und andere Begebenheiten“ (1989). In diesem Fall wird zudem auf den ersten Seiten das erzählerische Verfahren ausformuliert, das in den folgenden Jahrzehnten Reinerovás Werke strukturieren sollte: Das Abhorchen der unmittelbaren Gegenwart auf Spuren und Sedimente der Vergangenheit. In „Die Premiere“ gehe es dementsprechend um „alles, was sich im Laufe einer Theatervorstellung [im Jahr 1963 – F. G.] wirklich zugetragen hat, und auch alles, was dabei in mir wieder wach geworden ist“ (DP, 5).11 Dieser Gedanke findet sich auch in „Mandelduft“ (1998), hier ist der Ausgangspunkt jedoch „ein italienische[r] blaue[r] Himmel“, der im Lauf der Handlung „nicht nur die vergoldeten Kreuze auf den Kirchturmspitzen und die frisch getünchten Stukkaturen an den Häuserwänden aufleuchten läßt, sondern auch hineinleuchtet ins Erinnern an längst und jüngst Gewesenes, an Abgeschlossenes und Offenstehendes“ (KM, 14 – 15). Neben La Roquette werden in diesem Band auch Rieucros, Mexiko und das Prager Geheimgefängnis zum Thema. In „Zu Hause in Prag – manchmal anderswo“ (2000) ergeben sich die Erzählanreize auf einem Spaziergang durch London, durch einen fingierten Dialog mit einer jungen Obdachlosen, der die Erzählerin wiederholt begegnet war. Zu sprechen kommt Reinerová dabei auf La Petite Roquette, Rieucros, Mexiko und ihre journalistischen Anfänge in Prag. Alle fünf Topoi finden sich schließlich in „Alle Farben der Sonne und der Nacht“ (2003), dem Bericht über die fünfzehnmonatige Gefangenschaft in einem Prager Geheimgefängnis zwischen 1952 und 1953, und auch in „Närrisches Prag“ (2005) – hier wandert die Erzählerin durch die Straßen ihrer Heimatstadt und überlässt sich den Erinnerungen, die ihre Umgebung hervorruft. Sparsamer verteilt Reinerová ihre Kerngeschichten erst wieder in ihrem letzten Werk „Das Geheimnis der nächsten Minuten“ (2007): Hier finden sich nur mehr die Stationen Rieucros, Marokko und Mexiko.

11 Reinerová, Lenka: Die Premiere. Erinnerungen an einen denkwürdigen Theaterabend und andere Begebenheiten. Berlin/Weimar: Aufbau-Verlag 2003 [im Folgenden unter der Sigle „DP“ im Text].

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3. Widerstand gegen die Gattung Lenka Reinerová hat der Nachwelt einen eigentümlichen Schatz an Erinnerungsliteratur hinterlassen. Nicht nur, dass sich die einzelnen Bestandteile nicht zu einem linearen Ganzen zusammenfügen lassen; nicht nur, dass selbst im Einzelwerk oftmals keine unmittelbare Verbindung zwischen den Episoden besteht. Mehr noch: Die scheinbar ewige Wiederkehr derselben Erzählstränge lässt empfinden, dass keines der Themen jemals erschöpfend behandelt worden ist, dass das letzte Wort stets unausgesprochen bleibt. Eben dies zeigt exemplarisch die Erinnerung an La Petite Roquette, bei der drei Begegnungen zu drei unterschiedlichen Bewertungen führen, und eine vierte sicherlich eine neue Variante hervorbringen würde. Diese Zersplitterung und Dezentrierung der Lebensgeschichte ist umso bemerkenswerter, da es sich um eine bewusste Innovation im Spätwerk der Autorin handelt. Erst seit den 1980er Jahren dominiert in Reinerovás Werken eine Erzählstrategie, in der „das Erlebte aus einer retrospektiven Perspektive geschildert wird, d. h. in denen scheinbar willkürlich auftauchende, assoziativ aneinander gereihte Erinnerungen ins Bewusstsein kommen und einen größeren Stellenwert einnehmen.“12 In ihrer großen Studie zum Werk Reinerovás betont Gudrun Salmhofer den radikalen Bruch mit früheren Erzählstrategien, geht die Autorin in ihrem ersten Roman „Grenze geschlossen“ (1958) doch noch „chronologisch vor und bedient sich einer weitgehend linearen Erzählstruktur.“13 Hier im Frühwerk fände sich also jene ‚lineare Erzählweise‘, die Thiel in seiner Rezension von „Das Geheimnis der nächsten Minuten“ angemahnt hatte. Auch in thematischer Hinsicht ist der Vergleich mit „Grenze geschlossen“ aufschlussreich: Der autobiographische Roman umfasst den Zeitraum zwischen 1939 und 1948 und beinhaltet Kapitelüberschriften wie „In Paris“, „Im Frauenlager Rieucros“ und „Im gastlichen Land Mexiko“. Damit ist ein Großteil jener Themen abgedeckt, mit denen sich die Autorin auch in den letzten drei Jahrzehnten ihres Schaffens fortwährend auseinandersetzt. Es ist ein weiterer Hinweis darauf, dass Reinerovás Spätwerk darauf ausgelegt ist, bereits Bekanntes ein ums andere Mal neu und aus alternativen Perspektiven aufzuarbeiten, ohne zu einem endgültigen Fazit zu gelangen. Der historische Kontext legt dabei nahe, Reinerovás Zersplitterung und Dezentrierung ihrer Biographie als Akt des Widerstands aufzufassen: Widerstand gegen zeitgenössische Tendenzen in der Trauma- und Zeitzeugenerzählung.

12 Salmhofer, Gudrun: „Was einst gewesen ist, bleibt in uns.“ Erinnerung und Identität im erzählerischen Werk Lenka Reinerovás. Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2009, S. 66. 13 Ebd.

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In den 1990er und 2000er Jahren, als Reinerová den Großteil ihrer Werke niederschrieb, begann in den Geisteswissenschaften ein kritischer Dialog über den gesellschaftlichen Umgang mit Traumaerzählungen. Die Aufmerksamkeit lag dabei vor allem auf künstlerischen Auseinandersetzungen mit Trauma, „historische Autorität“ und „Objektivierung von Erinnerungen“ waren die zentralen Schlagwörter. Steven Spielbergs Drama „Schindler’s List“ (1993) war ein bedeutender Katalysator für diese Debatte. Ohne die ästhetischen und narrativen Qualitäten des Films zu verachten, erregte die Aneignung historischer Autorität durch ein Kunstwerk Unbehagen in den Geschichtswissenschaften. So bemerkt der britische Schoah-Forscher Tim Cole in „Selling the Holocaust“ aus dem Jahr 1999, dass der Film von weiten Teilen des Publikums als historisches Lehrwerk aufgenommen wurde. „Indeed for some, Schindler’s List has almost the status of a primary source. It is not seen as simply representation, but as ‚the real thing.‘“14 Bestätigt sieht Cole diese Sorge in dem Aufstieg der Tourismusindustrie, die sich um Spielbergs Film herum gebildet hatte: „That the film has attained the status of reality in its own right can be seen in the current popularity of ‚Schindler’s List tours‘ of the site of the Kraków ghetto and nearby Plaszow labour camp.“ Der Film habe damit die historische Realität verdrängt, denn: „‚Schindler’s List tourists‘ do not so much see sites of ‚Holocaust‘ history, as sites of Schindler’s List history.“15 Das Problem erschöpft sich jedoch nicht in dem Realitätsanspruch von Kunstwerken. Verschärft würde die Situation durch die Position des Konsumenten, die in der Produktion der ästhetischen Kommunikation stets mitgedacht werden muss. Das „Schoah business“16, wie Cole es bezeichnet, sei eben darauf angewiesen, seine Produktionen dem Erwartungshorizont des Konsumenten anzupassen. Dies bedeute zumeist, die Perspektive der Opfer weitgehend auszublenden, um dem jeweiligen Zielpublikum einen amerikanischen, israelischen oder sonst wie auf das jeweilige Publikum zugeschnittenen Holocaust vorzulegen. Bezeichnend für die Perspektive Hollywoods sei in diesem Zusammenhang, dass in „Schindler’s List“ alle dem Publikum zur Identifikation angebotenen Juden überlebten und das Gute letztendlich doch siegt. Im Raum stand damit die Frage, inwieweit der Holocaust ein melodramatisches Versatzstück geworden war, ein Konsumgut zur Erregung des bürgerlichen Publikums. Gut zehn Jahre nach dem Erscheinen von „Schindler’s List“ lieferte die Historikerin Carolyn Dean in „The Fragility of Empathy after the Holocaust“ (2004)

14 Cole, Tim: Selling the Holocaust. From Auschwitz to Schindler. How History is Bought, Packaged, and Sold. New York: Routledge 1999, S. 75. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 76.

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einen ersten Zwischenbericht zur kritischen Auseinandersetzung mit diesem Phänomen. Dabei warnte die Mehrzahl der Stimmen: Empathie habe einem „pseudoEngagement“, einer Anteilnahme, zum Schein Platz gemacht: „[The audience was – F. G.] no longer really concerned with those affected by crimes against humanity, but with ‚the amusement of fully enjoying one’s sensitiveness‘“.17 Für die tatsächlichen Opfer, so der Konsens, komme dieses Verfahren einer (erneuten) Auslöschung gleich: „It entails obliterating boundaries between self and other in order to take the victim’s place – a reductio ad absurdum of empathic logic in which the imagination absorbs and thus annihilates what it contemplates.“ Identifikation mit dem Opfer geht einher mit der Unterdrückung seiner Andersund Einzigartigkeit und, oftmals, mit einer unbewussten Priorisierung unserer eigenen Erfahrungswelt. Daraus folgt: „empathy turns out to be a disguised form of […] hegemony.“18 Zur Beschreibung dieses Phänomens haben viele Forscher auf den Begriff der Pornographie zurückgegriffen, „presumably to describe the reduction of human beings to commodities and the exposure of vulnerable people at the moment of their most profound suffering, hence re-victimizing the victims.“19 Zwar gebe es in der Debatte keinen Kompromiss darüber, was Pornographie in diesem Zusammenhang zu bedeuten hat, wohl auch, weil eine allgemeine Definition unmöglich scheint. Die inflationäre Verwendung des Begriffs in dieser Debatte verrate jedoch ein wachsendes Unbehagen aufgrund des Umgangs mit traumatischen Erinnerungen, in ästhetischen wie auch in historischen Aufarbeitungen. In seiner Studie „Writing History, Writing Trauma“ (2001) schlägt der Historiker Dominick LaCapra daher vor, dass die Geschichtswissenschaft im Umgang mit Traumata drei Strategien meide, die an sich typisch für die Disziplin sind: „Unqualified objectification and narrative harmonization as well as unmediated identification.“ Zu Deutsch: Uneingeschränkte Objektivierung, Harmonisierung der Erzählung und unmittelbare Identifikation. LaCapras zentrale These ist, dass Repräsentationen traumatischer Erlebnisse niemals vorformulierten Erzählmustern folgen können oder sollten: „The attempt to give an account of traumatic limit events should have nonformulaic effects on one’s mode of representation even independent of all considerations concerning one’s actual experience or degree of empathy.“20 Die narrative Formel sei es nämlich, die dem Opfer und seinem Erleben

17 Dean, Carolyn: The Fragility of Empathy after the Holocaust. Ithaca, NY: Cornell University Press 2004, S. 9. 18 Ebd., S. 10. 19 Ebd., S. 16. 20 LaCapra, Dominick: Writing History, Writing Trauma. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2001, S. 103.

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die Subjektivität raube, die zu Objektivierung und Harmonisierung zugunsten der Konsumenten führe. LaCapra: „One may maintain that there is something inappropriate about modes of representation which in their very style or manner of address tend to overly objectify, smooth over, or obliterate the nature and impact of the events they treat.“21 LaCapra wendet sich mit diesen Thesen, wie gesagt, an Historiker, also an Herausgeber und Vermittler traumatischer Erlebnisse. Doch lassen sich diese Überlegungen zum ‚formelhaften Erzählen‘ auch auf die Bedürfnisse der Verfasser, also auf die Quellen traumatischer Erzählungen, beziehen. Für diese ist es schließlich ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger, die subjektive Stimme zu bewahren. Dabei mag man zurückdenken an diejenigen Autoren und Autorinnen der 1970er und 1980er Jahre, die sich bemühten, überlieferte Erzählmodelle zu durchbrechen, denen das hegemonische Denken des Westens eingeschrieben waren. Zusammengefasst als Mitglieder einer ‚postmodernen‘ Bewegung galt es ihnen, „in der Darstellung selbst auf ein Nicht-Darstellbares“ zu verweisen.22 Dem Kultur- und Literaturtheoretiker François Lyotard zufolge wäre das Postmoderne dasjenige, „das sich dem Trost der guten Formen verweigert, dem Konsensus eines Geschmacks […]; das sich auf die Suche nach neuen Darstellungen begibt, jedoch nicht, um sich an deren Genuß zu verzehren, sondern um das Gefühl dafür zu schärfen, daß es ein Undarstellbares gibt.“23 In diesem Sinne mag man sich Opfer traumatischer Erfahrungen vorstellen, die ihre Erlebnisse bewusst in widerspenstige Erzählungen verpacken. Es sind Erzählungen, die nicht gut in eine Informationsblase am Rand eines Geschichtslehrbuchs oder als Zitat aus dem Off in einen Dokumentarfilm von Guido Knopp passen. Es sind Erzählungen, die das subjektive Moment beibehalten, ja es in den Vordergrund stellen, wenn auch auf Kosten der Verständlichkeit und Vermarktbarkeit. Spuren dieses Diskurses durchziehen das Spätwerk von Lenka Reinerová, die in ihren Texten immer wieder Reflexionen über die Bedingungen und Ziele des autobiographischen Erzählens einschiebt. Besonders eindrücklich diskutiert sie die Probleme der Objektivierung und Harmonisierung traumatischer Erlebnisse in der Exposition zu „Alle Farben der Sonne und der Nacht“, in dem Buch also, das sie ihren fünfzehn Monaten illegale Haft in einem tschechoslowakischen Geheimgefängnis widmete. Das zentrale Trauma, das sie in diesem Band vergegen-

21 Ebd. 22 Lyotard, François: Beantwortung der Frage: Was ist postmodern? In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart: Reclam 1990, S. 47. 23 Ebd.

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 Florian Gassner

wärtigt, ist das Paradox, dass sie von ebendem politischen System verschleppt und misshandelt wurde, für das sie in den 1930ern und 1940ern als junge Journalistin gefochten hatte. „Eine Pein ließ sich jedoch nie unterdrücken“, schreibt Reinerová im Rückblick auf diese Zeit, und „das war die Frage, wieso ein derartiges Vorgehen überhaupt möglich war und dazu noch unter der Vortäuschung der Ideale, die zahllose Männer und Frauen auf der ganzen Welt, und so auch ich, mit der Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins verknüpft hatten“ (SN, 21). Der Band endet, wie oben ausgeführt, ohne eine Antwort auf diese Frage zu geben. Reinerová wundert sich jedoch über diejenigen Zeitgenossen, denen sich dieses Problem nicht zu stellen scheint: „Jahre sollten vergehen und es fanden sich Menschen, die in jeder Tasche eine Antwort auf diese Frage bereit hatten, glatt und sauber gefaltet wie ein frisch gebügeltes Taschentuch“ (SN, 21). Reinerová ihrerseits sieht sich nicht in der Lage, solche frisch gebügelten Taschentücher zu verteilen. Sie scheint sich dessen bewusst, dass eine Harmonisierung und Objektivierung ihrer Lebensgeschichte aus Verbrauchersicht wünschenswert wären, dass dieser Vorgang aber auch ein Risiko birgt. Wie Carolyn Dean argumentiert: Um dem Publikum die uneingeschränkte Identifikation zu ermöglichen, gilt es die Anders- und Einzigartigkeit des Opfers zu unterdrücken. Diese Form der Empathie entpuppt sich jedoch als hegemonischer Akt: „Empathy turns out to be a disguised form of […] hegemony.“ Mit anderen Worten: Indem sie sich den Bedürfnissen und Erwartungen des bürgerlichen Publikums anpasst, würde Reinerová die Kontrolle über ihre Geschichte einbüßen und erneut zum Opfer. Um die Kontrolle zu bewahren, kommt Reinerová immer wieder auf die zentralen Momente ihrer Biographie zurück. Sie vergegenwärtigt die Vielseitigkeit und oft auch die Widersprüchlichkeit der Erinnerung, ohne den Lesern eine abschließende Interpretation an die Hand zu geben. Sie weigert sich, ihre Lebensgeschichte zu harmonisieren und zu objektivieren, und verpflichtet die Leser damit, die Vergangenheit durch die Augen des Opfers wahrzunehmen, auf eine Art und Weise, die eine Vielzahl an Perspektiven, Emotionen und Interpretationen zulässt.



V. Traumaerfahrungen und Gegenwartsliteratur

Tomasz Małyszek

Traumatische Wanderer zwischen Diesseits und Jenseits – Metaphysische Störungen und Irritationen in den Werken von Benjamin Stein, Thomas Lehr, Thomas Hettche und Hartmut Lange Im Zeitalter der Nahtoderfahrungen stirbt jeder Mensch mindestens einmal im Leben. Es ist auch möglich, dass er sich schon nach dem biologischen Tod des Körpers, mindestens in der fiktionalen Literatur, irgendwo im Jenseits mit seinem postmortalen Trauma auseinandersetzen muss, bevor er endgültig erlöst, verdammt oder annihiliert wird. Was Albert Heim in seinen „Notizen über den Tod durch Absturz“ schon im Jahre 1892 in der Branchenzeitschrift „Jahrbuch des Schweizer Alpenclub“ beschrieben hat, wurde heutzutage zum Gegenstand literarischer Verarbeitung und autobiographischer Prosa.1 Ein Zitat aus Heims Schrift, das den Bericht eines Alpinisten enthält, wird durch eine Textpassage von himmlischen, rosigen Wolkenvisionen begleitet: „Dann sah ich, wie auf einer Bühne aus einiger Entfernung mein ganzes Leben in zahlreichen Bildern sich abspielen“.2 Selbstverständlich ist die Erfahrung des kommenden Todes bzw. der Annihilation keine Neuheit und kein Tabu in der deutschen Gegenwartsliteratur, es sei denn, es kommt im Prozess des Sterbens zu einer irritierenden Störung, die den endgültigen Tod zeitweise umkehrbar macht. Die Irritation wächst, wenn dem Zustand der Unkörperlichkeit im Text ein Anschein der Wahrhaftigkeit verliehen wird, der aus dem Opfer eines Verbrechens oder eines Unfalls einen gestörten Jenseitswandler macht. Dann ist von den rosigen, himmlischen Wolken überhaupt nicht die Rede und der Traum wird durch einen Albtraum ersetzt. Die alte Botschaft aus dem Jenseits „Ich war, was du bist, du wirst sein, was ich bin“ gilt immer noch, aber traumatische Wanderer zwischen zwei Welten stellen die Idee absoluter Annihilation oder einer friedlichen Erlösung in Frage. Ein Grund dafür

1 Vgl. Mehne, Sabine: Licht ohne Schatten Ostfliedern: Patmos 2013; Mantese, Mario: Vision des Todes. Bericht einer Seele aus dem Zwischenreich. Hammelburg: Drei Eichen Verlag 1993; Nádar, Péter: Der eigene Tod. Göttingen: Steidel 2002. 2 Heim, Albert: Notizen über den Tod durch Absturz. In: Jahrbuch des Schweizer Alpenclub, Bern: Verlag der Expedition des Jahrbuchs des S.A.C. 1892, S. 335. https://doi.org/10.1515/9783110683028-025

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 Tomasz Małyszek

ist nicht ihre allzu große posttraumatische Mortalität (also Sterberate) sondern ein unglaubliches „postmortales Trauma“ des Toten, eine Erfindung der Literatur, die lebensweltliche Erfahrungen des Todes auf die Zwischenwelt projiziert. Im vorliegenden Beitrag werden vier Situationen der Störung oder Irritation in vier Texten von Benjamin Stein, Thomas Lehr, Thomas Hettche und Hartmut Lange dargestellt. Die Rede ist ausschließlich von der Peri- oder Postmortalität infolge eines plötzlichen Vorgangs. Zu unterscheiden sind hier solche Formen der Irritation wie: a. die Irritation nach einem Unfall, der verursacht, dass die Seele bzw. die Psyche als ein autonomes Wesen nach der Trennung von dem Körper in einem durchgängigen Raum weiter existiert. Ein Beispiel ist hier „Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen“ (2008)3 des orthodox-modernen, deutsch-jüdischen Autors Benjamin Stein, der von den Opfern eines authentischen Busunfalls in München erzählt. b. die Irritation nach einem Selbstmord, der von Thomas Lehr, dem Literaten „pessimistischer Anthropologie“4, in der Novelle „Frühling“ (2001)5 beschrieben wird, c. die Irritation nach einem Mord, der zwar den biologischen Körper des Opfers vernichtet, aber dank der „laufenden Kamera“ seiner Seele bzw. Psyche die historischen Vorgänge in Berlin der Nacht des Mauerfalls besser erkennen lässt. Ein Beispiel dafür ist der Roman „Nox“ (1995)6 von dem Vertreter des sogenannten „relevanten Realismus“7 Thomas Hettche, der „dem Gespenstischen an der Wirklichkeit erzählend Herr werden“ will.8 d. die Irritation, die infolge einer Kombination des zweiten und dritten Falls entsteht. Es wird von der Judenvernichtung erzählt, aber im Zentrum des Massenmordes steht das ‚richtige‘ Opfer und nicht das Kind des Täters. Die Rede ist

3 Stein, Benjamin: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen. Berlin: Verbrecher Verlag 2015 [im Folgenden unter der Sigle „B“ im Text]. 4 Thomas Lehr im Gespräch mit Francisca Ricinski. http://www.poetenladen.de/francisca-ricinski-thomas-lehr.htm (Zugriff am 06.10.2017). 5 Lehr, Thomas: Frühling. Berlin: Aufbau Taschenbuch 2001 [im Folgenden unter der Sigle „F“ im Text]. 6 Hettche, Thomas: Nox. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995 [im Folgenden unter der Sigle „N“ im Text]. 7 Vgl. Hettche, Thomas: Die Moderne fällt ab von uns wie ein Traum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.09.2005, S. 44. 8 Görner, Rüdiger: Sehen lernen! Bemerkungen zum Manifest-Charakter der Moderne. In: Literarische Moderne: Begriff und Phänomen. Hrsg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Berlin: de Gruyter 2007, S. 126.

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von dem Text „Das Konzert“ (1986)9 des „positiven Nihilisten“10 Hartmut Lange, in dem die wahre Geschichte des Pianisten Karlrobert Kreiten verarbeitet wird. Unfall, Selbstmord, kriminelles Verbrechen und Extermination sind Themen der Texte aus den Jahren: 2008/2015, 1995, 2001 und 1986. Das Dasein der Toten bzw. der Sterbenden in der perimortalen (in der nahen Zeit des Todes) oder postmortalen Zwischenwelt wird in den vorliegenden Texten als eine selbstverständliche und nicht als eine wunderbare Fortsetzung des diesseitigen Lebens dargestellt, wobei verschiedene sprachliche Entwirklichungsstrategien der Historizität angewendet werden. Die Rede ist nicht von der Unheimlichkeit der Zombies. Dagegen dominiert, wenn man hier Hannah Arendt paraphrasiert, eine Banalität der metaphysischen Ordnung, was einen an Topoi und Hierarchie der Sphären gewohnten Leser zweifelsohne irritiert. Diese metaphysische Ordnung im Jenseits oder in der Zwischenwelt ist nur ein Vorwand für die Rekonstruktion einer Geschichte aus dem Diesseits. Es gibt im Übrigen in der Gegenwartsliteratur eher seltene fiktionale Texte, die eine wahre historische Begebenheit auf metaphysische Art und Weise verarbeiten und deren Kohärenz gleichzeitig ganz im perimortalen und „postmortalen Zwischenraum“11 versunken ist, ohne dabei den Eindruck einer phantastischen oder märchenhaften Literatur zu erwecken. Was der Physiker Ernst Senkowski seit 1974 als „instrumentelle Transkommunikation“12 prägte, wenn er regelmäßig vermeintliche Stimmen der Verstorbenen registrierte, die angeblich aus den Lautsprechern normaler Rundfunkgeräte auf Kurzwelle zwischen neun und elf Mhz vernehmbar waren, verwandelt sich in literarische Sterbemonologe, die nicht aus dem Jenseits stammen, sondern im fiktionalen Jenseits verlautsprachlicht und vernehmbar werden. Psychologisch oder theologisch bedingte Strategien des Erzählens im Raum zwischen Diesseits und Jenseits führen in den vier zu analysierenden Texten dazu, dass „das Gegenteil des Lebens nicht der Tod […], sondern die Sprache“13 der Toten ist. Eine extreme Erfahrung dieser Art ist die Erzählung eines Jenseitswandlers, der

9 Lange, Hartmut: Das Konzert. Zürich: Diogenes 1988 [im Folgenden unter der Sigle „K“ im Text]. 10 Gespräch mit Hartmut Lange. In: Sinn und Form 3, 2008, S. 329 – 331. 11 Herrmann, Leonhard / Horstkotte, Silke: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2016, S. 156. 12 Vgl. Senkowski, Ernst: Instrumentelle Transkommunikation. Frankfurt/M.: R. G. Fischer 1989; Jürgenson, Friedrich: Sprechfunk mit Verstorbenen. Praktische Kontaktherstellung mit dem Jenseits. München: Goldmann Verlag 1989. 13 Menke, Bettine: Prosopopoiia: Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München: Fink 2000, S. 290.

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einerseits durch „das doppelte Untot-Werden“14 als Zombie, bzw. als Untoter, der geistig tot, aber körperlich bzw. materiell anwesend ist, oder als eine unkörperliche, künstliche Intelligenz funktioniert, andererseits in einer zu durchquerenden Zone als ein „Nach-Mensch“ immer noch nicht mit historischen Umwandlungen des Diesseits abgefunden ist. Es kommt dabei zu einer Verortung der Vorhölle, des Scheols oder des Purgatoriums, in die diesseitige, materielle Welt. In den vier zu analysierenden Texten handelt es sich um wahre Begebenheiten wie ein Busunfall in München, medizinische Experimente im Konzentrationslager, die Nacht des Mauerfalls in Berlin oder der Mord an einem jüdischen Pianisten. Die hinzugefügte perimortale bzw. postmortale Komponente lässt eine Analyse individueller Schicksale sterbender oder toter Hauptfiguren als historische Traumata zu. Laut Sigrid Weigel versteht man das Trauma dekonstruktivistisch „als arabeske Figur eines Erinnerns, das das Vergessen erinnert bzw. einer Referenz, die als Latenz auftritt“.15 In Anlehnung an Sigmund Freud kann man sich eine Art Hemmung vorstellen, die das traumatische Erlebnis als einen Fremdkörper zu dem Bewusstsein nicht zulässt: „Die gegenwärtige Wirkung eines Fremdkörpers im Gedächtnis ist also als Erinnerung beschrieben, die sich in Form der Nachträglichkeit auf eine psychische Lücke bezieht.“16 Diese neue Formel des Traumas stammt bei Weigel von der Reinterpretation des älteren Begriffs „telescoping“, der einen „Störfall in der Genealogie“17 bedeutet. So ein Störfall ist auch die Wanderung zwischen zwei Welten, die weder Tod noch Leben bedeutet. In der deutschen Prosa nach 1945 werden Bruchsekunden der Nahtoderfahrung oder Nachtoderfahrung auf romanstiftende Geschichten ausgedehnt, in denen die Vermessung der Zeit durch metaphysische Gravitation ersetzt wird. Wenn diese Gravitation ohne historische Komponente zu berücksichtigen wäre, müssten wir nach 1945 äußerst viele Texte in Betracht ziehen.18 Über die Stränge

14 Metz, Markus / Seeßlen, Georg: Wir Untote! Über Posthumane, Zombies, Botox-Monster und andere Über- und Unterlebensformen in Life Science & Pulp Fiction. Berlin: Matthes & Seitz 2012, S. 19. 15 Weigel, Sigrid: Telescopage im Unbewussten. Zum Verhältnis von Trauma, Geschichtsbegriff und Literatur. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hrsg. von Elisabeth Bronfen / Birgit R. Erdle / Sigrid Weigel. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. 53. 16 Ebd., S. 65. 17 Ebd., S. 65. 18 Kasack, Hermann: Die Stadt hinter dem Strom. Halbleinen. Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 1947; Frisch, Max: Nun singen sie wieder. Versuch eines Requiems. Basel: Verlag Benno Schwabe 1946; Schmidt, Arno: Tina oder über die Unsterblichkeit. Karlsruhe: Stahlberg Verlag 1958; Ende, Michael: Ophelias Schattentheater. Mit Bildern von Friedrich Hechelmann. Stuttgart: Thienemann 1988; Wellershoff, Dieter: Das Verschwinden im Bild. Über Blendwerke und Fiktionen. In: Dieter Wellershoff: Das Verschwinden im Bild. Essays. Köln: Kiepenheuer & Witsch Verlag 1980; Timm,

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schlägt hier übrigens Tilman Rammstedt mit dem Roman „Morgen mehr“ (2016), in dem der tote Ich-Erzähler „weiß, was alles werden wird“19, aber er hat ein „kleines“ Problem, das er in einem Satz zusammenfasst: „Ich bin noch nicht geboren“20, was ein pränatales Trauma eines noch toten Erzählers, der die Angst vor dem Leben hat, suggeriert. Die historische Verankerung dieser Geschichten ist jedoch viel seltener anzutreffen. Es soll auch erwähnt werden, dass viele auf den ersten Blick auffallende Analogien der zu besprechenden Texte mit anderen Texten, wie z. B. mit Hermann Kasacks berühmten Roman „Die Stadt hinter dem Strom“ (1947) sehr täuschend wirken können. Kasacks Hauptheld Robert Lindhoff gelangt als Ungestorbener in das Zwischenreich und er kann diese Stadt lebend verlassen. Es gibt hier nichts von dem positiven Nihilismus, der heute oftmals als Leitmotiv zum Ausdruck gebracht wird. Auch in Elfriede Jelineks Opus Magnum „Kinder der Toten“ (1995) handelt es sich um ein anderes Motiv der Totenwiederkehr und der Untoten in der Tradition des Gespensterromans, was mit den vier zu analysierenden Texten nicht zu assoziieren wäre. Obwohl Lange, Lehr, Hettche und Stein zu unterschiedlichen Generationen gehören, weil Lange 1937, Lehr 1957, Hettche 1964 und Stein 1970 geboren wurden, verfolgt sie ein ähnlicher Traum vom Ausgang aus der Welt durch verschiedene unscheinbare Allerweltsorte. Es gibt in ihrem global zu erfassenden Werk eine Koinzidenz der transzendenten Orientierungslosigkeit, die mit der Totalität unscheinbarer Allerweltsorte und der Zwischenwelten verbunden ist, wobei deutliche Parallelen zwischen postmortaler Phantasie, bewusstloser Aggressivität tödlicher Systemmaschinerien, die selbst als untote Strukturen fungieren können, und dem Kontakt mit etwas Anderem, dessen neueste kulturelle Varianten in den 1970er Jahren zu verankern sind, bestehen. Überraschend wirken dabei seither manche neuen Ähnlichkeiten zwischen den Übergangsriten der Sterbenden bzw. Toten und der Dramaturgie solcher Erfahrungen wie „Anderwelt-Reisen“ und unheimliche Begegnungen, oft gekoppelt mit

Uwe, Rot. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001; Kehlmann, Daniel: Der fernste Ort. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2001; Lewitscharoff, Sibylle: Consummatus. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2006; Roth, Patrick: Lichternacht. Weihnachtsgeschichte. Frankfurt/M./Leipzig: Insel Verlag 2006; Nadolny, Sten: Weitlings Sommerfrische. München: Piper 2012; Widmer, Uwe: Herr Adamson. Zürich: Diogenes 2009; Ransmayr, Christoph: Damen & Herren unter Wasser. Eine Bildergeschichte nach 7 Farbtafeln von Manfred Wakolbinger. Frankfurt/M.: S. Fischer 2007; Buch, Hans Christoph: Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod. Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2013; Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995 u. a. 19 Rammstedt, Tilman: Morgen mehr. München: Hanser 2016, S. 5. 20 Ebd., S. 6.

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der Technik wie phantastische Entführungen, die Natalie Kuczera in drei Etappen einteilt: „(1) Trennungsphase […] (2) Umwandlungsphase: Phase der Liminalität, Aufenthalt „zwischen den Welten“ […] (3) Angliederungsphase: Integration in das Neue […]“.21 Technischer Mythos mischt sich mit der alten Metaphysik in Zeiten der Orientierungslosigkeit. Den Mythos „von den Dingen, die am Himmel gesehen werden“, kann man übrigens nach Carl Gustav Jung als eine Sublimation aller Ängste und Traumata der technischen Zivilisation erfassen22, was nicht dieses konkrete Motiv, aber die Idee der Liminalität in den späteren Texten aufs Neue verstärkt. So eine Koinzidenz resultiert zuallererst aus historischen Phänomena, deren Resonanz seit Ende der 1970er Jahre eine „gute Zeit“ für solche Texte bedeutet. Es handelt sich sowohl um eine potentielle Universalisierung der Holocaust-Problematik, um die Argumentationsstrategien, die ein großes Holocaustmuseum in Amerika, „weit entfernt von den historischen Orten des Geschehens, rechtfertigen sollten“23, als auch um ihre traumatisierende Personalisierung, die jenes Ereignis begleitet. Der Begriff Holocaust setzt, so Norman G. Finkelstein24, Raul Hilberg und Peter Novick, den Judenmord mit einer gewissen Sakralisierung dieses Ereignisses in Verbindung. Das macht seither die Idee weit entfernter transzendenter Zwischenwelten und Purgatorien wahrscheinlicher. Zu erinnern wäre hier auch an die Kontroverse deutscher Historiker im Zeitraum von 1986 bis 1988, in dem es um die Frage ging, ob der Holocaust eine Singularität in sich verbirgt (so Jürgen Habermas in „Die Zeit“ am 11. Juli 1986)25 oder mit anderen Formen des Massenmordes vergleichbar sei (so Andreas Hillgruber und Ernst Nolte), was die Sakralisierungstendenz und die Idee der Zwischenwelten, wo das postmortale Trauma manifest wird, eingeschränkt hätte. Andere Koinzidenz zwischen Purgatorien und ihren literarischen Simulakren (Imitationen) impliziert damals ein Trend bzgl. der Nahtoderfahrungen: Raymond

21 Kuczera, Natalie: Unheimliche Begegnungen. Entführungserlebnisse und Trancekult in der UFO-Szene. Münster: LIT 2004, S. 114. 22 Jung, Carl Gustav: Ein moderner Mythus. Von Dingen, die am Himmel gesehen werden. Zürich/ Stuttgart: Rascher Verlag 1958. 23 Köhr, Katja: Die vielen Gesichter des Holocaust. Museale Repräsentation zwischen Individualisierung, Universalisierung und Nationalisierung. Göttingen: V&R unipress 2012, S. 15. 24 Finkelstein, Norman G.: The Holocaust Industry. London: Verso 2000; Hilberg, Raul: Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin: Olle & Wolter 1982; Novick, Peter: The Holocaust in American Life. New York: Houghton Mifflin Company 1999.  25 Habermas, Jürgen: Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. https://www.zeit.de/1986/29/eine-art-schadensabwicklung (Zugriff am 06.10.2017).

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A. Moodys „Leben nach dem Tod“ erscheint in Deutschland im Jahre 1977. Die ersten deutschen Berichte über unbekannte Flugobjekte und phantastische Entführungen aus den 1950er Jahren werden erst Mitte der 1970er Jahre mit dem Aufkommen des in Mannheim gegründeten CENAP-Netzwerks (des Zentralen Erforschungsnetzes außergewöhnlicher Himmelsphänomene) kanalisiert, was zwar mit den analysierten Texten nur in geringem Zusammenhang steht, aber das ganze Kulturphänomen der Liminalität verstärkt. Dasselbe bedeutet der Bezug zwischen dem Begriff der körperfreien, künstlichen, untoten Intelligenz von John McCarthy aus dem Jahre 1956 und den Errungenschaften der Computerwissenschaftler Mitte der 1970er Jahre in Deutschland (rund um Gerd Veenken in Deutschland am Institut für Informatik der Universität Bonn), was eine neue Form der Zwischenwelten des Bewusstseins schafft. Die Summe dieser Phänomena, die verschiedene Simulakren der Geschichte vertreten, kontextualisiert peri- oder postmortale Motive, die auch in anderen Varianten in mehreren Texten der vier Autoren präsent sind. Unterschiedliche Formen der Zwischenwelten im metaphysischen Raum zwischen Leben und Tod sind, abgesehen von ihrem Grad der Sakralisierung oder Säkularisierung, ein sichtbares Zeichen der Tendenz, die Thomas Hettche in seinem Essayband „Unsere leeren Herzen“ (2017) andeutet, wenn er ein sehr spezifisches Fragment aus Hennig Ritters „Notizheften“ zitiert: „Das Jahr 1979 könnte sich eines Tages als das wichtigste und folgenreichste seines Jahrhunderts erweisen. Denn damals wurde im Iran bewiesen, dass der Säkularisierung genannte Prozess umkehrbar ist und nicht, wie man bis dahin glaubte, unumkehrbar“.26 Eine Art Sakralisierung des diesseitigen öffentlichen Raumes als Zwischenwelt wird eine Tatsache auch innerhalb der Literatur. Vier Beispiele sollen zeigen, wie diese Umkehrbarkeit in den Texten entwickelt wird, damit ein postmortales Trauma jeweils verarbeitet und bewältigt werden kann. Hartmut Langes Novelle „Das Konzert“ (1988) erzählt von einem toten Juden namens Lewanski, der als ermordeter Pianist die Gesellschaft anderer toter Opfer des Nationalsozialismus findet und für seine gespenstischen Henker ein Konzert spielen soll. Die Vorlage für die Geschichte bildet das Schicksal des Musikers Karlrobert Kreiten, der kein Jude war, aber 1943 in Berlin von den Nazis gehängt wurde. Der 26-jährige Kreiten sollte am 3. Mai 1943 in der Neuen Aula der Universität in Heidelberg ein Klavierkonzert geben, wurde aber im Hotel von der Gestapo verhaftet. Am 7. September 1943 hat man ihn in Berlin hingerichtet. „Den Eltern des toten Pianisten schickte die Gerichtskasse für die Hinrichtung eine Kosten-

26 Ritter, Hennig: Notizhefte. Berlin: Berlin Verlag 2010, zitiert nach: Hettche, Thomas: Unsere leeren Herzen. Über Literatur. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2017, S. 10.

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rechnung von 639,20 Reichsmark ins Haus, zahlbar binnen einer Woche“.27 Da die Hinrichtung ein junges, geniales Leben des Musikers auch in Langes Novelle schnell unterbrochen hat, verweilt der Jenseitswandler immer noch auf Erden, und zwar in Berlin Charlottenburg. Lange versteht seine Novelle als einen blasphemischen Text, in dem die Henker nicht bestraft und die Opfer nicht belohnt werden, was verursachen musste, dass sein Werk „totgeschwiegen wurde“.28 Darin besteht auch das irritierende Potential der Novelle. Lewanskis Jenseits beginnt in Berlin in der Wohnung einer ebenso getöteten Jüdin namens Altenschuh, die sich, so wie alle Opfer der Nazis, „außerhalb der Zeit“ (K, 9) befindet. Er soll ein Konzert geben, um die Grenze zwischen Leben und Tod niederzureißen und, wie man das dem Pianisten rät, um „[…] seine Jugend der Erfahrung des Todes anzugleichen“ (K, 72]. Die Möglichkeit der Wiederholung, die Søren Kierkegaard, einer der beliebtesten Philosophen von H. Lange, im Diesseits situiert, wird von Lange in der Zwischenwelt abgespielt. Es soll dabei nicht vergessen werden, dass „Erinnerung und Wiederholung die gleiche Bewegung sind, nur in entgegengesetzter Richtung“.29 Die Wiederholung kann auch eine Versöhnung initiieren. Das „Auferstehungskonzert“ (K, 111) soll Lewanski erneuern und vom postmortalen Trauma nach der Hinrichtung befreien, deshalb ruft er plötzlich: „„Ich bin Pianist“, […], „jawohl, Pianist! Und ich werde der Welt zeigen, daß ich gerade dort, wo man mich verhindern wollte, wieder erscheine!“„ (K, 99 f.). Dadurch soll auch der traditionelle Unterschied zwischen Gut und Böse überwunden werden. Nachdem Lewanski verschwunden und unauffindbar geworden ist, wird die Geschichte seines Schicksals folgendermaßen beendet: „Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinanderzusitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind“ (K, 133). Diese Methode der Bewältigung des postmortalen Traumas kann überraschend wirken, es sei denn, man kennt Langes frühere Novelle „Die Heiterkeit des Todes“ (1984), in der der tote SS-Mann über sein Opfer sagt: „[…] was für eine außergewöhnliche Frau […] Hätte ich sie nicht getötet, ich hätte sie nie kennengelernt, und sie ist die einzige, die mir verzeiht.“30

27 Wiesen, Harald: Tod eines Pianisten. http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13525943.html (Zugriff am 04.12.2016). 28 Ebd. 29 Glöckner, Dorothea: Kierkegaards Begriff der Wiederholung. Eine Studie zu seinem Freiheitsverständnis. Berlin/New York: de Gruyter 1998, S. 110. 30 Lange, Hartmut: Die Heiterkeit des Todes. In: Hartmut Lange: Die Waldsteinsonate. Fünf Novellen. Zürich: Diogenes 1987, S. 112.

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Der (Alb-)Traum von der Unkörperlichkeit mischt sich bei Lange mit seinem Transzendenzbedürfnis, das er gerne in Interviews wiederholt: „[…] denn ich wünschte immer noch, es gäbe Gott, obwohl ich überzeugt bin, daß es ihn nicht gibt“.31 Die Unheimlichkeit seiner traumatischen Wanderer zwischen zwei Welten wird somit ein Aspekt seines „positiven Nihilismus“, der als eine nüchterne Ersatzform „negativer Theologie“32 gelten kann und eine Möglichkeit des Daseins „am dritten Ufer des Flusses“33 imaginiert, wohin mindestens die Aneinanderreihung von potentiellen Wiederholungen reicht. Es soll nicht vergessen werden, dass auch bei Kierkegaard die wahre Wiederholung eine synchrone „Transzendenz“34 im Diesseits, jedoch außerhalb traditioneller Linearität der Zeit bedeutet, was uns über Friedrich Nietzsche und Martin Heidegger zu Hartmut Lange führt. Auch in Thomas Hettches Roman „Nox“ (1995) ist die allgemeine Situation in der Nacht des Mauerfalls in Berlin wahr. Der Autor war damals tatsächlich in Berlin. Damals, das heißt, in der Nacht zum 9. November 1989, als ein junger Dichter aus seinem Roman von einer Frau nach der Lesung getötet wird. Mit diesem Tod hängt auch der wichtigste Überraschungseffekt im ganzen Roman, den folgendes Zitat charakterisiert: „Noch eine ganze Weile hielt sie das Messer über mir. Schwer und angenehm fühlte sie es in ihrer Hand. Da war ich längst tot“ (N, 11). Narratologisch gesehen könnte er wegen seines schwebenden ontologischen Status als ein pseudo-homodiegetischer Erzähler bezeichnet werden.35 Um die allgemeine Lage des Toten zu betonen, fügt der Erzähler (ebenso ein Schriftsteller) noch einen Satz hinzu: „Als ich starb, wechselte ein Hund über die Grenze“ (N, 11). Während die ersten DDR-Bürger die Grenze passieren, beginnt der Körper des Getöteten zu verwesen, was der Tote in ihm beobachtet und beschreibt. Als der erzählende fiktive Schriftsteller, der noch im sterbenden Körper steckt, sich in einen transzendenten Erzähler verwandelt, erkennt man sofort unterschiedliche Erkenntnispotentiale der beiden Instanzen. Das im Körper verborgene Ich kennt den Namen der Mörderin nicht, dagegen ist das transzendente Ich allwissend, was Marek

31 Vgl. Gespräch mit Hartmut Lange. In: Sinn und Form 3, 2008, S. 329 – 331. 32 Laut „negativer Theologie“ sind positive Aussagen über Gott nicht möglich. Dem Wesen Gottes kann man nur durch Verneinungen näher kommen. Gott ist das schlechthin „Unbekannte“. Nach der negativen Theologie wird nur gewusst, dass Gott ist, nicht aber, was er ist. 33 Vgl. Buch, Hans Christoph: Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod. Frankfurt/M.: Frankfurter Verlagsanstalt 2013, S. 214. 34 Kierkegaard, Søren: Die Wiederholung. In: Søren Kierkegaard: Furcht und Zittern. Die Wiederholung. Jena: Diedrichs 1923, S. 171. 35 Szałagiewicz, Marek: Die Transzendenz der Gewalt im Angesicht der Wende – Thomas Hettches Nox und die besondere Konstellation der Postmoderne. In: Studia Germanica Posnaniensia 34, 2013, S. 139.

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Szałagiewicz folgendermaßen resümiert: „Der Schriftsteller überschreitet durch seinen gewaltsamen Tod die Grenzen der dargestellten Welt und wird somit zum Erzähler des Textes“.36 Die Nahtoderfahrung verwandelt sich sehr schnell in eine Nachtoderfahrung im Berliner Purgatorium, die einerseits die Begleitung der Mörderin in Berlin, andererseits ein Protokoll des Zerfalls bedeutet: „Etwas wie das Atmen der Dinge hörte ich, als das Dröhnen des Sterbens, mit dem der Tod meinen Körper geschlagen hat, verebbt war, und die Stille kein Atemzug mehr störte, kein Herzschlag und kein Zucken der Wimpern“ (N, 30). Der Autor sucht nach einer Analogie zwischen dem sterbenden Körper und der zerrissenen Stadt mit der zerfallenen Mauer, wobei es die Absicht der Berliner ist, „[…] Bindegewebe der Narbe, die seit Jahrzehnten verheilt schien, nun vollständig aufzureißen“ (N, 91). Die Plötzlichkeit der historisch-politischen und körperlich-biologischen Vorgänge löst kollektive und individuelle Traumata aus. Die erzählende Instanz beobachtet die orgiastische Reise ihrer Mörderin durch die Kneipen der erotischen Szene in Berlin. Sie funktioniert wie eine ideelle Kamera, die alles aufnimmt, obwohl der Körper des Erzählers inzwischen verwest: „Gegen vier Uhr am Morgen, als die ersten dreihundert DDR-Bürger sich beim Pförtner des Rathauses Tiergarten zum Empfang des Begrüßungsgeldes meldeten, war die Haut so sehr aufgetrieben, daß sie riß“ (N, 145). Der Körper des Toten öffnet sich dabei wie die ganze Stadt auf die Welt. Alles passiert wie in einem fortdauernden postmortalen Trauma, wobei die erzählende Instanz den Schmerz irgendwie durch den Körper der Mörderin zu spüren vermag und durch den Körper des Hundes, eines richtigen Zerberus, z. B. ihren Namen flüstert oder verschiedene Weisheiten ausspricht, um schließlich im Hund bzw. „im Wild“ in nächster Nähe der Mörderin beinahe inkorporiert zu werden. Die Transzendenz ist eine Reintegration mit der Pulsation der Materie. Eine Abkehr von der klassischen Erzählweise, die eine Unkörperlichkeit der Sterbenden bzw. Toten im sprachlichen Experiment illustriert, ist in Thomas Lehrs Novelle „Frühling“ (2001) zu finden. Der Erzähler Christian Rauch zählt hier auf 39 Sekunden – auf Formebene in 39 Kapiteln dargestellt –, die wie ein Road Movie im Jenseits entwickelt werden. Wegen einer „defekten“ Interpunktion wird die Erzählperspektive immanent gestört. Erst in der siebten Sekunde, d. h. im siebten Kapitel, erscheint die Beschreibung des Flugs der Kugel, die den Kopf des Erzählers durchbohrt. Die Nahtoderfahrung ereignet sich zwischen zwei Schädelknochen des Sterbenden, die von der Kugel unumkehrbar beschädigt werden.

36 Szałagiewicz, Die Transzendenz. 2013, S. 146.

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Zur selben Zeit findet sich Christian Rauch in einem geheimnisvollen Ort in der Zwischenwelt wieder. Der Ich-Erzähler monologisiert sogar über eine unbestimmte Figur, die ihn begleitet, über einen „durch das Gras gehenden Jesus-Mann ohne Kreuz“ (F, 28). Es zeigt sich, dass der Vater des Erzählers in Dachau an Menschen experimentiert hat.37 Seine verbrecherische Aktivität ist der erste Grund der Jenseitsreise, weil Rauch, so wie sein jüngerer Bruder Robert, auch ein Selbstmörder ist, der das Wissen von diesen Schrecklichkeiten und von dem Freitod des jüngeren Bruders unerträglich findet. Der Erzähler spricht mit einer geliebten Frau Gucia, deren Mutter eine Prostituierte im Konzentrationslager Dachau war. Diese unheilbar kranke Gucia begeht zusammen mit Christian einen erweiterten Selbstmord. 39 Sekunden sind eine Erinnerungszeit, die „ein ganzes Leben nochmals durchwandern“ lässt. Am Beispiel eines Kindes des Täters Robert, der „an der Wahrheit gestorben ist“ (F, 129), zeigt Lehr, wie sein Ende „durch die zerreißenden folien der erinnerung durch den schussbahntunnel in [den] […] endlich überflüssigen schädel“ (F, 138) kommt. Die Novelle wird mit der Epiphanie des Frühlings – eines Paradieses –beendet: „ohne Flügel heben wir. Uns hinauf mein Freund tod denn: es ist. Frühling“ (F, 142). Die Jenseitsreise kommentiert Sascha Kiefer folgendermaßen: „Den Übergang vom Leben zum Tod gestaltet Thomas Lehr als einen Weg durch Bilderwelten, in denen sich archetypische beziehungsweise religiös und literarisch vermittelte Vorstellungen mischen mit Elementen der technisierten Medienmoderne“.38 Der Sterbende verwirklicht seinen Traum von der Unkörperlichkeit da, wo die abgelehnte Ordnung der Sprache jenseits der Grammatik den Platz für den biblischen Paradies-Topos bildet. Das Spiel mit dem Tod wird von Lehr im Übrigen auch im Roman „42“ (2005) fortgesetzt, in dem die Geschichte mit einem dreisekündigen Wiedereinsetzen der Zeit nach fünf Jahren Unzeit beginnt. Wie Lehr in einem Interview zugibt, „ist eine der möglichen Interpretationen des Buches, dass die Figuren in der Zeitlosigkeit existieren, weil sie sich im Übergang ins Jenseits befinden. In Japan bedeutet z. B. „42“ „shi ni“, das „tot sein“ ausdrückt.39 In Benjamin Steins Prosawerk „Ein anderes Blau“ (2008) ist der Busunfall am Bahnhof Trudering in München aus dem Jahre 1995 ein Vorwand für seine

37 Höchstwahrscheinlich handelt es sich um den grausamen Arzt Sigmund Rascher, der übrigens auch Söhne hatte. 38 Kiefer, Sascha: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2010, S. 451. 39 Vgl. Zeit und Zeitbegriff. Thomas Lehr im Gespräch mit Francisca Ricinski. http://www.poeten­ laden.de/francisca-ricinski-thomas-lehr.htm (Zugriff am 20.03.2018).

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Geschichte der Toten, die in der Zwischenwelt an der Schwelle zwischen Tod und Leben bleiben. Es handelt sich zuerst um einen Hohlraum unter der Bushaltestelle, der sich nach einem Wassereinbruch beim Bau einer U-Bahnlinie gebildet hat. Als ein Bus in die Tiefe einbricht, sterben dabei mehrere Menschen. Drei Leichen werden erst nach acht Monaten geborgen und diese Zeit ist für Stein eine Zeit der Handlung in der Zwischenwelt. Stein zieht damals von Berlin nach München und ist fast jeden Tag an dem Unglücksort, wenn er zur Arbeit fährt. Sieben Jahre nach der ersten Auflage schreibt er in der Neuauflage ein Nachwort, in dem er eine Schlüsselfrage an seinen Roman stellt: Waren die Verunglückten, solange sie nicht geborgen und beerdigt waren, wirklich tot? Das fragte ich mich. Und wenn sie zwar nicht mehr lebten, aber doch auch noch nicht tot waren, wo befanden sie sich dann? In einem Zwischenreich? Waren sie sich ihres Zustandes bewusst? Hatten sie womöglich noch Gelegenheit, ihr Leben Revue passieren zu lassen? Unerledigtes zu erledigen, Ungesagtes zu sagen?.40

Stein bedient sich einer „Poetik der polyphonen Ich-Erzählung“41, die ihm bei der Beschreibung der Monologe der Verschütteten (Richard und Nadia) hilft. Die lose Verbindung einzelner Monologe lässt sie ganz separat und in beliebiger Reihenfolge lesen. An der Grenze zwischen Leben und Tod lauern die Stimmen der Körper, die zwar im Bus begraben liegen, aber sich gleichzeitig gegen den Tod wehren. Nadia sagt: „Ich werde dir zeigen, wie lebendig ich bin und wie weit der Morgen noch entfernt ist und wie ich mich festtanzen kann in der Wand, um noch bleiben zu können“ (B, 85). Richards Herz schlägt seit langem nicht mehr und sie geistern zusammen durch Wände, Häuser, Korridore. Sein Tod wird von ihm selbst im Monolog nacherzählt. Während Richard von einem möglichen Heraustreten aus dem eigenen Körper, der im Beton und in der Erde „eingegossen ist“, monologisiert, ist er schon ums Leben gekommen, ohne dass er sich dessen zuerst bewusst ist. Erst am Ende der Szene erkennt er seinen Tod: „Wobei das Blut ist, was mich umgibt, und mein Herz seit Stunden nicht mehr geschlagen hat“ (B, 47). Auf eine genaue Beschreibung des Unfalls folgen mehrere Elemente eines sich auflösenden Bewusstseins: „ein roter Faden“, „eine Tropfenspur vom Mund eines Mädchens“, Stille, lange Zeit, bis der Tote wie in einer Litanei von seinen Überresten erzählt: „Ich atme nicht und mein Herz fault im Bauch. Mein Kinn ist verdreht“ (B, 52). Der tote Richard wendet sich

40 Stein, Benjamin: Polyphones Ich. Ein Nachwort. In: Benjamin Stein: Ein anderes Blau. Prosa für 7 Stimmen. Berlin: Verbrecher Verlag 2015, S. 104. 41 Stein, Polyphones Ich. 2015, S. 101.

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an die tote Nadia, als ob die Erfahrung des plötzlichen Todes und die Bewältigung des postmortalen Traumas kollektiv sein könnte. Stein bezeichnet seine Erzählweise als „ein Mosaik von subjektiven Einzelerzählungen“.42 Die Zeit der perimortalen Phase und der Postmortalität ist hier mit der Unfallstelle verbunden und hängt von dem Fortschritt der Arbeiten ab. Der wahre verunglückte Bus stabilisierte das Erdreich der Unfallstelle und konnte erst nach acht Monaten herausgezogen werden, sonst könnten die umliegenden Häuser einstürzen. Für die beiden Toten, Richard und Nadia, ist das die Zeit der Versprachlichung ihrer Traumata und der endgültigen Trennung von ihren verschütteten Körpern. Einen metaphysischen Eindruck macht dabei auch eine „OffStimme, die keiner Person zuzuordnen ist“43, als ob die Potenz der Sprache wie das Jung’sche „kollektive Unbewusste“ unabhängig von der Körperlichkeit und aller Materialität wäre. Diese akustische Falle erinnert an einen Scheol (Totenreich), weil kein einziges Wort über Gott ausgesprochen wird, aber dieser irritierend metaphysische und zugleich gottlose Vorort des Himmels bzw. des Nichts illustriert nur noch einen Irrweg der Angst, der am Ende „im Schwarz“, „einem anderen Blau für den Himmel“ (B, 95) aufgelöst wird. Steins Idee, im 21. Jahrhundert einen Unfall zum Vorwand für einen metaphysischen Lebensfilm des sterbenden Wanderers zwischen zwei Welten zu machen und dadurch „dem Gespenstischen an der Wirklichkeit erzählend Herr zu werden“44, ist übrigens nicht seine Erfindung. Die Poetik einer „negativen Theologie“, das heißt, eines Jenseits ohne Gott, wurde bereits von mindestens zwei anderen Schriftstellern thematisiert. Vor allem wäre hier Uwe Timms Roman „Rot“ (2001) zu erwähnen, der sich auf turbulente Zeiten der Studentenrevolten der sechziger Jahre bezieht. Gleich nach einem Verkehrsunfall wird der Lebensfilm seines toten Haupthelden nacherzählt: „ICH SCHWEBE. Von hier oben habe ich einen guten Überblick, kann die ganze Kreuzung sehen […] seltsam auch das, der da unten spürt keinen Schmerz. Er hält die Augen offen“.45 Am Ende des Sterbemonologs wird ein Flug ins Jenseits beschrieben: „[…] alles stürzt, dieser Lärm, ein Sausen, Reißen, Zischen, Flügelschlag, ich fliege, endlich, Lösung, immer dieses Voranschreiten, Erlösung, endlich, Gegenwart, Sturz, Allgegenwart, Gewölk, sanftes Grau und darüber das Licht. / Licht.“46

42 Stein, Polyphones Ich. 2015, S. 101. 43 Ebd., S. 105. 44 Görner, Rüdiger: Sehen lernen! Bemerkungen zum Manifest-Charakter der Moderne. In: Literarische Moderne: Begriff und Phänomen. Hrsg. von Sabina Becker und Helmuth Kiesel. Berlin: de Gruyter 2007, S. 126. 45 Timm, Uwe: Rot. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001, S. 9. 46 Ebd., S. 430.

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Einen anderen Weg geht in demselben Jahr Daniel Kehlmann in der Novelle „Der fernste Ort“ (2001). Das Motiv des weiteren irdischen Lebens nach dem Tod verwandelt den Text in einen postmortalen Road Movie der deutschen Gegenwartsliteratur. In Kehlmanns „Poetikvorlesungen“ findet man einen deutlichen Hinweis des Autors darauf, dass es sich um eine Nahtoderfahrung handelt, weil Julian „[…] eigentlich untergegangen ist und die ganze Geschichte sich in seinem Kopf, in den wenigen Momenten der Agonie abspielt“47. Der sterbende bzw. tote Julian geistert durch die Welt wie durch ein Purgatorium, in dem er seinen Doppelgänger, Tote (seinen Vater) und Lebende sieht. Auch die Zeit nach all den besprochenen Veröffentlichungen, d. h. nach 2008, ist nicht frei von der postmortalen Poetik in der Gegenwartsliteratur, was aus dem Motiv des verzweifelten Wanderers zwischen zwei Welten einen festen Bestandteil der deutschen Prosa macht, obschon die Form nicht immer so auffallend und total wie in den oben analysierten Texten ist. Neben den erwähnten Autoren wären hier noch Frank Witzel mit „Die Erfindung der RAF durch einen manisch-depressiven Jungen im Jahre 1969“ (2015) und Christian Kracht mit seinem Roman „Die Toten“ (2016) zu nennen. Der Erste lässt viele Untote sprechen, die als Geschöpfe im Monolog eines anderen sterbenden Erzählers zur Sprache kommen, der Andere beschreibt die Menschen wie Phantome aus der Welt des Films, die zwar nicht wortwörtlich gestorben sind, aber sie haben auch nie richtig gelebt. In all diesen Fällen ist das Diesseits ein Zwischenreich für die Untoten. Bei Kracht leben die Haupthelden Nägeli und Amakasu wie in einem virtuellen Stummfilm, in einer Welt, die einem symbolischen Totenreich vereinsamter Seelen ähnlich ist. Der Film ist kein schlechtes Medium zur bildhaften Darstellung der Wanderer im Zwischenreich, wobei er das viel seltener als die Literatur macht, um vermutlich die Gefahr kitschiger Wortwörtlichkeit zu vermeiden. Manchmal wird die Metaphysik hinter der literarischen Fiktion der Texte in Texten teilweise verborgen oder gemildert, wie in dem Roman von Sibylle Lewitscharoff „Das Pfingstwunder“ (2016), in dem 36 Dante-Gelehrte nach einer Debatte über das Leben nach dem Tod in der „Göttlichen Komödie“ ins Jenseits davonfliegen. Was passiert, „ist eigentlich nicht zu beschreiben“48, berichtet die Autorin, nachdem sie das Jenseits durch das Prisma der „Göttlichen Komödie“ einer genauen Vivisektion unterzogen hat.49 Dabei verlässt sie jedoch unvermeidlich die Grenzen historischer Begebenheiten.

47 Kehlmann, Daniel: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen: Wallstein 2007, S. 19. 48 Lewitscharoff, Sibylle: Das Pfingstwunder. Berlin: Suhrkamp 2016, S. 337. 49 Interessanter als die Frage nach Gott kann manchmal die Frage nach der menschlichen Instanz

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Anders ist der Fall in den vier analysierten Texten dieses Beitrags. Die Toten sind in Hartmut Langes Novelle „Das Konzert“ Opfer eines technischen Fortschritts im realen Massenmord. Sie wurden zwar von Individuen, aber in Wirklichkeit von einer System-Maschine, von einem künstlichen untoten Zyklopen des Dritten Reiches vernichtet. Da seine Maschinentriebe selbst wie Halbtote funktionieren, wird die Grenze zwischen Leben und Tod durchgängiger als je. Lebensunwert ist nicht nur das Opfer im Visier der Maschine sondern auch sein Henker. Man wird nicht in das bisherige, sondern in ein „anderes Leben“ zurückgerufen. Man ist „nicht mehr ganz und nicht mehr ganz selbst“.50 Postmortale Identität eines selbstgenügsamen deus ex machina ist in der Zwischenwelt eine Form posthumaner technologischer Singularität. Der diesseitige und jenseitige Raum sind also wie eine Maschine, eine Materie, die ewige Diesseits- und Jenseitswandler „verarbeitet“. Es wird immer wieder versucht, durch Wiederholung das postmortale Trauma zu überwinden und gerade darin steckt eine Positivität der Zwischenwelt. Thomas Hettche lässt im Roman „Nox“ den Körper des Toten sich auf die ganze Materie ausdehnen, wobei die Grenze zwischen der evolvierenden Stadt Berlin und dem verwesenden Körper verwischt. Das Bewusstsein des Toten ist eine Sehfähigkeit aller Dinge, eine Superprojektion der Materie, deshalb schreibt Hettche vom „Atmen der Dinge“ (N, 30) und von den Körpern als Dingen in der untoten Materie der Stadt Berlin. Die Inkorporation lässt das postmortale Trauma überwinden. Thomas Lehr spielt im Text „Frühling“ mit den 39 Sekunden der irdischen Zeit, die im Moment des Selbstmordes vom sterbenden Körper in die Ewigkeit hinaus gedehnt werden. Eigentlich wird die Materie zur Zeit und der Raum ist ungültig, wovon der Jahreswechsel und der kommende Frühling im Paradies zeugen. Der Körper verliert seine Materialität und Räumlichkeit und wird nur dank bloßer Ausdehnung der Sprache in der Zeit sichtbar. Postmortales Trauma ist vorbei, als Wiederholung, Erinnerung und Versöhnung der beiden Brüder stattfinden. Dagegen wird in Benjamin Steins „Prosa“ die Zeit als Raum verdinglicht, in dem die Toten auf die absolute Durchdringlichkeit des Diesseits angewiesen sind. Ihr postmortales Trauma verschwindet mit dem Bewusstsein, dass zwar nichts umkehrbar ist, aber das Trauma kollektiv verarbeitet werden kann. Das Purgatorium dauert bei Lange 42 Jahre lang, bei Stein sind es acht Monate, bei Hettche eine Nacht und bei Lehr nur noch 39 Sekunden der irdischen Zeit. Es

sein, die trotz ihrer Unkörperlichkeit Gott zu betrachten vermag. Diesen Weg geht der ungarische Schriftsteller Péter Nádas in seinem Werk „Der eigene Tod“ (2002). Als sein Herz aussetzt, hat er eine Nahtoderfahrung und überlegt sich in seinem minutiösen Bericht eines Jenseitswanderers, was eigentlich die Natur der unkörperlichen Seele ist. 50 Metz / Seeßlen, Wir Untote. 2012, S. 6.

