Traum und Vision in der Vormoderne: Traditionen, Diskussionen, Perspektiven 9783050057248, 9783050051871

Gerade die europäische Kultur weist hinsichtlich Traum und Vision einen dichten Traditionszusammenhang auf. Dieser Zusam

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German Pages 306 [301] Year 2011

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Traum und Vision in der Vormoderne: Traditionen, Diskussionen, Perspektiven
 9783050057248, 9783050051871

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Traum und Vision in der Vormoderne

Annette Gerok-Reiter, Christine Walde (Hg.)

Traum und Vision in der Vormoderne Traditionen, Diskussionen, Perspektiven

Akademie Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Akademie Verlag GmbH, Berlin Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Einbandgestaltung: hauser lacour, unter Verwendung der Abbildung „Die träumenden Heiligen drei Könige“. Anguss des Originals aus dem 12. Jahrhundert auf einem Kapitell der Kathedrale von Autun. bpk/RMN/Bulloz Gesamtherstellung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005187-1

Inhaltsverzeichnis

ANNETTE GEROK-REITER Einleitung: Zwischen den Welten ...........................................................................

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Teil I: Traditionen CHRISTINE WALDE Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike oder vom Zwang, Träume zu deuten.......................................................................

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ANDREAS LEHNARDT „Alle Träume erfüllen sich nach ihrer Deutung“. Jüdische Trauminterpretation im Mittelalter ..........................................................................................................

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BETTINA KRÖNUNG Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen in der frühbyzantinischen monastischen Literatur............................................................................................

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SUSANNE KURZ und STEFAN SEIT Die Einschätzung von Träumen und Traumdeutung im lateinisch-christlichen Mittelalter und im sunnitischen Islam.....................................................................

91

Teil II: Diskussionen NOTGER SLENCZKA Träume zwischen Gott und Teufel..........................................................................

133

HANS ULRICH SCHMID Gudrun, Gisli, Gunnar … Träume(r) in der altisländischen Literatur.....................

161

RUDOLF VOSS Traum, Vision, Imagination – Konstruktionen innerer Wahrnehmung in der deutschen Lyrik der klassisch-höfischen Periode .........................................

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ERNST-DIETER HEHL Politische Träume und Visionen im Mittelalter ......................................................

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Inhaltsverzeichnis

Teil III: Perspektiven WOLFRAM SCHMITT Vision, Halluzination und Melancholie. Historische und aktuelle Perspektiven ....

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MATTHIAS VOLLET Ist das Leben Traum? Vier Personen auf der Suche nach der Wirklichkeit: Don Quijote, Sancho Pansa, René Descartes und Segismundo Príncipe de Polonia 235 RAINER GOLDT Die unsichtbare Stadt Kitež: Ein russischer Traum klandestinen Heils ..................

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ALFRED KROVOZA Traum und Gesellschaft ..........................................................................................

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Personen- und Werkregister....................................................................................

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ANNETTE GEROK-REITER

Einleitung: Zwischen den Welten „Aber wie sollten wir tiefer in die Natur der Träume blicken, da jeder nur seine eigenen prophetischen kennt und untersucht! Würde uns nicht ein anderes physiologisches und psychologisches Licht darüber brennen, wenn wir mehrere Arten von Träumen, die der Kinder, der Jünglinge, der Greise, der Geschlechter, der Menschenarten, zu vergleichen bekämen?“ Jean Paul: Blicke in die Traumwelt, 1813/14

Das Jahr 2000, in dem man weltweit den 100. Geburtstag von Freuds Traumdeutung, dem Gründungsmanifest der Psychoanalyse, feierte,1 markierte einen zwiespältigen Höhepunkt der Tagungs- und Publikationstätigkeiten zum Thema moderner Traumdeutung. Einerseits zeigte sich, dass das Thema Traum zwar auf reges Interesse auch eines breiteren Publikums stößt, andererseits aber, dass diese Phase der intensiven Beschäftigung als leichtlebige Konjunktur bezeichnet werden muss, da sie, ihren eigenen historischen Wurzeln gegenüber indifferent, keine traditionsreflektierende Tiefendimension aufweist. Umgekehrtes ließe sich über das Thema der Vision sagen. Hier herrschen vor allem historisch orientierte Studien vor,2 während Aktualisierungen kaum von sich reden machen. Dies ist umso erstaunlicher, als in Kulturen der Vormoderne Traum und Vision vielfach in nächster Verbindung stehen. Zwar wird der Traum in der Regel dem

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Vgl. etwa: Der Traum – 100 Jahre nach Freuds Traumdeutung. Hrsg. von BRIGITTE BOOTHE, Zürich 2000 (Zürcher Hochschulforum 31); Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds Traumdeutung. Hrsg. von LYDIA MARINELLI / ANDREAS MAYER, Frankfurt a. M. 2000; Traumdeutung. Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie. Hrsg. von RUDOLF HEINZ / WOLFGANG TRESS, Wien 2001; Hundert Jahre „Die Traumdeutung“. Kulturwissenschaftliche Perspektiven in der Traumforschung. Hrsg. von BURKHARD SCHNEPEL, Köln 2001 (Studien zur Kulturkunde 119); Träume und Träumen: hundert Jahre „Traumdeutung“. Hrsg. von MICHAEL ERMANN, Stuttgart 2005 (Lindauer Beiträge zur Psychotherapie und Psychosomatik). Etwa: PETER DINZELBACHER: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23); GREGOR WEBER: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, Stuttgart 2000; ACHIM BEHRENS: Prophetische Visionsschilderungen im Alten Testament. Sprachliche Eigenarten, Funktion und Geschichte einer Gattung, Münster 2002 (Alter Orient und Altes Testament 292).

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Annette Gerok-Reiter

Schlafzustand, die Vision in der Regel dem Wachzustand zugeschrieben,3 doch eindeutig ist diese Trennlinie nicht.4 Vor allem aber werden Traum und Vision durch die Gemeinsamkeit des ,inneren Sehens‘ verbunden. So gilt es, die aktuellen Impulse aufzunehmen, zugleich aber die Erkenntnisse auf ein solideres kulturhistorisches Fundament zu stellen. Dabei ist in besonderem Maß gerade das vormoderne hermeneutischintellektuelle Erbe der Kulturen von Traum und Vision und ihrer vielfältigen Relationen im Bewusstsein wach zu halten. Da Träume und Visionen zum Grundbestand menschlicher Existenz und Kultur gehören, dürfte die Frage nach dem Wesen von Traum und Vision zu den ältesten Fragen der Menschheitsgeschichte zählen. Zumindest bezeugen die Quellentexte die Faszination am Phänomen von Traum und Vision ungebrochen von der Antike über die byzantinischen Traditionen bis in das jüdische, islamische und lateinisch-christliche Mittelalter, ja – zumindest was den Traum betrifft – bis in die Moderne. Und auch der doppelte Ansatz, durch den die zentrale, in ihrer Direktheit jedoch von vornherein hermetische Frage, was ein Traum oder eine Vision sei, ersetzt und spezifiziert wird, erweist sich im Gang durch die Zeugnisse der Traum- und Visionsreflexion als konstant: ,Woher kommen Träume und Visionen, was verursacht sie?‘, lautet der eine anhaltende Fragenansatz, der andere, ebenso persistent verfolgt: ,Was bedeuten sie‘? So konstant sich dieses Fragenduo erweist, so variabel fallen dagegen die Antworten auf beide Fragen aus. Die außerordentliche Variabilität der Antworten hat drei Gründe: Zum einen bleibt die Auffassung von der Herkunft und Ursache der Träume und Visionen eingebettet in ein Netz an kulturellen Rahmenbedingungen, anthropologisch vorgängigem Selbstverständnis und wissenschaftsgeschichtlich relevanten Deutungsmustern, dessen vermeintlich sichere Anhaltspunkte sowie vermeintlich unsichere Leerstellen sich im kulturhistorischen Prozess beständig verändern und in immer neue Relationen treten. Der kulturhistorische Kontext modelliert jeweils, ob Traum und Vision als transzendental vermitteltes Zukunftswissen wie in griechisch-römischer Tradition, aber etwa auch im Alten Testament, als Offenbarung von Verborgenem im

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Vgl. RALF GRÖTKER u. a.: Art. ‚Traum‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10. Hrsg. von JOACHIM RITTER / KARLFRIED GRÜNDER, Darmstadt 2000, Sp. 1461–1473; JOHANN KREUZER: Art. ‚Visio‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11. Hrsg. von JOACHIM RITTER / KARLFRIED GRÜNDER / GOTTFRIED GABRIEL, Darmstadt 2001, Sp. 1068–1071; sowie CHRISTINE WALDE u. a.: Art. ,Traum / Traumdeutung‘. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, Bd. 8. Hrsg. von HANS DIETER BETZ / DON S. BROWNING / BERND JANOWSKI / EBERHARD JÜNGEL, 4., völlig neu bearb. Aufl., Tübingen 2005, Sp. 563–574, und KARL HOHEISEL u. a.: Art. ,Vision / Visionsbericht‘. In: ebd., Sp. 1126–1134. Vgl. etwa zum offenen Grenzbereich der Vision: DINZELBACHER (Anm. 2), S. 29; zu Tagträumen, Halluzinationen etc.: DAVID FOULKES: Dreaming. A Cognitive-Psychological Analysis, Hillsdale, New Jersey 1985, insbes. S. 71–77.

Einleitung: Zwischen den Welten

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Sinn eines Raumwechsels,5 als anthropologisches Gleichnis wie bei Shakespeare,6 als Zaubergarten eines unendlichen Begehrens und seiner Erfüllung wie in der Romantik,7 als Reflexion des Unbewussten wie in der Tiefenpsychologie mit und nach Freud oder als physiologische Antwort auf neuronale Prozesse wie in der modernen Hirnforschung zu sehen sind.8 Eine Geschichte von Traum und Vision ist deshalb immer nur als Teil einer übergreifenden Kulturgeschichte zu fokussieren. Zum zweiten ist methodisch in Rechnung zu stellen, dass sich Träume und Visionen nur in sprachlich (und bildlich) geformter Reflexion erschließen, ja es muss grundsätzlich gefragt werden, ob die Vision ebenso wie der Traum „als Objekt kultureller Beobachtung jenseits der Sprache […] überhaupt existieren kann“.9 Die für die Traumund Visionsdeutung sowie für deren Analyse notwendige Übersetzung eines nicht diskursiven Erfahrens in eine diskursive Logos-Struktur ist als Akt kultureller Konstruktion zu begreifen, dem sich Deutungsintentionen, d. h. individuelle oder kollektive Funktionalisierungen, willkürlich oder unwillkürlich einschreiben. Eine Geschichte von Traum und Vision ist somit nur als Geschichte der kulturell-intentionalen Konstruktionen von Traum und Vision nachzuvollziehen. Insofern dem in der Regel inkohärenten Bilder- und Ereignisfluidum von Traum und Vision in der sprachlichen Reflexion Sinn zugesprochen bzw. zugeschrieben wird, öffnen sich die Phänomene von Traum und Vision schließlich zu den verwandten Erfahrungsfeldern der Imagination, der religiösen Ekstase oder der Utopie. So avancieren Traum und Vision in literarischen Kontexten vielfach zum Modell des ästhetischen Verhältnisses von Imaginärem und Fiktivem, changieren in theologischen Kontexten zur ekstatischen Schau, in der sich menschliche und göttliche Kräfte begegnen können, oder erscheinen in politischer Hinsicht als Ausdruck gesellschaftlicher Utopie mit im5 6

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DINZELBACHER (Anm. 2), S. 29. Vgl. William Shakespeare: The Tempest. Ed. by VIRGINIA MASON VAUGHAN / ALDEN T. VAUGHAN, London 2006, IV,1, v. 156–158: „We are such stuff / As dreams are made on, and our little life / Is rounded with a sleep“. Vgl. Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen (Studienausgabe). Hrsg. von ALFRED ANGER, Stuttgart 1979, S. 93: „So ist der Schlaf oft ein Ausruhn in einer schönern Welt; wenn die Seele sich von diesem [dem Wachsein vorbehaltenen A.G.-R.] Schauplatze hinwegwendet, so eilt sie nach jenem unbekannten magischen, auf welchem liebliche Lichter spielen und kein Leiden erscheinen darf; dann dehnt der Geist seine großen Flügel auseinander und fühlt seine himmlische Freiheit, die Unbegrenztheit, die ihn nirgends beengt und quält.“ Vgl. etwa JOHN ALLAN HOBSON: Schlaf. Gehirnaktivität im Ruhezustand. Aus dem Amerikanischen übersetzt von INGRID HORN, Heidelberg 1990 (Spektrum-Bibliothek 25); GERHARD ROTH: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a. M. 82002; JOHN ALLAN HOBSON: Dreaming. An Introduction to the Science of Sleep, Oxford, New York 2002; vgl. auch: Schlaf & Traum: Neurobiologie, Psychologie, Therapie; mit 28 Tabellen. Hrsg. von MICHAEL H. WIEGAND / BRIGITTE BOOTHE, Stuttgart 2006. PETER-ANDRÉ ALT: Der Schlaf der Vernunft. Literatur und Traum in der Kulturgeschichte der Neuzeit, München 2002, S. 10.

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Annette Gerok-Reiter

plizitem moralischem Imperativ, der sich ebenso auf individuelle wie auf kollektive Interessen zu beziehen vermag. Nicht nur die begrifflichen Grenzen zwischen Traum und Vision, sondern auch die begrifflichen Grenzen zur Imagination, zur ekstatischen Schau und zur Utopie lassen sich infolge dieser Funktionalisierungen in den verschiedensten Kontexten nicht immer scharf aufrechterhalten. Da Traum und Vision aufgrund ihrer vorrationalen Struktur des Erlebens in besonderer Weise in die jeweilige kulturhistorische Textur eingelassen bleiben, da das Phänomen der Traum- und Visionsdeutung sich nur aus den je unterschiedlichen Interferenzen von gelehrten und ästhetischen, imaginierten und funktionalen, individuellen und kollektiven Interessenverhältnissen bestimmen lässt, da der Begriff des Traums wie der Begriff der Vision schließlich im Sinn der Historischen Semantik in vielschichtiger Relation zu verwandten Erscheinungen steht, dürfte deutlich werden, dass eine historisch relevante Untersuchung von Traum und Vision, die der Variabilität der Antworten gerecht werden möchte, in ein äußerst komplexes und weitverzweigtes Vernetzungsfeld hineinführt und hineinführen muss. Wenn Walter Benjamin 1927 festhält: „Die Geschichte des Traumes bleibt noch zu schreiben“,10 so ist einerseits zu konstatieren, dass dieses Defizit nach fast hundert Jahren noch immer gilt, andererseits, dass eine solche Aussage ebenso für den benachbarten Bereich der Vision zu treffen wäre. Zugleich kann angesichts der kulturwissenschaftlichen Öffnung der Geisteswissenschaften in den letzten Jahrzehnten klarer beschrieben werden, worin die Aufgaben und zugleich die Schwierigkeiten einer umfassenden Geschichte von Traum und Vision liegen. Insofern gerade die europäische Kultur hinsichtlich Traum und Vision einen dichten Traditionszusammenhang aufweist, der durch vielschichtige Abgrenzungen, Überschneidungen und Interferenzen einzelner, in Sichtweite zueinander operierender oder untergründig miteinander verbundener Diskurse in Religion, Naturwissenschaft, Geschichtsschreibung, Philosophie, Literatur und Bildender Kunst gekennzeichnet ist, kann einerseits nur ein interdisziplinär orientierter Essay-Band, der das Thema Traum und Vision sowohl historisch als auch kulturell von verschiedenen Perspektiven aus beleuchtet, diese Traditionsvernetzung deutlich machen und dadurch die vielfältigen Vorläufer und Anknüpfungsmöglichkeiten für die moderne Diskussion aufzeigen. Andererseits führt eben die für eine Geschichte von Traum und Vision so relevante Vielschichtigkeit der Aspekte, zumal die komplexe Relation zwischen Pragmatik, Ästhetik und Wissenschaft, in ein Labyrinth an Differenzierungen hinein, das in der Zusammenschau quer durch die Epochen kaum oder allenfalls nivellierend gangbar gemacht werden könnte. Zwischen der Aufgabe einer pluralen Aspektvernetzung und der Schwierigkeit einer unüberschaubaren Komplexitätspotenzierung einen Weg suchend, bietet sich ein partieller Zugriff an, der einerseits kulturell wie zeitlich weitgefächerte Perspektiven eröffnen soll, andererseits

10 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hrsg. von ROLF TIEDEMANN / HERMANN SCHWEPPENHÄUSER, Frankfurt a. M. 1972–1992, Bd. II.2: Aufsätze, Essays, Vorträge, S. 620.

Einleitung: Zwischen den Welten

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diesen vielfältigen Perspektiven durch einen klar definierten Fokus eine spezifische Ausrichtung und Schnittstelle geben möchte. In diesem Sinn repräsentiert die beteiligte Disziplinenvielfalt des vorliegenden Sammelbandes von Klassischer Philologie, Judaistik, Byzantinistik, Islamistik und Philosophie, von Theologie, Historischer Sprachwissenschaft, germanistischer Mediävistik und Geschichte, von Medizingeschichte, Slavistik und Psychologie das Traditionsnetz sowie die Polyvalenz im Umgang mit dem Phänomen von Traum und Vision in seinen weiteren Dimensionen. Dabei wurde versucht, die gemeinsamen Traditionen wie auch die Divergenzen aus dem Mit- und Gegeneinander der grundlegenden Kulturen von Traum und Vision in antiker, byzantinischer, jüdischer, islamischer und christlich-mittelalterlicher Tradition heraus zu begreifen. Zugleich jedoch setzt der vorliegende Sammelband innerhalb der Vormoderne den Schwerpunkt auf das Mittelalter. Von diesem Schwerpunkt aus lassen sich die verschiedenen Perspektiven als Voraussetzungen der Vergangenheit sowie Fortschreibungen in die Zukunft lesen. Der Schwerpunkt bei den Diskussionen des Mittelalters ist dabei als Antwort auf die aktuelle Forschungssituation zu verstehen. Während für antike und neuzeitliche Traditionen inzwischen durchaus differenzierte interdisziplinär orientierte Untersuchungen vorliegen,11 ist das Feld der Vernetzung über die einzelne Fachdisziplin hinaus in der Mediävistik eher spärlich bestellt: Der Sammelband Träume im Mittelalter, 1989 herausgegeben von AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI und GIORGIO STABILE,12 bezieht sich auf Bildende Kunst und Literatur, bleibt jedoch in diesem Kontext auf den Aspekt der Ikonographie des Traums beschränkt. MARIA ELISABETH WITTMER-BUTSCH widmet sich dagegen in ihrer kurz darauf erschienenen Dissertation den Themen Schlaf und Traum als geschichtlichen Phänomenen aus psychologischer Sicht.13 Sie trägt reiches Quellenmaterial zum Schlaf als Alltagserfahrung, zu den Traumtheorien des Mittelalters sowie zu persönlichen Traumerfahrungen zusammen. Nicht reflektiert werden jedoch die Traumzeugnisse als kulturelle Konstruktionen, ein Aspekt, der nicht nur für die ästhetischen Manifestationen als Deutungsmuster zweiten Grades, sondern auch – auf erster Ebene – für die historischen Quellen entscheidende Interpretationsmodifikationen impliziert. Perspektivenreicher in der interdisziplinären Orientierung verfahren schließlich der 1981 erschienene Band Vision und Visionsliteratur im Mittelalter14 sowie der 1994 publizierte Band Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung, Funktionen

11 Paradigmatisch für die Antike sei auf CHRISTINE WALDE: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung, Düsseldorf, Zürich 2001, für die Neuzeit in deutschsprachigem Kontext auf ALT (Anm. 9) verwiesen, mit je ausführlicher Forschungsliteratur. 12 Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hrsg. von AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI / GIORGIO STABILE, Stuttgart, Zürich 1989. 13 MARIA ELISABETH WITTMER-BUTSCH: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter, Krems 1990 (Medium aevum quotidianum, Sonderband 1). 14 DINZELBACHER (Anm. 2).

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Annette Gerok-Reiter

einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance.15 Da sie jedoch zeitlich kaum über das christliche Mittelalter und Spätmittelalter sowie die Renaissance hinausreichen, können sie das weitgespannte mittelalterliche Traditionsnetz mit seinen Rückund Parallelbezügen in die antike, die byzantinische, jüdische oder islamische Traumund Visionskultur nicht aufzeigen. Erschwerend innerhalb der aktuellen Forschungslage kommt hinzu, dass die maßgebenden Studien zu antiker und neuzeitlicher Tradition in ihrem erläuternden Vorausgriff oder Rückblick oftmals gerade mittelalterliche Traditionen und Überlieferungskontexte aussparen.16 Nicht um eine umfassende Kulturgeschichte von Traum und Vision im Mittelalter zu geben, wohl aber um die genannten Lücken zu schließen und gleichzeitig produktiv an Vorarbeiten wie an Defizite der bestehenden Forschung anzuschließen, wurden im vorliegenden Band in thematischer, chronologischer und disziplinärer Hinsicht Gewichtungen gewählt, die innerhalb der Vormoderne den Mittelalterschwerpunkt weiter spezifizieren. Diesen ergänzenden Gewichtungen tragen Auswahl und Reihenfolge der Beiträge Rechnung. Der erste Teil „Traditionen“ bietet Überblicksdarstellungen zu den grundlegenden Kulturen von Traum und Vision in der Vormoderne. Dabei verweist er nicht nur auf die großen christlich-lateinisch geprägten Diskurszusammenhänge des Mittelalters, sondern auch auf die dem christlichen Mittelalter vorausliegenden antiken sowie auf die jüdischen, byzantinischen und islamischen Diskussionskulturen. Durch dieses Ausgreifen in vergangene Epochen und außerchristliche Kulturzusammenhänge soll verhindert werden, dass dem christlichen Mittelalter Erkenntnisse originär zugeschrieben werden, die bereits aus einem Traditionszusammenhang mit der Antike und Spätantike oder mit außereuropäischen Kulturräumen resultieren. Zugleich wird dadurch ein interkultureller Vergleich ermöglicht. Als zentrale Verbindung zwischen den unterschiedlichen vormodernen Traum- und Visionskulturen erweisen sich vor allem die ähnlichen Leitfragen: Kann der Mensch in Traum und Vision zu einer Erkenntnis von Wirklichkeit gelangen, aufgrund derer er Künftiges kohärent voraussehen kann? Was verursacht oder begünstigt von empfangender Seite aus ein solches Vorauswissen? Welche Gewalten und Zwischengewalten spielen von initiierender Seite aus eine Rolle? CHRISTINE WALDE führt in das Feld von Traum und Traumdeutung in der griechischrömischen Antike ein. Der Beitrag nähert sich seinem Gegenstand in drei Schritten: Nach der einführenden methodischen Reflexion darüber, was die Besonderheiten und Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem jeweils näher zu definierenden Traumphänomen ausmacht, folgt ein Überblick über die wichtigsten Traum15 Traum und Träumen. Inhalt – Darstellung – Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von RUDOLF HIESTAND, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 24). 16 Dies ist sowohl bei Walde (Anm. 11) und Alt (Anm. 9) als auch in dem breit gefächerten Sammelband Traum und Träumen. Hrsg. von THERESE WAGNER-SIMON/GAETANO BENEDETTI, Göttingen 1984, der der neuzeitlichen deutschsprachigen Literatur gleich drei Aufsätze widmet, auffallend.