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soll zum Schluss hinzugefügt werden, dass die Toten als Ideen auch in anderen Texten der genannten Autoren erscheinen, die auf den ersten Blick kaum mit traumatischen Wanderern zwischen Diesseits und Jenseits zu tun haben, obwohl sie ihre Epiphanie sind. In „Fahrtenbuch. 1993 – 2007“ (2007) schreibt Thomas Hettche Feuilletonbeiträge über die „künstliche koordinatenlose Ewigkeit“ des Internets und über die Analogien zwischen der wissenschaftlichen Erkundung des mutmaßlichen Ufo-Absturzes bei Roswell und dem Prozess der Heiligsprechung in der katholischen Kirche. Benjamin Stein verarbeitet die Postmortalität als eine Wahrnehmung der Welt durch einen im Kopf eingesetzten Chip mit künstlicher Intelligenz im Roman „Replay“ (2012), in dem der betroffene Träger des Chips und eines Augenimplantats sich selbst als einen Toten identifiziert. Thomas Lehr beschreibt im Roman „Schlafende Sonne“ (2017) beinahe alle möglichen Axiome der Wissenschaft, die er mit technischen Katastrophen wie Fukushima und mit moderner Kriegstechnik mischt, was er im früheren Roman „42“ als „Unzeit“ oder „tot sein“ infolge einer Anomalie im CERN-Teilchenbeschleuniger schildert. Hartmut Langes Reflexionen zu M. Heideggers „Sein und Zeit“ unter dem Titel „Positiver Nihilismus“ (2012) evozieren auf diskursiver Ebene das Bedürfnis nach Transzendenz in dem gleichen Maße wie seine Novellen. Übrigens dominiert z. B. in Langes Novelle „Die Ewigkeit des Augenblicks“ (2013) die Kunst- und Todesmotivik im Kontext der Technik. Im Zentrum steht das Werk von Gustave Caillebotte, dem Maler an der Wiege der technischen Moderne. Diese und andere Beispiele zeigen, dass traumatische Wanderer zwischen Diesseits und Jenseits immer noch Perspektiven in der Literatur haben. Solange wir keine bessere Form der Unkörperlichkeit des menschlichen Bewusstseins (ohne den Verlust seiner Integrität) als das Jenseits und ihre Simulationen erfinden51 und keinen schrecklicheren Beweis für die Unmenschlichkeit des Menschen als den Holocaust erfahren, bleibt die Orientierungslosigkeit solcher traumatischen Jenseitswandler eine unerschöpfliche Quelle für den positiven Nihilismus in der neuesten deutschen Literatur, die sich so (oder anders) immer wieder mit verschiedenen postmortalen Traumata auseinanderzusetzen versucht.

51 Darüber schreibt Benjamin Stein auf seinem Blog „Turmsegler“ am 10.02.2018. https://turmsegler.net/20180210/deus-ex-machina/#more-5197 (Zugriff am 20.05.2018).

Johanna Vollmeyer

„Eine Wunde, die nicht heilt“ – Darstellung und Funktion traumatischer Erlebnisse in Reinhard Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“ (1995) it is always the story of a wound that cries out, that addresses us in the attempt to tell us of the reality or truth that is not otherwise available1

1. Einleitung Der vorliegende Beitrag behandelt die literarische Darstellung von Traumata in dem Roman „Abschied von den Feinden“ (1995)2 von Reinhard Jirgl. Der 1953 in der DDR geborene Schriftsteller verfasste bereits vor dem Fall der Mauer sechs Romane, die jedoch erst im vereinten Deutschland erscheinen konnten. 1990 veröffentlichte er mit „Mutter Vater Roman“3 seine erste Publikation, der Roman „Abschied von den Feinden“, mit dem ihm der Durchbruch auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt gelang, folgte fünf Jahre später. Der Roman wurde 1993 mit dem Alfred-Döblin Preis ausgezeichnet und im Jahr 2010 erhielt Jirgl den Georg Büchner Preis. In seinen Romanen greift Reinhard Jirgl häufig die historischen Ereignisse Deutschlands im 20. Jahrhundert auf und bezieht dabei äußerst kritische Positionen zum SED-Regime, was auch der Grund dafür war, dass er seine vor 1989 produzierten Texte erst nach dem Mauerfall veröffentlichen konnte.4 Wegen seiner kritischen Auseinandersetzung mit der Gesellschaft in der Deutschen Demokratischen Republik wurde er häufig als DDR-Schriftsteller gelabelt, was sich erst mit seinem steigenden Bekanntheitsgrad nach 1995 allmählich

1 Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History. Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1996, S. 4. Das im Titel genutzte Zitat, das ins Deutsche übertragen wurde, lautet im Original „A wound that doesn’t heal“. 2 Jirgl, Reinhard: Abschied von den Feinden. München: dtv 2010 [1995] [im Folgenden unter der Sigle „A“ im Text]. 3 Jirgl, Reinhard: Mutter Vater Roman. Berlin: Aufbau 1990 [im Folgenden unter der Sigle „MVR“ im Text]. 4 Allerdings entschied er im Jahr 2017, dass auch künftig alle neu geschriebenen Texte im Privatbesitz verbleiben sollen. https://doi.org/10.1515/9783110683028-026

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änderte. Diese Kategorisierung des Autors und seines Werks griff sicherlich von Beginn an zu kurz, denn Jirgl beschränkt sich in seiner Prosa nie nur auf eine historische Periode, wie beispielsweise die Zeit der DDR, sondern macht stets ein wesentlich umfangreicheres geschichtliches Panorama auf, das teils bis ins Mittelalter zurückreicht. Dies hängt damit zusammen, dass der Autor nicht nur einzelne historisch-politische Ereignisse darstellen und kritisch beleuchten möchte, es geht ihm vielmehr um die grundsätzliche Verfasstheit des Menschen. Der Schriftsteller fragt daher nach grundlegenden Strukturen des menschlichen Zusammenlebens, wobei Machtgefälle im gesellschaftlichen Miteinander eine zentrale Rolle spielen, die dann in den jeweils unterschiedlichen historischen Kontexten sichtbar werden. Meist manifestieren sie sich in Form von teils extremer Gewalt, die die gesamte Menschheitsgeschichte zu durchziehen scheint. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Gewaltexzesse auch nach dem Ende der SED-Diktatur in Jirgls literarischen Darstellungen des vereinten Deutschland ihre Fortsetzung finden. So verhält es sich auch in dem Roman „Abschied von den Feinden“, der von gewaltsamen Übergriffen auf die einzelnen literarischen Figuren nur so strotzt. Diese Ein- und Übergriffe hinterlassen im Leben der Protagonisten meist tiefe Spuren, die in ihrer literarischen Ausgestaltung der Symptomatik einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), wie sie von Medizinern und Psychologen beschrieben wird, dabei sehr nahe kommt.5 In einem ersten Schritt soll der Roman daher zunächst auf die konkreten einschneidenden Erlebnisse und deren traumatischen Gehalt in Bezug auf die betreffenden Figuren untersucht werden. Von besonderem Interesse ist dabei, wie diese Ereignisse literarisch umgesetzt werden, wie also Erlebnisse erzählt werden, die sich durch ihre traumatische Dimension der Sprache eigentlich entziehen. Traumata und posttraumatische Belastungsstörungen charakterisieren sich nämlich häufig durch die Unfähigkeit der Opfer, Worte für die einschneidenden Ereignisse zu finden oder sie überhaupt benennen zu können. Bedingt ist diese Sprachlosigkeit meist durch das damit einhergehende Unvermögen, aktiv und kontrolliert auf die Erinnerungen an das Geschehen zurückgreifen zu können. Als Konsequenz resultiert daraus, dass die Opfer häufig kein kohärentes ‚Selbst-Narrativ‘ entwerfen können, sodass es zu Persönlichkeitsstörungen kommen kann. Die Analyse des Textes soll jedoch nicht bei einer reinen ‚Anamnese‘ der in „Abschied von den Feinden“ dargestellten Traumata verharren. Wie eingangs

5 Der ICD-10-WHO 2016 listet und definiert die PTBS unter dem Punkt F43.1. https://www.dimdi. de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2016/block-f40-f48.htm (Zugriff am 20.09.2018).

Traumatischer Erlebnisse in Reinhard Jirgls „Abschied von den Feinden“ 

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erwähnt, interessiert sich der Autor für grundlegende menschliche Verhaltensmuster, die in den gewaltsamen Übergriffen und den daraus resultierenden Traumata ihren Ausdruck finden. In einem zweiten Schritt soll daher untersucht werden, welche Funktion die Darstellung dieser Traumata innerhalb des Romans konkret erfüllt, welche grundsätzlichen Strukturen der Autor also mittels der von ihm gewählten literarischen Konfiguration aufzudecken gedenkt.

2. Die literarische Darstellung traumatischer Erfahrung Wie Cathy Caruth in „Unclaimed Experience“ festhält, wird ein Trauma nicht im Moment der Verletzung evident, sondern in seinem späteren wiederholten, oftmals flashbackartigen Auftauchen. Der überwältigende Moment aus der Vergangenheit erscheint plötzlich und unvermutet in der Gegenwart, in Form von Bildern, Geräuschen, Stimmen, Gerüchen oder Gedanken an das traumatische Ereignis, das das Opfer durchlebt hat.6 Diese Bilder sind dabei meist gestochen scharf und rufen das Geschehen mit größter Exaktheit auf. Nicht selten gehen sie mit einer Amnesie einher, da sich diese Ereignisse einem bewussten Erinnern entziehen und der gewollte und gesteuerte Zugriff aus der Gegenwart verwehrt bleibt. Das verleiht dem Trauma eine gewisse Eigenständigkeit, die zugleich sein bedrohliches Potential ausmacht. Die betroffene Person fühlt sich von dem vergangenen Geschehen bis in die Gegenwart hinein überwältigt und diesem ausgeliefert. Dieses Paradox, sich nicht aktiv erinnern zu können und zugleich von den Erinnerungen unvermutet heimgesucht zu werden, hängt einerseits mit dem traumatischen Geschehen selbst zusammen, andererseits mit der Unmöglichkeit es später in das Bewusstsein zu integrieren: Trauma […] does not simply serve as record of the past but precisely registers the force of an experience that is not yet fully owned. […] The ability to recover the past is thus closely and paradoxically tied up, in trauma, with the inability to have access to it. And this suggests that what returns in the flashback is not simply an overwhelming experience that has been obstructed by a later repression or amnesia, but an event that is itself constituted, in part, by its lack of integration into consciousness.7

6 Caruth, Unclaimed Experience. 1996. S. 1 – 9. 7 Caruth, Cathy. Recapturing the Past. Introduction. In: Trauma. Explorations in Memory. Hrsg. von Cathy Caruth. Baltimore/London: The John Hopkins University Press 1995, S. 151 – 157, hier S. 151.

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Die Integration des traumatischen Erlebnisses in das Bewusstsein ist unmöglich, weil das Trauma nicht in bisherige Wissensschemata eingeordnet werden kann. Somit wird es nicht Teil des narrativen Gedächtnisses der betroffenen Person und kann auch nicht als logischer Bestandteil in eine insgesamt kohärente Lebensgeschichte aufgenommen werden. Das Ereignis erhält eine Art Sonderstatus und lässt sich nicht verorten: „[Trauma – J.V.] has no place“8, wie Caruth anmerkt, weder in der Vergangenheit, in der es erfahren wurde, noch in der Gegenwart, in die diese präzisen Bilder nicht eingeordnet werden können. Ähnliches lässt sich in Reinhard Jirgls Roman finden, der von zwei Brüdern handelt, die, geboren in den 1950er Jahren, in der DDR groß werden. Das wohl wichtigste Ereignis in der Kindheit der Brüder, das deren weiteres Leben prägen wird, ist die Festnahme der Mutter durch Stasi-Schergen in der heimischen Küche. Ihr wurden Westkontakte vorgeworfen, die sie in der Tat pflegte, nämlich zu ihrem Ehemann, der sich wegen seiner Verwicklung in die NS-Vergangenheit nach dem Krieg in den Westen abgesetzt hatte. Der ältere der beiden Brüder wurde zum Zeugen der Festnahme, bei der er gerade einmal vier Jahre alt war. Nach dem Verschwinden der Mutter wurden er und sein jüngerer Bruder in einem Kinderheim untergebracht, wo sie physischen und psychischen Misshandlungen ausgesetzt waren, bevor ein kinderloses Ehepaar sie adoptierte. Es handelte sich dabei um Heimatvertriebene aus dem Sudentenland, die sich gut zehn Jahre lang um die Geschwister kümmerten, bis sie zu ihrer Mutter zurückgeschickt wurden, die nach mehr als einer Dekade aus der Gefangenschaft entlassen und rehabilitiert worden war. Die Festnahme der Mutter spielt nicht nur inhaltlich, sondern auch auf gestalterischer Ebene eine zentrale Rolle im Roman. An verschiedenen Stellen wird die Szene aufgegriffen und dabei stets aus der Perspektive des älteren Bruders, dem einzigen Zeugen dieses gewaltsamen Übergriffs, beschrieben. Dabei wird diese Schlüsselszene teils sehr detailgenau und chronologisch korrekt beschrieben, doch taucht sie an anderer Stelle in Form von Erinnerungsfragmenten auf, die sich flashbackartig in das Gedächtnis des älteren Bruders drängen. So zum Beispiel während eines Weihnachtsabends im Hause der Adoptiveltern, als die Kinder bereits in ihren Betten liegen, von den streng gläubigen Adoptiveltern aber bald wieder geweckt werden, um die Christmette zu besuchen. Der ältere Bruder, der nicht schlafen kann, beobachtet die Zimmertür in Erwartung der Adoptivmutter, als sich plötzlich Bilder an die Festnahme der Mutter einstellen: Sekunden noch, dann würde siedendheiß geschmolzenes Licht ins Zimmer strömen –: uns blieb das Licht als 1 Drohung in der Tür, wie durch Türen stets nur Drohungen in die

8 Ebd., S. 153.

Traumatischer Erlebnisse in Reinhard Jirgls „Abschied von den Feinden“ 

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Zimmer brechen ..... – Details eines wasserhellen Morgens ..... das Brennen 1 Ohrfeige von diesem Fremden in meinem Gesicht ..... Geschmack von Marmelade & Blut, Erbrochenes auf den Küchendielen ..... der Schmerz im Gesicht der Mutter ..... Mäntel der Fremden wie aus Metallwolle, voll erkalteter Hitze & Schweiß ..... die Mutter im Klammergriff der Büttel, zur Tür hinaus, von der Straße herauf der dumpfe Schlag 1 Wagentür ...., so tappte ich zum dunklen Fenster, preßte die Stirn gegen das kalte Glas (A, 164).

Auch wenn diese Erinnerung stark fragmentiert ist, ist sie deshalb nicht weniger präzise. Sie ist aber völlig ihrem ursprünglichen Zusammenhang enthoben, da sie plötzlich und völlig übergangslos in ganz neuen Kontexten erscheint. Allerdings gibt es einen Auslöser, der die Situation triggert, nämlich die als bedrohlich empfundene Tür, die zum Sinnbild des Moments geworden ist, der die Kindheit der Brüder zerstörte. Auch andere Szenen aus dem Leben der Figuren werden an verschiedenen Stellen im Roman in ähnlicher Weise wiederholt. Die Schrift ist dabei meist kursiviert und markiert so das plötzliche Einbrechen von Erinnerungen in die Gegenwart. Dieses repetitive Verfahren, durch das einmalige Vorgänge erneut aufgegriffen, ihrem ursprünglichen Kontext dabei aber völlig enthoben werden, verdeutlicht den traumatischen Gehalt dieser und ähnlicher Erinnerungen. Mittels der Frequenz und der Kontextenthobenheit wird deutlich, dass sich traumatische Erinnerungen fundamental vom Prozess einer aktiven Gedächtnisrekonstruktion unterscheiden.9 Das Trauma unterläuft den Prozess des bewussten Erinnerns und es kommt zu einem nicht kontrollierbaren, zwanghaften Wiedererleben des erlittenen Unrechts. Die traumatischen Erinnerungen widersetzen sich „einer Integration in Sprache und Erzählung […]“ und damit der Integration in eine kohärente Lebensgeschichte. „Gleichzeitig lassen sie sich nicht aus dem Gedächtnis verbannen. Es geht etwas Zwingendes von ihnen aus, als ob derselbe Widerstand, den sie narrativer Erinnerung entgegensetzen, auch ein Vergessen verhindert“.10 Das hängt mit der zerstörerischen Kraft der Gewalt zusammen, die dem Trauma vorausgeht und dieses charakterisiert. Dabei führt die Gewalt als solche nicht zwangsläufig zu einer Traumatisierung des Opfers, sondern es ist die ihr inhärente destruktive Wucht, die das Trauma auslöst.11 „Die entscheidende Erfahrung, die sich im Trauma perpetuiert, ist [nämlich] nicht Schmerz, sondern Überwältigung […]“12, sodass die vom Opfer empfundene Ohnmacht ebenso traumatisch wirken kann, wie die tatsächlich erfahrene Gewalt.

9 Kopf, Martina: Trauma und Literatur. Das Nicht-Erzählbare erzählen. Assia Djebar und Yvonne Vera. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel 2005, S. 10. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 27. 12 Ebd., S. 30.

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Dies zeigt sich in Jirgls Text deutlich an der Interpunktion. Immer wenn sich traumatische Erinnerungsfragmente in das Bewusstsein eines der Protagonisten schieben, werden die einzelnen Bruchstücke durch fünf Punkte voneinander abgesetzt, die bei Jirgl ein Zeichen lebensbedrohlicher Situationen sind (vgl. A, 328), denn das, was der Text damit vermittelt, ist „die Unerträglichkeit des Wissens, dass ein anderer mich vernichten kann“.13 Durch die ungeordneten Sprachfragmente und die Frequenz schafft es der Autor, die Struktur traumatischer Erinnerungen nachzubilden. Denn das Trauma scheint außerhalb der bewussten Kontrolle von Erinnerungen zu liegen und entzieht sich der kohärenten Sprache dahingehend, dass der Schmerz nicht direkt benannt werden kann. Es kommt so zu einem Zusammenbruch des Konstruktionsprozesses von Erinnerung als solchem,14 da sich das traumatische Erlebnis gewissermaßen verselbstständigt und losgelöst von seinem ursprünglichen räumlichen und zeitlichen Bezug auftritt. So ist der vergangene Schmerz dauerhaft in der Gegenwart präsent und erlangt damit eine hohe Unmittelbarkeit. Diese ist dem Umstand geschuldet, dass die erfahrene Gewalt als zerstörerisch und damit als sinnentleert empfunden wird und sich nicht in eine logische Lebensgeschichte integrieren lässt. Somit kann sie aber auch nicht als etwas Vergangenes überwunden werden, sondern ist immer präsent, was sich auch in der Unfähigkeit zu sprechen niederschlägt, die gerade die Funktion erfüllen soll, Sinn herzustellen. Aus diesem Grund reflektieren die Figuren in Jirgls Roman in den Momenten des Erinnerns von traumatischen Erlebnissen die Vergangenheit nicht, sondern tauchen in sie ein, und es kommt zu einem Wiedererleben des Geschehens. Cathy Caruth beschreibt das Trauma daher auch als ein Oszillieren zwischen „a crisis of death and the correlative crisis of live: between the story of the unbearable nature of an event and the story of the unbearable nature of the survival.“15 Beide Geschichten sind unvereinbar und stehen damit in beständigem Konflikt miteinander. Dieser Bruch in den Lebensgeschichten der Figuren und das damit einhergehende Unvermögen, ihn narrativ in die eigene Biographie einzuordnen, geht in Jirgls Roman häufig mit einer die Figuren quälenden Sprachlosigkeit einher. Der Sprachverlust und die versehrte Sprache dienen dem Autor dazu, den traumatischen Gehalt bestimmter Erinnerungen darstellen zu können.

13 Kopf, Trauma und Literatur. 2005, S. 31. 14 Bohleber, Werner: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. In: Psyche, Nr. 54, 2000, S. 797−839, hier: S. 825 – 826. 15 Caruth, Unclaimed Experience. 1996, S. 7.

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2.1 Sprachlosigkeit durch Traumatisierung Wissenschaftliche Untersuchungen zum Trauma haben ergeben, dass während eines traumatischen Erlebnisses die Aktivität in der rechten Hirnhälfte enorm eingeschränkt ist.16 Diese Hirnhälfte, besonders der darin vorfindliche Temporallappen, scheint jedoch eine zentrale Rolle für das episodisch-autobiographische Gedächtnis zu spielen, wie Markowitsch / Staniloiu festgestellt haben. EAM [Episodic-autobiographical memory] has a connecting (binding) power that is metaphorically conveyed by the etymology of the word re-collection („Recollection“ derives from the word „collection“ and the latter has similar roots as „colligation“, which means binding). EAM binds and integrates personal events and emotion with an (autonoetic) self. […] [T]he ability to recollect events from the past in an organized and coherent way (where, when, what) might ensure the maintenance of an enduring personal identity in a frequently changing environment, by providing periodical and persuasive update and confirmation, drawing on emotionally-laden episodic memories of personal experience.17

Durch die stark eingeschränkte Aktivität der rechten Hirnhälfte ist der von Markowitsch / Staniloiu beschriebene Prozess jedoch gestört. Dieses Lateralisierungsphänomen betrifft auch das sogenannte Broca-Sprachzentrum, dessen Funktion während des Erlebens eines traumatischen Ereignisses ebenfalls stark vermindert ist.18 Diese beiden Beobachtungen können eine Erklärung dafür sein, dass sich traumatische Ereignisse einem späteren Zugriff durch Sprache häufig entziehen und somit auch nicht in ein Selbst-Narrativ integrieren lassen. Extrem einschneidende persönliche Erlebnisse sind so paradoxerweise für das autonoetisches Selbst nicht zugänglich. In Jirgls Roman wird an zahlreichen Stellen das Unvermögen, bestimmte Ereignisse aktiv zu erinnern und sprachlich zu fassen, sowohl von den Figuren als auch auf einer metanarrativen Ebene angesprochen. Der Sprachverlust bzw. die versehrte Sprache, die den Opfern von gewalthaften Übergriffen als nur unzureichendes Kommunikationsmittel zur Verfügung steht, tritt in den Briefen der gemeinsamen Geliebten der Brüder besonders deutlich in Erscheinung. Zunächst hatte der ältere Bruder eine Affäre mit der Frau begonnen, die im Roman, wie die Brüder auch, namenlos bleibt und nur als die Frau mit dem Gesicht einer

16 Markowisch, Hans J. / Staniloiu, Angelica: The impairment of recollection in functional amnesic states. In: Cortex 49, 2013, S. 1494 –1510, hier: S. 1503. 17 Ebd. 18 Laimböck, Barbara: Das Unsagbare darstellen. Zur Visualisierung des Traumas in der Kunst. In: Spektrum Augenheilkunde 32, 2018, S. 155 – 164, hier: S. 155.

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weißen Füchsin bezeichnet wird. Nachdem der ältere Bruder mit dem politischen Regime der DDR angeeckt war, stellte er einen Ausreiseantrag, dem stattgegeben wurde. Statt die Frau, wie versprochen, nachzuholen, setzte er sich jedoch nach Westdeutschland ab und beendete damit zugleich seine Beziehung zu ihr. Später beginnt der jüngere Bruder eine Affäre mit der früheren Geliebten seines älteren Bruders, wenngleich die Frau nach wie vor in schriftlichem Kontakt zu ihm steht und ihn darum bittet, auch ihr die Ausreise zu ermöglichen. Die Briefe, die sie verfasst, werden dabei als unzusammenhängend und lückenhaft beschrieben, wie unter Atemnot dahingeschriebener, von Eile verzerrter Sätze, die mitunter abbrachen […]. […] das Abgebrochene, Unzusammenhängende […] ([…] ?wer weiß, durch wieviele kleine, winzige Tode ein Leben alltäglich allstündlich unterbrochen, zu 1samen Inseln zerrissen wird […]) […] von diesem Kontinuum nichts sagen können, vielmehr das Andere, das Unterbrochene, Abgeschnittene, Liegengelassene als das 1zig bezeichnungsfähige Unvollendete benennen, eine Art Weißer Sprache, weiß u leer wie die Zwischenräume auf ihren Briefbögen, die nicht nur zufällig keine Wörter bekommen hatten, sondern die […] niemals etwas an Sprechen hätten finden können […] die Leere, die rauhe Aschenweiße des Papiers allein war ihre 1zig mögliche Geschichte ( A, 199 – 200).

Die fehlenden Worte sind es, die die Figuren innerhalb des Romans am meisten fürchten, da der Sprachverlust zugleich das Verlöschen des Sprechers bedeutet. Dies trifft ganz besonders auf literarische Figuren zu, hängt deren Existenz doch vollkommen davon ab, dass sie sprachlich benannt werden. Aber auch außerhalb der fiktionalen Welt ist jedes Individuum gewissermaßen ein „linguistic being“19, wie Judith Butler es definiert hat. Ihren Ansatz führt sie dabei auf den von Louis Althusser beschriebenen Akt der Namensgebung zurück. Danach erhält ein Individuum erst einen Platz im sozialen Raum-Zeit-Gefüge, indem es benannt wird: „[…] being called a name is also one of the conditions by which a subject is constituted in language.“20 Sprache stellt sich in diesem Zusammenhang als konstitutiv für die soziale Existenz eines Individuums dar. Genauso kann der Sprachentzug die soziale Existenz aber auch bedrohen: „The address constitutes a being within the possible circuit of recognition and, accordingly outside of it, in abjection.“21 Wir werden demnach durch Sprache nicht als das anerkannt, was wir sind, vielmehr existieren wir erst durch die Namensgebung. Diese erfolgt meist unter stark konventionalisierten Praktiken, die die linguistischen Überlebensbedingungen des

19 Butler, Judith: Excitable Speech. A Politics of the Performative. New York/London: Routledge 1997, S. 1. 20 Ebd., S. 2. 21 Ebd., S. 5.

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Subjekts stark beeinflussen.22 Der im Roman beschriebene Sprachentzug kommt damit oft einem Entzug der sozialen Lebensgrundlage eines Individuums gleich und mündet im Fall der Frau tatsächlich in deren Tod. Zumindest aber bedeutet er den Verlust der Deutungshoheit über die eigene Lebensgeschichte. In Jirgls Roman wird dabei der Einfluss staatlicher Macht auf die Sprache von einzelnen Individuen besonders herausgestellt. Nicht zufällig ist bezüglich der Lücken und Satzabbrüche in den Briefen der Frau von einer „Weißen Sprache“ die Rede. Sie erinnert an die in der DDR praktizierte ‚weiße Folter‘, der auch die Frau im Roman ausgesetzt war. Zu einem späteren Zeitpunkt hatte sie nämlich einen einflussreichen Stasi-Arzt geheiratet, wurde durch ihre Ausreisebemühungen und Regimekritik jedoch zu einer Gefahr für dessen Karriere, sodass er sie kurzerhand in eine psychiatrische Klinik einweisen und dort für Jahre verschwinden ließ. Dort war sie Misshandlungen ausgesetzt, die unter den Definitionsbegriff der weißen Folter fallen. Ziel dieser Foltermethode war es, die Opfer gefügig zu machen, jedoch ohne dabei direkte physische Gewalt anzuwenden. Vielmehr sollten psychische Störungen provoziert werden über Methoden wie der Isolationshaft, bei der das Opfer weitgehend von sozialen oder notwendigen organisch-sensorischen Sinneseindrücken (Riechen, Schmecken, Tasten, Hören, Sehen) abgeschnitten wird und die daraus entstehende Störung des vegetativen Nervensystems eine (Zer-) Störung der psychischen Balance des Opfers zur Folge hat.23 Jedoch entziehen sich Erinnerungen an derartige Übergriffe nicht nur durch ihren traumatischen Gehalt der Fassbarkeit durch Sprache, wie bereits erläutert wurde. In Jirgls Roman stellt sich Sprache außerdem als vom Staat monopolisiert dar,24 die dem Subjekt Wörter vorenthalten kann und in eine große Sprachnot bringt. Um die Sprache nicht vollständig zu verlieren, bleibt den Figuren nur die Möglichkeit, sich dem Sprachgestus der Macht zu unterwerfen.25 Die Sprache bietet, wie Arne de Winde es ausdrückt, nämlich nur eine „negative Verlässlichkeit“26, da sie den Nutzer zwingt, sich innerhalb normativer Sprachmuster und einer totalisierenden Gram-

22 Ebd. 23 Mausfeld, Rainer: Foltern ohne Spuren. Psychologie im Dienste des „Kampfes gegen den Terrorismus“. In: Wissenschaft & Frieden, 1, 2010, S. 16 – 19, http://www.wissenschaft-und-frieden. de/seite.php?artikelID=1592 (Zugriff am 11.4.2014). 24 Dannemann, Karen: Der blutig=obszön=banale 3-Groschen-Roman namens „Geschichte“. Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 248 – 249. 25 Ebd., S. 257. 26 Winde, Arne de: Das Erschaffen von ‚eigen-Sinn‘. Notate zu Reinhard Jirgls Schrift-Bildlichkeitsexperiment. In: Reinhard Jirgl. Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Hrsg. von David Clarke und Arne de Winde: Amsterdam: Rodopi 2007, S. 111 – 150, hier: S. 118. (German Monitor, Nr. 65).

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matik zu bewegen.27 Damit wiederholt und aktualisiert sie jedoch die bestehenden Herrschafts- und Machtverhältnisse. Wer sich dieser Sprachpraxis und damit den vorgegebenen Machtverhältnissen nicht anpasst, dem bleibt Sprache vorenthalten. Der Stellenwert, den Jirgl der Sprache im Roman beimisst, macht deutlich, dass es Jirgl um mehr geht als um die Darstellbarkeit traumatischer Erlebnisse auf literarischer Ebene. Bemerkenswert ist nämlich, dass alle gewalthaften Übergriffe zwischen den Figuren in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang stehen und nicht ohne den historischen Kontext, in dem sie passieren, verstanden werden können. Einerseits werden Traumata meist durch gewaltsame staatliche Übergriffe ausgelöst, andererseits hat die Untersuchung des Sprachverlusts und der versehrten Sprache gezeigt, dass auch hier staatliche Implikationen vorfindlich sind, die die wörtlich zu nehmende linguistische Unfassbarkeit der Ereignisse konditioniert.

3. Die Funktion der literarischen Darstellung von Traumata Die Figuren des Romans sind der staatlichen Seite somit gleich doppelt ausgeliefert – zum einen durch die Gewalt, die sie in Kinderheimen, psychiatrischen Anstalten oder weiteren öffentlichen Einrichtungen erleiden müssen, zum anderen durch den Sprachentzug, der das erlittene Unrecht noch verstärkt. Die Figuren sind diesen Übergriffen meist schutzlos ausgesetzt, entwickeln jedoch unterschiedliche Strategien, um sich ihre eigene Lebensgeschichte zumindest ein Stück weit wieder anzueignen. Insbesondere den Brüdern stehen dabei gewisse Ermächtigungsoptionen offen, denn im Roman fungieren sie nicht nur als Figuren sondern auch als primäre Erzähler. Die Erzählebene in „Abschied von den Feinden“ zeichnet sich durch ein Muster gegenseitiger Bespiegelung aus, denn die Brüder sprechen als Erzähler äußerst selten von sich selbst, dagegen aber meist über den jeweils anderen als Figur. Oft ist dabei nicht zu unterscheiden, wer gerade zu Wort kommt, ob also die Rede der komplementär angelegten Figur tatsächlich wiedergegeben wird oder ob es der Erzähler ist, der der Figur seine eigenen Worte in den Mund legt. So kommt es zu einer Art Verwirrspiel, das sich auch bei zahlreicher Re-Lektüre nicht auflösen lässt. Dieses Muster der gegenseitigen Bespiegelung wird vom Autor auch in der Darstellung von Erinnerungen fortgeführt. Die Erzähler geben die Erinnerungen

27 Ebd., S. 119.

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des jeweils anderen wieder und sind somit für den anderen von fundamentaler Bedeutung, denn sie konstituieren so wechselseitig ihr episodisch-autobiographisches Gedächtnis und damit letztlich ihre Persönlichkeit. Dadurch verfügen sie über ein enormes Machtpotential über den jeweils anderen, aber auch über die weiteren Romanfiguren, wie zum Beispiel die Frau. Diese tritt nämlich ausschließlich mittels der Erinnerungen der Brüder in Erscheinung und ist dem Leser damit nie direkt, sondern quasi nur in zweiter Ableitung zugänglich. Sie selbst kann als Figur keinerlei Einfluss auf die Darstellung ihrer Erinnerungen und letztlich ihrer Persönlichkeit nehmen. Anders verhält es sich bei den Brüdern, die als Erzähler durchaus über diese Option verfügen. Da sie aber komplementär angelegt sind, entspinnt sich geradezu ein Zweikampf über die Deutungshoheit des Romangeschehens unter ihnen. Aus diesem Grund versuchen sie beständig, sich die Sprache des jeweils anderen anzueignen. Die dabei zum Einsatz kommenden Ermächtigungsgesten wurden von Armstrong / Tennenhaus mit dem Begriff der violence of representation28 näher definiert. Die Manipulationen von Erzählerfiguren beschreiben die beiden Autoren als eine Form von Gewalt, „committed through representation“.29 Am Beispiel der Erzählerin in Charlotte Brontës Roman „Jane Eyre“ (1847) machen sie deutlich, wie sich diese Gewalt manifestiert. Dazu bedarf es der Identifizierung des Selbst, die nur durch die Abgrenzung von Anderen gelingen kann. Diese anderen gilt es außerdem zu überwinden, um die eigene Perspektive durchsetzen zu können: For this self to become fact, it first had to dominate the different modes of identity present in the novel, just as Jane had to overcome certain Others in order to be a heroine. To earn the status of narrator, she must overcome Blance, Mrs Reed, Mr Brocklehurst, virtually everyone and anyone who stands in her way. This is the violence of the productive hypotheses: the violence of representation. To be sure, every mode of identity contending with Jane’s identity as a self-produced self poses a threat to that self. But in order for her to emerge as the knowledgeable spokesperson of other identities, these differences must be there and reveal themselves as a lack, just as Blanche ceases to be another person and become a non-person. The same process that creates Jane’s „self“ positions „others“ in a negative relationship to that self. The violence of representation is the suppression of difference.“30

Es geht dabei also um nichts Geringeres als um die Deutungshoheit im narrativen Diskurs des Romans.

28 Armstrong, Nancy / Tennenhouse, Leonard: Representing Violence, or „how the west was won“. In: The Violence of Representation. Literature and the History of Violence. Hrsg. von Nancy Armstrong und Leonard Tennenhouse. London/New York: Routledge 1989, S. 1 – 26. 29 Ebd., S. 2. 30 Ebd., S. 8.

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Hier sei angemerkt, dass Reinhard Jirgl sich dezidiert mit Michel Foucaults Ansatz zur Diskursanalyse auseinandergesetzt hat. Er begreift den Diskurs in Anlehnung an die Theorie des französischen Philosophen daher nicht nur als eine versprachlichte Realität, die bereits bestehende Machtstrukturen abbildet. Vielmehr werden diese Machtgefälle innerhalb einer Gesellschaft durch Sprache oft erst erzeugt. Der Diskurs legt fest, was sagbar ist und was als Tabu gilt und damit verschwiegen werden muss. Personen oder Institutionen, die den ihnen auferlegten Diskursregeln zuwider handeln, werden sanktioniert. In „Überwachen und Strafen“ beschreibt Foucault ausführlich mit welchen Kontrollmechanismen der Diskurs dabei Widerständen begegnet.31 Die Erzähler in Jirgls Prosatext verfügen so über die Macht, in den Diskurs des Romans einzugreifen und ihn aktiv zu gestalten. Der Autor vermag es, über den Zweikampf der Brüder um die Vorherrschaft auf der Erzählebene grundlegende Funktionsweisen und das Entstehen von Machtgefällen innerhalb bzw. durch Diskurse sichtbar zu machen, auch wenn die Brüder selbst nicht frei von Einflüssen einer übergeordneten gesellschaftlichen Ebene sind. Die Brüder als Sprecher haben nämlich nicht die volle Kontrolle über ihre Aktionsmacht und damit über ihr Sprechen, da sich in die Sprache des Individuums die von Foucault beschriebenen diskursiven Praktiken eingeschrieben haben, sodass auch das Sprechen der Geschwister nicht frei von dominanten Narrativen ist. Mittels des Begriffs der ‚nervösen‘ Sprache verdeutlicht Butler in diesem Zusammenhang, dass Sprache nie vollkommen in den Händen des sie äußernden Subjekts liegt, sondern stets diskursgebunden bleibt.32 Damit geht Sprache über den raum-zeitlichen Kontext ihres Produktionsmoments hinaus und aktualisiert gewissermaßen bestehende Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Diese Verhältnisse gehen wiederum auf eine bestimmte historische Satzung zurück, sodass in die Sprache eine Historizität eingeschrieben ist,33 die sich auch in Jirgls Roman „Abschied von den Feinden“ widerspiegelt. Jirgl geht es also nicht nur um die individuellen Erinnerungen an traumatische Erlebnisse der Figuren. Die literarische Ausgestaltung der im Roman vorfindlichen Traumata dient ihm gleichermaßen dazu, gesellschaftliche Machtverhältnisse in der DDR, aber auch im vereinten Deutschland abzubilden bzw. aufzudecken. Die teils drastischen Gewaltdarstellungen und die flashbackartigen Erinnerungen, die den Roman durchziehen, sind ein Vehikel, um brutale staatlich sanktionierte

31 Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979 [1976]. 32 Butler, Excitable Speech. 1997, S. 15 – 16. 33 Ebd., S. 12.

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oder gar erwünschte Machtverhältnisse, detailgenau ins Gedächtnis zu rufen. Das Trauma hilft also bei einer „truly historical transmission“34, wie es Caruth bezeichnet hat: The attempt to gain access to a traumatic history, then, is also the project of listening beyond the pathology of individual suffering, to the reality of a history that in its crises can only be perceived in unassimilable forms. This history may speak through the individual or through the community, which in its own suffering […] may not only be the site of its disruption but the locus of a „wisdom all its own“.35

Jirgls Roman nimmt sich dieser schwierigen Aufgabe, eine Sensibilität für die historischen Ereignisse zu entwickeln, an, um so auch Asymmetrien im kollektiven Gedächtnis aufzuzeigen. In letzterem haben viele individuelle Erinnerungen, die dem dominierenden Diskurs zuwiderlaufen, nämlich keine Aufnahme gefunden und erfahren damit auch nicht die nötige Anerkennung, die zur Überwindung des eigenen Traumas notwendig wäre und so sogar zu einer Retraumatisierung führen kann. Diese Asymmetrien, die im Grunde eine nur unvollständige Aufarbeitung der Vergangenheit abbilden, ergeben sich aus der Tatsache, dass viele Schaltstellen der Macht, auch nach dem Zusammenbruch der DDR, noch von den gleichen Personen besetzt waren. Dies muss auch die Frau aus „Abschied von den Feinden“ schmerzhaft erfahren. Nach dem Fall der Mauer kämpft sie um die Anerkennung ihrer Biographie, stößt dabei aber auf taube Ohren und Desinteresse. Sie verkennt nämlich, dass die Menschen, die sie mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, in das ihr geschehene Unrecht direkt oder indirekt verwickelt waren und allein aus Selbstschutz die kontroversen Erinnerungsversionen der Frau unterdrücken müssen. Aus diesem Grund wird ihr erneut mit der Einweisung in eine psychiatrische Klinik gedroht, als sie zu renitent auftritt und beispielsweise die Karrierepläne einer Hochschuldozentin in Gefahr bringt, der man eine „geweißte Kaderakte“ ausgestellt hatte, obwohl sie „Vor-der-Wende Marxismusleninismus gegeben hatte an !derselben Universität vor !denselben Studenten“ (A, 304). Ihr Wunsch nach Rehabilitation bleibt damit unerfüllt. Die daraus resultierende Angst vor dem Sich-Auflösen und die Effizienz der Unterdrückungsmechanismen der SED-Diktatur bestehen also auch im vereinten Deutschland weiter fort.

34 Caruth, Recapturing the Past. 1995, S. 156. 35 Ebd.

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3.1 Krieg als Chiffre des Friedens Für den Autor Reinhard Jirgl befindet sich eine nach außen hin augenscheinlich friedliche Gesellschaft auch weiterhin in einem Kriegszustand. Bereits in „Mutter Vater Roman“ hält der Autor fest, dass „Friede […] die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (MVR, 159) ist. Der Autor nimmt hier Anleihen bei Oswald Spenglers Werk „Der Untergang des Abendlandes“ (2003)36 und postuliert damit, dass Gewalt nie vollständig verschwindet, sondern nur ihr Erscheinungsbild ändert. Sie ist jedoch immer vorhanden bzw. kehrt wieder. Damit erteilt Jirgl dem Fortschrittsgedanken eine klare Absage und fragt vielmehr nach bestehenden Machtstrukturen und den Mechanismen, die diese Strukturen ermöglichen und aufrecht erhalten. Jirgls Verständnis nach ist es nämlich der Wille zur Macht, der zu einer Fortsetzung der Gewalt führt. Der Autor sucht daher nach dem Krieg als Chiffre des Friedens, wie sie Foucault bereits beschrieben hat. In zunächst friedlich erscheinenden Gesellschaften stößt Jirgl daher auf Muster des Krieges, die sich in den Traumata seiner Figuren geradezu beispielhaft manifestieren. Dabei spielt das Streben der Menschheit nach Homogenität eine herausragende Rolle. Laut Foucaults Analyse, an die Jirgl sich anlehnt, bildet die Sehnsucht des Menschen nach dem Ende aller Kriege gerade die Grundlage für fortlaufende Konflikte. Denn alle dem Friedensdiskurs zuwiderlaufenden Aussagen müssen bekämpft werden. Damit setzt der Friedensdiskurs jedoch Kriege voraus, denn die für den angestrebten Friedensdiskurs bedrohlichen Argumente werden unterdrückt. Unter der Oberfläche ziviler Ordnung wirken die Mechanismen der Schlachtordnung also fort. Besonders politisch-historische Diskurse betreiben oftmals eine Homogenisierung bzw. Nivellierung alles Andersartigen und erklären jeden Andersdenkenden zum Feind. Der Friedensdiskurs spiegelt damit nur Frieden vor, zementiert im Grunde jedoch die Unterdrückung der Differenz.37 Die „Macht zum Töten“ ist für Jirgl aus diesem Grund ein „konstante[r] Bestandteil jeder Moral“.38 Dieses Töten muss dabei nicht notwendigerweise reale oder physische Todesopfer zur Folge haben, auch der soziale Tod kann eine Konsequenz dieses Machtstrebens sein. Aus diesem Grund spielen die Fokussierung des Autors auf die Sprache der Erzähler und Figuren wie auch die sprachliche Darstellung der im Roman vorfindlichen Traumata eine derart wichtige Rolle. Die Macht zum Töten

36 Spengler, Oswald: Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München: dtv 2003. 37 Foucault, Michel: Die Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am College de France (1975 – 76). Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 308. 38 Jirgl, Reinhard: Genealogie des Tötens. Trilogie. München: dtv 2002, S. 831.

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manifestiert sich nämlich in der dem Diskurs zugrunde liegenden Sprache, die Jirgl in seinem Roman geradezu ausstellt und seziert.

3.2 Das kreative Potential des Diskurses Interessanterweise erlaubt es dem Autor dabei gerade das Instrument des Diskurses schlechthin – die Sprache –, dem Diskurs etwas entgegenzusetzen. Die oben erwähnten Manipulationsgesten der Brüder werden nämlich im Schriftbild des Romantextes fortgeführt. Die Schrift dient hier nicht nur auf metaphorischer Ebene als Ausdruck der Unterdrückungsmechanismen und Manipulationsgesten, wie zuvor an den Briefen der gemeinsamen Geliebten der Brüder deutlich gemacht wurde. Die eigenwillige Rechtschreibung und Interpunktion, die sich konsequent durch das gesamte Werk Jirgls ziehen, machen diese gewaltsamen Eingriffe auch auf der Oberfläche des Textes selbst deutlich. De Winde spricht davon, dass der Autor mittels seines „archäo-genealogische[n]“39 Schreibstils den Diskurs, der sich in die Sprache wörtlich eingeschrieben hat, sichtbar macht und damit seine Historizität offenlegt. Die Verschiebungen und Deplatzierungen von Interpunktionen, das Einfügen von Zahlen zeigt an, dass etwas bewegt und verschoben wird auf der Suche nach dem Kerngehalt der von den Figuren getroffenen Aussagen. Der Text, begriffen als Textkörper, sucht somit „im Schreiben das Inszenatorische – der Körper-Text, der auf der Bühne seiner Buchseiten steht – einen Ausdruck“.40 Schrift wird so einerseits zum Ausdruck des erlittenen Schmerzes. Sie zeigt den versehrten Körper an, der, gleich einem Palimpsest, die Verletzungen sichtbar macht, die ihm zu verschiedenen Zeitpunkten zugefügt wurden. Andererseits dient der Text nicht nur als Sinnbild der Unterwerfung unter ein diskursives Regelwerk. Die Oberfläche des Textes bietet zugleich die Möglichkeit, eben jenes Regelwerk durch die eigenwillige Schreibform auszuhebeln und individuell zu gestalten. Dies gelingt dem Autor durch die Anwendung seines alphanumerischen Codes. Er erlaubt es ihm, typisierte Sprache und damit ihre negative Verlässlichkeit zu umgehen: „[J]e tiefer in den Schichtungen des Ich hinabgestiegen wird, desto unpersönlicher, allgemeiner – mit anderen Worten: desto typischer wird der Mensch in seiner ‚Sprachlichkeit‘“.41 Jirgls Code trägt dagegen dazu bei, diese Typisierung zu demaskieren und verhilft dem Text zu einer

39 Winde, Das Erschaffen von ‚eigen-Sinn‘. 2007, S. 114. 40 Jirgl, Reinhard: Die wilde und die gezähmte Schrift. In: Sprache im technischen Zeitalter 42, 2004. H. 171, S. 296 – 320, hier: S. 308. 41 Ebd., S. 307.

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höheren Genauigkeit. Zugleich zeigt er die Verunsicherung an, die das Verlassen des Gewohnten impliziert. Damit dient das von Jirgl entworfene Schriftbild auch als eine Art Dialogangebot an den Leser. Es lässt viel Raum für Interpretationen und verschiedene Lesarten zu und muss daher als unabgeschlossen und unfertig betrachtet werden. Erst durch die Interpretation des Lesers wird es vervollständigt. Dem Leser kommt damit eine äußerst aktive Rolle zu, er wird durch die schonungslose Darstellung gewaltsamer Übergriffe sowie der daraus resultierenden Traumata zu einem ‚Zeitzeugen‘. Denn nicht nur die den Opfern angetane Gewalt wird sichtbar gemacht, auch der historische Kontext, in den sie eingebettet sind, muss vom Leser wahrgenommen und somit neu bewertet werden. Dies erfordert aber eine Reinterpretation vorliegender Geschichts- und Gedächtnisdiskurse, die in der Gesellschaft fest verankert sind.

4. Schluss Reinhard Jirgl verlangt dem Leser große Aufmerksamkeit bei der Lektüre seines Romans ab, um dem Verwirrspiel auf der Erzählebene folgen und die Tiefendimensionen des Geschehens erfassen zu können. Die Angriffe auf Leib und Leben der Romanfiguren bilden dabei nur die Oberfläche ab, auf der sich grundlegende Machtverhältnisse manifestieren. Diese ergeben sich Jirgls Verständnis nach aus dem menschlichen Willen zur Macht, der wiederum Auslöser für die Ausübung von oft staatlich intentionierter Gewalt ist. Sie dient dazu, Subjekten einen homogenisierenden und nivellierenden Diskurs aufzuzwingen, der auch das Leben in der DDR sowie im vereinten Deutschland prägte bzw. prägt. Aus diesem Grund erkennt der Autor in scheinbar befriedeten Gesellschaften dennoch Muster des Krieges wieder und spricht an anderer Stelle mit Bezug auf Michel Foucault daher vom Krieg als Chiffre des Friedens. Vor allem politische, aber auch das kollektive Gedächtnis betreffende Erinnerungsdiskurse legen oftmals fest, was zum jeweiligen Zeitpunkt sagbar ist und was nicht. Wer gegen das etablierte Regelwerk verstößt, wird mit teils drastischen Maßnahmen sanktioniert, wobei Biographien reihenweise ge- bzw. zerstört werden können, wie im Roman deutlich wird. Über die Darstellung des Traumas versteht es Jirgl dabei, diesen Zusammenhang zwischen Gewaltausübung und dem Vorhandensein dominanter Diskurse in seinem Prosatext sichtbar zu machen. Durch die Darstellung von Gewalt und dem daraus resultierenden Trauma gelingt es ihm, einen neuen Blickwinkel auf Vergangenes, aber auch auf die Gegenwart zu eröffnen. Gerade fiktionalen Texten bietet sich die Möglichkeit, mittels bestimmter ästhetischer Verfahren alternative Vergangenheitsversionen zu entwerfen, die gängigen Gedächtnisdiskursen zuwiderlaufen, diese damit hinterfragen und letzt-

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lich korrigieren. Denn fiktionale Texte beziehen sich auf eine extraliterarische Wirklichkeit, die es so oder so ähnlich in der Tat gegeben hat. Durch die fiktionale Bearbeitung derselben beeinflussen und verändern sie diese aber letztlich. Daher kann Jirgls Roman auch als eine Art Korrektiv zu vorherrschenden Gedächtnisdiskursen gelesen werden. Dass es sich bei dem Roman um ein eindeutiges Dialogangebot an den Leser handelt, wird spätestens mit Blick auf die sprachliche und textuelle Ausgestaltung des Romans klar, wie es im letzten Punkt des vorliegenden Beitrags besprochen worden ist. Die Sprache ist das Werkzeug des Autors per se, sie ist zugleich aber auch ein grundlegender Bestandteil der Wirklichkeit, die uns umgibt. Schließlich fußt jeglicher Diskurs, und damit auch die von Jirgl aufgegriffenen, auf Sprache. Deren Dominanz findet wiederum in teils brutaler physischer, aber auch psychischer Gewalt Ausdruck. Dies mündet nicht selten in einer Traumatisierung der Opfer, denen in Konsequenz der sprachliche Zugriff auf diese Realität aber nicht möglich ist oder sogar aktiv verwehrt bleibt. Das Trauma dient Reinhard Jirgl also dazu, mittels alternativer Blickwinkel Distorsionen in aktuellen Diskursen, die der Gesellschaft als Koordinaten zugrunde liegen, aufzudecken. Zugleich weist er über die aktuellen Inhalte jener Diskurse hinaus, indem er die Funktionsmechanismen von Diskursen an sich aufzeigt und damit über die grundlegende Beschaffenheit menschlichen Handelns reflektiert.

Arianna Di Bella

Eher Trauma als erfüllter Traum: Flüchtlinge aus der DDR in Julia Francks Roman „Lagerfeuer“ (2012) und in Christian Schwochows Film „Westen“ (2013)

1. Einleitung Wir sind hier im Lager, nicht im Westen. […]. Du hast vielleicht den Osten verlassen und ich das Gefängnis dort. Aber wo bist du gelandet? Ist dir nicht aufgefallen, dass wir in einem Lager wohnen mit einer Mauer drum herum, in einer Stadt mit einer Mauer drum herum, mitten in einem Land mit einer Mauer drum herum. Du meinst, hier drinnen, im Innern der Mauer, ist der goldene Westen, die große Freiheit? (L, 245).1

So versucht der Flüchtling Hans der ebenfalls geflohenen Nelly eine plausible Erklärung für ihr Unglück zu geben. Wie viele andere Menschen war sie voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft, als sie den Ausreiseantrag stellte, um die traurigen Erinnerungen der Vergangenheit auf der anderen Seite vergessen zu können, doch jetzt ist Nelly drüben immer noch unglücklich. Die Berliner Mauer hat sie hinter sich gelassen, sie ist nicht mehr sichtbar, aber sie kann weiter spüren, wie sie ihr Glück, ihre Freiheit und Hoffnungen noch immer verhindert. Die Mauersteine haben sich jetzt in ein kühles Zaunnetz verwandelt, wie eine Käfigwand, gegen die die Vögel hektisch ihre Flügel schlagen in der Erwartung, dass das kleine Türchen irgendwann einmal aufgemacht wird und sie wegfliegen können. Dieses grausame Gefühl sowie die bitteren Erlebnisse, die zur Entstehung von Traumata und individuellen psychischen Störungen geführt haben, beschreibt Julia Franck 2003 in „Lagerfeuer“.2 In diesem Roman sowie in dessen freier Filmad-

1 Franck, Julia: Lagerfeuer. Frankfurt/M.: Fischer 2012³ [im Folgenden unter der Sigle „L“ im Text]. 2 In den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts entstehen in der Schule von Yale die ‚Trauma Studies‘, ein Gebiet der Literaturkritik, das von De Mans und Derridas poststrukturalistischen Theorien ausgeht. Die ‚Trauma Studies‘ beginnen mit der Veröffentlichung der Arbeiten „Trauma: Explorations in Memory“ 1995 und „Unclaimed Experience: Trauma, Narrative and History“ von Cathy Caruth 1996 die Theorien von Psychologie, Neurologie und Literaturkritik zu verflechten. Eine lebendige Auseinandersetzung, die noch bis heute andauert, wie diese beispielhaften Studien beweisen: Whitehead, Anne: Trauma Fiction. Edinburgh: Edinburgh University Press 2004; Luckhurst, Roger: The Trauma Question. London: Routledge 2008; Kuon, Peter: Trauma et Texte. https://doi.org/10.1515/9783110683028-027

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aption von Christian Schwochow, der 2013 unter dem Titel „Westen“ erschienen ist, werden die oft rührenden Erfahrungen von DDR-Flüchtlingen erzählt, die in den späten 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Westberlin im überfüllten Notaufnahmelager Marienfelde ankamen.3 Die zwei einzigartigen Werke „Lagerfeuer“ und „Westen“ stehen hier im Fokus der Untersuchung, in der analysiert wird, wie Schriftstellerin und Regisseur die traumatischen Zustände und die seelischen Verletzungen ihrer Hauptfiguren darlegen, worin sich die Darstellungsweisen der vielfältigen ‚Selbst-Störungen‘ der Flüchtlinge in Roman und Film unterscheiden und wo Ähnlichkeiten im künstlerischen Schaffen zu finden sind. Dabei wird auch untersucht, inwiefern „Lagerfeuer“ und „Westen“ Traumata und deren zugrundeliegenden Erlebnisse literarisch wie filmisch vermitteln bzw. inszenieren.4

Frankfurt/M.: Peter Lang 2010; Giglioli, Daniele: Senza trauma: scrittura dall’estremo e narrativa del nuovo millennio. Macerata: Quodlibet 2011. 3 Elke Kimmel führt eine präzise Analyse des strengen Prozederes der Notaufnahme in Marienfelde durch. Anhand von Fotos und Briefdokumenten fragt sie nach der historischen und moralischen Legitimität einer solchen oft demütigenden Kontrolle. Vgl. Kimmel, Elke: … war ihm nicht zuzumuten, länger in der SBZ zu bleiben. DDR-Flüchtlinge im Notaufnahmelager Marienfelde. Berlin: Metropol 2009. Marienfelde war eines der drei großen Notaufnahmelager der Bundesrepublik für Deutsche aus der DDR und Ostberlin und heute ist die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde das zentrale Museum in Deutschland zum Thema Flucht und Ausreise aus der DDR. 4 Die Studien über die psychologischen Störungen und Traumata nach existentiellen Krisensituationen wie Kriegen, Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung gehören seit langem nicht mehr exklusiv zu den Bereichen der Medizin oder Psychologie. Auch in der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie in der Sozial- und Filmwissenschaft wird das Thema vielfach behandelt und es werden Werke von unterschiedlichen Perspektiven aus analysiert. Unter den vielen Studien, die sich mit Traumata und Störungen des Selbst in Bezug auf Literatur und Film auseinandersetzen, erwähne ich hier die Arbeit von Hannes Frickes, der eine kultur- und literaturanalytische Anwendung des Psychotrauma-Begriffs vornimmt. Vgl. Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein 2004; Auch interessant ist Siewert, Stephanie / Mehnert, Antonia (Hrsg.): The Morbity of Culture. Melancholy, Trauma, Illness and Dying in Literature and Film. Frankfurt/M. et al.: Peter Lang 2012. Andere theoretische Studien, die sich auf den Begriff Störung in den Geistes- und Sozialwissenschaften konzentrieren, stammen von Carsten Gansel und Norman Ächtler, vgl. Gansel, Carsten / Ächtler, Norman (Hrsg.): Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistesund Sozialwissenschaften. Berlin/Boston: de Gruyter 2013 sowie Gansel, Carsten: Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Heft 4/2014, Göttingen 2014. Bezüglich der Literatur und des Schreibens als Mittel, um die Traumata zu überwinden, vgl. Kopf, Martina: Trauma und Literatur. Das Nicht-Erzählbare erzählen – Assia Djebar und Yvonne Vera. Frankfurt/M.: Brandes & Apsel 2005; Rex, Annette: Auf der Suche nach dem verlorenen Sinn: über den Nutzen des Schreibens als Instrument der Bewältigung von Traumata und Krisen. Münster: LIT 2009; Ostheimer, Michael: Nachgeholte Trauerarbeit. Traumatische Erinnerungsräume im Werk ostdeutscher Autoren nach 1989. In: „Nach der Mauer der Abgrund“? (Wieder-)

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2. Julia Franck und Christian Schwochow: Biographische Hinweise Nach einigen Romanen Francks, die als rein fiktive Geschichten gelten, wie ihr Debüt „Der neue Koch“ (1997) oder das Werk „Liebediener“ (1999) und der Erzählband „Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen“ (2000) scheint mit „Lagerfeuer“ die passende Zeit gekommen zu sein, um in ihrem literarischen Schaffen etwas von den persönlichen Erinnerungen zu verarbeiten, die mit den wichtigen historisch-politischen deutschen Fakten eng verknüpft sind. „Lagerfeuer“ spart die politische Wirklichkeit des geteilten Deutschland nicht aus, er wurde tatsächlich als ein historisch-politischer Roman betrachtet, in dem auch autobiographische Spuren zu erkennen sind, die dem Werk, laut Anne-Bitt Gerecke und Hans-Peter Kunisch, eine außerordentliche Authentizität verleihen.5 Anderer Meinung ist Ulrich Rüdenauer, er behauptet, das Werk sei kein autobiographischer Roman und lobt besonders die „schmucklose“ Sprache der Autorin, mit der die Beschädigung der Figuren geradezu „beängstigend“ zum Ausdruck komme.6 Der Rezensent lobt aber auch, dass sich dieser Roman von den vielen Büchern der ersten Jahre des letzten Jahrhunderts abhebt, die die DDR am liebsten nostalgisch oder ironisch in den Blick nehmen. Andreas Nentwich bewundert „Lagerfeuer“, das er als ein Sprachkunstwerk betrachtet, und Antja Schmelcher bezeichnet Francks Werk sogar als den ersten deutsch-deutschen Flüchtlingsroman, der zur Zeit des Kalten Kriegs spielt und eindeutig auch aus der Bearbeitung der Geschichte ihrer Kindheit

Annährungen an die DDR-Literatur. Hrsg. von Norbert Otto Eke. Amsterdam/New York: Rodopi 2013, S. 243 – 265. Was die Filmwissenschaft und die psychologische Betrachtung des Traumas angeht, vgl. Kaplan, Ann E. / Wang, Bann: Trauma and Cinema: Cross-Cultural Explorations. Hong Kong: Hong Kong University Press 2000; Wollnik, Sabine / Ziob, Brigitte (Hrsg.): Trauma im Film. Psychoanalytische Erkundungen. Gießen: Psychosozial-Verlag 2010. Ein Spektrum von Beispielen zum Begriff Störung aus der Literatur von der Weimarer Klassik bis zum Kino der Gegenwart bietet Gansel, Carsten: Störungen im Raum – Raum der Störungen. Heidelberg: Winter 2012. 5 Die Autorin selbst weist darauf hin, dass die im Roman evozierte Atmosphäre der Angst und Sehnsucht autobiographisch sei, Figuren und Handlung aber frei erfunden seien. Vgl. Voigt, Claudia: Im Inneren der Mauer. Schluss mit der Ostalgie! In ihrem Roman „Lagerfeuer“ rechnet Julia Franck mit der DDR ab. In: Kultur SPIEGEL 2003, H. 9, http://www.spiegel.de/spiegel/ kulturspiegel/d-28441044.html (Zugriff am 23.03.2018); Buchbesprechung von Julia Francks „Lagerfeuer“ von Gerecke, Anne-Bitt: http://www.litrix.de/de/buecher.cfm?publicationId=773 (Zugriff am 04.04.2018) und von Kunisch, Hans-Peter: Unsichere Fluchtbewegung. DDR-Knisternd: Julia Francks Roman ‚Lagerfeuer‘. In: Süddeutsche Zeitung (30.09.2003). 6 Rüdenauer, Ulrich: Traumzerstörungspassage. In: Frankfurter Rundschau, http://www.fr.de/ kultur/literatur/ulrich-ruedenauer-traumzerstoerungspassage-a-1205819 (Zugriff am 05.05.2018).

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entstanden sei.7 Inwieweit „Lagerfeuer“ ein autobiographischer Roman ist, scheint mir eine nachrangige Frage zu sein, es ist hingegen wichtiger zu betonen, dass Francks Erinnerungen in der Erzählung immer noch wach sind und wahrscheinlich noch berührend, sogar verletzend wirken können. Durch das umfassende, aufschlussreiche und vor allem reelle Bild dieser Epoche, das Franck in „Lagerfeuer“ anbietet, wird der Leser zum Zeugen des traurigen und unsicheren Lebens von vielen Flüchtlingen und Übersiedlern im westlichen Notaufnahmelager und er gewinnt damit Einblick in eine wichtige Phase der Geschichte Deutschlands. Die Autorin selbst war nämlich, als achtjähriges Mädchen, einer der ungefähr 1,5 Millionen Menschen, die als DDR-Flüchtlinge und DDR-Übersiedler von 1953 bis 1990 in Marienfelde das Notaufnahmelager bewohnten. 1970 in Berlin-Lichtenberg geboren, reiste Julia Franck 1978 mit ihrer Mutter und drei Schwestern aus und landete im Auffanglager Marienfelde. Erst nach neun Monaten durfte die Familie nach Schleswig-Holstein, wo die Mutter, damals eine Schauspielerin, auf einem Bauernhof mit einer alternativen Lebensform experimentierte, aber scheiterte und schließlich auf die Sozialhilfe angewiesen war. 1981 zog die dreizehnjährige Franck allein zu Freunden der Mutter nach West-Berlin; nach dem Abitur studierte sie an der FU Altamerikanistik, Philosophie, Neuere Deutsche Literatur und übte gleichzeitig zahlreiche berufliche Tätigkeiten aus. Julia Franck ist heutzutage eine bekannte und viel übersetzte Schriftstellerin, wie die zahlreichen literarischen Würdigungen beweisen, darunter zum Beispiel 2004 der Marie Luise KaschnitzPreis und 2007 der Deutsche Buchpreis. Der Regisseur und Drehbuchautor Christian Schwochow ist ebenfalls 1970 geboren, in Ostberlin groß geworden, mit elf Jahren in die Bundesrepublik gekommen und auch an der Bearbeitung der Themen der DDR-Zeiten interessiert. Belege sind, außer „Westen“, zum Beispiel sein erster großer Kinoerfolg „Novemberkind“ (2008) sowie die Fernsehfilme „Der Turm“ (2012), eine Fernsehadaption von Uwe Tellkamps Roman „Der Turm“, „Bornholmer Straße“ (2014) und „Die Täter – Heute ist nicht alle Tage“ (2016). Christian Schwochow gesteht, Francks Buch habe ihn sehr berührt, als er es las, und er habe es sofort verfilmen wollen. Deshalb kontaktierte er die Autorin, die auch an dem Drehbuch mitarbeitete. 8

7 Vgl. Nentwich, Andreas: Im Niemandsland zwischen Nichts und Nichts. In: Neue Zürcher Zeitung 07.10.2003; Interview mit Schmelcher, Antje: Narben sind häufig taub. In: Die Welt, veröffentlicht am 29.08.2003. 8 Am 08.07.2013 wurden Julia Franck und Christian Schwochow zu einer Veranstaltung der Freien Universität eingeladen, um über „Lagerfeuer“ und „Westen“ zu sprechen. Darüber berichtet Töpper, Stephan: „Wir sind hier im Lager, nicht im Westen“. Der Roman „Lagerfeuer“ von Alumna Julia Franck demnächst als Adaption im Kino. https://www.fu-berlin.de/campusleben/ campus/2013/130704_lagerfeuer/index.html (Zugriff am 01.03.2018).

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„Westen“, dessen Drehbuch Heide Schwochow, die Mutter des Regisseurs, schrieb, wurde als Parabel über Entwurzelung und Einsamkeit, über die Widrigkeit des Neubeginns und die Wiederbelebung erstorbener Gefühle angesehen.9 Der Film scheint aber nach Andreas Kilb keine gelungene Adaption zu sein. Der nicht gänzlich vom Film überzeugte Kinokritiker ist der Meinung, er sei keine wirkliche Verwandlung, keine Transformation in das, was dem Kino durch die Bilder näher ist als die Wörter der Romane. Die Intensität des Buches erreicht seiner Meinung nach der Film nicht und das Resultat sei bloß eine schöne „historische Postkarte“10. Auch Ronnie Scheib ist nicht ganz überzeugt: die Beschreibung der Zustände im Westen und die Hauptdarstellerin verlören sich in den vielen Details.11 Eine ganz andere Auffassung hat Kerstin Decker, die „Westen“ als einen schönen, intensiven Film bezeichnet, obwohl sie das zu plötzliche und allzu harmonische Ende hart kritisiert. Diese Ansicht scheint jedoch den Film nicht recht getroffen zu haben. Ein Happy End ist, wie die spätere Analyse des Films zeigen wird, in „Westen“ von Anfang an anvisiert. Die Begeisterung von Christian Buß ist hingegen gänzlich nachvollziehbar, wenn er den Film als ein hochkomplexes psychologisches DDRFlucht- und Transit-Drama bezeichnet.12 „Westen“ wurde überwiegend sehr gelobt, wie die vielen Auszeichnungen beweisen, darunter sind der FIPRESCI-Preis in der Kategorie ‚World Competition‘ für den Regisseur und der Preis Beste Schauspielerin für Jördis Triebel beim Montreal World Film Festival 2013 sowie der Deutsche Filmpreis (Lola) für die Hauptdarstellerin in der Kategorie ‚Beste darstellerische Leistung weibliche Hauptrolle‘ 2014 zu erwähnen.

9 Kanthak, Dietmar: Kritik zu Westen. In: epd-film (19.02.2014). http://www.epd-film.de/filmkritiken/westen (Zugriff am 15.03.2018). 10 Kilb, Andreas: Gruß aus Marienfelde. In: Frankfurter Allgemeine 01.04.2014. http://www. faz.net/frankfurter-allgemeine-zeitung/christian-schwochows-film-westen-gruss-aus-marienfelde-12865337.html (zugriff am 20.05.2018). 11 Scheib, Ronnie: Film Review: ‚West‘. In: Variety. 29.09.2013. http://variety.com/2013/film/ reviews/west-review-montreal-1200680119/ (Zugriff am 24.04.2018). 12 Decker, Kerstin: Wohin wir gehören. In: Der Tagesspiegel. https://www.tagesspiegel.de/kultur/filmfestival-wohin-wir-gehoeren/8996100.html (Zugriff am 30.04.2018) (28.20.2013); Buß, Christian: In der Twilight Zone des Kalten Krieges. In: Spiegel Online. 23.03.2014. www.spiegel. de/kultur/kino/westen-kinodrama-mit-joerdis-triebel-von-christian-schwochow-a-959242.html (Zugriff am 24.05.2018).

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3. Inhalt und Struktur der Werke „Lagerfeuer“ zeigt sich – fast 15 Jahre nach dem Mauerfall – als erstes und nicht einfaches Experiment der Autorin, über ihre traurigen, gestörten Gefühle und Eindrücke im Notaufnahmelager zu schreiben.13 Sie selbst gesteht in Interviews, wie schwierig es für sie war, daran zu denken.14 Vermutlich brauchte die Autorin aus diesem Grund so lange Zeit, um diese Phase ihres Lebens bewältigen und so meisterhaft darüber berichten zu können. Der Versuch zu zeigen, dass in Bezug auf diesen Teil der deutschen Geschichte bei Vielen noch eine Narbe sichtbar oder sogar eine Wunde offen ist, scheint aber gelungen zu sein.15 Das Interesse an diesem deutsch-deutschen historischen Schnitt scheint tatsächlich noch geweckt, wie der Erfolg von „Lagerfeuer“ und die weiteren Werke von Franck, „Grenzüber-

13 Vertreibung, Flucht wie auch Exil verändern das Leben von Menschen schlagartig und sind potentiell traumatisierend. Die Erinnerungen, die solche erlebten Erfahrungen aufwecken, sind tatsächlich oft sehr schwer zu ertragen und prägen sogar das neue Welt- und Selbstverständnis nach der Flucht. Vgl. Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 155. ‚Störung‘ ist laut Gansel aber auch als ein Medium gesellschaftlicher (Selbst-)Verständigung, als konstruktives Prinzip zu verstehen, das dauerhaften Anlass für eine Selbstbeobachtung und Selbstanalyse bietet. Die ‚Störung‘ wird insofern in den neueren Ansätzen aus unterschiedlichen Bereichen wie Medientheorie, Sprach- und Literaturwissenschaft wie der Diskursanalyse nicht mehr nur als Hindernis angesehen, sondern ihr wird eine produktive Bedeutung zugeschrieben. Vgl. Gansel, Carsten: Zur ›Kategorie Störung‹ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Störung in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germansitenverbandes 61, 2014, H. 4, S. 315 – 332. 14 Vgl. Schmelcher, Narben sind häufig taub. 2003. 15 Das Leben in der DDR sowie die Ausreisen sind in der Literatur und im Kino oft bearbeitet worden, allerdings in unterschiedlicher Art und Weise. Als beispielhaft gelten Texte wie Jana Hensels Roman „Zonenkinder“ (2002), Thomas Brussig „Helden wie wir“ (1995), die eine fröhliche und vertraute DDR darstellen, auch noch der Film von Leander Hausmann „Sonnenallee“ (1999), für den Thomas Brussig das Drehbuch schrieb und danach den Text „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“ (1999). Die Filme wie Texte kleiden die DDR in ein mildes Licht und erzählen mit liebevollem Spott von ihr. Noch zu erwähnen sind der große Kinoerfolg „Good bye Lenin“ (2003) von Wolfgang Becker, der das Phänomen der Ostalgie widerspiegelt, oder der Film „Kleinruppin Forever“, 2004, von Carsten Fiebeler, der die Unterschiede zwischen Osten und Westen als Komödie porträtiert. Julia Franck findet, dass die Behandlung der DDR als Kultobjekt interessant ist und dass in der Satire meist ein großer Ernst steckt, doch glaubt sie, ihr persönlich war in diesem Abschnitt ihres Lebens nie nach Lachen zu Mute. Erst 2006 mit dem Film von Florian Henckel „Das Leben der anderen“ wird das Thema auch im Kino ernsthaft betrachtet. Vgl. Interview Schmelcher, Narben sind häufig taub. 2003. Ein Buch, das ähnlich wie „Lagerfeuer“ angelegt ist, d. h. das auch gegen die Verklärung der DDR Position bezieht, hat die Berliner Autorin Claudia Rusch geschrieben: „Meine freie deutsche Jugend“ (2003). Der Roman, der sofort nach der Veröffentlichung auf der Bestsellerliste landete, versammelt kurze Alltagsgeschichten in einem unfreien Land, ohne auszusparen, wie die DDR wirklich war.

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gänge“ (2009) und „Rücken an Rücken“ (2011), beweisen.16 Auch „Westen“, den Schwochow möglicherweise genau in diesem Zeitraum herausbrachte, um in der Spur des großen Erfolgs des Filmes „Barbara“ (2012) von Christian Petzold, Sohn von DDR-Flüchtlingen, zu bleiben, verdeutlicht das Bedürfnis in Deutschland, das Thema noch immer aufzuarbeiten.17 Und bei Schwochow kann man noch vermuten, dass auch die noch längere Zeitspanne und der viel größere emotionale Abstand vom Mauerfall (24 Jahre) und vom Erscheinen des Romans „Lagerfeuer“ (zehn Jahre) plausible Gründe sind, warum er seinen Film in einer offenbar glücklichen Schlussatmosphäre, im Gegensatz zum literarischen Werk, enden lässt. Es sind vor allem die seelischen Misshandlungen der östlichen Flüchtlinge, die sich in einer Situation des ‚Nicht-mehr‘ und ‚Noch-nicht‘ befinden, sowie ihre bitteren Erfahrungen, die oft zur Entstehung psychischer Störungen führen. Es sind dies Aspekte, die sowohl im historisch-literarischen Bereich als auch im Filmschaffen immer weiter behandelt werden, wie Julia Francks Roman verdeutlicht. Doch die individuellen Erfahrungen der Autorin, obwohl diese, wie sie selbst gesteht, wegen der Bitterkeit der Erinnerungen oft verdrängt wurden,18 scheinen, nach Thomas Brussig, nicht ganz so traumatisierend gewesen zu sein oder führten bei ihr anscheinend nicht zur Unfähigkeit, nachzudenken und zu schreiben bzw. führten nicht zu einer Lähmung. Das wird laut dem Schriftsteller von der souveränen Annäherung Francks an das Thema bewiesen. Brussig behauptet, dass aus dem persönlichen Betroffensein die Kompetenz und die starke Haltung der

16 Die ‚geteilte Heimat‘ kommt nämlich wieder in diesen Romanen als Hintergrund vor, wobei der Schauplatz hier nicht der schreckliche Zwischenort ist, wo einsame und anonyme Seelen herumlaufen. 17 Auch in „Barbara“ ist nämlich eine blondgelockte Frau die Hauptfigur. Sie hat ebenfalls einen Ausreiseantrag gestellt, wurde dafür psychisch misshandelt und ist, wie Nelly, eine starke und bestimmende Frau, die sich nicht von der Regierung beugen lässt. „Barbara“ ist im Jahr 1980 in der DDR angesiedelt. Die Hauptfigur ist eine Ärztin, die zuerst inhaftiert und dann an ein Provinzkrankenhaus versetzt wird, nachdem sie einen Ausreiseantrag gestellt hat. Das Filmprojekt Petzolds ist entstanden aus dem Interesse für die Novelle „Barbara“ (1936) von Hermann Broch und aus der Bekanntschaft mit einem Arzt, der ihm über die Schicksale von DDR-Ärzten nach Stellen von Ausreiseanträgen berichtet hat. 18 Julia Franck gesteht, dass in ihrer Familie jahrelang nicht mehr über das Lager geredet wurde. Auch die Identität als ‚Ostler‘ wurde verschwiegen und als sie mit 13 Jahren allein nach West-Berlin zog, sagte sie niemandem in der Schule, dass sie aus dem Osten kam. Sie gesteht, wie schlimm es war, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen. Die Autorin erzählt auch von einem Schulausflug in der 10. Klasse zum Konzentrationslager Sachsenhausen und davon, wie schrecklich die Vorstellung für die West-Berliner Klasse war, in den Osten reisen zu müssen. Vgl. Geissler, Cornelia: Julia Franck hat einen Roman über Menschen im Notaufnahmelager Marienfelde geschrieben: Lagerkind. In: Berliner Zeitung, 23.08.2003; Voigt, Im Inneren der Mauer. 2003.

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Autorin erwachsen, die „Lagerfeuer“ zu einem ganz bemerkenswerten Roman machen.19 Die lange und schwierige Bearbeitung dieser persönlichen Fakten, die aber während der DDR-Zeit bei vielen anderen Menschen ähnlich war und bis heute ist, scheint also gelungen zu sein. Abgesehen vom ersten Kapitel des Romans „Lagerfeuer“, dessen Schauplatz die damals gefürchtete Bornholmer Brücke ist, die Ost-Berlin mit dem Westen verband und an der die üblichen und sehr oft demütigenden Grenzkontrollen derjenigen stattfanden, die die Ausreisegenehmigung erwirkt hatten, spielt fast die ganze Handlung im Notaufnahmelager Marienfelde. Das Notaufnahmelager, ein Transitort, an dem der Aufenthalt für jeden unterschiedlich lange dauerte, erscheint im Text als Bühne, auf der nicht nur die Geschichten der Hauptfiguren sondern auch diejenigen von vielen anderen Flüchtlingen dargestellt werden. Und hier verknüpfen sich eng die zahlreichen Existenzen der Menschen, die jeweils ihre eigenen Lebenserfahrungen in sich tragen. Alle Figuren des Buches treffen sich in diesem Ort, der eigentlich nur als Transitraum für kurze Zeit gedacht war, der aber von vielen als grausames Gefängnis gesehen wird.20 Ein Beweis dafür ist die Benennung dieses Ortes im Text mit dem Wort ‚Lager‘. Eine versteckte Anspielung auf Lager des Zweiten Weltkriegs könnte damit ebenfalls gemeint sein. Auch die zu Beginn genannten zahlreichen Hinweise auf Nellys überlebende jüdische Großmutter verstärken diesen Eindruck, dies auch deshalb, weil Julia Franck selbst jüdischer Abstammung ist. In „Lagerfeuer“ ist diese erste angeblich hoffnungsvolle Station für viele Flüchtlinge, die sich eine baldige Zukunft endlich in einem freien Land wünschen, hingegen nicht nur eine unerwartete, weitere schreckliche und traurige Erfahrung.21 Sie wird sogar für einige schwache Seelen zur letzten Etappe des Lebens, wie im weiteren Verlauf erklärt wird.

19 Brussig, Thomas: Unsanfte Landung. In: Der Spiegel, 40/2003, S. 160 – 163 (veröffentlicht am 29.09.2003). 20 Eine interessante Arbeit über das Thema Raum und Trauma ist von Kasper, Judith: Der traumatisierte Raum. Insistenz, Inschrift, Montage bei Freud, Levi, Kertész, Sebald und Dante. Berlin/ Boston: de Gruyter 2016. 21 Die negative Aura dieses Transitraums, die die Leser von Anfang an spüren, wird durch unterschiedliche Elemente wie zum Beispiel den Mangel an glücklichen und sorglosen Alltagsmomenten im Lager oder das ständige Abspielen des traurigen Liedes „Rivers of Babylon“ auf allen Sendern erzeugt. Schon im Auto auf der Fahrt über die Grenze hören Nelly und ihre Kinder dieses Lied, das auch sehr oft im ganzen Lager durch die Lautsprecher verbreitet wird. Das Lied beruht auf dem Psalm 137 der Bibel, handelt vom Exil der Juden in Babylon nach der Eroberung Jerusalems 586 v. Chr. und beschreibt die Sehnsucht der exilierten Juden, die am Ufer der Flüsse Babylons sitzen und traurig an ihre Heimat denken. Die bekannteste Version ist die popkulturelle Variante von der Gruppe Boney M. aus dem Jahre 1978.

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In „Lagerfeuer“ treffen sich unterschiedliche Figuren, wodurch die Autorin dem Werk eine multiperspektivische Struktur verleiht. In den 16 Kapiteln sind es nämlich vier Ich-Erzähler, die abwechselnd zu Wort kommen und über ihren jeweiligen Alltag im Auffanglager und über traumatische Erfahrungen des eigenen Lebens berichten. Nelly Senff, Krystina Jablonowska, John Bird und Hans Pischke sind Francks Protagonisten, die aber von anderen, doch auch wichtigen Nebenfiguren begleitet werden. Die junge Chemikerin und alleinerziehende Mutter Nelly Senff mit ihren zwei Kindern, der zehnjährigen Katja und dem achtjährigen Aleksej, siedelt nach WestBerlin über, um den Westberliner Gerd zu heiraten. Dieser Mann ist in Wahrheit nur ein Fluchthelfer, der Geld für die Hilfe verlangt, und Nelly möchte auf die andere Seite gehen, weil sie denkt, sie könne drüben nach dem mysteriösen Selbstmord des geliebten Vaters der Kinder ein neues Leben anfangen. Die zweite Haupterzählerin ist die Polin Krystyna Jablonowska. Mit großer Hoffnung ist sie mit dem alten Vater und dem schwerkranken Bruder in den Westen gegangen, um den jungen Mann mit modernen westlichen Methoden behandeln zu lassen. Sie befindet sich schon seit langer Zeit im Lager, doch schließlich kann Jerzy von der westdeutschen Medizin nicht weitergeholfen werden und er stirbt. Neben den zwei Frauen gibt es noch den aus einem Ost-Gefängnis freigekauften einsamen Schauspieler Hans Pischke, der das Lager als seinen neuen festen Wohnsitz gewählt hat, obwohl er dort ganz unzufrieden und unterwürfig lebt. Ihnen gegenüber steht die vierte Stimme des Romans, die dem schwarzen amerikanischen CIA-Agenten des alliierten Geheimdienstes John Bird gehört, der mit Nelly einen One-Night-Stand hat. Er lebt ebenfalls kein einfaches Leben: Seine Ehe geht schief, und obwohl er eine besondere, hohe Position als Beamter mit entscheidendem Einfluss auf das Schicksal der Flüchtlinge einnimmt, scheint er ständig frustriert und unzufrieden. Er ist also ein weiterer Zeuge dieses ‚dunkeln‘ Lebens in Marienfelde und gleichzeitig auch Opfer, denn seine unglückliche Existenz ist sehr eng von der strengen reglementierten Bürokratie der westlichen Systeme abhängig. Auch in der freien Filmadaption „Westen“ ist das Notaufnahmelager Marienfelde der Hauptschauplatz der Handlung, auf dem die Figuren sich treffen und leben. Auch hier ist dieser Ort von Anfang an von einer deprimierten Stimmung gekennzeichnet: All die gleichsam grau gefärbten Wohnblöcke, die Anonymität vermitteln, der Himmel, der meistens grau und trist ist, das Wetter, das immer regnerisch ist und die traurigen Lieder, die häufig gespielt werden, sind nur einige Beispiele. Ein Ort der Unsicherheit, ein Ort der Ungewissheit ist auch in „Westen“ das transitorische Zuhause der geflüchteten Figuren, die hier im Gegensatz zum Buch allerdings meist Nebenrollen spielen. Im nicht multiperspektivischen Film ist nämlich Nelly Senff die einzige Protagonistin, die nur ein Kind hat, Aleksej. Die Handlung ist auf sie fokussiert, obwohl sie mit den gleichen Charakteren wie im

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Buch konfrontiert wird.22 Hier unterscheidet sich „Westen“ also gänzlich von dem literarischen Werk: Der Film ist insgesamt schlichter strukturiert als der Roman. Ein Grund für die Fokussierung auf eine einzige Hauptperson könnte die leichtere Rezipierbarkeit des Films bei großer emotionaler Wirkung sein.

4. Traum vs. Trauma in „Lagerfeuer“ und „Westen“ Die zwei Werke sind auf je eigene Weise Medien der Reflexion über die schwierigen Situationen und die psychischen Erschütterungen der DDR-Flüchtlinge. Keiner lebt ein einfaches Leben, und das nicht nur, weil sie sich jetzt in diesem grausamen ‚Niemandsland‘ befinden, sondern auch weil bereits die Vergangenheit aller Charaktere nicht leicht war. Alle Figuren werden nämlich als gestört und unzufrieden beschrieben, jede hat eine schwierige Geschichte hinter sich und der Aufenthalt im Lager verschlimmert ihren psychischen Zustand, wie der Selbstmord einer alten und einsamen Dame, die sich vor ihrem Wohnungsblock erhängt, exemplarisch zeigt. Nelly Senff ist die vollkommene Repräsentantin dieses traumatischen Zustandes, und da diese Figur in beiden Werken eine ähnlich prominente Rolle spielt, ist die weitere Analyse besonders auf sie konzentriert. Es wird hinterfragt, was sie Schreckliches erlebt hat und was sie wahrscheinlich noch jetzt weit weg vom Osten erlebt oder noch in sich trägt. Nelly hat bereits in der DDR traumatische Erfahrungen machen müssen:23 Der Selbstmord von Wassilij Batalow hat sie gänzlich destabilisiert. Nach diesem traurigen Ereignis bleibt sie alleine und die lange Reihe von erniedrigenden Verhören der Stasi, die sie beim Nachbohren in ihrer privaten Sphäre moralisch vergewaltigen, wird zu einem gewissen Punkt unerträglich. Sie möchte so schnell wie möglich fliehen, und zwar nicht nur vor dieser demütigenden Situation, sondern auch, weil dort alles an ihren verstorbenen Geliebten erinnert. Deshalb wird es für sie unmöglich, ein neues Leben in der DDR zu beginnen. Sobald aber der

22 Außer Jördis Triebel, die Nellys Rolle spielt, sind die anderen Darsteller: Tristan Göbel (Aleksej), Alexander Scheer (Hans Pischke), Jacky Ido (John Bird) und Anna Antonowicz (Krystina Jablonowska). 23 Reinhart Koselleck hat zwischen Erfahrung und Erlebnis unterschieden. ‚Erfahrung‘ ist laut Koselleck die gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse, als Mannigfaltigkeit des Erlebten angesehen, einverleibt worden sind und erinnert werden können. Koselleck, Reinhart: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 354. Bei Nelly wird jedoch die Verarbeitung dieser Erfahrung noch schwieriger, weil dazu noch traumatisch wirkende Ereignisse kommen, die zu weiteren Störungen des Selbst führen.

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Ausreiseantrag gestellt ist, kommt noch eine weitere, von Nelly erwartete Erniedrigung auf sie zu: Die wissenschaftlich arbeitende Chemikerin wird ‚bestraft‘, sie darf nicht mehr in der Akademie forschen, sondern muss als Gärtnerin auf dem Friedhof arbeiten.24 Diesen psychischen Gewalten werden noch körperliche Demütigungen hinzugefügt: An der Grenze muss sie eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, um endlich, zwei Jahre nach der Antragsstellung, nach drüben zu können. Über solche Erfahrungen gelangt sie aber nicht ins gewünschte Eldorado. Das Traumland wird sofort entlarvt und die Vergangenheit unterdrückt sie weiter. Hier wird sie nämlich auch untersucht und auch ständig von amerikanischen Alliierten verhört, denn Wassillijs Identität scheint die Geheimdienste sehr zu interessieren. Die ständigen Befragungen zu seiner Person lösen bei Nelly Angst und Unsicherheit aus, sie fühlt sich gequält und beginnt sogar, an ihrem Geliebten zu zweifeln. Sie hat den Eindruck, nicht wirklich den Vater ihrer Kinder kennengelernt zu haben.25 Denn möglicherweise war Wassillij kein russischer Wissenschaftler, sondern ein in US-Diensten stehender Spion, der enttarnt und deshalb von den DDR-Behörden umgebracht wurde. Eine Art Entfremdung ergreift Besitz von Nelly, die Erinnerungen an Wassillij, die andauernd wegen der Verhöre wach werden, lassen ihr auch hier keine Ruhe und quälen sie, wie Nelly zu John Bird sagt: Ich bin ganz schön erschöpft, wissen Sie, vielleicht fällt mir einfach gar nichts mehr ein, […]. Sehen Sie, ein halbes Leben lang hat mich die Staatssicherheit befragt, heute sind Sie dran, morgen die Briten, und übermorgen wollen die Franzosen […]. Mein Kopf ist leer, so leer, das können Sie sich gar nicht vorstellen, ich weiß gar nicht mehr, was ich Ihnen erzählt habe und was ich den anderen erzählt habe. Das ist ein Kreuzverhör, nichts anderes (L, 64).

Sie ist erschöpft und wird zudem unsicher. Im Film wird dieser Zustand seelischer Verwirrung durch beeindruckende Szenen häufig dargestellt, und zwar mit unterschiedlichen Sequenzen, in denen Nelly den Eindruck hat, Wassillij wiederzusehen.26 Diese Filmsequenzen erweisen sich dann als Wahnvorstellungen, Tagträume oder Geistesverwirrungen, die ein hoch kritisches, besorgniserregendes Stadium der geistigen Selbst-Störung Nellys beweisen.

24 Dieses Element verweist auf Francks Biographie. Als ihre Mutter den Ausreiseantrag für sich und ihre vier Kinder stellte, durfte sie nicht mehr als Schauspielerin tätig sein, sondern musste drei Jahre lang als Postbotin und Friedhofsgärtnerin arbeiten. 25 Schwochow, Christian: Westen. DVD, Zero One Film, Terz Film Ö-Filmproduktion in Koproduktion mit Senator Produktion und Westdeutscher Rundfunk, Südwestrundfunk, Rundfunk Berlin-Brandenburg ARTE, 2014, Länge 1:38:06, Minuten: 00:21:04 – 0:22:13; 00:24:00 – 00:27:17; 00:33:28 – 00:34:48; 00:49:51 – 00:51:31; 00:57:26 – 00:59:18. 26 Westen. Minuten: 00:26:43 – 00:27:17; 00:51:00 – 00:51:31.

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Es ist aber nicht nur die noch lebendige Verbindung mit der Vergangenheit, die Nelly destabilisiert, sondern auch der Eindruck der Nicht-Zugehörigkeit zu beiden deutschen Staaten, der Verlust ihrer Identität und die umfassende Enttäuschung ihrer unterschiedlichen Erwartungen. Was sich die Protagonistin zusammen mit allen Neuankömmlingen aus dem Ostblock wünscht, ist ein neues Leben, aber was sie zuerst im westlichen Notaufnahmelager lernen, ist: Wurstmarken gegen Käsemarken zu tauschen, die Bekleidung aus der Kleiderkammer zu bekommen, in ungemütlichen, ungelüfteten Räumen zu leben, mit Fremden stinkende Toiletten und kleine gemeinsame Schlafzimmer mit Stockbetten zu teilen, gemeinsame schmutzige Küchen oder eine anonyme Mensa zu nutzen, in der es keine Wahl beim Essen gibt.27 Francks und Schwochows Protagonistin, Reflexion aller Flüchtlinge, wünscht sich endlich frei zu sein, doch was sie im Westen sofort erfährt, sind nicht Unabhängigkeit und Freiheit sondern nur eine andere Art von Abhängigkeit und Unfreiheit. Sie wird zum Beispiel schlecht behandelt, als sie ein Arbeitsangebot als Laborhilfe ablehnt, das Gleiche passiert dem Schauspieler Hans Pischke, er lehnt eine Stelle als Besamer in Schleswig-Holstein ab und wird dafür hart kritisiert. Es scheint also, dass der erste Schritt zur Freiheit und zur Anerkennung als Westler ein einfaches, fragloses Annehmen eines westlichen Arbeitsangebots sei. Eine Ablehnung oder das persönliche Streben nach etwas anderem wird als unhöflich, unverschämt und sogar unmoralisch angesehen, wie die Wörter von Lüttich, einem Beamten des Lagers, beweisen: Ich fasse es nicht. […] da kommt ihr hierher, ja, ohne alles, ja, ohne Winterschuhe und ohne Waschmaschine, ja, nicht mal die Wäsche für ’ne Waschmaschine reicht, ja, ohne Dach überm Kopf und ohne jede Mark, ja, und haltet die Hände auf und nehmt und lehnt ab, stellt Ansprüche, ja. (L, 129).

Diese alltägliche psychisch deprimierende Lage destabilisiert die Hauptfigur so stark, dass sie auch in ihrer Mutterrolle zu scheitern beginnt, und das spätere Bewusstsein, nicht genug auf ihre Kinder aufgepasst zu haben, stürzt sie weiter in Verwirrung. Sie versteht nicht, in welchem Gemütszustand ihre Kinder leben, was sie sich in Wirklichkeit wünschen und woran sie leiden. Die zwei Kinder (im Film nur Aleksej) werden in der Schule von westlichen Mitschülern verspottet,

27 „Wenn du nur noch isst, was dir einer vorsetzt, und einfach nicht mehr in der Lage bist, selbst zu entscheiden, was du wie kochst, und deine Kinder essen nicht mehr an deinem Tisch das Essen, das du für sie besorgt und zubereitet hast. Dann schaffst du ihnen kein Zuhause mehr […]“ (L, 242). Nelly gesteht, wie vollkommen nutzlos sie sich als Mutter fühlt und wie sie sich schämt.

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gemieden, Ostpocken genannt; sie fühlen sich anders und werden schikaniert.28 Auf Aleksej wird sogar herumgetrampelt, er wird verprügelt und muss einige Tage im Krankenhaus bleiben. Er und seine Schwester haben das Gefühl, nicht dazuzugehören, sind sehr traurig und vermissen das Zuhause; der Osten, mit dem aber ihre Mutter nichts mehr zu tun haben will, bleibt für die Kleinen die vertraute Seite der Mauer und wird dementsprechend mit dem Ausdruck ‚bei uns‘ benannt. In „Westen“ finden sich hingegen schon von Anfang an einige Szenen, in denen man bereits den Eindruck bekommt, dass glückliche Momente und vielleicht sogar ein Happy End möglich sein könnten. In der Eingangssequenz nimmt die Kamera eine Winteridylle auf: Vater, Mutter und Kind liefern sich im frostigen Ostberlin eine ausgelassene Schneeballschlacht.29 Und in der Filmsequenz, in der das Auto hinter der Grenze in der westlichen Zone anhält, steigt Nelly aus und schaut nach Osten, ihr Gesicht ist sehr ernst und traurig, gleich danach dreht sie sich aber zur anderen Seite, schaut nach vorne und beginnt zu lächeln. Plötzlich scheint die Sonne, ihr glückliches Gesicht strahlt, wahrscheinlich als Vorzeichen, dass ab jetzt alles gut laufen wird.30 Das Auto fährt über die Ost-Berliner Straßen und Mutter und Sohn beobachten die fröhlichen Westler, die beim Gehen lachen und scherzen; auch die frische und neue Luft, die die zwei durch die offenen Autofenster tief einatmen, scheint die Freiheit zu symbolisieren, die sie jetzt endlich erleben können. Alles endet aber damit, als das Auto vor dem Notaufnahmelager anhält. Dadurch löst sich diese positive Stimmung durch den Bildausschnitt des hohen Drahtnetzes auf, das das Lager-Gefängnis umschließt und das seine ‚BewohnerGefangenen‘ von der Außenfreiheit trennt. In „Westen“ sind aber auch im Lager blasse Zeichen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu erkennen, wie beispielsweise die Freundschaft zwischen Nelly und Krystina und die dort entstandene Vater-Sohn-Beziehung zwischen Hans und Aleksej zeigen. Auch glückliche, entspannende Momente scheinen, wenn auch nur kurz, die seelischen Spannungen der Figuren aufzulösen, wie das kleine Picknick, das Nelly und ihr Sohn im Garten machen, das Cellostück, das Krystina vor begeisterten Hörern spielt oder der Drachen, den Hans und Aleksej fröhlich und amüsiert fliegen lassen.31

28 Westen. Minuten: 1:12:35 – 1:13:10; 1:18:28 – 1:18:59. 29 Westen. Minuten: 00:00:53 – 00:02:39. 30 Westen. Minuten: 00:08:26 – 00:09:19. 31 Im Film hat Krystina ihr geliebtes Musikinstrument dabei, Julia Franck erzählt hingegen, dass die Musikerin ihr Cello hat verkaufen müssen, um die nötigen Papiere für die Ausreise zu kaufen. Westen. Minuten: 00:45:15 – 00:46:02; 00:36:10 – 00:38:09; 00:54.52 – 00:55:21.

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 Arianna Di Bella

Nicht alle Schimmer von Optimismus und Positivität des Films sind im ursprünglichen literarischen Werk zu finden. Ein Beispiel: Wenn in „Westen“ nach dem Tod des Bruders Krystina und ihr Vater den Bus nach Polen nehmen und sich freuen, nach Hause zurückzufahren, verlässt im Roman die Frau hingegen das Lager allein und lässt ohne jegliche Erklärung den Vater einsam zurück.32 Die starken psychischen Traumata, die seelischen Störungen, scheinen also in „Lagerfeuer“ unlösbar, insofern ist es der abschließende Moment in beiden Werken, der meiner Meinung nach am bedeutendsten ist. Die letzten Passagen des Romans zeigen, wie schon von Anfang an, traurige und gestörte Menschen, die in der Mensa sitzen, und obwohl der Heiligabend gefeiert wird, freuen sich in Wirklichkeit nur die Kinder. Plötzlich brennt der Weihnachtsbaum, ein Symbol der Verbindung und der Freude, eine Szene, die keine Hoffnung zuzulassen scheint. Chaos bricht aus, einige entfernen sich schnell vom Baum, andere bilden einen Kreis um das Feuer. Außer den aufgeregten Kindern bleiben in diesem Moment die meisten Flüchtlinge stumm, mit erloschenen Augen und leeren Köpfen. In „Westen“ lässt hingegen die letzte Filmsequenz ein ‚Fenster offen‘ in die Zukunft, eine glückliche Fortsetzung von Nellys Leben ohne die alten Traumata oder schmerzhaften Erinnerungen. Der Film endet auch am Weihnachtsabend, durch das Fenster nimmt die Kamera von außen das neue Zuhause von Nelly und Aleksej auf. Die Wohnung ist schön beleuchtet, die Mutter backt, der Sohn bereitet den Weihnachtsbaum und den Tisch für das Abendessen vor. Sie lachen, sind glücklich und die fröhliche Stimmung ist spürbar. Plötzlich klingelt ein unerwarteter Gast, Hans Pischke hat seine Angst überwunden und hat das Lager endlich, nach zwei Jahren, verlassen.33 Zwar hinterlässt der Romanschluss mit den Flammen des Weihnachtsbaums bei dem Leser ein gewisses Gefühl von Unsicherheit und Traurigkeit, die Passage kann aber dennoch auch anders interpretiert werden: Die Flüchtlinge umschließen das Feuer – eine Szene, die den Titel am Ende sinnfällig macht und die positiven Gefühle von Romantik, Freiheit, gemütlicher Gemeinschaftlichkeit erweckt. Das

32 Eine andere Interpretation scheint aber legitim. Nach dem Tod ihres Bruders verlässt Krystina Marienfelde und ihren Vater: Sie ist also die einzige unter den vier Erzählern, der es im Laufe des Romans gelingt, das Lager zu verlassen und angeblich ein neues Leben zu beginnen. Mit dieser Handlung verschwindet sie allerdings auch vollständig aus der Erzählung – vielleicht ein Hinweis auf die identitätsbildende Kraft dieses beengten Miteinanders im Lager. Alle Charaktere existieren nämlich nur als Lagerbewohner und in ihrer Wahrnehmung durch andere, nicht als Individuen. 33 Das Ende von „Westen“ bedeutet endlich den Anfang für die Hauptdarsteller eines neuen Lebens, wie die Plakate des Films von Pierre Richard „Und jetzt das Ganze nochmal von vorn“, der gerade im Kino unter Nellys Wohnung läuft, beweist. Westen. Minuten: 1:31:46 – 1:32:48.

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Ende von „Lagerfeuer“ könnte aber auch auf den Phönix verweisen, der aus seiner Asche in neuem Glanz aufersteht. Das Schlussbild könnte, so meine Einschätzung, als eine Art Hoffnungszeichen angesehen werden, als Symbol des Mutes und der Kraft, die unerwartet in den traumatisierten und verletzten Seelen der Flüchtlinge entstehen. Die Menschen um das Lagerfeuer scheinen ein Bild der Macht des Widerstandes zu sein, der Resilienz gegen die Scheußlichkeiten des Lebens bzw. der Fähigkeit, sich stärker als zuvor aufzurichten, stets optimistisch und tapfer nach vorne zu blicken und auf bessere Zeiten zu hoffen. An eine solch verzweifelte Tapferkeit und Kraft von seelisch beschädigten Menschen, die am Rande der Existenz stehen und mit großen Erwartungen in die Zukunft aus ihrer Heimat flüchten, hat man sich heutzutage bedauerlicherweise schon fast gewöhnt. Man nimmt ihre Schicksale oft nur noch als mediales Grundrauschen wahr. Die Menge von Flüchtlingen, die in extrem traumatischem und prekärem Zustand beispielsweise über das Mittelmeer nach Italien und dann nach Europa ankommt und die auch in unterschiedliche ungastliche und oft nicht geeignete Aufnahmelager aufgenommen wird, ist leider nur ein Indiz dafür, dass sich in der Geschichte ähnliche Muster wiederholen. „Lagerfeuer“ und „Westen“ können und sollten deswegen als äußerst aktuelle Parabeln verstanden werden.

Robin-M. Aust

„Hier ist Aufhängen und In-den-Fluß-sprin­gen“– Ritual und Manie, Exzess und Eskapis­mus in Thomas Bernhards „Gehen“ (1971) und Barbi Markovićs „Ausgehen“ (2009) 1. Einleitung Setzt man sich mit Manifestationsformen von Störung und Traumatisierung in der Literatur auseinander, führt – wohl oder übel – kein Weg an Thomas Bernhard vorbei. Bernhards Protagonisten sind bekanntermaßen allesamt ver- und gestörte Individuen: sie verschanzen sich in ihren eigenen Lebenskerkern; isolieren sich von der sie bedrängenden Realität und versuchen dadurch, eigenen wie auch kollektiven Traumata zu entkommen. Nicht ohne Grund weisen Bernhards Erzählungen und Romane schon in ihren Titeln auf das werkübergreifende Thema und ihre spezifische Ästhetik hin: „Frost“ (1963), „Die Kälte. Eine Isolation“ (1981), „Der Untergeher“ (1983), „Auslöschung. Ein Zerfall“ (1986) – und, natürlich, „Verstörung“ (1967). Gegenstand dieses Beitrags sollen aber nun zwei Texte sein, die durch 38 Jahre und unterschiedliche Kulturkreise getrennt sind; gleichzeitig stehen sie aber in einer engen intertextuellen Beziehung zueinander: zum einen Thomas Bernhards Erzählung „Gehen“1, die 1971 bei Suhrkamp erschien, zum anderen Barbi Markovićs Erzählung „Ausgehen“2, die 2009 ebenfalls bei Suhrkamp erschien. Beide Texte scheinen auf den ersten Blick weniger paradigmatisch für das Thema Störungen des ‚Selbst‘ zu sein, als die eingangs erwähnten Bernhard-Texte: der im Zentrum des Texte stehende, vermeintlich alltägliche Zeitvertreib des Spazierengehens und Feierngehens weist vorerst nicht auf eine Verstörung hin. Bernhards Text erzählt die Geschichte dreier Männer, Hollensteiner, Karrer und Oehler, die sich ein vermeintlich ungewöhnliches Hobby teilen: sie spazieren miteinander auf festgelegten Wegen, zu festgelegten Orten und philosophieren dabei über festgelegte Themen. Wie so häufig bei Bernhard ist die erste Ebene

1 Bernhard, Thomas: Gehen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1971 [im Folgenden unter der Sigle „G“ im Text]. 2 Marković, Barbi: Ausgehen. Aus dem Serbischen von Mascha Dabić. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2009 [im Folgenden unter der Sigle „A“ im Text]. https://doi.org/10.1515/9783110683028-028

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der Handlung bereits in den ersten Zeilen abgehandelt. „Gehen“ setzt – wie oft in Bernhards Texten – zum Zeitpunkt einer Normabweichung im sonst monotonen Leben der Figuren ein: Während ich, bevor Karrer verrückt geworden ist, nur am Mittwoch mit Oehler gegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Karrer verrückt geworden ist, auch am Montag mit Oehler (G, 7).

Grund für diese Normabweichung ist der Nervenzusammenbruch Karrers in einem Hosengeschäft, welcher daraufhin in die Wiener Nervenheilanstalt Steinhof eingeliefert wird. Der Auslöser für jene Normabweichung wiederum ist der Selbstmord des Chemikers Hollensteiner, der einige Zeit zuvor geschah. Im Vergleich dazu steht Markovićs Erzählung, die bereits mit dem Titel und den ersten Seiten darauf hin deutet, dass es sich hierbei um eine „radikale Umschrift“3, einen Remix, von Bernhards Erzählung handelt. Markovićs Text beginnt ähnlich: Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus (A, 7).

Ähnlich verhalten sich auch die übrigen Textstellen zueinander: Marković macht aus Bernhards obsessiven Gehern Wort für Wort nicht weniger obsessive Ausgeher, verlagert die Handlung von Wien in die Belgrader Partyszene, behält aber die grobe Plotstruktur des Textes bei. Wie bei Bernhard wird auch bei Marković eine ritualisierte Alltagshandlung zum Lebenskerker, die sprachlich analog vermittelt wird. Beide Texte setzen sich darüber hinaus – unter unterschiedlichen Vorzeichen – mit spezifischen Formen von Nachkriegsverstörung und -traumatisierung auseinander. Nachfolgend sollen zwei Thesen genauer überprüft werden, die die Texte als Dokumente von Störungen lesbar machen. Zum einen wird davon ausgegangen, dass Bernhards Erzählung „Gehen“ auf der Ebene der histoire wie auch auf der Ebene des discours die Traumatisierung der Weltkriegsgeneration in Österreich vertextlicht. Manifestationsformen dieser Traumatisierung sind unter anderem Sprachkrise und Wiederholungszwang. Zum anderen wird angenommen, dass Markovićs „Ausgehen“ das Thema von Bernhards Erzählung beibehält, die gesamte Handlung jedoch in das Serbien der 2000er Jahre nach den Jugoslawienkriegen verlagert. Der Text ergänzt die diegetische und die erzählerische Inszenierung von (Ver-)Störungen des Weiteren um eine

3 Simonek, Stefan: Remix als Verfahren der Popliteratur (am Beispiel von Thomas Bernhard und Barbi Marković). In: Slawische Popkultur. Hrsg. von Jolanta Doschek und Stefan Simonek. Wien: Polnische Akademie der Wissenschaften / Wissenschaftliches Zentrum Wien 2015, S. 169 – 184, hier: S. 170.

Thomas Bernhard „Gehen“ und Barbi Marković „Ausgehen“ 

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materiale und intermediale Komponente. Techniken und Ästhetiken der Popkultur kommt dabei eine textgenetische, ästhetische, aber auch narrative Funktion zu: Bei Marković repräsentieren das Überdecken, die Transformation und popkulturelle Praktiken selbst Verdrängungsmechanismen.

2. Trauma und Vertextlichung in „Gehen“ (1971) „Gehen“ erzählt die Geschichte dreier Männer, die ihre eigene und die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs bewältigen müssen – oder eher: nicht bewältigen können. Alle drei Protagonisten sind nicht in der Lage, den euphorisch bejubelten Anschluss an NS-Deutschland, die Massenauslöschung der Juden und anderer Bevölkerungsgruppen sowie die weiteren Verluste im Laufe der alliierten Massenbombardements zu verarbeiten. Die Gründe für ihre Verstörung werden jedoch nicht ausgesprochen, sondern durch ihr augenscheinliches Verschweigen und einzelne, subtile Signale erst in den Fokus gerückt. „Gehen“ zeigt – durch alle Chiffrierung, Verschachtelung und „a-mimetische[]“4 Zerfaserung des Erzählten – die allgemeine Unfähigkeit, die abgründige Realität und Wahrheit zu ertragen, über sie zu reflektieren und sie in konkreten Begriffen zu erfassen. Die drei im Text verhandelten Schicksale repräsentieren die für Bernhard einzig möglichen, wenn auch ‚bernhardtypisch‘ pervertierten Strategien der Vergangenheitsbewältigung. Sie illustrieren gleichzeitig aber auch Folgen und Symptome traumatischer Störungen: Selbstmord, Isolation durch ‚Wahnsinn‘ sowie Ritual und Sprachlosigkeit.5 Die genannten Folgen und Symptome sollen nachfolgend anhand von Textbeispielen verdeutlicht werden. 1. Selbstmord: Der geniale Chemiker Hollensteiner nimmt sich das Leben, weil er in Österreich – nach Budgetkürzungen – nicht mehr forschen kann. Warum er zu dieser Radikallösung greift und seine Forschung nicht etwa in Deutschland fortsetzt, begründet der Text nur andeutungsweise: Zum einen ist Hollensteiner in ambivalenter Weise an Österreich gebunden, das er als Land liebt, als Staat jedoch hasst. Zum anderen wird suggeriert, dass Hollensteiner zu einer von den

4 Weymann, Ulrike: Eine Frage des Rhythmus und des Klangs? Thomas Bernhards Erzählung Gehen als narratologisches Experiment in intermedialer Versuchsanordnung, in: Textprofile intermedial. Hrsg. von Dagmar von Hof und Bernhard Spies, Frankfurt/M.: Peter Lang 2008, S. 201 – 219, hier: S. 205. 5 Für eine umfassende, diverse formale, inhaltliche und diskursive Aspekte von Gehen betrachtende Analyse vgl. u. a. Fischer, Bernhard: Gehen von Thomas Bernhard. Eine Studie zum Problem der Moderne, Bonn: Bouvier 1985.

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Nationalsozialisten verfolgten Minderheit gehörte – und „bevor ein solcher Mensch nach Deutschland geht, bringt er sich um“ (G, 34). 2. Isolation durch Wahnsinn: Während Hollensteiner Selbstmord begeht, führt Karrers Störung „unweigerlich zu plötzlicher Geistesverrücktheit“ (G, 13). Der „Zustand der vollkommenen Gleichgültigkeit“ (G, 101), letztlich also Numbing, ist Karrers einzige mögliche Bewältigungsstrategie. Dieser Zustand ist die Konsequenz der vermeintlichen Paradoxie, dass der Alltag in Österreich oberflächlich nach allen „moralischen, ideologischen und politischen Blessuren des Dritten Reiches“6 weitergeht und überall „erschreckende[] Künstlichkeit“ (G, 100) herrscht: Wie sie deine Mutter zusammengeschlagen haben und wie sie deinen Vater zusammengeschlagen haben, sagt Karrer, sagt Oehler. Diese Hunderte und Tausende von Sommer und Winter festverschlossenen Fenster, sagt Karrer, so Oehler und sagt es so ausweglos wie nur möglich. […] Dieses Aufschreien und dieses Niederfallen und dieses Schweigen in der Klosterneuburgerstraße, das auf dieses Aufschreien und Niederfallen folgte, so Karrer, sagt Oehler. Und dieser fürchterliche Schmutz! sagt er, als wenn es nichts anderes mehr auf der Welt für ihn gegeben hätte als Schmutz. Gerade die Tatsache, daß in der Klosterneuburgerstraße alles immer so gewesen ist wie es ist und daß man, dachte man daran, immer befürchten mußte, daß es immer dasselbe bleiben wird, so Karrer, sagt Oehler, hatte ihm nach und nach die Klosterneuburgerstraße zu einem unerhörten und unauflösbaren Problem gemacht (G, 96 – 97).

Die gesamte kurz vor Ende der Erzählung positionierte Passage markiert – ähnlich dem seitenlangen Satz kurz vor Ende von Bernhards „Holzfällen“ – den Höhepunkt der erzählerischen Klimax von „Gehen“. Inhaltlich wird die Erklärung für Karrers Verhalten verdeutlicht: Die Konfrontation mit dem seit Ende der nationalsozialistischen Herrschaft „in dreißig Jahren zweifellos vergrößerten Schmutz“ (G, 100) sorgt bei Karrer und Oehler für eine „immer größere Unruhe“ (G, 100). Nicht einmal der Besuch ihrer Stammwirtschaft ist ihnen noch möglich. Die Erinnerung, aber auch die überall mögliche Begegnung mit „diese[n] […] alten Menschen“ (G, 95 – 96), den durch Glück oder Kollaboration Überlebenden, verstärkt Karrers Krise noch weiter. Diese Belastung trägt letztlich zum Kollaps bei. Auf der Ebene der erzählerischen Inszenierung dieser Klimax fallen vor allem die teils Satz für Satz wechselnden, immer weiter zerfasernden, metadiegetischen Erzählebenen auf: sowohl Scherrer, Karrer und Oehler als auch dem homodiegetischen Erzähler werden Passagen zugeschrieben. Auch hier finden sich die für Bernhard-Texte typischen Dichotomien, die in diesem Falle primär genutzt werden, um

6 Müller-Funk, Wolfgang: Kontext, Intertextualität und Übersetzung. Thesen und Hypothesen samt einer exemplarischen Analyse: Thomas Bernhards Gehen, Barbi Marković’ Izlaženje. In: Literatur im Kontext. Ein gegenseitiges Entbergen. Hrsg. von Herbert van Uffelen u. a. Wien: Praesens 2010, S. 143 – 162, hier: S. 148.

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die Zeit vor und nach den Pogromen in der Klosterneuburgerstraße zu markieren: Erst gehen die Bewohner der Straße „einkaufen“ (G, 95), dann gehen „sie nicht einkaufen“ (ebd.) – oder besser: nicht mehr. Diese Menschen werden nicht nur geboren, sie sterben – für Karrer sichtbar – auch in der Klosterneuburgerstraße. Diese Leben bleiben lediglich erfolglose, zu früh beendete „Versuche (zu leben)“ (ebd.). Zentral ist in dem Kontext ebenfalls die mehrfach wiederholte Gegenüberstellung von „Sommer“ (ebd.) und „Winter“ (ebd.), die mit dem Entstehen und Vergehen von Leben assoziiert werden kann. Auch das explizit gewaltsame Sterben dieser Menschen wird über Gegensätze – diesmal sogar mehrschichtig – illustriert: „Dieses Aufschreien und dieses Niederfallen und dieses Schweigen […], das auf dieses Aufschreien und Niederfallen folgte“ (G, 96 – 97). Das akustische „Aufschreien“ (G 96 – 97, Hervorhebung von R.-M.A.) markiert den letzten Moment vor dem Tod, danach herrscht „Schweigen“ (G, 97). Gleichzeitig enthält der Begriff „Aufschreien“ (G, 96 – 97, Hervorhebung von R.-M.A.) auch eine räumlich interpretierbare Komponente, die dem „Niederfallen“ (ebd., Hervorhebung von R.-M.A.) gegenübersteht und auf diese Weise die fatalen, für Karrer lebensverändernden Momente plastisch abbildet. Das Fortwirken dieser Erlebnisse in Karrers Leben wird in den folgenden Passagen sowohl inhaltlich erläutert als auch begrifflich verknüpft: So berichtet Karrer beispielsweise vom eigenen „Aufwachen“ (ebd.) und „Einschlafen in der Klosterneuburgerstraße“ (ebd.), also unter Verwendung von parallelisierten Gegensatzpaaren, die – wie auch „Sommer“ (G, 95) und „Winter“ (ebd.) – die Verweise auf den Beginn und das Ende des Lebens metaphorisch aufrechterhalten. 3. Ritual und Sprachlosigkeit: Das Schicksal der chronologisch und hierarchisch dritten Figur Oehler bleibt (wie das des Erzählers) zum Ende der Erzählung offen. Er ist anders als Hollensteiner noch am Leben und kann sich im Gegensatz zum in der Irrenanstalt „wie ein Vieh eingesperrt[en]“ (G, 63) Karrer frei bewegen. Er kann allerdings nur weiterleben, weil er „nicht alles bezeichnen und dadurch niemals absolut denken“ (G, 32) kann und die „Kunst“ beherrscht, „das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen“ (G, 26): „Hätte ich Verstand, […] hätte ich ununterbrochen Verstand, […] hätte ich mich längst umgebracht“ (G, 15). Die Ursache für das zwanghafte Gehen der Protagonisten erläutert der Text über knappe Verweise auf zwei dichotome Konzepte der Philosophie: Ludwig Wittgensteins Logik und Ferdinand Ebners damit kollidierende „Dialogik“.7 Die Kombination der sehr selektiven Interpretationen dieser Konzepte macht Oehler,

7 Casper, Bernhard: Das dialogische Denken. Eine Untersuchung der religionsphilosophischen Bedeutung Franz Rosenzweigs, Ferdinand Ebners und Martin Bubers. Freiburg/Basel/Wien: Herder 1967, S. 199.

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Karrer und den Erzähler erstens zu pervertierten Flaneuren und führt zweitens zu einer allumfassenden Begriffsunsicherheit und Sprachlosigkeit. Immer wieder klaffen offiziell tradierte und erinnerte Realität für die Protagonisten auseinander: Anschluss-Euphorie kollidiert mit Opferthese, Menschenvernichtung mit Geschichtslügen. Karrer steht so vor unlösbaren Fragen: Wohin sind alle diese Menschen, Freunde, Verwandte, Feinde, hingekommen? habe er sich gefragt und immer weiter und weiter nach Namen gesucht, auch in der Nacht habe ihm dieses Fragen nach diesen Namen keine Ruhe gelassen. […] Plötzlich sei ihm klar gewesen, daß es alle diese Leute, die er suchte, nicht mehr gibt. […] [E]s hat keinen Sinn, diese Leute zu suchen, weil es sie nicht mehr gibt (G, 82 – 83).

Karrer verzweifelt nicht nur an der Frage nach dem ‚Wohin‘, sondern auch an der Frage nach dem ‚Warum‘ der Ereignisse, die letztlich zur industriell organisierten Menschenvernichtung führten. Hinsichtlich dieser Fragen greift Wittgensteins Postulat nicht mehr, dass auf jede nur mögliche Frage auch eine Antwort zu finden sei.8 Es gibt für Karrer und Oehler nicht die „Lösung des Problems des Lebens“9, die Wittgenstein in seinem „Tractatus“ postuliert – nur noch das „unerhörte [] und unauflösbare [] Problem“ (G, 96 – 97). Im Angesicht der ganz realen nationalsozialistischen Vernichtungsorgien versagt in „Gehen“ jede Logik:10 Sehen Sie, sagt Oehler, wir können, gleich was für eine Frage, stellen […] [und] die Frage nicht beantworten, wenn wir sie wirklich beantworten wollen, insoferne ist überhaupt keine Frage aus der Begriffswelt zu beantworten. (G, 81)

Wenn sich das Schicksal von „Hunderte[n] und Tausende[n]“ (G, 82) von Menschen nicht in Worte fassen lässt, sind auch alle anderen sprachlichen Begriffe unnütz, bleiben letztlich nur „Gebrauchsbegriffe oder […] Hilfsbegriffe“ (G, 91, vgl. ebenfalls 15 – 16). Dass Karrer gerade im Rustenschacher’schen Hosenladen ‚verrückt‘ wird, wirkt auf den ersten Blick zwar komisch und bizarr, kommt somit aber auch nicht von ungefähr: Rustenschachers „sogenannte [] neue [] Hosen“ (G, 54) weisen für Karrer „unübersehbare [] schüttere [] Stellen“ (ebd.) auf und sind für ihn „tschechoslo-

8 Vgl. Satz 6.5: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen. […] Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden“ (Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, S. 114). 9 Vgl. Satz 6.521: „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems.“ (Wittgenstein, Tractatus. 1966, S. 114). 10 Vgl. Satz 6.522: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ (Wittgenstein, Tractatus. 1966, S. 115).

Thomas Bernhard „Gehen“ und Barbi Marković „Ausgehen“ 

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wakische Ausschußware“ (G56). Sie werden aber vom Verkäufer ausdrücklich als „erstklassigste englische [] Stoffe“ (ebd.) bezeichnet und im Hintergrund unablässig von Rustenschacher etikettiert – für den Hosenhändler lediglich ein Trick zur Steuerersparnis (vgl. G, 59), ist es für den labilen Karrer ein Schlüsselreiz: eine unerträgliche Folge von fehlgeschlagenen oder gar absichtlich falschen deklarativen, illokutionären Akten.11 Oehler klammert sich jedoch weiterhin an seine Selektion der Wittgenstein’schen Axiome. Er scheitert am Versuch, die eigentlich auf naturwissenschaftliche und mathematische Probleme bezogenen Sätze für seine Lebensprobleme fruchtbar zu machen. Seine Sprachkrise ist somit gewissermaßen wieder logische Konsequenz: Die Protagonisten sind nicht in der Lage, den Fehler in der „ganz einfache[n] Rechnung“ (G, 45), die sie nicht lösen können, zu finden. Sie bleiben der von ihnen produzierten massiven Wortmenge zum Trotz beim letzten Wittgenstein’schen Satz haften: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“12 Dies schlägt sich auch in der Sprache des Textes nieder und formt die erzählerische Vermittlung: Der Erzähler zitiert Karrer, Karrer zitiert Oehler und so weiter; alle bleiben dennoch inhaltlich sprachlos – das Trauma lässt sich auch aus dritter oder vierter Hand nicht in Worte fassen. Die Sprache selbst ist einerseits zwanghaft überdeterminiert und von den ‚bernhardtypischen‘ syntaktischen Schleifen und Reformulierungen durchzogen. Das erzeugt andererseits jedoch keine absolute Begriffsschärfe – ganz im Gegenteil: Für Bernhards Protagonisten bleibt „alles nur […] ein Sogenanntes“ (G, 75). Die Sprache gerät im wahrsten Sinne des Wortes in einen „semantischen Leerlauf“:13 Sie ist ebenso durchorganisiert, aber eben auch zirkulär, rekursiv und letztlich ergebnislos wie Oehlers und Karrers Tagesgestaltung und Lebenszweck des Gehens.14 Die Protagonisten wandeln im übertragenen wie im wörtlichen Sinne auf längst ausgetretenen Pfaden, die sie nur durch den Verlust ihrer räumlichen Beweglichkeit durch Internierung im Irrenhaus oder Selbstmord verlassen können.

11 Vgl. hierzu auch die zu einem ganz ähnlichen Schluss kommende Interpretation in Weymann, Ulrike: Eine Frage des Rhythmus und des Klangs? 2008, S. 215. 12 Wittgenstein, Tractatus. 1966, S. 115. 13 Weymann, Ulrike: Eine Frage des Rhythmus und des Klangs? 2008, S. 201. 14 Das Phänomen des sprachlosen, obsessiven Gehers findet sich auch im Beitrag von Anda-Lisa Harmening in diesem Band.

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3. Trauma und Vertextlichung in „Ausgehen“ (2009) Bereits das dem Text vorangestellte Motto weist darauf hin, dass Barbi Marković „Gehen“ von Thomas Bernhard geremixt hat:

Abbildung 1: Motto

Der Gebrauch des Begriffs Remix wird nicht nur durch das Thema und das (post-) adoleszente Milieu der elektronischen Musik, in dem der Text spielt, evident, sondern auch durch die allgemeine, ebenfalls ostentativ hybride Ästhetik des Textes. Auch der Mechanismus Remix selbst, der aus „Gehen“ eben „Ausgehen“ macht, basiert – zumindest in seiner Benennung – auf einer genuin popkulturellen, aus dem Bereich der elektronischen Musik importierten Technik: Remix bezeichnet hier in seiner ursprünglichen Bedeutung die Transformation eines bestehenden Stückes eines Musikers in ein darauf basierendes, verfremdetes, neues Musikstück im distinkten Stile eines anderen Künstlers. Unter dieser ‚Neubearbeitung‘ scheint aber immer wieder die Folie des Originals durch. Ostentative Hybridität und Heterogenität sind expliziter Teil der Ästhetik des Remix – und auch im Falle von „Ausgehen“ ist es gerade die Hybridität, die einen Teil der Botschaft mitformuliert.