Einleitung: Zwischen den Welten

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diskurse der Antike, um im letzten Teil die professionelle Traumdeutung, insbesondere den Traumdeuter Artemidor (2. Jh. n. Chr.) und seine Oneirokritika, ins Zentrum zu stellen. Traumdeutung und Vorsehung werden enggeführt. Unter der Voraussetzung, dass die Welt Schöpfung eines souverän über sie herrschenden Gottes ist, wie dies für das Judentum sowie für Christentum und Islam als monotheistischen Religionen bei allen synchronen und diachronen Differenzen gilt, gewinnt die Vorstellung der Vorsehung den Charakter eines personalen Zwiegesprächs bzw. der Offenbarung: Der Schöpfer der Welt oder seine Engel bzw. Mittler teilen sich oder künftige Ereignisse dem Menschen im Traum mit, der sich als un- bzw. vorbewusster Erfahrungsprozess eben hierfür in besonderer Weise eignet. Unter dieser Prämisse sind Traum und Vision – im positiven Sinn – einer theologisch fundierten Auslegung zugänglich. Vorrangig dem Offenbarungsaspekt widmet sich denn auch ANDREAS LEHNARDT in seiner Darstellung der Trauminterpretationen im Judentum von der rabbinischen Zeit, die etwa 70 n. Chr. einsetzt und in deren Verlauf in bedeutendem Ausmaß auch Anregungen aus dem hellenistisch-paganen Bereich adaptiert werden, bis ins 13. Jahrhundert. Dabei berücksichtigt LEHNARDT ebenso die interne Kritik am Traum als Medium göttlicher Offenbarung, die von der bereits früh geführten Diskussion über die möglichen vermittelnden Instanzen bis hin zur Frage nach dem suggestiven Anteil des jeweiligen Deuters reicht. Zeitlich und quellenmäßig stellt der Beitrag insofern ein entscheidendes Bindeglied zwischen der griechisch-römischen und der christlichen Kultur dar. Die Frage nach der Wertung von Visionserfahrungen setzt BETTINA KRÖNUNG in ihrem Beitrag zur christlichen Literatur des 3.–7. Jahrhunderts fort. Sie zeigt, dass die Ekstase als Form der visionären Erfahrung im frühen Christentum nicht, wie häufig dargestellt wurde, ein verpöntes Randphänomen ist. Vielmehr weist sie anhand der patristischen Texte nach, dass die Perzeption transzendenter Inhalte kraft visionärer Erfahrungen als durch die biblische Tradition legitimiert betrachtet wurde und als mögliche Gotteserfahrung ein tragendes Element darstellt. Insbesondere aber verweist die monastische Literatur darauf, dass ekstatische Entrückungserfahrungen einen wesentlichen Bestandteil frühbyzantinischen Mönchtums bilden. Zugleich grenzt BETTINA KRÖNUNG das Verhältnis von Ekstase und Vision gegenüber dem Traum in der monastischen Literatur ab. Dabei arbeitet sie gegenüber Ekstase und Vision eine tendenziell negative Beurteilung des Traums heraus, der zwar auch Medium göttlicher Offenbarung sein könne, demgegenüber aber auch die Gefahr dämonischer Täuschung berge. Inwiefern das in Traum und Vision vermittelte Wissen im Einklang mit Glauben einerseits, Vernunft andererseits stehen kann, fragen – die bisherige Thematik variierend – auch SUSANNE KURZ und STEFAN SEIT in ihrem Doppelbeitrag, der sowohl philosophisch-theologische Positionen im lateinisch-christlichen Mittelalter als auch – vergleichend – im sunnitischen Islam reflektiert. Dabei zeigt STEFAN SEIT, dass auch in lateinisch-christlicher Tradition die Traum- und Visionsdeutung in der Spannung zwischen Offenbarungsglauben und rationaler Kritik abgewogen wird: Teilt sich wirklich

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Annette Gerok-Reiter

Gott dem Menschen in Traum und Vision mit oder wird der Mensch lediglich illusorisch verführt? SEIT entwickelt das Panorama dieser Diskussion aus dem Zusammentreffen von augustinisch-neuplatonisch-christlicher Tradition mit der aristotelischen Traumlehre im 13. Jahrhundert (Albertus Magnus, Boethius von Dacien), wobei auch die hermeneutisch-konzeptionellen Konsequenzen aus der augustinischen Zeichentheorie herangezogen werden (Augustinus, Johannes von Salisbury). Für die islamische Kultur arbeitet SUSANNE KURZ heraus, dass sich die skizzierte Ambivalenz nicht in derselben Weise wie für den christlichen Kontext stellt, da den Ausgangspunkt hier das Vorbild des Propheten Mohammed und die grundsätzlich unbestrittene Annahme bilden, dass Träume eine Form von Offenbarung sein können. Insofern die Traumoffenbarungen allerdings derjenigen Form von Offenbarung untergeordnet bleiben, die die Propheten im wachen Zustand empfangen haben, müssen jedoch auch hier – trotz des zurückgedrängten Ambivalenzarguments – Strategien entwickelt werden, um gerechtfertigte Traumoffenbarungen von anderen Traum- oder Offenbarungsarten zu unterscheiden, wobei die Rezeption vorislamischer arabischer Praktiken dabei ebenso eine Rolle spielt wie die Rezeption antiker Traumtheorien. Der zweite Teil „Diskussionen“ fokussiert in engerem, weitgehend christlich orientiertem Rahmen mittelalterliche Formationen des Themas in Theologie, Literatur und Politik anhand von Detailstudien. Die großen kulturellen Tableaus werden damit einerseits auf ihre Tragweite bis in Einzelaspekte hinein befragt, andererseits können von den Einzelaspekten und den zusätzlichen Disziplinen aus Facetten und Funktionen von Traum und Vision in den Blick treten, die das bisherige Spektrum produktiv ergänzen. Zunächst spezifiziert NOTGER SLENCZKA den Ansatz von SEIT, indem er Würdigung und Kritik des Traums anhand der Kommentierung der aristotelischen Schriften zum Schlaf und zum Traum durch Albertus Magnus analysiert. Dabei wird gezeigt, dass Albertus Magnus einerseits die Möglichkeit einer divinatio ex somniis, eines Wahrsagens aus Träumen, offenhält, andererseits in überraschender Verknüpfung eine durchgehende Deutung des Traums als psychischem Ausdrucksphänomen bietet. Mit dem Wechsel zu literarischen Reflexionen tritt das Nachdenken über den Erkenntnisgehalt des Traums zurück zugunsten der Darstellung des Traums und seines Wissenspotentials als narrativem Motiv. HANS ULRICH SCHMID verfolgt das Motiv des Traums in der altnordisch-altisländischen Literatur (Sagas, eddische Dichtungen, Skaldendichtungen) in seinen unterschiedlichen Funktionen und Gestaltungsweisen: In der Laxdœla Saga etwa wird das ganze Leben eines jungen Mädchens im Voraus im Traum komprimiert dargestellt. Zu den immer wiederkehrenden Techniken gehört, dass ein bevorstehendes Unheil sich in Träumen ankündigen kann. Weiter können Träume als Mittel dienen, die einem Handlungsablauf immanente Spannung und Dramatik zu erhöhen wie etwa in den Traumschilderungen der Saga von Gisli Súrsson, oder sie unterstützen die spezifizierende Ausgestaltung des handelnden Personals wie bei Högni und Gunnar in den Grönländischen Atlamál.

Einleitung: Zwischen den Welten

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Auf einen ganz anderen literarischen Funktionszusammenhang verweist RUDOLF VOSS in Bezug auf den mittelhochdeutschen Minnesang, religiös inspirierte Lieder und Spruchdichtung. Vor allem an den Autoren Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide arbeitet er Formen der Traumdarstellung, der Vision und Imagination als Varianten der Konstruktion innerer Wahrnehmung heraus und verweist damit auf das anthropologisch differenzierende sowie das poetologische Potential des gesamten Motivbereichs. Politische Träume und Visionen im Mittelalter, die sich auf konkrete politische Ereignisse und Strukturen beziehen, diese bewerten oder beeinflussen wollen, stehen im Beitrag von ERNST-DIETER HEHL im Zentrum des Interesses. Die Darstellung verfolgt unter drei Aspekten die jeweilige Verknüpfung von Traum bzw. Vision zur Realpolitik: Zunächst wird eine politische Ereigniskette vorgestellt, in der Visionen zwar zunächst eine Krisenlösung herbeiführen, jedoch schließlich von der weiteren Entwicklung ,überholt‘ und dadurch obsolet werden. In einem zweiten Schritt geht es um Träume und Visionen, die eine grundsätzliche Zeitkritik in politischer Hinsicht implizieren bzw. der Bindung der politischen Gewalt an ein Ideal dienen. Abschließend werden Träume und Visionen als Mittel historiographischer Sinnkonstruktion in Bezug auf ideale Herrscherbilder diskutiert. Anschlussstellen an die neuzeitliche Diskussion im Übergang von Vormoderne und Moderne zeigen die abschließenden Beiträge des dritten Teils unter dem Titel „Perspektiven“ auf. Sie können selbstverständlich nur einzelne Hinweise geben, versuchen aber durch ihre Auffächerung in medizinhistorischer, anthropologisch-philosophischer, literarisch-gesellschaftlicher und psychologisch-politischer Hinsicht vier paradigmatische Fortschreibungen zu eröffnen. Zunächst analysiert WOLFRAM SCHMITT Vision, Halluzination und Melancholie in Abgrenzung zum Traum aus medizinhistorischer Sicht. Anknüpfend an die bisherigen Ergebnisse kann zwar konstatiert werden, dass Träume ebenso wie Visionen und Halluzinationen im Lauf der Geschichte medizinisch und religiös verstanden worden sind. So werden in den Krankheitsbildern der Melancholie und ihrer religiösen Deutung, der Acedia, Sinnestäuschungen insgesamt stets als integrierter Teil des Erlebens beschrieben. Von hier aus können jedoch unterschiedliche Deutungspraktiken verfolgt werden. Während im Kernbereich der Melancholie Halluzinationen krankhafte Erscheinungen waren, galten Träume und Visionen im Konzept der Acedia und in religiöser Sicht als übernatürliche Ereignisse. Erst in der Moderne seit dem 18. Jahrhundert werden auch Visionen und visionäre Träume zunehmend pathologisiert, eine Einstellung, die aus gegenwärtiger psychiatrischer Sicht wiederum zu differenzieren, wenn nicht zu revidieren ist. MATTHIAS VOLLET markiert in seinem Beitrag eine wesentliche Umcodierung der Wertehierarchie von Realität und Traum gegenüber mittelalterlichen Kulturen, insofern nicht mehr der Status des Traums, sondern – von der suggestiven Überzeugungskraft und bildlichen Plastizität des Traums aus – nun der Status der Wachwelt zur Debatte steht. D. h. die Wirklichkeit wird vom Traum her nicht mehr offenbart, korrigiert oder

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getäuscht, sondern in ihrem Anspruch einer erhöhten oder eigentlichen Realität in Frage gestellt. Traum und Leben lassen sich damit nicht mehr gültig unterscheiden. Damit wird die Frage, ob wir träumen oder leben, zum neu akzentuierten, nicht mehr transzendental, sondern anthropologisch und existentiell ausgerichteten Problem. VOLLET führt aus, dass die Frühe Neuzeit bzw. der Barock diesem Problem in besonderer Weise zugetan sind. So verfolgt er das Problem einerseits an Descartes Schriften Discours de la méthode und Meditationes de prima philosophia; andererseits in der Figur des desengaño, der Ent-Täuschung, in der spanischen Literatur, insbesondere in Calderóns La vida es sueño. Nach der Umdeutung der Traumdeutung zur Existenzdeutung und der Verschiebung der Metaphorik des Traums zur Beschreibung der flüchtigen conditio humana zeigt RAINER GOLDT einen weiteren Weg in die Moderne auf: Die Rezeption mittelalterlicher Erzählstoffe erfolgt als Umwandlungsprozess von Legenden in den Status gesellschaftlicher Utopien, die zugleich den Status ,mythischer Träume‘ annehmen. Der Beitrag fokussiert die Legende von der Stadt Kitež, die sich der Überlieferung des sog. ,Kitežer Chronisten‘ zufolge beim Mongolensturm 1239 unversehrt auf dem Grunde des Sees Svetlojar verborgen haben und erst am Jüngsten Tage wieder sichtbar werden soll. Bis dahin sei es nur reinen Seelen gegeben, in der Nacht der Sommersonnenwende die Stadt und ihr Glockenläuten visionär wahrzunehmen. Angeregt durch den Schriftsteller Mel’nikov-Pečerskij setzte seit 1854 eine in russischer Literatur und Kunst rege ausgestaltete Rezeption des Stoffs als Vision des ,wahren‘, d. h. vorpetrinischen und damit vormodernen Russlands ein, die sich bis ins 21. Jahrhundert hält. Die Legende mutiert zum ,mythischen Traum‘, der nunmehr keinem Schlafzustand und keiner Zukunftsaussage mehr zuzuordnen ist, sondern eine ideale, durch ihre Vergangenheit zugleich unerreichbare Welt symbolisiert. Den Zusammenhang von Traum und Gesellschaftsentwurf verfolgt auch ALFRED KROVOZA, nicht jedoch von literarischen Rezeptionsstrategien ausgehend, sondern von der modernen Psychoanalyse in der Tradition Sigmund Freuds. Wurde im ersten Beitrag ein Zeitfenster in die Antike geöffnet, wird im abschließenden Beitrag somit ein Brückenschlag in die moderne wissenschaftliche Traumforschung versucht, insofern diese über weite Strecken psychoanalytische Traumdeutung ist. Traumdeuter aller Zeiten seit Artemidor haben dem in vielen Traumdokumenten hervortretenden Zusammenhang von Traum und Gesellschaft Rechnung zu tragen versucht. Und doch scheint kein Weg vom Traum zur Gesellschaft und keiner von der Gesellschaft zum Traum zu führen, hat man das ,Gründungsdokument‘ der Freudschen Theorie und der Psychoanalyse, die Traumdeutung (1900), vor Augen. KROVOZA arbeitet heraus, dass sich ein solcher Weg durchaus erkennen lässt. Die ,Werkmeister des Unbewußten‘, wie Freud sie in seinem opus magnum nennt, steuern, so die These des Beitrags, auf diffizile Weise den gesellschaftlichen Lebensprozess und übernehmen damit zumindest partiell eben jene Funktion, die in den antiken Quellen als Vorsehung, in jüdischer, byzantinischer, christlich-lateinischer oder islamischer Tradition als prophetische Offenbarung vorgestellt wurde.

Einleitung: Zwischen den Welten

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Aufgabe des Bandes ist es, die mittelalterliche, christlich-lateinisch geprägte Diskussion um Traum und Vision in ihrer internen Diversität, zugleich als Umschlagsort und Schmelztiegel unterschiedlicher vorgängiger und nachfolgender sowie außerchristlicher Traumtheorien und -funktionalisierungen deutlich zu machen. Hervortreten kann in der Vielfalt der Perspektiven der Vormoderne, in welchem Maß eine Geschichte von Traum und Vision nicht erst in der Neuzeit und schon gar nicht erst mit Freud, sondern bereits in der Vormoderne als „permanentes Wechselspiel“ von „Mythologie und Enthüllung“ zu begreifen ist.17 Ja, die wechselhafte Korrelation zwischen den Phänomenen von Traum und Vision, verstanden als vorrationalem ,dichtem‘ Geheimnis, und dem Versuch ihrer wissensanalytischen Entzauberung scheint, so zeichnet sich im Geflecht der Kulturen ab, ebenso alt zu sein wie das Phänomen von Traum und Vision selbst. Der besondere Dank geht – auch im Namen von Christine Walde – an alle redaktionellen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bandes: insbesondere an Susanne Borgards, weiter an Daniel Groß, Franziska Hammer, Claudia Lauer und Franziska Ziep sowie Myriam Bittner und Kristin Maier, schließlich auch an den Verlag für seine vorbildliche Betreuung. Tübingen, im Sommer 2011

17 ALT (Anm. 9), S. 16.

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Teil I: Traditionen

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Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike oder vom Zwang, Träume zu deuten 1.

Prämissen

In der griechisch-römischen Antike begegnen wir einem Umgang mit dem Traum, mit dem unser modernes (wissenschaftliches) Traumverständnis scheinbar nicht mehr viel zu tun hat und eher in den volkstümlichen und esoterischen Diskursen weiterzuleben scheint. Denn man wird die antike Traumdeutung häufig gleichsetzen mit ‚Wahrsagekunst‘, also mit einer Form von mehr oder minder intelligenter Scharlatanerie. Diese Fehleinschätzung beruht jedoch einerseits auf unreflektierten Vorurteilen, die auf mangelnde Informiertheit zurückgeführt werden können; andererseits bekommt diese Einschätzung zusätzlich dadurch Nahrung, dass noch der modernen psychoanalytischen Traumforschung das Odium des Spekulativen anhaftet.1 Diese Problemlage ergibt sich zwar immer mit einer gewissen Zwangsläufigkeit, wenn man sich mit anderen Kulturen als der eigenen beschäftigt, aber sie tritt in potenzierter Form auf, wann immer man sich wissenschaftlich mit ‚Traum‘ und ‚Traumdeutung‘, also mit Phänomenen einer halluzinierten ‚Realität‘ und deren Deutung, beschäftigt und man insofern eher selten die materielle Kultur heranziehen kann. Insofern ist es indiziert, vor einem Überblick über die wichtigsten Traumdiskurse der Antike und einer näheren Betrachtung des Traumdeuters Artemidor einige allgemeine Überlegungen zu diesem schwierigen Problemkreis, die auch für eine Betrachtung des Traums im Mittelalter oder in anderen Kontexten Geltung haben, voran zu schicken. (1) Da jeder Mensch träumt (und schläft), haben wir es mit einem Phänomen zu tun, dem sich jeder und jede schon als (vermeintliche/r) Spezialist/in nähert. So wird eine Beschäftigung mit Traum und Träumen schnell zur Selbsterfahrung: Unweigerlich wird man (noch intensiver) auf sein eigenes Traumerleben achten. Da man sozusagen 1

Hier ist natürlich in erster Hinsicht die Psychoanalyse Freuds die Zielscheibe. Um sich ein Bild von dieser unheilvollen Verknüpfung der antiken Traumdeutung und der Psychoanalyse zu machen, vergleiche man z. B. die anti-Freudianische Haltung von SIMON R. F. PRICE: The Future of Dreams. From Freud to Artemidorus. In: Past and Present 113 (1986), S. 3–37. Diese Haltung nimmt er aber in seiner revidierten und erweiterten Version (In: Studies in Ancient Greek and Roman Society. Hrsg. von ROBIN OSBORNE, Cambridge 2004, S. 226–259) zurück, weil er nun die historische Bedingtheit und Perspektivität beider Traumdeutungsmethoden anerkennt.

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seine eigene Kontrollgruppe ist (und dies in diesem Fall sogar einen hohen heuristischen Wert haben kann), kommt, gerade wenn man sich anderen Kulturen oder Epochen zuwendet, schnell die Gefahr von interpretativen Kurzschlüssen auf. Da jeder seine eigene Vorstellung von ‚Traum‘ und vor allen Dingen ‚Traumhaftigkeit‘ haben wird, tut eine Definition Not, was man genau unter einem Traum zu verstehen hat. Nur so kann sichergestellt werden, dass man zu trennscharfen Ergebnissen gelangt, ist es doch nicht ausgemacht, dass alle Kulturen unter ‚Traum‘ dasselbe Phänomen meinen – falls es überhaupt eine trennscharfe Terminologie gibt, was die Einschätzung von Testimonien zum Traum sehr erschwert: Ich schlage vor, hier die schlichte und gerade deshalb hilfreiche Definition der experimentellen Traumforscherinnen STRAUCH und MEIER2 zu übernehmen, die den Traum als „Erleben während des Schlafens“ definieren. Diese Definition hat den Vorteil, dass sie ähnliche Phänomene wie Tagtraum und Wachvisionen erst einmal ausschließt und dass sie nicht hergestellt wird über sekundäre, wenn nicht tertiäre Eigenschaften von Traumbildern wie z. B. Traumhaftigkeit im Sinne von ‚Nicht-Realität‘ oder ‚Phantastik‘. In der Tat zeigen Visionen oder Tagträume, wenn nicht selbst die Wahrnehmung im Wachen, ähnliche Charakteristika, auch wenn man diese Phänomene und den Traum in einem ersten Schritt trennscharf voneinander unterscheiden kann (und sollte). Diese Vorbehalte mögen vielleicht unnötig erscheinen, doch ein Blick in Anthologien literarischer Traumtexte zeigt, dass zu einem großen Teil nur Passagen ausgewählt werden, die einer bestimmten Vorstellung von Traumhaftigkeit im Sinne von ‚Bizarrheit‘, ‚Phantastik‘ oder gar ‚Übersinnlichkeit‘ entsprechen. Gerade im Falle der griechisch-römischen Antike wird oft eine Auswahl gegen die Empirie der überlieferten Traumtexte getroffen: Auch wenn es Traumdarstellungen und auch Traumerzählungen gibt, die klar zeigen, dass auch die antiken Menschen die Traumbilder mit entsprechenden Merkmalen wie ‚Bizarrheit‘ oder ‚Abweichung von der Erfahrung des Wachlebens‘ belegen konnten, lassen sich kulturell bedingte stereotypisierte Erzählungen erkennen, die sich eher durch eine Nähe zu den Gedanken des Wachens auszeichnen. Die Träume, in denen ein ‚Bote‘, also eine göttliche bzw. menschliche Autoritätsfigur, dem Träumer eine mehr oder minder unverschlüsselte, vielleicht aber unerwartete Nachricht überbringt, sind entweder überhaupt nicht oder sehr vermittelt bizarr.3 Gerade die Nähe zur Wachwelt verleiht diesen Träu2

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INGE STRAUCH / BARBARA MEIER: Den Träumen auf der Spur. Ergebnisse der experimentellen Traumforschung, Bern 1992 (2., vollst. überarb. und erg. Auflage 2004). Eine andere (letztlich ebenso schlichte) Definition bietet MICHAEL SCHREDL: Traum, München, Basel 2008, S. 9: „Definition: Traum ist die psychische Aktivität während des Schlafes. Definition: Der Traum oder Traumbericht ist die Erinnerung an die psychische Aktivität während des Schlafes“. Diese Definition hat den Vorteil, dass sie die Nachträglichkeit des Traumberichts berücksichtigt. STRAUCH / MEIER stellen hingegen den Erlebnischarakter in den Vordergrund. Urbild all dieser Träume ist der Trugtraum des Agamemnon in der Ilias Homers (II 1–83), in dem der Traumbote in Gestalt des weisen Nestor dem Feldherrn rät, die Entscheidungsschlacht um Troia zu beginnen, was er auch ohne Nachdenken umsetzt.

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men von der Warte der Träumenden aber Glaubwürdigkeit, weil sie eine Deutung im Kontext der eigenen Lebenswelt zulässt. (2) Es lassen sich neben der Standarddefinition des Traums als eines „Erlebens während des Schlafs“ weitere Charakteristika ausmachen: Den Traum als Wahrnehmungs- oder Denkmodus zeichnet während des Traumvorgangs eine radikale Subjektivität aus, wie schon der Vorsokratiker Heraklit postulierte: Jeder Mensch, der träume, begebe sich in einen nur ihm erfahrbaren Kosmos, einen idios kosmos.4 Träume können nur vom Träumer während des Traums in vollem Umfang wahrgenommen werden, doch bleibt mit dem Aufwachen lediglich die Erinnerung, die mit sprachlichen oder bildlichen Hilfskonstruktionen umgesetzt werden muss, ohne dass der Traum in seiner Gesamtheit nachvollziehbar oder abbildbar wäre. Man könnte die Traumerzählungen als alltägliche Selbstfiktionalisierung bezeichnen, denn ein Mensch, der einen seiner Träume berichtet, erzählt über sich wie über einen anderen, über einen Dritten.5 (3) Umgekehrt wird jeder, der träumt, bestätigen können, dass die Träume dennoch in ebenso radikaler Weise auf die Lebenswelt des Träumers bezogen sind (oder zwangsläufig auf diese bezogen werden), ihnen also eine extreme Weltverhaftetheit zu eigen ist. (4) Genau diese Konstellation der Subjektivität und Nichtvermittelbarkeit führt zu der zentralen Überlegung, welche methodische Position zu Traum und Traumerzählung die ‚Deutung‘ eines Traumes oder auch nur das Reden über den Traum einnimmt. Jede Kultur oder Zeit hält hier andere Lösungsversuche bereit. Selbst in der heutigen Zeit, in der man den Traum auf ein neurophysiologisches Phänomen reduzieren will, scheint es weiterhin eine Ahnung zu geben, dass Traumbilder eine tiefere Bedeutung haben könnten.6 Zudem ist es der modernen Traumforschung bisher nicht gelungen, das Geheim4

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Heraklit, Fragment 89 (DIELS / KRANZ): „[Heraklit sagt,] im Wachzustand hätten alle eine einzige und allen gemeinsame Welt, im Schlafe aber drehe jeder einzelne in seine eigene Welt ab“ (Übersetzung nach JOACHIM LATACZ: Die griechische Literatur in Text und Darstellung: Archaische Epoche, Stuttgart 1991, S. 565). Vgl. die Aufzeichnung von PETER HANDKE: Gestern unterwegs: Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990, Frankfurt a. M. 2007, S. 36: „Der Erzähler in den Träumen, der Traumerzähler – immer mehr erlebe ich die Träume zugleich als etwas mir Erzähltes –, fragt nie, er sagt nur, erzählt, verkündet (ja), sagt, und das ohne Unterlaß, ein wenig wie ein Nachrichtensprecher, im selben Tonfall für Katastrophen und Hochzeiten, nur so schön sinnlos (16. Dez. 1987, Thessaloniki)“. Dazu z. B. INGE STRAUCH: Traum, Frankfurt a. M. 2006, S. 101f., die eine repräsentative Befragung des Demoskopischen Instituts in Allensbach referiert, nach der 53 % der Befragten eine Zukunftsschau im Traum für möglich hielten. Die Dominanz der neurowissenschaftlichen Welterklärung wird m. E. in unserer zeitgenössischen Gesellschaft nur sehr vage wahrgenommen und möglicherweise eher mit einem Turn ins Private oder ‚Esoterische‘ beantwortet. Ein Blick in die Buchläden zeigt, dass Bücher zu Schlaf, Traum und Traumdeutung (wieder?) boomen. Den Eindruck, dass Träume einen Sinn haben können, wird man den Menschen auch im Zeitalter höchster Technologien nicht ausreden können, auch wenn diese Suche nach Sinn oft erst einmal als amüsantes Gesellschaftsspiel betrieben wird.