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Insgesamt handelt es sich bei „Ausgehen“ aber um eine größtenteils stringente Transposition. Einzelne Elemente des Prätextes werden Wort für Wort konzeptuell verändert; der Großteil der Textmasse aber wird übernommen: Markovićs Remix ist das Ergebnis mehrerer, vor allem heterodiegetischer Transpositionen 15 der Handlungskonstituenten: Die Figuren sind größtenteils weiblich und jünger als in Bernhards Vorlage. Sie existieren in einem anderen sozialen Milieu, in einer anderen Stadt und in einem anderen Land. Dies zieht konsequenterweise eine Kette pragmatischer Transformationen16 nach sich: „Bernhards ordensgleiche, eminent kopflastige Männerwelt wird so in die viel stärker an Körperlichkeit und Alltag orientierte Lebenswelt Jugendlicher transformiert“.17 Aus Wien wird Belgrad; aus Oehler wird Milica und aus dem in Steinhof eingelieferten Karrer wird Bojana, die „vom Clubben genug“ (A, 7) hat: Sie „klebt“ (ebd.) nun „vor der Glotze“ (ebd.), nachdem sie sich auf einem Plastikman-Konzert18 in einer Tirade gegen alle Anwesenden erging. Aus dem „außerordentlichsten“ (G, 23) Chemiker Hollensteiner wird weiterhin der „fanatische[] Clubber Bane“ (A, 34). Der bringt sich jedoch nicht um, sondern wird aus Langeweile schwul, worüber seine (nun Ex-)Freundin Bojana verzweifelt. Den vermeintlichen geistigen Höchstleistungen wird die Party- und oberflächliche Gesellschaftstauglichkeit gegenübergestellt und aus dem obsessiven, alltäglichen Gehen wird das zur Manie gewordene, allabendliche Ausgehen – „Samstag ins Basement (welches fancy ist) und am Sonntag […] ins Idiot (welches trash ist)“ (A, 8). Kurz: In Bernhards Prätext finden sich Geistesmenschen, die das Denken zerdenken und darüber verzweifeln – bei Marković dagegen ‚sharpe‘ „Individualclubber“ (A,  37) und „kopflose[] Raverinnen“ (A,  32) mit ihren trivialen „Clubbingaktivität[en]“ (A, 33). Durch die Transformation der „essentielle[n] Suchbewegung des Gehens […] in eine Form des Lifestyles und des Freizeitvergnügens“19 entsteht natürlich eine gewisse Fallhöhe von hochgeistiger Vorlage hin zum popkulturellem Transform – und somit auch Komik. Komisch wird Markovićs Remix ebenso durch die Kollision von Bernhards überdeterminierter, sperriger Syntax und der von Anglizismen durchzogenen Sprache der Clubkultur. Hier aber lediglich

15 Vgl. vor allem. Genette, Gérard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993, S. 403 – 425. 16 Vgl. vor allem Genette, Palimpseste. 1993, S. 425 – 431. 17 Simonek, Remix als Verfahren der Popliteratur. 2015, S. 175. 18 Plastikman, bekannt vor allem unter dem Namen Richie Hawtin (geb. 1970), ist einer der stilprägendsten und bekanntesten Techno-DJs und -Produzenten und gilt als einer der Pioniere der elektronischen Tanzmusik. Vgl. hierzu ebenfalls Simonek: Remix als Verfahren der Popliteratur. 2015, S. 178 – 179. 19 Simonek, Remix als Verfahren der Popliteratur. 2015, S. 170.

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von einer „Bernhard-‚Parodie‘“20 oder „‚parodistische[n]‘ Rekontextualisierung“21 eines ‚Bernhard-Fans‘ zu sprechen, würde jedoch durchaus zu kurz greifen. Das Konzept des Textes beschränkt sich nicht nur darauf, das hohe Niveau der Vorlage in einen neuen Kontext zu setzen, für ein jüngeres Publikum zu aktualisieren oder gar schlicht ins Niedere und Alltägliche zu wenden.

3.1 Krieg Auch Markovićs Text ist das literarische Zeugnis einer kriegsverstörten Generation. Banes, Bojanas und Milicas „sogenannte[s] Cubbing“ (A, 75) kann nicht ausschließlich als eskapistische Alternative zum Arbeitsalltag (vgl. A, 82) betrachtet werden: „[W]ir wissen, daß das Ausgehen nichts mit Entspannen zu tun hat, wenn man auch bei den Partys gewissermaßen (armseligen) Spaß haben kann“ (A, 88) – es stellt sich die Frage, womit das Ausgehen dann zu tun hat. In „Gehen“ müsste man – sagt Karrer – „um dreißig oder um wenigstens zwanzig Jahre jünger sein“ (G 99), um das Leben „auszuhalten“ (ebd.), um also nicht an den Nachwehen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges zu verzweifeln. Die Generation der ca. 18- bis  20-Jährigen in „Ausgehen“ flieht hingegen vor einer Reihe von Kriegen ins Belgrader Nachtleben, von dem sie 2006 noch viel unmittelbarer betroffen ist: Die Jugoslawienkriege liefern den historischen Kontext für Markovićs Transform; die daraus entstehenden Traumatisierungen liefern die unmittelbaren Ursachen für das obsessive Feiern der Protagonisten. Einige zentrale Daten dieser Zeit: 1991 beginnt der Kroatienkrieg; 1992 der Bosnienkrieg. Beide Kriege dauern bis 1995 an. Im Juli 1995 kommt es zum schwersten Kriegsverbrechen seit Ende des zweiten Weltkriegs: während des Massakers von Srebrenica werden 8.000 Menschen getötet. 1998 beginnt der Kosovokrieg und dauert bis 1999 an; im Januar des gleichen Jahres kommt es zum Massaker von Racak. Am 24. März 1999 beginnt der – vermutlich völkerrechtswidrige – Luftkrieg der NATO gegen Jugoslawien. Belgrad wird – wie auch andere Städte – im Rahmen der Operation Allied Force zu weiten Teilen zerstört. Nach Angaben der NATO starben alleine durch diesen Angriff 5.000 Menschen. Insgesamt verloren durch alle Kriege im Balkangebiet an die 150.000 Menschen ihr Leben. All dies ist der Generation der jugendlichen Protagonisten ebenso unmittelbar präsent wie die „exzessive Gewalt der serbischen Polizei gegen Zivilisten und fried-

20 Müller-Funk, Kontext, Intertextualität und Übersetzung. 2010, S. 143. 21 Ebd., S. 147.

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liche Demonstranten“22 oder die „terroristischen Handlungen durch die UCK“.23 2006, im Jahr des Ersterscheinens von „Ausgehen“, dauern die Kriegsverbrechenund Menschenrechtsprozesse am Internationalen Gerichtshof in Den Haag noch an; ebenfalls 2006 verstirbt Slobodan Milošević noch vor Abschluss des gegen ihn gerichteten Prozesses u. a. wegen Völkermordes. Der Handlungsort beider Texte ist mit der dahinterstehenden Botschaft folglich eng verwoben. Die brigittenauer Klosterneuburgerstraße als Handlungsort von „Gehen“ ruft die Judenverfolgung in Wien chiffriert ab. Belgrad steht dagegen stellvertretend für die omnipräsente Zerstörung und Perspektivlosigkeit im Serbien der 2000er Jahre.24 Bojana, Milica und die Erzählerin gehen zwanghaft die Takovska in der Belgrader Altstadt entlang (vgl. A, 89). Auf dieser Prachtstraße finden sich – ähnlich der bei Bernhard häufig referenzierten Wiener Ringe – das Nationaltheater, Nationalmuseum oder das Haus der Nationalversammlung – und damit Symbole für die zugrundegerichtete Vergangenheit Belgrads wie auch für die „Selbstzerstörung Serbiens“.25 Und mehr noch als Wien um 1970 ist das Belgrad von „Ausgehen“ im Jahre 2006 von diesen Kriegen gezeichnet:

Abbildung 2: Verteidigungsministerium

22 Becker, Peter: Zeittafel ‚Die Jogoslawien-Kriege‘: In: 1914 und 1999 – Zwei Kriege gegen Serbien. Hrsg. von Peter Becker. Baden-Baden: Nomos 2014, S. 353 – 375, hier: S. 359. 23 Vgl. Becker, ‚Die Jogoslawien-Kriege‘ 2014, S. 356. 24 Vgl. Loquai, Heinz: Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999 (Auszüge). In: 1914 und 1999 – Zwei Kriege gegen Serbien, Hrsg. von Peter Becker. Baden-Baden: Nomos 2014, S. 329 – 352 sowie Becker: Zeittafel ‚Die JogoslawienKriege‘ 2014, S. 353 – 375. 25 So der Titel des Kapitels 3.4 in: Sundhausen, Holm: Geschichte Serbiens. 19. – 21. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2007, S. 379 – 450.

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Das Onlineangebot der Zeitung „Welt“ bewirbt Belgrad und sein Partyangebot im Jahre 2016, 10 Jahre nach Ersterscheinen von „Ausgehen“, dagegen wie folgt: „[F]ür viele hat der Name Serbien im Zusammenhang mit den Jugoslawienkriegen noch immer einen negativen Beigeschmack. Die neue Generation scheint sich jedoch mit dieser Vergangenheit nicht mehr identifizieren zu wollen – man gibt sich offen, international und lebenslustig. So gehen viele junge Serben ins Ausland und bringen die dort gemachten Erfahrungen zurück in die Heimat, und jeder Zweite scheint ein Fach zu studieren, das ‚international‘ im Namen trägt. Wie lebenslustig Belgrads junge Szene ist, zeigt sich vor allem nach Einbruch der Dunkelheit. Es gibt hier keinen Tag, an dem nichts los ist. Der Traum der siebentägigen Partywoche – in Belgrad wird er wahr.26

Bojana, Milica und die Erzählerin gehen aber – im Widerspruch zu diversen Werbetexten über das „spottbillig[e]“27 Belgrader Nachtleben – nicht feiern, um die eigene Heimat für sich und Touristen attraktiver zu machen. Partys und vermeintliche ‚Lebenslust‘ sind hier nichts als oberflächliche „totale [] kollektive[] Halluzination“ (A, 73) und „durch nichts hervorgerufene [] Ergüsse der guten Laune“ (A, 54) – also Ausdruck von Manie. Die positive Art der Vergangenheitsbewältigung „einer überlauten postsozialistischen Jugendkultur“28 wird bei Marković ins Negative, ins Manische gewendet – sowohl Gehen als auch Ausgehen sind letztlich beides Mittel der Realitätsflucht. Das medial als „wahre Arm-aber-Sexy-Stadt“29 inszenierte Belgrad wird durch die Augen der Protagonisten zum Inbegriff der Oberflächlichkeit, Tristesse und „existenzielle[n] Langeweile“.30 Belgrad bleibt dennoch ein Ort, den die Protagonisten nicht hinter sich lassen können: Du weißt, wer alles versucht hat (wegzugehen) und wer es noch immer versucht und nicht schafft, die ganze Stadt versucht, aus der Stadt wegzugehen, die ganze Stadt tut nichts anderes, […] so Bojana zu Milica, sagt Milica. Hier bist du in der Oberstufe ausgegangen, und hier ist ein Freund von dir an einer Überdosis gestorben, und du hast einige Freunde überlebt, und die anderen werden dich überleben, so Bojana zu Milica (A 92).

Diesen Ort zu verlassen, ist – wie bei Bernhards Hollensteiner – durch Heimatverbundenheit oder schlicht die finanzielle Situation nicht möglich: „Die Arbeitslo-

26 Wilhelm, Katharina: Serbien: Belgrad ist die wahre Arm-aber-Sexy-Stadt. In: Welt.de (14.04.2016) https://www.welt.de/reise/staedtereisen/article154355838/Zum-Ausgehen-hat-man-in-Belgradimmer-genug-Geld.html (Zugriff am 07.01.2018). 27 Ebd. 28 Müller-Funk, Kontext, Intertextualität und Übersetzung. 2010, S. 157. 29 Wilhelm, Serbien 2016. 30 Müller-Funk: Kontext, Intertextualität und Übersetzung. 2010, S. 158.

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sigkeit in Serbien liegt bei 26 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent“. 31 Gedanklich wie räumlich bleiben die Protagonisten somit auf ihre Heimat fixiert: „Dieses Problem, daß man in Belgrad nichts verändern kann, beschäftigt dich dann das ganze Leben, soll Bojana gesagt haben, und du beschäftigst dich mit nichts anderem mehr.“ (A, 94) Ob nun Isolation oder Exzess – mit Bernhards Kunstmaler Strauch aus Frost gesprochen, ließe sich über die Österreichische Nachkriegszeit wie auch über Markovićs Bild der Belgrader Realität sagen: „Hier ist Arbeit und Armut und sonst nichts. Hier ist Aufhängen und In-den-Fluß-springen.“32 Das Weggehen aus Belgrad ist nicht möglich, also bleibt das Ausgehen für die Jugend die letzte Alternative zum Selbstmord (vgl. A, 79). Das Ausgehen wird in seiner de facto Alternativlosigkeit ebenso zu Ritual und Obsession, wie auch das Gehen bei Bernhard: Auf einmal wurde mir klar, daß ich in dieser Stadt nichts mehr zu suchen habe, sagt Milica, aber weil ich schon einmal hier bin und das leider vielleicht für immer, kann ich mich nicht umbringen und aufhören auszugehen und aus dem Haus rauszugehen (A, 79 – 80).

Mehr noch: Das Gehen wird bei Bernhard zur Strategie, eine Möglichkeit der Vergangenheitsbewältigung zu erdenken. Das Ausgehen wird bei Marković stattdessen negativ besetzt zur Strategie, nicht nur Langeweile (vgl. A, 40) oder Selbstbeobachtung (vgl. A, 72), sondern das Denken an sich zu verhindern: Das Clubbing braucht das Denken nicht, sagt Milica, nur unsere Eitelkeit denkt das Denken ins Clubbing hinein. […] Die Kunst ist also zweifellos die, das Unerträgliche zu ertragen, und, was entsetzlich ist, nicht als solches, Entsetzliches, zu empfinden (A, 11 – 13).

Man denke hier auch an Ingeborg Bachmanns Rede zum Büchner-Preis 1964: Bachmann formuliert ein ganz ähnliches Symptom für das noch vom Wirtschaftswunder beschwingte Nachkriegsberlin. Es lässt sich aber ebenso auf die „Weltpartystadt“33 Belgrad knapp 40 Jahre später beziehen: Es ist ein Fest, es sind alle eingeladen, es wird getrunken und wird getanzt, muß getrunken werden, damit etwas vergessen wird […]. Alle tanzen schweigend, die jungen Leute legen die Wangen aneinander. Dann trinken alle doch sehr viel, ein großer schwarzer Kater bäumt sich bis zur rosenverzierten Decke.34

31 Wilhelm, Serbien. 2016. 32 Bernhard, Thomas: Frost, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972, S. 163 – 164. 33 Wilhelm, Serbien. 2016. 34 Bachmann, Ingeborg: Ein Ort für Zufälle. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises

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Selbst das bei Bernhard betonte, ambivalente Gefühl der Heimatverbundenheit löst sich in diesem Kontext aber letzten Endes auf. Marković wendet Bernhards Passage über den Verlust einst gekannter Menschen in eine triste Reflexion über die Unerfüllbarkeit der eigenen und fremden Ansprüche, in einer tristen Großstadt, die vom Krieg, Völkermord, humanitären Katastrophen und ihren Nachwirkungen gezeichnet ist: Immer die gleichen Straßen, sagt Milica, […] mit immer den gleichen, schon lange, seit der Kindheit, bekannten Namen, […] immer die Straßen, wo man tagsüber nicht einen einzigen schönen Menschen sieht. Wo sind alle diese schönen Menschen, die ich in (Zeichentrick-) Filmen und Comics sehen kann und die ich auf Belgrader Straßen nicht sehen kann? fragte ich mich, sagt Milica (A, 79 – 80).

Für die Generation der Jugendlichen existiert – abgesehen vom Arbeiten und Feiern – keine andere Ablenkung als westlich-popkulturelle Ideale und Lebensentwürfe, die die eigene Identität nur weiter ausdünnen: Wo sind alle diese Menschen, Cyborgs, Aliens, Mutanten? habe ich mich gefragt und immer mehr und mehr Drogen genommen, und in keinem Zustand hat mich diese Frage in Ruhe gelassen. Gibt es sie etwa nicht? fragte ich mich. Wo sind alle diese superdünnen Superhelden, für die ich meine Freunde ohne mit der Wimper zu zucken in die Wüste schicken würde? Wenn ich nur einen einzigen solchen Menschen treffen würde (ebd.).

3.2 Ästhetik der Störung und Überlagerung Während in „Gehen“ zwar mehrfach chiffriert, aber deutlich auf den Anschluss Österreichs und den Zweiten Weltkrieg angespielt wird, überdeckt das unablässige Clubben in Markovićs Hypertext das gesamte Thema der Erzählung. Die Sprachlosigkeit wird somit noch potenziert – nicht ohne Grund bleibt der zentrale Verweis auf Wittgensteins Tractatus auch in „Ausgehen“ erhalten. Darüber hinaus ist Markovićs Text auch außerhalb der Diegese ein Dokument von Sprachkrise und Sprachlosigkeit: Auch die intermediale Ebene des Textes transportiert eine Ästhetik von Trauma und Verstörung, die mit einer popkulturellen Ästhetik gleichgesetzt wird. Insgesamt übernehmen popkulturelle Praktiken und Techniken die Rolle fehlgeschlagener Bewältigungsstrategien. Zentral ist hier das Prinzip der Überlagerung. Dies wird bereits vor Beginn der eigentlichen Erzählung hervorgehoben:

[1964]. In: Essays, Reden, Vermischte, Schriften, Anhang. Hrsg. von Christine Koschel, Inge von Weidenbaum, Clemens Münster. München: Piper 1978 (Werke; Bd. 4), S. 278 – 293, hier: S. 292.

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Abbildung 3: Umschlag

Abbildung 5: Umschlag

Abbildung 4: Umschlag

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So wird in der deutschen Taschenbuch-Erstausgabe ein bunter Graffiti-Schutzumschlag im wahrsten Sinne des Wortes über den eigentlichen, klassischen Suhrkamp-Buchdeckel gestülpt – bereits auf dieser materialen, paratextuellen Ebene überdeckt also die Pop- die Hochkultur, das Bunte überdeckt das Ernste.

Abbildung 6: A 15

Abbildung 7: A 86, Dateipfade

Erwähnenswert sind hier aber vor allem die in den Text eingestreuten Dateipfade, die sich in Bernhards Vorlage so natürlich nicht finden. Sie stellen schon durch

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den Wechsel der Schriftart einen in seiner Heterogenität markierten Fremdkörper im Layout des Textes dar:35 […] freilich hast du, weil du jetzt am Samstag und am Sonntag mit mir ausgehst, deine Gewohnheit sehr wohl ändern müssen, und zwar in einer für dich wahrscheinlich unglaublichen Weise, sagt Milica. Dub come save me\10-roots_manuva-witness_dubEINSTURZENDE NEUBAUTEN 2\Sound\1996 Ende Neu\03 – Die Explosion im Festspielhaus anna morozova – the bottom line. Dj Krush – Back In The Base\12 Dj Vadim – Call Me. dj hell – ebhm cd I – 09 – smith n hack – for disco play only.tuxedomoon\Divine\08. Queen Christina Martini Bros_flash (Tigas acid flashback mix) Gutbucket – Live in Vienna\09 – Tango Abstractions Es ist aber gut, sagt Milica, und sie sagt es in unmißverständlich belehrendem Ton, von größter Wichtigkeit für den Organismus, ab und zu und in nicht zu großem Zeitabstand, die Gewohnheiten zu ändern (A, 7 – 8).

Marković ergänzt hier erstens die „musikanalogen Strukturen“,36 also die durch Motivwiederholung, -schichtung und -variation an musikalische Kompositionsprinzipien erinnernde sprachliche Ästhetik des Prätextes. Sie erweitert zweitens das intermediale Bezugsfeld auf konkrete Musikstücke wie auch auf digitale Medien im Allgemeinen: Diese Dateipfade repräsentieren den Speicherort einer Musikdatei innerhalb einer digitalen Verzeichnisstruktur, beispielsweise auf einer Festplatte oder einem MP3-Player.37 Wie auch die musikalischen Satz- und Textstrukturen in Bernhards Prosatexten sind die Verweise in „Ausgehen“ extradiegetisch38 und nicht handlungskonstituierend in den Text eingebunden (vgl. dagegen auch A, 85). Dennoch formt die Selektion dieser intermedialen Bezüge die Botschaft der jeweiligen Texte mit. Diese Textblöcke enthalten größtenteils Musikstücke der Genres Techno, House und Elektro – sie passen also zum Milieu und erfüllen darüber hinaus

35 Vgl. zu den Unterschieden im Layout zwischen der serbischen Originalausgabe und der deutschen Übersetzung und ihrer Deutung Simonek: Remix als Verfahren der Popliteratur. 2015, S. 179 – 181. 36 Weymann, Eine Frage des Rhythmus und des Klangs? 2008, S. 202. 37 Wolfgang Müller-Funk und Stefan Simonek betrachten diese Dateipfade als Internet-Links, die ins Leere führen. Gegen diese Deutung spricht allerdings, dass die Verweisstruktur für URLs untypisch (fehlender http://-Schemapräfix, fehlende Domainangabe, Leerzeichen im Pfad, etc.), für einen Dateipfad nach dem FHS-/Unix-Schema, wie er bei Apples macOS- oder Linuxsystemen aber durchaus gängig ist. 38 Natürlich ist das Werk Bernhards durchzogen von intradiegetischen Verweisen auf Musikstücke und Musiker. Unter allen Künstlerfiguren in Œuvre Bernhards mag als prominentestes Beispiel das aus fiktiven und realen Konzertpianisten zusammenkomponierte Personal von „Der Untergeher“ (1983) gelten. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Viktoria Müller in diesem Band.

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unterschiedliche, atmosphärische Funktionen.39 Sie ersetzen weiterhin diejenigen Passagen, die Marković nicht aus dem Prätext übernimmt (vgl. bspw. A, 13 und G, 12) – die Musik überlagert, übertönt hier den Text sowohl inhaltlich als auch optisch; die Kommunikation von Inhalten geht im musikalischen Hintergrundrauschen unter. Zusätzlich sind in dieser Aneinanderreihung vorrangig elektronischer, tanzbarer Musikstücke auch prominente Musiker vertreten, die über ihre Position an der Nahtstelle zwischen E und U, also zwischen künstlerischem Anspruch und kommerziellem Erfolg, paradigmatisch für das […] Überqueren der Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur stehen.40

Wie im Falle des ‚doppelten‘ Buchumschlags handelt es sich hier erneut um eine extradiegetische, eher paratextuelle Komponente, die durchaus auch als poetologisches Signal und Aussage über die Kollision von Hohem und Niederem im Text lesbar ist. Damit ist das Deutungspotenzial dieser Passagen aber noch nicht ausgeschöpft; sie lassen sich letztlich auch auf die Inszenierung von lebensweltlichen Störungen beziehen. Im Wust der vom Text simulierten Elektronischen Beschallung finden sich auch zu einer Nacht in Belgrader Technoclubs eher ‚unpassende‘ Musiker. In diesen Fällen hat die Integration dieser Musiker, ihrer spezifischen Ästhetik und der an sie geknüpften Konnotationen eine narrative Funktion, die hier im Folgenden an einigen Beispielen erläutert werden soll: So finden sich hier bspw. neben einigen Jazz- und Rockkünstlern auch die deutschen Bands ‚Kraftwerk‘ und ‚Einstürzende Neubauten‘. Ebenso fallen dem Leser Stücke von den ‚Eagles‘ wie auch Auszüge aus Brechts und Weills ‚Drei­ groschenoper‘ ins Auge. Die Düsseldorfer Elektro-Pioniere Kraftwerk stehen zwar in direkter Verwandtschaft zum zeitgenössischen Techno (vgl. A, 48). Darüber hinaus ist es aber vor allem die in diversen Stücken prominente Ästhetik der Monotonie und Kälte, die im Kontext der Erzählung die Botschaft mitformt – ebenso wie die inhaltliche

39 Die referenzierten Songs aus den Bereichen Techno, House, Elektro passen stilistisch zum Club-Milieu, in dem sich die Figuren bewegen, wie auch zum Transformationskonzept des Remixes. Der monotone, an Tanzbarkeit orientierte four-to-the-floor-Rhythmus dieser Stücke verweist auf den monotonen, auf Abfolge und Wiederholung basierenden Lebensalltag der Protagonisten – und somit auch auf den ebenfalls monotonen Sprachduktus beider Texte. Weiterhin tauchen die Stücke nicht einzeln, sondern zu mehreren aneinander gereiht und für den Leser nicht voneinander trennbar auf: Hier finden sich die für die Clubbing-Szene wichtigen DJ-Sets ebenso wieder wie die verschwimmende Wahrnehmung der Partyabende ab, die diese Sets begleiten. 40 Simonek, Remix als Verfahren der Popliteratur. 2015, S. 181.

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Auseinandersetzung mit einer fortschreitenden Technisierung und Digitalisierung der Gesellschaft. Ähnlich verhält es sich auch mit der Band Einstürzende Neubauten – hier ist es allerdings eine Ästhetik der (urbanen) Hässlichkeit, die sich besonders im Frühwerk der Berliner Noise- und Industrial-Band niederschlägt – Stücke wie „Kollaps“, „Seele brennt“, „Schmerzen hören“, „Draußen ist feindlich“ oder „Stuhl in der Hölle“ tragen dies bereits im Titel. Ebenso ist die Musik der Einstürzenden Neubauten explizit durch den Bruitismus41 beeinflusst und steht somit nicht nur im Kontext des Kalten Krieges, sondern auch des Ersten Weltkrieges. Marković baut das Stück „Die Explosion im Festspielhaus“ (vgl. A, 7) vom 1996 erschienenen Album „Ende Neu“ direkt zu Beginn in „Ausgehen“ ein und spielt über den Inhalt erneut auf Exzess, über den Titel weiterhin auf die Zerstörung ziviler Einrichtungen und Institutionen an. Wenig später findet sich auch das Stück „Kein Bestandteil sein“ (vgl. A, 38) vom Album „Fünf auf der nach oben offenen Richterskala“ (1987) – erneut trägt der Text des Liedes die Botschaft von „Ausgehen“ mit: „Will will kein Bestandteil sein / Kein Bestandteil sein / Nicht von dem was war – es war nichts / Nicht von dem was demnächst kommt / Nicht von nichts davon / Nicht von dem was ist, allemal nicht, nicht davon“.42 Berliner Noise und Düsseldorfer Elektro kollidieren im Folgenden auch mit vermeintlicher Hochkultur – auch die Auszüge aus ‚Die Dreigroschenoper‘ (vgl. A, 86) von Kurt Weill und Bertolt Brecht (UA 1928) passen nicht so recht in die bisherige Klangkulisse. Doch auch diese Kollision bzw. Irritation löst sich schließlich auf – ‚Die Dreigroschenoper‘ vertont letztendlich Armut und Verzweiflung in einer zerrütteten Gesellschaft. Gewissermaßen direkt paradigmatisch für diesen Text steht hingegen „Hotel California“ der amerikanischen Band Eagles. Hier sind es weniger Titel oder Ästhetik, sondern vor allem Text und Thema43 des Rock-Klassikers von 1977, der eine narrative Funktion übernimmt. „Hotel California“ setzt sich mit den zeitgenössischen

41 Mein Dank gilt an dieser Stelle Dominik Pensel für den Hinweis auf den Einfluss des Bruitismus auf die Einstürzenden Neubauten. Der Einfluss dieser vor allem italienischen avantgardistischen Musikströmung der Zwischenkriegszeit wird nicht nur in der allgemeinen Ästhetik der Hässlichkeit oder der Verwendung zweckentfremdeter Alltagsgegenstände als Klangerzeuger deutlich, sondern manifestiert sich auch expliziter: Der Text des Liedes „Lets do it a dada“ (2007) verweist nicht nur auf diverse Dadaisten, sondern auch auf die Futuristen Luigi Russolo und Filippo Tommaso Marinetti; das Musikvideo zu „Blume“ (1993) zeigt diverse Gegenstände, die offensichtlich an Russolos Intonarumori angelehnt sind. 42 Einstürzende Neubauten / Bargeld, Blixa / Chung, Marc / Chudy, Andrew / Hacke, Alexander /  Strauß, Frank Martin: Kein Bestandteil sein. Hamburg: What’s So Funny About … 1987, 00:25 – 01:28. 43 An dieser Stelle danke ich Angelica Staniloiu für den Hinweis auf die Textzeile.

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exzessiven, zum Scheitern verurteilten Versuchen auseinander, dem American Dream nachzujagen – also einer Chimäre, die den Verheißungen der Belgrader Nachkriegszeit ganz ähnlich ist und die letztlich bloß zu stumpfem und ausweglosem Hedonismus führt: Mirrors on the ceiling, The pink champagne on ice And she said, we are all just prisoners here, of our own device And in the master’s chambers They gathered for the feast They stab it with their steely knives But they just can’t kill the beast44

Auch die Flucht in den Tanz, der letztlich nur eskapistisch motiviert sein kann, wird explizit angesprochen: Her mind is Tiffany-twisted, she got the Mercedes Benz She got a lot of pretty, pretty boys, that she calls friends How they dance in the courtyard, sweet summer sweat Some dance to remember, some dance to forget45

Dies ließe sich auch noch mit anderen Künstlern und Musikstücken in „Ausgehen“ weiterführen; das Konzept dieser Passagen wird aber bereits deutlich – auch hier handelt es sich um mehrfach überlagerte ‚Störungen‘. Marković nähert sich hier schon fast filmischen Techniken an: Sie inszeniert auf diesem Wege einerseits eine Klangkulisse, die von einer überladenen, ineinanderfließenden, monotonen Techno-Beschallung geprägt ist, die den eigentlichen Text überlagert und die Kommunikation von Inhalten stört und verunmöglicht. Andererseits wird diese Kulisse wiederum selbst durch Störungen unerwartet durchbrochen: exzessives Feiern ist nicht imstande, die Tristesse, Kälte und Hässlichkeit des Alltags zu übertönen; auch in der eskapistischen Manie brechen Realität und Depression immer wieder durch – „ein großer schwarzer Kater bäumt sich bis zur rosenverzierten Decke“46 und der Flashback durchbricht den Soundtrack.

44 Eagles / Felder, Don / Frey, Glenn / Henley, Don: Hotel California, New York: Asylum Records 1977, 03:28 – 03:54. 45 Eagles / Felder, Don / Frey, Glenn / Henley, Don: Hotel California, New York: Asylum Records 1977, 02:10 – 02:35. 46 Bachmann, Ein Ort für Zufälle. 1978, S. 292.

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4. Schluss Zueinander in Beziehung gesetzt zeichnen „Gehen“ und „Ausgehen“ letztlich eine Tendenz zu immer weiter ausgreifenden Störungen und zu immer stärkerer Sprachlosigkeit nach: Aus den intellektuellen, entspannt reflektierenden Flaneuren der Vorkriegszeit werden bei Bernhard ziellose Spaziergeher. Sie können sich im Angesichte der Vernichtung durch den Zweiten Weltkrieg nicht mehr dem nostalgischen Müßiggang hingeben, sondern rezitieren nur noch starre, leere Wort- und Gedankenhülsen. Die Kombination aus weiteren, ebenso grausamen Kriegen und daraus resultierender Armut mündet bei Marković in einer sprachlosen, orientierungslosen Fluchtbewegung in den Rausch. Insgesamt bleiben die Manifestationen von Krieg und Trauma der Literatur also auch im Gewande der Popliteratur eingeschrieben. Im Falle von „Gehen“ werden sie zwar – psychischen Prozessen analog – inhaltlich verdrängt und sprachlich überdeckt, bleiben in ihrer Manifestation aber noch nachspürbar. „Ausgehen“ schichtet noch eine weitere Ebene der Verfremdung über Bernhards Versprachlichung des Traumas und versinnbildlicht so die stärkere Verdrängung. Der Popkultur kommt dabei eine paradoxe Sonderstellung zu: wie auch die Hochkultur und Philosophie bei Bernhard bietet sie einerseits Bewältigungsstrategien, Orientierungsangebote und Identitätsentwürfe an. Bei Marković kollidieren die zumeist westlich orientierten Lebensentwürfe andererseits mit dem Anspruch auf eine eigene Kultur und Individualität. Diese werden wiederum durch die gesellschaftliche und finanzielle Situation verunmöglicht. Während sich die Verstörung bei Bernhard in zu starren Lebensentwürfen manifestiert, ist es bei Markovićs Protagonisten letztlich die vorgebliche Offenheit aller zur Verfügung stehenden Lebensentwürfe, die paradoxerweise zum traumatisch besetzten Lebenskerker wird. Das Überdecken bietet also keine Heilung, sondern nur die oberflächliche Aussicht auf Besserung. Doch die permanente Wiederholung und Affirmation popkultureller Praktiken selbst wird zur Zwangshandlung, macht die Jugendlichen zu ständig Suchenden. Was bleibt, ist ein nur temporäres, unvollständiges Überlagern der Realität: die Musik übertönt die Information – das Feiern als Lebenspraxis überlagert Lebensprobleme – Markovićs überbordender Eskapismus überlagert Bernhards monolithische Verzweiflung – „Ausgehen“ überlagert „Gehen“ – Popkultur überlagert Hochkultur. Unter der bunten Pop-Fassade scheint jedoch die abgründige Realität auf allen Ebenen immer wieder latent durch.

Viktoria Müller

Trauma und Musik – Johann Sebastian Bachs „Goldberg Variationen“ in Thomas Bernhards „Der Untergeher“ (1983) und Anna Enquists „Kontrapunkt“ (2008) 1. Intermedialität und Traumaerzählen Der vielverwendete Begriff des Traumas, ein Phänomen, das in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen betrachtet wird, meint gemeinhin ein Ereignis, welches die betroffene Person mit einer Situation konfrontiert, in welcher keine erlernten Verarbeitungsschemata angewendet werden können1 und eine nachhaltige „Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses“2 zurückbleibt. Sowohl für das Erleben der traumatischen Situation selbst als auch für den Umgang mit dem Erlebten und seinen Folgen sind die Kräfte und Ressourcen3 des Menschen entscheidend: „Ein traumatisches Geschehen kann einen Menschen derartig bedrohen, dass er verformt zurückbleibt, jedoch bleibt nicht jeder Mensch in gleicher Weise verformt zurück.“4 Das Trauma bedeutet demnach einen Ausnahmezustand, welcher sich jenseits der Grenzen bekannter Erklärungsmuster abspielt. Die Konsequenz können Traumafolgestörungen darstellen, welche medizinisch als Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS)5 bezeichnet werden. In der Literaturwissenschaft wird das Erzählen vom Trauma als „therapeutisches Genre“6 bezeichnet, das einerseits durch den autobiographischen Schreibprozess eine kathartische Funktion für den Autor erfüllt, indem es diesem ermöglicht, sich einen neuen Identitätssinn zu „erschreiben“, und andererseits dem Leser helfen kann, eigene traumatische Erfahrungen zu evaluieren, zu benenne und zu verarbeiten.7

1 Vgl. Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein 2004, S. 17 f. 2 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 15. 3 Vgl. ebd., S. 16. 4 Ebd., S. 15. 5 Vgl. Ebd. 6 Müller, Alexandra: Trauma und Intermedialität in zeitgenössischen Erzähltexten. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2017. Bd. 9, S. 46 (Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik). 7 Müller, Trauma und Intermedialität. 2017, S. 46. https://doi.org/10.1515/9783110683028-029

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In diesem Zusammenhang spielt das Phänomen der Intermedialität als grenzüberschreitende Form medialer Verbindungen und gegenseitiger medialer Beeinflussung8 eine besondere Rolle: „Gerade mediale Grenzüberschreitungen als alternative Vermittlungsstrategien erscheinen […] essenziell, um dem Leser traumatische Ereignisse ‚erfahrbar‘ zu machen.“9 Die Verquickung von Medien stellt dieser These nach sowohl für den Schreibenden, als auch für die Rezipienten einen Mehrwert beim Versuch dar, schwer Sagbares sagbar zu machen und literarisch zu erfassen. In den folgenden Überlegungen zu den Romanen „Der Untergeher“ (1983) des österreichischen Autors Thomas Bernhard und „Kontrapunkt“ (2008) der Niederländerin Anna Enquist ist das darin erzählte Trauma untrennbar mit dem intermedialen Aspekt der Erzählung, dem Eingang der „Goldberg Variationen“ Johann Sebastian Bachs in den Text, verflochten.

2. Die „Goldberg Variationen“: Leitmotiv der Romane „Der Untergeher“ und „Kontrapunkt“ Die erstmals 1742 verlegte Komposition Johann Sebastian Bachs ist ein musikalisches Zeugnis barocker Variationskunst. Den heute geläufigen Namen „Goldberg Variationen“ trägt das Werk, dessen exakter Entstehungsursprung und -zeitraum nicht genau bekannt sind, aufgrund einer Legende, die besagt, dass Bach die Variationen für den befreundeten Grafen Hermann Carl von Keyserlingk geschrieben habe, damit dessen Hofcembalist Johann Gottlieb Goldberg ihm daraus vorspiele, um seine Schlaflosigkeit zu lindern.10 Die Komposition ist für ein zweimanualiges Instrument, das Cembalo, geschrieben und stellt aufgrund dieser Tatsache in der Umsetzung auf das heutige Klavier den Pianisten vor große Herausforderungen.

8 Vgl. Rajewski, Irina O.: Intermedialität. Tübingen/Basel: A. Francke 2002, S. 18 f.; vgl. Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 16. 9 Müller, Trauma und Intermedialität. 2017, S. 10. 10 Vgl. Bloemsaat-Voerknecht, Lisbeth: Thomas Bernhard und die Musik. Themenkomplex mit drei Fallstudien und einem musikthematischen Register. Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. Bd. 539, S. 190; vgl. Dammann, Rolf: Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“. Mainz: Schott 1986, S. 11 – 18; vgl. Diller, Axel: „Ein literarischer Komponist?“ Musikalische Strukturen in der späten Prosa Thomas Bernhards. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2011, S. 149; vgl. Williams, Peter: Bach: The Goldberg Variations. Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 3 – 34.

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Die „Goldberg Variationen“ sind zyklisch aufgebaut und bestehen aus einer eröffnenden Aria, 30 Variationen, bei der jede dritte ein Kanon ist, und der Wiederholung der Aria. Dabei bilden die Aria und die ersten 15 Variationen den ersten Teil des Zyklus. Der zweite Teil besteht aus einer Variation mit dem Charakter einer Ouverture – der Eröffnung des zweiten Teils –, dreizehn folgenden Variationen und der letzten Quodlibetvariation. Die Gesamtzahl der Sätze beträgt somit 32, eine Zahl, die in weiten Teilen den Aufbau der Komposition prägt.11 Aus der eröffnenden Aria, welche in der Barockmusik das liedhafte instrumentale Thema und nicht eine vokale Partie des Musiktheaters meint, entwickelt sich eine Basslinie, welche den nachfolgenden 30 Variationen zugrunde liegt.12 Diese 32-taktige Basslinie ist jedoch nicht im Sinne einer Melodielinie hörbar13, sondern lässt sich lediglich aus der Partitur herauslesen. Die 32 Fundamentalnoten, die die Basslinie ausmachen, sind Noten, die in freier Abfolge in jeder Variation in der Basslinie auftauchen.14 Ein weiteres Element liedhaften Charakters neben der Aria ist das Quodlibet (lat. „wie es beliebt“), die letzte Variation des Werkes.15 Die Besonderheit des Quodlibets ist, dass Bach hier zwei Volkslieder seiner Zeit miteinander verbindet und diese, für die „Goldberg Variationen“ neuen Melodien, in der Oberstimme gleichzeitig erklingen lässt.16 Die „Goldberg Variationen“ „beruhen durchgängig auf ein und demselben Thema“17, doch trotz der Zusammenhänge struktureller Art unterscheiden sich die einzelnen Variationen in Ton- und Taktarten.18 Dies führt dazu, dass die geschlossene Struktur der Komposition zwar deutlich hörbar ist, die einzelnen Variationen jedoch innerhalb des planvollen Rahmens unterschiedlichen Charakter haben.19

11 Vgl. Bloemsaat-Voerknecht, Thomas Bernhard und die Musik. 2006, S. 185 ff.; Vgl. Dammann, Bachs „Goldberg-Variationen“. 1986, S. 18 ff.; vgl. Diller, „Ein literarischer Komponist?“ 2011. S. 149 ff.; Vgl. Williams, Bach: The Goldberg Variations. 2001, S. 35 ff. 12 Vgl. Williams, Bach: The Goldberg Variations. 2001, S. 35. 13 Vgl. Diller, „Ein literarischer Komponist?“ 2011, S. 149. 14 Vgl. Williams, Bach: The Goldberg Variations. 2001, S. 38 – 39. 15 Vgl. Niemöller, Heinz Hermann: Polonaise und Quodlibet. Der innere Kosmos der „GoldbergVariationen“. In: Johann Sebastian Bach. Goldberg-Variationen. Musik-Konzepte. Hrsg. von HeinzKlaus Metzger und Rainer Riehn. München: Johannesdruck Hans Pribil KV 1985, S. 26 – 27. (Die Reihe über Komponisten 42). 16 Vgl. Dammann, Bachs „Goldberg-Variationen“. 1986, S. 235 f. 17 Ebd., S. 19. 18 Vgl. Williams, Bach: The Goldberg Variations. 2001, S. 42. 19 Vgl. ebd., S. 35.

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2.1 Thomas Bernhard „Der Untergeher“: Musik als Ursache der Traumatisierung Den Autor Thomas Bernhard20 als musikalisch zu bezeichnen, ist unter Berücksichtigung seiner Vita mehr als gerechtfertigt. Seit seiner Jugend hat der Österreicher Violine gespielt, hatte zeitweise Ambitionen, als Profisänger zu arbeiten und bildete sich durch Musiktheoriestudien am Salzburger Mozarteum weiter.21 Diese Affinität zur Musik und die profunden Kenntnisse in diesem Bereich spiegeln sich in seinem literarischen Schaffen wider, in dem er sich häufig thematisch mit den Künsten und der Rolle der Kunst für das Subjekt und die Gesellschaft auseinandersetzt.22 Im Roman „Der Untergeher“23 nimmt die Musik einen besonders großen Raum ein. Dieser 1983 veröffentlichte Text handelt davon, wie der namenlose Erzähler in Form eines einzigen Gedankenstroms analeptisch einen Sommer schildert, den er mit zwei anderen jungen Pianisten während eines Klavierkurses verbringt. Einer der drei Musiker ist der im Roman teilweise ins Fiktive verkehrte kanadische Starpianist Glenn Gould, der andere Freund wird mit seinem Nachnamen Wertheimer genannt, oder mit dem Spitznamen, den ihm Glenn Gould gegeben hat, als „der Untergeher“ (vgl. U, 26) bezeichnet. Anlass für die Auseinandersetzung des Erzählers mit der Vergangenheit ist der Suizid Wertheimers, der, wenn auch 28 Jahre später, in direktem Zusammenhang zu den Ereignissen während des Klavierkurses steht. Das zentrale Motiv des Bernhard-Romans sind die „Goldberg Variationen“, die den Text auf unterschiedlichen Ebenen prägen.24

20 Thomas Bernhard: 1931 – 1989. Vgl. Sorg, Bernhard: Thomas Bernhard. München: C. H. Beck 19922. Bd. 627, S. 176 f. 21 Vgl. Bloemsaat-Voerknecht, Thomas Bernhard und die Musik. 2006, S. 32 ff.; Vgl. Judex, Bernhard: Thomas Bernhard: Epoche – Werke – Wirkung. München: C. H. Beck 2010, S. 24. (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). 22 Hier seien nur beispielhaft die Figur des Malers Strauch im Roman „Frost“ (1963), die musikwissenschaftlichen Bezüge in „Amras“ (1964), die Studie über das Gehör in „Das Kalkwerk“ (1970) oder die Figur des Musikgelehrten Reger in „Alte Meister“ (1985) genannt. Vgl. dazu Eybl, Franz M.: ‚Wenn das Licht lacht, weint der Dichter‘. Thomas Bernhards poetologische Maskeraden. In: Dichterdarsteller. Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. von Robert Leucht und Magnus Wieland. Göttingen: Wallstein 2016, S. 157 – 174. In diesem Zusammenhang interessante Originalaussagen Bernhards zu seiner Musikalität und Musikaffinität finden sich in Bloemsaat-Voerknecht, Thomas Bernhard und die Musik. 2006, S. 15  23 Bernhard, Thomas: Der Untergeher. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988 [im Folgenden unter der Sigle „U“ im Text]. 24 Besonders auf formaler Ebene gibt es vielfältige und spannende Parallelen, z. B. Analogien zwischen Komposition und Roman wie etwa Rhythmus oder Funktion und Gestaltung des

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Ein direkter Bezug zur Struktur der Komposition entsteht im Roman, indem – vergleichbar mit der Stellung und Funktion der Aria in Bachs Werk, – die Erwähnung der „Goldberg Variationen“ gleich zu Beginn des Romans diesen sozusagen eröffnet, wodurch das Hauptthema und das thematische Spektrum des Textes deutlich werden.25 Ähnlich der Wiederholung der Aria im Anschluss an die letzte Variation werden auch im Text die „Goldberg Variationen“ im letzten Abschnitt des Romans wieder genannt, wodurch alle für den Text wichtigen Themen dadurch implizit ein letztes Mal aufgeworfen werden und der Roman mit dieser Retrospektive der Kernthemen endet.26 Zwischen dieser klammerartigen Struktur gibt es im Text 30 weitere explizite Erwähnungen der „Goldberg Variationen“ und die zweifache Nennung der Aria – was eine deutliche Parallele zur Numerik des Aufbaus des Bach’schen Werkes zeigt.27 Anlass des Erzählens und die im Text erwähnten Kernthemen „Goldberg Varia­ tionen“, Selbstmord, Tod, Genialität und Musik28, stehen in direktem Bezug zu einem, die Figur Wertheimer traumatisierenden Erlebnis, welches seinem Leben dauerhaft Sinn, Richtung und Ziel nimmt und ihn schließlich Selbstmord begehen lässt. Die Schilderung dieses Erinnerns bleibt jedoch durch die Erzählperspektive immer verfremdet, kommt der Betroffene doch selten in den Erinnerungen des Erzählers selbst zu Wort. Das Trauma Wertheimers entsteht durch die Konfrontation mit dem Genie eines anderen, als er Glenn Goulds Interpretation der „Goldberg Variationen“ hört. „Glenn hatte nur ein paar Takte gespielt und Wertheimer hatte schon an Aufgeben gedacht“ (U, 122). Dieses „Long-Lasting Man-Made Trauma“29, eine durch eine andere Person unerwartet verursachte Erschütterung, macht es Wertheimer nicht weiter möglich, seine Karriere als Pianist zu verfolgen: Der Besuch des Horowitzunterrichts war […] für Wertheimer tödlich […]. Nicht Horowitz hatte Wertheimer […], was das Klaviervirtuosentum und im Grunde genommen überhaupt die Musik betrifft, getötet, sondern Glenn (U, 24).

Quodlibets, die jedoch in der folgenden Betrachtung weitgehend ausgeklammert bleiben. Hierzu hat Axel Diller in seiner Studie „Ein literarischer Komponist?“ 2011. ausführlich die Nachweise aller Verflechtungspunkte beider Werke geliefert. 25 Vgl. Diller, „Ein literarischer Komponist?“ 2011, S. 147. 26 Vgl. ebd., S. 281. 27 Vgl. Bloemsaat-Voerknecht, Thomas Bernhard und die Musik. 2006, S. 206. 28 Vgl. Diller, „Ein literarischer Komponist?“ 2011, S. 158. 29 Husen, Kristin / Lutz, Wolfgang: Psychological and Clinical Perspectives on Trauma. In: Wor(l)ds of Trauma. Canadian and German Perspectives. Hrsg. von Wolfgang Kloos. Münster: Waxmann 2017, S. 26.

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Hier wird der später folgende Tod bereits in direkten Bezug zum Hörerlebnis gesetzt und sein lebenszerstörendes Potenzial deutlich. Zwar wird im gesamten Text nie explizit von Trauma gesprochen, doch sind die Auswirkungen dieses Erlebnisses im medizinischen Sinn als Trauma zu bezeichnen, da diese massive seelische Erschütterung zunächst jahrelange posttraumatische Folgestörungen wie Intrusionen, Überregungssymptome und emotionale Taubheit30 nach sich zieht und der Traumatisierte schließlich dem „distinctly increased risk of suicide“31 erliegt. Die Konfrontation mit dem Genie und das Vergleichen der eigenen Fähigkeiten mit denen des Freundes führt zur tiefsten Erschütterung und der Frage: „Wie kann ich jetzt, da ich Glenn gehört habe, auftreten“ (U, 151). Wertheimer, obwohl als talentiert beschrieben, sieht sich gezwungen, das Klavierspiel aufzugeben, es gelingt ihm aber in all den Jahren nicht, sich von Gould zu lösen. Er verfolgt dessen Karriere, besucht ihn und hört sich immer wieder die ihn vernichtende Interpretation der Komposition an, das heißt, er setzt sich selbst bewusst immer wieder Expositionen aus; ob aus selbstzerstörerischen oder heilsuchenden Zwecken bleibt meist unklar.32 Sogenannte Flashbacks, unkontrollierbar auftretende Erinnerungen an das traumatisierende Erlebnis, führen immer wieder zum Durchleben der bedrohlichen Situation.33 Auch ist anzunehmen, dass Wertheimer, der immer wieder Goulds Nähe sucht, Triggern ausgesetzt ist, welche aus „primary sensory information ([…] sounds) that are linked to physiological fear symptoms“34 bestehen. Wie vielen Traumatisierten gelingt es ihm nicht, einen äquivalenten neuen Lebensinhalt für sich zu definieren, sein Horizont ist durch das Trauma geschlossen.35 Zwar widmet er sich den Geisteswissenschaften, ohne jedoch bis zum Schluss zu verstehen, was diese eigentlich sind (vgl. U, 33), und schreibt im Rahmen dieser Beschäftigung jahrelang an einer Abhandlung über Glenn Gould mit dem Titel „Der Untergeher“ (vgl. U, 54). Das heißt, auch hier, auf der Ebene der eigenen kreativen Arbeit, ist es ihm nicht möglich, sich von Gould und den „Goldberg Variationen“

30 Vgl. zu den Symptomen einer PTBS Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 16 und Müller, Trauma und Intermedialität. 2017, S. 32. 31 Husen / Lutz, Psychological and Clinical Perspectives on Trauma. 2017, S. 26. 32 Vgl. Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 19. 33 Vgl. ebd. 34 Husen / Lutz, Psychological and Clinical Perspectives on Trauma. 2017, S. 27. 35 Siehe hierzu Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 245: „So ist gerade die Unmöglichkeit, sich im geschlossenen Horizont frei zu bewegen und sich selbst zu entwickeln, sowie die Schwierigkeit, die Erfahrung sprachlich zu fassen, typisch für die Versuche, traumatisches Erleben in die eigene Lebensgeschichte (oder in die Lebensgeschichte von fiktional entwickelten Figuren) zu integrieren.“

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zu lösen und die Chance, durch das therapeutische Potenzial des Schreibens36 das eigene Trauma zu be- oder verarbeiten, misslingt. Die Übereinstimmung zwischen dem Abhandlungstitel und dem Romantitel Bernhards ist hier natürlich augenscheinlich und der Text belegt, wie sehr Goulds Benennung Wertheimers als „Der Untergeher“ bereits Auswirkungen auf den Verlauf von dessen Leben genommen hat: Wertheimers Katastrophe war schon in dem Augenblick eingetreten, in welchem Glenn Gould zu Wertheimer gesagt hat, er sei der Untergeher, das was Wertheimer schon immer gewusst hatte, war von Glenn […] ausgesprochen worden, Glenn hat Wertheimer mit seinem Untergeher tödlich getroffen (U, 218).

Die Beschäftigung mit diesem tödlichen Schlag scheint die Intention von Wertheimers Schreibprozess zu sein: Sich mit dem Freund, dessen Genie, den „Goldberg Variationen“, seinem persönlichen Scheitern und der Aufgabe seiner Karriere zu befassen. Entscheidende Faktoren dafür, dass Wertheimers Leben überhaupt von Gould und damit durch die Folgen des Traumas zerstört werden kann, sind vielschichtig. Zum einen mangelt es ihm an „Protective factors against PTSD encompass for instance a good sense of coherence, social support […] and functional coping strategies.“37 Zum anderen ist hier für seine Persönlichkeitsstruktur von Bedeutung, dass die Hinwendung zur Musik nicht nur in seinem Talent oder der Liebe zur Kunst begründet ist, sondern im Wunsch, seine Eltern mit dieser Entscheidung zu quälen (vgl. U, 144 f.). In der klassischen Musik und dem Virtuosentum sieht Wertheimer einen Weg, der ihn so weit weg wie nur denkbar von seiner bürgerlichen Familie führt und dieser gleichzeitig mehr als missfällt. Nach unglücklicher Kindheit und Jugend setzt sich nun sein Unglück durch die Konfrontation mit Gould fort: „Er war zwar unglücklich in seinem Unglück, aber er wäre noch unglücklicher gewesen, hätte er über Nacht sein Unglück verloren“ (U, 149). So ist das, was ihm widerfährt, mehr Ausdruck seiner Persönlichkeit, seines Umgangs mit dem Leben, als begründetes Scheitern an von ihm als unumkehrbar empfundenen, durch das Trauma verursachten Tatsachen. Die Parallelen zwischen literarischem Werk und Bachs Komposition setzen sich auf einer weiteren inhaltlichen Ebene fort: Es wird auf den Entstehungskontext38 der Komposition, bzw. die übermittelte Legende hingedeutet, indem Wert-

36 Vgl. Müller, Trauma und Intermedialität. 2017, S. 46. 37 Husen / Lutz, Psychological and Clinical Perspectives on Trauma. 2017, S. 26. Die im Englischen verwendete Abkürzung PTSD steht für „post-traumatic stress disorder“ und ist mit der deutschen Abkürzung PTBS gleichzusetzen. 38 Vgl. Diller, „Ein literarischer Komponist?“ 2011, S. 157.

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heimers Schlaflosigkeit, „Bernhards Chiffre für Krankheit und Qual“39, Ausdruck des Seelenzustands, durch das erzwungene nächtliche Klavierspiel der Schwester gemildert werden soll (vgl. U, 230). Der endgültige Auslöser für Wertheimers Selbstmord ist schließlich der Herztod Goulds. Wertheimer erträgt es im Anschluss nicht mehr weiterzuleben: „Er schämte sich nach Glenns Tod, noch am Leben zu sein“ (U, 33). Bevor er das Haus verlässt, um sich zu erhängen, konfrontiert er sich selbst ein letztes Mal im Sinne einer finalen Exposition mit der Gould-Einspielung der „Goldberg Variationen“: Wertheimer, der sein Leben lang von Selbstmord gesprochen hat und nie den Mut hatte, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, ist im Anschluss daran im Stande, sich das Leben zu nehmen. Er stirbt durch eigene Hand gleichaltrig wie sein Zerstörer und ist ihm damit, zumindest in diesem kleinen Detail, gleich (vgl. U, 51).

2.2 Anna Enquists „Kontrapunkt“: Musica laetitiae comes medicina dolorum 40 – Traumaverarbeitung durch doppelten künstlerischen Ausdruck Die Funktion der „Goldberg Variationen“ ist im Roman „Kontrapunkt“41 der Niederländerin Anna Enquist42, die als Konzertpianistin und Psychoanalytikerin gearbeitet hat, seit vielen Jahren jedoch nur noch als Schriftstellerin tätig ist und sich auf unterschiedliche Weise mit der Kunst auseinandersetzt43, eine gänzlich andere. Dieser 2008 unter dem Titel „Contrapunt“ erschienene Text ist geprägt von stark biographischen Zügen. Die Autorin versucht in diesem Werk den tragischen Unfalltod ihrer Tochter zu verarbeiten44 und beschreibt in „Kontrapunkt“ den Versuch einer ehemaligen Konzertpianistin, nach dem Tod ihrer Tochter Halt durch das Spielen der „Goldberg Variationen“ zu finden. Den Text kennzeichnet die beson-

39 Sorg, Thomas Bernhard. 19922, S. 70. 40 Dieser Spruch (lat. „Musik ist die Gefährtin des Frohsinns und ein Heilmittel gegen die Schmerzen“) zierte im 17. Jahrhundert das Innere von Zupfklavieren, vgl. dazu Dammann, Bachs „Goldberg Variationen“. 1986, S. 23. 41 Enquist, Anna: Kontrapunkt. München: btb Verlag 2011 [im Folgenden unter der Sigle „K“ im Text]. 42 Die Autorin Anna Enquist wurde 1945 geboren, vgl. dazu Angaben des Verlags in Enquist, Anna: Kontrapunkt. München: btb Verlag 2011. 43 Vgl. Gzimek, Martin: Voller Trauer um die Tochter. https://www.deutschlandfunk.de/volltrauer-um-die-tochter.700.de.html?dram:article_id=84003 (Zugriff am 09.09.2018). 44 Vgl. Diller, »Ein literarischer Komponist?« 2011, S. 155 f. und S. 186 f.

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dere Mischung aus eigenem Erinnern und medizinischem Fachwissen in Bezug auf Trauma und Traumaverarbeitung. Die Konzeption des Romans lässt sich als eine „literarische Variation“45 der Bachkomposition lesen, da sie den gesamten Text auf allen Ebenen durchdringt. Die Struktur der Musik dient nicht nur durchgängig als Vorlage für den Text, sondern es findet auch neben der Thematisierung der jeweils interpretierten Partien deren detaillierte musikalische Schilderung Eingang in den Roman. Zudem sind die Strukturparallelen zwischen der Komposition und dem Roman sehr ausgeprägt. So setzt sich „Kontrapunkt“ aus 32 Kapiteln zusammen, die Überschriften entsprechen dabei jeweils der Bezeichnung des ihnen zugrundeliegenden musikalischen Satzes. Darüber hinaus sind jedem Kapitelbeginn die ersten Takte des jeweiligen musikalischen Satzes vorangestellt, wodurch sich Notentext und Romantext visuell mischen und die deutliche Präsenz der Musik besonders betont wird. Dem Ende des letzten, mit „Aria da capo“ betitelten Kapitels, sind wiederum die letzten Takte der Aria nachgestellt, wodurch die Partiturauszüge den gesamten Text buchstäblich rahmen.46 Und genau diese beiden Kapitel, Anfang und Schluss, verdienen besondere Beachtung. Wie auch in der Aria der „Goldberg Variationen“ werden hier zu Beginn des Romans alle Themen aufgezeigt, die die folgenden Kapitel diegetisch prägen, das gesamte inhaltliche Material wird hier, wie auch schon in Bernhards Roman beobachtet, eröffnet. Parallel zu dieser Eröffnung werden alle diese Themen im letzten Kapitel erneut erwähnt. Explizit werden in diesem Abschlussteil Situationen erneut angesprochen, die im Kapitel „Aria“ genannt wurden, wodurch eine deutliche Parallelstruktur zur Funktion der „Aria da capo“ der „Goldberg Variationen“ zu erkennen ist.47 Die 32 Kapitel handeln von der pianistischen Erarbeitung des ihnen jeweils titelgebenden musikalischen Satzes der „Goldberg Variationen“. Dabei werden aus heterodiegetischer Perspektive die Besonderheiten der jeweiligen Variation, deren

45 Vgl. ebd., S. 187. 46 Die visuelle Vermischung von Noten- und Romantext soll am Beispiel des ersten Kapitels verdeutlicht werden. Hier folgen etwas abgesetzt auf die Kapitelüberschrift „Aria“ die ersten vier Takte der Bach’schen Komposition. Nach einem weiteren Absatz beginnt der Text: „Die Frau mit dem Bleistift las über den Tisch gebeugt in einer Taschenpartitur der Goldberg-Variationen“ (K, 5). 47 Zu nennen sind hier die Themen, welche beide Kapitel und damit das gesamte Werk prägen: Erinnerungen an die Tochter, der Wunsch über das Kind zu schreiben, der vollendete Schreibprozess, die Protagonistin als Mutter sowie Reflektionen über Historie und Aufbau der „Goldberg Variationen“. Zur Funktion der Ariawiederholung im musikalischen Werk vgl. Dammann, Bachs „Goldberg-Variationen“. 1986, S. 240.

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Aufbau, die Schwierigkeiten für die Interpretin und, mit besonderer Ausführlichkeit, der Charakter des Satzes und die Stimmung, welche die Musik vermittelt, erläutert.48 Die durch ein „Short-Lasting Accidental Trauma“49 in Trauer Versunkene reagiert emphatisch auf diese Nuancen der Komposition und erlangt durch die in der Musik vermittelten Emotionen Zugang zu ihren Gefühlen und darüber wiederum zu ihren Erinnerungen, wobei die „Goldberg Variationen“ ihr als Schlüssel zu ihrem Inneren dienen. Das Erzählen ist hier durch die Wahl des Präsens50 als Traumatisches gekennzeichnet sowie durch die unchronologische Abfolge der erzählten Inhalte geprägt.51 Im gesamten Text zeigt sich ein weiteres typisches Merkmal für das Erzählen von Traumata in der ständigen Wiederkehr zum Thema der Tochter:52 Das Trauma des Verlustes prägt das Erinnern dadurch nicht nur an den Stellen, an welchen explizit von der Verunglückten die Rede ist, sondern liegt wie ein Schatten über dem gesamten Text. Das heilende Potenzial der Musik liegt für die Trauernde darin, dass sie zum einen etwas aufgreift, was lange Zeit vor dem Muttersein Inhalt ihres Lebens war,

48 „Was für eine seltsame Variation, diese vierte, dachte die Frau. So ein Sturm kleiner Motive, lauter eckig gebrochene Dreiklänge durcheinander. In Gegenbewegung, einander unterbrechend oder unterstreichend, fragend oder triumphierend – eine Kakophonie verwandter Stimmen. Das Notenbild sah einfach aus, doch das war Schein. Je länger sie daran ackerte, desto schwieriger wurde es, jedes kleine Fragment herauszuarbeiten. […] Es ist mir fremd, dachte die Frau, ich verstehe es nicht, habe kein rechtes Gefühl dafür. Warum dieses Gehopse, bäurisch oder höfisch, je nachdem, wie man es zu spielen beliebte? Was soll das? […] aber es machte einen verrückt und treibt einen so weit, dass man schließlich gar nichts mehr versteht. Das erinnerte sie an unwillkürlich aufgefangene Gespräche in einem Restaurant, in der Straßenbahn, am Strand“ (K, 53 f.). 49 Husen/Lutz, Psychological and Clinical Perspectives on Trauma. 2017, S. 26. 50 Vgl. Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. 2004, S. 224. 51 Den Rahmen der Erinnerungsarbeit bietet die Eröffnung des Romans mit dem Kapitel „Aria“, welches die Intention der Spielenden, das Erinnern des gesamten Lebens der Tochter, thematisiert. Zwischen der Beschreibung von deren Geburt und der Schilderung ihres Todes im letzten Kapitel „Aria da Capo“, findet, beeinflusst durch die Stimmungen der Variationen, ein freies Assoziieren in Bezug auf die Verstorbenen statt. Dies zeigt sich beispielsweise beim Spiel der Variation 24, durch die die Mutter meint „Bach bereite das Gehör und das Gemüt auf die leidvolle nächste Variation vor“ (K, 155). Diese Vorausdeutung zieht die Erinnerung an ein schmerzhaftes Erlebnis nach sich: „Dieser Winterurlaub ist ein Gräuel, eine Fehlentscheidung. In den äußersten Norden sind sie gereist, in ein verlassenes, bergiges Gebiet […]. Die Kinder spielen im Schnee, fahren auf Schlitten und kleinen Skiern die leichten Hänge hinunter und klettern dann lachend und stolpernd wieder hinauf. […] Die Tochter erklimmt einen Schneehaufen und bleibt mit ihrem Stiefel in den darunterliegenden Felsblöcken hängen. Sie fällt. Sie fällt“ (K, 155 f.). Anders als alle Passagen, die von Johann Sebastian Bach handeln, werden die Erinnerungen an das Familienleben im Präsens geschildert. Die Wiederholung des Verbs „fallen“ unterstreicht hier zudem, wie angstbeladen die Erinnerungen an diese Situation sind. 52 Vgl. Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. 2004, S. 225.