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nis der nächtlichen Bilder und Vorstellungen gänzlich zu enthüllen. Die renommierte Zürcher Traumforscherin INGE STRAUCH konstatiert in ihrer populären Einführung in die moderne Traumforschung, dass die Übertragung eines Traumerlebnisses in einen verbalen Bericht mit Auslassungen und Veränderungen einhergehen, die es überaus erschweren, für einen bestimmten Zeitpunkt ein Körpersignal einem psychologischen Ereignis zuzuordnen. In Bezug auf das Träumen ist daher der Brückenschlag zwischen Körper und Seele noch nicht gelungen.7

Naturwissenschaft bzw. rationale Ätiologie und Hermeneutik der Traumdeutung können also nicht zusammengebracht werden. Das gleiche Dilemma zeigt in anderer kultureller Ausprägung die griechisch-römische Antike. In ihr sind die ersten naturwissenschaftlich-medizinischen Ansätze der Traumerklärung zu finden, sie hat aber auch der Auffassung von der Bedeutung von Träumen (welcher Form auch immer) wesentliche Impulse gegeben. Hier hat sich ein für diese Zeit taugliches Modell von Deutungsperspektiven und -methoden entwickelt, doch haben sich im Westen Europas viele der Erkenntnisse im ‚offiziellen‘ Diskurs nicht von der paganen in die christlich dominierte Zeit retten können, weil die Divinationskünste, die in der Antike mit für den heutigen Betrachter oft befremdlicher wissenschaftlicher Exaktheit betrieben wurden, alle samt und sonders mit einem christlichen Verbot belegt wurden.8 Dass dieses Verbot die Praxis der Traumdeutung nicht auslöschen konnte und diese gleichsam in ihrem Anspruch (scheinbar) abgesenkt als ‚Volkstraumdeutung‘ weiterlebte, um in der Renaissance teilweise (wieder) rehabilitiert zu werden,9 ist letztendlich einer der Gründe, warum die Traumdeutung heute so ein schlechtes Renommee hat. Gerade ein interdisziplinärer, zeiten- und kulturübergreifender Ansatz macht aber andere, nicht minder wichtige Tradierungswege sichtbar, etwa den arabischen Überlieferungsstrang (die arabische Übersetzung einschlägiger griechischer Traumtexte),10 die der antiken Traumdeutung eine gänzlich andere, weniger vorurteilsgeladene Position als die der christlichen Auffassung beimisst.

7 STRAUCH (Anm. 6), S. 89. 8 Siehe MARIE THERES FÖGEN: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt a. M. 1993. 9 Vgl. etwa Hieronymus Cardanus, der im 16. Jh. auf der Grundlage der antiken Traumdeutung zu einem neuen Verständnis von Traum und Traumdeutung durchzudringen versuchte. Zu den vielstimmigen Kontexten von Traum und Traumdeutung in der frühen Neuzeit siehe auch: Traum und „res publica“. Traumkulturen und Deutungen sozialer Wirklichkeiten im Europa von Renaissance und Barock. Hrsg. von PEER SCHMIDT / GREGOR WEBER, Berlin 2008 (Colloquia Augustana 26). 10 Vgl. z. B. ROGER A. PACK: On Artemidorus and his Arabic Translator. In: Transactions and Proceedings of the American Philological Association 98 (1967), S. 313–326. Siehe auch den Beitrag von SUSANNE KURZ und STEFAN SEIT in diesem Band, S. 91–130.

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(5) Eine Rekonstruktion der Traumdiskurse anderer Zeiten und Kulturen bedeutet, einen Blick in den Spiegel der Alterität und Identität zu werfen.11 Zum Beispiel sind die griechisch-römischen Traumdeutediskurse von den unsrigen teils gänzlich verschieden, teils lassen sich doch wieder ‚überkulturelle‘ Konstanten erkennen: Oft findet man das Reden über den Traum in den gleichen Bereichen wie heute, an der Schnittstelle zwischen Psyche und Körper, in Religion und Medizin, gleichwohl aber durch den Kontextwechsel in einer gänzlich anderen Phänomenologie. (6) Ausgangspunkt aller antiken, wohl aber eigentlich aller Traumdiskurse ist einerseits der hohe Realitätsgehalt von Traumbildern, der den aufgewachten Träumer an der Tauglichkeit seiner Sinne und seines Verstandes zweifeln lässt: Die Als-ob-Handlung des Traumes kann eindrücklicher und realistischer sein als eine Handlung im Wachen. Insofern war die Grenze zwischen dem Traum, also der halluzinatorischen Realität, und der Realität des Wachens zuweilen schmal. Hier spielte auch die Empirie eine wichtige Rolle: Der römische Epikureer Lukrez z. B. schildert in expressiver Weise, dass erotische Träume dieselben psychischen und physischen Folgen haben können wie entsprechende Aktivitäten und Erlebnisse im Wachen.12 Andererseits bieten Träume dadurch, dass sie eine Diskontinuität zur Wachwelt bilden, Anlass zum Nachdenken: Denn obwohl ein gänzlich eigenes Produkt der Träumer, sind sie diesen selbst deutungs-/erklärungsbedürftig. Diese Diskrepanz von Fremdheit und Vertrautheit versucht man in der Antike wie in unserer Zeit durch verschiedene Theorien der ‚Deutung‘ zu schließen. (7) Zentral für ein angemessenes Verständnis der antiken Auffassungen13 von Träumen und Traumdeutung ist der Vorbehalt, dass man es mit einer fremden Kultur zu tun hat und man deshalb nicht von vornherein damit rechnen darf, diese Kultur uneingeschränkt zu verstehen.14 Sicher ist man aufgrund der Tatsache, dass das Träumen ein universales Phänomen zu sein scheint, das Menschen und höhere Säugetiere gemeinsam haben und von daher mit bestimmten wiederkehrend auftretenden Charakteristika verbunden ist, schnell geneigt, nur das Ähnliche zu erkennen oder gar nur er11 Zu Traumdiskursen in den verschiedenen Kulturen siehe: Dream Cultures. Explorations in the Comparative History of Dreaming. Hrsg. von DAVID SHULMAN / GUY G. STROUMSA, New York 1999. Zu der Problematik, wie Träume in anderen Kulturen zu erforschen oder zu beurteilen sind, siehe ULRICH AHRENS: Fremde Träume. Eine ethnopsychologische Studie, Berlin 1996 (Krankheit und Kultur 8). 12 Lukrez, De rerum natura IV 962ff. 13 Natürlich kann man weder für die eng verbundenen Kulturen in Griechenland und Rom ein einheitliches Traumverständnis postulieren noch für alle historischen Phasen Roms oder Griechenlands ein unveränderliches. Gerade in dieser Hinsicht wäre noch viel zu erforschen. Eine differenzierte Sicht bietet der gerade erschienene Sammelband, der den Traum in den verschiedenen Modi menschlicher Bildproduktion zu verorten sucht und dabei den Schwerpunkt auf Rom legt: Sub imagine somni. Nighttime Phenomena in Greco-Roman Culture. Hrsg. von EMMA SCIOLI / CHRISTINE WALDE, Pisa 2010. 14 Sehr gut dazu generell AHRENS (Anm. 11).

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kennen zu glauben. Der Untersuchende muss von vornherein akzeptieren und reflektieren, dass er selbst in einer bestimmten geistesgeschichtlichen Tradition steht, und versuchen – zumindest in der wissenschaftlichen Arbeit – davon zu abstrahieren. Eine systematische Aufarbeitung der antiken Quellen darf nicht intentione recta von einer Rückprojektion der modernen, etwa der psychoanalytischen Traumdeutung (oder deren Ablehnung) geprägt sein, da so möglicherweise Eigenheiten übersehen werden, die sich diesem Interpretationsziel nicht fügen. Insofern muss man jede ‚ideologische‘ Inanspruchnahme wenn nicht vermeiden, so doch wenigstens sich bewusst machen, etwa auch die Tatsache, dass die abendländische Kultur mit der Vorrangigkeit von Vernunft, Rationalität und Realitätskontrolle den Traum letztlich immer wieder zum Anti-Phänomen stilisiert und auch alle Formen der Mantik, zu der die Traumdeutung schließlich zu rechnen ist, als irrational brandmarkt. Die antiken Traumdiskurse wurden jedoch dem Phänomen ‚Traum‘ in sehr umfänglicher, ihrer Zeit angemessener Weise gerecht. Genau vor diesem ihrem eigenen Zeithorizont müssen sie auch betrachtet werden, ohne dass von vornherein moderne Maßstäbe angelegt werden. Um überhaupt zu einer angemessenen Betrachtung zu gelangen, müssten jedoch erst einmal die einschlägigen Testimonien so vollständig wie möglich gesammelt werden. Die mit dem Unterfangen der Rekonstruktion des antiken Traumverständnisses verbundenen Schwierigkeiten und Widrigkeiten sind allerdings nicht gering, angefangen von der Frage, was hier als einschlägiges Zeugnis zu gelten habe.

2.

Zeugnisse der antiken Traumdiskurse: Problematik und Kontext

Es gibt zu Schlaf, Traum und Traumdeutung ausgesprochen viele antike Zeugnisse, da diese Phänomene in verschiedensten Bereichen eine zentrale Rolle spielten. Dass diese bisher weder systematisch gesammelt noch ausgewertet wurden, liegt darin begründet, dass sie – wissenschaftlich gesehen – in unterschiedliche Kompetenzbereiche fallen. Deshalb sind gerade ‚Traum‘ und ‚Traumdeutung‘ der prädestinierte Gegenstand fächerübergreifender Zusammenarbeit. Bei den Zeugnissen ist zu trennen zwischen denjenigen zu den Traumdeutediskursen und Traumerzählungen realer Menschen, die – aus welchem Anlass auch immer – ihre Nachtgesichte der Schriftlichkeit anvertraut haben. Während es zahlreiche Testimonien zu den Deutediskursen gibt, herrscht in Bezug auf ‚reale‘ Träume der Zustand eines schönen Bedauerns. Auch wenn am Anfang des 5. nachchristlichen Jahrhunderts der Traumexperte Synesios das Führen von ‚Nachtbüchern‘ empfiehlt, um die Traumerlebnisse, die doch einen großen Teil unseres Lebens ausmachen, z. B. als Anregungen für literarische Werke präsent zu halten, haben wir ausgesprochen wenige Traumerzählungen aus der Feder der Träumenden selbst überliefert. Eine der Ausnahmen ist Cicero, der seinen Bruder im ersten Buch von De Divinatione Träume, die er – Cicero

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– während seines Konsulats hatte, referieren lässt, falls es sich hierbei nicht um literarische Fiktion handelt (wobei, wie angemerkt, die Grenze zwischen Traumerzählung und Fiktion ohnehin schwer zu ziehen ist). Weitere Ausnahmen bilden (gleichwohl stereotypisierte) Inschriften, in denen Träumer oder Träumerinnen von gesundheitsstiftenden Nachtgesichten berichten, die sie zur Weihung einer Opfergabe an Asklepios oder andere Götter veranlasst haben.15 Eine funktional aus diesen sogenannten Iamata hervorgehende literarische Weihegabe liegt in den Heiligen Reden (Hieroi logoi) des im 2. nachchristlichen Jahrhundert lebenden Redners Aelius Aristides vor, der zum Lobpreis des Asklepios, der ihm während einer 17 Jahre dauernden Krankheit zur Seite gestanden hatte, zahlreiche seiner Träume aufgeschrieben hat.16 Wegen der weitgehenden Absenz realer Traumberichte müssen wir heute mit den zahlreichen Traumerzählungen in der antiken Literatur vorlieb nehmen. Erwartungsgemäß finden sich die ältesten Belege für Traumerzählungen und Deuteszenen schon in den Homerischen Epen. Die Nachtgesichte von Agamemnon, Achilleus, Penelope und Nausikaa wurden zu produktiven Mustern für Traumdarstellungen in Dichtung und Prosa bis in die heutige Zeit.17 Doch haben trotz des offensichtlichen Traditionsbezuges auch die einschlägigen Passagen in der attischen Tragödie und später in der römischen Literatur (etwa bei Vergil, Properz und Lucan) ihren je eigenen Reiz. Da die griechisch-römische Literatur im europäischen kulturellen Imaginaire hoch besetzt ist, sind all diese literarischen Traumdarstellungen ein wichtiger Bestandteil unseres impliziten Traumwissens. Sie beschreiben einfühlsam die Empirie der Traumerfahrung, z. B. die Dezentrierung des Ichs, das nach dem Aufwachen kaum noch zu sich findet, weil es sich im Traum als jemanden völlig anderen erlebt hat.18 In den Erzähl- und Deutesituationen hingegen wird der Traum als ein primär soziales Phänomen vorgeführt und die Macht thematisiert, die ein Traumbild über den Träumer und seine Umgebung gewinnen kann. Ein besonders eindrückliches Beispiel ist der Traum der Klytaimestra in Aischylos’ Choephoren, den andere als die Träumerin, nämlich ihre Kinder, deuten und daraus die Legitimation für den Muttermord ziehen.19 Im Gegensatz dazu sind die Testimonien über die Auseinandersetzung mit der Bedeutung und Deutbarkeit der Träume nicht nur in der Literatur zu finden, die jenseits 15 Dazu GIL H. RENBERG: Dream-Narratives and Unnarrated Dreams in Greek and Latin Dedicatory Inscriptions. In: SCIOLI / WALDE (Anm. 13), S. 33–62. 16 Dazu z. B. PAUL ANDERSON / BENGT-ARNE ROOS: On the psychology of Aelius Aristides. In: Eranos 95 (1997), S. 413–421; CHRISTINE WALDE: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung, Düsseldorf, Zürich 2001, S. 52–105. 17 Dazu CHRISTINE WALDE: Die Traumdarstellungen in der griechisch-römischen Dichtung, München, Leipzig 2001. 18 Vgl. z. B. den Traum der Ilia in den Annales des Ennius, wo die Träumerin kaum wieder in die Realität zurückfindet (dazu WALDE [Anm. 17], S. 219–228). 19 Dazu WALDE (Anm. 17), S. 105–125.

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ihres eigenen Beitrags die anderen Diskurse als Material verwendete, vielmehr spielte die Deutung von Träumen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen eine Rolle, die alle bei der Formierung der Traumtradition, wie sie auf uns gekommen ist, mitwirkten. Der vielstimmige Chor über Träume und Traumdeutung in Religion, Medizin, Literatur, Philosophie, säkularisierter Traumdeutung und volkstümlichen Auffassungen oder Magie ist gerade das hervorragende Charakteristikum der griechisch-römischen Antike. Die Beschäftigung mit der Deutbarkeit und Deutung von Träumen umfasste zudem alle gesellschaftlichen Schichten, changierend von volkstümlicher Traumdeutung zu philosophischer Oneirologie.20 Im Folgenden seien nur einige Beispiele genannt: In der Religion findet sich eine Verbindung von Traum und Krankheit in der schon erwähnten Inkubationspraxis, also dem Tempelschlaf. Man versuchte, vermittels der Träume mit dem Heilgott Asklepios (oder anderen göttlichen ‚Spezialisten‘) in Kontakt zu treten: Konturen gewinnt diese Praxis für uns durch zahlreiche Inschriften oder Darstellungen in Reisebüchern, besonders aber durch die Hieroi logoi des Aelius Aristides. Dieser Zeitgenosse des Kaisers Marcus Aurelius, des Arztes Galenos und des Traumdeuters Artemidor beschreibt in den Heiligen Reden sein Leben in Krankheit und in Träumen, das von seinem tiefen Glauben an die Hilfe des Asklepios dominiert war. Bemerkenswert ist, dass er bei dieser Auseinandersetzung mit seinen Träumen zu einer sehr individuellen Form der Selbstbeobachtung und Selbstdeutung gelangt und hierbei die Grenze zwischen bedeutungsvollem Traum (im Sinne der Inkubation) und den allnächtlich auftretenden Nachtgesichten verschwimmt. In der Medizin hingegen, die über weite Strecken der Antike in Sichtweite zum Asklepios-Kult arbeitete, wurde der Versuch unternommen, eine Verbindung zwischen Traum und Gesundheitszustand herzustellen. Hier erscheint die Traumdeutung als Teilbereich der Diagnostik und Diätetik. Mit großer Selbstverständlichkeit wurden auch die Traumbilder der Patienten in die Anamnese einbezogen und etwa in Rekurs auf die Humoralpathologie gedeutet.21 In der Philosophie hingegen wurden vordringlich zwei Problemkreise traktiert,22 zum einen die Frage nach der Traumentstehung und Empirie des Traumerlebens und damit nach der Sinneswahrnehmung und der IchKonstituierung im Allgemeinen, zum anderen die Frage nach der Möglichkeit oder 20 Hier wird in der Tat noch einmal zwischen Griechenland und Rom zu unterscheiden sein. Zu der Figur des Traumdeuters siehe die Studie von BEAT NÄF: Traum und Traumdeutung im Altertum, Darmstadt 2004. 21 Der wichtigste Referenztext ist die pseudo-hippokrateische Schrift Peri diaites (ca. 4. / 3. Jh.), in der bestimmte Traumbilder und Körperzustände korreliert werden und somit der Traum zum Diagnosemittel avanciert. Einen Überblick über die medizinische Traumnutzung bietet STEVEN M. OBERHELMAN: Dreams in Graeco-Roman Medicine. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung. Hrsg. von WOLFGANG HAASE / HILDEGARD TEMPORINI, Berlin, New York 1994 (ANRW II 37.2), S. 121–156. 22 Zum Traum in der Philosophie (speziell zum Verhältnis von Traum und Wirklichkeit) siehe neuerdings die umfassende Studie von PETRA GEHRING: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt a. M., New York 2008.

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

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Notwendigkeit von Traumdeutung. Gerade diese Frage verbindet die Philosophie aber mit dem entscheidenden Traumdiskurs der Antike, nämlich mit der Traumdeutung im Rahmen der Mantik, wo Traumdeutung im weitesten Sinne Deutung der eigenen Existenz ist.23 Mantike, etymologisch zusammenhängend mit mantano, d. h. „erfahren“, „begreifen“, ist die Kunst und Lehre des Zeichenlesens, das CARLO GINZBURG in einem anderen Kontext als ein schwer zu definierendes wissenschaftliches Paradigma beschrieben hat.24 In Gestalt der modernen Semiotik haben wir, und das wäre genauer zu untersuchen, unter Umständen einen der antiken Mantik entsprechenden Wissensoder Erklärungsansatz. Platon klassifizierte durch Mantik erworbenes Wissen als minderwertiges Wissen, da man zu ihm durch Intuition gelange, nicht aber durch rationalitätsgesteuertes Nachdenken. Der Mantis, also auch der Traumdeuter, rangiert weit hinter dem Philosophen; Platon verbannt wegen der Möglichkeit zum Missbrauch die Mantik und damit auch die Traumdeutung aus seinem Idealstaat: ein folgenschweres Verdikt, das die Mantik gleichzeitig als gefährliche Gegnerin des Rationalismus markiert. Diese Vorwürfe werden bis heute von den Verächtern von Traum und Traumdeutung fortgeschrieben. Dabei wäre zu bedenken, dass die Beschäftigung mit dem Traum, auch im Sinne von Traumdeutung und ihrer Kritik, in der griechisch-römischen Antike in einem einheitlichen kulturellen Kontext erfolgte. Insofern wird in der heutigen Forschung die Kritik an der Traumdeutung überbetont.25 Natürlich ist es verführerisch, sich als moderner, aufgeklärter Mensch, der heute mittels der Neurowissenschaften die menschliche Existenz jedes Geheimnisses zu berauben glaubt, sogleich auf die Seite der Skeptiker zu schlagen, aber solch eine Parteinahme ist unnötig und unproduktiv, wenn man sich mit der Geschichte der Traumdeutung beschäftigt, weil sie den Blick auf wichtige Perspektivdifferenzen verstellt. Im Gegensatz zu vermeintlich ähnlichen Phänomenen der Neuzeit war die mantische Traumdeutung, die den göttlichen übernatürlichen Ursprung der Träume voraussetzt, in der ganzen griechisch-römischen Antike – auch in der Oberschicht –, von wenigen Freidenkern abgesehen oder solchen, denen es einfach gleichgültig war, eine gängige Vorstellung (auch wenn sie vielleicht nicht jeder selbst praktizierte): Traumgläubigkeit war kein Unterschichtphänomen oder markierte einen prinzipiellen Bildungsmangel, sondern war sozial indifferent. Heute wird der Rationalist die Annahme einer Bedeutsamkeit der Träume trotz Freuds epochaler Traumdeutung (1900) als Aberglaube, als Aufklärungsdefizit oder gar als persönliche Pathologie 23 Zur Traumdeutung als Existenztechnik im Sinne von Foucault s. u. Anm. 30 und 36. 24 CARLO GINZBURG: Spurensicherung: Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. In: Ders.: Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78– 125. Zur Mantik generell: Mantik. Profile prognostischen Wissens in Wissenschaft und Kultur. Hrsg. von WOLFRAM HOGREBE, Würzburg 2005. 25 Zu einer diametral entgegengesetzten Einschätzung siehe neuerdings WILLIAM V. HARRIS: Dreams and Experience in Classical Antiquity, Cambridge (Mass.) 2009.

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abtun. Doch genau wie bei der wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse antiker Traumdiskurse kann man die verschiedenen Bereiche, in denen sie eine Rolle spielen, nicht von vornherein in eine Hierarchie zueinander setzen, will man wirklich etwas über das Phänomen erfahren, sondern muss sie im Kontext betrachten, in dem sie zur selben Zeit nebeneinander existieren. Der erste Philosoph, der speziell dem Traum drei kleine Spezialschriften (Über Schlafen und Wachen, Über Träume, Über die Zukunftsschau aus Träumen) widmete und dem Phänomen eine umfängliche biologistische Erklärung gab, war Aristoteles. Seine Auffassung nimmt eine Zwischenstellung zwischen diesen Diskursen ein: Zwar schrieb er dem Traum eine primär physiologische Ursache zu, wollte aber aufgrund seiner Empirie nicht ausschließen, dass sich – durch Koinzidenz freilich – in einem Traum auch Determinanten der Zukunft ausdrücken können.26 Eine radikale Ablehnung jeder Form von Mantik zeigen in der Antike nur die Epikureer, denn sie verbanden mit einer Negierung des göttlichen Einflusses auf das menschliche Leben konsequenterweise auch die Leugnung jeglicher Möglichkeit von Mantik. Der Ursprung der Träume war ihrer Meinung nach – zumindest in der Form, wie der römische Lehrdichter Lukrez sie in seinem Epos De rerum natura wiedergibt – rein psychisch und somatisch, also ein Reflex auf Körper- oder Sinnesreize. Gerade diese Einschätzung hätte zu einem tieferen Verständnis des Traumes als KörperPsyche-Phänomen führen können und damit zu einer Einsicht in die Funktionsweise dessen, was Freud den psychischen Apparat nennen sollte. Doch dieses Potential blieb bis in die Neuzeit hinein weitgehend ungenutzt.27 Aufgrund ihrer extremen Meinung waren die Epikureer über Jahrhunderte hinweg das vorzügliche Feindbild für alle, die eine Nutzung und Deutbarkeit der nächtlichen Bilder verfochten. Nimmt man die Epikureer einmal aus, traten jedoch die Methoden und Zielsetzungen des jeweiligen Umgangs mit dem Traum in der Antike zwar zueinander in eine gewisse Konkurrenz, waren aber eher komplementär. Eine Kluft tat sich in diesem Fall nicht zwischen diesen einzelnen Sparten auf, wie verschiedene Zeugnisse zeigen, sondern entlang der Demarkationslinie zwischen Annahme einer Deutbarkeit oder NichtDeutbarkeit, d. h. – noch etwas allgemeiner formuliert – entlang der Frage, ob der Traum eher mit dem Wachleben zusammenhängt oder mit einer höheren/anderen Wahrheit in Verbindung gebracht werden kann, die dem wachen Menschen verborgen bleiben muss. Selbst Aristoteles, der postuliert, dass Träume hauptsächlich Ausdruck einer auch im Schlafe wirkenden körperlichen oder seelischen Befindlichkeit seien, lässt immerhin die Möglichkeit einer Nutzung des Traumes zu Zwecken der medizinischen Diagnostik zu, auch wenn ihn als Ursachenforscher die Systematisierung dieser Deutung nicht mehr interessierte. 26 Einen guten Überblick über die Schriften bietet HARRIS (Anm. 25), S. 252–261. 27 Dazu CHRISTINE WALDE: Das Theater der Träume: Traum und Träumen bei Lukrez. In: Traumdeutung. Zur Aktualität der Freudschen Traumtheorie. Hrsg. von RUDOLF HEINZ / WOLFGANG TRESS, Wien 2001, S. 202–223.