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nämlich die Musik. Sie versetzt sich über das Spiel zurück in einen Zustand, in welchem sie als aufstrebende Pianistin eine musikalische Zukunft vor sich hatte, das Leben mit all seinen Träumen noch vor ihr lag und beste Aussichten auf Erfolg bestanden. Zum anderen greift sie wissend um Form und Inhalt des Bach’schen Werkes eine Komposition auf, mithilfe derer sie bewusst eine Gedankenreise antreten kann. Sie wählt damit eine sehr individuelle Form der Trauerarbeit, während derer sie sich ihren Gefühlen und Erinnerungen stellen kann: Die Frau hatte sich intensiv mit der Neurochemie des Traumas befasst. Ein schlimmes Unglück im Leben löste im Gehirn ein Bombardement aus, das Gedächtnissysteme, Synapsen und Verbindungen ein für alle Mal zerstörte. […] Was konnte man machen? War es möglich, in dem angerichteten Chaos wieder eine gewisse Ordnung zu bewerkstelligen? Spielen. Klavier spielen half. Durch das mühsame repetitive Üben mit größtmöglicher Aufmerksamkeit webte der verletzte Pianist geduldig an der Verbindung zwischen den beiden Gehirnhälften (K, 198).

Außerdem gibt es im Text eine Parallelgeschichte über Johann Sebastian Bach, sein Leben und die Entstehungsgeschichte der „Goldberg Variationen“, die von der Protagonistin immer wieder aufgegriffen wird. Diese basiert jedoch in weiten Teilen nicht auf der heute bekannten Legende: Die trauernde Mutter nimmt an, Bach habe die Komposition geschrieben, um den plötzlichen Tod seines Sohnes Johann Gottfried Bernhard zu verarbeiten (vgl. K, 205). An dieser Stelle wird auch deutlich, warum die ehemalige Pianistin sich in der aktuellen Lebenssituation genau dieser Musik zuwendet, da sie in ihrem Entstehungskontext eine Übereinstimmung zu ihrem Trauma zu erkennen glaubt und annimmt, Bachs musikalischer Bewältigungsversuch könne auch sie heilen. Alle durch die Musik ausgelösten Gedanken und Erinnerungen drehen sich um die Tochter, deren kurzes Leben und die Mutter-Tochter-Beziehung. Jedes Kapitel löst eine andere Erinnerungsepisode aus, wodurch die Themen, die sich um die Tochter spinnen, aus immer neuer Perspektive und in unterschiedlichen Kontexten geschildert werden, vergleichbar mit dem Variationscharakter der Musik. Das barocke Prinzip des verbum contra verbum der Kontrapunktlehre53 kann hier – mit

53 Axel Diller erklärt die Kontrapunktik in Diller, »Ein literarischer Komponist?« 2011, S. 231 wie folgt: „Kontrapunktische Stimmführung bedeutet […], dass eine (Haupt-)Stimme von simultan verlaufenden Gegenstimmen begleitet wird […]. Jedoch stehen die Stimmen nie […] in einem gegenseitigen Kontrast, sondern sie verbinden sich stets zu sinnvollen Einheiten, nämlich zu Akkorden (die musikalische Satzlehre spricht auch von „Harmonien“), wenngleich diese durchaus dissonant sein können.“

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Hinweis auf den Romantitel – als die Organisation der vielen erinnerten Stimmen zu einem polyphonen Erinnerungsklang gelesen werden. Die Struktur des Bach’schen Werkes bietet der Trauerarbeit dabei einen Rahmen, in welchem der jeweilige Charakter einer Variation über den Inhalt der Erinnerungen und die Emotionen der Trauernden bestimmen, Spielen und Erinnern verlaufen dabei parallel. Der Prozess der Auseinandersetzung mit dem Werk und ihre eigene Gedankenreise geben ihr Halt, denn sie nehmen ihr die größte Angst, die Tochter zu vergessen: Kam nicht in Frage, dass sie dem Klavier den Rücken zukehrte, dass sie den Blick interessiert nach draußen wandte. Hier, im warmgelben Licht der Klavierlampe, hier spielte sich das Geschehen ab. Hier konnte sie ein Mädchen in einer Sporthalle in Stockholm tanzen lassen, hier holte sie herein, was draußen war (K, 139).

Eine Besonderheit findet sich am Ende des Textes, als die Trauernde ihre Beschäftigung mit den „Goldberg Variationen“ fast beendet hat und das Ergebnis der Trauerarbeit sichtbar wird: Im Takt der Musik hatte sie jeden Tag für eine Weile unbefangen atmen können. Durch die Hintertür hatte Bach ihr Zugang zu ihrem Gedächtnis verschafft: Jede Variation hatte Erinnerungen an das Kind wachgerufen, die sie in ein Heft notiert hatte (K, 210).

Und diese, hier so bezeichnete „Flucht in die Sprache“ (K, 213) wird schließlich der Weg, auf dem die Trauernde Ausdruck findet: Die Musik, welche bis zu diesem Zeitpunkt „das perfekte Medium [war], um ihrer Innenwelt Ausdruck zu verleihen“ (K, 213), ist an diesem Scheidepunkt nicht ausreichend, um der Zukunft zu begegnen, sie bleibt lediglich eine Brücke in die Vergangenheit. Die Mutter „sah ein, dass die Musik weder über die denotativen Möglichkeiten noch über die narrative Struktur verfügte, derer sie für die Umsetzung ihres sehnlichen Wunsches, das Kind zu beschreiben, bedurfte“ (ebd.). Dazu bedarf es des literaturtherapeutischen Potenzials: Die narrative Therapie54 führt zur erfolgreichen Bearbeitung des Traumas und hat kathartische Wirkung. Das Verfahren des mise en abyme, hier also das Buch im Buch, wird somit die tatsächliche Form der Traumabewältigung.55

54 Vgl. Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 242. 55 Vgl. ebd., S. 240 f.

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3. Fazit Obwohl die „Goldberg Variationen“ in den betrachteten Romanen als Leitmotiv fungieren, ist deren Funktion in beiden Texten sehr unterschiedlich. Die Musik wird zum Auslöser der gegensätzlichsten Seelenzustände der Figuren, hier jedoch entscheidet deren psychische Verfassung über die Wirkung sowie weitere Auswirkungen des Musikerlebens. Im direkten Bezug zu den „Goldberg Variationen“ besteht in beiden Werken ein besonderes Verhältnis zwischen Realität und Fiktion. Dies geschieht einmal durch die teilfiktive Figur Glenn Goulds und zum anderen über die starken autobiographischen Züge im Roman „Kontrapunkt“. Zusätzlich erwähnt die Trauernde in diesem Text ihre Auseinandersetzung mit Glenn Gould, mit dessen Künstlerexistenz und seiner Interpretation der „Goldberg Variationen“, an die sie sich während ihres eigenen Spiels immer wieder erinnert fühlt. In diesem Zusammenhang nimmt sie sogar an einer Stelle kurz auf den Roman „Der Untergeher“56 Bezug. Daher bedarf auch die Funktion der realen und halbrealen Figur Glenn Goulds Beachtung. Durch den Eingang eines der heute bekanntesten Klaviervirtuosen des vergangenen Jahrhunderts ist dessen prägende Interpretation und Einspielung der thematisierten Komposition in den Romanen sehr präsent. Da jede Interpretation auch immer eine Deutung beinhaltet, wird dadurch Goulds eigensinnige Auslegung der „Goldberg Variationen“ ins Zentrum beider Texte gerückt. In Bernhards Roman dominiert genau diese Interpretation Wertheimers Musikerleben: sie wird zum Symbol für künstlerische Vollkommenheit. Wenn von der Komposition gesprochen wird, dann nie ohne den direkten Zusammenhang zu Goulds Auslegung der Musik: Das musikalische Werk tritt hinter seinem bekanntesten Interpreten zurück. Hierbei geht der Autor jedoch außer formaler, struktureller und entstehungsgeschichtlicher Fakten nie näher auf die musikalischen Variationen ein. Auf ihrer ästhetischen Wirkungsebene wird die Musik im Text nicht zum Klingen gebracht, d. h. sie bleibt für die Rezipienten weitgehend nur Stellvertreterin und Auslöserin für Wertheimers Untergang. Auch die trauernde Pianistin in Anna Enquists Roman vergleicht ihr eigenes Spiel immer wieder mit dem kanadischen Star. Sie versucht ihn als Menschen und Musiker zu verstehen sowie seine Deutung des Werkes zu begreifen, sodass auch in diesem Roman in Teilen die Interpretation Goulds vor der eigentlichen Musik steht. Da diese aber durchgehend minutiös in ihrer ästhetischen Wirkung im direkten Bezug zu den dadurch ausgelösten Emotionen beschrieben wird, ist

56 Enquist, Kontrapunkt. 2011, S. 17.

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die Komposition zu keinem Zeitpunkt austauschbar und stilistisches wie narratologisches Fundament des Romans. Für Wertheimer wird das Hören der Gouldinterpretation der „Goldberg Varia­ tionen“ zu einer anhaltenden Erschütterung seines Selbst- und Weltverständnisses. Das traumatisierende Erlebnis ist hier untrennbar mit der Künstlerfigur Goulds und dem Bach’schen Werk verbunden, das Trauma vollzieht sich durch passives Erleben, und Wertheimer hat keine funktionierenden Mechanismen, die er aktiv zur Bewältigung der Situation einsetzen könnte, wodurch er sich selbst seiner Chance auf eine (pianistische) Zukunft beraubt. Durch Goulds Tod schließlich sieht sich Wertheimer der Verkörperung seines Traumas beraubt, wodurch ihm Dreh- und Angelpunkt seines Lebens und Leidens abhandenkommen und auch für ihn nur der Tod der einzige Ausweg bleibt, würde es doch in dieser Situation aktiver Bewältigungsschritte und einer Neuausrichtung seiner Existenz bedürfen, zu denen er nicht in der Lage ist. Die Mutter in Anna Enquists Roman ist hingegen durch ein äußeres Ereignis traumatisiert und sucht aktiv die Bewältigung des Erlebten, indem sie sich bewusst für die eigene Interpretation dieser Komposition entscheidet und sich mithilfe der Musik einen Weg durch ihre Trauer arbeitet und damit auch einen Weg in eine, wenn auch noch unklare, Zukunft.57 Im Falle des Romans „Der Untergeher“ lässt sich, wie bereits angesprochen, der Aspekt der Analogien zwischen musikalischem und literarischem Werk ausblenden; der Text könnte ohne den direkten Bezug auf Bachs Musik gelesen werden. In Bernhards Fokus steht der Mensch als Künstler und dessen Untergang. Die „Goldberg Variationen“ werden hier als künstlerische Herausforderung gesehen, es geht um den besonderen Anspruch, den die Reproduktion des Werkes an den Interpreten stellt, nicht aber um den Gehalt des Werkes selbst. Anders verhält es sich im Roman „Kontrapunkt“. Hier sind die „Goldberg Variationen“ omnipräsent, der Text kann auch als Versuch, diese Musik literarisch zu fassen, gelesen werden: Visuelle Gestaltung und intensive Beschreibung führen in gewisser Weise für die musikaffine Leserschaft zu einem Hörbarmachen der „Goldberg Variationen“ im literarischen Werk.58 Das musikalische Werk erhält hier

57 Die Fähigkeit, das erlebte Trauma zu erzählen schafft die Möglichkeit, den geschlossenen Horizont zu einer Zukunftsperspektive hin zu öffnen. Vgl. dazu Müller, Trauma und Intermedialität. 2017, S. 46. 58 Die visuelle Gestaltung meint hier die bereits erwähnte Abbildung des Notentextes, die jeden Kapitelbeginn vorangestellt, bzw. dem Ende des letzten Kapitels nachgestellt ist. Die detaillierte Beschreibung der Komposition zeigt sich wie im Kapitel „Aria“ in jedem weiteren Kapitel des Romans und macht die Musik erlebbar: „[…] die Aria […] dieses ruhige, tragische Lied. Es ist eine Sarabande, […] ein feierliches Tempo und Nachdruck auf jeder zweiten Zählzeit, ein langsamer,

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eine besondere Funktion, die aus dem persönlichen Schicksal der Mutter resultiert. Die Reproduktion dieser Musik soll zur Bewältigung der Trauer beitragen, die Verarbeitung des Schicksals kann sie jedoch nicht erreichen. Hierfür muss der Medienwechsel zur Literatur und damit einhergehend der Schritt zum eigenen kreativen Ausdruck stattfinden. Darüber hinaus schafft der eigene Schreibprozess die Möglichkeit, die verlorengegangene Ordnung durch den eigenen Erzählvorgang neu zu schaffen.59 Sichtbar wurde in der Betrachtung der beiden Romane, wie sich die narrative Funktion ein und desselben Komposition unterscheiden kann und dass dies nicht primär an der Musik oder den musikalischen Inhalten festzumachen ist, sondern die Art und Weise des Eintretens und Verwebens von musikalischem Werk und Erzähltext ausschlaggebend für Funktion und Deutung der Musik im Text sind, die für die am Weitesten auseinanderliegenden Empfindungen verantwortlich sein können: für den einen traumatisierend, für die andere entstörend.

vielleicht sogar gravitätischer Tanz. […] Zum Schluss hin vervierfachen sich die Noten, aus den langen Notenwerten werden Ketten von Sechzehnteln, aber der erste Rhythmus geht nicht verloren. […] Nach der Aria komponierte Bach dreißig Variationen, in denen er das harmonische Schema, die Akkordfolge der Sarabande, beibehielt. Ihre Basslinie war die Konstante, gegen die er unerhörte Veränderungen abbildete. Zum Schluss erklang die Aria erneut. […] Ja, es waren die gleichen Noten. Nein, der Spieler und der Zuhörer konnten die dreißig Variationen zwischen dem ersten und dem letzten Ertönen der Sarabande nicht auslöschen. Mochte die zweite Aria auch mit der ersten identisch sein, man hörte sie doch anders, weil in der Zwischenzeit etwas geschehen war.“ (K, 9 f.) 59 Fricke, Das hört nicht auf. 2004, S. 247.

Martina Kofer

Im (kulturellen) Dazwischen: Trauma als ‚Störung‘ des Subjekts im Kontext post­ko­lo­nialer Diskurse in Olga Grjasnowas Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012) 1. Einleitung In dem Roman „Der Russe ist einer, der Birken liebt“ (2012)1 erlebt die jüdische Ich-Erzählerin Maria – Mascha – Kogan, ausgelöst durch den überraschenden Tod ihres Freundes Elias, die Wiederbelebung eines Kindheitstraumas, das im Bergkarabachkonflikt2 der 1990er Jahre in Baku / Aserbaidschan verortet ist. Die sechsjährige Mascha wird dabei Zeugin, wie eine junge Frau im hellblauen Kleid aus dem Fenster geworfen wird und unmittelbar vor ihr aufprallt. Nach dem traumatischen Ereignis verändert sich Mascha und zeigt typische Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die sich zum Beispiel in einem fachsprachlich sogenannten emotionalen Taubheitszustand3 äußern können. Wie Maschas Mutter im Roman berichtet, entwickelt Mascha dauerhaft eine Abneigung gegen körperliche Nähe, kapselt sich emotional von ihrer Umwelt ab und hat Schwierigkeiten damit, Empathie zu zeigen (RB, 121). Mascha flieht 1996 schließ-

1 Grjasnowa, Olga: Der Russe ist einer, der Birken liebt. München: dtv ²2013 [im Folgenden unter der Sigle „RB“ im Text]. 2 Im Bergkarabach-Konflikt streiten das christlich-orthodoxe Armenien und das islamisch geprägte Aserbaidschan um die Vorherrschaft in der Region Bergkarabach. Der Konflikt begann 1992 und dauerte bis 1994 an. Im Vorfeld kam es zu Pogromen gegen Armenier (Januar 1990), bei denen mehr als 90 Menschen getötet wurden. Nach dem Einmarsch russischer Panzer, bei dem es mehr als 150 Tote gab, flohen russische und armenische Familien aus Baku. Anfang 1992 kam es zu wiederholten Massakern in armenischen und aserbaidschanischen Dörfern. Bis zum Waffenstillstand 1994 mussten rund 800.000 Aserbaidschaner sowie 300.000 Armenier aus der Region fliehen. Im August 2014 kam es erneut zu Kämpfen zwischen aserbaidschanischen und armenischen Truppen. Vgl. Bergkarabach – Ein eingefrorener Konflikt taut auf. https://www.bpb.de/ politik/hintergrund-aktuell/190242/konflikt-um-berg-karabach-20-08-2014 (Zugriff am 31.10.2018). 3 Vgl. dazu Maercker, Andreas: Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag ⁴2013, S. 13 – 34. https://doi.org/10.1515/9783110683028-030

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lich mit ihrer jüdischen Mutter und ihrem russischen Vater nach Deutschland, wo sie als jüdische Kontingentflüchtlinge aufgenommen werden. Im neuen Land leidet sie verstärkt unter den Symptomen einer PTBS wie Flashbacks und Intrusionen4 und hegt Selbstmordgedanken. Dennoch verfolgt sie schließlich in Frankfurt sehr ehrgeizig ein Doppelstudium als Dolmetscherin mit dem Ziel, zukünftig für die UN zu arbeiten. Der Roman ist in vier Teile gegliedert. Der erste Teil handeltvon den Kindheitserinnerungen in Aserbaidschan, der Flucht mit den Eltern nach Deutschland und Maschas Adoleszenzzeit im Einwanderungsland, die von Diskriminierungserfahrungen geprägt ist. Im zweiten Teil stirbt Maschas Freund Elias an den Komplikationen einer Oberschenkelverletzung. Mascha erleidet in der Folge eine schwere Krise, verlässt das Haus nicht mehr und verweigert das Essen. Sie empfindet fortwährend Schuldgefühle und fühlt sich sowohl verantwortlich für den Tod der jungen Frau im hellblauen Kleid als auch für Elias’ Tod. Dennoch schließt Mascha ihr Doppelstudium als Jahrgangsbeste ab. Sie löst die ehemals gemeinsame Wohnung auf und geht gezielt nach Israel, wo sie in Tel Aviv einen Job als Übersetzerin annimmt. Der dritte Teil des Romans handelt schließlich von ihrer Zeit in Tel Aviv, wo sich die Symptome ihrer PTBS enorm verstärken: Sie erleidet Panikattacken, Halluzinationen und starke physiologische Reaktionen. Entscheidend für die sich dort verstärkenden Symptome der PTBS ist einerseits der Ort, der als symbolischer Auslöser fungiert und andererseits die Menschen, denen Mascha begegnet und die selbst von den Auswirkungen des kriegerischen Israel / Palästina-Konflikts gezeichnet sind. Im vierten Teil übertritt Mascha schließlich die Grenze ins Westjordanland, wo sie einen totalen Zusammenbruch erleidet. Der Palästinenser Ismael nimmt sie bei sich auf und kümmert sich um sie. Als er sie auf eine arabische Hochzeit in einem palästinensischen Flüchtlingslager mitnimmt, flieht Mascha von dort in Panik vor den Flashbacks, die sie heimsuchen, und landet schließlich in völliger Orientierungslosigkeit auf einem Feld mit Olivenbäumen. Insbesondere die hybriden Identitäten der Figuren weisen darauf hin, dass das zentrale Thema des Traumas und der Trauer im Roman einhergeht mit Fragen kultureller Zugehörigkeiten und einer kritischen Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Nation‘, ‚Heimat‘ und ‚Religion‘. Stephanie Catani behauptet von daher zu Recht, dass der Roman“die postkoloniale Kritik an identitätsstiftenden Zuschreibungen

4 Unter Intrusion versteht man in der Psychotraumatologie ein Wiedererleben des traumatischen Ereignisses durch „belastende Erinnerungen oder Erinnerungsbruchstücke. Als Flashbacks werden sehr real empfundene und plötzliche „Erinnerungsattacken“ bezeichnet, die den Betroffenen das Gefühl geben, das Ereignis noch einmal zu erleben. Vgl. Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemologie. 2013, S. 18.

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[teile], die das Subjekt religiös, geschlechtlich und ethnisch möglichst eindeutig zu klassifizieren suchen und kulturelle Diversität im Ansatz ausblenden“.5Die individuellen Diskriminierungserfahrungen werden dabei von der Ich-Erzählerin in einen größeren Kontext von struktureller Gewalt,hegemonialen Machtverhältnissen und Rassismus gestellt: „Der Hass war nichts Persönliches, er war strukturell. Die Menschen hatten keine Gesichter, keine Augen, keine Namen und keine Berufe mehr – sie wurden zu Aserbaidschanern, Armeniern, Georgiern und Russen“ (RB, 46). Die von solchen Erfahrungen geprägten Figurenversuchen sich insbesondere kulturellen und stereotypen Zuschreibungen zu widersetzen, indem sie Strategien des Überlebens und sich Behauptens entwickeln, die sich in Grenzüberschreitungen im topografischen wie symbolischen Sinne manifestieren. Diese Beobachtung knüpft an Carsten Gansels These an, dass „sich auch ‚Kultur‘ bzw. das kulturelle Feld als einer jener ‚Dritten Räume‘ ungebändigter Kommunikation (H. Bhabha) auffassen [lässt], in bzw. auf dem es zu einem permanenten Wechsel von Aufstörung und der Aushandlung von gesellschaftlichen Toleranzgrenzen kommt“.6 Daran lässt sich die Frage anschließen, ob „[k]ulturelle Zwischenräume“ in Grjasnowas Roman auch in Bezug auf Traumata als subjektive Störung „der bevorzugte Ort [sind], in dem Störungen offenbar und gegebenenfalls symbolisch ausgehandelt werden“.7 Hier zeigt sich möglicherweise eine Parallele zum Verhandlungsraum von Traumata, deren Nachwirkungen in Form der Merkmale einer PTBS ständig das Subjekt stören, indem, ähnlich wie es Bhabha für den Dritten Raum formuliert, sich Raum und Zeit kreuzen, Vergangenheit und Gegenwart sich schneiden, Innen und Außen ununterscheidbar werden. Insofern geht der Beitrag auch der Frage nach, inwiefern die Verhandlungen von Traumata und kultureller Identität ineinanderübergehen und kulturelle Zwischen- und Transiträume zum Third Spaceeines subjektiven und womöglich auch kollektiven, vielstimmigen Traumas werden. Denn wie Antonia Mehnert am Beispiel der (postkolonialen) Trauma-Literatur karibischer AutorInnen beobachtet, wird Trauma oftmals eher als ein multikontextuelles soziales denn als psychisches Problem des Subjekts

5 Catani, Stephanie: Im Niemandsland. Figuren und Formen der Entgrenzung in Olga Grjasnowas Roman Der Russe ist einer, der Birken liebt (2012). In: Über Grenzen. Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Stephanie Catani und Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2015, S. 95 – 109, hier: S. 95. 6 Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das Prinzip ‚Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/ Boston: de Gruyter 2013, S. 31 – 56, hier: S. 35. 7 Ebd.

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dargestellt. Mehnert fragt in diesem Zusammenhang vor allemnach der Repräsentation individueller Traumata im kollektiven Gedächtnis:8 When trauma is accepted as a social problem, because it is considered in a broader context and readers become witnesses of formerly unknown histories, victims of trauma cannot only find the necessary social surrounding that enables healing, but they can also emerge from their stigmatized position in society […].9

Auf der Basis dieser Überlegungen untersucht der Beitrag zunächst, in welchem Verhältnis Trauma-Verhandlungen zum Beziehungsgeflecht hybrider Figuren im Roman stehen und ob über Trauma lediglich im subjektiven oder gar im kollektiven Kontext erzählt wird. Dabei spielt die jüdische Teil-Identität Maschas und der Fluchtort Israel eine entscheidende Rolle für die Fragestellungen. Des Weiteren soll nach den Verhandlungsorten von Traumata gefragt werden. Hier spielt einerseits der Ort des traumatischen Erlebnisses, oftmals das Herkunftsland oder die so genannte ‚Heimat‘ der Traumatisierten eine Rolle. Andererseits verdient vor allem der Fluchtort Israel Beachtung, da Mascha hier unter verstärkten Symptomen ihrer PTBS leidet und schließlich einen totalen Kontrollverlust erfährt. Beide Orte – Aserbaidschan als ‚Heimat‘ wie Israel als Flucht-Ort sind gekennzeichnet von Kämpfen um politische Grenzziehungen, was zu der Frage führt, inwiefern kulturelle Zwischenräume oder auch Situationen des Übergangs zu einem Verhandlungsort von Traumata werden, die ihren Ursprung in ethnisch begründeten Macht- und Gewaltakten haben.

2. Trauma als kollektive und verbindende Erfahrung hybrider Figuren Mascha, ihre Freunde und die Menschen, denen sie auf ihren Reisen in Israel und im Westjordanland begegnet, sind hybride Identitäten, die nicht in das Schema starrer, binärer Zuschreibungen passen: Da ist zunächst einmal Maschas bester Freund Cem, Sohn türkischer Einwanderer, der äußerlich mit offenem Hemd und goldener Halskette dem Klischeebild ‚Macho-Türke‘ entspricht, jedoch homosexuell ist und ebenso wie Mascha ein Dolmetscher-Studium mit dem Ziel der Promo-

8 Vgl. Mehnert, Antonia: ‚Ou libéré?‘ Transnational Trauma in ‚Breath, Eyes, Memory‘ by Edwid­ge Danticat. In: The Morbidity of Culture. Melancholy, Trauma, Illness and Dying in Literature and Film. Hrsg. von Stephanie Siewert und Antonia Mehnert. Frankfurt/M.: Peter Lang 2012, S. 37 – 51, hier: S. 38. 9 Ebd., S. 39.

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tion absolviert. Eng verbunden sind Cem wie Mascha mit Maschas Ex-Freund Sami, zur Zeit des Bürgerkriegs in Beirut geboren, aufgewachsen in einer gutsituierten Familie mit einem schweizerischen Vater und einer libanesischen Mutter in Paris. Im Alter von 13 Jahren zog er mit seiner Familie nach Frankfurt und siedelte später zu seinem Halbbruder in die USA über, um dort zu studieren. Zum Frankfurter Kreis zählt auch die Nebenfigur Sibel, eine Ex-Geliebte und ehemalige Mitbewohnerin Maschas, die vor einer drohenden Zwangsheirat und dem von körperlicher Gewalt geprägten Zuhause geflüchtet ist und seitdem von ihrem Bruder bedroht wird. In Israel hingegen gehören die Geschwister Tal und Ori zu Maschas engsten Bezugspersonen. Ihre Eltern „waren so etwas wie die israelische MayflowerGeneration […]. Ihre Großeltern waren noch vor der Staatsgründung illegal aus Osteuropa eingewandert […]“ und werden von der Protagonistin als „israelische Pioniere“ bezeichnet (RB, 236). Die Schwester väterlicherseits und ihr Mann sind „bei einem Anschlag während der zweiten Intifada ermordet worden […]“ (ebd.). Ori, ein israelischer Soldat, hat als Kind einige Jahre in London gelebt. Er verliebt sich in Mascha, während diese sich aber mehr zu seiner Schwester Tal hingezogen fühlt und mit ihr ein Verhältnis beginnt. Tal ist als israelische Ex-Soldatin ebenso wie Mascha schwer von Kriegserlebnissen traumatisiert. Nach ihrer Entlassung aus der Armee ist sie sowohl in der arabisch-israelischen KPals auch in israelischen NGO’s wie Breaking the Silence und Anarchists Against The Wall politisch aktiv.10 Ebenso wie Mascha hat Tal aufgrund ihrer PTBS Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen und Emotionen zu zeigen und „erscheint […] als Alter Ego Maschas“.11 Betrachtet man das Figurenensemble in seiner Gesamtheit, ist der Einschätzung Stephanie Catanis zuzustimmen, dass Mascha und ihre Freunde […] die Sinnhaftigkeit gerade jener Rollenzuschreibungen in Frage [stellen], hinter denen sich starre Binäroppositionen verbergen und die kein „Dazwischen“ zu ermöglichen scheinen (Palästinenser / Israeli; Mann-Frau; Deutscher-Ausländer; Jude-Muslim etc.). Die fatalen Konsequenzen derart ausschließlich verstandener Identitätszuschreibungen

10 „Breaking the Silence is an organization of veteran combatants who have served in the Israeli military since the start of the Second Intifada and have taken it upon themselves to expose the Israeli public to the reality of everyday life in the Occupied Territories. We endeavor to stimulate public debate about the price paid for a reality in which young soldiers face a civilian population on a daily basis, and are engaged in the control of that population’s everyday life. Our work aims to bring an end to the occupation.“ https://www.breakingthesilence.org.il/about/organization (Zugriff am 31.10.2018). „Anarchists Against The Wall ist eine Organisation in Israel, die sich gegen die israelischen Sperranlagen im Westjordanland engagiert.“https://de.wikipedia.org/wiki/ Anarchists_Against_the_Wall (Zugriff am 31.10.2018). 11 Catani, Im Niemandsland. 2015, S. 99.

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vergegenwärtigen dabei jene politischen Katastrophen, die den Roman rahmen: Zum einen Israel und der Nahostkonflikt […]. Zum anderen das Heimatland Aserbaidschan.12

Die kulturelle Hybridität der Figuren wird so als normale Biografie des 3. Jahrtausends erzählt, ohne jedoch zu verschweigen, dass die sozial-politische Realität nach wie vor von kulturellen Dominanzverhältnissen und dem Festhalten und der Verteidigung nationaler Identität bestimmt ist. Dieser kritische Blick auf hybride Identitätsformationen entspricht der Kritik Homi Bhabhas an einem vermeintlich romantisierten und beschönigten Multikulturalismus als den Versuch, „disparate Kulturen in ein harmonisches Ganzes zusammenzuschweißen“.13 Anstatt kulturelle Differenzen ausschließlich als „Diversity“ zu feiern, sollte Bhabha zufolge vielmehr „ihr umkämpfter und konfliktärer Charakter betont werden […]“.14 Von daher ist es auch für die Analyse der Figuren in Grjasnowas Roman von Bedeutung, „a closer look at the literary portrayal of the exiled and traumatized bodies and its effects on identity construction“15 einzunehmen, denn auch hier stehen die traumatisierten Körper, ihre physiologisch wie psychologisch konnotierten ‚Störungen‘ des Selbst, im Zentrum des Textes. So zeigen sich am Beispiel der einzelnen Figuren verschiedene Arten von Traumata wiefamiliäre Gewalt, der Tod einer nahestehenden Person oder Kriegserlebnisse. Es kristallisiert sich jedoch ein Schwerpunkt auf den Bereich 5 im Krankheitsklassifizierungssystem DSM (DSM-5) heraus. Als Trauma-Kriterium gilt hier „die (tatsächliche oder drohende) Konfrontation mit Tod, schwerer Verletzung, sexueller Gewalt. Als vier mögliche Formen werden spezifiziert: direkte Erfahrung, persönliche Zeugenschaft, in der nahen Familie bzw. bei nahen Freunden, […]“.16 Vor dem Hintergrund, dass die Figuren, die in enger Beziehung zu Mascha stehen, alle Erfahrungen gemacht haben, die in diesen Bereich passen, konstituiert sich das ihnen Gemeinsame meines Erachtens vielmehr über die traumatische Erfahrungals über ihre kulturellhybride Identität. So heißt es im Roman: „Oft wenn Cem betrunken war, versprach er uns fluchend und drohend, vom Tod seines Bruders zu erzählen. Aber er tat es nicht, und wir fragten nicht nach, denn wir verschwiegen ebenfalls etwas“ (RB, 67). Das hier beschriebene Gefühl der Verbundenheit entsteht vor allem durch das Trauma auslösende Erlebnis in der Vergangenheit und dessen Verbergen und Verschweigen. Dabei spiegeln sich die Auswirkungen des eigenen Traumas am Körper des

12 Ebd. 13 do Mar Castro Varela, María / Dhawan, Nikita: Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung. 2., komplett überarbeitete und erweiterte Auflage. Bielefeld: Transcript 2015, S. 248. 14 Ebd. 15 Mehnert, Transnational Trauma. 2012, S. 38. 16 Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 15.

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Anderen wider. Diese Form der Vervielfachung des Traumas zeigt sich besonders deutlich, als Mascha der Israelin Tal begegnet: „Ich schaute immer wieder zu Tal. […] In ihrem Gesicht sah ich außerdem etwas, das auch in meinem war, und es war nichts Gutes“ (RB, 187). Ebenso wie Mascha leidet Tal an einer durch die Kriegserfahrungen bedingten PTBS: „Wir beide wussten, was Krieg bedeutete und wie es war, jemanden sterben zu sehen. Jemanden sterben zu lassen“ (RB, 198). Dabei kann man mit Bezug auf Aleida Assmann von einer“körperliche[n] Einschreibung“17 des Traumas sprechen, die sich in Grjasnowas Roman in der Regel als ‚Störung‘ der Haut in Form von Narben wie bei Sibel, deren Bruder ihren „Rücken mit einem Bügeleisen“ (RB, 81) brandmarkte und deren „ganzer Körper […] vernarbt [war]“ (RB, 83), zeigt. Auch der Palästinenser Ismael hat am „Unterarm […] eine lange Narbe“, deren Gewebe „nach einer Verbrennung aus[sah]“ (RB, 271). Während die Narben dabei ein für alle sichtbares, offensichtliches Zeichen von traumatischen Gewalterfahrungen sind und es die Haut selbst ist, die ihren Betrachter aufstört, äußern sich traumatische Ereignisse jedoch auch in leiserer Form am oder durch den Körper. Sie sind weniger offensichtlich als die für sich sprechenden Narben. Sie tauchen als Flecken – irritierende Leerstellen – auf: „Cem hatte einen unregelmäßigen Bartwuchs, rechts von seinem Mund gab es einen blinden Fleck, eine Stelle, die kahl war“ (RB, 56). Die kahle Stelle im Gesicht Cems verweist hier auf das traumatische Ereignis des qualvollen Krebstods des Bruders, über den Cem nicht sprechen möchte, der ihn aber unwiderruflich prägt. Auch bei Mascha bleibt das traumatische Ereignis metaphorisch im Gesicht haften. Das Kind Mascha „wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und Blut blieb an seiner Wange“(RB, 42f.). Dieses Blut saugt sich geradezu in Maschas Körper ein und äußert sich bei Flashbacks wiederholt physiologisch als Nasenbluten. Maschas Gesicht, insbesondere ihre Wange, ist dabei die Körperregion, an der das Trauma haften bleibt. Antonia Mehnert stelltdie Theseauf, dass „bodies not only account for violent historical processes but also become the sites of a transnational trauma. The fact that the characters are not necessarily free in their ‚new‘ surroundings, but are haunted by the past, demonstrates that the traumatic experience is at the base of the transnational“.18Auch in Grjasnowas Roman wird ersichtlich, dass die Körper zum Medium eines transnationalen Traumas werden und von ihnen eine Vielstimmigkeit traumatischer Erfahrungen ausgeht, in der dennoch auch das individuelle Schicksal seinen Raum hat, wie es in Maschas Erinnerung an

17 Assmann, Aleida: Trauma des Krieges und Literatur. In: Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Hrsg. von Elisabeth Bronfen, Birgit R. Erdle und Sigrid Weigel. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1999, S. 95 – 116, hier: S. 95. 18 Mehnert, Transnational Trauma. 2012, S. 40.

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den Tag des traumatischen Ereignisses deutlich wird: „Über uns waren Schreie, polyphones Geschrei und eine langgezogene weibliche Stimme“ (RB, 282). So wird trotz der Ortswechsel und der mit ihnen verbundenen kriegerischen Konflikte das Gemeinsame der kulturell heterogenen Figuren über den Körper und die Einschreibung des Traumas in ihn hergestellt und so das individuelle Trauma in einen transnationalen Kontext gestellt.

3. Traumatische Orte und Flucht-Orte Wohnung und Heimat als traumatische Orte Vor dem Hintergrund eines transnationalen Verständnisses von Trauma im Roman, stellt sich nun die Frage, welche Rolle Aserbaidschan als ‚Heimat‘ Maschas und topografischer Raum des traumatischen Ereignisses im Text einnimmt. Dabei wird im Text deutlich, dass sich das Gefühl von ‚Heimat‘ für Mascha am ehesten im Zusammenleben mit ihrem Freund Elias in der gemeinsamen Wohnung herstellt. Elias bedeutet für Mascha Sicherheit und Ankommen in einem Zustand der fortwährend empfundenen Bedrohung und einer Überwachsamkeit, die in der Fachsprache als Hypervigilanz bezeichnet wird. Die durch Elias vermittelte Sicherheit wird dabei insbesondere durch den gemeinsamen Raum der Wohnung ausgedrückt, „aus der [Mascha – M.K.] eigentlich nie mehr ausziehen wollte“ (RB, 146). Villém Flusser weist auf einen Bedeutungsunterschied zwischen Wohnung und Heimat hin, indem er schreibt: „Man hält die Heimat für den relativ permanenten, die Wohnung für den auswechselbaren, übersiedelbaren Standort. Das Gegenteil ist richtig: Man kann die Heimat auswechseln oder keine Heimat haben, aber man muß immer, gleichgültig wo, wohnen“.19 Die Wohnung, die das Gewöhnliche und Gewohnte darstelle, sei für den Menschen überlebensnotwendig, da es ihm helfe, die von außen ankommenden bloßen Geräusche, das Chaos, in Informationen umzuwandeln, um auf diese Weise das Ungewohnte und Ungewöhnliche verarbeiten zu können: „Wohnen ist die Weise, in der ich mich überhaupt erst in der Welt befinde, es ist das Primäre.“20 In diesem Zusammenhang hat die Wohnung eine ambivalente Funktion für Mascha. Denn sie ist der Ort, an dem sich das Grauen wiederholt, an dem die Figuren von Tod und Gewalt heimgesucht werden. Im traumatischen Erlebnis wird die Frau im hellblauen Kleid aus

19 Flusser, Villém: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2013, S. 27. 20 Ebd., S. 28.

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dem Fenster ihrer Wohnung geworfen, Elias stirbt in der gemeinsamen Wohnung, Sibel wird in Maschas Wohnung bedroht. Die Wohnung wird in Grjasnowas Roman zum ambivalenten Sinnbild zwischen Schutz und Bedrohung. Sie ist der Ort, der in Maschas Kindheit nur mit verdeckten Fenstern sicher war und in den Soldaten eingedrungen sind und gemordet haben. Vor diesem Hintergrund sind Wohnungen für Mascha, unabhängig davon, wo sie sich gerade aufhält, ein Ort der Bedrohung: Das Türschloss meiner Wohnung machte verdächtige Geräusche. Ich war bestimmt ausgeraubt worden. […] Die Katzen fand ich in einem Transportkäfig in meinem Schlafzimmer, die Katzenaugen leuchteten in psychedelischen Farben, und die Tiere miauten mich feindselig an. Der Käfig verströmte einen äußerst unangenehmen Geruch (RB, 253).

Auch der Begriff der Heimat kehrt sich in Olga Grjasnowas Roman in das Gegenteilige von ‚heimisch‘ um und wird vielmehr mit dem ‚Unheimlichen‘ assoziiert. Heimat ist der Inbegriff des Schreckens und des Grauens: Für Mascha beinhaltet „der Begriff Heimat […] stets den Pogrom“ (RB, 203). Diese Assoziation zu Heimat entspricht Homi Bhabhas Beobachtung, „daß das Fehlen einer klaren, festgelegten geokulturellen Zugehörigkeit meist als die Verschränkung traumatischer Ambivalenzen einer persönlichen Geschichte mit unlösbaren Antagonismen des politischen Kontextes, in dem diese entstanden sind, begriffen werden muß“.21 Heimat wird so ebenso wie Wohnung (als Ort des Zuhauseseins) zum Ausgangspunkt und zum zentralen Ort der Störung. Aufgrund dieser Erfahrung lebt Mascha in einer ständigen Fluchtbereitschaft. Dass es dabei gefühlt um eine akute Lebensbedrohung geht, wird daran deutlich, dass Mascha anstatt vom „Leben“ vom „Überleben“ in anderen Ländern spricht: „Ich wäre in der Lage, innerhalb von zwei Stunden meine Sachen zu packen und unsere Wohnung zu verlassen. Ich könnte in den meisten Ländern überleben. Eigentlich brauchte ich gar keine Sachen. Ich könnte sofort los“ (RB, 42). Daraus resultiert nun eine Korrespondenz der ‚unheimlichen‘ Wohnung mit dem ‚Unheimischen‘ des fehlenden Zuhauses. Denn nach Bhabha stellt „[d]ie hybride Identität der Migranten und Migrantinnen […] ein Gebilde dar, das durch die unheimliche Fähigkeit gekennzeichnet ist, überall zuhause zu sein – eine Fähigkeit, die immer das Risiko in sich berge, nirgendwo ein Zuhause zu finden. Das Unheimliche, so Bhabha, ist auch das Unheimische.“22 Die permanente Alarmbereitschaft geht jedoch nicht nur auf das persönlich erfahrene traumatische Ereignis in Aserbaidschan zurück, sondern ist als jüdische

21 Bronfen, Elisabeth: Vorwort. In: Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg ²2011, S. IX – XIV, hier: S. XII. 22 do Mar Castro Varela / Dhawan, Postkoloniale Theorie. 2015, S. 260.

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Erfahrung im Familiengedächtnis verankert und verweist von daher auch auf ein kollektives Gedächtnis traumatischer Erfahrungen: [I]n meiner Kindheit gab es einen gepackten Koffer zu Hause, für den Fall der Fälle. In unserem Fall war es die ehemalige Aktentasche meines Großvaters, und darin waren frische Unterhosen, Familienfotos, Silberlöffel und Goldkronen, das Kapital, das sie unter dem kommunistischen Regime akkumulieren konnten (RB, 276).

Vor diesem Hintergrund ist die Assoziation der Heimat mit dem Pogrom ebenso wie die permanente Alarm- und Fluchtbereitschaft und die „unheimliche Fähigkeit […] überall zuhause zu sein“ hier als Teil eines kollektiv jüdischen Traumas zu verstehen.

Elias als Zugang zum Raum des Traumas Insbesondere in Bezug auf die traumatische jüdische Geschichte gibt es im Roman zahlreiche Hinweise darauf, dass die Figur Elias die Verbindung zu den verborgenen subjektiven wie kollektiven Geschichtenist. Darauf deutet unter anderem die verstaubte Kiste hin, die Mascha nach Elias’ Tod in der gemeinsamen Wohnung findet und die gefüllt ist mit von Elias selbst gesammelten Dokumenten und Fotos aus der Zeit des Bergkarabachkonflikts. Ich setzte mich in die Küche und breitete die Fotografien vor mir auf dem Tisch aus. Die meisten kannte ich aus meiner Grundschulzeit. Viehwaggons mit Flüchtlingen, ausgehungerte Kinder, abgebrannte Dörfer, abgefrorene Zehen, notdürftig mit Lappen abgebunden, Zelte, Wunden, Tote. Demonstranten, zerschossene Busse, zerquetschte Autos. Rote Nelken auf Gräbern. Prozessionen mit offenen Särgen. Alijew, der erste, der zweite und der dritte. Azeristyle (RB, 150).

Elias, der Mascha immer wieder dazu drängt, sich mit ihrem Trauma auseinanderzusetzen und gleichsam mit ihr nach Tel Aviv reisen wollte, nimmt dabei im Text eine Schlüsselfunktion für die Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit ein. Dabei geht es einerseits um die (Wieder)Entdeckung von jüdischer und aserbaidschanischer „Präsenz“23, die sich in kulturellen, politischen und religiösen Metaphern ausdrückt und die nicht zu verwechseln ist mit einer Rückkehr zu einer vermeintlich ursprünglichen, unveränderten Identität. Stattdessen stellt sie sich im Spannungsfeld einer ursprünglichen, vergangenen und in einer transformierten,

23 Hall, Stuart: Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg: Argument, Neuausgabe mit leicht geändertem Satzbild 2012, S. 34.

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gegenwärtigen Form dar, wie es sich in personifizierter Form vor allem an der Figur Elias zeigt. Auf figuraler Ebene ist es Elias, der Mascha immer wieder dazu drängt, über das traumatische Ereignis zu sprechen. Wie schwer es dabei Mascha fällt, dieses als ihrem „Ich“ zugehörig zu empfinden, wird in einem ersten Versuch der narrativen Äußerung im Gespräch mit Elias deutlich, in der es ihr lediglich gelingt, in der Distanz erzeugenden 3. Person und in Form von Ich-Vermeidung über das Erlebte zu berichten. Die Syntax wird dabei dominiert von dem Pronomen „Es“, welches zudem einen Hinweis auf die Innerlichkeit im Sinne des psychoanalytischen „Es“ gibt:24 Es gab ein Kind, und es gab einen Vater. Der Vater wollte das Kind in Sicherheit bringen. Bis zu Großmutters Wohnung mussten sie zehn Minuten lang laufen. Das Kind war noch keine sieben und spürte, dass sich in den letzten Tagen etwas verändert hatte, aber es hätte nicht sagen können, was. Daran dachte das Kind, als eine Frau neben ihm aufschlug. Das Blut rann langsam bis zu den Kinderschuhen, und die Schuhspitzen des Kindes färbten sich rot. Das Blut war warm, und die Frau war jünger, als ich es heute bin. Das Kind wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und Blut blieb an seiner Wange. Es hätte schlimmer kommen können, sagte die Großmutter am späten Abend, während sie die Blutkruste von den Kinderschuhen abwusch (RB, 42 f.).

Die Erinnerungen werden hier in einer monotonen Aneinanderreihung wiedergegeben, die vom Subjekt abgespalten erscheinen und aufgrund des sachlichen Tons keinerlei Emotionalität preisgeben. Die Form entspricht dabei den Analyseergebnissen narrativer Strukturen von Traumata in der Literatur, wie sie Hannes Fricke als Erzählweise „in einfache[r] Ausdrucksweise mit gleichgeordnetem, parataktischem Satzbau“ und „einfache[r] Wortwahl“25 beschreibt. Mascha gibt an dieser Stelle zwar Elias’ Drängen nach und erzählt etwas; die Abwehr gegen die Erinnerung an das traumatische Erlebnis ist jedoch förmlich spürbar und kann als erzählerisches Mittel von Vermeidungsstrategien gelesen werden, die das Ereignis als abgespalten vom Subjekt verdeutlicht.

24 Günter H. Seidler weist auf die „Zeitgebundenheit der Konzeptionalisierung psychischer Störungen hin“. Während zur Zeiten der Psychoanalyse die „Angstquelle […] konzeptionell nach Innen verlegt und im ‚Es‘ der Ursprung von Bedrohungen gesehen [wurde]“, geht die Tendenz „in der heutigen postpsychoanalytischen Zeit“ wieder dahin, „reale Bedrohungen, die aus der Außenwelt stammen, als solche wahrzunehmen“. Einleitung: Geschichte der Psychotraumatologie. In: Posttraumatische Belastungsstörungen. Hrsg. von Andreas Maercker, Berlin/Heidelberg: Springer Verlag ⁴2013, S. 3 – 12, hier: S. 5. 25 Fricke, Hannes: Das hört nicht auf. Trauma, Literatur und Empathie. Göttingen: Wallstein 2004, S. 224.

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Entscheidend für die symbolische Bedeutung, die die Figur Elias im Text einnimmt, ist die offene Wunde an seinem Bein, durch die er schließlich auf tragische Weise ums Leben kommt. Dabei weist schon die Herkunft des ursprünglich griechischen Worts „Trauma“, das sich mit „Wunde“ übersetzen lässt, auf die enge Verbindung dieser Figur zu Maschas traumatischem Ereignis hin. Geht man zunächst davon aus, dass Elias’ Wunde das Trauma repräsentiert oder auch widerspiegelt, weist schon der offene, eiternde Charakter seiner Wunde metaphorisch auf eine unabgeschlossene und eine letztlich nicht abschließbare Heilung hin. Das Bild der offenen Wunde deutet auf der symbolischen Ebene weiterführend auch auf das traumatische Ereignis „Krieg“ hin, dessen „Wunden niemals heilen“.26 Diese Verbindung von Elias’ Tod und Krieg wird auf der Trauerfeier nach seiner Beerdigung in eine direkte Verbindung zueinander gesetzt: „Manche sagten, dass es schrecklich sei und dass man so jung nicht sterbe und schon gar nicht an einem Knochenbruch. Ältere widersprachen: im Krieg“ (RBL, 115). Dabei stellt die Beerdigung Elias’ selbst eine Assoziation zum metaphorischen Begraben der Erinnerung dar. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass Elias, gelesen als das personifizierte Trauma, chronotopisch in der Gegenwart präsent ist und zugleich auf die Traumata der Vergangenheit verweist. Darauf deutet nicht nur die Metaphorik der Wunde, sondern vor allem die Namensgebung hin, welche im Roman zwischen Elias und Elischa wechselt. Die Benennung Elischa entspringt dabei einer Laune von Maschas Eltern, die auf der Suche nach einem passenderen Namen für Elias schließlich „Elischa“ wählen. Elias muss erst mit einem „zärtlichen Diminuitiv“ „russifiziert“ (RB, 26) werden, um von den Eltern „angenommen“ (ebd.) zu werden. Die Doppelbenennung Elias / Elischa verweist vor diesem Hintergrund auf eine reale und eine imaginierte Identität Elias’. Kulturgeschichtlich stammt der Name Elias aus dem Tanach und geht auf den Propheten Elija zurück. Er bedeutet „Mein Gott ist JH (WH)“.27 Elias ist einer der wichtigsten Propheten des Judentums, da ihm die Aufgabe zufällt, die Ankunft des Messias anzukündigen. In der Bibel ist Elischa der würdige Nachfolger des gen Himmel gefahrenen Elias’. Diese Nachfolgeridentität nimmt Elischa auch nach Elias’ Tod für Mascha ein, die in Träumen, Flashbacks und Intrusionen nach dem traumatischen Ereignis immer wieder Elischa in Halluzinationen vor sich sieht.

26 Grjasnowa, Olga: Recherche zu Der Russe ist einer, der Birken liebt. In: ÜberGrenzen. Texte und Lektüre der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. von Stephanie Catani und Friedhelm Marx. Göttingen: Wallstein 2015, S. 87 – 93, hier: S. 87. 27 Vgl. Beate Ego:Elia im Judentum. In:Elia und andere Propheten in Judentum, Christentum und Islam. Hrsg. von Christfried Böttrich, Beate Ego und Friedmann Eißler. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 2013, S. 10 – 74, hier: S. 18.

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Darüber hinaus ist jedoch auch die Herkunft des Namens Elischa nicht eindeutig auf eine Religion zurückzuführen, da er zusätzlich zu biblischen Figuren auch mit dem Propheten Al-Yasa oder Aljasa aus dem Koran in Verbindung gebracht werden kann. Die sich im Text abwechselnde Benennung Elias und Elischa weist vor diesem Hintergrund auf eine Gleichzeitigkeit von ‚vorherigem‘ und ‚darauffolgendem‘ hin. Fasst man alle diese Beobachtungen der symbolischen Bedeutung der Figur Elias / Elischa zusammen, wird deutlich, dass Elias / Elischa im Roman als personifizierter Wegweiser auftritt, der zurück zum Raum der traumatischen Erfahrung führt, die topografisch im Schwellenraum Israel / Palästina verortet ist. Das individuell erfahrene Trauma fließt damit ein in die Erzählung der kollektiven Traumata kolonisierter und unterdrückter Minderheiten und wird im weiteren Verlauf vorrangig am Beispiel der Binäropposition Israeli – Palästinenser erzählt.

Israel und das Westjordanland als Räume der ‚Wieder-Erzählung‘ des Traumas Der Fluchtort Israel entwickelt sich dabei für Mascha unerwarteterweise als der Ort der Wiederbelebung des Traumas, an demeine „Wieder-Erzählung der Vergangenheit“28 in Gang gerät. Dabei geht die imaginierte und halluzinierte Gewalt der Vergangenheit direkt über in die Realität der kriegerischen Gegenwart: Wenn ich übersetzte oder meinen Orangensaft trank, sah ich den hellblauen Stoff, der sich langsam mit Blut tränkte, und die Blutlache auf dem Asphalt. Ich konnte meine Hand nach ihr ausstrecken. Ich konnte sie berühren. Ich hörte die Stimmen ihrer Mörder. Immer deutlicher. Die meisten Gewehrläufe, die ich sah, waren real (RB, 198f.).

Im Bild des „hellblauen Stoff[s], der sich langsam mit Blut tränkt“, vermischen sich auf diese Weise metaphorisch mehrere Traumata: Das von Mascha selbst erfahrene traumatische Ereignis, das kollektive Trauma des jüdischen Volks und die konfliktbeladene Geschichte des Staates Israel. Die Verbindung von Maschas individuellem traumatischem Erlebnis zum kollektiven Trauma Israels / Palästinas wird narrativ nicht nur, wie oben dargestellt, durch die symbolische Namensgebung Elias’, sondern auch durch die Symbolik der Farbe Hellblau verdeutlicht, die in der jüdischen Kulturgeschichte eine bedeutende Rolle spielt, was sich zum Beispiel in der Wahl der Farbe Hellblau für die israelische Flagge zeigt. Das Hellblau des Kleides der in Baku ermordeten Frau ist dabei das immer wiederkehrende Bild von Maschas Intrusionen und Flashbacks und entspricht somit einem symbolischen

28 Hall, Rassismus und kulturelle Identität. 2012, S. 28.

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Schlüsselreiz zu Maschas Erinnerungen. Zudem fällt an dieser Stelle auf, dass es Mascha in Israel gelingt, die innere Distanz zum Trauma zu verringern, was sich sprachlich im Wechsel zum Erzählen in der Ich-Person äußert. Tel Aviv und Ramallah als konfliktbeladene und traumatische topografische Orte werden in diesem Zusammenhang als Orte der reziproken Störung von Raum und Subjekt dargestellt. Der Raum hat dabei eine verstörende Wirkung auf Mascha: seine politische und sinnliche Wirkung verursachen eine für Mascha unkontrollierbare Störung ihrer Vermeidungsstrategien bis zum kompletten Kontrollverlust, den die Ich-Erzählerin Mascha mit dem Kommentar „Israel hatte mich“ (RB, 213) auf den Punkt bringt. In der psychotraumatologischen Fachliteratur spricht man von „symbolisierende[n] Auslöser[n]“, die die Erinnerungen an das Trauma reaktivieren. Es sind „Schlüsselreize wie gleiche Gegenstände, Geräusche, Düfte“29 und im Roman immer wieder die Militäruniformen, die u. a. starke körperliche Reaktionen wie Atemnot und Zitternhervorrufen. Darüber hinaus halluziniert Mascha immer wieder den ‚zurückgekehrten‘ Elischa: Mit einer Hose im Arm stand er neben der Umkleidekabine und sah mich fragend an, auch er trug Sachen, die nicht zusammenpassten. Doch es war nicht Elischa. Farben und Geräusche mischten sich, als ob in meinem Kopf die Sicherung rausgeflogen wäre. Ich fing an zu zittern und zu schwitzen und lief hinaus, über die Straße, auf das Meer zu. Irgendwann stieß ich mit einer fülligen Frau zusammen, aus ihrer Einkaufstüte rollten Tomaten auf den Asphalt. Überrot und überfleischig. […] Ich zitterte und lief weiter. Alles war unerträglich grell und laut. Ich stützte mich an einer Wand ab, spürte eine Hand an meiner Schulter, schrie, schüttelte sie ab und lief ein paar Schritte in irgendeine Richtung. Ich rannte auf das Meer zu. Als die Angst etwas nachließ, fiel ich in den Sand. Das Meer war ruhig. […] Das Zittern wurde wieder heftiger, und ich schwitzte und zitterte und schwitzte. (RB, 216f.)

Der Ort des erlebten Traumas, seine Gestaltung, seine Gerüche, seine gesamte sinnliche Wahrnehmung, ist Auslöser für Retraumatisierungen. Dadurch wird der Erinnerungsraum zu einem ‚Dritten Raum‘, in dem die Geschichte des Traumas sich entfalten kann. Der ‚Dritte Raum‘ offenbart sich hier zudem als Ort der Trauer für das Subjekt: The third space is also a site in the sense of a situation, and for the subject, a site’s other sense too, that is, of care or sorrow, grief and trouble: to make site is to lament or mourn. For the third space is above all a site of production, the production of anxiety, an untimely place of loss, of facing of appearance and disappearance.30

29 Maercker, Symptomatik, Klassifikation und Epidemiologie. 2013, S. 18. 30 Young, Robert J. C.: The Void of Misgiving. In: Communicating in the Third Space. Hrsg. von Karin Ikas und Gerhard Wagner. New York/London: Routledge 2009, S. 81 – 95, hier: S. 82.

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Während der Ort verstörende Wirkung auf Mascha hat und Flashbacks provoziert, hat Mascha andererseits eine ebenso aufstörende31 Wirkung auf den Raum. Schon am Flughafen sorgt ihr Name „Maria“ für Irritation und die arabischen Schriftzeichen auf ihrem Laptop stören die Menschen, mit denen sie dort in Kontakt tritt, auf. Aufstörend wirkt dabei ihre widersprüchliche Identität, ihr kulturell Anderes. Denn während erwartet wird, dass Mascha als Jüdin in Israel Hebräisch beherrscht, spricht sie lediglich Arabisch. Als sich Mascha an späterer Stelle bei einem Kellner in Tel Aviv auf Arabisch bedankt und dieser sichtlich darüber erfreut ist, löst sie wiederum einen aufstörenden Moment aus: Sein [das des Kellners – M.K.] langes, knochiges und leicht gerötetes Gesicht schaute mich fragend an. Ori schaute mich ebenfalls irritiert an, der Kellner fing seinen Blick auf und fragte mich amüsiert auf Arabisch: „Wo kommen Sie her?“ […] „Aus Deutschland“. […] Der Kellner lächelte mich an. „Und Ihr Mann?“, fragte er mich. Ori zog fragend seine rechte Augenbraue hoch. „Ich bin nicht verheiratet. Ich bin Dolmetscherin.“ „Hebräisch-Arabisch?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf: „Ich übersetze Russisch und Französisch.“ […] „Du sprichst Arabisch?“, fragte mich Ori. „Wieso?“, fragte Tal. „Was heißt hier wieso?“, sagte ich. „Du sprichst Arabisch, aber kein Hebräisch, ist doch seltsam“, sagte sie. (RB, 188 – 189)

Dabei zeigt sich hier, dass nicht nur „die soziale Beschaffenheit“, sondern auch die kulturelle Beschaffenheit der Räume […] die Handlungen der Figuren [beeinflusst] und […] in vielfältiger Weise Auslöser von konflikthaften Prozessen sein und „Störungen“ in der Textwelt produzieren [kann]. Störungen entstehen dabei vor allem dann, wenn es um Auseinandersetzungen oder das Überschreiten der Raumgrenzen geht.32

31 Gansel spricht von „drei Graden einer Störung […] auf einer aufsteigenden Skala […]: a) ‚Aufstörung‘ im Sinne von Aufmerksamkeit erregen, integrierbar / restitutiv. b) ‚Verstörung‘ im Sinne einer tiefgreifenden Irritation, reparierbar / regenerativ. c) ‚Zerstörung‘ im Sinne nachhaltiger Umwälzung, nicht integrierbar / irreversibel. Vgl. Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘. 2013, S. 35. 32 Gansel, Carsten: Störungen im Raum – Raum der Störungen. Vorbemerkungen. In: Störungen im Raum – Raum der Störungen. Hrsg. von Carsten Gansel und Paweł Zimniak. Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2012, S. 9 – 13, hier: S. 10.

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Dieses von Carsten Gansel so beobachtete konfliktauslösende Überschreiten der Raumgrenzen zeigt sich einerseits, wie oben beschrieben, bei der Einreise nach Israel als auch in Ramallah nach der Überschreitung der Grenze ins Westjordanland. Dabei wird das Überschreiten der Raumgrenze begleitet von der Überschreitung einer inneren Grenze Maschas, die bisher für die Abspaltung des traumatischen Ereignisses von ihrem Ich gekennzeichnet war. Dieses Überschreiten der inneren Grenze analog zur Raumgrenze wird durch die Berührung von Maschas Wange – des körperlichen ‚Ortes‘ der Einschreibung des Traumas – durch ihre Freundin Tal symbolisiert, die darüber hinaus ein hellblaues Kleid trägt, was durch die Erzähl-Instanz besonders hervorgehoben wird: „Tals Kleid war hellblau, nicht dunkelblau, nicht ultramarinblau, nicht azurblau, nicht graublau. Hellblau“ (RB, 262). Kurz darauf flüchtet Mascha durch ein Fenster in der Toilette raus auf die Straße und findet sich „alleine im Zentrum von Ramallah“ (RB, 264) wieder. Dort irrt sie – als Jüdin und als Frau – durch die Straßen: „Ich suchte nach einem Café, in dem ich mich als Frau problemlos aufhalten konnte. Es war dunkel geworden, und ich wusste, dass das, was ich gerade tat, ohnehin Wahnsinn war“ (ebd.). Und an anderer Stelle: „Die Innenstadt war pures Chaos, die Farben grell. […] Dass ich für die arabischen Verhältnisse halb nackt herumlief, bemerkte ich erst auf der Straße, als die entsprechenden Reaktionen einsetzten“ (RB, 270). Schließlich begegnet sie dem seinerseits traumatisierten Ismael, der Erinnerungen an Elias in ihr wachruft und sie schließlich in Sicherheit bringt. Der kulturell umstrittene Ort Israel / Palästina wird dabei zum äußeren Schwellenraum, der das Überschreiten der inneren Schwelle ermöglicht. Hier gehen die illegale, normabweichende Grenzüberschreitung von Mascha als Frau und Jüdin im arabisch / palästinensischen Raum einher mit einer inneren Grenzüberschreitung. Dabei ist nach Bachtin der Chronotopos der Schwelle von hoher emotionaler Intensität gekennzeichnet. Am Beispiel von Dostojewski interpretiert Bachtin „die Chronotopoi der Straße und des Platzes“ als Fortsetzung der Schwelle als „Orte, an denen es zu Krisen kommt […]“.33 Die Chronotopoi bilden ihm zufolge die „Organisationszentren der grundlegenden Sujetereignisse des Romans“, sie implizieren „eine erstrangige sujetbildende Bedeutung“.34 In Grjasnowas Roman ist es jedoch nicht die Türschwelle, die einen solchen Übergangsort markiert und einen Übergangsort zur Krise darstellt. Vielmehr ist es das Fenster, das hier auf tragische Weise als Schwelle fungiert und das im gesamten Raum in seiner Dialektik des ‚geöffnet und geschlossen seins‘ immer wieder als Motiv auftaucht. Es ist die Schwelle des Fensters, über die die junge Frau in Baku in den Tod geschickt wurde. Ein Fenster

33 Ebd., S. 186. 34 Ebd., S. 187.

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markiert auch den entscheidenden Übergang von Maschas letzter Konfrontation mit dem Trauma und dem Übergang zum palästinensischen Raum. In der Begegnung mit dem Palästinenser Ismael, der Mascha an Elias erinnert, treten die Symptome ihrer PTBS in heftiger und unkontrollierbarer Art hervor: „Ich spürte einen Schmerz in meiner Lunge, als ob meine Lungenbläschen von einer Nadel durchstochen würden. Eine nach der anderen. Mir wurde schwarz vor Augen, mein Körper zitterte. Ich kämpfte gegen die Ohnmacht an“ (RB, 267). Hier wiederholen sich nun in kurzer Abfolge auf den Straßen Ramallahs starke physiologische Symptome. Israel als der Konfliktort von Gewalt und kultureller Differenz wird gleichsam zur Reise zum Ursprung in mehrfachem Sinne als auch zum Ort symbolischer Differenz kultureller Identität, wie Stuart Hall es ausdrückt.In der Begegnung mit den verschiedenen jüdischen und arabischen Figuren werden so nicht nur gemeinsame Geschichten, sondern auch Differenz deutlich. Ebenso wie Mascha selbst von kultureller Differenz geprägt ist, – sie spricht kein Hebräisch, sie sieht nicht jüdisch aus – sind auch die Figuren, denen Mascha begegnet, von Differenz geprägt. So trifft Mascha in Israel sowohl auf ein jüdisches Kollektiv, das trotz des gemeinsamen kollektiven Gedächtnisses und Traumas in sich sehr different ist, als auch auf das ‚Andere‘ der Palästinenser, die auf eine ebenso traumatische Diaspora-Geschichte zurückblicken. Ebenso wie Hall es für die Karibik und ihre postkolonialen Gesellschaften analysiert, kann hier nicht nur Gleichheit im Trauma erkannt werden, sondern auch „eine tiefgreifende kulturelle und historische Differenz“.35 Die BewohnerInnen Israels werden „sowohl als Gleiche als auch als Verschiedene“36 positioniert. Dabei werden „die Trennungslinien der Differenz“ durch die Beziehung Maschas zu differenten Figuren, die hier die von Hall so bezeichneten „unterschiedlichen Referenzpunkte“ darstellen, immer wieder „neu positioniert“.37 Hall spricht in diesem Zusammenhang trotz der vielen Ähnlichkeiten von Unterdrückungs- und Diasporaerfahrungen sowie gemeinsamer geschichtlicher Ursprünge von einer „tiefen und signifikanten Differenz“38 in der kulturellen Identität. Er bezeichnet die Rückkehr zum Ursprung als die erwartete Erfahrung des „Schock[s] der ‚Dopplung‘ von Gleichheit und Differenz“.39 Eine solche Erfahrung macht Mascha am Ende des Romans durch die Begegnung mit dem Palästinenser Ismael im Westjordanland und die gemeinsame Reise zum traumatischen Ort Jenin:

35 Hall, Rassismus und kulturelle Identität. 2012, S. 32. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 29. 39 Ebd., S. 32.

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Dabei scheinen sich die Grenzen zwischen den verfeindeten Gruppen – Israel und Palästina – aufzuheben. Die Parallelen zwischen dem Leben in Palästina und jenem in Baku zieht sie trotz aller Unterschiede auch in Gesprächen mit dem arabischen Ismael: Beide kennen die Wasserknappheit, die Ideologie der kommunistischen Eltern, die staatliche Rationierung, die Gewalt in den Straßen.40

So kann Mascha in der Begegnung mit dem ‚Anderen‘, dem Palästinenser und ehemaligen Hamas-Kämpfer Ismael, über sich selbst äußern: „‚Ich bin jüdisch‘“ (RB, 274). Diese Äußerung der Differenz ist jedoch nicht an eine essentielle, nationale Identität gebunden: „Israel oder Palästina, mir war es egal. Ich hatte genug“ (ebd.). Durch das erzählerische Mittel der Dialogizität wird hier ein dritter Raum eröffnet, in der die traumatischen Erfahrungen der beiden differenten Kulturzugehörigen ineinander übergehen: Während der Fahrt im Auto zum Palästinenserlager in Jenin erzählt Ismael Mascha trotz des Wissens, dass sie Jüdin ist, von seinem traumatischen Erlebnis während der Zweiten Intifada und des Einmarschs der israelischen Armee in Jenin: Tagelang wurde auf den Straßen gekämpft, bis sie schließlich mit Bulldozern kamen. Sie machten alles platt, selbst Häuser, in denen noch Menschen waren. Am Ende konnten wir nicht mehr zwischen Menschenleichen und Tierkadavern unterscheiden. Als sie endlich weg waren, stand alles still, sogar die Luft. Vor allem die Luft, sie hatte aufgehört zu zirkulieren, und überall war dieser Geruch von geronnenem Blut. Alles was ich wahrnahm, war dieser Verwesungsgeruch, und obwohl ich selber nur eine Fleischwunde abbekommen hatte, fühlte ich mich tot. Ich war mir sicher, dass ich bald sterben würde. Ich hatte diesen Geruch angenommen (RB, 278).

Ebenso wie Mascha macht auch Ismael die Erfahrung der körperlichen Anhaftung des Traumas; der Geruch der Verwesung, des Todes, setzt sich in ihm fest. Während Ismaels Erzählung passieren Mascha und Ismael einen weiteren räumlichen Übergang von der Stadt zum Lager. Wiederum sind es sinnliche Wahrnehmungen, die zu einer Krise Maschas führen: Die Musik war laut und die Düfte aufdringlich. […] Ich sah mich zufällig im Spiegel. Blaues Kleid. Die Musik war ohrenbetäubend laut und draußen war es noch hell. […] Ich ging hinaus auf die Straße. Die Straße war eng, und es stank nach Abwasser. […] Ich wollte nach Hause. […] Ich hatte eine Gänsehaut, die nicht wegging, und mir war übel. Ich versuchte mich auszuruhen, lehnte mich an eine Wand, um Kraft zu sammeln. Ich hatte Nasenbluten (RB, 280).

40 Kazmierczak, Madlen: Fremde Frauen. Zur Figur der Migrantin aus (post)sozialistischen Ländern in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin: Erich Schmidt 2016, S. 267f.

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Ein Porträt Saddam Husseins löst letztlich den entscheidenden symbolischen Reiz aus, der Maschas Erinnerung in die Gegenwart zurückholt. Im Gegensatz zum ersten Versuch des Erzählens des traumatischen Erlebnisses in der Es-Form, wird nun aus der Ich-Perspektive bis zum Ereignis selbst erzählt, das wiederum nur stichwortartig zusammengefasst wird: „Das Geräusch eines aufprallenden Körpers. Das Blau ihres Kleides. Die Blutlache“ (RB, 282). Im weiteren Textverlauf verwischen dann die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Es ist nicht mehr ersichtlich, ob Mascha halluziniert oder reale Erfahrungen macht. Palästinensischer Raum und aserbaidschanischer Raum gehen ineinander über, Momente von Zerstörung und Gewalt überschneiden sich. Die Wiedererzählung des Traumas, seine Ich-identitäre Verortung werden hier also narrativ in einem „Moment des Übergangs“ inszeniert, wo Raum und Zeit sich kreuzen und komplexe Figurationen von Differenz und Identität, von Vergangenheit und Gegenwart, Innen und Außen, Einbeziehung und Ausgrenzung erzeugen. Denn im „darüberhinausgehenden“ Bereich herrscht ein Gefühl von Desorientierung, eine Störung des Richtungssinns: eine erkundende, rastlose Bewegung, […] hier und dort, überall, fort / da, hin und her, vor und zurück.41

Mit dieser „Störung des Richtungssinns“ endet auch der Roman. Mascha sucht nach Ismaels Auto, läuft im Kreis, versucht „herauszukommen“ (RB, 283). Maschas Weg endet in einer völligen Desorientiertheit, im „Niemandsland“42 auf einem Feld, zwischen Palästinenserlager und israelischer Siedlung. In diesem Zwischenraum trifft sie auch auf die binären Figuren Sami, den sie anruft und der real ist und den imaginierten Elischa, der ihr ein Taschentuch gegen ihr Nasenbluten reicht. Das letzte Bild verweist auf die verblassende, aber noch aufscheinende Erinnerung. Während Mascha zuvor Angst hatte, sich „im Dunkeln nicht mehr an Elischas Gesicht erinnern zu können“ (RB, 191) endet der Roman mit dem metaphorischen und auch hier binär angelegten: „Die Sonne ist fast schon untergegangen, aber es ist noch hell“ (RB, 283).

4. Fazit Die Narration von Trauma stützt sich in Olga Grjasnowas Roman auf ein Beziehungsgeflecht hybrider Figuren, die mit ihren je individuellen Traumata einen gemeinsamen Raum der Trauma-Erlebnisse bilden, was erzählerisch insbesondere mit einer metaphorischen Einschreibung des Traumas in die Körper gestaltet ist.

41 Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg ²2011, S. 1 f. 42 Vgl. Catani, Im Niemandsland. 2015.

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Daraus ergibt sich ein polyphones Erzählen von Trauma, das zugleich auf dessen transnationalen und universalen Charakter hinweist. Eine besondere Rolle nimmt in diesem Netz die Figur Elias / Elischa ein, die von Mehrdimensionalität gezeichnet ist, und als Vermittler zwischen Mascha und ihren Erinnerungen an das traumatische Ereignis auftritt. Elias weist Mascha den Weg zum Innern des Traumas. Zugleich nimmt Elias durch seine Verletzung, die ‚Wunde‘, und seine kulturgeschichtliche Namensgebung eine starke symbolische Funktion im Text ein. Die Doppelbenennung Elias / Elischa repräsentiert nicht nur das Spannungsverhältnis traumatischer Symptomatik zwischen Realität und Imagination, sie weist zudem vor dem kulturgeschichtlichen Hintergrund des Elischa als Nachfolger Elias’ auf eine Synchronizität von ‚gewesenem‘ und ‚darauffolgendem‘ hin, die sich chronotopisch gerade in einem Ineinanderfließen von Vergangenem in die Gegenwart als Symptom der PTBS manifestiert. Elias / Elischa führt zum Raum der traumatischen Erfahrung zurück, der topografisch in Israel / Palästina verortet ist. Die Wohnung ist im Roman ein zentraler Ort der Störung, die sich im dort verorteten ‚Unheimlichen‘ zeigt. Die ‚unheimliche‘ Wohnung korrespondiert dabei mit der migrantischen Erfahrung des ‚Unheimischen‘ eines fehlenden Zuhauses. Die unkontrollierbare Bedrohung der eigenen Wohnung erzeugt von daher ein Gefühl der ständigen Alarmbereitschaft, das als Teil eines kollektiven jüdischen Traumas erzählt wird. Der wiederkehrende Verweis auf die Farbe Hellblau kann symbolisch als zentraler Auslöser für Maschas Intrusionen verstanden werden, die sie erleidet. Durch die starke symbolische Bedeutung, die die Farbe Blau für das Judentum hat, wird auch hier eine Verbindung zum kollektiven jüdischen Gedächtnis hergestellt. Dadurch, dass der topografische Raum Israel durch seine sinnliche Wahrnehmung Erinnerungen an den aserbaidschanischen Raum und zugleich Flashbacks sowie Intrusionen bei Mascha auslöst, stellt er einen dritten Raum dar, in dem die Erinnerungen an das traumatische Erlebnis verortet sind. Dabei hat nicht nur der Raum verstörende Wirkung auf Mascha, auch Mascha hat aufstörende Wirkung auf den Raum. Diese Reziprozität zieht sich bis zum Ende des Textes durch. Störungen in Form von Flashbacks und Intrusionen zeigen sich vor allem beim Überschreiten von Raumgrenzen bzw. Schwellenbereichen im Sinne Bachtins. Dabei zeigen sich auch „Trennungslinien der Differenz“ der binär opponierenden Figuren wie Ismael als Palästinenser und Mascha als Jüdin, die „unterschiedliche Referenzpunkte“ darstellen, jedoch in ihren Trauma-Erfahrungen auch Gleichheit erleben und durch den daraus entstehenden dritten Raum mehr Nähe zum Anderen erfahren. Die Wiedererzählung des Traumas, seine Ich-identitäre Verortung, wird abschließend in einem chronotopischen ‚Moment des Übergangs‘ inszeniert, in dem Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr klar voneinander zu unterscheiden sind, Innen und Außen ineinanderfließen und in ein übergreifendes Gefühl der Orientierungs­ losigkeit münden.

Monika Wolting

Krieg in Afghanistan – Trauma-Erfahrung und ihre künstlerische Darstellung in Jochen Rauschs „Krieg“ (2013)

1. Einleitung 54 deutsche Soldaten kamen in Afghanistan ums Leben, 35 davon „durch Feindeinwirkung“ – diese Zahlen umfassen weder die Kriegsheimkehrer, die an Traumata leiden noch die vielen Angehörigen, die ihren Teil des Leides mittragen. Auch wenn der damalige Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière (CDU) während seiner Rede am 6. Oktober 2013 im Militärlager in Kundus bezüglich des geführten Krieges feststellte: „Dass [der Afghanistankrieg – M.W.] eine Zäsur, nicht nur für die Bundeswehr, sondern auch für die deutsche Gesellschaft war“, so wird zu konstatieren sein, dass sowohl im gesellschaftlichen Diskurs als auch im geführten Wahlkampf die Parteien darum bemüht waren, „jegliche Diskussion um die Afghanistan-Politik der Vergangenheit und der Zukunft zu vermeiden. Und der Abzug aus Kundus verursachte nicht viel mehr als ein kurzes Achselzucken in der Medienlandschaft nach einem zehn Jahre dauernden Einsatz, von dem die meisten Menschen wohl nicht recht wissen, was davon zu halten ist“1, bemerkt der Journalist Thomas Pöttgen. Dieser Hinweis ist gerade da von entscheidender Bedeutung, wo es um literarische Texte geht, die – trotz aller möglichen Fiktionalisierung – in besonderem Maße an die jeweilige „wirkliche Wirklichkeit“ und die entsprechenden Räume gebunden sind. Die Tatsache, dass die Soldaten der Bundeswehr nach Afghanistan zu einem humanitären Einsatz beim Wiederaufbau in einen Teil der Welt aufbrachen, in dem die US-Armee mit Verbündeten Krieg führte, hatte sowohl Folgen für die im Anschluss entstandenen Texte als auch für die Literaturgeschichtsschreibung insgesamt. Die Geschichte einer Literatur des Afghanistankonflikts und -krieges ist erst in Ansätzen geschrieben.2 Diese Aufgabe ist umso wichtiger, je mehr Bedeutung Äußerungen wie „Kundus, das ist für uns Deutsche der Ort, an dem die Bundeswehr zum ersten Mal gekämpft hat, lernen

1 Pöttgen, Thomas: Vom Hindukusch in die österreichischen Alpen. 2. November 2013, Culturmag. Literatur, Musik & Positionen. http://culturmag.de/rubriken/buecher/jochen-rausch-krieg/76687 (Zugriff am 17.10.2018). 2 Vgl. Wolting, Monika: Neues historisches Erzählen. Hrsg. von Monika Wolting. Göttingen: V&R 2019. https://doi.org/10.1515/9783110683028-031

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musste zu kämpfen.“3 beigemessen werden. Denn die Soldaten der Bundeswehr schienen zunächst unzureichend gerüstet für Kampfeinsätze und unzulänglich gewappnet für den Schrecken einer asymmetrischen Kriegsführung, auch ihre Familien erhielten keine angemessene Vorbereitung auf das Bevorstehende. Dies brachte die Autorinnen und Autoren in der Konfrontation mit dem Krieg zu einem berechtigten Interesse an den Erfahrungen der Soldaten wie auch ihrer Familien. Als Beispiele seien hier nur wenige Texte erwähnt: Sabrina Janeschs „Ambra“ (2012), Ingo Niermanns und Alexander Wallasch „Deutscher Sohn“ (2010), Wolfgang Schorlaus „Brennende Kälte“ (2008) und der hier zur Diskussion stehende Roman von Jochen Rausch „Krieg“ (2013).4 In diesem Kapitel rückt das Thema der Trauma-Erfahrung und ihrer künstlerischen Darstellung ins Zentrum der Betrachtung.

2. Familienzusammenhalt versus Teilnahme am Afghanistankrieg5 In der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der literarischen Repräsentationen des Afghanistankrieges steht die Frage nach dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘ der Darstellung von Trauma und Angst im Zentrum der Aufmerksamkeit, mithin also nach den Inhalten der Posttraumatischen Belastungsstörung, Depression und Fällen des Suizids. Literarische Texte greifen gegenwärtige Vorgänge, Ereignisse und Themen auf und stellen sie in der Öffentlichkeit zur Diskussion und erlauben nicht, sie aus dem ‚lebendigen Gedächtnis‘ zu entfernen. Es wird des Weiteren davon ausgegangen, dass das ‚System Kultur‘ wie seine künstlerischen Hervorbringungen als besonderer Ort von ‚Störungen‘ gelten können und bevorzugte Medien von Störungen sind, wie Carsten Gansel in zahlreichen Publikation analysiert.6 In den nachfolgenden Überlegungen soll nun ein spezielles Problem

3 de Maizière, Thomas (CDU), Rede vom 6. Oktober 2013 im Militärlager in Afghanistan. In: Wo die Bundeswehr das Kämpfen lernte. Die Welt, 06.10.2013, https://www.welt.de/newsticker/ dpa_nt/infoline_nt/thema_nt/article120676860/Wo-die-Bundeswehr-das-Kaempfen-lernte.html (Zugriff am 17.10.2018). 4 Rausch, Jochen: Krieg. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch 2013 [im Folgenden unter der Sigle „K“ mit Seitenzahl im Text]. 5 Ähnliche Thematik wird im Kapitel „Die Hinterbliebenen des Afghanistaneinsatzes“ in: Wolting, Der neue Kriegsroman. 2019, S. 210 – 232. Vgl. auch „Das Gespräch mit Jochen Rausch: Literarischer Einsatz für Freiheit und Demokratie“ in: Wolting, Der neue Kriegsroman. 2019, S. 338 – 344. 6 Vgl. Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ›Prinzip

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von Störungen im Zentrum stehen: Es geht um Fragen nach der literarischen Inszenierung von Störungen7, die durch die Einflussnahme des Afghanistankrieges in der deutschen Gesellschaft präsent geworden sind. Im Mittelpunkt steht also die Rolle der Künste bei der ‚Verarbeitung‘ von existentiellen Krisensituationen der Bundeswehrsoldaten, die zum Kampfeinsatz nach Afghanistan einberufen wurden und ihren Familien, die in Deutschland geblieben sind sowie in besonderem Maße die Trauerarbeit der hinterbliebenen Eltern. Im Text von Jochen Rausch „Krieg“ (2013) spielt Trauma eine strukturbildende Rolle. Das Tabuthema, die Trauer der Eltern über ihren in Afghanistan gefallenen Sohn wird hier zum Thema gemacht. Ein heterodiegetischer Erzähler, der oft den point of view wechselt und aus der Sicht des Protagonisten Arnold Steins erzählt, schildert das Schicksal derer, die nach dem Tod des Sohnes im Afghanistankrieg zurückbleiben und auf diese Weise zu Opfern des Krieges werden. Die Geschichte wird auf zwei Zeitebenen erzählt, der Roman beginnt auf der Gegenwartsebene. Arnold Steins lebt völlig abgeschieden in einer Holzhütte in den Alpen. Sein Hund wird von einem Bolzen getroffen, seine Hütte wird verwüstet, Arnold fühlt sich von jemandem beobachtet und bedroht. Er findet im Wald ein Zelt, das er – in der Annahme, dass es sich dabei um die Behausung des Fremden handelt – in Brand setzt. In Analepsen, also Rückblenden, werden zum einen das frühere, wohlbehütete und bürgerliche Leben der Lehrerfamilie Steins geschildert, zum anderen die Ängste der Eltern, nachdem ihr Sohn zum Afghanistankrieg aufbrach. Der Übergang von der Gegenwarts- auf die Vergangenheitsebene wird durch keine Erinnerungsstützen eingeleitet und er wird auch nicht als Folge einer bestimmten Erinnerungsarbeit von Arnold markiert. Die einzelnen Kapitel werden wie Bausteine zu zwei chronologisch angeordneten Erzählungen zusammengesetzt. In das strukturierte Leben der Familie bricht der Krieg ein: Chris, der Sohn von Arnold und Karen, meldet sich freiwillig zum Afghanistaneinsatz. Trotz aller Bemühungen der Eltern, Chris von dem Gedanken abzubringen, macht er sein Vorhaben wahr:

Störung‹ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 31 – 56; Gansel, Carsten: Zwischen Störung und Affirmation? Zur Rhetorik der Erinnerung im Werk von Günter Grass. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie, Sonderheft. Berlin 2012, S. 173 – 198; Gansel, Carsten: Zur Kategorie Störung in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Carsten Gansel (Hrsg.): Störungen in Literatur und Medien. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H, S. 315 – 332. 7 Siehe: Gansel, Carsten: Call for Papers: Störungen des ‚Selbst‘ – Trauma-Erfahrungen und Möglichkeiten ihrer künstlerischen Konfiguration. Internationale wissenschaftliche Tagung auf Schloss Rauischholzhausen/Justus-Liebig-Universität Gießen vom 28. Juni bis 30. Juni 2018.

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„Ich will dir um Gottes willen nicht reinreden, Junge. Aber vielleicht fällt und noch was Besseres ein als Soldat.“ „Es ist ein cooler Job, Dad. Ich kann Ingenieur werden.“ „Aber es ist auch verdammt gefährlich.“ „Das ganze Leben ist gefährlich.“, hat er gesagt und gelächelt (K, 83).

In der Zeit, in der sich Chris in Afghanistan aufhält, schickt er abends E-Mails an seinen Vater. Damit wird der Erfahrungsraum einer Figur in der Romanstruktur eröffnet, zu dem der Erzähler keinen Zugang hat. Was im Roman von Afghanistan erzählt wird, stammt von Chris bzw. aus Blogs im Internet, die Arnold abends und nachts liest. Jochen Rausch meistert mit diesem Kunstgriff das Problem der Darstellung einer Situation, die der Autor nicht aus eigener Anschauung kennt. Die Repräsentation des Krieges gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit und an Wert einer realen Schilderung. Die Ich-Erzählinstanz der Mail-Passagen zeigt ihre Präsenz und erzählt unmittelbar von Erfahrungen in Afghanistan. Der Krieg wird aus der Perspektive eines jungen Mannes geschildert, der zwar an dem Krieg teilnimmt, ihn aber nicht versteht und letztendlich an ihm scheitert: „Es ist total verrückt und abgefuckt. Wir wollen die Kinder retten, und wenn sie fünfzehn sind, kriegen sie eine Knarre und knallen uns ab. Manche Sachen versteht man einfach nicht. Vielleicht besser so“ (K, 113). Im Verlauf der Nachrichten von Chris findet eine Zuspitzung der Situation, eine Verschärfung des Kriegstreibens, statt. In der ersten Mail berichtet Chris von der Apräsenz des Krieges: Hi Dad, alles megacool hier. Wir sind nur am Lachen. […] Von den Männern in Bärten ist nichts zu sehen. Fast so cool wie am Strand hier, allerdings ohne Meer (K, 41 f.). Hi Dad, ich wusste gar nicht, dass ein Krieg so langweilig sein kann. […] Noch schlimmer als die Langeweile ist der Staub (K, 42).

Das in den Mails überlieferte friedliche Bild des Einsatzes verändert sich zunehmend: Chris berichtet über Minenunfälle, Verletzungen und nächtliche Beschüsse. Die Mission der Bundeswehr, Stabilität und Demokratie in Afghanistan zu schaffen und den Wiederaufbau zu unterstützen, nimmt mit der Zeit das Ausmaß eines Krieges an. Die Sicherheitslage der Soldaten gestaltet sich desaströs; immer wieder gibt es Tote und Verletzte auf beiden Seiten: Dad, kannst stolz auf mich sein. Bin jetzt Hauptgefreiter. Sonst nicht so gut. Röttger ist vorgestern auf eine Scheißmine getreten. Wäre er einen halben Meter weiter links gegangen, wäre ihm nichts passiert. Da stand ich. Röttgers linkes Bein ist unterm Knie abgerissen. Habe gekotzt, als ich das sah. Scheiße. Was mit dem anderen Bein wird, wissen sie noch nicht. […] Viellicht besser, du sagst Mom nichts davon. Sandra weiß es auch nicht. Minen sind doof. Chris (K, 43 f.).

Arnold behält diese Informationen weitgehend für sich, erzählt Karen wenig davon. Über die Gründe dafür sprechen weder Arnold noch der Erzähler, es wirkt wie eine unausgesprochene Übereinkunft zwischen Vater und Sohn.

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Nach Chris’ Aufbruch verfallen die Eltern in eine gewisse Starre, entfremden sich zunehmend voneinander, haben Schwierigkeiten ihrer Arbeit an der Schule weiter nachzugehen, Arnold erkrankt an Tinnitus, Karen verfällt der Alkoholsucht. Schließlich stellt die Nachricht von Chris’ Tod keinen Wendepunkt im Leben beider dar, sie haben es so erwartet. Der Zustand der permanenten Anspannung und Ratlosigkeit, in dem sie seit Monaten verharren, beherrscht nun weiter alle Bereiche ihres Lebens. Eines Tages wird Karen tot aus dem Wasser eines nah gelegenen Sees geborgen. Der Erzähler sagt nicht, ob es sich um einen Suizid oder einen Unfall handelt. Arnold verkauft darauf das gemeinsame Haus samt Inventar, kündigt seine Arbeitsstelle an der Schule, mietet eine Alpenhütte in Österreich und beabsichtigt, sein Leben in Isolation von der Welt fortzusetzen. Auf der Ebene der ‚histoire‘, des ‚Was‘ des Erzählens, liegt das aufstörende Potenzial8 des Romans: Es unterläuft das kollektive Wissen und Wissenwollen bezüglich des Afghanistankrieges und erweitert die Perspektive auf weitere Opfer des Krieges – die Familien der Soldaten. Eine direkte Anklage des mangelnden Interesses der deutschen Gesellschaft am Afghanistaneinsatz der Bundeswehr wird in einer Mail von Chris formuliert: Dad, ich habe gelesen, neunzig Prozent der Leute hätten keine Ahnung, warum wir hier sind. Deswegen ist ihnen auch scheißegal, wenn einer von uns draufgeht (K, 136).

Das Einsetzen der Ich-Erzählinstanz zur Vermittlung dieser Einschätzungen entbindet den auktorialen Erzähler und den impliziten Autor von der Verpflichtung, überprüfbare Information zu liefern. Chris spricht aus eigener Erfahrung und äußert sich mit einer ihm zugestandenen Betroffenheit über die fehlende Anteilnahme der deutschen Gesellschaft an den Erfahrungen und der Notlage der Bundeswehrsoldaten. In einer Szene in Arnolds Schule wird die Tabuisierung des Themas des Einsatzes veranschaulicht: [Die Lehrer im Lehrerzimmer – M.W.] überboten sich gegenseitig mit exotischen Zielen oder den ehrgeizigen Plänen ihrer Söhne und Töchter. „Arnold, wo treibt sich denn eigentlich Ihr Herr Sohn herum?“, hatte der Direktor gefragt. „Er ist im Krieg“, war seine Antwort gewesen. Alle Kollegen hatten es plötzlich eilig gehabt, in ihre Klassen zu kommen. Obwohl die Pause noch gar nicht zu Ende war (K, 108).

Die Meinung von Chris erfährt an dieser Stelle eine Bestätigung und eine deutliche Erweiterung. Diese Passage illustriert die allgemeine Äußerung von Chris am Beispiel einer Alltagssituation und richtet den Fokus zusätzlich auf den Kontext

8 Vgl. Gansel: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“. 2013, S. 54.

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der veränderten Lebensumstände der Familienmitglieder. Arnold erhält in dieser neuen Situation seitens Kollegen keinen Zuspruch, keinen Trost und keine Unterstützung. Es findet keine Auseinandersetzung mit der Lage Arnolds oder Chris’ statt. Die Isolation der Eltern von der Gesellschaft ist ein durch die Umgebung eingeleiteter Prozess, dem sich Arnold nicht widersetzen kann. Mit Blick auf die Darstellung von Störungen im Symbolsystem Literatur erscheint es produktiv, in einem solchen Fall nach den Figuren der Störung zu suchen.9 Arnold tritt in dieser Szene als eine Figur auf, die durch ihre Bemerkung andere Figuren irritiert: Durch seine Äußerung erzeugt Arnold Irritationen bei den Kollegen, weil er die gesetzte Norm und Grenze aufbricht bzw. überschreitet. Die Kollegen werden zu einer Selbstreflexion, zu einer Auseinandersetzung des Ichs mit der eigenen Befindlichkeit, gezwungen, der sie offensichtlich entgehen wollen. Anzumerken ist an dieser Stelle, dass Jochen Rausch in seinem Roman nicht explizit vom Afghanistankrieg spricht. Die Annahme, dass es sich um den Konflikt in Afghanistan und die Beteiligung der Bundeswehr am Einsatz handelt, basiert lediglich auf der Ähnlichkeit räumlicher, zeitlicher und gesellschaftlicher Umstände, die im Roman auf realen Schilderungen aus den Medien, der Berichterstattung oder politischen Äußerungen beruhen. Einen ganz anderen Referenzrahmen bietet der Trailer zum Roman, wie auch später die Verfilmung „Der fremde Feind“ (2017), in denen der Bezug zum Afghanistankonflikt direkt über Äußerungen der Bundeskanzlerin Angela Merkel, des Verteidigungsministers Thomas de Maizière und eingeblendete Fotos aus Afghanistan hergestellt wird.

3. Das Trauma der Eltern Eine Lesart des Romans, entstanden aus der Verbindung von Trauma und Krieg, leitet bereits der Trailer zum Roman ein: In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie. Dieser Anschlag trifft uns alle ins Herz (Stimme von Thomas de Maizière, dem Bundesminister der Verteidigung (2011 – 2013)) „Ich will noch nicht sterben.“ „Er sagt es ganz leise, kaum hörbar.“ „Du stirbst nicht“, sagt sie. „Und wenn doch?“ So ein feiger, anonymer Sprengstoffanschlag, der einen jungen Mann buchstäblich aus dem Leben gerissen hat. Sie singen zum Rhythmus des knisternden Feuers, sie singen, bis ihnen die Kräfte schwinden, bis aus Arnolds Gesang ein heiseres Flüstern und aus dem Jaulen des Hundes ein tonloses Röcheln

9 Siehe insbesondere Gansel: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie „Störung“. 2013, S. 43. Auch: Kümmel, Albert: Störung. In: Grundbegriffe der Medientheorie. Hrsg. von Alexander Roesler und Bernd Stiegler. Paderborn: Fink 2005, S. 229 – 235.

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geworden ist. (Schuss) Erst jetzt schläft er ein und versinkt m it gebrochenem Herzen in trostlosem Schlaf. Jeder Verletzte und vor allem auch jeder Gefallene ist ein schwerer Schlag für uns. (eingeblendete Stimme von Angela Merkel). Was ein einzelner Schuss ausrichten kann.10 (Kursiv wurden Originalstimmen von Angela Merkel und Thomas de Maizière markiert in Kursivierung).

Indem die Äußerungen von Angela Merkel und Thomas de Maizière eingespielt werden, wird in dem Trailer ein enger Zusammenhang zwischen der Romanhandlung und dem militärischen Einsatz der Bundeswehr der Jahre 2002 – 2013 geschaffen. Der Trailer vermag allerdings noch etwas anderes zu leisten und zwar macht er auf die traumatische Situation, in der sich die Figuren des Romans befinden, aufmerksam. Denn es ist hier die Rede von drei Figuren, von Arnold Steins, der die vermeintlichen Schüsse hört und emotional, aber entmutigt, resigniert und verzweifelt darauf reagiert, von Chris, der in der Befürchtung, zu sterben, nach Afghanistan aufbricht, von seiner Freundin Sandra, die Chris mit unterdrückter Angst in den Krieg entlässt. Es sind Sätze, die aus dem Gesamtkontext des Textes gerissen wurden, sie geben jedoch bereits Auskunft darüber, dass es in dem Roman um Angststörung, Verlust, Tod und Trauma gehen wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach dem Sinn des Krieges stellen, der An- und Abwesenheit des Krieges oder und dem aggressiven Element, das dem Menschen innewohnt. Der Roman beginnt medias in res. So wird der Leser direkt mit der erzählten Geschichte konfrontiert. Frei nach Horaz könnte es heißen: Der Erzähler führt die Leser ohne Umschweife gleich zu Beginn ‚„mitten in die Dinge‘“, also in die Handlung, ein. In den Nächten hört er Schüsse, wenn es denn Schüsse sind. Manchmal hört er auch Schreie. Aber wenn Arnold die Tür aufzieht, nicht weiter als einen Spalt nur, dann sind da nichts als die Dunkelheit und das Rauschen des Waldes, das harmlose Gluckern des Baches und ein gelegentliches Knacken im Geäst. Hin und wieder schwingt sich ein Vogel auf und schlägt mit den Flügeln. Seit Arnold auf dem Berg ist, verging nicht eine Nacht ohne Schüsse und Schreie (K, 7).

Der heterodiegetische Erzähler schildert in den ersten Sätzen der Erzählung eine paradoxe Situation: Arnolds Wahrnehmung wird den realen Umständen gegenüber gestellt. Arnold vernimmt jede Nacht Schüsse und Schreie, die in der Realität nicht existieren. So lässt sich vermuten, dass sie nur als Produkte seiner Psyche

10 Trailer zu Jochen Rauschs „Krieg“, Roman, Berlin Verlag 2013; Hörbuch bei Randomhouse Audio, 5 CDs, gesprochen von Ulrich Noethen. Trailer: Sprecher Ulrich Noethen; Musik: LEBENdIGITAL; Montage: Matthias Ehring; https://www.youtube.com/watch?v=fIZXxBuwa7Y (Zugriff am 13.07.2018).

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zu sehen sind, denn die Umgebung, in der Arnold wohnt, strahlt im Gegenteil Ruhe, Sicherheit und Geborgenheit aus. Der Erzähler stellt jedoch Arnolds Wahrnehmung / bzw. Empfindung nicht infrage, sondern bestätigt sie mit den Worten: „Seit Arnold auf dem Berg ist, verging nicht eine Nacht ohne Schüsse und Schreie“. Es ist hier zu überlegen, ob der Erzähler an dieser Stelle den point of view wechselt, also in diesem Falle in den Modus der Mitsicht, übergeht. Denn es handelt sich hier um eine klare Feststellung, dass für Arnold jede Nacht die Schüsse und Schreie vernehmbar sind. Die moderne Psychotraumatologie belegt, dass neuronale Strukturen und Prozesse zu einem hohen Prozentsatz durch Lebenserfahrungen bestimmt werden. So können negative Lebenserfahrungen das Gehirn so verändern, dass es psychische Störungen produziert. Traumatische Erlebnisse ziehen oft eine Fragmentierung der Wahrnehmung nach sich, das bedeutet, dass die Realität in einzelne, bruchstückhafte Merkmale zerlegt wird. Traumatische Ereignisse werden im menschlichen Gehirn fragmentiert und als Bild, Geräusch, Geruch oder Körpergefühl gespeichert11 und können zu sich stets wiederholenden Rückerfahrungen führen. Das Gehirn ist darum bemüht, ein einheitliches Bild zu konstruieren und setzt diese Elemente auf willkürliche Weise zusammen. So produziert Arnolds Gehirn stets den Schall von Schüssen, und komplementiert es mit den Geräuschen, die Arnold umgeben. Sein bewusstes Hinhören („wenn Arnold die Tür aufzieht“) lässt ihn wahrnehmen, dass keine Schüsse fallen, er hört nur lediglich „das Rauschen des Waldes, das harmlose Gluckern des Bachs und ein gelegentliches Knacken im Geäst“ (K, 7). Der Erzähler weiß über Arnolds Wahrnehmungsstörung und Verlustangst Bescheid. In weiteren Textstellen berichtet er von Arnolds Angst um den Hund, seinen Bedenken bezüglich seines kleinen Besitzes, seiner Hütte und des Wagens. Arnold wird von dem Gedanken verfolgt, dass jemand daran Interesse hat, ihn in seiner Abgeschiedenheit zu zerstören: Diesmal sind es keine Schüsse oder Schreie, die Arnold sich einbildet. Diesmal ist er überzeugt, es ist etwas mit der Hütte“ (K, 7). Immerzu bildet er sich irgendetwas ein. Der Hund muss nur ein paar Minuten länger draußen bleiben als gewöhnlich, und schon glaubt Arnold, er sei über eine Felskante gerutscht und hätte sich das Genick gebrochen. Oder im Bach ersoffen. Es soll auch Wölfe geben dort oben […] Aber er hat noch keinen Wolf gesehen, und dem Hund ist ja auch nie etwas zugestoßen. Wie auch die Schüsse in der Nacht keine Schüsse sind und die Schreie keine Schreie (K, 8 f.).

11 Korittko, Alexander, Pleyer, Karl Heinz: Traumatischer Stress in der Familie: Systemtherapeutische Lösungswege. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 36.

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Diese Überreizung, die ständige Unruhe sowie die über längere Zeitabschnitte andauernde Stressbelastung haben ihren Ursprung in den einschneidenden Erlebnissen der vergangenen Monate, denen Arnold und seine Frau ausgesetzt waren. Chris’ Entschluss mit der Bundeswehr in das Krisengebiet zu gehen, versetzte Arnold und Karen in einen Zustand permanenter Anspannung: Seit Chris im Krieg ist, fürchtet sich Karen nicht nur vor den Nachrichten. Sie fürchtet sich auch vor dem Telefon. Sie glaubt, sie rufen sie an, wenn etwas passiert (K, 41). Später weiß er nur, wie mit den Worten des Nachrichtensprechers etwas glühend Heißes in jeden Winkel seines Körpers einströmte, dass ihm das Herz schlug, als wollte es ihm die Rippen zerbrechen (K, 99). Früher ging Arnold um diese Zeit ins Bett. Früher, als der Junge noch nicht im Krieg war. Mit den Nachtwachen begann er am Tag, als Chris in den Krieg flog. Er erinnert sich, dass es ein Samstag war (K, 37). Für die Nachtwachen hat sich Arnold einen neuen Computer gekauft. […] Noch wartet er, ihn einzuschalten, wartet, bis Karen im Bett ist (K, 39).

Für die Eltern beginnt nun eine Zeit, in der sie ausschließlich auf eine Nachricht vom Tod ihres Sohnes warten. Beide finden in sich nicht die Kraft, auf eine glücken­de Rückkehr Chris’ zu hoffen. Ihr ganzes Dasein richtet sich auf das Verfolgen von Meldungen im Radio, im Fernsehen oder das Abwarten der Todesnachricht, die von einem Offizier und einem Geistlichen überbracht werden würde. Arnold verharrt ganze Nächte lang vor seinem Computer in der Hoffnung auf eine E-Mail von Chris. Der Stress, der unter gewöhnlichen Umständen eine natürliche Reaktion auf Herausforderungen, Sorgen und Kummer ist, durchzieht alle Bereiche des Lebens von Karen und Arnold. Wenn auf eine Anspannungsphase keine entlastende Entspannungsphase folgt, wenn der Körper ständig in einer erhöhten Alarmbereitschaft steht, wird die Gesundheit des Menschen in Gefahr gebracht.12 Meist bleibt Karen bis zum Ende der Spätnachrichten vor dem Fernseher. Jedes Mal ist sie erleichtert, wenn die Wettervorhersage beginnt und der Krieg in der Sendung gar nicht erwähnt wurde (K, 40).

Karen vertraut den Informationen, die in den öffentlichen Medien, im Fernsehen und Radio verbreitet werden, Arnold bezieht sein Wissen eher aus dem Internet. Während seiner Nachtwachen sieht er sich Dokumentationen zu über Afghanistan an, liest Einträge auf Blogs, die von Soldaten geführt werden, und hört Interviews oder Statements. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Geschehen im Krisengebiet.

12 Vgl. ebd.

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Wenn Karen wüsste, was er weiß [über den Krieg, aus dem Internet – M.W.], könnte sie nicht einmal mehr mit Tabletten einschlafen (K, 41).

Arnold erzählt Karen wenig davon, was er durch seine nächtliche Internetrecherche in Kenntnis bringt oder aus seinen Mitteilungen von Chris erfährt. Das ist aber allerdings nicht der Grund, warum sich das Ehepaar voneinander entfernt. Die Beziehung erfährt durch die Veränderung der Lebenssituation eine starke Aufstörung, die in fortschreitender Zeit zur Zerstörung gewohnter Vertrautheit und Zuneigung führt. Der Erzähler berichtet: Er legte einen Arm um ihre Schultern, und sie wurde starr. „Mach dir keine Sorgen“, sagte er „der Junge kommt heil zurück.“ Er hatte sie bloß beruhigen wollen. Wie sie sich immer beruhigten und trösteten, seit einunddreißig Jahren schon. Sie wollte sich aus seiner Umarmung lösen (K, 37 f.).

Die eingespielten und über Jahre praktizierten Verhaltensweisen, die das Paar zusammenhielten, verlieren in der Krisenzeit an Geltung und Kraft. Ein Trauma verletzt und „stellt die Verbundenheit mit anderen Menschen infrage“, schreiben Korittko und Pleyer.13 Die Familie bzw. die Partnerschaft erfüllen im menschlichen Leben eine stützende Funktion, in solchen Beziehungen findet der Mensch das generelle Gefühl von Sicherheit, Beständigkeit sowie Verlässlichkeit. Karen verschließt sich vor dieser Nähe, sucht Einsamkeit, macht ausgedehnte Spaziergänge mit dem Hund und verzichtet auf Treffen mit Freunden und Bekannten, bis sie schließlich selbst ihrer Arbeit in der Schule nicht mehr nachgehen kann: Vor zwei Wochen hat Karen plötzlich gesagt, dass sie das Kreischen und Lärmen der Schüler nicht mehr ertrage. Seither verlässt sie das Haus nur noch, um mit dem Hund in den Wald zu gehen. Sie hat eine gelbliche Krankenhaushaut bekommen, und ihre Bewegungen sind entweder fahrig oder träge. Ein feines Zittern vibriert in ihr. Im Keller hinter den Gartengeräten hat er einen Karton mit leeren Flaschen gefunden: Cognac und Wein. Er wusste nicht, dass sie trinkt (K, 35).

Von der Widerstandsfähigkeit der Ehe ist seit dem Zeitpunkt von Chris’ Teilnahme am Kriseneinsatz nichts mehr zu spüren, denn ihre Ausprägung ist in großem Masse davon abhängig, ob die Familie im Leiden, der Trennung von dem Sohn, seiner Mission in der Bundeswehr, einen Sinn sehen kann. Beide sind nicht imstande, der Aufgabe von Chris eine entscheidende, positive Bedeutung beizumessen und seinen Entschluss wertzuschätzen. Ihre Haltung resultiert aus eigenen Erfahrungen: Beide bezeichnen sich als Pazifisten, Arnold hat seinen Wehrdienst

13 Ebd., S. 61.

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als Zivildienstleistender absolviert, er sagt: „‚Ich war kein Soldat, weil ich gegen den Krieg bin‘“ (K, 83). Sie erkennen den Afghanistankrieg nicht als einen deutschen Krieg an; für beide wird er weit weg geführt und betrifft Deutschland, ihr Leben sowie das Leben von Chris nur in geringem Maße. Arnold überprüft im Internet die geografische Lage von Chris’ Camp: In Sekundenschnelle lief eine rote Linie über die Karte. Die Siedlung [in der Arnold und Karen leben – M.W.] liegt fünftausendeinhundertsechzehn Kilometer Luftlinie hinter der Front und ist es nicht wert, dass Chris dort in der Wüste einen Krieg um sie führt. Oder, dass dieser Röttger auf eine Mine getreten und jetzt tot ist. Verdammt noch mal (K, 125).

Sie akzeptieren Chris’ Entscheidung nicht. Karen sieht nicht ein, dass sie beide als Partner mit dem sie traumatisierenden Zustand umgehen müssen und dafür Energien und Ressourcen mobilisieren sollen. Dem hält Arnold entgegen: „Wir können nichts anderes tun, als warten“ (K, 61). Der Zustand der Stagnation vertieft nur die mangelte Kooperation des Ehepaars und führt zur Erstarrung und Sprachlosigkeit. Karens Angst hat ihr Wesen in einem beständigen Gefühl der Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit von zukünftigen Geschehnissen in Afghanistan. Die Entfremdung des Ehepaars, die Trinksucht Karens oder der Tinnitus Arnolds können als deutliche Signale der Psyche und des Organismus dafür stehen, dass die aktuellen Belastungen zu groß geworden sind und unbekannte Ausmaße erreichen. Alkoholmissbrauch wird im Roman als Folge einer stressbedingten Überforderung, einer unbewältigbar erscheinenden Angststörung, dargestellt. Karens ständige Befürchtungen und Ängste beruhen auf dem sie stressenden Umstand, dass – bei allen Zusicherungen ihres Mannes, dass es Chris gut gehe und trotz dem Ausbleiben schlechter Nachrichten in den öffentlichen Medien– das Restrisiko nicht gänzlich ausgeschlossen werden kann. Karens Angst um Chris’ Leben wird zum Dauerstress und zu chronischer Überregung: „Wenn Angst ein so extremes Ausmaß annimmt“, schreibt Hans Morschitzky, „dass es zum Zusammenbruch des gesamten geordneten Denkens und Handelns kommt, spricht man von Panik.“14 Karen verharrt mehrere Wochen in diesem Zustand, ihre Seele und ihr Körper akzeptieren das ständige Gefühl des Bedrohtseins, der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und der Unkontrollierbarkeit des Lebens nicht. Nach der Übermittlung der Todesnachricht verfällt Karen in eine schwere Depression, die als Zeichen für die Unmöglichkeit, sich von einer vergangenen Phase des Lebens innerlich zu verabschieden und auf neue Lebensmöglichkeiten einzustellen, zu deuten ist.15 Karen kann den Tod von Chris nicht verkraften; dieser Umstand blockiert sie für

14 Morschitzky, Hans: Angststörungen. Wien: Springer 2004, S. 3. 15 Vgl. ebd., S. 15.

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die Fortsetzung ihres Lebensweges, es fehlt ihr an Kraft zum „Loslassen“ und die „Neugierde aufs Neue“.16 Die Depression verhindert maßgeblich den Weg zu einer Spontanheilung und beeinträchtigt die psychosoziale Integration. Nach dem Tod von Chris stehen Karen keine Bewältigungsstrategien mehr zur Verfügung, sie unterlässt alle Aktivitäten, was soziale und berufliche Einschränkungen zur Folge hat. Ihr sozialer Rückzug beruht auf mangelnder Motivation und Energie sowie auf allgemeiner Frustration und Lustlosigkeit. Die Frage, ob Karen Selbstmord begeht, wird im Roman nicht geklärt, der heterodiegetische Erzähler liefert in dieser Richtung keine Aussagen. In diesem Fall weiß er genauso viel wie Arnold. Er nimmt sozusagen die Perspektive der Figur ein und schildert nicht den Vorgang, die Szene des Todes von Karen. Der Erzähler wechselt zeitweilig den point of view und bleibt ganz nah an der Figur Arnolds, übernimmt sein ‚eingeschränktes Blickfeld‘ und schildert aus dieser Position die Geschehnisse. In diesem für die Handlung des Romans wichtigen Abschnitt wechselt der Erzähler von der Nullfokalisierung zur internen Fokalisierung, dadurch wird das Geschehen verdichtet und Arnolds Frustration und Niedergeschlagenheit werden deutlicher. Durch die so erreichte Mitsicht wird das Subjektive der Emotionen eindringlicher präsentiert. Doch bevor der Tod von Karen eine entscheidende Wende in dem Leben von Arnold herbeiführt, spürt er schon lange vorher massive Veränderungen in seinem Alltag: An den Wochenenden wurde das Schweigen zum alles überflutenden Strom, in dem sie wie Schiffbrüchige dahintreiben. […] Jetzt graut ihm vor einem Tag voller Stille und Untätigkeit. […] Bevor der Junge in den Krieg ging, waren Arnold die Samstage am liebsten gewesen. Vormittags fuhr er mit Karen in die Stadt, zum Bummeln, ins Museum, oder sie setzten sich ins Café […] (K, 90).

Diese Textstelle markiert die nahe Beziehung des Erzählers zur erzählten Geschichte, er übernimmt die Ausdrucksweise von Arnold, bezeichnet die Figur Chris als „der Junge“. Der Leser entwickelt Empathie für beide Figuren, Karen und Arnold, und ist offen für das Verstehen, das Nachvollziehen ihrer Befürchtung und der Angst um das Leben ihres Sohnes. Das über Wochen andauernde Gefühl der Angst führt auch bei Arnold zu einer Angststörung, die sich nicht nur in seiner körperlichen Verfassung, der Erkrankung an Tinnitus, sondern auch in einer Beeinträchtigung seiner Lebensweise äußert. Auch Arnold unterlässt die bis dahin für ihn wichtigen Aktivitäten des Alltags und schränkt seine Lebensqualität ein. Beiden fehlt es sowohl an Motivation als auch an Energie und dem inneren Antrieb, das Leben wie gewohnt weiterzuführen oder wenigstens nach Bewältigungsstrategien zu suchen, die ihnen helfen würden, aus dem depressiven Zustand herauszukommen:

16 Vgl. ebd.

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„Was hältst du von Italien?“, hat er Karen vor einigen Tagen gefragt […] „In den Herbstferien nach Lucca, Florenz oder Venedig“ […] „Ich verstehe dich nicht“, sagte sie, […] „Merkst du denn nicht, wie albern das ist?“ „Was ist so albern daran, ein paar Tage zu verreisen?“ „Albern ist, dass du Dinge wichtig nimmst, die nicht wichtig sind.“ „Aber unser Leben muss doch irgendwie weitergehen, Liebling, ich …“ „… dein Leben geht vielleicht weiter, meines tut es nicht, solange der Junge …“ (K, 52 f.).

Arnolds Versuch, Karen „ablenken zu wollen“ (K, 53) ist gescheitert, ein Rückzug in die Normalität ist für beide nicht machbar. Zwar gehen sie wieder versöhnt aus dem Streit auseinander, verschieben die Idee der Reise ohne jede Überzeugung auf die Zeit, in der Chris heimkehren wird und tragen nichts zur Veränderung der Situation bei. Diese Stelle markiert deutlich die Verfassung der Eheleute: Karens Überreizung und Arnolds Hilflosigkeit. Beide Figuren sprechen offen von der Angst, die sie stets in dieser Zeit begleitet: „… Liebling, ich …“ „Liebling, Liebling. Ein ganzes Leben lang kenne ich dich nur mit Angst. […] Aber plötzlich scheint es dir nichts auszumachen, was mit dem Jungen wird, und du kommst mit lächerlichen Gedanken an Florenz oder Venedig.“ Es war boshaft. Natürlich. Boshaft und verletzend. […] Als stünden sie im Wettstreit, wer sich mehr fürchtete, dem Junge können etwas zustoßen in diesem verdammten Krieg (K, 52 f.).

Der Kriegseinsatz von Chris ruft in beiden Eltern einen sie beide überwältigenden Reiz hervor. Die Angst, die dadurch evoziert wird, erfasst ihren ganzen Organismus, sie befinden sich körperlich und seelisch in einem quälenden emotionalen Zustand. Nach Freuds zweiter Angsttheorie „entsteht Angst, wenn diejenigen Impulse, die vom Ich als Gefahr bewertet und weder sublimiert noch aufgrund fehlender Abwehrmechanismen verdrängt werden können, die Ich-Struktur bedrohen.“17 Arnolds und Karens Persönlichkeiten erleben eine starke Deformation, in im Laufe der Monate verändert sich ihr Wertesystem und die Position in ihrer sozialen Umwelt. Der Höhepunkt dieser Verzerrung erlebt Arnold, nachdem er von Chris’ Tod erfahren hat: Arnold schiebt die Tür hinter den Männern zu und begreift in dem Augenblick, dass aus seinem Leben, das manchmal glücklich und meistens normal war, soeben ein unbeschreibliches, sinnloses Nichts geworden ist (K, 146).

Die subjektiv erlebte Bedrohung der eigenen Identität und die damit verbundene plötzliche Unausweichlichkeit macht ein stressvolles Erlebnis zu einem Trauma. Auch wenn sich die Eltern selbst nicht in Lebensgefahr befinden, so bricht in

17 Vgl. ebd., S. 285.

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diesem Moment ihr gesamtes subjektives Grundsicherheitsprinzip zusammen. Karens Absage an der Teilnahme an der äußeren Welt nimmt immer größeres Ausmaß an, nach der Kenntnisnahme der Todesnachricht verfällt sie in eine Schweigephase. Sie verschließt sich vor Arnold, vor Bekannten und Freunden, sucht nach keinem Weg, sich anderen mitzuteilen und verbleibt in der Starre: Karen schweigt. Seit die beiden Männer davongefahren sind. Sie hat nicht geweint, nicht geschrien, nein, nur geschwiegen hat sie. Und tut es noch immer. „Willst du reden“, hatte er sie jeden Tag gefragt seitdem, und immer hat sie den Kopf geschüttet (K, 149).

Der Trennungsschmerz ist für beide unerträglich stark, die Sehnsucht nach dem verstorbenen Sohn ruft täglich emotionale und körperliche Leiden hervor. Sie verlieren an Klarheit ihrer Gefühle und erfüllen nicht mehr die gewohnten Rollen im Leben. Arnold wird bald nicht mehr arbeiten können und wollen. Die einzige Handlung, die Karen ausübt, besteht in dem einsamen Spaziergang mit dem Hund. Sie lassen sich von Verbitterung und Wut leiten und verfallen in emotionale Taubheit, empfinden lediglich die Sinnlosigkeit ihrer Existenz. Das Verhalten von Karen und Arnold zeigt Symptome einer komplizierten Trauer (Trauma), die sich bei Arnold höchstwahrscheinlich zur Posttraumatischen Belastungsstörung entwickelt. Fünf Wochen sind seitdem vergangen, und er ist noch immer betäubt von der Größe und Brutalität des Schmerzes, den dieser Krieg für ihn bereithielt. An die Zeit davor hat er keine Erinnerung. Als sei das vorherige Leben als glücklicher und zufriedener Mensch für immer aus seinem Gehirn gelöscht (K, 160).

Die Eltern verfallen nach Chris’ Tod in den Zustand eines psychischen Traumas, von dem sie sich selber zunächst nicht heilen können. An dieser Stelle ist für die weitere Interpretation des Textes von Bedeutung, die beiden Zustände: ‚Trauer‘ und ‚Trauma‘, voneinander abzugrenzen, denn bei der Trauer handelt es sich um einen erwünschten und vorübergehenden Zustand nach dem Verlust einer nahestehenden Person, Trauma dagegen gilt als Angst in Bezug auf das traumatische Ereignis und ist meist nur durch entsprechende Therapien zu bewältigen. Arnold versucht unbewusst, die Erinnerung an das Leben vor dem Tod des Sohnes auszulöschen. Sein Sicherheitsgefühl wird stark in Mitleidenschaft gezogen, er findet in seiner Existenz keinen Halt mehr. Die normale Trauer, schreibt Birgit Wagner, „nimmt im Laufe der Zeit ab und die trauernde Person passt sich allmählich an die veränderten Lebensumstände an.“18 Eine langfristige Dysregulation der Stressbelastung führt bei Arnold hingegen zu einer dauerhaften „Überregung des physiologischen

18 Wagner, Birgit: Komplizierte Trauer. Grundlagen, Diagnostik und Therapie. Heidelberg: Springer 2014, S. 3.

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Stresses und verursacht langfristige physische und psychische Schäden.“19 Arnold erkrankt psychisch – an schwerer Depression, die ihn zur Aufgabe seines bisherigen Lebens verleitet und physisch – am Herz. Arnolds Angststörung nimmt wird mit dem Tod Karens an Stärke zustärker. Unter In Bezug auf die Bindungstheorie von John Bowlby und James Robertson lässt sich festhalten, dass Arnolds Angst als Reaktion auf die Bedrohung sowie den Wegfall fundamentaler Bindungen im Leben zu verstehen ist. Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehungen zu Mitmenschen aufzubauen.20 Nach Chris’ Tod und Karens angenommenem Selbstmord verliert Arnold jeglichen Halt im Leben. Er zieht weit weg von dem gemeinsamen Zuhause in die Einsamkeit der österreichischen Alpen. Auf diese Weise wendet er das „Vermeidungsverfahren“ an, was eine absolute Vermeidung von Erinnerungen an die Personen bedeutet, mit denen die Trauer in Verbindung steht: Seine Erinnerungen sind schneller als der Schlaf. „Nein“, sagt er, „nein“. Er setzt sich auf, schaltet das Licht an und blättert in einem Roman. Mit lauter Stimme liest er vor (K, 33).

So lässt sich der narrative Vorgang in dem Roman wie folgtso deuten, dass der Erzähler, da er häufiger in der Nullfokalisierung erzählt, über die Ereignisse der Vergangenheit Bescheid weiß und sie dem entsprechend erzählen kann. Die Analepsen sind also nicht als Erzählungen über Arnolds Erinnerungen zu deuten, sondern als Erzählungen über das Geschehene, das Gewesene. Arnold verdrängt die Erinnerungen, wie er auch Gespräche über die vergangenen Ereignisse vermeidet. Daher verstaut er die Zeugnisse, die über sein Leben, seine Ehe, seine Familie Auskunft geben könnten, mit den Erinnerungsstücken eines ihm unbekannten Bildhauers, nach dessen Tod er die Hütte gepachtet hat, in der er jetzt lebt: „[Zu den] „Briefen und Schulzeugnissen des Bildhauers […] Geldscheinen, die nicht mehr gültig waren [hat] er seinen Karton dazugelegt. Asche zu Asche“ (K, 27). Die Geschichte seines Lebens wird von ihm selbst, indem er die Dokumente „Asche“ nennt, als zerstört, zerfallen, tot und nicht existent bezeichnet. Seine emotionale Verstörung führt ihn zur Selbstaufgabe, zu einer Verleugnung der eigenen Identität: Wenn Arnold aus den Gläsern des Bildhauers trinkt, wenn er von seinen Tellern isst, wenn er im Bett des Bildhauers liegt […], gibt er sich gern der Illusion hin, das Leben eines anderen zu führen. Das Leben eines einsamen Künstlers, weit oben in den Bergen, weit weg von allem und unerreichbar, während der Arnold aus Königsstein in Taunus, ein Lehrer für Geografie und Sport, nicht mehr existiert (K, 22).

19 Ebd., S. 7. 20 Vgl. Morschitzky, Angststörungen. 2004, S. 104.

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4. Umgang mit der Trauer und Bewältigung des Traumas Diese Belastungen behindern Arnold in allen wichtigen Lebensbereichen, er kann keine emotionalen Beziehungen mehr zu anderen Menschen knüpfen und er erweckt den Anschein, sich nur noch mit sich selbst zu beschäftigen. Gottfried Fischer versteht „ein psychisches Trauma als ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen der Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“21 Die traumatische Situation von Arnold setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen handelt es sich um objektive Gegebenheiten – Chris’ Auslandseinsatz und sein Tod – zum anderen um eine subjektive Bedeutungszuschreibung vor dem Hintergrund der persönlichen Denkweisen und Handlungsmodi sowie der Beziehung zur Umwelt. Arnold, der überzeugte Pazifist, musste sich durch Einfluss von außen mit dem Thema Krieg, Feindschaft, Gewalt und allem, was damit einhergeht, sowie zusätzlich mit dem Gefühl der Angst auseinandersetzen. Während seiner Nachtwachen ringt er mit sich selbst: Und eine Reportage aus dem Krieg, er schaltet weiter. Nein, er will nicht krank werden an diesen Bildern aus dem Krieg. Sie machen ihm Angst. […] Nein, schalte zurück. Sei nicht feige. Das hat der Junge nicht verdient. Einen Vater zu haben, der sich nicht traut, den Krieg zu sehen (K, 126).

Der Erzähler wechselt den point of view und spricht aus Arnolds Perspektive. Es ist ein Versuch, die Figur sehr nah in die Erzählung hinein zu holen, ihre Schwierigkeiten nicht vermitteltzu vermitteln, sondern unmittelbar zu präsentieren. In der Tat hat Arnold Angst vor Krieg, in der Einschätzung von Karen, nicht nur vor Krieg, sondern Arnolds Grundstimmung ist „‚Angst‘“. Auf dem Berg, in der Abgeschiedenheit und Einsamkeit produziert sein Gehirn die Gestalt eines Feindes, der ihn, sowie sein Hab und Gut bedroht und vernichten will. An dieser Gestalt, über die der Erzähler nicht berichtet, erprobt Arnold seine Fähigkeiten, zu kämpfen und zu morden, Hass zu empfinden und gewalttätig zu werden. Der Beginn des Prozesses, den er auf dem Berg durchläuft, ist zunächst noch von tiefer Trauer, Verstörung, Trostlosigkeit, ja „‚ontologischer Unsicherheit‘“ gezeichnet: Sie singen zum Rhythmus des knisternden Feuers, sie singen, bis ihnen die Kräfte schwinden, bis aus Arnolds Gesang ein heiseres Flüstern und aus dem Jaulen des Hundes ein tonloses Röcheln geworden ist. Erst jetzt schläft er ein und versinkt mit gebrochenem Herzen in trostlosem Schlaf (K, 36).

21 Riedesser, Peter / Fischer, Gottfried: Lehrbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart: UTB 1994, S. 79.

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Dementsprechend bleibt die Angst sein ständiger Begleiter auf dem Berg. Die Angstzustände werden zudem gleichermaßen potenziert, als sein Hund angeschossen und seine Hütte verwüstet wird. Arnold vermutet hinter beiden Taten eine Person, die er aber nie zu sehen bekommt. Es beginnt die Zeit einer angestrengten Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und der Suche nach dem vermeintlichen Feind: Der Hund sieht zu ihm, als erwartete er, dass irgendetwas geschieht, dass sie bloß nicht alleine bleiben mit dieser Stille, mit dieser Nacht. Vor der Arnold sich fürchtet, genau wie der Hund (K, 31).

Arnold findet im Wald ein bewohntes Zelt. In der Annahme, dass es die Behausung seines Feindes ist, setzt er das Zelt mit den wenigen Habseligkeiten, die sich darin befinden, in Brand. Er rüstet auf, kauft ein Jagdmesser, findet im Schuppen neben seiner Hütte ein altes Gewehr, das offensichtlich dem Vorbesitzer gehörte, kauft dazu passende Patronen und übt von einem Jägerhochstand das Schießen und das Beobachten der Gegend. Arnold findet das Kampfpotenzial, bzw. die Kampfkraft in sich. Emotionstheoretisch könnte man hier wie folgt argumentieren: Diese neuen Empfindungen bringen ihn seinem im Kampf gefallenen, von einer feindlichen Kugel getöteten Sohn näher. Arnold weiß, dass er am Ende seines Lernprozesses angelangt ist, er hat und verspürt nun keine Angst mehr: Angst? Nein. Merkwürdigerweise nicht. Vielleicht hat er nie wieder Angst im Leben. Vielleicht überwindet der Mensch alle Angst, wenn er erst seine Träume begraben hat (K, 214).