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

3.

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Die Macht der Deuter

Die Einschätzung, die Träumen eine höhere Sinnhaftigkeit zuschreibt – manchmal eine höhere als man mit Rationalität erreichen kann –, widerspricht dem eigentlichen Sinnverständnis, weil der offensichtliche Un-Sinn der Traumbilder in einen Über-Sinn, also etwa in eine Botschaft der Götter, umgedeutet wird. In der griechisch-römischen Antike – und möglicherweise ist das auch in anderen Kulturen nicht anders – gibt es keine gänzlich bedeutungslosen Träume. Erinnert man sich an ein Nachtgesicht und kommt dann nach längerer oder kürzerer Auseinandersetzung mit den klaren oder verworrenen Bildern zu dem Ergebnis, dass sie keine tiefere Bedeutung als Götterbotschaft, Zukunftsschau oder medizinische Diagnose haben, so hat es doch allein durch Erzählung und Reflexion einen Raum in der Biographie eingenommen. Ein bedrängender Traum, also einer, der sich über die Demarkationslinie des Aufwachens verschreckend ins wache Bewusstsein drängt, kann nicht ungedeutet bleiben, verheißt er doch Skeptikern und Traumgläubigen die Chance zu einer Erkenntnis, die man ohne diese ‚Erweiterung‘ des Wachbewusstseins nicht erhalten hätte. Aus dieser Position selbst scheinbar bedeutungsloser Träume erhellt, dass derjenige unter den Menschen eine besondere Machtstellung einnehmen konnte, der die verworrene Sprache des Traums, die vielleicht eine Nachricht der selten klar sprechenden Götter sein kann, in eine Botschaft für die zukünftige Realität des Wachens zu übersetzen wusste. In der Tat scheint dies im antiken Griechenland der Fall gewesen zu sein, während in Rom die Traumdeutung im Spektrum der staatlichen Divinationsarten einen geringen Status einnahm28 und dementsprechend auch der professionelle Traumdeuter, der sich außerhalb des offiziellen Zeichenlesens mit Träumen befasste. Im griechischen Kulturkreis imaginierte man einen mythischen Ursprung der Traumdeutung, der sie in der Grauzone zwischen Göttern und Menschen verortete, in der aber die Götter die Oberhand hatten. Wer in diesen Bereich vordringt, nimmt den Konflikt mit den Himmlischen und Bestrafung in Kauf, wie der Mythos vom Menschenbildner Prometheus zeigt, der den Irdischen durch die Mantik, besonders durch die Traumdeutung, Anteil an den göttlichen Ratschlüssen verschaffte und deshalb von Zeus im Kaukasus in Fesseln geschlagen wurde. Erst Jahrhunderte später wurde er von Herakles befreit. Im Prometheus Vinctus des Aischylos beschreibt der Kulturstifter in einem langen Monolog seine Leistungen: Er habe den Menschen erst Verstand und in der Folge alle Künste und Handwerke gegeben. Im Zuge dieser ‚mythischen Kulturtheorie‘ kommt Prometheus auch auf Träume und Traumdeutung zu sprechen. Die in der Frühzeit noch nicht nach Ethnien differenzierten Menschen hätten noch nicht zwischen Traum und Wirklichkeit unterscheiden können, ja vielmehr hätten sie selbst orientierungslosen, ungedeuteten Traumbildern geglichen. Das Erkennen des Unterschiedes von Traum und Wirklichkeit war also neben dem Feuer und der Sprache seine Gabe an die Men28 Dazu neuerdings ANTHONY CORBEILL: Dreams and the Prodigy Process in Republican Rome. In: SCIOLI / WALDE (Anm. 13), S. 81–120.

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schen und die Grundvoraussetzung für die Ausbildung eines Ich-Bewusstseins. Dann aber habe er ihnen die Künste und Handwerke vermittelt, worunter auch die Künste der Vorhersage fielen. Innerhalb der Aufzählung des Prometheus liegt ein Fortschreiten von natürlicher (Träume) zu künstlich herbeigeführter Mantik (Opferschau) vor – Ausdruck einer ständigen Perfektionierung der Wahrsagekunst, die sich von der natürlichen Unvollkommenheit der Erkenntnis zu emanzipieren suchte und damit letztendlich von der restriktiven Informationspolitik der Götter. Vor Prometheus hatten die Himmlischen einen absoluten Wissensvorsprung – damit unbeschränkte Macht – vor den Menschen, die nicht einmal Traum und Wirklichkeit unterscheiden konnten.29 Das Wissen um die Möglichkeit der Mantik aber, die aus einer Art kosmischen Sympatheia resultiert, d. h. aus der Tatsache, dass alle Dinge des Kosmos miteinander zusammenhängen und demnach auch Kunde voneinander geben können, erlöste die Menschen aus ihrem von den Göttern erwünschten Sklavenstatus. Aus diesem Anspruch der Aufklärung und der Leistung ist die Hybris zu verstehen, mit der die späteren Traumdeuter bis hin zu Freud und anderen behaftet sind. Die Betonung in Prometheus’ Aussagen liegt aber auf techné und Arbeit: Die Traumdeutung als intellektuelles Handwerk muss perfektioniert, tradiert und gelehrt werden, da der Beistand des Prometheus nur am Anfang gegeben war. Der emanzipierte Mensch, dessen Existenz nun von Arbeit geprägt ist, muss und kann das Weitere selbst suchen. Die Deutungsbedürftigkeit der Nachtgesichte brachte den Berufsstand der Traumdeuter hervor: Am Anfang waren dies gottinspirierte Menschen, die sich in besonderem Maße darauf verstanden, die Traumbilder zu entschlüsseln. Traumdeutung kann als ‚Aufklärung‘ gewertet werden, die aber durch die Spezialisierung und Vergesellschaftung auch ins Gegenteil umschlagen konnte, zum Beispiel durch den finanziellen Nutzen, den berufsmäßige Deuter aus ihrer Profession zogen. Ein Nebeneffekt dieser Aufklärung ist aber, dass den oft bizarren Traumbildern der Eigenwert abgesprochen wird; modern formuliert, dass das manifeste Traumbild (das Traumbild, wie man es während des Träumens erlebt) abgewertet wird.30 In der Antike gab es Traumdeuter in verschiedenen Graden der Professionalisierung: Priester, Wandertraumdeuter, ‚nebenberufliche‘ Traumdeuter und -deuterinnen.31 29 Hingegen träumen die Götter nach antiker Vorstellung selbst nicht, weil sie die Zukunft kennen und gestalten und sich auch ihre Wünsche unmittelbar selbst erfüllen können. Siehe dazu VERED LEV KENAAN: The Ancient Road to the Unconscious: On Dream Narratives and Repressed Desires in Ancient Fiction. In: SCIOLI / WALDE (Anm. 13), S. 165–184. 30 Auch Freud lehnt es ab, die Traumbilder von der ästhetischen Seite zu betrachten und ihnen damit einen Eigenwert zuzugestehen. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser Weigerung siehe Michel Foucault: Einleitung zu: LUDWIG BINSWANGER: Traum und Existenz, Bern, Berlin 1992 (ursp. 1954), S. 7–93; DONALD KUSPIT: From Vision to Dream. The Secularization of the Imagination. In: Dreams 1900–2000. Science, Art, and the Unconscious Mind. Hrsg. von LYNN GAMWELL, Binghamton (New York), Cornell University Press 2000, S. 77–88. 31 Die Zeugnisse sind gesammelt bei: Graecorum de re onirocritica scriptorum reliquiae. Hrsg. von DARIO DEL CORNO, Milano 1969 (Testi e documenti per lo studio dell’antichità 26).

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Dazu trat die professionelle, säkularisierte Traumdeutung, die vielleicht sogar in Traumdeuteschulen gelehrt wurde. Hinsichtlich der Traumdeutung und der meisten anderen Mantikarten lässt sich eine strikte Genderorientierung beobachten, das heißt, bis auf die bei Artemidor erwähnte Sibylle Phemonoe (Oneirokritika II 9) sind alle professionellen Traumdeuter Männer. Hingegen treten Frauen als Deuterinnen, meist Ammen oder alte Frauen, nur in Alltagsdiskursen und in der Literatur auf.32 Ich überlasse es der Entscheidung der geneigten Leserschaft, ob dieser deutliche Befund in der griechisch-römischen Antike (und in der Psychoanalyse?) eher etwas über die gesellschaftliche Anerkennung der Traumdeutung aussagt oder über die problematische gesellschaftliche Position der Frauen im Allgemeinen. Im Folgenden sei einer der griechischen Traumdeuter aus der Kaiserzeit näher betrachtet: Artemidor aus Daldis.

4.

Artemidor und seine Oneirokritika

4.1

Biographisches

Der Traumdeuter Artemidor ist eine der eigenartigsten Gestalten der griechischrömischen Antike. In seinem Hauptwerk, den Oneirokritika (was „Traumunterscheidungen“33 heißt), beschreibt er in wertvollen biographischen Exkursen seine Obsession mit Träumen von frühster Kindheit an. Wie die meisten anderen berühmten Gelehrten und Schriftsteller des 2. nachchristlichen Jahrhunderts stammte er weder aus Italien noch vom griechischen Mutterland, sondern aus Kleinasien. Obwohl in der kulturell hochentwickelten Stadt Ephesos geboren, nahm er den Beinamen ‚Daldianos‘ an, um der weniger bekannten Geburtsstadt seiner Mutter, Daldis, zu Ruhm zu verhelfen. Über Artemidors soziales Umfeld, seine Erziehung können nur Spekulationen angestellt werden: Wahrscheinlich hat er die normale Ausbildung eines Angehörigen der ephesischen Mittelklasse durchlaufen. Wie seine Oneirokritika belegen, war er nicht nur ein in vielen mantischen Künsten bewanderter Mann, sondern verfügte auch über eine ungewöhnlich große Allgemeinbildung (Rhetorik, Biologie, Geographie, Volkskunde, Literatur usw.), die eine Grundvoraussetzung dieser avancierten Form von Traumdeutung ist. 32 Vgl. z. B. die pseudo-senecanische Tragödie Octavia (Ende 1. Jh. n. Chr.), in der eine Amme der Kaiserin deren Alptraum ‚schön‘ deutet. Diese Genderfestlegung lässt sich nicht für alle Zeiten und Kulturen bestätigen, doch bedarf dies erst noch einer Sichtung. In dem Roman Queen of Dreams der indisch-amerikanischen Schriftstellerin CHITRA DIVAKARUNI (London 2004), der die Geschichte einer indischen Familie erzählt, die in die USA ausgewandert ist, ist die Traumdeutung im modernen Indien ein Ressort auserwählter Frauen. 33 Empfohlene deutsche Übersetzung: Artemidor: Traumkunst. Übersetzt von FRIEDRICH S. KRAUSS, Leipzig 1991; oder Artemidor von Daldis: Das Traumbuch. Übersetzt von KARL BRACKERTZ, München 1979.

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Die Beschäftigung mit der Traumdeutung spricht jedenfalls nicht prinzipiell gegen eine höhere Abkunft, auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass ihn gerade die Obsession mit den Träumen über gesellschaftliche Konventionen erhaben machte. Wenn es stimmt, dass Artemidor sich die einschlägigen Abhandlungen aller Vorgänger beschafft hat (Oneirokritika Buch 1, Prooemium), so ist dies ein Unternehmen, das angesichts des Preises einer Papyrosrolle und der Schwierigkeit des Erwerbs mit Kosten und Aufwand verbunden war – ein Hinweis mehr, dass Artemidor zumindest zu gewissen Zeiten zu einer wohlhabenden Bevölkerungsschicht zählte. Wäre er ein ‚echter‘ sozialer Aufsteiger gewesen, hätte er dies in den Proömien seiner Oneirokritika sicher voller Stolz betont. Artemidors eigene Aussagen lassen keinen Rückschluss darauf zu, an welchem Ort genau er seine Traumdeutepraxis schwerpunktmäßig ausgeübt hat. Vertraut man auf die Sprach- und Kulturabhängigkeit seiner Oneirokritika, in denen sehr viele Deutungen sich auf Etymologien stützen, dürfte es sich aber um eine griechisch sprechende Gegend gehandelt haben. Offensichtlich hat die Obsession für Träume Artemidor auf seinen weiten Reisen, auf denen er seine Kenntnisse erweitern wollte, auch in die Hauptstadt des Imperiums, Rom, geführt, in der Traumdeuter, wenngleich von geringerem gesellschaftlichen Status, ihre Kunst ausübten.

4.2

Kontexte

Artemidor gibt uns einen einzigartigen Einblick in die Praxis der säkularisierten mantischen Traumdeutung Griechenlands. Für ihn ist die Traumdeutung nicht mehr eingebunden in den religiösen Kontext, sondern eine auf eigene und fremde Empirie fundierte Wissenschaft, was gerade nicht ausschließt, dass er den Orakelgott Apollo zu seinem Patron erklärt. In der techné der Traumdeutung lotet er den Bereich aus, den der Mensch mit Hilfe seines eigenen Verstandes selbst ermitteln kann. Sein Optimismus dabei ist groß, glaubt er doch wirklich, dass es gänzlich deutbare Träume gebe, auch wenn dies, wie er selbst zugibt, selten der Fall sei. Darum gesteht er in Abgrenzung seines eigenen Forschungsbereichs (IV 22) der Traumnutzung im Zuge des AsklepiosKultes und zu medizinischer Diagnostik durchaus ihren eigenen Wert zu, solange sie sich im Rahmen des Wahrscheinlichen oder wissenschaftlich Vertretbaren hielt. Als Wissenschaftler distanziert er sich aber von magischen Praktiken, die das Traumerleben (und damit eine bestimmte Erfüllung) zu evozieren suchen (obwohl auch der Magie ein ähnliches Wissen um den Weltzusammenhang zugrunde liegt wie den divinatorischen Künsten).34 Auch der ungefähr zeitgleich mit Artemidor lebende Arzt Galenos berichtet in vielen Selbstzeugnissen, vor allem aber in seiner kleinen Schrift De dignotione ex insomniis von ähnlichen Erfahrungen. Die Diagnose durch Traumdeutung werde erschwert, 34 Vgl. dazu SARAH ILES JOHNSTON: Sending Dreams, Restraining Dreams. Oneiropompeia in Theory and Practice. In: SCIOLI / WALDE (Anm. 13), S. 63–80.

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

35

da eine saubere Abgrenzung der verschiedenen Traumtypen nicht immer einfach sei. Manchmal ‚überwies‘ er den professionellen Traumdeutern einen träumenden Patienten, wenn er meinte, dass ein Traum in deren Kompetenz fiel; genauso wenig stritt er ab, dass in sehr schweren Krankheitsfällen nur noch göttliche Intervention, zum Beispiel in Form einer Traumheilung, helfen könne. Nicht nur er sei zu verschiedenen medizinischen Erkenntnissen (z. B. einer Operationsmethode) durch einen Traum inspiriert worden, sondern schon sein Vater habe Träume gehabt, die die Karriere des Sohnes als Arzt vorausgesagt hätten. Gerade in der Gestalt des viel gelehrten Galenos zeigt sich ein Pluralismus von Ansätzen der Traumdeutung. Er vertritt alles, was er aus seinem Wissen und seiner Verantwortung heraus bestätigen kann, im Sinne von ‚was beobachtbar ist, ist auch richtig‘ oder vielleicht auch ‚anything goes‘. Er erkennt die Mehrfachbedeutung von Traumbildern an, die sich offensichtlich weder auf Leibreizbildungen noch auf Zukunftsvorhersage reduzieren lassen. Natürlich kann man dies negativ gefasst als Rückschritt hinter die rationalistische Erklärung des Aristoteles abtun. Doch diese für das System der antiken Traumforschung kennzeichnende Typologie der Träume, die eine Abgrenzung und Einordnung einzelner Forschungsbereiche ermöglichte, war insgesamt als Arbeitsmodell höchst tauglich, wie die verwissenschaftlichte Traumdeutung Artemidors zeigt, der seine Forschung auf einem weiten Spektrum von Traumsorten aufbaut, die alle verschiedene Ursachen und entsprechende Bedeutungen haben. Artemidors Traumdeutung kann nicht auf die Formel ,primitiver Aberglaube, der die Naivität der Kundschaft ausnutzt‘, reduziert werden; die andere Einschätzung als Mittel zur Prognostik, um Dinge der Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart zu erklären, trifft ebenfalls nicht ausschließlich zu. Seine Traumforschung ist ein riesiges Wissensreservoir über die Dinge der Welt, ihren möglichen Zusammenhang, so dass man sein hermeneutisches Verfahren der Welterklärung durchaus der Naturwissenschaft zur Seite stellen kann. Wenn man seine Sonderstellung zwischen ‚Naturwissenschaft‘ und ‚Geisteswissenschaft‘ anerkennt und nicht etwa als Mangel bewertet, stellt sich Artemidor als keineswegs zu unterschätzender Meilenstein in der Geschichte der Psychologie und Traumforschung dar, dessen Form der wissenschaftlichen Darlegung nicht nur für seine Zeit vorbildlich ist. Die vereinfachende und letztlich unfaire Zuordnung Artemidors zum Volksglauben übersieht die Erfordernisse des Forschungsgegenstandes ‚Traum und Stellung im menschlichen Leben‘. Dieser ist weder mit rein naturwissenschaftlichen noch mit rein geisteswissenschaftlichen Methoden erforschbar, weil zur richtigen Einschätzung sowohl Bildungshypothesen als auch die Bedeutung des Traums im Wachleben vereinbart werden müssen, was zwangsläufig Auswirkungen auf die Forschungssituation hat. Die Bilderwelt der Träume kann nicht experimentell erzeugt werden, noch kann man die Erinnerungsfähigkeit manipulieren. Das Fehlen von Experimenten bedeutet nicht Unwissenschaftlichkeit, sondern zeigt lediglich, dass ein rein naturwissenschaftlicher Zugang nicht möglich ist.35 Der Traum als kollektives 35 Die avancierte moderne Traumforschung verzichtet gerade nicht auf Gespräche mit den Träumern oder eine schriftliche Befragung. Vgl. dazu z. B. STRAUCH (Anm. 6).

36

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und individuelles, intrapsychisches und physiologisches Phänomen und auch seine Deutung liegen zwischen allen Wissenschaften, in der Antike wie heute. Die Hauptschwierigkeit beim Umgang mit Artemidor (und anderen Traumforschern) besteht also darin, den Traum und seine Be-deutung überhaupt als wissenschaftliches Thema zuzulassen, das sich eben nicht in der Frage nach dem Ursprung der Träume erschöpft. Artemidor lässt als Erkenntnisquelle auch die Gespräche mit den Volkstraumdeutern zu, die er zum Grauen seiner Kollegen ‚mit den hochgezogenen Augenbrauen‘ ebenfalls konsultiert hat. Er musste dies tun, wenn er seine Materialbasis von Traumerzählungen und Analogien zwischen Geträumtem und eingetroffenem Ereignis erweitern wollte, auch wenn er die früheren Deutungen nur falsifizieren konnte. Das impliziert nicht, dass Artemidor die Methoden der Volkstraumdeutung übernommen oder gutgeheißen hat, vielmehr liegt hier ein produktiver Rekurs auf Laienmeinungen vor, wie wir sie in Freuds provokantem Anschluss an die antike Volkstradition wiederfinden können. Artemidor (aber auch Freud) zeigen in dieser Akzeptanz von Laienmeinungen als mögliches Wissenspotential eine große wissenschaftliche Souveränität und Einsicht, die mit dem allzu positivistischen Wissenschaftsbegriff ihrer Kritiker kollidieren mussten. Diese deklarieren alles von Nichtwissenschaftlern Entdeckte oder Vermutete als minderes, insofern wertloses Wissen. Die Wissenschaftsgeschichte z. B. auch der Medizin zeigt aber, dass von den volkstümlichen Vertretern viele Erkenntnisse der wissenschaftlichen Medizin antizipiert wurden und auch Anlass zu weiterer systematischer Erforschung gewesen sind. Artemidors Aussagen geben einen unschätzbaren Einblick in die Entstehung von Forschungsergebnissen, die unter Umständen eben auch von ‚außerrationalem‘ Wissen Impulse empfingen.

4.3

Empirie, Praxis und Deutungsraster

Jeder Traumdeuter hat zu dem Menschen, dessen Nachtgesichte er deutet, eine merkwürdig ambivalente Position: Einerseits dringt er in die Sphäre absoluter Intimität vor, andererseits ist seine Deutung, die letztlich den Träumer selbst deutet und ihm ein bestimmtes Schicksal voraussagt, auch ein Herrschaftsdiskurs. Dieser Situation werden sich beide Parteien, der Deuter und der Rat suchende Träumer, bewusst sein. Dies mag aber auch etwas über den Druck sagen, den der Klient aufgrund seiner persönlichen Lebenssituation verspürt, welcher ihn sogar die Scham bei der Preisgabe intimer Details überwinden lässt. Jedenfalls haben die Traumdeutung und andere mantische Praktiken (Losorakel, Handlesekunst u. a.) eine Funktion als Existenztechnik, d. h. als ein Procedere, das in einer Situation der Angst und Unsicherheit eine Entscheidung vorschlägt. Bei uns wird man das heute als ‚Esoterik‘ oder gar ‚Humbug‘ ansehen, im kulturellen Kontext der Antike waren dies aber sozial akzeptierte Wege der Sorge um sich.36 36 Vgl. dazu generell Michel Foucault: Histoire de la sexualité. Vol. 3: Le souci de soi, Paris 1984 (dt. Version: Die Sorge um sich. Übers. von ULRICH RAULFF und WALTER SEITTER, Frankfurt 1986 u. ö.).

37

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

Da der Traum nicht von den träumenden Individuen getrennt werden kann, ist der Traumforscher zum einen sowohl auf die Empirie der eigenen Traumerfahrungen angewiesen als auch auf diejenige vieler anderer Menschen, unter dem Vorbehalt, dass die sprachliche Umsetzung von Traumbildern nur Informationen aus zweiter Hand über den eigentlichen Traumprozess sein können. Empirisch erfassbar ist lediglich die Traumerzählung als Kontexterweiterung des eigentlichen Traumprozesses, die nach verschiedenen Kriterien ausgewertet und gedeutet werden kann. Artemidor wollte durch Auswertung der Traumerzählungen den Zusammenhang von Wachwelt und Traumwelt ergründen. Auf dieser empirischen Basis und durch Rückgriff auf die Forschungstradition entwickelte er aber auch physiologische Traumentstehungstheorien, die wiederum mit der möglichen Bedeutung in engem Zusammenhang stehen, wie die folgende schematische Darstellung zeigt: Artemidors Traumtypologie und weitere Kategorien Bedeutungslose Träume phantasma / visum Geistererscheinung

enhypnion / insomnium Leibreiz- und Affekttraum

Bedeutungsvolle Träume horama / visio Erscheinung einer nichtgöttlichen Autoritätsperson (klare Aussage)

chrematismos / oraculum Erscheinung eines göttlichen Wesens (auch in Orakelform)

oneiros / somnium

oneiros theorematikos (erfüllt sich unmittelbar nach dem Aufwachen) Bedürfen keiner Deutung

oneiros allegorikos

zu deuten

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Das eigentliche Arbeitsfeld Artemidors sind also die allegorischen Träume, die er nun wiederum nach unterschiedlichen Deutungsrastern analysiert: Oneiros allegorikos (erstes Orientierungsraster) persönlich: zeigt den Träumer und geht für diesen in Erfüllung oder für nahe Angehörige.

fremd: zeigt einen anderen als den Träumer und geht für diesen in Erfüllung, sofern der Träumer ihn gut kennt, oder für den Träumer selbst.

kollektiv: zeigt den Träumer im Verbund mit anderen und geht für das Kollektiv, manchmal auch nur für den Träumer in Erfüllung.