Arnold tötet den vermeintlichen Feind, er schießt mit seinem Gewehr auf ihn und lässt die Leiche in einem Felsenspalt verschwinden. Bei diesem Vorgang erinnert er sich an Chris und ihren einstigen gemeinsamen Aufenthalt in der Gegend: „Sie haben einen Zaun gezogen um unsere Schlucht, Chris. Hörst Du?“ (K, 214) Es findet hier eine Zäsur statt, denn bis dahin verdrängte Arnold die Erinnerungen an das frühere Leben. Im letzten Kapitel schildert der Erzähler eine gemeinsame Reise von Arnold mit Anne, einer Touristin, die Arnold zufällig in seiner Hütte besuchte und dem Hund und gibt eine heitere Stimmung wieder: „sie lachen“ (K, 216). Arnold hat sein Trauma überwunden. Nun stellt sich an dieser Stelle aber die Frage, wie es zu der entscheidenden Veränderung von Arnolds Überzeugungen und Haltungen gekommen ist. Einerseits weisen die Forschungen nach, dass es aufgrund von Traumaexposition zu einer Persönlichkeitsveränderung kommen kann.22 Personen, die ein schwerwiegendes Trauma erlitten haben, entwickeln in der Nachfolgezeit signifikante

22 Riffer, Friedrich / Sprung, Manuel: Das Fremde: Flucht – Trauma – Resilienz. Aktuelle trauma­ spezifische Konzepte in der Psychosomatik. Heidelberg: Springer 2018, S. 21.

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Persönlichkeitspathologien. Zu den schwerwiegendsten gehören: affektive Dysregulationen, ein negatives Selbstkonzept sowie interpersonelle Probleme.23 Diese Veränderungen der Persönlichkeit sind bei Arnold auszumachen:, er hat sich von der Gesellschaft sozial isoliert, weist grundsätzlich eine feindliche und misstrauische Haltung der Welt gegenüber auf, erlebt Leere und Hoffnungslosigkeit und fühlt sich bedroht. Der Erzähler lässt dabei im Unklaren, ob diese Bedrohung, von der Arnold stets berichtet, tatsächlich existiert oder sie nur ein Produkt seines krank gewordenen, traumatisierten Gehirns ist. Falls sie real existiert, dann setzt Arnold die Situation produktiv für sich um, nimmt die Kampfansage des ihm bis dahin unbekannten Fremden an und sucht auf diese Weise Heilung für sein Trauma. So lässt es sich hier weiter vermuten, dass sich Arnold so auf diese Weise Chris annähert, ihn versteht und zu Ruhe und Versöhnung gelangt, indem er in sich die Kraft weckt, Angst bewältigt, Gewalt anwendet, indem er und ein Gewehr in der Hand hält. Abgesehen von den zwei Modalitäten, zum einen der krankheitsbedingten Veränderung der Persönlichkeit und zum anderen der realen Erkennung der tatsächlichen Bedrohung, befreit der Weg der Aggression Arnold aus seiner Entfremdung von der Welt und von sich selbst. Nachdem Arnold die Leiche „des Anderen“ in die Schlucht geworfen hat, fährt er zurück ins Dorf und nimmt seine innere Verfassung als verändert wahr: Er ist müde von der Nacht und dem Tag, doch zufrieden und gleichmütig wie lange nicht, als hätte er eine langwierige Arbeit beendet (K, 214).

Carsten Gansel verweist darauf, dass traumatisierte Menschen nur schwer in der Lage sind, das Erlebte narrativ zu konfigurieren, aber genau dies in der Literatur möglich ist.24 Jochen Rausch gibt durch einen Erzähler einem stumm- und erinnerungslos gewordenen Menschen die Stimme und Erinnerung an seine Emotionen zurück, er erzählt von einem Problem, das in der Öffentlichkeit nicht präsent ist, aber die Mitte der Gesellschaft trifft. In dem Text werden fiktive Figuren entwickelt, die mit Ereignissen konfrontiert werden, die zu Störungen des Selbst führen. So gestaltete Figuren sind imstande, das sonst nichtkommunizierbare zu kommunizieren und so dem Leser ihm selbst unzugängliche Gefüge der erkrankten, traumatisierten Psyche beobachtbar und nachvollziehbar zu machen.

23 Ebd., S. 50. 24 Siehe: Gansel, Call for Papers: Störungen des ‚Selbst‘.

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Topographische Grenzgänge in die Unterwelt: Sterben als (Sprach-)Suche in David Grossmanns „Aus der Zeit fallen“ (2013) 1. Einleitung Die Frau zuckt auf ihrem Stuhl zusammen. Sein Blick umkreist sie, hält sich an ihr fest, und sie – schon einmal vom Unglück getroffen – spürt sofort: Da kommt es wieder, es greift nach mir, seine kalten Finger auf meinen Lippen (Z, 7).1

Der israelische Schriftsteller David Grossmann setzte sich in seinem Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ (2009) mit der Angst vor dem möglichen Verlust seines Sohnes Uri Grossmann auseinander, der etwa zur gleichen Zeit in die israelische Armee eingetreten war. Dieser Text zeigt sich als Teil einer motivgeschichtlichen Reihe, in welcher der Krieg als Ort persönlicher, familiärer und gesellschaftlicher Traumata verhandelt wird. Diese autobiographisch-fiktionale Auseinandersetzung mit dem Krieg als Enigma der Moderne liest sich parallel zu Grossmanns politischen Essays mit dem Titel „Die Kraft zur Korrektur“ (2008), in denen er neben der Betrachtung literarischer Werke auch den Nahostkonflikt in Israel und die politische Dimension von Krieg in den Fokus rückt sowie die sprachliche Verfasstheit von politischen und damit auch gesellschaftlichen Krisen.2 Die eingangs zitierte Szene aus Grossmanns „Aus der Zeit fallen“ benennt den, im 2009 erschienen Roman lediglich antizipierten, Verlust des Sohnes Uri als personifizierte Trauer, die sich kreisförmig angelegt stetig wieder der Frau annähert und sich auf ihre Lippen legt, was als metaphorische Sprachunfähigkeit in Grossmanns Text prominente Bedeutung erhalten wird. Grossmann instrumentalisiert die Literatur demnach als „Gegenrede“ zum tagesaktuellen politischen Geschehen und reflektiert auf Handlungsebene – so beispielsweise in „Aus der Zeit fallen“ – aktuelle Diskurse. Er reiht sein Oeuvre damit in eine Tradition ein, die den Konnex „Dichter-Politiker“3 aufgreift und

1 Grossmann, David: Aus der Zeit fallen. München: Hanser 2012. [im Folgenden unter der Sigle „Z“ im Text]. 2 Vgl. dazu: Grossmann, David: Die Kraft zur Korrektur: Über Politik und Literatur. München Hanser 2008. 3 Schauer, Hendrikje/Lepper, Marcel: Einleitung. In: Das Politische im literarischen Diskurs … https://doi.org/10.1515/9783110683028-032

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die Engführung von politischen Debatten und Literatur stark macht. Inzwischen wird vielfach über die Fragen diskutiert, wie politisch Literatur sein darf respektive kann und welche Rolle dem Schriftsteller als engagiertem Erzähler dabei zukommt. Folgt man Norbert Elias’ Auffassung, dass „schon aus der Sprache, erst recht aus dem Argument […] sich die freiwillige wie unfreiwillige Involviertheit nicht wegdenken“4 lässt, dann kann Literatur nicht nicht politisch motiviert sein, sofern man politisches Handeln im Sinne des Aufwerfens von gesellschaftspolitischen Fragestellungen respektive Reflexionen versteht. Die vordergründig im 20. Jahrhundert formulierte Absage an die gesellschaftsutopische Literatur warf die Frage nach einer engagierten Literatur neu auf und führte – so schien es – eine politische Botschaft innerhalb der Literatur an ein Ende. David Grossmann greift mit seinem Schaffen allerdings eine Ausprägung von politischer Literatur auf, die viel weniger autorzentriert argumentiert denn auf ästhetische Weise politische Dimensionen aufgreift und in den Text einwebt. Der israelische Schriftsteller thematisiert in Interviews selbst die politische Funktion von Literatur und versteht die Engführung von politischen Debatten und Literatur im Sinne Fahrenbachs als Reflexion der historisch-strukturellen Zusammenhänge zwischen Kunst (als Institution, indiHervorbringungs-und intersubjektivem Kommunikationsprozeß), gesellschaftlicher Lebenswelt und Politik.5

Nachdem Uri Grossmann wenige Jahre später im Libanonkrieg von einer Panzerabwehrrakete getötet wird, mündet dieses traumatische Erlebnis in die Totenklage mit dem Titel „Aus der Zeit fallen“ (2013). Es handelt sich hier um die Form eines Klagelieds, das metaphorisch und allegorisch hochkomplex gestaltet ist, an den Grenzen der Sprache entlang mäandert und diese stetig auf ihre Aussagekraft im Moment der größten persönlichen Krise hin befragt: Ich fragte mich, wie es sein kann, dass wir in einem so entscheidenden Moment, in dem wir die Worte so nötig hätten, keine präziseren Worte haben, um unsere Gefühle und unsere Situation zu beschreiben. Erst da habe ich verstanden, dass Trauer kein Stein ist, der einem auf den Kopf fällt und einen zerschmettert. Im ersten Moment scheint es so zu sein, aber Trauer ist ein dynamischer Zustand mit vielen Schattierungen.6

Hrsg. von Sven Kramer. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 7. 4 Ebd., S. 9. 5 Ebd., S. 7. 6 Grossmann, David: Das war meine Rettung. http://www.zeit.de/zeit-magazin/2016/06/davidgrossman-rettung (Zugriff am: 03.08.2018.)

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Grossmann wählt für seine Auseinandersetzung mit dem unnatürlichen und damit der Zeit gegenläufigen Tod des eigenen Sohnes – dem von den Römern genannten mors immatura7, der dem natürlichen „Da-Sein-zum-Tode“ im Sinne Heideggers8 diametral gegenübersteht – ein literarisches Genre, das seit der Antike der Bewältigung von Trauer dient. Die literarische Form des Klagelieds dient strukturell der Stabilisierung des Unsagbaren. Der Tod des Kindes hat eine lange literarisch-kulturwissenschaftliche Tradition und wird von Grossmann durch den Rückgriff auf mythische Strukturen sowie metaphorische und allegorische Sprachvariationen inszeniert. Im Folgenden werden diese Strategien der literarischen und sprachlichen Bewältigung lebensweltlicher Störungen wie Tod und Trauer in Grossmanns Werk untersucht und dabei gattungsspezifische Überlegungen berücksichtigt. Grossmann wählt, anders als vielleicht erwartet, keine autobiographische Form der literarischen Trauerarbeit, sondern transformiert sein persönliches Trauma in die Form einer kollektiven Erfahrung, die sich sprachlich in dem von trauerndem Kollektiv als „Man“ entwickelten gemeinsamen Personalpronomen figuriert und damit neben der Charakterisierung des Erzählers auch Rückschlüsse auf Grossmanns Autorverständnis zulässt. Diese allumfassende Trauer lässt sich sprachlich nicht einholen, sie bewegt sich an den Grenzen zeitlicher und räumlicher Ordnungen. Diese außerräumliche Bewegung ist es, die mit dem Topos des Gangs in die Unterwelt einhergeht, welcher für Grossmanns Werk entscheidend ist und sich als Leitmotiv herauskristallisiert. Die Figuren seines Werkes machen sich zu Beginn auf den Weg zu einem Ort namens dort. Mit diesem Gang als produktivem Prozess geht auch die zeitliche Ambivalenz von Trauererfahrung einher sowie der Topos des Blicks zwischen Trauernden und Verstorbenen. Die drei Hauptmotive, der Gang als Prozess, die zeitliche Ambivalenz von Trauer und der Topos des Blicks sollen im Folgenden fokussiert werden und einen Zugriff auf die sprachliche sowie bildliche Verarbeitung von Tod und Trauer ermöglichen.

7 Griessmaier, Ewald: Das Motiv der Mors immatura in den griechischen metrischen Grabinschriften. Innsbruck: Wagner 1966. 8 Vgl. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. 11. Auflage. Tübingen: Niemeyer 1967.

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2. Der Auszug nach dort – Bewegung als schöpferischer Prozess Das Motiv des Gehens wird bereits durch Oras und Avrams Wanderung durch Israel im früheren Roman „Eine Frau flieht vor einer Nachricht“ thematisiert und ist auch in „Aus der Zeit fallen“ zentral. Wer geht, bleibt in Bewegung, angetrieben von einer Trauer, die im wahrsten Wortsinn niemals vergeht. Das Werk setzt mit dem Erzähler per se ein, dem Chronisten der Stadt. Dieser beobachtet den Auszug des Mannes, der im Verlauf „gehender Mann“ (Z,  25) genannt wird. Die Handlung des Mannes, das Gehen, ist als einziges Charakteristikum gesetzt. Damit zeigt sich anhand des gehenden Mannes die innewohnende „Reaktion auf die Schattenseiten bürgerlicher Vergesellschaftung, als Ausdruck einer ‚atemlosen Flucht‘.“9 Dass der Mann das Haus verlassen will, um zu einem Ort aufzubrechen, der sich lediglich „dort“ (Z, 7) nennt und der ihn mit seinem verstorbenen Sohn zusammenführen soll, ängstigt die Frau. Freude will geteilt sein, Trauer aber isoliert – gerade jene, die sich am nähsten stehen zeugen in der Trauer von „Einsamkeit ohnegleichen verhängt die Trauer über den Lebenden“ (Z, 19). Die Trauer, in ihrer Bewegung wie das Gehen als Kreis angelegt, isoliert das Subjekt und begibt es in ein ‚Zwischen‘, das sich der Gesellschaft und damit anderen Individuen entgegenstellt. Damit gleicht die Trauer der Pathogenese in ihrem zyklischen und prozesshaften Wesen.10 Das Wort dort enthält bereits den Ort als Topographie an sich, wird allerdings nicht für alle (sprechenden) Figuren einheitlich definiert, sondern sprecherbezogen interpretiert. Es ist ein allgemeiner Ort und zugleich jener Ort, an dem der Mann seinen verstorbenen Sohn zu finden glaubt. Den Mann zieht es wie in einem magischen Bannkreis nach dorthin, wo sein Sohn „grenzewig zwischen hier und dort“ (Z, 9) weilt. Das Motiv des Kreises ist virulent in Grossmanns Erzählung und deutet zum einen den Kreislauf des Lebens und damit auch den Tod als intrinsischen Moment des Lebens, als „ewige Wiederkehr“11, an sowie gleichzeitig die Vergänglichkeit des Lebens. Zugleich evoziert der Kreis auf zeitlicher Ebene eine Gleichzeitigkeit, da Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewissermaßen aufeinandertreffen. Der bereits verstorbene Sohn soll an diesem Ort von dem gehenden Mann wiederbegegnet werden.

9 Brittnacher, Hans Richard / Klaue, Magnus (Hrsg.): Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2008. S. 4. 10 Boss, Norbert (Hrsg.): Roche Lexikon Medizin. 2. Auflage. München: La Roche AG und Urban & Schwarzenberg 1987 S. 1319. 11 Butzer, Günter / Jacob, Joachim (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: J. B. Metzler 2008, S. 190.

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Es herrscht kein Anfang und kein Ende und damit auch keine zeitliche Entfernung, weshalb der bereits erlebte Verlust der Kinder erneut in der Gegenwart präsent ist. Damit charakterisiert Grossmann den Verlust des Kindes auch im medizinischen Sinne als physische Verletzung, welche die Psyche in Folge des traumatischen Auslösers stets von Neuem beeinflusst.12 Folgt man der Poetik Rainer Maria Rilkes dann wird der Kreis auch als literarisches Symbol für Schöpfungskraft verstanden, sofern den Kreisen eine wachsende Bewegung anzumerken ist.13 Dieses schöpferische Potenzial des Kreises lässt sich mit dem literarischen Schreiben, das dem Trauernden als Trauerarbeit dient, verbinden. Die kreisförmige Bewegung des Mannes und seiner Mitgehenden lässt sich demnach mit einer Form von produktiver Trauer verbinden. Das in der Literaturwissenschaft gedeutete Symbol des Kreises kann in diesem Zusammenhang auch als magisches Symbol, im Sinne eines Bannkreises, der einen schützenden (Trauer) raum schaffen soll, gedeutet werden. Im Sinne der kollektiven Trauerbewegung entsteht ein Kreis aus trauernden Figuren, die gemeinsam versuchen der Trauer zu entgehen. Entscheidend ist auch die Deutung des Kreises als Markierung für einen Ort des Unrechts, wie er in der Ilias bereits verwendet wurde.14 Der schützende Bannkreis und die Markierung des Unrechts gehen in der literarischen Inszenierung Hand in Hand, so liest sich das Unrecht im Tod der Kinder vor der Zeit und wird von den Trauernden durch die gehende Bewegung, aber auch in Form der sprachlichen Kreise, die sich unaufhörlich um den Tod der Kinder drehen, aufgegriffen. Dem Kreis kann demzufolge eine ambivalente Bedeutung zugeschrieben werden, markiert er doch einen Ort des Unrechts, verdeutlicht die Unendlichkeit von Leben und Tod und symbolisiert zugleich einen Prozess der Trauer. Gemeinsam ist diesen Deutungen allerdings der fluide Charakter des sich quasi entwickelnden Kreises, der dadurch eine produktive Wirkung entfalten kann. Auffällig ist zudem die sich wiederholende Struktur, die dem Kreis als endlosem Symbol innewohnt und die der Frau in dem eingangs erwähnten Zitat als „da kommt es wieder“ begegnet. Dieses „es“ meint die Trauer. Die Personen, die gemeinsam gehend mit dem ausziehenden Mann, diesen Ort des Unrechts markieren, werden zu einer Gemeinschaft der Trauernden, die sich zunächst bildlich formiert und dann in eine gemeinsame Sprache transformiert wird. Unter dem Namen

12 Trauma. In: Friedrich Kluge, bearbeitet von Elmar Seebold: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., durchgesehene und erweiterte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin/New York: de Gruyter 2001, S. 65 – 68. 13 Butzer / Jacob (Hrsg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart: J. B. Metzler 2008, S. 190. Vgl. hierzu das Gedicht „Ich lebe mein Leben“ (1899). 14 Ebd., S. 191.

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„Die Gehenden“ bilden sie zum Ende der Elegie Grossmanns hin eine gemeinsame Stimme, hinter der der Einzelne zurücktritt. So heißt es beispielsweise: Und er, der Gehende, richtet sich auf und schaut, es ist, als schauten seine Augen, erst jetzt zum ersten Mal uns ab, klar und gut. Liebevoll lächelt er jedem von uns zu und auch, so scheint es, denen, die jeder von uns in sich trägt. (Z, 108)

Gleichzeitig birgt die Exklusivität des Kreises aber auch eine abschottende Bewegung, die den Personenkreis buchstäblich von der Gesellschaft separiert.15 Das stetige Kreisen um den Verlust des Kindes kann auch als Gefangenschaft in der Trauer verstanden werden. Am Anfang von Grossmanns Erzählung steht also der Aufbruch eines Mannes, der auszieht zu einem Ort namens „dort“ mit dem Ziel seinen Sohn zu finden, um ihn ein letztes Mal lebendig „sein“ lassen zu können. Der Beginn der Erzählung ist demnach auch ein Abschied vom Zuhause: „Das Leben ist hier, meine Liebe“ (Z, 9). Diese Absage an eine Heimat lässt sich mit Adornos Verständnis des heimatlosen Vagabunden gemeinsam denken, der „angesichts der Korruption von ‚Heimat‘ und ‚Häuslichkeit‘“ ausgeht: „Mit dem Wissen, nicht bei sich selbst zu Hause sein zu können, will der Vagabund ernst machen und eine Autonomie zu verwirklichen, die den Erfahrungen von Weltverlust und Dislokation gerecht wird.“16 Dieses Leben verlässt der Mann, da ihn die Trauer zu ertränken droht: Es türmt sich auf, wird hochgewirbelt, steigt auf und fließt über, ein Brunnen ohne Ende. Und ich weiß schon: Solange meine Seele in mir wohnt, werd ich das Dunkel dieses Augenblicks schöpfen und trinken und bluten (Z, 19).

Die metaphorische Verwendung des Wassers versteht sich zum einen als lebensspendende Kraft, zum anderen aber auch als Symbol des Todes und der Wiedergeburt. Besonders die christliche Tradition deutet das Wasser als Symbol eines Kreislaufs aus Geburt, Leben und Tod und demnach auch als fließenden Prozess. In der Metaphorik des Wassers und des Kreises findet sich die Gleichzeitigkeit von Tod und Leben wieder. Die Fließbewegung des Wassers wird in dem gehenden Mann personifiziert und markiert somit die Trauer als produktiven Prozess. Der Mann verlässt den Bereich des Lebens und begibt sich auf die Suche nach seinem Sohn, den er an dem Ort dort zu finden glaubt. Die Suche nach noch einem Moment mit dem Sohn treibt ihn an:

15 Ebd. 16 Brittnacher / Klaue, Unterwegs. 2008, S. 5.

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Wenn wir noch einen Moment bei ihm wären, könnte vielleicht auch er noch einen Moment sein, einen Augenblick einen Atemzug lang – (Z, 22).

Doch der Mann glaubt nicht an eine Wiederbelebung des Sohnes, er glaubt vielmehr an den ewigen Abschied von dem Kind. Die Rede ist von einem Augenblick, einem Atemzug, der dem Sohn noch einmal das Leben einhaucht, um ihn dann endgültig sterben zu sehen. Der Blick wird an dieser Stelle als Begegnung zwischen Lebenden und Toten und als Stillstand von Zeit und Raum figuriert. Der Augenblick wird zum Moment der Erkenntnis: Er schaut auf die geschlossene Tür. Seine Beine zögern, tasten. Er geht, merkwürdig, er dreht sich um sich selbst, zieht einen kleinen Kreis. Langsam, vorsichtig, einmal und noch einmal, einen Kreis und noch einen um sich selbst. Seine Arme heben sich zu den Seiten, die Kreise werden größer, er umkreist den Hof, und jetzt das Haus, er umkreist das Haus – (Z, 19).

Diese kreisförmige Bewegung findet sich auch in der Erzählstruktur wieder, die beharrlich auf den Moment der Trauer und der erneuten Begegnung mit den Verstorbenen fokussiert. Durch das Verlassen des Hauses, entzieht der Mann dieses scheinbar dem Trauerprozess, umkreist es allerdings stetig und macht es daher zum Mittelpunkt seiner Trauer. Die kreisende Bewegung des Mannes deutet allerdings auch eine Art Loslösung des Gehenden von sich selbst an, da es zwar seine Beine sind, die gehen, aber nicht er selbst. Er wirkt wie ferngesteuert in seiner Trauer. Die Trennung des außen, die zu Beginn der Erzählung durch den Auszug des Manns markiert wird und der Frau, die im Zuhause verbleibt, erinnert an patriarchalische Muster der Antike. Im Verlauf wird sich zeigen, dass auch weibliche Figuren außerhalb des gewohnten Zuhauses auftreten, allerdings vordergründig in ihrer lebensspendenden Funktion als Mütter beschrieben werden. So sollen nun die gehenden Figuren aus Grossmanns Werk sowie ihre sprachlichen Strategien der Trauerbewältigung näher betrachtet werden.

3. Die Gehenden Die Suche des Ortes namens dort, wird von dem Chronisten dokumentiert, der im Verlauf der Erzählung weitere Figuren in den Blick nimmt, die ebenfalls ein Kind verloren haben und sich ebenfalls dem gehenden Mann auf seiner Suche anschließen. Da ist die stumme Frau im Netz17, die ihre „Klage sang“ (Z, 32), wodurch sie den Tod ihrer Tochter beweint und von der Stummheit zur Sprache wiederkehrt:

17 Dies ist ein Eigenname der Figur.

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Wie mit einer spitzen Schere wurde ich ausgeschnitten aus dem Bild meines Lebens. Eis der Einsamkeit, Mutterseeleneinsamkeit, […] denn der kalte Zufall hat mich berührt und angesteckt (S. 41).

Die Frau im Netz beschreibt die Trauer als eine Krankheit, an der man sich anstecken kann und gleichzeitig als ein fremdbestimmtes Ereignis, das sich ihrem Handlungsspielraum entzieht. Der Verlust eines Kindes steht hinter ihren Worten und auch sie schließt sich dem gehenden Mann auf seiner Suche an. An dieser Stelle der Erzählung wird die Funktion des Chronisten als Konservierer und Tradierer von Wissen um eine weitere Perspektive erweitert. Die Frau des Chronisten kommt das erste Mal zu Wort: Ein transparentes Körperchen, ein strahlend goldnes Spänchen hat in mir gelebt, mein We­sen und der Sinn meines Seins […] ahnte ja nicht, dass ich nach ihm noch weiterleben würde, als entlebter Mensch, entseelt, selbst zur Verbannung geworden, und dass ich lügen würde und es wagen, ohne mit der Wimper zu zucken „Ich“ zu sagen (Z, 42).

Sehr konkret berichtet die Frau des Chronisten an dieser Stelle von dem Verlust ihres gemeinsamen Kindes und über die verheerenden Folgen in Bezug auf ihr Ich, das sie nicht mehr als ein solches benennen kann. Das Kind als intrinsischer Bestandteil des Ichs wird aufgelöst und führt zu einer Entfremdung des Ichs. Die sprachliche Benennung als sinnstiftende Komponente wird aufgehoben. Sprache vermag den Verlust nicht mehr zu vermitteln, da sie als leere Worthülse enttarnt wird. Auch die Frau des Chronisten macht sich auf den Weg. Neben ihr tritt auch der greise Rechenlehrer auf, der ebenfalls von dem Chronisten nach seinem Verlust befragt wird. Dieser steht für das Prinzip der Verdrängung und des Verschweigens: da kann ich leider kaum etwas sagen; das wundert auch mich selbst ein bisschen. Obschon es doch seit sechsundzwanzig Jahren die eine große Tatsache in meinem Leben ist, weiß ich zu meinem großen Staunen und auch zu meiner Verlegenheit nichts über sie zu sagen (Z, 47).

Der Mathematiklehrer, der für die Weisheit und die Logik einsteht, ist nicht in der Lage das Erlebte zu schildern. Vielmehr ist ihm der Zugang zur sprachlichen Reflexion scheinbar verweigert. Neben dem Lehrer treten auch die Hebamme, die für das Lebenspendende steht und der Schuster, dessen Handwerk als Symbol für irdische Verbundenheit gedeutet werden kann, auf. Als Korrektiv dieser Deutung streift sich der Schuster die Schuhe und damit auch das irdische Leben von den Füßen. Auch sein Angebot, dem gehenden Mann Schuhe zu fertigen, wird von diesem abgelehnt. Die Hebamme ist es, die für das Geschenk des Lebens einsteht und erkennen muss, dass sie das Ende eben jenen geschenkten Lebens nicht abwenden kann. Die verstockt-stotternde Hebamme befiehlt dem Schuster die Nägel, die er in seinem Mund hatte, auszuspucken:

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Sie öffnet das Fenster und wirft die Nägel heraus. Um mich herum höre ich ihren metallenen Klang. Der Schuster steht fassungslos da, die Hand auf der Wange. Seine Zunge wan­dert im Mund, ertastet die Leere (Z, 50).

Jeder dieser zehn Nägel, die den Mund des Schusters säumten, stand für „jedes ihrer winzigen Fingerchen, das ich geküsst habe“ (Z, 51). Sie sind die lebendige, blutige, qualvolle und damit physische Erinnerung an den Verlust seiner Tochter. „Meine ganze Kraft kommt von ihnen“ (Z, 51), bekennt der Schuster. Aber seine Frau, die Hebamme, zwingt ihn, die Nägel auszuspucken und Grossmann zeigt an dieser Stelle erneut die trennende Form von Trauer, durch die sich Liebende fremd werden. Auch dem Schuster verschlägt es buchstäblich die Sprache in Folge des Verlusts. Die Zähne als Sinnbild für Sprache und Sprachfähigkeit verdeutlichen diesen Umstand. Als ihm dieser Verlust auch körperlich wieder nahegebracht wird, folgt der Schuster dem gehenden Mann. Es ist seine einzige Rettung gegen die Trauer. Trauer wird in Grossmanns Werk zu einem allumfassenden Erlebnis, das den Körper sowie den Geist beansprucht: Kneten will ich es, dieses es, ja, das, was passiert ist, das, was wie ein Blitz einschlug und alles verbrannt hat, auch die Wörter, verflucht noch mal die Wörter, die es mir hätte beschreiben können, die hat es auch verbrannt, dieses Monstrum (Z, 51).

Was den Zentauren, der an dieser Stelle spricht, ebenso wie den Chronisten am Leben hält, ist das Schreiben, der stetige Versuch Worte zu finden. Der Zentaur wird als Phantasiegestalt durch den Chronisten gespiegelt. Sowohl Chronist als auch Zentaur treten als Erzähler auf. Die Figur des Zentauren steht als Zwischenwesen zwischen Tier und Mensch, genauer zwischen Pferd und Mensch, für die Schwelle, die sich zwischen Leben und Tod findet. Der Zentaur braucht das Schreiben, um zu verstehen, was er erlebt hat. Zugleich wünscht er sich die haptische und buchstäbliche Fassbarkeit dieses „es“, was den Verlust des eigenen Kindes meint: „Was passiert ist, werd ich nicht verstehn, und den, der ich jetzt bin, nachdem es passiert ist, werd ich auch nicht verstehen“ (Z, 50). Der Zentaur hat ob des Verlusts seines Kindes die Fähigkeit des Schreibens verloren, so konstatiert er: Ich kann seit Jahren nicht mehr schreiben; nicht ein einziges Wort krieg ich aufs Papier, und du, wie sich zeigt, kannst ja schreiben, besser gesagt: aufschreiben, soviel du willst, ganze Blöcke voll, ganze Schriftrollen! Aber anscheinend nur, was andre dir erzählen … (Z, 51).

Der Chronist vertritt demnach die Trauerpraktik der akribischen Arbeit, die gegen die verdrängte Trauer anschreiben soll, während der Zentaur aufgrund seiner Trauer auf dem Papier „verstummt“ ist. Entscheidend ist allerdings, dass der Chronist nicht autobiographisch arbeitet, sondern lediglich die Erlebnisse der anderen Figuren dokumentiert.

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Auch der Lehrer referiert andere Perspektiven auf seinen Verlust, um seine eigene Wahrnehmung in den Hintergrund zu rücken: Und manchmal bohren sie weiter, die Leute: Hat sie denn keine Risse, oder Sprünge,diese große Tatsache in Ihrem Leben? Nein. Können Sie sie berühren? Sie hat nichts, was man berühren könnte (Z, 60).

Doch mit der Zeit öffnet sich die Kluft seiner Erinnerung und er beginnt zu berichten. Das Erlebnis wird personifiziert und zugleich zu etwas anfassbarem Unfassbaren gemacht. Diese große Sache, die sich vor sechsundzwanzig Jahren ereignet hat, wird von dem Lehrer dann auch namentlich genannt. Es war ein „Unfall (ein Streich, der schiefging, Badewanne, Rasierklinge, durchschnittene Adern, beim Spielen)“ (Z, 60). Der Chronist als Sammler dieser Geschichten benennt den Herzog als Auftraggeber und seine Aufgabe als Befehl. Der Herzog wird diese Behauptung im späteren Verlauf der Erzählung revidieren und es drängt sich der Gedanke auf, dass der Chronist, von seiner Trauer getrieben, keinen anderen Weg sah, als fremde Geschichten des Verlusts aufzuschreiben und seine eigene Geschichte darüber zu vergessen. Diese Hoffnung des Chronisten korrigierend, stehen die gehenden, trauernden Figuren für eine uneingelöste Trauer ein. In ihrer Trauer sind sie alle eins, auch der Herzog reiht sich ein und geht neben den anderen Personen schlaftrunken im Kreis. Aus dieser Trauergemeinde ergibt sich ein Sprachchor, der sich lediglich „die Gehenden“ nennt und gemeinsam spricht. Von „uns“ (Z, 84) ist die Rede und es scheint tatsächlich, als gäbe es eine Stimme der Trauer, die sich in diesen Erzählern vereint. Immer wieder erscheint in dieser gemeinsamen Stimme doch auch der persönliche Verlust hervor, der allerdings untrennbar von der Gemeinschaft erscheint. Wir gehen  ◆  Können unmöglich verharren  ◆  Der Körper lässt mich nicht, aber meine Beine sind schwach (Z, 87).

Aus dieser Gemeinschaftder Trauernden, die sich auch druckgraphisch in Form des Einschlusses mehrerer Stimmen in eine Zeile manifestiert, hebt sich der gehende Mann hervor, der das Umkreisen des dort als Krankheit, als Fluch betitelt: gehen, weiter gehen, immer weiter – Bei einer letzten Grenze, bis zu der mein Verstand nicht reicht, werd ich mich vielleicht niederbeugen können, und diese große Last ablegen, und dann zurücktreten, […] mich fügen und bekennen: Ich bin hier, und er ist dort, grenzewig, zwischen hier und dort (Z, 100)

Immer näher treibt es die Trauernden zu dieser Grenze, hinter der sich das gesuchte dort befinden soll. Der gehende Mann ist bereit, bis zu dieser Grenze zu gehen, auf

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dieser Grenze stehen zu bleiben und zwischen dem hier und dort zu verweilen. Die Trauernden treten am Ende des Werks aus dem Trauerkreis, dem Kollektiv, aus. Diese Grenze markiert das eigene Grab, in das sich die Gehenden niederlegen und erkennen, dass die Suche nach den verlorenen Kindern, die Trauer, das Einzige ist, was sie selbst vor dem Verlöschen bewahrt. „Um mich selbst, allein um meine Seele kämpf ich hier“ (Z, 109). Es ist der Kampf um Erkenntnis, um das Verstehen des Unverständlichen und die Akzeptanz, dass der Tod endlich ist.

4. Die Sprache ad Absurdum zur Bedeutung Die Sprache Grossmanns zeigt sich ähnlich wie die Zuordnung zu einem literarischen Genre als ambivalent. Vielmehr überschreitet Grossmann bewusst räumliche, zeitliche und genrespezifische Grenzen, um der Trauer als universeller Schmerzerfahrung, ihren Tribut zu zollen. Wenn es um die Versprachlichung von Krisen geht, die sich per se durch eine Übergangssituation auszeichnen18, stellt sich die Frage nach sprachlichen Verhandlungsmethoden. Auffällig ist, dass es zwei unterschiedliche Sprechergruppen zu geben scheint. Zum einen sind da die beiden auffälligsten Erzählerstimmen, der Chronist und der Zentaur, deren Sprache in Prosa geschrieben ist. Alle anderen Stimmen sprechen kurze, elliptische Sätze, die meist am Zeilenende zerschellen, so beispielsweise der Mann, der nach der Wiederholung „einen Augenblick, einen Augenblick lang“ (Z, 22) verstummt. Der größte Anteil der Sprache setzt sich aus wörtlicher Rede zusammen. Diese bruchstückhaften Aneinanderreihungen von Wörtern spiegeln die Unsagbarkeit von Trauer wider. Leerstellen brechen den Text auf und zeigen die Unmöglichkeit Trauer in Sprache zu kleiden. Dies wird auch anhand der Figur des Zentauren thematisiert, der aufgrund seines Verlustes nicht mehr fähig ist zu schreiben. Schreiben respektive Worte zu produzieren, wird an dieser Stelle in einen Sinnenzusammenhang gesetzt, der ob der persönlichen Trauer in sich aufgelöst wird. Am Ende von Grossmanns Werks steht die wiedergefundene Fähigkeit zur Sprache, die allerdings auch als Schmerz empfunden wird. Neben den elliptischen und zum Teil der Bedeutung widerläufigen Sätzen finden sich auch überlappende Stimmen wieder, die sich zu einer brüchigen gemeinsamen Stimme zusammenschließen, die wie im bereits zitierten Beispiel zwischen Personalpronomina der

18 Öhlschläger, Claudia: Figurationen der Krise: Robert Walsers Feuilleton im Kontext der Unterhaltungs- und Konsumkultur zwischen 1927 und 1932. In: Zeitschrift für Germanistik 22, 2012, H. 3, S. 634 – 639.

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ersten und dritten Person Singular changiert.19Weiterhin fällt die Dichte an Metaphern auf, die den Text säumen und mit Hilfe derer der Autor versucht, den Tod fassbar zu machen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang die folgende Stelle, in der der gehende Mann und die gehende Frau von dem Moment berichten, als sie vom Tod ihres Sohnes erfahren haben: Nachts kamen Leute mit einer Nachricht im Mund, sie kamen von weit, schwiegen ernst und kosteten sie dabei vielleicht verstohlen und leckten an ihr. Fassungslos wie Kinder begriffen sie: man kann den Tod im Mund halten wie ein Bonbon aus Gift, wundersam dagegen gefeit (Z, 11).

Die Metaphern, die in dieser Passage aufgerufen werden, stammen aus dem semantischen Feld des Geschmacks. Der Tod wird als konsumierbares Erlebnis figuriert. Gleichzeitig wird die Sprache, die metaphorisch durch das Bonbon aus Gift, die Nachricht vom Tod, verkörpert wird, als krisenhaft aufgezeigt. Verbindet man diese genannte Stelle allerdings mit dem Ende des Werks, führt der Autor die metaphorische Sprache ob der größten menschlichen Krise, dem Tod des geliebten Du’s, als begrenzende Sprache vor, die dem Tod keinen weiteren Sinn oder weitere Erkenntnis verleiht. Den Tod zum Bild zu machen, entzieht ihm die Bedeutung. Am Ende des Werks von David Grossmann steht der Satz: „Und er, er ist tot, beinah versteh ich die Bedeutung“ (Z, 123) und die Bedeutung wird nicht über Metaphern übertragen, sondern diesen – man könnte sagen profanen – Aussagesatz, der sich keinerlei literarischer Stilmittel oder Tropen bedient. Grossmann greift an dieser Stelle allerdings auf die Wiederholung des Pronomens zurück und stellt den Sohn, das hier bezeichnete „er“, in den Vordergrund. Die Sprache wird an dieser Stelle, ähnlich wie es im berühmten Brief des Lord Chandos von Hugo von Hoffmannsthal der Fall ist, als krisenhaft vorgeführt, denn Verständnis wird lediglich „beinah“ ermöglicht. Darin bemängelt Lord Chandos ebenfalls die Grenzhaftigkeit der Sprache. Die Wörter werden ihm zu „Wirbeln […], in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt“.20 Die Empfindungen dagegen werden ihm umso größer, erhabener, ergreifender. Kein Wort hat mehr die Fähigkeit, die „sanft und jäh steigende Flut göttlichen

19 Das Zitat von Seite 87 von „Aus der Zeit fallen“ zeigt diesen Wechsel sehr deutlich. Innerhalb dieser kurzen Szene wird der Wechsel zwischen Wir- und Ich-Erzähler(n) elliptisch auf die Spitze getrieben. 20 von Hofmannsthal, Hugo: Ein Brief. In: Ebd. 1992 (1903): Sämtliche Werke, kritische Ausgabe in 38 Bänden. Hrsg. von Rudolf Hirsch, Christoph Perels und Heinz Rölleke. Frankfurt/M.: Fischer. S. 45 – 55, hier: S. 48 f.

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Gefühles“21 zu erfassen. Das „Hinüberfließen [oder] Fluidum“22 der Empfindung zum Objekt der Empfindung löst auch die Grenzen des Subjektes auf. Subjekt und Sprache waren eine Einheit; nun sind sie in Auflösung begriffen. Denn die heftige Empfindung muss stumm bleiben. Diese, im Sinne Lord Chandos, als krisenhafte Sprache vorgeführte Unfähigkeit tiefste Empfindungen fassbar zu machen, wird am Ende von Grossmanns Werk aufgehoben: Und mir bricht es das Herz, mein Augenstern, wenn ich dran denk, dass ich – ist’s möglich?! – dass ich dafür die Worte fand. (S. 123)

Diese Ambivalenz von Sprache, die nicht als Erlösung im „Worte finden“ ausgestellt wird, geht bei Grossmann mit seinem titelgebenden Topos der Zeit einher, der dem Werk als übergeordnete Einheit voransteht.

5. Die Ambivalenz von Zeitstrukturen – Korrelation von Zeit und Tod Grossmanns Werk fokussiert auf die Rückfindung in diese Zeit, aus der die gesamte Familie nach dem Tod des Sohnes gefallen zu sein scheint und die sich nun in kreisenden Bewegungen angeordnet stetig um die eigene Trauer dreht. Die Ambivalenz der Zeit zeigt sich zum einen in der Hoffnung auf Schmerzlinderung im Laufe des Verstreichens von Zeit und zum anderen in der Angst vor verlorenen Erinnerungen, die durch das Verstreichen der Zeit verblassen: Doch dein Wortschatz, mein Sohn, das spüre ich, schrumpft mit den Jahren, […] und zwei drei andere Augenblicke, zu denen du zurückkehrst, die du zurückbringst: das Morgenlicht am Flussufer im Norden, die Geschichte, die ich dir vorlas, […]

21 Ebd., S. 49. 22 Ebd., S. 50.

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und wie wir zusammen gelacht haben – nur das, nur diese Erinnerung, immer und immer wieder, und die anderen lösen sich nach und nach auf … Sag, raubst du absichtlich mir den Trost? (S. 54)

Der Vater beschreibt das Schwinden von Erinnerungen an seinen Sohn anhand von Begriffen, die ihm den Sohn in Erinnerung rufen. Diese Begriffe bezeichnet er als „Wortschatz“ und evoziert damit eine Form der Kindesentwicklung, die im Tod rückläufig wird. Als würde der Sohn sich zurückentwickeln, werden die Erinnerungen stetig weniger und profaner. Auch die zeitlichen Strukturen vollziehen sich in einer Kreisbewegung, da sie achronologisch verlaufen, sodass das verstorbene Kind in der Entwicklung rückläufig erscheint. Die Frau des Chronisten empfindet diese widerläufige Bewegung als Verlust: „Ich verlor die Fähigkeit mich einfach und natürlich in ihr zu bewegen. Ich werde in ihr zurückgerissen, gegen den Strom“ (Z, 29). Grossmann führt die Formulierung „Er ist im Krieg gefallen“ mit der zeitlichen Ebene eng: Einmal erzählte mir jemand aus einem fernen Land, dort sage man von einem, der im Krieg umkommt, er sei „gefallen“. So auch du: Aus der Zeit gefallen bist du, aus der Zeit, in der ich bin und an dir vorübergeh: bist eine Gestalt, allein am Bahnsteig in einer Nacht, deren Schwarz bis zum letzten Tropfen ausgelaufen ist. Ich sehe dich, berühr dich aber nicht. Mit meinen Zeitfühlern spür ich dich nicht (Z, 43).

Die zeitliche Distanz zwischen dem toten Sohn und seinem Vater wird an dieser Stelle aufgerufen, ebenso wie die sprachliche Reflektion darüber wie sich über das Sterben und den Tod als solches sprechen lässt. Das Motiv der Reise, welches durch den Bahnsteig aufgerufen wird, steht sinnbildlich für den Übergang des Sohnes vom Leben in den Tod und zugleich für Grenzüberschreitungen. Zugleich findet sich die Literatur als sinnstiftende Funktion in den schwarzen Tropfen wieder, aus denen der Sohn zu entstehen scheint.

Der Blick ins Totenreich Der dritte, wichtige Topos, der mit dem Gang in die Unterwelt einhergeht und zugleich zeitliche Ambivalenzen mitdenkt, ist der des Blicks. Innerhalb des Grossman’schen Werks fällt der Topos des Blicks besonders auf. Immer wieder finden sich von Beginn der Erzählung an Formulierungen rund um den Blick respektive Blickwechsel, die eng verknüpft mit der Bewegung des Gehens zu sein scheinen. So heißt es bereits zu Beginn des Textes: „Sein Blick umkreist sie, hält sich an ihr fest“ (Z, 7). Es ist der Blick des trauernden und gehenden Mannes von dem hier die Rede ist. Der Blick hat entscheidenden Einfluss auf das Machtver-

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hältnis zwischen Mann und Frau: „Er nimmt seinen Blick nicht von ihr. Er schaut sie so sehr an, dass ihre Hand zittert“ (Z, 9). Blicke treten auch an die Stelle von Worten und zeigen somit Grenzen von sprachlicher Verfasstheit auf. Im leeren Blick zeigt sich die emotionale Entfernung zwischen Mann und Frau und auch die gemeinsame Trauer wird über den Blick figuriert: „Jetzt versinken wir einen Augenblick lang.“ (Z, 12) Dieser Blick scheint das Innere der Trauer darzustellen, den Wahn, den der Trauernde ob des Verlusts empfindet. Der Augenblick gilt innerhalb der Literaturwissenschaft als Erkenntnismoment und steht für das unterbewusste Begreifen.23 Diese Erkenntnisstruktur kann allerdings sowohl in positive Erkenntnis als auch in ein Gefühl der Überwältigung durch „Schrecken, Wahnsinn und Grauen“24 münden. Dieses Versinken in die Trauer ob des Todes ihres gemeinsamen Sohnes erfahren die beiden Trauernden in Grossmanns „Aus der Zeit fallen“. Die Figuren „nehmen mit Blicken Abschied“ (Z, 109). Auch in diesem Zusammenhang greifen Titel des Grossmmann’schen Werks und Bedeutung des Augenblicks aus literaturwissenschaftlicher Perspektive ineinander. Der Augenblick wird beispielsweise bei Proust als Durchbrechung der chronologischen Zeit und diametral zu einem chronologischen Erinnern verstanden.25 Wenn Augenblicke widerläufig zur Chronologie zu denken sind, dann laufen sie einem „natürlichen“ Zeitverständnis zuwider, setzen sich diesem entgegen und zeichnen sich durch Unterbrechungen aus. Einer ähnlichen Struktur folgt die Wirkung, die der Augenblick auf Personen haben kann: In jenem Dunkel sah ich vor mir, ein Auge, weinend, und ein Auge im Wahn. Ein Menschenauge, verloschen, und das Auge von einem Tier (Z, 13).

Begriffe wie Seele oder auch Atem (vgl. Z, 16) werden ebenfalls in das Spannungsfeld des Blicks gesetzt. Der Atem markiert in Grossmanns Text den Moment des bevorstehenden Todes.26 Das Auge, das für die Seele und „innersten Zustande“27 steht, spiegelt demnach die Emotionen des Menschen wider und kommuniziert den Abschied respektive bevorstehenden Tod im Blick.28 Die Augen respektive der Augenblick werden in Grossmanns Werk auch zum Abschied umgedeutet: „du nahmst meine Hand, schautest mir direkt in die Augen: Der Mann und die Frau von früher nickten einander zu, zum Abschied“ (Z, 13).

23 Augenblick. In: Butzer/Jacob: Metzler Lexikon literarischer Symbole. 2008, S. 31. 24 Ebd., S. 30. 25 Ebd., S. 35. 26 Ebd., S. 28. 27 Ebd., S. 33. 28 Ebd.

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Den Bruch respektive Abschied markierend, wird der Augenblick als diese Grenze dargestellt, aber auch der Abschied von ihrem verstorbenen Sohn wird im Blick gefangen gehalten, „angelegt im Schwarz meiner Pupille“ (Z, 16). Während die Worte, die in diesem Moment gesprochen wurden, vergessen scheinen, „sprich, erzähl mir noch, was wir geredet haben“ (Z, 16), bleibt der Blick von Dauer. Auffällige Parallelen finden sich aufgrund der ersten Blickkonstellation zwischen Mann und Frau in Bezug zur Mythologie des Orpheus und der Nmyphe Eurydike. Der Begriff „Verbannung“ (Z, 17) oder Exil, der bei Grossmann verwendet wird, nimmt diese Parallelen auf. Der Erzählung nach wurde Eurydike nach einer versuchten Vergewaltigung und der damit verbundenen Flucht von einer Schlange gebissen und verstarb. Da Orpheus nicht ohne seine geliebte Frau leben wollte, folgte er dem magischen Klang seiner Leier und stieg zu ihr in die Unterwelt hinab. Diese Liebestat rührte Persephone, die Orpheus daraufhin erlaubte, Eurydike in die Welt zurückzuführen, allerdings unter der Bedingung, dass er sich während der Heraufführung aus dem Hades nicht nach ihr umblicken dürfe. Dies gelang Orpheus allerdings nicht und Eurydike wurde in die Unterwelt, den Hades, zurückgeführt. Der Kontakt zwischen Lebenden und Toten wird anhand dieser Mythologie aufgerufen und inkludiert den Augenblick als Moment der Entscheidung zwischen Leben und Tod. Die Forschung betitelt Orpheus gar als „Symbol für den Künstler, für den Grenzgänger zwischen Leben und Tod“.29 Die Verwandlung von mythischen Strukturen setzt das Werk David Grossmanns in einen größeren Sinnzusammenhang und enthebt es einer klaren zeitlichen wie lokalen Zuordnung. Vielmehr scheint es in eine Historizität eingebunden zu sein, die überzeitliche Strukturen fokussiert. Die Begründung für den verbotenen Blick des Orpheus findet sich bei Vergil prägnant benannt in der rasenden Leidenschaft, ‚subita dementia‘30, ‚tantus furor‘31, die er Eurydike gegenüber empfindet. Überträgt man die Mythologie auf das Werk Grossmanns dann ist es der gehende Mann und zugleich das sich um ihn formierte trauernde Kollektiv, das hinabsteigt in das dort, um ihren Kindern zu begegnen. Wie von einer Kraft gelenkt, der sie sich nicht entziehen können, streben sie zu diesem dort und hin zu ihren Kindern. Die rasende Leidenschaft des Orpheus lässt sich mit der tiefen Trauer der gehenden Figurenengführen, die sie beharrlich auf die Erkenntnis über den Tod der Kinder zusteuern lassen. Die Zuwendung des Orpheus führt zum endlichen Tod der Eurydike wie die stetige Annäherung der gehenden Figuren zu der Erkenntnis führt, dass nur durch den Tod das Leben als

29 Walther, Lutz: Antike Mythen und ihre Rezeption. Ein Lexikon. Leipzig 2003, S. 181. 30 Schönberger, Otto (Hrsg. u. Übers.): P. Vergilius Maro, Georgica, Reclam: Stuttgart 1994, Vers 488. 31 Ebd., 495.

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solches erlebbar wird: „Er ist tot, doch sein Tod, sein Tod ist nicht tot.“, sagt der gehende Mann und auch der Zentaur erkennt: „Ich habe nicht gewusst, dass Leben in seiner ganzen Fülle nur dort, an dieser Grenzlinie besteht. Es ist, als hätte ich noch nie gelebt, als sei nichts, was mir je geschah, wirklich geschehn, bis du, mein Mädchen, bis du starbst –“ (S. 116). Eine positive Umwendung des Todes erfolgt: Vielleicht muss ich den letzten Ort, des Weges, gar nicht mehr erreichen? Ist dieses Laufen selbst vielleicht das Rätsel und die Lösung? Vielleicht gibt’s gar kein dort, mein Mädchen, vielleicht auch schon kein du mehr (Z, 115).

Auch an dieser Stelle, die den Erkenntnismoment ob des Tods der Kinder markiert, überlagern sich die Stimmen zu einer Stimme der Trauer. Sehr deutlich wird an einer weiteren Stelle die Ortlosigkeit des dort angesprochen: „Nichts ist mir geblieben, vom dem der ich war – nur die Bewegung; nur die kann ich dir meine Kleine, heute noch geben; nur die Bewegung wird in deine stumme Starre sickern, mehr nicht – Nur so kann ich dir, meine Tochter, heute Vater sein“ (Z, 74). Bewegung wird zum Verständnismodus, sie wird zur Sprache und lässt die Trauer als Gegenstück zum Tod, als lebendige Trauer am Ende von Grossmanns Text stehen. Der Gang in die Unterwelt bringt paradoxerweise die lebendige, geradezu bejahende Trauer hervor. Dieser Gang und die topographische Grenzziehung eines dorts verweisen bei Grossmann auf einen weiteren produktiven Prozess, nämlich den des Schreibens in der Trauer. Das Schreiben wird zum Ort der Trauer trotz der Schlussfolgerung, dass Worte an eine Grenze gelangen und dass selbst in dem Worte finden, das am Ende von Grossmanns Elegie steht, keine Erfüllung besteht. Das Schreiben an sich, als produktive Annäherung des urmenschlichen Gefühls der Trauer, ist das Refugium des Trauernden. Besonders der Chronist steht für die heilende Wirkung des Schreibens, aber auch der Zentaur verfolgt den stetigen Wunsch aufschreiben zu können, was ihm widerfahren ist. Losgelöst von inhaltlicher Sinnstiftung und von Erkenntnisgewinn wird das Schreiben bei Grossmann zur Trauerarbeit per se erhoben. Dieses Schreiben ist bei Grossmann in einen (gesellschafts)politischen Diskurs über den Krieg als Enigma der Moderne und den Verlust des Kindes eingebettet, der sich als Krisenkonglomerat offenbart, das den Trauernden nach einer Sprache für das Unaussprechliche verlangen lässt und in der Suche nach dieser Sprache, dem Prozess des Schreibens, Linderung findet.

Dennis Bock

„Gezeichnete Fluchtromantik? Auf keinen Fall“ – Die Geschichte des Flucht­versuchs ‚Tunnel 57‘ im Comic zwischen bildungspolitischer Wissensvermittlung und Abenteuererzählung 1. Einleitung Wissensvermittlung anhand von Sach- und Geschichtscomics boomt.1 Diese Entwicklung ist unter anderem auf die steigende Beliebtheit der sogenannten Graphic Novels zurückzuführen, die den Markt in den letzten Jahren doch insbesondere für ‚ernste‘, ‚gesellschaftlich relevante‘ sowie autobiografische und geschichtliche Themen im Comic weiter geöffnet und popularisiert haben.2 Der vorliegende Aufsatz widmet sich am Beispiel der grafischen Erzählungen „Tunnel 57“ von Thomas Henseler und Susanne Buddenberg (2013)3 sowie von „Fluchttunnel nach West-Berlin“, getextet und gezeichnet von Olivier Jouvray und Nicolas Brachet (2014),4 der Frage nach den erzählerischen und ästhetischen Mitteln, die bei der

1 Vgl. Hangartner, Urs: „Sequential art to teach something specific“. Sachcomics – Definitorisches, Historisches, Aktuelles. In: Wissen durch Bilder. Sachcomics als Medien von Bildung und Information. Hrsg. von Urs Hangartnef, Felix Keller und Dorothea Oechslin. Bielefeld: transcript 2013, S. 13 – 41, hier: S. 13; Gundermann, Christine: Zwischen Genre, Gattung und Typus. Geschichtscomics aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive. In: Geschichte im Comic. Befunde – Theorien – Erzählweisen. Hrsg. von Bernd Dolle-Weinkauff. Berlin: Ch. A. Bachmann 2017, S. 29 – 43, hier: S. 29. 2 Die Popularisierung des Ausdrucks „Graphic Novel“ geht auf den Comic-Zeichner Will Eisner zurück, dessen Text „A Contract with God“ (1978) diesen Begriff nicht erstmalig, aber doch mit einzigartiger Wirkung auf dem Cover des Comics verwendete. „Allerdings hatte ihn Eisner erst in der Paperback-Ausgabe seines Buchs einfügen lassen; die gebundene Erstausgabe verzichtete noch auf ihn.“ (Platthaus, Andreas: Durchsetzungsvermögen. Wie der Begriff „Graphic Novel“ das Verständnis von Comics verändert hat. In: allmende. Zeitschrift für Literatur 102, 2018, S. 4 – 15, hier: S. 7) Zur zentralen Rolle Eisners auch bei der Entwicklung des Sachcomics siehe Hangartner, Sequential art to teach something specific. 2013, S. 25 – 31. 3 Henseler, Thomas / Buddenberg, Susanne: Tunnel 57. Eine Fluchtgeschichte als Comic. Mit Beiträgen von Maria Nooke sowie René Mounajed und Stefan Semel. Berlin: Ch. Links 2013 (Seitenangaben fortlaufend im Text). 4 Jouvray, Olivier / Brachet, Nicolas: Fluchttunnel nach West-Berlin. Berlin: Avant 2014 (Seitenangaben fortlaufend im Text). https://doi.org/10.1515/9783110683028-033

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Wissensvermittlung deutsch-deutscher Geschichte im Comic zum Tragen kommen. Dies erfolgt auf analytisch-begrifflicher Ebene unter Rückbezug auf die Konzepte Wissen und Erwarten, die eng mit der Erforschung von Störungen im Literatur- und Mediensystem zusammenhängen, bislang allerdings unzureichend reflektiert und für den Diskurs operationalisiert wurden. Dementsprechend wird in den folgenden Ausführungen das Verhältnis von Störung, Wissen und Erwarten am Beispiel Comic skizziert und im Weiteren kritisch untersucht, welche Zugänge zu Wissen die je unterschiedlichen Texte ermöglichen.

2. Störungen aus sprechhandlungstheoretischer Perspektive5 Die Verwendung des Störungsbegriffs erfährt in den Kultur- und Geisteswissenschaften eine zunehmende Konjunktur und geht insgesamt mit einer „signifikanten semantischen Erweiterung“6 und konzeptuellen Pluralisierung einher. Der Begriff wird mit Blick auf ein alltagssprachliches Verständnis nicht länger ausschließlich in einem negativ konnotierten Sinne als Beeinträchtigung, Belästigung, Beunruhigung oder (technische) Dysfunktion verstanden und verwendet, sondern auch, um produktiv und konstruktiv wirkende Zusammenhänge zu beschreiben und zu erklären. Ihren gemeinsamen Ausgangspunkt haben die disziplinären Ansätze zumeist in Niklas Luhmanns Begriff der Irritation „(oder Störung oder Perturbation)“.7 Das „Produktivitäts-Prinzip“8 von Störungen ist in Luhmanns systemtheoretischen Überlegungen kaum explizit formuliert. Im Rahmen seiner umfangreichen Theorieentwicklung – hier insbesondere im Kontext seines Evolutionsbegriffs – tritt es hingegen eindeutig zutage und wird seit dem Jahr 2000 in zahlreichen Studien vermehrt als Ursprung und Grundgedanke zugrunde gelegt. Ludwig Jäger beispielsweise

5 Das in der Folge skizzierte Modell literarischer Störungen wurde wesentlich in meiner Dissertation erarbeitet. Vgl. für die Entwicklung des Diskurses sowie für die folgenden theoretischen Ausführungen das Kapitel „Literarische Störungen – Historische Entwicklung und Neuansatz“ in: Bock, Dennis: Literarische Störungen in Texten über die Shoah. Imre Kertész, Liana Millu, Ruth Klüger. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017, S. 24 – 81. 6 Gansel, Carsten / Ächtler, Norman: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Einleitung. In: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, S. 7 – 13, hier: S. 8. 7 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 118. 8 Jäger, Ludwig: Verstehen und Störung. Skizze zu den Voraussetzungen einer linguistischen Hermeneutik. In: Linguistische Hermeneutik. Theorie und Praxis des Verstehens und Interpretierens. Hrsg. von Fritz Hermanns und Werner Holly. Tübingen: Max Niemeyer 2007, S. 25 – 42, hier: S. 36.

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hält eine „Rehabilitierung der Idee der Störung“9 für seine theoretischen Konzepte für „unabdingbar“10, und sucht ferner das den „gängigen Theorien der sprachlichen Verständigung“11 inhärente semantische Moment „des Unglücksboten“12 für obsolet zu erklären. In Rekurs auf Jäger, dessen konzeptuelle Ausformungen der Gießener Literaturwissenschaftler Carsten Gansel als „grundlegend“13 für ein produktives Verständnis von Störung erachtet, entwickelt Gansel eine Literaturtheorie der Störung, die durch zahlreiche Veröffentlichungen den Diskurs bis heute prägt.14 Auch Albert Kümmel und Erhard Schüttpelz zielen mit ihren Untersuchungen „auf eine Analyse von Störphänomenen, die diese nicht vornehmlich als destruktiv in Hinsicht auf bestehende Ordnungen, sondern als konstitutiv für Entstehung neuer Ordnungen an[sehen]“.15 Lars Koch und Tobias Nanz postulieren gar, „dass Störung in ganz unterschiedlichen kulturellen Feldern […] eine wichtige Rolle spielt und als Organisationsprinzip reflexiver Experimentalräume wesentlich zur Generierung von gesellschaftlich relevantem Wissen beiträgt“.16 Dies gelingt meines Erachtens vor allem dann, wenn Wissen als zentrale Kategorie eingeführt und für literaturwissenschaftliche Analysen aus sprechhandlungstheoretischer Perspektive nutzbar gemacht wird. Im Rahmen dieses Ansatzes wird zunächst grundsätzlich die These vertreten, dass sich die „systematische Eigenschaft literarischer Sprache nicht von ihren anderen Erscheinungsformen [unterscheidet]: Literarische Sprache hat Handlungsqualität. Auch mit Literatur

9 Ebd., S. 35. 10 Ebd. 11 Jäger, Ludwig: Störung und Transparenz. Skizze zur performativen Logik des Medialen. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München: Wilhelm Fink 2004, S. 35 – 73, hier: S. 42. 12 Ebd. 13 Gansel, Carsten: Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘ – Möglichkeiten der Anwendung für Analysen des Handlungs- und Symbolsystems Literatur. In: Das ‚Prinzip Störung‘ in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Hrsg. von Carsten Gansel und Norman Ächtler. Berlin/ Boston: de Gruyter 2013, S. 31 – 56, hier: S. 31. 14 Vgl. neben dem bereits zitierten Band mit Norman Ächtler vor allem Gansel, Carsten: Zur ‚Kategorie Störung‘ in Kunst und Literatur – Theorie und Praxis. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 61, 2014, H. 4,, S. 315 – 332 sowie die drei zwischen 2011 und 2012 jeweils in Ko-Autorschaft mit Pawel Zimniak erschienenen Sammelbände zum Thema. 15 Kümmel, Albert / Schüttpelz, Erhard: Medientheorie der Störung / Störungstheorie der Medien. Eine Fibel. In: Signale der Störung. Hrsg. von Albert Kümmel und Erhard Schüttpelz. München: Wilhelm Fink 2002, S. 9 – 14, hier: S. 9. 16 Koch, Lars / Nanz, Tobias: Ästhetische Experimente. Zur Ereignishaftigkeit und Funktion von Störungen in den Künsten. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 173 (2014), S. 94 – 115, hier: S. 94 f.