öffentlich: zeigt Volksmengen, Städte, öffentliche Bauten etc. und hat, wenn der Träumer viel über den Staat nachgedacht hat, Bedeutung für den Staat. Wenn nicht, dann ist er nur von Bedeutung für den Staat, wenn derselbe Traum von vielen geträumt wird.

kosmisch: zeigt Erscheinungen des Kosmos und kündet kosmisches Unheil oder politische Veränderungen an.

Weitere Orientierungskategorien: (I) Natur, Sitte, Gesetz, Zeit, Namen, Kunst; hierzu ist auch die räumlich-zeitliche Konstellation im Traum zu rechnen. (II) Manche Traumgesichte weissagen (1) Vieles durch Vieles; (2) Weniges durch Weniges; (3) Vieles durch Weniges; (4) Weniges durch Vieles. (III) Die besondere Art von Traumgesichten umfasst vier Klassen: (1) günstig nach innen (während des Traumerlebens) und nach außen (= geweissagtes Ereignis); (2) ungünstig nach innen wie nach außen; (3) günstig nach innen und ungünstig nach außen; (4) ungünstig nach innen und günstig nach außen. Ferner: (IV) Träumer, seine gesellschaftliche Position, Lebensführung, Sorgen, Bildungsstand, Wohnort usw. Eine Einschätzung Artemidors als ‚Volkstraumdeuter‘ übersieht das ganze Deutungssystem, das sich nicht auf bloße Analogiefindung zwischen Traumelement und zukünftigem Ereignis beschränkt, sondern mit zahlreichen methodischen Kontexterweiterungen gegenüber der einfachen Traumdeutung operiert (z. B. Einbezug der Lebens- und Gefühlswelt des Klienten, andere Wissenschaften, Kategorisierung der Traumbilder; Sprachforschungen; Literatur). Das heißt: Artemidor hat versucht, einen methodischen Zugang zum Traum zu finden, der – unter Anpassung an den individuellen Fall – prinzipiell wiederholbar und nachprüfbar ist. Um eine breite empirische Basis seiner Forschung zu gewährleisten, bediente er sich einer säkularisierten Form der mantischen

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

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Traumdeutung: Der neutrale, professionelle Rahmen der Klientenberatung (einer zu bezahlenden Dienstleistung) schuf die standardisierten Bedingungen, die die wissenschaftliche Distanz erfordert und auch gleichzeitig die nötige Anzahl von Versuchsobjekten bereitstellt. In dieser Verbindung von Theorie und praktischer Ausübung tritt die Praxis an die Stelle empirischer Studien und Experimente: Dies ist ein ähnliches Verfahren wie im empirischen Zweig der Humanmedizin dieser Zeit, was nicht weiter verwunderlich ist, da Krankheit und Traum konkret an Individuen in einer experimentell (damals) nicht prinzipiell abfragbaren Weise gebunden sind. In diesem kombinierten Vorgehen liegt ein hohes aufklärerisches Potential.

4.4

Aufbau und Anordnung der Oneirokritika

Die Oneirokritika legen in einem ersten Teil systematisch die theoretischen Grundlagen wie Traumtypen und Deutekategorien dar, um sich dann in der Traum-Enzyklopädie den einzelnen Traumelementen und ihren möglichen Bedeutungen zu widmen. Hier hat Artemidor eine Ordnung gefunden, die eine schnelle Orientierung ermöglicht. Er ordnet die Elemente nach Sachgruppen, die ihrerseits am Ablauf des menschlichen Lebens ausgerichtet sind. Zwischen dem Traumbild ‚Geburt am Anfang‘ und ‚Tod am Ende‘ sind alle anderen Phänomene des Lebens nach ihrem potentiellen Vorkommen im Lebenslauf eingefügt: Jugendzeit, Schule, Sexualität, Berufe, Feste und Kultus, Krankheiten, Wohnungseinrichtung, Tierwelt, Pflanzen, Wettererscheinungen, die vier Elemente, etc. Die Alternativen, die Artemidor gehabt hätte, zeigen die Überlegenheit seines Vorgehens, denn er hätte alphabetisch nach Traumelementen, nach Träumergruppen oder nach Deutungen ordnen können. Die beiden letzten Lösungen sind als Orientierungsrahmen zu kompliziert, aber als Gedankenexperiment aufschlussreich. In der Tat sind aber viele spätere Traumdeutebücher, z. B. die Antica Smorfia im heutigen Neapel, strikt alphabetisch geordnet, weisen aber jedem Element überindividuell immer nur eine feste Bedeutung zu. Das ist bei Artemidor, der kontextgestützt deutet und von der Mehrdeutigkeit eines Elements ausgeht, anders. Seine Ordnung, die vom Format der Papyrusrolle ausgeht, hat den Vorteil, dass man sich ohne Register relativ schnell zurechtfinden kann. Es kommen so aber auch verwandte Traumbilder hintereinander zu stehen, denn man spart sich Querverweise bzw. ist der Trainingseffekt größer durch die Sachgruppen. Die einzelnen Sachgruppen und Elemente sind noch einmal unterteilt. ‚Geburt‘ wird aufgegliedert nach ‚wird geboren‘, ‚gebiert‘ (und hier noch einmal nach Mensch, Tier, Gegenständen, Bekanntem, Unbekanntem). Innerhalb dieser Feineinteilung wird wiederum nach Träumergruppen unterschieden, meist nach Geschlecht und gesellschaftlichem Status. Diese sind aber nur als relative Orientierung zu verstehen. Wenn man nur die Überschriften der einzelnen Lemmata betrachtete, gewönne man den Eindruck, dass man eine normale Enzyklopädie vor sich habe, die in der Antike wirklich meist nach Sachgruppen geordnet waren. So werden z. B. Tiere in sinnreichen

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Klassifikationen vorgestellt: „Auf das Kapitel über die Jagd folgt nun die Besprechung der zweifüßigen, fußlosen und vierfüßigen Landtiere“,37 zum Teil klassifiziert auch noch nach Haus- und Wildtieren. Darauf folgen die Fische und die fliegenden Tiere, schließlich die Insekten, jeweils immer noch einmal sinnreich in Untergruppen geteilt. Eine Analyse der einzelnen Lemmata zeigt, dass Artemidor davon ausgeht, dass die Beziehung zwischen Gegenstand/Wesen und seiner Bedeutung gelockert, aufgehoben, auf jeden Fall aber geschwächt ist. Außer im Falle der Zahlen, die in der Regel wirklich die entsprechende Anzahl darstellen, macht Artemidor sich also die Ordnungskriterien und Wissensbestände der Wachwelt zunutze, wohl wissend, dass im Traum andere Regeln gelten oder dass man zumindest mit gewissen Verschiebungen oder Modifikationen zu rechnen hat. Ein Baum, der im allegorischen Traum auftritt, ist eben kein Baum, sondern er steht für etwas anderes, und zwar – bei gewissen Konstanten – potentiell bei jedem Menschen für etwas anderes, abgesehen davon, dass Artemidor die Aussage ‚Baum‘ noch zu unspezifisch wäre, weil er hier auch die durch ‚Baum‘ geweckten Assoziationen und die Sorten einbezogen hätte. Artemidor postuliert auch, dass Traumelemente in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten eine andere Bedeutung annehmen: Im ersten Buch (Kap. 8) legt er dar, dass man sich bei der Interpretation von Träumen auch nach den Sitten des Volkes richten müsse, dem der Träumer/die Träumerin angehört: So werden z. B. bei den Thrakern die freigeborenen Kinder tätowiert, bei den Geten die Sklaven; die einen wohnen im Norden, die anderen im Süden. […] Ebenso ist bei allen anderen Sitten und Gebräuchen von Fall zu Fall zu unterscheiden, ob sie nur bei einzelnen Völkern beobachtet werden, weil die einheimischen Gutes, die fremdländischen dagegen Schlimmes bedeuten, ausgenommen, es würden besondere Umstände dem Traumausgang eine andere Richtung weisen.38

Die durch Interpretation gewonnene Bedeutung hängt aber dennoch in jeweils zu definierender Weise mit dem Bild zusammen, das – in der Terminologie der Freudschen Traumarbeit gesprochen – mit Rücksicht auf die Darstellbarkeit verwendet wird. Der Traum ist ein innerer Wissensraum, der nicht mit der Realität abgeglichen werden kann. Die Traumdeutung aber ist ein Wissensraum, der selber rein fiktionale Gebilde, nämlich Träume, zu Wissen organisiert. Während ein Fachbuch etwa der Landwirtschaft oder der Biologie versuchen wird, den Gegenstand von allen Zusätzen zu reinigen, die nicht unmittelbar zum Thema gehören, geht Artemidor davon aus, dass diese Fokussierung in Bezug auf Traumbilder nicht angemessen ist. Ein Element, das hier an eine fiktionale Produktion gebunden ist, interessiert in all seinen Dimensionen, ob es Alltagsdiskurse, wissenschaftliche Erkenntnisse oder das Vorkommen in der Dichtung betrifft. Artemidor bezieht aber auch die Sprache mit ein, indem er etwa Etymologien und Wortgeschichte heranzieht. Dadurch entsteht ein ganz eigentümlicher Wissensraum. Es ist aber, so meine These, im 37 Artemidor: Oneirokritika 2, 11; Übersetzung von BRACKERTZ (Anm. 33), S. 126. 38 Artemidor: Oneirokritika 1, 8; Übersetzung von BRACKERTZ (Anm. 33), S. 23.

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

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Falle von Artemidors Oneirokritika nicht von einem einzigen homogenen Wissensraum auszugehen, sondern von differenten Wissensräumen oder einer Pluralität von Wissensräumen, deren Beziehung zueinander im Falle eines konkreten Traumes vom Traumdeuter zu bestimmen ist. Daraus ergibt sich eine eigenartige Zirkularität der Traumdeutung. Denn ein Traumelement kann mit anderen Elementen im Rahmen der Raum-Zeit-Koordinaten des Traums völlig andere Verbindungen als in der Wachwelt eingehen. Es ist also eine kontextgestützte Deutung, die sich auf ein fiktionales Produkt bezieht. Insofern ist Artemidors Lexikon der Traumelemente durch die zeitlich-kulturelle und individuelle Komponente potentiell unabgeschlossen und deutlich reicher als jede Enzyklopädie des Wachlebens, auch jeder einzelne Eintrag ist offen und unabgeschlossen. Im einzelnen Eintrag ist theoretisch alles vorhanden, was dieses Element im Wachen ausmacht, alles, was dieses Element individuell oder überindividuell charakterisiert. Die Traumdeutung ist nicht rückbezüglich auf das Element, sondern auf den Träumer resp. auf das zu deutende Traumbild. Die Wachwelt und ihre Wissensbestände sind eine Teilmenge der Traumenzyklopädie, die aber auch deren Wissensbegriff unterläuft. Sie sind nur ein Fundus für die Traumgestaltung und damit auch für die Deutung. Sie können möglicherweise selbst im Traum mehr als eine Bedeutung haben, da es auch Mehrfacherfüllungen gibt. Artemidors wissenschaftliche Darstellungslogik bändigt die irreale, unberechenbare Traumwelt, soweit dies möglich ist, weil die Elemente jederzeit wieder in neuen unvorhersehbaren Raum-Zeit-Konstellationen auftreten können. Das Wissen des Traumdeuters hat gemäß der Natur des Traums als Raum der Fiktionalität einen unsicheren Status, weil diese fiktionale Produktion ihrerseits nicht an distinkte Regeln gebunden ist, auch wenn Artemidor versucht, hier gewisse Grundkonstanten zu finden. Da die Elemente im Kontext gedeutet werden, können nicht ohne weiteres Wahrheitskriterien entwickelt werden. Die Deutung ist der Versuch, die Fiktionalität durch den Rückbezug auf den Träumer zu reduzieren. Da aber wiederum dessen Kontexte der Bezugspunkt sind und Kontexten ihrerseits eine gewisse Unschärfe anhaftet, bedeutet dies eine Potenzierung der Sinnverstehensleistungen. Durch die wechselseitigen Explikationen bewegt sich der Traumdeuter permanent auf schwankendem Gelände, zumal Fiktionalität immer einen Anteil von ‚Verrücktheit‘ hat. JAN ASSMANN39 hat Träume und ihre Auslegung als Urform (Urbild) der Kommentierung literarischer und philosophischer Texte bezeichnet. Traumdeutung und andere mantische Künste würden – so ASSMANN – die Welt als Text lesen im Sinne einer kosmotheistischen Hermeneutik.40 Auch wenn ASSMANN darin sicher zuzustimmen ist, dass in der Deutung eines Traums so etwas wie eine Selbstkommentierung oder Selbst39 JAN ASSMANN: Text und Kommentar. Einführung. In: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV. Hrsg. von JAN ASSMANN / BURKHARD GLADIGOW, München 1995, S. 12. 40 ASSMANN (Anm. 39), S. 13.

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fiktionalisierung des Menschen vorliegt, kann man ihm nicht folgen in seiner Einschätzung, dass die Traumdeutung die Welt als Text liest. Vielmehr besteht hier – wie Aischylos es ausführt, und nach ihm andere – ein Unterschied zwischen den mantischen Künsten, die Phänomene der realen Welt deuten, und der Traumdeutekunst, die eine Art kosmotheistische Hermeneutik zweiter Stufe darstellt, weil sie Phänomene des allnächtlichen Idios kosmos deutet und diese noch dazu in Bezug zur Realität der Träumenden setzt.

4.5

Würdigung

Artemidor nimmt in der Geschichte der Traumdeutung eine Zwischenstellung zwischen antiker und moderner Auffassung ein. Er stellt unter Rekurs auf die Forschungstradition eine Traumtypologie auf, in der er seinen Arbeitsbereich, die mantisch verwertbaren – genauer gesagt allegorischen – Traumgesichte, exakt bestimmt. Dies geht nicht ohne einen hohen Einbezug von Theorie der anderen Traumarten, denn Artemidor weiß durchaus um die verschiedenen Faktoren, die zur Bildung eines Traumes führen können (Affekte, Tagesreste, Leibreize, Hoffnungen, Wünsche, etc.). Obwohl er es auf der Grundlage seiner Erkenntnisse wahrscheinlich gekonnt hätte, machte er nur ansatzweise generalisierende Aussagen über Traumbildung oder Mechanismen der Traumarbeit (Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit usw.). Auch wenn seine Typologie eher auf mittlerem wissenschaftlichem Niveau einzuordnen ist, erreicht Artemidor andererseits bei der Beschreibung der einzelnen Typen durchaus schon die Ebene allgemeiner Prinzipien. Zum Beispiel erklärt er, dass die nichtmantischen Träume von Menschen, die sich viel mit Träumen beschäftigen, ähnlichen oder sogar denselben Bildungsprinzipien folgen wie die mantischen Gesichte anderer Menschen und ebenso mit Verdichtung und Verschiebung operieren. Diese Hypothese hätte er natürlich auch in Bezug auf die Leibreizträume oder Affektträume ausbauen können. Oder er macht die Beobachtung, dass im Traum nur Materialien zur Verschlüsselung verwendet werden, die der Träumer irgendwie rezipiert hat, und beweist dies an Träumen von Gebildeten. Gleichwohl galt sein primäres Interesse nicht einer weiteren Erforschung dieses eher allgemeinen Zusammenhangs zwischen Traum und Wachwelt. Denn Artemidor hat die Seelentätigkeit nur zum Zwecke der Entschlüsselung der Traumbilder erforscht, ohne auf die psychische Disposition des Träumers mehr einzugehen, als er es für die Erstellung seiner Typologie benötigte. Es ist geradezu konsequent, dass Freud dann in dieser Hinsicht weitergedacht hat, womit ich keineswegs behaupten möchte, dass Freud die Oneirokritika als Ausgangspunkt seiner eigenen Theorie genommen hätte. Aber die konkrete Rezeption ist ein anderes Thema.41 41 Dazu ALFRED KROVOZA: Die Stellung Freuds zur Vorgeschichte der Traumdeutung. In: WALDE (Anm. 16), S. 223–233. Zu Artemidors ‚Nachgeschichte‘ siehe auch den Überblicksartikel von CHRISTINE WALDE: Art. ‚Artemidor, Oneirokritika‘. In: Die Rezeption der antiken Literatur. Ein

Traum und Traumdeutung in der griechisch-römischen Antike

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Artemidor hat sich da, wo er es für sinnreich und möglich hielt, ein wissenschaftlich exaktes Instrumentarium der Erforschung geschaffen, das sich an Wahrscheinlichkeit, Empirie, Forschungsgeschichte, Systematik und Determinismus orientiert, gleichzeitig aber auch die Intuition des Deuters mit einbezieht, der neben der Willigkeit des Klienten, Auskünfte über sich zu geben, ebenfalls einen Platz in der Forschungsanordnung zugewiesen bekommt. Diese Forschungssituation bewahrt vor einer völligen Petrifizierung der Untersuchungsform, die dem Phänomen ‚Traum‘ mit seinen verschiedenen Phasen und seiner offensichtlichen Mehrdeutigkeit auch nicht angemessen gewesen wäre. Bestand bei Artemidor ein Junktim von Forschen und Beraten, so ist Freuds psychoanalytische Traumdeutetechnik im Idealfall ein Junktim von Forschen und Heilen. Die Traumdeutung Artemidors operiert aber nicht nur mit einer Typologie der Träume, sondern versucht, sowohl die Traumbilder als auch ihre Deutung verschiedenen Typen zuzuordnen. Auch Freuds zweites Standbein der Traumdeutung, die Symboldeutung, die es dem Deuter ermöglichen soll, am Träumer vorbei den Traum zu deuten, ist ein viel rigideres System als die Elementdeutung Artemidors, der niemals behaupten würde, dass man einen Traum ohne den Träumer interpretieren könnte, noch würde er feststehende Symbolbedeutungen postulieren. Es ist in der Tat ein Charakteristikum der antiken Traumdeutediskurse, dass ein Traumbild trotz der extremen Subjektivität auch für andere Menschen als den Träumer eine Bedeutung gewinnen kann. Man kannte nicht nur Träume, die von mehreren Menschen gleichzeitig geträumt wurden. Der allegorische Traum musste sich nicht zwangsläufig nur auf den Träumer beziehen, sondern Artemidor kannte auch die Kategorien der fremden Träume (d. h. Erfüllung bezieht sich auf jemand anderen als den Träumer/die Träumerin) sowie der gemeinsamen Träume (d. h. Erfüllung bezieht sich auf den Träumer und jemanden anderen) und der politischen Träume, die einen Wandel der politischen Situation vorauszusagen scheinen. Bei Artemidor spielt, wie gezeigt wurde, der gesellschaftliche Status des Träumers sowohl in den Bildungshypothesen als auch in der aktuellen Deutung eine große Rolle. Allein die Existenz dieser Traumbedeutungskategorien hat Michel Foucaults Übersetzer WALTER SEITTER zu der Behauptung veranlasst, dass Freud den Blick auf den Traum in allzu hohem Maße eingeengt habe, wenn er den latenten Traumgehalt nur auf verhüllte Wunscherfüllungen zurückführe: Er sei – im Gegensatz zu Artemidor – ein Traumdeuter in dürftigen Zeiten.42 Diese etwas gehässige Aussage trägt zwar der überragenden Stellung Freuds keine Rechnung, aber ganz falsch ist sie eben auch nicht.

kulturhistorisches Werklexikon. Hrsg. von CHRISTINE WALDE in Verbindung mit BRIGITTE EGWeimar 2010 (Der neue Pauly, Supplement 7), Sp. 149–158. 42 WALTER SEITTER: Nachwort zu LUDWIG BINSWANGER: Traum und Existenz. Einleitung von MICHEL FOUCAULT, Bern, Berlin 1992, S. 144. GER, Stuttgart,

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Die Beschäftigung mit der Traumdeutung ist also nicht nur in Bezug auf eine fremde oder gar lange vergangene Kultur ein schwieriges Unterfangen. Eine Kulturgeschichte des Träumens und der Traumdeutung, die alle Kulturen und Zeiten umfassen müsste, ist allerdings noch nicht geschrieben. Dazu bedarf es erst einmal vieler Einzelstudien, zu denen auch der vorliegende Band beitragen möchte.

ANDREAS LEHNARDT

„Alle Träume erfüllen sich nach ihrer Deutung“. Jüdische Trauminterpretationen im Mittelalter Wer immer nach den jüdischen Deutungen des Phänomens Traum im Mittelalter fragt, muss sich zuerst mit den antiken Voraussetzungen befassen. Dass Träume und ihre Deutungen bereits in der Bibel1 und dann auch in der jüdischen Literatur aus hellenistisch-römischer Zeit Erwähnung finden,2 ferner in der Geschichtsschreibung des jüdischen Historikers Flavius Josephus3 und in der Religionsphilosophie des Philo von Alexandrien, der über den Schlaf sogar eine eigene Schrift verfasste,4 bildet eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der im Folgenden entfalteten Entwicklung.5 Die hebräische Bibel mit ihren zahlreichen Berichten und Deutungen von Träumen bildete das traditionelle Grundgerüst für die sich entwickelnde jüdische Sicht des Phänomens. Das hellenisierte, später rabbinisierte Judentum der Zeitenwende, nachdem sich ein Kanon von Schriften und hermeneutische Methoden entwickelt hatten, legte diese älteren Berichte nicht nur aus, sondern schuf eigene Zugänge und Voraussetzungen zu einem Verständnis der Erscheinung.

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Vgl. einführend z. B. SHAUL BAR: A Letter That Has Not Been Read. Dreams in the Hebrew Bible, Cincinnati 2001 (Monographs of the Hebrew Union College 25); YAIR ZAKOVITCH: ‚I will Utter Riddles from Ancient Times‘. Riddles and Dream-Riddles in Biblical Narrative, Tel Aviv 2005 (hebr.). Vgl. z. B. den in den griechischen Zusätzen der Septuaginta zum masoretischen Ester-Buch überlieferten ‚Traum Mordechais‘. In: INGO KOTTSIEPER: Zusätze zu Ester. In: Das Buch Baruch. Der Brief des Jeremia, Zusätze zu Ester und Daniel. Übers. und erl. von ODIL HANNES STECK / REINHARD GREGOR KRATZ / INGO KOTTSIEPER, Göttingen 1998 (Das Alte Testament Deutsch, Apokryphen 5), S. 111–120. Vgl. ROBERT KARL GNUSE: Dreams and Dream Reports in the Writings of Josephus: A TraditioHistorical Analysis, Leiden u. a. 1996 (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums 36). Für einen Überblick über die Forschung vgl. EARLE HILGERT: A Survey of Previous Scholarship on Philo’s De Somniis 1–2. In: Society of Biblical Literature: Seminar Papers 26 (1987), S. 394– 402. Grundlegend für das Verständnis der Adaption hellenistischer Vorstellungen und Methoden im rabbinischen Judentum: MARTIN HENGEL: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., Tübingen 31988 (hier zur Trauminterpretation und auch zu Visionen S. 369–381).

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Im Hinblick auf das Judentum ist dabei auch zu beachten, dass sich die der christlichen Geschichtsschreibung entlehnten Epochenbezeichnungen ‚Antike‘ – ‚Mittelalter‘ – ‚Neuzeit‘ auf dieses nur eingeschränkt übertragen lassen. Viele spätantike jüdische Überlieferungen, in denen das Thema Traum aufgegriffen wird, wirken in dem von uns geläufig als ‚Mittelalter‘ bezeichneten Zeitraum unmittelbar nach, ohne dass von jüdischer Seite aus ein etwa aufgrund sozialer, politischer oder theologischer Entwicklungen veränderter Umgang mit den Quellen und Lebenserfahrungen zu belegen wäre. Was im christlichen Kontext als ‚Mittelalter‘ bezeichnet wird, findet in den jüdischen Lebenswelten im Orient, Mittelmeerraum und in Mittelwesteuropa nicht ‚gleichzeitig‘ statt. ‚Jüdisches Mittelalter‘ beginnt und endet insofern zu einem anderen Zeitpunkt als ‚christliches‘, und es ist in mancher Hinsicht auch schon früher beendet als im nichtjüdischen Bereich, etwa im Hinblick auf die Rezeption aristotelischer Vorstellungen, die in der scholastischen Philosophie erst zum Teil durch Juden als Dolmetscher arabischer Schriften vermittelt adaptiert werden konnten. Die Epochengrenzen zwischen antiken und mittelalterlichen jüdischen Vorstellungen über das Phänomen Traum sind vor diesem Hintergrund als fließend zu betrachten, was sich nicht zuletzt auch an den pseudepigraphen Werken wie z. B. dem Sefer haSohar, dem von Moses de Leon verfassten „Buch des Glanzes“, dem Hauptwerk der Kabbala festmachen lässt.6 Dieses voluminöse, in einem ‚antikisierenden‘ Aramäisch verfasste Sammelwerk gibt vor, in großen Teilen in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. geschrieben worden zu sein. Tatsächlich stammt es aber wohl aus dem 13. Jahrhundert und wurde in Südfrankreich und Spanien redigiert bzw. fortgeschrieben. Auf die speziell im Sohar verarbeiteten mystisch-mythischen Vorstellungen über Träume wird im Folgenden nicht eingegangen. Das 13. Jahrhundert soll den Zielpunkt dieses einführenden Überblicks bilden.

1.

Rabbinische Zugänge

Die Beschäftigung mit den mittelalterlichen jüdischen Deutungen des Phänomens Traum muss also in der so genannten rabbinischen Zeit ansetzen, in jener für das heutige Judentum formativen Epoche, die mit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer 70 n. Chr. einsetzt und die etwa mit der arabischen Eroberung Palästinas im 7. Jahrhundert endet.7 Die Traumdeutung in der rabbinischen Literatur ist dabei zwar bereits des Öfteren dargestellt worden,8 der Fortgang der mittelalterlichen 6 7 8

Zur Entstehung des Sohar vgl. JOSEPH DAN: Die Kabbala. Eine kleine Einführung, Stuttgart 2007, S. 45–51. Zur Einführung vgl. etwa GÜNTER STEMBERGER: Das klassische Judentum. Kultur und Geschichte der rabbinischen Zeit (70 n. Chr. bis 1040 n. Chr.), München 1979. Vgl. Traum und Traumdeutung im Talmud, eingeleitet und übersetzt von ALEXANDER KRISTIANPOLLER, mit einem Vorwort von MICHAEL TILLY, Wiesbaden 2006 (Nachdruck der Ausgabe

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Rezeption und Interpretation jüdischer Traumdeutungen ist jedoch weniger fokussiert worden.9 Das wichtigste Zeugnis für die rabbinische Auffassung vom Traum stellt eine Art ‚Traumbuch‘ dar, welches sich im Traktat Berakhot (55a–57b) des Babylonischen Talmud findet, in dem Traktat also, in dem die täglich zu rezitierenden ‚Segenssprüche‘ in der ersten Ordnung Sera‘im („Saaten“) behandelt werden. Der Babylonische Talmud, das Hauptwerk des rabbinischen Judentums, entstand in seinen unterschiedlichen Teilen zwar erst im 6.–9. Jahrhundert in den Zentren jüdischen Lebens im Gebiet des heutigen Irak. In der Traumbuch-Kompilation werden jedoch zum Teil ältere Traumbeobachtungen, Falldarstellungen und Omina sowie die Geschichte eines Traumdeuters namens Bar Hedja aufgenommen.10 Was auch bei dem bereits erwähnten griechisch schreibenden jüdischen Historiker Josephus eine Rolle gespielt zu haben scheint, die hellenistische Oneirokritik, war vor allem dank der Vermittlung durch den griechischen Traumdeuter Artemidoros (zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr.) bekannt.11 Diese Lehren des Traumes, die bereits früh in Notizbüchern (pinkasim) gesammelt worden sein dürften,12 wandten sich gegen eine oberflächliche Deutung von Träumen – ein Anliegen, dem schließlich auch Sigmund Freud mehr verdankt zu haben scheint, als dieser zuzugeben bereit gewesen wäre.

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Wien, Berlin 1923) (Monumenta Talmudica IV.2,1); siehe dann auch SIMON WOLFFSOHN: Die Oneirologie im Talmud, oder Der Traum in der Bibel als Ursache und Wirkung nach Auffassung des Talmuds, Breslau 1874; SANDOR LORAND: Dream Interpretation in the Talmud. In: The New World of Dreams. Hrsg. von RALPH LOUIS WOODS / HERBERT B. GREENHOUSE, New York 1974, S. 150–158; MAREN NIEHOFF: A Dream which is not Interpreted is like a Letter which is not Read. In: Journal of Jewish Studies 43 (1992), S. 58–84. Vgl. die allerdings mittlerweile veraltete Skizze von ADOLF LÖWINGER: Der Traum in der jüdischen Literatur. In: Mitteilungen zur Jüdischen Volkskunde 11 (1908), S. 25–34, 56–78. Der vom Editorial STAFF hrsg. Art.: ‚Dreams. In Medieval Thought‘. In: Encyclopedia Judaica 6 (1972), S. 210–211 ist ebenfalls nicht auf dem aktuellen Stand der Forschung. Aus folkloristischem Blickwinkel vgl. noch JOSHUA TRACHTENBERG: Jewish Magic and Superstition. A Study in Folk Religion, Philadelphia 1963 (Nachdruck Jerusalem, Philadelphia 2004), S. 230–248. Zur Struktur dieses Abschnitts vgl. PHILIPP ALEXANDER: Bavli Berakhot 55a–57b: The Talmudic Dreambook in Context. In: Journal for the Study of Judaism 46 (1995), S. 230–248; THEODORE KWASMAN: Traum und Traumdeutung im Babylonischen Talmud. In: Heilkunde und Hochkultur I: Geburt, Seuche und Traumdeutung in den antiken Zivilisationen des Mittelmeerraumes. Hrsg. von AXEL KARENBERG / CHRISTIAN LEITZ, Münster u. a. 2000 (Naturwissenschaft, Philosophie, Geschichte 14), S. 247–257, hier S. 247 f. Vgl. zu ihm CHRISTINE WALDE: Art. ,Artemidoros‘. In: Religion in Geschichte und Gegenwart, 4. Aufl., Bd. VIII (1998), S. 798. Zu seiner in der Traumforschung wenig beachteten Kenntnis des Judentums vgl. umgekehrt MENAHEM STERN: Greek and Latin Authors on Jews and Judaism, Bd. 2: From Tacitus to Simplicius, Jerusalem 1980, S. 329–331. Vgl. etwa bBerakhot 56a.

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Bereits der Talmudhistoriker SAUL LIEBERMAN13 hat aufgezeigt, wie umfangreich die rabbinischen Zugänge zu einer systematisierten Traumdeutung Anregungen und Gedanken aus dem hellenistisch-paganen Bereich adaptiert haben. Zur Hermeneutik der rabbinischen Trauminterpretationen stellt er fest: „We not only find the same methods employed in the onirocritica and in the Aggadah, but sometimes also come across the very same interpretations in both sources“.14 Das so genannte Traumbuch in Massekhet Berakhot, das in einer kürzeren, thematisch etwas anders ausgerichteten Fassung auch im älteren Jerusalemer Talmud überliefert wird,15 enthält einen Katalog von Gegenständen und Ereignissen, die im Traum erscheinen können und symbolisch ausgelegt werden müssen, sowie Erzählungen über Rabbinen, die Träume auslegen oder sich auslegen lassen. Der Traum erscheint in all diesen Texten als legitimes Mittel der Offenbarung, ihm wurde auch nach dem ‚Ende der Prophetie‘ der biblischen Zeit besondere Bedeutung beigemessen. Doch daneben finden sich im Talmud ganz anders ausgerichtete Vorstellungen, wie z. B. die im Namen Rabbi Jochanan überlieferte, nach der der Traum eines Menschen nur das zeigt, was ihm durch seine eigenen Gedanken nahe gelegt wird.16 Dieser Gedanke erinnert an Freuds Sicht, nach der Träume nur ‚Tagesreste‘ sind, die durch das Unbewusste unterdrückt wurden. Allerdings ist nicht belegbar, in wieweit Freuds heute als überholt geltende Beobachtungen durch die Kenntnis jüdischer Quellen inspiriert waren. Über Rabbi Me’ir und Rabbi Natan wird in einem literarisch ausgefeilten Abschnitt17 berichtet, dass sie, als sie einmal gegenüber Nasi Shim‛on ben Gamli’el ausfallend geworden waren, in ihren Träumen dazu aufgefordert wurden, sich bei diesem zu entschuldigen. Natan sei anschließend hingegangen und habe sich entschuldigt, während Me’ir nicht hingegangen sei, da er angenommen habe, dass Träume keine Konsequenzen hätten. Der Bereich der Traumdeutung, der in vor-rabbinischer Zeit traditionellerweise von nicht-rabbinischen Experten besetzt war, wurde durch solche Erzählungen und die Einbindung der Traumdeutung in die eigene Bibelhermeneutik von den Rabbinen nach und nach unter ihre Kontrolle gebracht. Findet sich im Talmud noch die Nachricht, dass es in Jerusalem vor der Tempelzerstörung 24 professionelle Traumdeuter gegeben habe – ein Indiz dafür, wie tief verwurzelt die Traumdeutung im antiken Judentum vor 13 Vgl. SAUL LIEBERMAN: Hellenism in Jewish Palestine. Studies in the Literary Transmission, Beliefs and Manners of Palestine in the I Century B.C.E. – IV Century C.E., New York 1962 (Nachdruck New York, Jerusalem 1994) (Texts and Studies of the Jewish Theological Seminary of America 18), S. 68–82. 14 LIEBERMAN (Anm. 13), S. 75. 15 Vgl. dazu RIVKA ULMER: The Semiotics of the Dream Sequence in Talmud Yerushalmi Ma’aser Sheni. In: Henoch 23 (2001), S. 305–323. 16 Vgl. bBerakhot 55b. 17 Vgl. bHorayot 13b.

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der Tempelzerstörung gewesen sein muss –, so wird die Bedeutung der Träume und ihre Deutung nachher gezielt begrenzt, um auch hiermit den Einfluss der sich entwickelnden rabbinischen Bewegung zu stützen. Der Traum kann sogar nur noch als ein „Sechzigstel der Prophetie“18 angesehen werden. Seine Bedeutung wird im intellektuellen Bereich also beschränkt und seine Relevanz herabgestuft. Dass es gleichzeitig, trotz andersläufiger Bemühungen, weite jüdische Kreise gegeben hat, die Traumdeutungen große Bedeutung einräumten, bezeugen die in den letzten Jahren publizierten spätantiken magischen Texte, unter anderem aus der Kairoer Geniza.19 Zu beachten ist z. B. das wohl aus Palästina stammende „Buch der Geheimnisse“, Sefer ha-Rasim (ca. 7.–8. Jahrhundert).20 Hierzu gehört auch das Buch vom magischen Gebrauch der Psalmen, Sefer Shimmush Tehillim, welches in der ausgehenden Spätantike bzw. in gaonäischer Zeit entstanden ist.21 Die Beachtung, die dem Phänomen im und am Rande des rabbinischen Judentums geschenkt wurde, können auch weitere Stellen im Talmud, in denen dem im Traum Geschauten unmittelbare Zukunftsbedeutung zuerkannt wird, belegen. Auch die Tosefta, die zu Teilen auf ältere Überlieferung als die Mischna zurückgeht, enthält Stellen, die Träume und ihre Deutungen in der Nähe der Mantik sehen und als „Amoriterbräuche“, d. h. Bräuche der Kanaaniter, bannen.22 Genannt seien in diesem Zusammenhang auch Beschwörungen oder Fasten zur Abwehr schlechter Träume, die z. B. im Jerusalemer Talmud (yKilajim 9,4 [32b]) und auch im Bavli (bShabbat 11a) vorausgesetzt werden, und dies, obwohl bereits in der

18 Vgl. Midrash Bereshit Rabba zu Gen 2,21 und 44,15. Hrsg. von JEHUDA THEODOR / CHANOCH ALBECK, Jerusalem 21965 (Veröffentlichungen der Akademie für die Wissenschaft des Judentums), S. 157 und 439 (hebr.). 19 Vgl. Magische Texte aus der Kairoer Geniza. Hrsg. von PETER SCHÄFER / SHAUL SHAKED, Bd. 1, Tübingen 1994 (Texte und Studien zum antiken Judentum 42), S. 135 (Bitte um einen mantischen Traum); Bd. 2, Tübingen 1997 (Texte und Studien zum antiken Judentum 64), S. 65 (Gebet Jakobs). 20 Vgl. Sefer ha-Razim I und II. Das Buch der Geheimnisse I und II, Bd. 2: Einleitung, Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von BILL REBIGER / PETER SCHÄFER, Tübingen 2009 (Texte und Studien zum antiken Judentum 132), S. 9, 145f. (§§ 108–112). Für Bitten um Traumdivination vgl. z. B. Das Buch des Gewandes und Das Buch des Aufrechten. Dokumente eines magischen spätantiken Rituals. Ediert, kommentiert und übersetzt von IRINA WANDREY, Tübingen 2004 (Texts and Studies in Ancient Judaism 96), S. 161. 21 Vgl. Sefer Shimmush Tehillim. Buch vom magischen Gebrauch der Psalmen. Edition, Übersetzung und Kommentar. Hrsg. von BILL REBIGER, Tübingen 2010 (Texts and Studies in Ancient Judaism 137), hier S. 92 (zu Psalm 13,2), S. 115 (zu Psalm 42), S. 101f. (zu Psalm 23). 22 Vgl. GIUSEPPE VELTRI: Magie und Halakha. Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum, Tübingen 1997 (Texts and Studies in Ancient Judaism 62), S. 121.

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hebräischen Bibel vor der Zeichendeutung von Träumen, wie sie unter den heidnischen Völkern verbreitet war, gewarnt wird.23 Hervorzuheben ist hier ein Gebet aus amoräischer Zeit im Traktat Berakhot 55b, welches sich auch im Festtagsgebetbuch findet und in dem der Träumende von einem Priester um Stärkung oder Schwächung bittet: Herr der Welt, ich bin dein, und meine Träume sind dein; ich habe einen Traum geträumt und weiß nicht, was er bedeutet. Sei es, dass ich über mich selbst geträumt, sei es, dass meine Genossen über mich geträumt, und sei es, dass ich über Fremde geträumt. Es sei dein Wille: Sind sie gut, so stärke sie und befestige sie, wie die Träume Josefs; wenn sie aber einer Heilung bedürfen, so heile wie das Wasser zu Mara durch Mose,24 wie Miriam von ihrem Aussatze,25 wie Hiskia von seiner Krankheit,26 und wie das Wasser von Jericho durch Elisa.27 Und wie du den Fluch des ruchlosen Bileam verwandelt hast zum Segen, so verwandle mir alle meine Träume zum Guten.28

Auch die frühe jüdische Mystik, die in der so genannten Thronhallen- oder HekhalotLiteratur gesammelt ist, geht gelegentlich auf die Bedeutung von Träumen als Mittler göttlicher Nachrichten ein. Doch stehen Träume in ihr keineswegs im Zentrum des Interesses der Autoren dieser Texte. In Hekhalot Sutarti, dem kleinen Traktat von den himmlischen Thronhallen, einer der ältesten dieser mystischen Schriften, wird dem Adepten etwa das Aussehen Gottes im Traum offenbart:29 Die Engel sehen ihn wie den „Anblick von Wetterleuchten“, die Propheten im Traumgesicht in einer Nachtvision; die Rabbinen aber, die die Tora richtig zu studieren verstehen, sehen, dass Gott aussieht wie wir, d. h. wie ein Mensch – ohne dass dafür ein Traum als Medium notwendig wäre.30 Dass Träume als Medium der Offenbarung in der frühen jüdischen Mystik eine relativ geringe Rolle spielen, ist auch deshalb bemerkenswert, weil in anderen astrologisch-magischen Überlieferungen, etwa in der so genannten Lunaria-Literatur, Traumdeutungen einen bedeutenden Platz einnehmen.31 23 Zum Traumfasten vgl. LEOPOLD LÖW: Lebensbetrachtung des Judenthums (1859). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. von IMMANUEL LÖW, Bd. 1, Szegedin 1889 (Nachdruck Hildesheim, New York 1979), S. 53–131, hier S. 111–114. 24 Vgl. Ex 15,22–27. 25 Vgl. Num 12,1–16. 26 Vgl. 2. Kön 20,1–11. 27 Vgl. 2. Kön 2,18–22. 28 Übersetzung in Anlehnung an LAZARUS GOLDSCHMIDT: Der babylonische Talmud, Bd. 1: Berakhot, Frankfurt a. M. 1967 (Nachdruck 1996), S. 242f. 29 Siehe zum Folgenden PETER SCHÄFER: Übersetzung der Hekhalot-Literatur III §§ 335–597, Tübingen 1989 (Texte und Studien zum antiken Judentum 22), S. 23 (§ 352). 30 Vgl. hierzu auch PETER SCHÄFER: Der verborgene und offenbare Gott. Hauptthemen der frühen jüdischen Mystik, Tübingen 1991, S. 57. 31 Vgl. hierzu REIMUND LEICHT: Astrologumena Judaica. Untersuchungen zur Geschichte der astrologischen Literatur der Juden, Tübingen 2006 (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 21), S. 59f.

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Die vielleicht in der Auseinandersetzung mit einer verbreiteten magischen und astrologischen Traumdeutungsliteratur ausgebildete rabbinische Tendenz, die Relevanz oder die Bedeutung der Träume zu begrenzen, spiegelt sich auch in Überlieferungen des Talmud Jerushalmi, des etwa im 5. Jahrhundert redigierten rabbinischen Sammelwerks aus den rabbinischen Schulen Galiläas wider.32 Bereits hier findet sich das Diktum, nachdem sich „alle Träume nach ihrer Deutung erfüllen“,33 also die Träume selbst keine Bedeutung haben, wohl aber ihre Interpretationen. Ebenso wird die Auffassung überliefert, Träume besäßen vor Gericht keinerlei Beweiskraft. Interessant in diesem Abschnitt ist auch der Hinweis, dass diese rationale Sicht auf Träume nicht zutrifft, wenn ein Traum vom Wein handelt. Dazu wird ausgeführt, der Wein, der von einem Schüler der Weisen, talmid chacham, im Traum getrunken wird, von guter Bedeutung für ihn sei, während der Wein, der von einem Ungelehrten, einem ‛am ha-aretz, im Traum getrunken wird, von schlechter Bedeutung für ihn sei.34

2.

Mittelalterliche Talmud-Kommentare

Die Tendenz, den Anspruch auf Unmittelbarkeit der Traumoffenbarungen zu mindern, lässt sich dann auch in den für das Studium des Talmud unerlässlichen Kommentaren aus dem Mittelalter weiterverfolgen – insbesondere in solchen aus der ashkenasischfranzösischen Schule, bei Raschi und den Tosafisten.35 Auch Mainz wurde im Hochmittelalter zu einem wichtigen Zentrum des Talmudstudiums. Zur Jeshiva, der Talmudschule des Rabbi Gershom ben Jehuda (gest. ca. 1028), genannt „Unser Lehrer“ (Rabbenu), dem der Ehrentitel „Leuchte des Exils“ zuteil wurde, kamen Schüler aus nah und fern, darunter auch der bedeutendste Kommentator des Talmud des Mittelalters, der aus Troyes in Nord-Frankreich gebürtige Salomo ben Jitzchaqi (ca. 1040– 1105), mit Akronym Raschi, der den ersten vollständigen Kommentar zu allen Teilen des Babylonischen Talmud verfasste.36 32 Vgl. zur Einführung: Der Jerusalemer Talmud. Sieben ausgewählte Kapitel, übersetzt, kommentiert und eingeleitet von HANS-JÜRGEN BECKER, Stuttgart 1995, S. 5–12. 33 Für eine Übersetzung vgl. RIVKA ULMER: Maaserot – Zehnte. Maaser Sheni – Zweiter Zehnt, Tübingen 1996 (Übersetzung des Talmud Yerushalmi 1, 7 / 8), S. 264. Vgl. auch die Parallelen in bBerakhot 55b, 57b. 34 Vgl. bBerakhot 55b, 57b; yMa‛aser Sheni 4, 9 (55c). 35 Zu dieser Schule von Talmud-Exegeten vgl. etwa ABRAHAM GROSSMAN: The Early Sages of France. Their Lives, Leadership, and Works, 2. verbesserte Aufl., Jerusalem 1996; EPHRAIM E. URBACH: The Tosaphists: Their History, Writings and Methods, 2 Bde., Jerusalem 51986. 36 Vgl. zu ihm AVRAHAM GROSSMANN: Rashi, Jerusalem 2006 (hebr.). – Zu den Mainzer Talmudgelehrten im Mittelalter vgl. nun auch ANDREAS LEHNARDT: Mainz und seine Talmudgelehrten im Mittelalter. In: Mainz im Mittelalter. Hrsg. von MECHTHILD DREYER / JÖRG ROGGE, Mainz 2009, S. 87–102.

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In seinen Kommentaren zu den vorgestellten Stellen lässt sich beobachten, dass er die Träume nicht mehr als unmittelbar von Gott eingegeben darstellt, sondern stets als durch einen Engel oder einen Geist (Sar), der die Träume vermittelt oder bewirkt. Zwar ist diese Vorstellung von einem Medium schon in einigen rabbinischen Texten nachweisbar,37 doch wird diese Deutungsverschiebung möglicherweise unter dem Einfluss der Hekhalot-Traditionen in nach-talmudischer Zeit ausgebaut. Die Kommentare systematisieren die ältere Überlieferung und fügen z. B. einen Ba‛al chalom, einen „Herrn des Traumes“,38 als Mittler ein. Dieses Medium wird schließlich sogar zum eigentlichen Verursacher der Träume und als Engel oder Dämon vorgestellt, der schließlich auch in einem eigenen Ritual (She’elat chalom) beschworen werden konnte.39 Möglicherweise sollte dadurch der im hellenistischen Bereich verbreiteten Vorstellung entgegen getreten werden, nach der die Träume direkt von Göttern eingegeben werden. Der Vorbehalt gegen diese hellenistisch geprägte Sicht setzt sich bei einigen jüdischen Philosophen fort. Die Träume werden als von Engeln übermittelt vorgestellt, kommen nicht direkt von Gott. Aufnahme fand diese Vorstellung sicherlich auch unter dem Einfluss der Schilderungen des Danielbuches, in denen der Engel Gabriel allerdings noch als ‚Enthüller‘ und Erklärer der Träume erscheint, nicht als ihr Urheber. In der späteren jüdischen Mystik, der Kabbala, wird Gabriel dann freilich so zu dem Traummittler und Verursacher von Träumen schlechthin. Eine ebenfalls bereits im Babylonischen Talmud angelegte Tendenz ist es, Träume Dämonen und Geistern zuzuschreiben. Insbesondere weibliche, Träume vermittelnde Dämonen wie Lilit werden so zu den Verursachern von Alpträumen gemacht.40 Sie können vor allem Männern großen Schaden zufügen. Gott wird in solche Vorgänge nicht mehr involviert. Die Intention, Gott von der Verursachung des ambivalenten Phänomens Traum zu entlasten, wird dann von einem der wichtigsten Talmudkommentatoren des 16. Jahrhunderts systematisch zusammengefasst. Shmu’el bar Jehuda ha-Levi Edels (1555– 1631) aus Ostraha (Mährisch Ostrau) resümiert in seinem Kommentar zu der AggadaSammlung En Ja‘akov,41 dass Träume nur durch dreierlei verursacht sein können: 37 Vgl. bSanhedrin 30a. 38 Die Bezeichnung ba‛al chalom findet sich bereits in Gen 37,19, dort jedoch noch im Sinne von Träger des Traums, d. h. ,Träumer‘ (vgl. Sa‛adja Gaon zur Stelle). In der rabbinischen Literatur wird das Konzept vor allem im babylonischen Talmud ausgebaut. Vgl. bBerakhot 10b; bSanhedrin 30a. Siehe auch schon tMa‛aser Sheni 5,6. 39 Vgl. dazu die Hinweise bei EPHRAIM KANARFOGEL: „Peering through the Lattices“. Mystical, Magical, and Pietistic Dimensions in the Tosafist Period, Detroit 2000, S. 183f. 40 Vgl. dazu bShabbat 151a. – Zu Lilit vgl. ALEXANDER KOHUT: Die jüdische Angelologie und Dämonologie in ihrer Abhängigkeit vom Parsismus, Leipzig 1866, S. 88; TRACHTENBERG (Anm. 9), S. 32 f.; KRISTIANPOLLER (Anm. 8), S. 97 f. 41 Vgl. Ya‘akov ibn Chabib: Sefer En Ja'aqov. ‛Im kol ha-mefarshim ha-nekuvim be-sha‛ar ha-sheni, Wilna 1853 (Nachdruck New York 1955), 84a (zu bBerakhot 55b).