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wird sprachlich gehandelt.“17 Dies erfolgt unter Rückgriff auf strukturiertes Wissen durch die an der literarischen sprachlichen Handlung beteiligten Aktanten.18 Demzufolge ist der Angleichungsprozess ihrer Wissensbereiche im Zuge der Kommunikation ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Sprechhandlungsforschung. Daran anknüpfend ist davon auszugehen, dass sich Leser19 im Zuge der Rezeption ein Wissen über literarische Texte aneignen, auf das bei zukünftiger Lektüre in strukturierter Form zurückgegriffen wird. „Das hat zur Folge, dass sie (unbewusst) Erwartungen an einen Text richten können, konkret: an die autorseitige Verarbeitung bestimmter Stoffe, die daran geknüpfte Verwendung von Motiven sowie an die Gestaltung narratologischer Instanzen.“20 Dies trifft in Übertragung auf Comics beispielsweise für den Zeichenstil der Comicschaffenden zu, den die Rezipienten wiederzuerkennen und einem Zeichner zuzuordnen vermögen. Künstlerunabhängig, aber genrespezifisch wirksam, leiten sich darüber hinaus im Geschichtscomic zum Beispiel Erwartung an die Farbgebung, an ikonische Inszenierungen und den Einsatz bestimmter Authentisierungsstrategien ab. Literarische Störungen manifestieren sich demzufolge in jenem Moment, in dem über die Wahl von literarischen Mitteln die Erwartungen enttäuscht und die bislang unbewusst genutzten leserseitigen Wissensstrukturen für den Rezipienten thematisch werden. Erwartungen treten „aus der Fraglosigkeit des als selbstverständlich Unterstellten erst dann heraus, wenn diese Fraglosigkeit auf die eine oder andere Art nicht vorhanden ist, das heißt, wenn die Erwartungen ihren Erwartungscharakter verloren

17 Redder, Angelika: Literarische Kommunikation: einige linguistische Vorschläge. In: Schriftliche und mündliche Kommunikation. Begriffe – Methoden – Analysen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Klaus Brinker. Hrsg. von Jörg Hagemann und Svend F. Sager. Tübingen: Stauffenburg 2003, S. 185 – 197, hier: S. 188. 18 Vgl. zu Wissensstrukturen und Wissensstrukturtypen: Ehlich, Konrad / Rehbein, Jochen: Wissen, kommunikatives Handeln und die Schule. In: Sprachverhalten im Unterricht. Hrsg. von Herma C. Goeppert. München: Fink 1977, S. 36 – 114. 19 Die maskulinen Ausdrücke Sprecher / Autor, Hörer / Leser und Aktant werden in der pragmatischen Sprechhandlungstheorie als analytische Termini verwendet, die von biologischer Geschlechtlichkeit und sozialem gender abstrahieren. Dieser systematische Abstraktionsschritt betrifft in der Sprechhandlungstheorie in gleichem Maße auch Merkmale der Aktanten wie unterschiedliche Klassenzugehörigkeit, Wissensbestände oder Sprachkenntnisse. In der Analyse werden solche individuell unterschiedlichen gesellschaftlichen oder sprachlichen Dispositionen von Handelnden jedoch miteinbezogen, insofern sie als analyserelevant angesehen werden. Vgl. Bock, Literarische Störungen in Texten über die Shoah. 2017, S. 14. 20 Ebd., S. 58. Vgl. ferner: Bock, Dennis: Leseerwartungen und literarische Störungen in der Holocaust-Literatur. Ein Blick auf die Entwicklung einer Textart und ihre Tendenzen seit 1989. In: Deutsche Gegenwarten in Literatur und Film. Tendenzen nach 1989 in exemplarischen Analysen. Hrsg. von Olivia C. Díaz Pérez / Ortrud Gutjahr / Rolf G. Renner / Marisa Siguan. Tübingen: Stauffenburg 2017, S. 259 – 275.

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haben“.21 Auf diese Weise enttäuschte Erwartungen legen auf analytischer Ebene Wissensstrukturen offen und provozieren auf der Handlungsebene der Rezipienten „Entstörungsmaßnahmen“22, die im Falle von literarischen sprachlichen Handlungen im Vergleich zu sprachlichen Handlungen jedoch eine zentrale Möglichkeit entbehren: Der Modus der Rückfrage ist durch die „diachronisch und diatopisch zerdehnte [ ] Sprechsituation“23 suspendiert und damit zugleich die Möglichkeit, eine enttäuschte Erwartung ad hoc mündlich zu verhandeln. Hierdurch wird wirkungsästhetisch zweierlei erreicht: Zum einen ist die Möglichkeit zur Verstetigung einer Irritation oder Störung gegeben, d. h. zu einer nachhaltigen Verunsicherung des Lesers zum Zweck der Destabilisierung und Bearbeitung seines Wissens. Zum zweiten ist mit Blick auf die Entstörungsmaßnahmen oder Enttäuschungsabwicklungen eine Verschiebung vom Diskursiven, sprich: Mündlichen, in den Bereich des Mentalen im Rahmen des literarischen sprachlichen Handelns festzustellen. „Der produktive Charakter der Störung schlägt sich demnach auch im vorliegenden Ansatz nieder, manövriert der Autor den Leser doch in die Lage, eigenständige Lösungen auf der Basis inhaltlicher Auseinandersetzungen mit dem Gelesenen entwickeln zu müssen.“24

3. Comics und Störungen Comics verfügen im Vergleich zu literarischen Texten über ein tendenziell gesteigertes Störpotenzial, weil Bild und Text in dieser Kunstform miteinander verschränkt sind und der Comic demzufolge sowohl auf visueller als auch auf sprachlicher Ebene Irritationen erzeugen und verstärken kann. Dies tut er – im Hinblick auf die begriffliche Auslegung des Konzepts Störung – mindestens in einem doppelten Sinne: Aus einem alltagssprachlichen Verständnis heraus stören die provokanten Vertreter des Mediums, indem sie etwa in der Repräsentation von Gewalt und Sexualität zu einer pornografischen Bildsprache neigen25 oder sich bewusst über sogenannte ‚Bildverbote‘ und Darstellungstabus hinwegsetzen.26 Beispielsweise

21 Ehlich, Konrad / Rehbein, Jochen: Erwarten. In: Linguistische Pragmatik. Hrsg. von Dieter Wunderlich. Wiesbaden: Athenäum 1972, S. 99 – 114, hier: S. 113. 22 Gansel, Zu Aspekten einer Bestimmung der Kategorie ‚Störung‘. 2013, S. 31. 23 Redder, Literarische Kommunikation: einige linguistische Vorschläge. 2003, S. 188. 24 Bock, Literarische Störungen in Texten über die Shoah. 2017, S. 80. 25 Vgl. für Formen extremer Gewaltdarstellungen beispielsweise die zwischen 1942 und 1955 publizierte amerikanische Comicserie „Crime Does Not Pay“ sowie insgesamt die HorrorcomicSerien der 1950er Jahre. 26 Ob es sich dabei tatsächlich um Darstellungstabus handelt, wird kontrovers diskutiert. Vgl.

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wenn Marc-Antoine Mathieu Gott ins Bild setzt27 oder Pascal Croci und Joe Kubert dem Leser einen Blick in die Gaskammern und Krematoriumsöfen von AuschwitzBirkenau gewähren.28 Nicht selten gerät das dem Erwartungsbruch potenziell inhärente Moment des Produktiven in derartigen Fällen unter die Räder eines auf Schockmomente hin ausgerichteten Ansatzes. Ebenso wie literarische Texte entfaltet der Comic seine Unterhaltungsfunktion u. a. durch ein Arrangement von Bekanntem und Überraschungseffekten, durch ein fortlaufendes „Spiel mit Erwartungen“29, das Unsicherheiten provoziert, diese aber in der Regel zu Gunsten erzählerischer Pointen für den Leser zufriedenstellend auflöst. Dazu bedient sich der Comic (literarischer) Motive und gesellschaftlicher Narrative, schreibt sie fort und festigt sie im kulturellen Gedächtnis. Bisweilen fügt er aber auch „neue Deutungsebenen hinzu und [hat] ebenso das Potential den Meistererzählungen neue Deutungen gegenüber zu stellen.“30 Sein produktives Störpotenzial entfaltet der Comic vor diesem Hintergrund – insbesondere im Kontext von Geschichtscomics – also in dem Moment, in dem er sich in Konkurrenz zu etablierten Erzählungen begibt, dadurch mitunter geschichtliche Zusammenhänge infrage stellt oder das Wissen der Rezipienten insofern entscheidend zu bearbeiten sucht, als er wenig beachtete und marginalisierte Aspekte und Figuren historischer Wirklichkeit in den Mittelpunkt der Erzählung rückt.31 In den letzten Jahren sind zudem zahlreiche grafische Erzählungen in Kooperation mit Bildungsund Staatsinstitutionen entstanden, die explizit als Bildungsmaterial erarbeitet und in Auftrag gegeben wurden.32 Dabei will man weniger das subversive Potenzial

Gundermann, Christine: Real Imagination? Holocaust Comics in Europe. In: Revisiting Holocaust Representation in the Post-Witness Era. Hrsg. von Diana I. Popescu und Tanja Schult. Basingstoke/ New York: Palgrave Macmillan 2015, S. 231 – 250. 27 Vgl. Mathieu, Marc-Antoine: Gott höchstselbst. Berlin: Reprodukt 2010. Wie das Bildverbot in produktiver Weise aufgegriffen werden kann, diskutiert Gregor Maria Hoff. Vgl. Hoff, Gregor Maria: Comics und Graphic Novels. Theologische Seitenblicke auf die NEUNTE KUNST. In: Frage-Zeichen. Wie die Kunst Vernunft und Glauben bewegt. Hrsg. Christian Wessely und Peter Ebenbauer. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 2014, S. 335 – 350, hier: S. 347 – 350. 28 Vgl. Croci, Pascal: Auschwitz. Berlin: Egmont 2005; Kubert, Joe: Yossel, 19. April 1943. Eine Geschichte über den Warschauer Aufstand. Berlin: Egmont 2005. 29 Venn-Hein, Birger: Die Regie der Erwartung. Wie Filmemacher durch das Spiel mit Erwartungen Unterhaltung steigern. Berlin: LIT 2014, S. 12. 30 Gundermann, Zwischen Genre, Gattung und Typus. 2017, S. 30. 31 „Packeis“ (2012) von Simon Schwartz erzählt beispielsweise aus einer sozial- und gesellschaftskritischen Perspektive die Geschichte des afroamerikanischen Polarforschers Matthew Henson, der aufgrund seiner Hautfarbe nie aus dem Schatten des Expeditionsleiters Robert Peary treten konnte. 32 Während die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, der Shoah, der deutsch-deut-

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von Comics als vielmehr deren Eigenschaft als „Einstiegsmedium“33 nutzen. Die Kombination aus Bild und Text soll einen „ersten Zugang zum Thema“34 sowie einen alternativen Zugriff auf Wissen ermöglichen und sowohl Lehrerinnen und Lehrer im Schulunterricht als auch Pädagoginnen und Pädagogen an Gedenkstätten und in der politischen Bildungsarbeit bei der Vermittlung von geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen unterstützen.35

4. Authentizität und Erwartung im Comic Ein eigener Schwerpunkt in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichtscomics bildet die Rekonstruktion und Analyse von Authentisierungsstrategien.36 Anne Hillenbach sieht in ihnen auf der Ebene der Gestaltung, neben dem „referenziellen Wirklichkeitsbezug auf inhaltlicher Ebene“37, das zentrale gattungstypologische Merkmal des Geschichtscomics. Authentizität und Erwartungen

schen Geschichte und dem Mauerfall im Comic in Deutschland nach wie vor einen Schwerpunkt darstellt, werden der Konflikt zwischen Palästina und Israel, Religion und Postsäkularität sowie Alltagsgeschichten – gemessen an den Neuveröffentlichungen und Übersetzungen – zunehmend wichtig für den deutschen Graphic-Novel-Markt und die Wissensvermittlung im Comic. 33 Blank, Juliane: Alles ist zeigbar? Der Comic als Medium der Wissensvermittlung nach dem iconic turn. In: KulturPoetik 10, 2010, S. 214 – 233, hier: S. 221. 34 Ebd. 35 Christine Gundermann weist zurecht darauf hin, dass die in diesem Zusammenhang häufig implizit mitschwingende These, der zufolge „Comics daher gerade für bildungsfernere Jugendliche gut zur Animierung in Lehr- und Lernprozessen geeignet [seien]“, bislang empirisch nicht überprüft und belegt wurde. Vgl. Gundermann, Christine: Abschied von Farbe und Fiktion? Comics in der politisch-historischen Bildung. In: Wissen durch Bilder. Sachcomics als Medien von Bildung und Information. Hrsg. von Urs Hangartner, Felix Keller und Dorothea Oechslin. Bielefeld: transcript 2013, 149 – 169, hier: S. 157. 36 Vgl. u. a.: Gundermann, Christine: Inszenierte Vergangenheit oder wie Geschichte im Comic gemacht wird. In: Ästhetik des Gemachten. Interdisziplinäre Beiträge zur Animations- und Comicforschung. Hrsg. von Hans-Joachim Backe, Julia Eckel, Erwin Feyersinger, Véronique Sina und Jan-Noël Thon. Berlin/Boston: de Gruyter 2018, S. 257 – 2 83; Führer, Carolin: Versuch einer narratologischen Typenbildung zu Geschichtscomics am Beispiel von Comics und Graphic Novels über die DDR. In: Geschichte im Comic. Befunde – Theorien – Erzählweisen. Hrsg. von Bernd DolleWeinkauff. Berlin: Ch. A. Bachmann 2017, S. 129 – 142; Trippó, Sándor: Zeitgeschichte in Comics. Inszenierung historischer Authentizität in der Graphic Novel „Grenzfall“ (2011). In: Jahrbuch der ungarischen Germanistik, 2014, S. 99 – 114. 37 Hillenbach, Anne: Authentisierungsstrategien in historischen Comics. In: Wissen durch Bilder. Sachcomics als Medien von Bildung und Information. Hrsg. von Urs Hangartner / Felix Keller / Dorothea Oechslin. Bielefeld: transcript 2013, 131 – 145, hier: S. 145.

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hängen dabei unmittelbar zusammen, denn historische Authentizität im Comic ist etwas autorseitig Geschaffenes, das in seiner Wirkung auf die Inanspruchnahme leserseitigen Wissens zielt, von dem sich wiederum Erwartungen ableiten. Insofern ist die „Frage nach der Geschichte im Comic […] gleichzeitig immer auch eine nach dem Publikum, den Rezipierenden des Comics“38. „Tunnel 57“ und „Fluchttunnel nach West-Berlin“ rekurrieren mit ihren Erzählungen auf den erfolgreichen Fluchtversuch von 57 Menschen, die am 03. und 04. Oktober 1964 mithilfe eines von Fluchthelfern gegrabenen Tunnels von Ost- nach West-Berlin gelangen konnten. Der Fluchtversuch, bei dem der Grenzsoldat Egon Schultz durch den versehentlichen Beschuss eines Kameraden getötet wurde, hat medial für große Aufmerksamkeit gesorgt und „beendete die Hochphase des Tunnelbaus, die zwischen 1962 und 1964 lag.“39 Mit dem direkten narrativen, textuellen und visuellen Bezug auf dieses Fluchtereignis, das im Vergleich zu anderen Tunnelbauprojekten zu dem bekanntesten historischen Fluchtereignis zählt, bereiten die Comicschaffenden gesellschaftliches Wissen auf und bedienen sich zu diesem Zweck zahlreicher Authentisierungsverfahren. Mit dem Rückgriff auf „historische Großdeutungen“ und „Meistererzählungen“ wird Carolin Führer zufolge eine „Objekt-Authentizität“40 gestiftet, die sich zumeist mit einem topografischen Erzählen verbindet. „Bildliche Vergangenheitsmarker“41, das heißt historische Personen, Gebäude oder fotografische Ikonen, können den Eindruck einer historisch verbürgten Echtheit stärken und den Leser in seiner Erwartungshaltung lenken. Die Verschränkung von Comic-Forschung und sprechhandlungstheoretischem Wissensbegriff kann hier einen instruktiven Impuls geben, um zu verstehen, aufgrund welcher Wissensstrukturen bestimmte leserseitige Erwartungen aktualisiert werden. Konrad Ehlich und Jochen Rehbein unterscheiden bei den durch empirische Beobachtungen rekonstruierten Wissensstrukturtypen grundsätzlich zwischen partikularem Erlebniswissen und solchem Wissen, das sich durch Mehrfacherfahrung konstituiert. Dem Wissenstyp ‚Bild‘ beispielsweise liegt eine „spezifische synthetisierende Leistung des Wissenden“42 (z. B. Autor / Leser) zugrunde, die einer „Zusammensetzungen von Einschätzungen“ entspricht, „so daß Folgerungen, Extrapolationen für ‚alle‘ Elemente über ein ‚Objekt‘ des Gewußten möglich

38 Gundermann, Inszenierte Vergangenheit. 2018, S. 258. 39 Nooke, Maria: Mauerbau Fluchtbewegung. In: Tunnel 57. Eine Fluchtgeschichte als Comic. Mit Beiträgen von Maria Nooke sowie René Mounajed und Stefan Semel. Berlin: Ch. Links 2013, S. 57 – 63, hier: S. 63. 40 Führer, Versuch einer narratologischen Typenbildung zu Geschichtscomics. 2017, S. 131. 41 Gundermann, Inszenierte Vergangenheit. 2018, S. 263. 42 Ehlich / Rehbein, Wissen, kommunikatives Handeln und die Schule. 1977, S. 52.

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werden“.43 Der Übergang vom Wissensstrukturtyp ‚Bild‘ zum Wissensstrukturtyp ‚Sentenz‘ beschreibt dann im Wesentlichen eine Veränderung der (individuellen bzw. kollektiven) Teilhabe an Wissen. Während Bilder von einzelnen Wissenden zusammengesetzt werden, gilt für Sentenzen, dass sie allgemeine Wirklichkeitsstrukturen identifizieren, die allen Wissenden bekannt sind. Das hat einerseits zur Folge, dass das „narratologische[] Authentizitätsverständnis nicht mit dem historischen Wissen der Leser kollidieren“44 sollte, um Erzählungen und historische Settings anschlussfähig zu machen. Es erlaubt dem Comic andererseits wiederum, mit der „sichere[n] Vorausbestimmung zukünftiger [Wissenselemente zum Thema eines Wissens – D.B.]“45, die sich vom Wissenstyp Bild ableitet, zu brechen und eine Störung zu provozieren. Die von Imre Kertész für literarische Erinnerungen an die Shoah beschriebenen und als „Obligata des Stoffs“ bezeichneten narrativen und motivischen Elemente, die er in seinem Roman „nicht nur nicht vermeiden, sondern [an denen er] streng festhalten“ wollte, erlauben dem Leser daher eine gewisse Vertrautheit und Sicherheit bei der Lektüre. Vereinfacht ausgedrückt kann man annehmen, dass sich der Leser im Kontext der Shoah-Literatur an „das Verladen in die Waggons, die Fahrt, die Ankunft in Auschwitz, die Selektion, das Baden und die Kleiderausgabe“46 gewöhnt hat. Auch die im Vergleich zu der sehr viel jüngeren Geschichte der Comics zum Berliner Mauerfall hat, wie Elizabeth Bridges zeigt, zahlreiche Tropen ausgebildet, die ein pluralistisches Bild von Wendeerfahrung erschweren und stattdessen ein aus Bridges Sicht problematisches Nostalgienarrativ begünstigen. Es sei nachgerade „the reader’s wish to see the tropes we have grown so used to through years of exposure to them: celebratory crowds, people hugging, champagne corks popping, hammers chipping away at the wall, and celebrations at the Brandenburger Tor.“47 Die hier thematisierte Leseerwartung korrespondiert eng mit der Meistererzählung von der sogenannten Friedlichen Revolution, eine durch gesellschaftlichen Wandel herbeigeführte ‚Erfolgsgeschichte‘, die nur wenig Raum für individuelle und abweichende Erzählungen, dafür umso mehr für einen positiv konnotierten Erinnerungskollektivismus lässt. Dieser wird explizit durch jene Texte gestört, die einen narrativen Perspektivwechsel vollziehen und, wie

43 Ehlich, Konrad: Vorurteile, Vor-Urteile, Wissenstypen, mentale und diskursive Strukturen. In: Sprachliche und soziale Stereotype. Hrsg. von Margot Heinemann. Frankfurt/M.: Peter Lang 1998, S. 11 – 24, hier: S. 19. 44 Führer, Versuch einer narratologischen Typenbildung zu Geschichtscomics, S. 131. 45 Ehlich / Rehbein, Wissen, kommunikatives Handeln und die Schule. 1977, S. 52. 46 Kertész, Imre: Galeerentagebuch. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1993, S. 28. 47 Bridges, Elizabeth: Schiller Reading Comics: The Aesthetics of Nostalgia and the Wende-Narrative in Contemporary Graphic Novels. In: Colloquia Germanica 48 (2015), S. 343 – 356, hier: S. 353.

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beispielsweise Kitty Kahanes „Treibsand“, den Fokus auf die fiktiven Geschehnisse hinter den Kulissen der Grenzöffnung legen. Auch Mawils „Kinderland“ setzt auf eine untypische Perspektive und abweichende Strategie48, die wesentliche Aspekte der Meistererzählung unterminiert. Indem intern auf den Protagonisten Mirko fokalisiert wird, der zum Zeitpunkt der Nachricht über die Öffnung der Grenzen ausschließlich sein Tischtennisturnier im Kopf hat, bleibt der Mauerfall eine Randnotiz in einer von Alltag und Adoleszenz geprägten Geschichte, die damit in Konkurrenz zu hegemonialen Erlebnisnarrativen steht.

5. Tunnel 57. Eine Fluchtgeschichte als Comic Der 2013 erschienene Comic von Thomas Henseler und Susanne Buddenberg ist ursprünglich im Rahmen des 2012 von der Bundesstiftung Aufarbeitung geförderten Ausstellungsprojekts „Geschichte im Untergrund“ entstanden, das zwischen Oktober und Dezember 2012 auf 14 großen Werbetafeln im U-Bahnhof Bernauer Straße gezeigt wurde.49 Die Erstauflage, die durch die Stiftung Berliner Mauer gefördert wurde, ist mit einem umfangreichen Anhang versehen, der als Begleitmaterial für Lehrerinnen und Lehrer sowie für Bildungspädagoginnen und -pädagogen konzipiert ist.50 „Tunnel 57“ nimmt damit Schülerinnen und Schüler sowie junge Erwachsene als primäre Zielgruppe fest in den Blick. Der Comic umfasst 27 Seiten, ist schwarz-weiß gestaltet und beginnt mit einem opening splash, auf dem der Protagonist Joachim Neumann, Ingenieur und Kopf des Tunnelbauprojekts, abwärts auf einem Flaschenzug im Tunnelschacht zu sehen ist (Abb. 1):

48 Vgl. auch: Bridges, Schiller Reading Comics. 2015, S. 353; Führer, Versuch einer narratologischen Typenbildung zu Geschichtscomics. 2017, S. 135. 49 Vgl. Mounajed, René: Im Gespräch mit Thomas Henseler und Susanne Buddenberg. Wie ein Comic entsteht. In: Tunnel 57. Eine Fluchtgeschichte als Comic. Mit Beiträgen von Maria Nooke sowie René Mounajed und Stefan Semel. Berlin: Ch. Links 2013, S. 34 – 56. 50 In den weiteren Auflagen ist der Comic auch ohne die Bildungsmaterialien zu erhalten. Nimmt man diesbezügliche Zusatzmaterialen der Comics analytisch in den Blick, ließe sich mit Sándor Trippó hinsichtlich des Anhangs – und in Anlehnung an Hillenbach – von einem „paratextuellen“ Authentisierungsverfahren sprechen (Trippó, Zeitgeschichte in Comics. 2014, S. 108), während Gundermann ihn als „Inszenierung wissenschaftlicher Historiografie“ bezeichnen würde (Gundermann, Inszenierte Vergangenheit. 2018, S. 273).

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Abbildung 1: opening splash Quelle: Verlag Ch. Links

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Abbildung 2: Kurzporträt der Hauptfiguren Quelle: Verlag Ch. Links

Der darunter stehende Titel „Tunnel 57“ und seine Typografie sollen nach Angaben von Henseler und Buddenberg an „Kriminalfilme aus den 60er Jahren erinnern“, die „Spannung und Dramatik [versprechen]“51. Aus analytischer Sicht auf die Gestaltungsmittel deutet jedoch vieles darauf hin, dass man sich zugunsten bildungspolitischer Wissensvermittlung auf ein reduziertes Erzählverfahren und den Einsatz von Authentisierungsmitteln verständigt hat, die die Geschehnisse rund um das faktuale Ereignis in den Vordergrund rücken. Die Graustufen stärken beispielsweise den Eindruck einer vergangenen Wirklichkeit, der sich von der durch den Rezipienten zugeschriebenen Authentizität filmischer und fotografischer Schwarz-weiß-Dokumente ableitet. Henseler und Buddenberg verwenden zudem einen naturalistischen Zeichenstil mit einem klaren, nahezu rationalen Duktus52, der, im Gegensatz zum cartoonhaften Funnystil vieler Comics, eine gewisse ‚Ernst-

51 Mounajed, Im Gespräch mit Thomas Henseler und Susanne Buddenberg, S. 44. 52 Vgl. zum Zeichenduktus insbesondere McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Hamburg: Carlsen 2001, S. 133f.

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haftigkeit‘ des Themas evoziert53 und damit die Fokussierung auf die wichtigsten Aspekte der Handlung unterstreicht. Die Seitenarchitektur ist durch einen überwiegend symmetrischen Aufbau charakterisiert und wird zumeist nur dann zugunsten rahmenloser Panel (Einzelbild im Comic) aufgelöst, wenn die Autoren interior splashs (ganzseitiges Einzelbild im Verlauf des Comics) verwenden (häufig in Form schematischer Karten, vgl. S. 8, 21) oder die Tunnelarbeiten im ersten Drittel des Buchs rekonstruiert werden (S. 8 – 11). Dabei erinnern einige Seiten explizit an Schulbuchzeichnungen für den technischen bzw. naturwissenschaftlichen Unterricht (vgl. insbesondere S. 9). Die Handlung lässt sich grob in drei Teile untergliedern. Der erste Teil beginnt mit einem Kurzporträt der Hauptfiguren (vgl. Abb. 2), schildert dann die geplante Tunnelroute von einer stillgelegten Bäckerei in der Bernauer Straße (Westseite) bis in einen Keller der Strelitzer Straße 55 (Ostseite) sowie die Grabungsarbeiten nebst Koordination und Durchführung der Flucht und endet schließlich am Abend des ersten Fluchttages, an dem insgesamt 28 Personen die Durchquerung des Tunnels gelingt. Narrativ gerahmt wird dieser erste Teil durch die Zusammenführung von Joachim Neumann und seiner Freundin Christa, deren spätere Hochzeit hier proleptisch eingefügt wird und die eine ausschließliche Erfolgsgeschichte in Aussicht stellt (vgl. S. 6 – 19, hier: S. 19). Der zweite Teil umfasst weitere Details des zweiten Fluchttages sowie schließlich die Entdeckung des Tunnels durch die Stasi und den damit in Zusammenhang stehenden Schusswechsel zwischen den beiden Grenzsoldaten und dem Fluchthelfer Christian Zobel. Alle an der Flucht beteiligten Akteure können durch den Tunnel entkommen, während der Unteroffizier Egon Schultz durch den Schusswechsel getötet wird (vgl. S. 20 – 27). Der dritte Teil des Comics nimmt die mediale Rezeption in Ost und West sowie die gerichtsmedizinisch untersuchten Hintergründe des Todes in den Blick (vgl. S. 28 – 31). Durch die bildliche Gegenüberstellung von west- und ostdeutschen Tageszeitungsschlagzeilen (S. 28) gelingt die Nacherzählung zweier unterschiedlicher Narrative. Während die Westberliner Presse den Fluchterfolg von 57 Menschen herausstellt und Zobel als einen Schützen in Notwehr entlastet, konstruiert die ostdeutsche Presse den Fluchthelfer zu einem hinterhältigen Mörder und dessen ‚Opfer‘ zu einem Märtyrer. Die drei folgenden Seiten setzen den durch den Gerichtsmediziner Otto Prokop erstellten Rekonstruktionsbericht ins Bild, der bereits kurze Zeit nach dem Schusswechsel belegte, dass Christian Zobel den Grenzsoldaten Schultz zwar durch einen Schuss verletzte, der Tod aber

53 Im Rückschluss darf jedoch nicht der Eindruck erweckt werden, Geschichtscomics würden ausschließlich mit naturalistischen Zeichenstilen arbeiten.

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durch eine Kalaschnikowsalve des eigenen Kameraden herbeigeführt wurde.54 Diesen Bericht hielt „das Ministerium für Staatssicherheit jahrzehntelang unter Verschluss“ (S. 31), sodass Christian Zobel, der 1992 starb, die 1994 aufgedeckten wahren Hintergründe des Todes nicht mehr erfuhr.

6. Fluchttunnel nach West-Berlin Der Comic von Jouvray und Brachet erschien im französischen Original sowie in deutscher Übersetzung ein Jahr später als „Tunnel 57“, also pünktlich zum 25. Mauerfalljubiläum 2014, und wurde im Rahmen des Förderprogrammes des französischen Außenministeriums – vertreten durch die Kulturabteilung der französischen Botschaft in Berlin – finanziell gefördert.55 „Fluchttunnel nach WestBerlin“ ist mit 54 Seiten wesentlich umfangreicher als „Tunnel 57“, orientiert sich – indiziert durch zahlreiche bildliche Vergangenheitsmarker – aber ebenfalls an den historischen Geschehnissen des 3. und 4. Oktobers 1964. Der großformatige Band ist koloriert und weist damit bereits auf den ersten Blick einen der wichtigsten Unterschiede zwischen den beiden Texten auf. Das Seitenlayout ist durch ein einheitliches Raster und einen ruhigen Erzählrhythmus gekennzeichnet – auf Variationen in der Panelgröße, wie sie als opening und interior splash in „Tunnel 57“ vorliegen, verzichten Jouvray und Brachet vollständig. Die Handlung beginnt mit einer dreiseitigen Eröffnungssequenz, in der die Hauptfigur Tobias Faszler, dessen Freund Mathias und deren gemeinsamer Bekannter Boris, der durch seine (sprachlichen) Handlungen als technischer Kopf des Tunnelbauunternehmens eingeführt wird, eine leerstehende Bäckerei in der Bernauer Straße als Ausgangspunkt für den geplanten Fluchtversuch inspizieren (S. 3 – 5). Die französischen Comicmacher lassen gleich zu Beginn des Comics keinen Zweifel daran aufkommen, auf welches geschichtsträchtige Ereignis sie Bezug nehmen, denn sie markieren bereits mit dem ersten Panel, in dessen Mitte die Straßenkreuzung Bernauer Straße / Ackerstraße in Form eines Straßenschildes abgebildet ist, den historischen Handlungsort der Tunnelflucht. Der weitere Verlauf der Handlung ist durch eine erzählerische Rückblende unterbrochen (S. 6 – 17), aus der hervorgeht, dass Tobias, der als freischaffender Künstler in

54 Vgl. Keussler von, Klaus-M.: Losungswort „TOKIO“. 50 Jahre „Tunnel 57“ – 50 Jahre Tod des DDR-Grenzers Egon Schultz. In: Gerbergasse 18. Thüringer Vierteljahresschrift für Zeitgeschichte und Politik 72, 2014 H. 3, S. 32 – 38, hier: S. 34. 55 Vgl. Titelei. In: Jouvray, Olivier / Brachet, Nicolas: Fluchttunnel nach West-Berlin. Berlin: Avant 2014, o.P.

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Abbildung 3: Tobias und Hanna bei der Kommunikation zwischen West- und Ost-Berlin  Quelle: Avant-Verlag

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West-Berlin arbeitet und zwei Jahre zuvor aus der DDR „rübergemacht“ (S. 9) hat, von seiner jüngeren Schwester Hanna und seinen Eltern getrennt lebt (Abb. 3). Von dem stark konfliktbehafteten Verhältnis zwischen Tobias und seinem Vater Peter erfährt der Leser durch eine Zusammenkunft der Familie in Ost-Berlin, die durch eine Ausnahmeregelung für Besuche an Feiertagen ermöglicht wird (S. 9). Zwischen Hanna und Mathias, der seinen Freund Tobias während des Besuchs begleitet, entwickelt sich ab diesem Zeitpunkt eine Liebesbeziehung. Dies ist für Mathias letztlich der Grund, den durch Tobias initiierten Fluchtplan zur Befreiung seiner Schwester zu unterstützen. Nach der Eingangssequenz, die das Tunnelbauprojekt ins Zentrum der Geschichte rückt, stehen im Anschluss an die Rückblende nun „zwei Freunde und ein ganz altes Thema“56 im Mittelpunkt des Comics: das unerfüllte Bedürfnis nach Liebe. Auch Henseler und Buddenberg erkennen in „Tunnel 57“ die großen Motive der Literaturgeschichte. Der Stoff biete alles, „was eine spannende Geschichte ausmacht: Liebe, Lüge, Verrat und Tod“.57 Deshalb sollte die Liebesgeschichte von Joachim Neumann und seiner Freundin Christa ursprünglich in Form einer Vorgeschichte den Comic einleiten. Eine Idee, die die Comicschaffenden zugunsten der Fokussierung auf den Tunnelbau aber verwarfen.58 Auch wenn beide Geschichten durch die Bewährungsproben der Helden und die Zusammenführung von Familien als Motiv der Wiederherstellung einer (durch äußere Einwirkungen) gestörten Ordnung in die Nähe der Abenteuererzählung gerückt werden können,59 so bedient doch insbesondere „Fluchttunnel nach West-Berlin“ eine für Abenteuercomics charakteristische emotionale Ebene60, die in „Tunnel 57“ zugunsten einer stärker an Aspekten der historischen Wirklichkeit orientierten Wissensvermittlung zurücktritt. Auf Eingangssequenz und Rückblende folgen die zwei umfangreichsten inhaltlichen Abschnitte. Die Seiten 18 – 39 umfassen die Grabungsarbeiten (mit zahlreichen Komplikationen) sowie den Durchbruch auf der Ostseite Berlins, der in einem Toilettenhäuschen im Hinterhof der Strelitzer Straße 55 mündet. Besonders interessant ist zudem in diesem Teil, sowie insgesamt in beiden Comics, die Rolle

56 https://www.youtube.com/watch?v=Vr-ib8bX688 [00:02:05 – 00:02:08] (Zugriff am 17.01.2019). 57 Mounajed, Im Gespräch mit Thomas Henseler und Susanne Buddenberg, S. 35. 58 Vgl. ebd. S. 43. 59 Vgl. Klein, Christian / Endres, Christian: Abenteuer- und Kriminalcomics. In: Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Hrsg. von Julia Abel und Christian Klein. Stuttgart: Metzler 2016, S. 194 – 211, hier: S. 196. 60 Zu Emotionen in DDR-Geschichtscomics vgl. Führer, Carolin: Emotionen in DDR-Geschichtscomics und Graphic Novels. Didaktische Überlegungen zur Analyse von Zeichensprache und Gefühlen in Comics über die DDR. In: Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Hrsg. von ders. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 311 – 325.

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der weiblichen Figuren: Während in „Tunnel 57“ die spätere Christa Neumann aktiv agierender Teil der Handlung ist, finden in „Fluchttunnel nach West-Berlin“ zwar weitere weibliche Figuren Eingang in die Erzählung, die als Aktmodell (S. 6 – 7), barbusiges ‚Ablenkungsmanöver‘ (S. 20), ‚Waschfrauen‘ (S. 26) und in Person von Hanna als „Siegertrophäe“ (S. 56) auftreten. Diese fungieren jedoch lediglich als unkritische Stellvertreterfiguren eines stereotypen und diskriminierenden Geschlechterrollendiskurses, wobei dem Mann die Rolle des aktiv handelnden Helden und der Frau eine bisweilen auf körperliche Merkmale reduzierte passive Nebenrolle zugewiesen wird. Der letzte Teil des Comics erzählt schließlich von der Fluchtorganisation und -durchführung, von der Entdeckung des Tunnels durch die Stasi, dem anschließenden Schusswechsel und der geglückten Zusammenführung getrennter Familien und Paare, darunter Mathias und Hanna sowie Tobias und Peter Faszler, die sich – als Ausdruck einer scheinbar sich auf allen Ebenen manifestierenden Erfolgsgeschichte – in den Armen liegen (S. 54). Farbästhetisch manifestiert sich diese positive Entwicklung folgerichtig auf der letzten Seite, deren auffällig hell koloriertes Design den Leseeindruck einer Erfolgsgeschichte stärkt. Erzählerisch ist einer der zentralen Unterschiede zwischen den beiden Comics in dem Schusswechsel zwischen Fluchthelfern und Grenzsoldaten zu suchen, der sich in „Fluchttunnel nach West-Berlin“ als wilde Schießerei Bahn bricht, indiziert durch die an einen Actionfilm erinnernde Sequenzialität der Panel und die lautmalende Nachahmung der Schussgeräusche durch Soundwords wie „BRRAAAA-TABRRAAKABRRAAAT“ (S. 56; Abb. 4), „die den Leserinnen und Lesern sinnliches Erleben im Lesen und […] das Nachempfinden der Gefühlswelt der Figuren erlauben“.61 Demgegenüber stehen in „Tunnel 57“ insgesamt acht Panels, in denen der Schusswechsel zwischen Zobel und Schultz in Form von Mündungsfeuer und Mimik zu erkennen ist (S. 26 – 27; 29 – 30; vgl. auch Abb. 5). „Bei der gesamten Dar­ stel­lung des Schusswechsels“, erklären Henseler und Buddenberg, verzichten wir ganz bewusst auf die comicspezifische Lautmalerei. Das typische PENG PENG kommt hier nicht vor. Dass geschossen wurde, ist am Mündungsfeuer, am Herausfliegen der leeren Patronenhülsen und am Aufschrei des Getroffenen zu sehen. Wir finden, dass durch das Weglassen der Lautmalerei die Wirkung der Bilder verstärkt wird, weil der Betrachter sie automatisch ergänzt.62

Während die Berliner Comicschaffenden in dieser Szene auf den von Scott McCloud als Closure bezeichneten gedanklichen Ergänzungsprozess des Lesers als Mittel der Drastik setzen und dabei auf dessen Assoziationskraft bauen, inszenieren Jouvray

61 Führer, Emotionen in DDR-Geschichtscomics und Graphic Novels. 2016, S. 318 f. 62 Mounajed, Im Gespräch mit Thomas Henseler und Susanne Buddenberg, S. 51.

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Abbildung 4: Schusswechsel Quelle: Avant-Verlag

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Abbildung 5: Schusswechsel Quelle: Verlag Ch. Links

und Brachet einen bildintensiven Showdown, der aufgrund seiner piktoralen Performanz kaum gedankliche Mithilfe erfordert. Neben diesen narrativ-strategischen und formal-ästhetischen Besonderheiten unterscheiden sich die beiden Comics, wie im Folgenden deutlich werden wird, vor allem durch die im Kontext des erzählten Schusswechsels arrangierte Wissensvermittlung.

7. „Gezeichnete Fluchtromantik? Auf keinen Fall.“ „Tunnel 57“ und „Fluchttunnel nach West-Berlin“ verfolgen, so meine These, genrespezifische Intentionen und ermöglichen dadurch unterschiedliche Zugänge zu Wissen. Das beim Fernsehsender ARTE ausgestrahlte europäische Kulturmagazin „Metropolis“ hat 2014 den Entstehungsprozess von „Fluchttunnel nach West-Berlin“ porträtiert. In ihrem Bericht erklären die Fernsehautoren, dass der Text aufgrund der Darstellung von „Kleidung, Szenen und Sprache […] deutsche Geschichte wieder lebendig gemacht“63 habe und gelangen infolgedessen zu dem Schluss, dass

63 https://www.youtube.com/watch?v=Vr-ib8bX688 [00:04:12 – 00:04:17] (Zugriff am 17.01.2019).

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es sich bei dem Comic „[a]uf keinen Fall“ um „[g]ezeichnete Fluchtromantik“64, sondern um eine „Abenteuergeschichte mit psychologischer Tiefe“65 handle, die auch eine „detailgetreue Dokumentation deutscher Ingenieurskunst“66 sei. Dass Jouvrays und Brachets Geschichte „auf der Grundlage von Fotos, Filmaufnahmen und Zeitzeugenberichten [basiert]“67, veranschaulichen die zahlreichen Vergangenheitsmarker, die in Form von visuellen und textlichen Beglaubigungs- bzw. Authentisierungsstrategien eingesetzt werden. Neben dem topographischen Erzählen, bei dem sich „die Protagonisten in faktualen Darstellungsobjekten, also den real existierenden Räumen [bewegen]“68, ist beispielsweise das Passwort „Tokio“ zu nennen69, das für den Zutritt in das Gebäude der Strelitzer Straße 55 am Fluchttag verwendet wurde, und das die beiden Autoren – wie im Übrigen auch Henseler und Buddenberg (S. 16) – für die Handlung ihrer Geschichte aufgegriffen haben (S. 46). Beide Comics arbeiten zur Authentisierung darüber hinaus mit zahlreichen Bildzitaten bzw. mit der Adaption fotografischer Ikonen, darunter die ehemalige Bäckerei in der Bernauer Straße, der Seilzug im Tunnel, Fluchthelfer bei der Arbeit sowie das Toilettenhäuschen im Hinterhof der Strelitzer Str. 55, durch das der Einstieg in den Tunnel am 3. und 4. Oktober 1964 erfolgte. Als Vorlage für die Zeichnung des Hinterhofs fungiert eine Fotografie, die das Ministerium für Staatssicherheit 1964 anfertigen ließ (Henseler / Buddenberg, 55; Abb. 6). Auffällig an beiden zeichnerischen Adaptionen ist die Detailtreue, mit der die Künstler den Grundriss, die Baumaterialien sowie die Anzahl der Fenster und Türen rekonstruiert haben (siehe Abb. 7 und 8): Damit evozieren die Autoren zum einen eine große Nähe zur historischen Wirklichkeit, zum anderen fällt damit jede Abweichung vom Original besonders ins Auge, wie sie Jouvray und Brachet inszenieren: Während in der Bildmitte des Fotos und der Adaption von Henseler und Buddenberg zwei an einer Leine befestigte Wäschestücke zu sehen sind, wurde die Wäschereihe in der Version der beiden französischen Comicschaffenden um ein drittes Stück ergänzt. Mit dieser vielsagenden Montage dokumentieren die beiden Autoren nicht allein ihre künstlerische Freiheit bei der Interpretation des Fotooriginals, sondern verweisen auf den ihrer Abenteuergeschichte zugrunde gelegten fiktionalen Gestaltungscharakter. Das Bild sendet dem (fachkundigen) Leser ein Signal: Gebt Acht.

64 Ebd. [00:04:18 – 00:04:21] (Zugriff am 17.01.2019). 65 Ebd. [00:02:46 – 00:02:48] (Zugriff am 17.01.2019). 66 Ebd. [00:03:32 – 00:03:35] (Zugriff am 17.01.2019). 67 Ebd. [00:01:49 – 00:01:55] (Zugriff am 17.01.2019). 68 Führer, Versuch einer narratologischen Typenbildung zu Geschichtscomics. 2017, S. 131. 69 Keussler von, Losungswort „TOKIO“, S. 33.

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Abbildung 6: Toilettenhäuschen im Hinterhof der Strelitzer Straße 55 Quelle: BStU (MfS, AU 8795/65)

Abbildung 7: Adaption des Toilettenhäuschens im Hinterhof der Strelitzer Straße 55 Quelle: Verlag Ch. Links

Abbildung 8: Adaption des Toilettenhäuschens im Hinterhof der Strelitzer Straße 55 Quelle: Avant-Verlag

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Diese Zeichnung hat zwar eventuell manches mit der historischen Wirklichkeit gemeinsam, doch wir erklären sie ausdrücklich nicht mit ihr identisch.70 In diesem Kontext setzt „Fluchttunnel nach West-Berlin“ den Zusammenhang von faktualem Ereignis und erzählerisch-zeichnerischer Bearbeitung produktiv ins Bild und befördert auf spielerische Weise potenziell eine im besten Sinne kritische Wachsamkeit und Auseinandersetzung bei der Wissensvermittlung im Comic. Dieses Vorgehen wurde offenbar nicht zum Maßstab der gesamten Handlung erklärt, denn die aus dramaturgischen Gründen getroffene Auswahl der in den Comic überführten Wirklichkeitsausschnitte kann den kritischen Blick auf geschichtliche Zusammenhänge durchaus auch verstellen, wie die folgenden Ausführungen anhand des in beiden Comics gezeigten Schusswechsels zwischen Grenzsoldaten und Fluchthelfern verdeutlicht. „Tunnel 57“ informiert den Leser trotz der Kürze des Comics detailreich über die Hintergründe und Zusammenhänge des Fluchtversuchs, zu dem ganz wesentlich auch der Tod des Grenzsoldaten Egon Schultz zählt. In einer Art Epilog arbeiten Henseler und Buddenberg die rechtsmedizinische und politische Nachgeschichte des Schusswechsels heraus (S. 29 – 30), wodurch dem Leser ermöglicht wird, die unterschiedlichen sich mit dem historischen Ereignis verbindenden Erzählungen nachzuvollziehen. „Fluchttunnel nach West-Berlin“ spart demgegenüber den Tod des Grenzsoldaten und die damit in Zusammenhang stehende geschichtspolitische Vereinnahmung völlig aus und evoziert den Eindruck einer success story. Dies mag aus dramaturgischen Gründen und zugunsten einer Geschichte, in dessen Zentrum „zwei Freunde und ein ganz altes Thema“71 stehen, plausibel sein, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Gesamtkontext eines geschichtlichen Zusammenhangs, auf den durch zahlreiche bildliche Authentisierungsstrategien zuvor rekurriert wurde, narrativ verformt wird. Dieser Analyse entgegen steht die Aussage von Jouvray und Brachet, die sich im Kulturmagazin „Metropolis“ völlig gegenteilig äußern: Es ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Geschichte. Der Comic versucht einen nicht zu täuschen, das Geschehene neu zu erfinden, einem diesem oder jene Theorie oder Denkweise zu verkaufen. Nein, es geht darum zu erzählen, wie sich diese Geschichte hätte zutragen können. Wir versuchen nicht an der Geschichte herumzubasteln, sondern so nah wie möglich an dem zu sein, was damals passiert ist – das ist uns wichtig!72

70 Vgl. zur Formulierungsform: Klüger, Ruth: Zum Wahrheitsbegriff in der Autobiographie. In: Autobiographien von Frauen. Beiträge zu ihrer Geschichte. Hrsg. von Magdalene Heuser. Tübingen: Niemeyer 1996, S. 404 – 410, hier: S. 407. 71 https://www.youtube.com/watch?v=Vr-ib8bX688 [00:02:05 – 00:02:08] (Zugriff am 17.01.2019). 72 Ebd. [00:04:26 – 00:04:50] (Zugriff am 17.01.2019).

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Wenn im Fall von Geschichtscomics, mit Carolin Führer gesprochen, „die Wahrheit des Dargestellten durch die Wahrhaftigkeit der Darstellung ersetzt wird“, der Rezipient also durch die „kontextuelle Konstruktion […] die Zuschreibung des Merkmals ‚authentisch‘“73 (ebd.) vornimmt, sollte, mit Blick auf die der Wissensvermittlung zugrunde liegenden autorseitigen Verantwortung, ein transparentes Darstellungsverfahren gewählt werden. Anders ausgedrückt: Die Evokation wahrhaftiger Darstellungen durch topografisches Erzählen bei gleichzeitiger Auslassung wesentlicher Zusammenhänge der kontextgebenden historischen Wirklichkeit widerspricht der im Bericht von „Metropolis“ formulierten Intention der Autoren. Ihre dramaturgischen Entscheidungen konnten zu keiner „ehrliche[n] Auseinandersetzung mit der Geschichte“ führen, weil Authentisierungsinszenierung und Unterhaltungsfunktion „eher […] Verzauberung durch ‚pastness‘ denn kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ 74 befördern. Mit Blick auf die erarbeiteten, durchaus unterschiedlichen Typologieversuche des Geschichtscomics könnte man „Fluchttunnel nach West-Berlin“ nach Gerald Munier demzufolge als historisierende Comic-Abenteuerimagination, mit HansJürgen Pandel als Comicromance bezeichnen, weil beide auf „Geschichte vor allem als Bühne, als Dekoration zurückgreif[en]“. 75 Der von René Mounajed vorgeschlagene Begriff des Propagandacomics greift, wie Gundermann zurecht anmerkt, konzeptuell zu kurz,76 weckt auf der Analyseebene aber Assoziationen, weil es bei Jouvray und Brachet an entscheidenden Stellen nicht zu einer Wissenserweiterung sondern nur zu einer selektiven Repräsentation kommt, die auf hinderliche Weise narrativ lenkt und geschichtliche Zusammenhänge durch Auslassungen verfremdet.

8. Chancen und Grenzen bei der Repräsentation zwischen Erfolgsgeschichte und Störung Die historischen Begebenheiten des 3. und 4. Oktober 1964 können einerseits durchaus als Erfolgsgeschichte gelesen werden, denn durch den fertiggestellten Tunnel, der die Bernauer Straße mit der Strelitzer Straße verband, gelang 57 Menschen die Flucht nach Westberlin. Andererseits konnten längst nicht so viele Menschen flüchten wie ursprünglich geplant und der Tod des Grenzsoldaten Egon

73 Führer, Versuch einer narratologischen Typenbildung zu Geschichtscomics. 2017, S. 130. 74 Gundermann, Inszenierte Vergangenheit. 2018, S. 279. 75 Gundermann, Zwischen Genre, Gattung und Typus. 2017, S. 30. 76 Ebd., S. 31.

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Schultz mahnt darüber hinaus zur kritischen Erinnerung. Gleichwohl dem Comic „Tunnel 57“ aufgrund einer inzwischen mehrheitlich kritischen Auseinandersetzung mit den Hintergründen der Tunnelflucht nicht der Status einer aufklärerischen Gegenerzählung zugesprochen werden muss, fungiert er im Vergleich mit „Fluchttunnel nach West-Berlin“ doch genau in dieser Weise. Jouvray und Brachet konstruieren ein in sich geschlossenes Erfolgsnarrativ, das bei Henseler und Buddenberg durch die zugrunde gelegte Multiperspektivität77 aufgebrochen und gestört wird. Die Störung ist hier ein im Vergleich beider Texte insistierendes Drängen auf die Rezeption einer komplexen historischen Wirklichkeit, das den Zugang zu einem vielschichtigen Wissen ermöglicht. „Fluchttunnel nach WestBerlin“ gerät demgegenüber durch die dramaturgisch-strategischen Entscheidungen der Autoren ins Fahrwasser des Geschichtsrevisionismus und belegt auf beeindruckende Weise, welche Gefahren mit der durch Authentisierungsstrategien ermöglichten leserseitigen Erwartungslenkung verbunden sind. Das „Spiel mit Erwartungen“, das auf die Inanspruchnahme und / oder Bearbeitung leserseitigen Wissens zielt, ist im Falle von „Fluchttunnel nach West-Berlin“ zugleich ein Spiel mit dem Feuer. Denn „die Botschaft, die der Educational Comic an seine Leser sendet […]: ‚Schau her. Wir zeigen dir alles, was du wissen musst.‘“78 ist in diesem Fall trügerisch und begünstigt lücken- und fehlerhafte Wissensbildungsprozesse. Auch wenn man einwenden mag, dass es sich bei „Fluchttunnel nach West-Berlin“ nicht um einen Educational Comic sondern um einen Abenteuercomic handelt, der zuvorderst an einer ‚guten Geschichte‘ und nachrangig an bildungsbezogener Wissensvermittlung interessiert ist, so wird er doch gerade aufgrund seiner ikonisch-authentischen Bildsprache und Entstehungsgeschichte als glaubwürdiges Bildungsmaterial rezipiert und muss sich demzufolge auch an entsprechenden Maßstäben messen lassen. Ein produktiver und erfolgsversprechender Umgang mit dem skizzierten Problem könnte die didaktisch begleitete Rezeption grafischer Erzählungen beim Vorlesen in Lehr-Lern-Situationen sein, wie sie Jeanette Hoffmann und Diane Lang am Beispiel der Graphic Novel „drüben!“ von Simon Schwartz untersuchen. In Vorlesegesprächen unter Schülerinnen und Schülern, denen ein „besonderes sprachlich-literarisches Lernpotential“ zugewiesen wird, können (grafische und

77 Auch Christoph Hamann teilt die Notwendigkeit zur Darstellung multiperspektivischer Narrative, gelangt im Zusammenhang mit „Tunnel 57“ jedoch zu einer im Vergleich kritischeren Bewertung. Vgl. Hamann, Christoph: Die Diktatur gezeichnet. Aktuelle Geschichtscomics über die DDR zwischen Authentizität und Dekonstruktion. In: Lernen aus der Geschichte (09/2013), S. 38 – 42. 78 Blank: Alles ist zeigbar? 2010, S. 232.

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inhaltliche) „Stolperstellen“ gemeinsam identifiziert werden.79 Durch die „Verlangsamung und Intensivierung des Bildrezeptionsprozesses, etwa im Gespräch über Bilder“, ist es schließlich möglich, „an Erfahrungen und Wissensbestände anknüpfen und diese gegebenenfalls umstrukturieren und so ein kohärentes inneres Bild entstehen zu lassen“.80 Wenn es gelänge, die im vorliegenden Aufsatz markierten „Stolperstellen“ in „Fluchttunnel nach West-Berlin“ im Rahmen einer didaktischen Aufbereitung zu markieren und zu besprechen, ließen sich womöglich wichtige Wissensbildungsprozesse initiieren.

79 Hoffmann, Jeanette / Lang, Diane: Erinnern im Unterricht. Gemeinsame Rezeption grafischer erzählender Geschichte(n) als Teil einer anderen Erinnerungskultur. In: Die andere deutsche Erinnerung. Tendenzen literarischen und kulturellen Lernens. Hrsg. von Carolin Führer. Göttingen: V&R unipress 2016, S. 181 – 205, hier: S. 183. 80 Ebd.

Beiträgerinnen und Beiträger Matthias Aumüller, PD Dr., Studium der Philosophie, Ostslavistik, Psychologie und Germanistik, Privatdozent an der Bergischen Universität Wuppertal und SNF-Senior Forscher an der Universität Fribourg/CH. Letzte Veröffentlichung: Brigitte Reimann in Neubrandenburg (Heidelberg 2018). Robin-M. Aust, M. A., Studium der Germanistik und Philosophie, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Heinrich Heine Universität Düsseldorf. Letzte Veröffentlichungen: „es ist ja auch eine Methode, alles zur Karikatur zu machen.“ – Nicolas Mahlers Literatur-Comics Alte Meister und Alice in Sussex nach Thomas Bernhard und H. C. Artmann, Würzburg 2016; Grenzfälle und das Fallen von Grenzen. Poetologische Reflexionen in Nicolas Mahlers Formexperimenten. In: Nicolas Mahler im Kontext (= Closure. Kieler e-Journal für Comicforschung 5.5), S. 28 – 45. Dennis Bock, Dr., Studium der Germanistik und Soziologie, derzeit Sozial- und Kulturwissenschaftlicher Referent der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und Lehrbeauftragter an der Universität Hamburg. Letzte Veröffentlichung: Literarische Störungen in Texten über die Shoah. Imre Kertész, Liana Millu, Ruth Klüger. Frankfurt/M.: Peter Lang 2017. Mario Bosincu, Dr., Studium der Deutschen Literatur und Philosophie, lehrt an der Universität Sassari (Italien). Letzte Veröffentlichung: Wandering towards the Wilderness of the Unconscious: Hermann Hesse’s depth-anarchism in Die Nürnberger Reise. In: Hermann-Hesse-Jahrbuch, Bd. 11. Hrsg. von Michael Limberg. Würzburg: Königshausen & Neumann 2019, S. 119 – 141. Arianna Di Bella, Prof. Dr., Professorin für deutsche Literatur am Dipartimento di Scienze Umanis­ tiche der Universität Palermo. Letzte Veröffentlichung: Die vielgestaltige Wassermetaphorik bei Yoko Tawada. In: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, … es kamen Schriftsteller“, Bd. 2. Hrsg. von Anna Warakomska und Mehmet Öztürk. Berlin: Peter Lang 2018, S. 33 – 49. Carsten Gansel, Prof. Dr., Studium der Germanistik, Slawistik, Pädagogik, Philoso­phie. Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik an der JustusLiebig-Universität Gießen. Letzte Veröffentlichung: Carsten Gansel (Hrsg.): Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung. Berlin: OKAPI Wissenschaft 2018 (= Edition Gegenwart, Bd. 2); Carsten Gansel/Burkhard Meyer-Sickendiek (Hrsg.): Stile der Popliteratur. München: edition text + kritik 2018. Florian Gassner, Dr., Studium der Mittel- und Osteuropäischen Kulturgeschichte, lehrt als Senior Instructor an der University of British Columbia. Letzte Veröffentlichung: Robert Schumanns religiöser Nationalismus um 1848. The German Quarterly 91.4 (2008), S. 401 – 414. Anda-Lisa Harmening, M. A., Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie Romanistik, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Dekanats der Fakultät für Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn und Stipendiatin. Letzte Veröffentlichung: Mopa – Serielle und visuelle Geschlechter-Dramen in Transparent von Jill Soloway. In: Geschlechter-Dramen: Literarische und filmische Inszenierungen von 1800 bis heute. Hrsg. von Adelina Debisow. Paderborn: Universitätsbibliothek Paderborn, 2017, S. 127 – 137.

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 Beiträgerinnen und Beiträger

Carola Hähnel-Mesnard, Dr., Studium der Romanistik und Germanistik in Berlin und Paris, lehrt als Associate Professor für Neuere deutsche Literatur an der Université de Lille. Letzte Veröffentlichung: Carola Hähnel-Mesnard / Katja Schubert (Hrsg.): Störfall? Auschwitz und die ostdeutsche Literatur nach 1989. Berlin: Frank & Timme 2016. Martina Kofer, M. A., Studium der Neueren deutschen Literatur, Gender Studies und Politologie in Berlin, derzeit Lehrbeauftragte am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn. Letzte Veröffentlichung: Kurt gibi bodysurfing: Poetik der Mehrsprachigkeit. In: DaZ Sekundarstufe 3/2017: Literatur und Sprache, S. 27 – 32. Matthias N. Lorenz, PD Dr., Studium der Kulturwissenschaften, Venia docendi der Universität Bern für Neuere deutsche Literatur, Extraordinary Professor an der Stellenbosch University, derzeit Stipendiat am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Letzte Veröffentlichung: Matthias N. Lorenz / Thomas Nehrlich (Hrsg.): Sektion ‚Kleists Anekdoten – Zur Größe der kleinen Formen‘. In: Kleist-Jahrbuch. Hrsg. von Andrea Allerkamp et al. Stuttgart: J. B. Metzler 2019, S. 231 – 235. Tomasz Małyszek, Prof. Dr., Studium der Germanistik, Professor für Neuere Deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wrocław (Polen). Letzte Veröffentlichung: Die verschwundene Grenze zwischen Leben und Tod im Spiegel der heutigen Literatur. Dresden / Wrocław: Neisse Verlag/Oficyna Wydawnicza ATUT 2016. Hans J. Markowitsch, Prof. Dr., Studium der Psychologie und Biologie, Professor für Physiologische Psychologie an der Universität Bielefeld. Letzte Veröffentlichung: H. J. Markowitsch/Margit M. Schreier: Reframing der Bedürfnisse. Berlin: Springer 2019. Anna Sawko von Massow, Dr., Studium der Germanistik, lehrt als akademische Mitarbeiterin am Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg. Letzte Veröffentlichung: Die Jugend und ihr subversives Potential in ausgewählten Texten der DDRund der Post DDR-Literatur. In: Kritische Ausgabe. Zeitschrift für Literatur im Dialog, Jugend 22, 2018, Nr. 34, S. 31 – 36. Viktoria Müller (geb. Grzondziel), Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Italienischen Philologie, derzeit tätig als Studienberaterin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/Holzminden/Göttingen. Letzte Veröffentlichung: How Can Music Theory Become Narratology? Bach’s Goldberg Variations and their Influence on Two Contemporary Novels. In: Le Comparatisme comme approche critique. Bd. 2 Littérature, arts, sciences humaines et sociales / Literature, the Arts, and the Social Sciences. Hrsg. von Anne Tomiche. Paris: Classique Garnier 2017, S. 505 – 518. Nicolas von Passavant, Dr., Studium der Deutschen Literatur, Filmwissenschaft und Philosophie. Letzte Veröffentlichung: Nachromantische Exzentrik. Literarische Konfigurationen des Gewöhnlichen. Göttingen: Wallstein 2019. Dominik Pensel, M. A., Studium der Neueren deutschen Literatur, Musikwissenschaft, Ethnomusikologie und Kulturwissenschaften, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Letzte Veröffentlichung (im Erscheinen): Narrating and Constructing the Beach: An Interdisciplinary Approach. Berlin/Boston: de Gruyter 2020 (gemeinsam hrsg. mit Carina Breidenbach u. a).

Beiträgerinnen und Beiträger 

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Söhnke Post, Dr. des., Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Interkulturellen Pädagogik, lehrt als abgeordneter Studienrat am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Letzte Veröffentlichung: „Alles endet aber nie die Musik“ – Didaktische Potenziale und Anschlussmöglichkeiten deutschsprachiger Raptexte im Literaturunterricht. In: Wellenritt in riffreicher Zone – Gegenwartslyrik im Unterricht. Hrsg. von Carlo Brune und Ines Theilen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag 2019, S. 172 – 184. Jan Süselbeck, PD Dr., Studium der Neueren deutschen Literatur, Neueren Geschichte sowie Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft an der Freien Universität Berlin. DAAD Associate Professor an der School of Languages, Linguistics, Literatures and Cultures, University of Calgary, Alberta, Kanada. Letzte Veröffentlichung: Flüchtling Shylock. Antisemitismuskritik und Empathielenkung in Walter Mehrings Drama „Der Kaufmann von Berlin“. In: Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft II. Antisemitismus in Text und Bild – zwischen Kritik, Reflexion und Ambivalenz. Hrsg. von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher. Berlin/Boston: de Gruyter 2019, S. 271 – 300. Angelica Staniloiu, PD Dr. rer. nat., Studium der Medizin, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie an der Oberbergklinik Schwarzwald. Letzte Veröffentlichung: Angelica Staniloiu/Hans J. Markowitsch/Andreas Kordon: Psychological Causes of Amnesia: A Study of 28 Cases. In: Neuropsychologia 110, 2018, S. 134 – 147. Detlef Stapf, Studium der Ingenieurwissenschaften, Kommunikationsberater, Unternehmensberater, Publizist. Letzte Veröffentlichung: Caspar David Friedrich. Die Biographie. Berlin: OKAPI Verlag 2019. Johanna Vollmeyer, Dr., Studium der Germanistik, Politikwissenschaften und Journalistik, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad Complutense. Letzte Veröffentlichung: ‚Spain in Our Hearts‘. The Memory of the Spanish Civil War in German Literature. In: Journal of Romance Studies, Volume 18 (3), 2018, S. 439 – 458. Stephanie Willeke, Dr., Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaften, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paderbor. Letzte Veröffentlichung: Norbert Otto Eke/Stephanie Willeke (Hrsg.): Zwischen den Sprachen – Mit der Sprache? Deutschsprachige Literatur in Palästina und Israel. Bielefeld: Aisthesis 2019. Monika Wolting, Prof. Dr., Studium der Germanistik, Professorin am Institut für Germanistik der Universität Wrocław (Polen). Letzte Veröffentlichung: Monika Wolting (Hrsg.): Neues historisches Erzählen. Göttingen: V&R unipress 2019.