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(1) Durch Dämonen, und solche Träume sind nach ihm ohne Erklärung ganz bedeutungslos; (2) durch den Einfluss der Planeten; solche Träume gehen auch ohne Deutung in Erfüllung, können aber durch Interpretation Änderungen erleiden; (3) durch Engel, und solche Träume erdulden nur eine Deutung, ohne dabei einer Änderungsmöglichkeit unterworfen zu sein. Diese bemerkenswerte, vor allem auf Überlieferungen des Babylonischen Talmud fußende Zusammenfassung haben manche mittelalterliche Philosophen des Judentums aufgenommen und rationalistisch umzudeuten versucht. Eine Systematisierung der Traumdeutung erfolgte aber erst in nach-talmudischer Zeit. Die spätantiken Rabbinen in Palästina und Babylonien selbst haben diesbezüglich keine systematisierte Lehre entworfen.42

3.

Gaonäische Deutungsansätze

Der erste eigenständige Denker, der sich mit Träumen befasst hat, ist gleichzeitig eine der ungewöhnlichsten Persönlichkeiten des jüdischen Mittelalters: Sa‛adja Gaon oder arabisch Sa‛īd Ibn Jūsūf aus dem oberägyptischen Fajjūm (882–942).43 Sa‛adja verkörpert wie kein anderer den tiefgreifenden Wandel im Judentum, der sich in der Zeit der frühen Ausbreitung des Islam (ab dem 7. Jahrhundert) vollzog und der durch die arabischen Übersetzungen der griechischen Kunst der Traumdeutung auch mit klassischantiken Vorstellungen in Berührung kam.44 Er war zwar nicht der erste Philosoph des Judentums nach der talmudischen Zeitspanne, wie es noch oft zu lesen ist, doch tritt uns in ihm erstmals eine Persönlichkeit entgegen, die als Schulhaupt oder Ga’on („Erhabener“) einer rabbinischen Akademie in Sura biographisch genauer greifbar wird.45

42 Zu diesem Problem, das sich generell für in rabbinischer Literatur erkennbare Themenkomplexe belegen lässt, PETER SCHÄFER: Studien zur Geschichte und Theologie des rabbinischen Judentums, Leiden 1978 (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums 15), S. 1–8. 43 Vgl. zu ihm HENRY MALTER: Saadia Gaon. His Life and Works, Philadelphia 1921 (Nachdruck Hildesheim 1978); ROBERT BRODY: The Geonim of Babylonia and the Shaping of Medieval Jewish Culture, New Haven, London 1998, S. 235–248. 44 Zu den arabischen Artemidoros-Übersetzungen unter dem Titel fī Ta‛abir al Ruyā vgl. MORITZ STEINSCHNEIDER: Ibn Schāhīn und Ibn Sīrīn. Zur Literatur der Oneirokritik. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 17 (1863), S. 227–244; Ders.: Die arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen (Nachdruck Graz 1960), S. 105f. (143f.). 45 Vgl. einleitend REIMUND LEICHT: Art. ,Sa‛adya ben Joseph‘. In: Lexikon jüdischer Philosophen. Philosophisches Denken des Judentums von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. von ANDREAS B. KILCHER / OTFRIED FRAISSE unter Mitarbeit von YOSSEF SCHWARTZ, Stuttgart 2003, S. 10–14.

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In der Einleitung (§ 5) zu seinem philosophischen Hauptwerk, dem arabischen Kitab al-Āmānāt wa-’l-l‛tikādāt, hebräisch Sefer Emunot we-De‛ot, dem „Buch der (philosophischen) Meinungen und Glaubenslehren“, schreibt er – rabbinische Interpretationslinien aufnehmend, doch mit rationalistischer Intention –, dass wir im Traume manchmal Gegenstände sehen, welche uns des Tages beschäftigt haben, worauf der Vers in Kohelet 5,2 hinweise: „Der Traum kommt von vieler Beschäftigung“, ki ba hachalom mi-rov injan, d. h. er sei eine Reflexion der Geschehnisse des Tages. Manchmal wieder entstünden Träume durch Speisen, ihre Wärme oder Kälte und ihre Qualität, eine bereits bei den Griechen bekannte Vorstellung, auf die nach Sa‛adja Jesaja 29,8 hindeutet: „Wie der Hungernde träumt, er esse, aber erwacht und sein Hunger ist nicht gestillt; wie der Durstende träumt, er trinke, aber erwacht und siehe, er ist ermattet, seine Seele lechzt.“46 Auf der anderen Seite entstehen Träume nach Sa‛adja, wenn in der natürlichen Wärme des Körpers Unregelmäßigkeiten auftreten. Den bereits bei Aristoteles47 belegten Vorstellungen folgend, bilden Wärme und Feuchtigkeit Freude und Schmerz; Kälte und Trockenheit hingegen erzeugen Trauer und Sorgen. Hierauf deute nach Sa‛adja auch Ijob 7,14 hin: „Du ängstigst mich mit Träumen, und mit Gesichtern erschreckst Du mich.“

4.

Mittelalterliche jüdische Philosophen

Abraham Ibn Esra, der aus Tudela in Spanien gebürtige Exeget, Dichter und Philosoph (1089/92–1164/67),48 kann dann in seinem Kohelet-Kommentar zu Prediger 5,2 hierzu anmerken: „Wenn der Traum viele Dinge durcheinander mengt, entsteht der Traum aus der Mischung vieler Speisen und durch Überwiegen eines der vier Grundprinzipien (Wärme, Kälte, Trockenheit, Feuchtigkeit).“49 Die Vorstellung eines Einflusses der Speisen auf die Träume war bereits den antiken Pythagoräern bekannt. Doch hier wird der Gedanke auf die von Sa‛adja entwickelte Lehre der „Grundprinzipien“, der

46 SE‛ADJA GA’ON: Sefer ha-nivchar be-Emunot we-De‛ot. Makor we-Targum. Hrsg. von YOSEF DAVID KAFIH, Jerusalem 1970, S. 17 f. Für eine Übersetzung vgl. SAADIA GAON: The Book of Beliefs and Opinions. Translated from the Arabic and the Hebrew by SAMUEL ROSENBLATT, New Haven 1948 (Yale Judaica Series 1), S. 20. 47 Vgl. Aristoteles, Meteorologica IV, 1 (Anfang); De generatione et corruptione II 2, 3. 48 Vgl. zu ihm URIEL SIMON: Abraham ibn Ezra. In: Hebrew Bible / Old Testament. The History of its Interpretation. Vol. I: From the Beginnings to the Middle Ages (until 1300). Hrsg. von MAGNE SÆBØ, Göttingen 2000, S. 377–387. 49 Man könnte paraphrasieren: ,Wer durcheinander isst, träumt wirres Zeug.‘ Vgl. dazu DIRK U. ROTTZOLL: Abraham Ibn Esras Kommentare zu den Büchern Kohelet, Ester und Rut. Eingeleitet, übersetzt und kommentiert, Berlin, New York 1999 (Studia Judaica 12), S. 121.

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‛Ikkarim, angewandt. Auch daran zeigt sich, dass die Lehren des bedeutenden babylonischen Gelehrten bis in die weit entfernte spanische Diaspora gelangten. Der ebenfalls aus dem damals noch christlichen Toledo stammende Gelehrte, Arzt und Dichter Jehuda ben Shemu’el ha-Levi (geb. vor 1075 in Toledo, gest. 1141 im Lande Israel) steht noch stärker als die genannten Vorgänger unter dem Einfluss islamischer Philosophie. Sein Hauptwerk verfasste er in Arabisch, doch wurde es in der hebräischen Übersetzung von Jehuda ibn Tibbon unter dem Titel Sefer ha-Kusari weiter verbreitet.50 Den Rahmen dieses Werkes stellt ein imaginärer, assoziativer Dialog dar, der sich auf ein historisches Ereignis bezieht: die Bekehrung des Chasaren-Königs (um 740) zur jüdischen Religion. Hervorgehoben zu werden verdient hier eine Stelle aus dem Buch Kusari, die wiederum auf eine der Kernfragen der rabbinischen Diskussionen über Träume rekurriert. Zum einen stellt Jehuda ha-Levi fest, dass sich „wahrhafte Träume“ (hebr. chalomot ne’emanim) wie die prophetische Gabe auch bei denen finden, die sich nicht mit Wissenschaft und Läuterung der Seele beschäftigt haben, also ohne Ansehen bei allen Menschen gleich (I, 4).51 Zum anderen betont er, dass die Fähigkeit der Zukunftsschau im Traum ihren Ursprung nicht in einer geläuterten Seele und im tätigen Verstand habe (I, 87)52 und auch nicht im Wirken des Engels Gabriel, dem Traummittler schlechthin.53 Er lehnt die Vorstellung ab, dem Menschen erschiene im Traum oder im Zustand zwischen Schlaf und Wachen etwas, als rede jemand mit ihm, schließlich gäbe es auch die direkt von Gott vermittelte Rede oder Offenbarung.54 Den einflussreichsten jüdischen Beitrag zur Bewertung des Phänomens Traum finden wir bei dem wichtigsten jüdischen Philosophen des Mittelalters, dem aus Cordova gebürtigen Moshe ben Maimon, mit arabischem Namen Abū Imrān Mūsā ibn Maimūn (1138–1204),55 bei den Scholastikern latinisiert zu Maimonides, und zwar in seinem philosophischen Hauptwerk, dem eine jüdische Antwort auf den arabisch vermittelten Aristotelismus gebenden More nevuchim, dem zunächst arabisch verfassten „Führer

50 Vgl. Das Buch Al-Chazarî aus dem Arabischen des Abu-l-Hasan Jehuda Hallewi. Übersetzt von HARTWIG HIRSCHFELD, Breslau 1885 (Nachdruck Wiesbaden 2000). 51 Vgl. HIRSCHFELD (Anm. 50), S. 6. 52 Vgl. HIRSCHFELD (Anm. 50), S. 28. 53 Vgl. zu ihm etwa PETER SCHÄFER: Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Berlin, New York 1975 (Studia Judaica 8), S. 57–59. 54 Zu islamischen Traumlehren vgl. diesbezüglich etwa CHERIFA MAGDI: Die Kapitel über Traumtheorie und Traumdeutung aus dem Kitāb at-tahrīr fī ‛ilm at-tafsīr des Diyā ad-Dīn al-Ğazīrī, Freiburg 1971, S. 44 und 150. Zum Ganzen siehe auch ANNEMARIE SCHIMMEL: ,Ein Traum war, was wir sahen.‘ Träume im Islam. In: Die Wahrheit der Träume. Hrsg. von GAETANO BENEDETTI / ERIK HORNUNG, München 1997 (Eranos N.F. 6), S. 39–83, hier S. 40. 55 Für eine biographische Einführung vgl. STEFAN SCHREINER: Mose ben Maimon. Arzt, Philosoph und Oberhaupt der Juden. Eine Erinnerung anlässlich seines 800. Todestages. In: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 60 (2004), S. 281–300.

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der Unschlüssigen“ (More Nevuchim II 36–38).56 Nach Maimonides besitzen Träume keine kognitive Bedeutung im Sinne eines geistigen Prozesses, durch den neue Ideen oder Einsichten in bislang Unbekanntes ermöglicht werden. Träume sind ihm zufolge vielmehr nur Funktionen der Imagination, nicht des Gefühls oder des Intellekts. Ganz auf der Linie einiger rationalistischer Aussagen innerhalb der rabbinischen Literatur, aber auch bei Aristoteles, sind Träume nach Maimonides kein neues Produkt der Seele oder etwas von außen in den Menschen Eingetragenes, sondern stammen aus der in einem Menschen befindlichen Substanz gefühlter und intellektueller Eindrücke: „Du kennst“, so schreibt Moshe ben Maimon, „die Wirkung der Einbildungskraft, die im Gedächtnisse behält die durch die Sinne empfundenen Gegenstände, sie aneinanderreiht und ihrer Natur gemäß durchforscht.“57 Ihre größte und wichtigste Wirksamkeit entfaltet sie aber, wenn die Sinne ruhen und ihre Tätigkeit aufhört. Dann wirkt sie ihren Anlagen entsprechend am besten, und dies ist die Ursache der sich bewährenden Träume und selbst der Prophetie. Diese unterscheiden sich wohl in Bezug auf das Mehr oder Weniger, jedoch nicht hinsichtlich ihrer Art.58 Darauf weist nach Maimonides auch die oben zitierte Stelle im Talmud, Traktat Berakhot 57b, hin, nach der der Traum ein Sechzigstel der Prophetie sei.59 So sei auch der Satz zu verstehen, nach dem es drei „Abfälle“ gibt und der Traum ein „Abfall“ (novelet)60 der Prophetie sei. Das heißt: Die abgefallene Frucht ist eigentlich die Frucht selbst, nur fiel sie vor ihrer Reife ab, so ist auch die Wirksamkeit der Einbildungskraft während des Schlafes dieselbe wie jene der Prophetie, nur dass sie nicht ausreichend und nicht zum äußersten Ziele gelangt ist. Seiner rationalisierenden Auffassung entsprechend sprachen daher alle Propheten mit Gott nur im Schlaf.61 Der Mensch vergegenwärtigt im Traum Gedanken, die er bereits zuvor gehabt hat. Maimonides lehnte konsequenterweise alle Riten ab, in denen das Träumen als Offenbarungsquelle genutzt wird, wie z. B. das so genannte Traum-Fasten, welches in gaonäischen Quellen beschrieben wird und der Vorbereitung auf einen Offenbarungstraum dienen sollte. Maimonides beschreibt in seinem Gesetzeskodex Mishne Tora nur das

56 Vgl. Mose ben Maimon: Führer der Unschlüssigen. Übersetzung und Kommentar von ADOLF WEISS. Mit einer Einleitung von JOHANN MAIER, Bd. 1, Hamburg 21995 (Philosophische Bibliothek 184 a–c), S. 238–256. Für eine neuere und bessere Übersetzung des arabischen Originals vgl. MICHAEL SCHWARZ: Maimonides. The Guide of the Perplexed. Hebrew Translation from the Arabic Original, Annotations, Appendices, and Indices, Tel Aviv 2002, S. 384–393 (hebr.). 57 Vgl. Mose ben Maimon (Anm. 56), S. 239. 58 Vgl. Mose ben Maimon (Anm. 56), S. 240. 59 Vgl. SCHWARZ (Anm. 56), S. 386 (hebr.). – Vgl. zum Ganzen auch Aristoteles: De insomniis 1. 60 Vgl. Berakhot 57b sowie Midrash Bereshit Rabba 17, 5 und 44, 17 (Hrsg. von THEODOR / ALBECK [Anm. 18], S. 157 und S. 439). – ,Abfall‘ steht bildlich für etwas, was einem andern zwar ähnlich ist, ihm jedoch nachsteht, ebenso wie die abgefallene Frucht der reifen ähnlich ist. Vgl. KRISTIANPOLLER (Anm. 8), S. 105. 61 Vgl. WEISS / MAIER (Anm. 56), S. 272–278.

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Fasten nach einem schlechten Traum, das man sogar an einem Sabbat durchführen sollte.62 Dass Maimonides’ Traumtheorie zu einem Vorbild für christliche Lehrer wie Albert den Großen und Thomas von Aquin wurde, ist bereits des Öfteren thematisiert worden.63 Insbesondere der Gedanke der Prophetielehre, nach der der Traum ein Abfall von Prophetie sei, findet sich wörtlich aus dem More nevuchim, dem Dux neutrorum, übernommen in De somno et vigilia des Albertus Magnus.64 Das maimonidische Stufenmodell, nach dem zwischen einer Vision im Wachzustand und einer Schau im Schlaf unterschieden werden müsse,65 findet bei Thomas zwar nur verkürzt Berücksichtigung. Doch räumt der Aquinate ein, bereits Rabbi Moyses habe die vier Stufen der Prophetie unterschieden. Wenn sich dem Propheten etwas in einer Vision im Wachzustand zeige, so sei dies die hervorragende Stufe. Der maimonidische Gedanke, nach dem die Prophetie im Verstand beginne und im Traum vollendet werde, findet bei ihm unmittelbare Berücksichtigung.66 Innerjüdisch finden diese philosophisch inspirierten Gedanken freilich ebenso Rezipienten. So fußt Lewi ben Gershon (Akronym: Ralbag), lateinisch Gersonides oder auch Leo Hebraeus (gest. 1344) aus der Provence,67 in seinem Denken ebenso unmittelbar auf den Vorgaben des Moshe ben Maimon, auch wenn er sich in einigen Fragen deutlich von ihm unterscheidet. In seiner religionsphilosophischen summa, den 1329 vollendeten Milchamot Adonai, den „Kämpfen Gottes“, geht er im vierten Buch ausführlich auf die Frage ein, auf welche Weise die Vorhersage der Zukunft in „Traum, Divination oder Prophetie“ verursacht wird.68 Auch für Gershon ist die Überzeugung grundlegend, dass der Mensch mit Hilfe des Verstandes zur richtigen Erkenntnis der Träume gelangen kann. Wie die Prophetie ist der Traum daher ein größeres Maß an 62 Siehe Rabbenu Moshe ben Maimon: Sefer Mishne Tora. Jotze le-or pa‛am rishona ‛al-pi kitve jad Teman ‛im perush mekif. Hrsg. von YOSEF D. KAFIH, Jerusalem 1986, S. 771f. (Ta‛aniyot I 12). Vgl. The Code of Maimonides. Book Three: The Book of Seasons. Translated from the Hebrew by SOLOMON GANDZ / HYMAN KLEIN with an Appendix by ERNEST WIESENBERG, New Haven 1961 (Yale Judaica series 14), S. 433f. 63 Siehe den Beitrag von NOTGER SLENCZKA in diesem Band, S. 133–160. 64 Vgl. hierzu GÖRGE K. HASSELHOFF: Dicit Rabbi Moyses. Studien zum Bild von Moses Maimonides im lateinischen Westen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, Würzburg 2004, S. 156f. 65 Vgl. WEISS / MAIER (Anm. 56), S. 245. 66 Vgl. HASSELHOFF (Anm. 64), S. 157. Siehe zu dieser auf die zwölfte Quaestio über die Wahrheit bezugnehmende Passage: Ders.: ‚Rabbi Moyses‘ – zur Wirkungsgeschichte von Moses Maimonides im christlichen Mittelalter. In: Judaica. Beiträge zum Verstehen des Judentums 60 (2004), S. 1–20, hier S. 10–15. 67 Vgl. zu ihm MORITZ STEINSCHNEIDER: Gesammelte Schriften. Hrsg. von HEINRICH MALTER / ALEXANDER MARX, Bd. 1: Gelehrten-Geschichte, Berlin 1925 (Nachdruck Hildesheim, New York 1980), S. 233–270. 68 Vgl. BENZION KELLERMANN: Die Kämpfe Gottes von Lewi ben Gerson. Übersetzung und Erklärung des handschriftlich revidierten Textes, Berlin 1914, S. 73–77.

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Erkenntnis; Prophetie ist aber Philosophie auf einer Stufe, die relativ selten erreicht wird, zugleich ein natürliches Phänomen, das damit weitgehend vom religiösen Bezug abgelöst ist. Ausführlicher unterscheidet Josef Albo (geboren 1380 in Aragonien, gestorben 1444 in Soria)69 den Traum von der Prophetie dadurch, dass ersterer ohne unnütze Dinge nicht denkbar, letztere aber absolute Wahrheit sei, wie dies auch schon von Maimonides dargestellt worden war. Sein Hauptwerk, das Sefer ha-‛Ikkarim, das „Buch der Grundlehren“, versucht jedoch gegen Maimonides und die von ihm verfassten dreizehn Glaubensprinzipien eigene Lehren aufzustellen, indem er auch eine differenziertere Sicht einer sich in vier Stufen entfaltenden Prophetie vertritt.70 Das Werk Albos kann als ein Abschlusspunkt für unseren Überblick über die mittelalterlichen jüdischen Philosophen dienen. Das Sefer ha-‛Ikkarim gilt als das letzte große Werk der jüdischen Philosophie im Mittelalter, auch wenn sich noch bei dem etwas späteren Shim’on ben Zemach Duran (geboren 1361 auf Mallorca, 1444 gestorben in Algier) in seinem Hauptwerk Magen Avot, „Schild der Väter“,71 ein bemerkenswerter Abschnitt zur Herkunft wahrer Träume findet, der allerdings mit Lewi ben Gershon zunächst übereinstimmt und nur das altbekannte Schema, demzufolge der Grund der Träume im Temperament des Träumers zu suchen sei, näher erläutert. Bemerkenswerterweise führt Duran jedoch dann weiter aus, dass nur schwarzhäutige Leute von kaltem und trockenem Verstand wahre Träume haben.72 Die Wärme verursacht häufigen Übergang von einer Vorstellung zur anderen, so dass sich die Wahrheit nicht feststellen lässt. Hingegen sind die Kälte und Trockenheit standhafter und lassen den Träumer in derselben Vorstellung verhaften. Darum haben rote Menschen unwahre Träume, wegen der vielen Wärme der Mischung ihrer körperlichen Säfte. „Weißfarbige Menschen haben wegen der Feuchtigkeit überhaupt keine Träume, weil sie kalter Temperatur sind. Die schwarzen haben ausschließlich wahre Träume.“73

69 Eine Einleitung in sein Leben und Werk bietet SINA RAUSCHENBACH: Josef Albo (um 1380– 1444). Jüdische Philosophie und christliche Kontroverstheologie in der frühen Neuzeit, Leiden, Boston, Köln 2002 (Studies in European Judaism 3), S. 2–10. 70 Für eine deutsche Übersetzung vgl. Sefer Iqqarim. Grund- und Glaubenslehren der Mosaischen Religion von R. Joseph Albo nach den ältesten und correctesten Ausgaben in’s Deutsche übertragen und mit Anmerkungen begleitet von WOLF und LUDWIG SCHLESINGER, Frankfurt a. M. 1844, S. 223–228 (III 9). 71 Siehe Shim‛on ben Tzemah Duran: Sefer Magen Avot. Ha-heleq hap-filosofi, Livorno 1785, Faksimile Nachdruck Jerusalem um 1969. 72 Shim‛on ben Tzemah Duran (Anm. 71), S. 70a. 73 Shim‛on ben Tzemah Duran (Anm. 71), S. 70a.

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Chaside Ashkenas

Obwohl in solchen Vorstellungen irrationale Elemente aufscheinen, muss zur weiteren Differenzierung innerhalb des Spektrums mittelalterlicher jüdischer Traumdeutungen noch auf einige gegen all diese bereits im Talmud ihren Ausgang nehmenden rationalisierenden Tendenzen eingegangen werden, und zwar auf die Chaside Ashkenas oder die „Frommen Deutschlands“, eine asketische Bewegung innerhalb des Judentums des 13. Jahrhunderts.74 Der Gründer dieser sozialgeschichtlich nicht genau rekonstruierbaren Bewegung75 soll Jehuda der Fromme (he-chasid) gewesen sein (geboren 1140 in Speyer, gestorben 1217 in Regensburg).76 Er gilt als einer der Verfasser des „Buches der Frommen“, Sefer Chasidim,77 eines Sammelwerkes unterschiedlicher Provenienz,78 dessen Frömmigkeitsideal einerseits aus der Märtyrerfrömmigkeit der Kreuzzugszeit erklärt werden kann, andererseits als eine Reaktion auf das formalisierte Gelehrtenideal der Tosafistenperiode verstanden werden muss. Rabbi Jehuda (bzw. die ihm zugeschriebenen Texte) erkennt den Unterschied zwischen der Prophetie bzw. der Vision und dem gewöhnlichen Traum wieder wie in der talmudischen Überlieferung darin, dass jene nur durch Mitwirkung der Engel, dieser durch den Einfluss der Dämonen entsteht.79 Die Vision ereignet sich am Tage, während 74 Grundlegend hierzu immer noch GERSHOM SCHOLEM: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1967, S. 87–127; DAN (Anm. 6), S. 33–35. 75 Vielleicht handelte es sich nicht um eine Bewegung im herkömmlichen Sinne, sondern um einen Klan oder eine Familie. Vgl. dazu JOSEPH DAN: Ashkenazi Hasidism, 1941–1991: Was there Really a Hasidic Movement in Medieval Germany? In: Gershom Scholem’s Major Trends in Jewish Mysticism 50 Years After. Proceedings of the Sixth International Conference on the History of Jewish Mysticism. Hrsg. von PETER SCHÄFER / JOSEPH DAN, Tübingen 1993, S. 87–101. 76 Zu ihm vgl. etwa JOSEPH DAN: Jewish Mysticism. Bd. 2: The Middle Ages, Northvale NJ, Jerusalem 1998, S. 259–276. 77 Die Standardausgabe ist nach wie vor: Sepher Chassidim. Das Buch der Frommen nach der Rezension in Cod. de Rossi No. 1133. Zum ersten Male herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von JEHUDA WISTINETZKI, Leipzig 1860 (Nachdruck Jerusalem 1998, hebr.). 78 Vgl. dazu JOHANN MAIER: Rab und Chakam im Sefer Chasidim. In: Das aschkenasische Rabbinat. Studien über Glaube und Schicksal. Hrsg. von JULIUS CARLEBACH, Berlin 1995, S. 37–118, bes. S. 45. 79 Zu den bereits intensiv erforschten Traumschilderungen in diesem Buch vgl. JOSEPH DAN: Letorat ha-halom shel Haside Ashkenas. In: Sinai 68 (1971), S. 288–293; MONFORD HARRIS: Dreams in Sefer Hasidim. In: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 31 (1963), S. 51–80; TAMAR ALEXANDER: Dream Narratives in Sefer Hasidim (Book of the Pietists). In: Trumah 12 (2002), S. 65–78. Für einen Überblick über die bisherige Forschung vgl. ANNELIES KUYT: Hasidut Ashkenaz on the Angel of Dreams: A Heavenly Messenger Reflecting or Exchanging Man’s Thoughts. In: Creation and Re-Creation in Jewish Thought. Festschrift in Honor of Joseph Dan on the Occasion of his Seventieth Birthday. Hrsg. von RACHEL ELIOR / PETER SCHÄFER, Tübingen 2005, S. 147–163.

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der Traum in der Nacht über den Menschen kommt.80 Im Unterschied zu seinen philosophisch systematisierenden Vorgängern wird das Phänomen Traum von dieser mystisch beeinflussten Schule von Denkern nicht mehr in eine Theorie eingepasst. Viele Traumtexte des „Buches der Frommen“, die sich in religionspraktische Unterweisungen und Berichte über Träume unterscheiden lassen, bleiben auch deswegen unklar oder scheinen sich zu widersprechen. Dies ist etwa an der Rolle der Engel ersichtlich. Sie werden einerseits als für die Übermittlung gewisser Träume unverzichtbar angesehen, andererseits wird auch die Rolle der Seele des Menschen bei der Vermittlung von Träumen betont.81 Doch lässt sich in Texten des Sefer Chasidim auch der Gedanke belegen, dass der Grund für den Traum die Gedanken eines Menschen sind, und zwar so, dass sie, indem sie mit der göttlichen Botschaft korrespondieren, mit der Vernunft übereinstimmen. Weit über die in der älteren rabbinischen Literatur hinaus geht dann allerdings die Wertung der Träume als Zeichen, mit denen sich die Zukunft deuten lässt. Dadurch werden die Inhalte von Träumen für diese später sehr einflussreiche mystische Bewegung des mittelalterlichen Judentums zu einer zentralen Reflexionsform auf ihre Ziele. Der Traum und seine entsprechende Deutung wird gewissermaßen zu einem hermeneutischen Mittel, um die eigene Weltsicht zu verbreiten: Das Ziel des menschlichen Lebens liegt im jenseitigen Lohn, der mit den in dieser Welt erlittenen Leiden wächst. Träume sind Hilfsmittel, um den hinter der aufgrund der Verfolgungen als bedrückend empfundenen Realität liegenden Plan Gottes zu erkennen.

6.

Sefer ha-chajjim

Einen rationaleren, intensiv in der Auseinandersetzung mit der christlichen Umwelt und Theologie stehenden Ansatz zur Systematisierung von Träumen bietet das Sefer ha-chajjim, verfasst von einem Anonymus im Umfeld der so genannten Tosafisten, d. h. der Talmud-Kommentatoren nach Raschi, im Frankreich des beginnenden 13. Jahrhunderts.82 Die früher in die Nähe der Chaside Ashkenas gestellte Schrift ist stark durch Abraham Ibn Ezra und die von ihm hervorgebrachte philosophische Terminologie geprägt. Von GERSHOM SCHOLEM wurde das Buch als eine „Parallele zur Kabbala“ bezeichnet.83 Es lässt aber nicht nur eine von den Chaside Ashkenas unab80 Vgl. dazu Sepher Chassidim (Anm. 77), S. 86 und 63. Zum Ganzen vgl. HARRIS (Anm. 79), S. 57. 81 Vgl. hierzu KUYT (Anm. 79), S. 151ff., ähnlich bereits HARRIS (Anm. 79), S. 60. 82 Vgl. dazu grundlegend GEROLD NECKER: Das Buch des Lebens. Edition, Übersetzung und Studien, Tübingen 2001 (Texts and Studies in Medieval and Early Modern Judaism 16). NECKER vermutet als Verfasser Hayyim ben Hanan’el ha-Kohen aus Paris, der zu den nordfranzösischen Tosafisten in der dritten Generation nach Raschi gehörte. Vgl. zu ihm URBACH (Anm. 35), Bd. 1, S. 124–132. 83 Vgl. GERSHOM SCHOLEM: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Mit einem Geleitwort von ERNST L. EHRLICH und einem Nachwort von JOSEPH DAN, Berlin, New York 22001, S. 160.

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hängige Lehre erkennen,84 sondern auch Anklänge an die christliche, amalrikanische Bewegung85 aus Frankreich mit ihrer pantheistischen Philosophie, die von einem in allem wirksamen Gottesgeist ausgeht.86 Träume werden auch deshalb in diesem Werk sui generis eigentümlich systematisch, quasi ‚wissenschaftlich‘ in die Wirkweisen Gottes und in die Natur der Welt eingeordnet. In Relation zur Vision und damit zur Prophetie wird der Traum als ein Offenbarungsmedium „im tiefen Schlaf“ (angelehnt an Ijob 4,13) in das jüdische Denken integriert.87 Im Unterschied zu den Amalrikanern wird daher nicht nur zwischen verschiedenen Arten von Visionserlebnissen unterschieden, sondern die nächtliche Traumerfahrung der Seele wird in die verschiedenen Kategorien der Möglichkeit einer Kommunikation mit Gott einbezogen. Rationalistisch werden Träume daher in § 82 des Sefer ha-chajjim in vier Arten unterschieden:88 Die Arten der Träume kommen nach vier Kategorien (zustande). Die erste nach der Kategorie, (daß) der Mensch an eine Sache denkt, die ihn (solange) bedrückt, bis sie ihn ermüdet und der Körper müde wird, und vor lauter Müdigkeit schläft und entschlummert das Fleisch. (Doch) die Seele schläft niemals, denn (der) Geist schläft niemals. Wenn der Körper (ein)schläft über diesem Gedanken, dem er nachhing und der (ihn) bedrückte, (so) denkt die Seele, die nicht schläft, in der Nacht immer noch daran. Diese (Art des Traumes geht) über das, was vergangen ist, und der (Schrift)beweis ist der Traum Jakobs: Siehe, die Böcke, welche die Schafe besprangen [Gen 31,10], und (dies) war schon vorüber.89 Es gibt zu einer (anderen) Kategorie einen anderen Traum, und das ist die zweite (Art): Wenn ein Mensch (an) eine Sache denkt, und er kann sie nicht bekommen, und sie bedrückt ihn, und vor lauter Bedrückung und Denken wird der Körper müde, schlummert ein und schläft. (Doch) die Seele, die niemals schläft, denkt immer noch über diese Sache nach, so wie sie es tut, während der Körper wach ist. Dies ist (die Traumart, die von) Gegenwart (handelt), und der (Schrift)beweis ist (bei) Nebukadnezar [zu finden]: deine Gedanken auf deinem Lager [Dan 2,29]. Die dritte (Traumart) (handelt) von der Zukunft, die der gute Engel ihm (als) Zukunft zum Guten zeigt. Und ein böser Engel zeigt ihm das Schlechte das in der Zukunft geschehen wird, und der Schrift(beweis) ist (bei) Joseph und (auch bei) Nebukadnezar: Dich wird man ausstoßen von den Menschen [Dan 4,22]. Die vierte (Traumart ist), (wenn) beide Geister ihm Rat geben, jeder von beiden nach seiner Kraft: ‚handle so‘ und (der andere sagt:) ‚handle so‘, und er ist bedrückt von diesem Gedanken. Zu diesen vier (Arten) gehören alle Träume.

Wie bereits von SCHOLEM bemerkt, steht das Sefer ha-chajjim in unmittelbarer Nähe zur späteren kabbalistischen Literatur, in der zunächst ebenso wie in dem zitierten Abschnitt und ganz im Stile des antiken Midrasch alles mittels Schriftzitaten belegt wird. 84 Der Nachweis dieser Unabhängigkeit wurde erstmals geführt von JOSEPH DAN: Torat ha-sod shel chasidut Ashkenas, Jerusalem 1968, S. 57; Ders.: Chasidut Ashkenas be-toledot ha-mahshava hayehudit. Bd. 1, Tel Aviv 1990, S. 135–160. 85 Zurückgehend auf Amalrich von Bene (gest. 1206 in Paris), der auf der Grundlage von Johannes Scotus Eriugena eine extrem pantheistische Lehre entwickelt hatte. Vgl. NECKER (Anm. 82), S. 23. 86 Vgl. NECKER (Anm. 82), S. 16–35. 87 Vgl. NECKER (Anm. 82), S. 187. 88 Übersetzung nach NECKER (Anm. 82), S. 150–151, hebr. Text auf S. 64*. 89 D. h. Jakob berichtet [schon] von Vergangenem; vgl. Gen 30,37ff.

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In der Kabbala wird die im Sefer ha-chajjim fortschreitende Systematisierung der Traumerfahrung dann allerdings einerseits noch weiter fortgeführt, andererseits entwickeln sich ekstatische Traumtechniken, die dem Erlebnis breiteren Raum geben und sogar eine eigene Literatur hervorbringen.90 Ekstatische Elemente von Traumerfahrungen, möglicherweise angeregt durch ältere Überlieferungen aus gaonäischer Zeit,91 wurden hierdurch einerseits kontrolliert, die Bedeutung von nächtlichen Erlebnissen jedoch auch wieder stärker in den Mittelpunkt religiöser Erfahrung gestellt.

7.

Traum und Deutung – Deutung und Traum

Dieser knappe Überblick über die Fülle von mittelalterlichen jüdischen Quellen zum Phänomen Traum sei mit einigen allgemeinen Überlegungen abgeschlossen. Zunächst ist festzuhalten, dass die fast rationalistische Weise, mit der bereits einige spätantike Rabbinen in Palästina und Babylonien der Erscheinung begegneten, auch in späteren Zeiten zu beobachten ist. Die Erkenntnis eines im Namen von Rabbi Jochanan überlieferten Ausspruchs, dass man einem Menschen (im Traum) nur Gedanken seines Herzens zeigt, nicht jedoch eine goldene Palme oder ein Kamel, wie es durch ein Nadelöhr geht, setzt sich auch in den philosophisch inspirierten, in der Auseinandersetzung mit der hellenistischen und arabischen Philosophie stehenden Kommentaren fort. Allerdings ist stets zu beachten, dass es die eine jüdische Herangehensweise in den Quellen nicht gibt. Die Bibel bleibt zwar ein wichtiger Bezugspunkt der Hermeneutik des Traumes, aber nicht der einzige. Philosophische und irrationale, magisch-mantische Zugangsweisen bleiben zum Teil nebeneinander bestehen, werden aber zunehmend systematisiert. Ein spezifisches Element rationalistischer jüdischer Ansätze eines Verständnisses des Phänomens Traum ist insofern die Einsicht, dass Träume in gewissem Sinne Resultate von subjektiven Beeinflussungen sind. Die Erfüllung eines Traumes beruht auf einer „Suggestion durch den Deuter“,92 oder wie es bereits im noch durch ein hellenisiertes Umfeld geprägten Talmud Yerushalmi zu lesen ist: „Alle Träume gehen […]

90 Vgl. dazu insgesamt MOSHE IDEL: Nächtliche Kabbalisten. In: BENEDETTI / HORNUNG (Anm. 54), S. 85–117. 91 Zu den nicht zweifelsfrei Rav Hai Gaon zuzuschreibenden Berichten über Traumfasten vgl. Otzar ha-Gaonim. Thesaurus of the Gaonic Responsa and Commentaries Following the Order of the Talmudic Tractates, Bd. 4: Tractate Jom Tov, Chagiga and Maschkin. Hrsg. von BENJAMIN MANASSEH LEWIN, Jerusalem 1931, S. 17. Siehe hierzu auch MOSHE IDEL: Abraham Abulafia und die mystische Erfahrung, Frankfurt a. M. 1994, S. 27. 92 Vgl. dazu aus medizinischer Sicht JULIUS PREUSS: Biblisch-talmudische Medizin. Beiträge zur Geschichte der Heilkunde und der Kultur überhaupt, Berlin 1911 (Nachdruck Wiesbaden 1992), S. 157.

„Alle Träume erfüllen sich nach ihrer Deutung“

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nach der Deutung in Erfüllung.“93 Das heißt zwar nicht, dass Träume beliebig deutbar sind.94 Doch bleibt der menschliche Anteil an der Deutung des Geschehens gewahrt. Das Individuum als Teil der Erwählungsgemeinschaft Israels wird in Bezug auf das Traum-Geschehen wie hinsichtlich seiner Existenz als „Partner Gottes“ verstanden und ist daher dem Walten Gottes auch im Schlaf nicht willenlos ausgesetzt.95 In der Lebenswelt Babyloniens, wohl unter dem Einfluss eines stärker ausgeprägten Geister- und Dämonenglaubens einerseits, altorientalischer Traumdeutungstraditionen andererseits, und im Rheinland unter dem Eindruck der Kreuzzugsverfolgungen und unter dem Eindruck christlicher Umweltkultur wurden dann irrationale Elemente der Traumdeutung stärker akzentuiert. Diese sich vielleicht auf volkstümlicher Ebene stärker entwickelnden Ansätze stehen zwar in Konkurrenz zu den philosophischrationalistischen Ansätzen, wie sie uns einerseits schon bei Se‛adja Gaon, dann vor allem bei Maimonides und seinen Epigonen begegnen, können diese aber nicht vollkommen zurückdrängen. Wie die mittelalterlichen judäo-arabisch schreibenden Philosophen und dann auch der anonym überlieferte Sefer ha-Chajjim zeigen, standen jüdische Konzeptualisierungen des Phänomens Traum mit ‚äußeren‘, d. h. nicht-jüdischen Auffassungen stets in einem gewissen Austausch. Das Spannungsverhältnis zwischen den bereits in vor-rabbinischer und in der klassischen rabbinischen Zeit erkennbaren Tendenzen blieb so auch im Mittelalter bestehen – wenn auch unter veränderten politischen und sozialen Voraussetzungen.

93 Siehe dazu oben Anm. 33. 94 Vgl. dazu etwa auch die allerdings nur einmal belegte Meinung, dass zwar alle Träume nach ihrer Deutung erfüllt werden, dass aber die erste Deutung die entscheidende bleibt. Vgl. dazu den „Seder hatavat halom“, die Gebetsordnung zur Erlangung guter Träume. In: Machsor Vitry, Bd. 1. Hrsg. von ARYEH GOLDSCHMIDT, Jerusalem 2004, S. 166. 95 Vgl. dazu die rabbinischen Auslegungen von Gen 1,26–27 etwa in Bereshit Rabba 8. Hrsg. von THEODOR / ALBECK (Anm. 18), S. 54 ff.

BETTINA KRÖNUNG

Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen in der frühbyzantinischen monastischen Literatur Gemäß einer in der Literatur verbreiteten Ansicht war die Ekstase als Form der visionären Erfahrung im frühen Christentum ein verpöntes, im besten Falle ein Randphänomen, das in erster Linie mit häretischen Gruppierungen wie den Montanisten in Zusammenhang gebracht, von der offiziellen Kirche aber nicht anerkannt wurde. So äußert sich etwa der Neue Pauly, um nur ein Beispiel zu nennen, zu diesem Thema folgendermaßen: „[…] ebenso kennt die christliche Tradition wenigstens offiziell Ekstase nicht. […] Die dämonische Deutung der Ekstase verhindert die Anerkennung prophetischer Ekstase, die sich nur am Rande halten kann.“1 Die folgenden Ausführungen sollen verdeutlichen, dass eine negative Haltung gegenüber der visionären Ekstase im frühen Christentum weit weniger offensichtlich ist, als es oftmals postuliert wird. Zunächst können wir festhalten, dass es eine offizielle Meinung oder gar eine kanonisch festgehaltene Verurteilung in Bezug auf Ekstaseerfahrungen in der frühbyzantinischen Zeit niemals gegeben hat. Deshalb soll als erstes untersucht werden, ob die patristischen Texte, die meist als Grundlage für die Aussage herangezogen werden, dass die Ekstase ein von offizieller Seite missbilligtes Phänomen war, tatsächlich eine eindeutige Meinung darüber vermitteln. Es stellt sich die Frage, ob die Kirchenväter eine ausreichende theoretische Grundlage für eine vollständige Zurückweisung der Ekstase als spiritueller Praxis bieten oder ob sie nicht vielmehr den Spielraum für eine positive Bewertung der Ekstase als möglicher Gotteserfahrung bereithalten. Des weiteren soll in einem kurzen allgemeinen Überblick über die Bedeutung der mystischen Ekstase in der Spätantike gezeigt werden, in welchen breiteren Kontext auch die frühbyzantinische monastische Literatur einzuordnen ist. Im Hauptteil des Aufsatzes soll dann das Vorkommen von Ekstasen in der monastischen Literatur im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Spiritualität des Mönchtums der ersten byzantinischen Jahrhunderte untersucht werden. Dabei geht es zunächst um die, auch hier vorkommende, negative 1

FRITZ GRAF: Art. ‚Ekstase‘. In: Der Neue Pauly 3 (1997), Sp. 950–952, hier Sp. 952; in diesem Sinne auch PETER BROWN: The Rise and Function of the Holy Man. In: Journal of Roman Studies 61 (1971), S. 80–101, hier S. 93; ROBERT P. VAN DE KAPPELLE: Prophets and Mantics. A Response to E. R. Dodds. In: Pagan and Christian Anxiety. Hrsg. von ROBERT E. SMITH / JOHN LOUNIBOS, Lanham u. a. 1984, S. 87–111, hier S. 99 f.; SERGEJ A. IVANOV: Holy Fools in Byzantium and beyond, Oxford 2006, S. 24.

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Bewertung der Ekstase und weiterhin um die Ekstase als mystische Transzendenzerfahrung und somit als Bestandteil der monastischen Spiritualität. Abschließend soll dann thematisiert werden, welchen Stellenwert der mystischen Ekstase als Möglichkeit der Visualisierung transzendenter Inhalte im Vergleich zu anderen Formen der Visionserfahrung – insbesondere des Traumes – beigemessen wird.2

1.

Ekstasen bei den Kirchenvätern

Wenden wir uns also zunächst den patristischen Texten zu, so ist nicht zu leugnen, dass verschiedene Äußerungen auf eine Ablehnung der Ekstase hindeuten. So heißt es schon bei Origenes, „im Zustand der Ekstase und Raserei zu prophezeien, ohne bei sich selbst zu sein – dies ist nicht das Werk des göttlichen Geistes“3 und Basileios von Κaisarea führt aus: Manche behaupten, dass sie in Ekstase prophezeien, wenn ihr menschlicher Intellekt vom Heiligen Geist umhüllt ist. Dies ist jedoch entgegen der Verheißung der göttlichen Herabkunft, nämlich wie von Sinnen vorzutäuschen, göttlich inspiriert zu sein und, einmal von den göttlichen Lehren erfüllt, den eigenen Verstand zu verlieren (ἐξίσταμαι διανοίας).4 2

3 4

Grundlage für die Untersuchung sind die wichtigsten Werke der monastischen Literatur vom 3. bis zum 7. Jahrhundert n. Chr., zu denen alle jene Texte zu zählen sind, die über eine Vielzahl von sogenannten „heiligen Männern und Frauen“ berichten, die sich zur Askese in einsame Gegenden, insbesondere Ägyptens, Palästinas und Syriens zurückgezogen haben (die Unterscheidung von „Holy man“ und „Saint“ geht bekanntlich auf den berühmten Aufsatz von PETER BROWN [Anm. 1] zurück. Eine Zusammenfassung der durch BROWN ausgelösten wissenschaftlichen Diskussion findet sich bei AVERIL CAMERON: On defining the holy man. In: The Cult of Saints in Late Antiquity and the Middle Ages. Essays on the Contribution of Peter Brown. Hrsg. von JAMES HOWARD-JOHNSTON u. a., Oxford 1999, S. 27–43). Noch zu ihren Lebzeiten, aber auch posthum, wurden sie von ihren zeitgenössischen Bewunderern mit Texten gewürdigt, die eine große Vielfalt literarischer Formen aufweisen, für die die Bezeichnung „Hagiographie“ oder „hagiographische Literatur“ zu eng gefasst wäre (vgl. CLAUDIA RAPP: „For next to God, you are my salvation“. Reflections on the Rise of the Holy Man in Late Antiquity. In: The Cult of Saints. Hrsg. von JAMES HOWARD-JOHNSTON u. a., Oxford 1999, S. 63–81, hier S. 64; Dies.: The origins of hagiography and the literature of early monasticism: purpose and genre between tradition and innovation. In: Unclassical Traditions. Volume I: Alternatives to the classical past in Late Antiquity. Hrsg. von CHRISTOPHER KELLY u. a., Cambridge 2010, S. 119–130). So beinhaltet das Corpus der monastischen Literatur neben den eigentlichen Heiligenviten (βίος καὶ πολιτεία) auch die so genannten Vätersprüche (Apophthegmata Patrum), die erbauliche Literatur (z. B. das Pratum Spirituale oder die Historia Lausiaca) sowie theoretische bzw. ‚theoretisch-erbauliche‘ Traktate über den idealen Weg des monastischen Lebens (z. B. die Werke des Evagrios Pontikos oder die Scala Paradisi). Zu allen dem Aufsatz zugrunde liegenden Quellen und den verwendeten Editionen vgl. Appendix. Origenes: Contra Celsum VII 3, 39–41; ed. MARCEL BORRET, Paris 1969, S. 20,9–11. Basileios von Kaisarea: Enarratio in prophetam Isaiam, Praef. 5,1–6; PG 30, col. 125B.

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Es könnten noch weitere ähnliche Äußerungen zitiert werden, deren Sorge offensichtlich ein Missbrauch der Ekstase durch falsche Propheten war, die durch ekstatisches Gehabe listig vorgaben, vom Geist Gottes erfüllt zu sein. Eusebius spezifiziert diese falsche Ekstase terminologisch, wenn er von dem aufgrund eines übermäßigen Verlangens nach Ansehen von einem dämonischen Geist besessenen Häretiker Montanos berichtet, dass er in ‚Pseudoekstase‘ (παρέκστασις) anfing zu lallen und in Zungen zu reden. Auf diese Weise zu prophezeien sei, so Eusebius, entgegen der Tradition und des althergebrachten Erbes der Kirche.5 Dieses Beispiel zeigt deutlich, dass Eusebius die Ekstase nicht grundsätzlich ablehnte, sondern dass er neben der ‚Pseudoekstase‘ auch von einer echten, also durch die biblische Tradition legitimierten Ekstase ausging. Dass Eusebius mit dieser Haltung nicht alleine war, veranschaulichen auch andere theoretische Abhandlungen über Ekstasen biblischer Vorbilder wie Abraham, Moses, Paulus und Petrus. In Bezug auf Petrus, der laut der Apostelgeschichte in einer Ekstase den Himmel geöffnet sah (Apg 10,10), lautet Johannes Chrysostomos’ Erklärung folgendermaßen: „Die Ekstase ist eine geistige Schau und ein Heraustreten der Seele aus dem Körper“.6 Ähnlich äußert sich Prokopius von Gaza dazu mit den Worten: Ekstase ist das Hinausgehen aus der gewöhnlichen Sinneswahrnehmung, gemäß dem Ratschluss Gottes. So versetzte er auch Abraham in Ekstase, damit er die Schau der verborgenen Dinge erlangt.7

An anderer Stelle geht Prokopius dann näher auf die Beschaffenheit dieser prophetischen Ekstase ein, indem er postuliert, dass der vom Geist Gottes erfüllte Intellekt des Propheten nicht zu einem ‚Bewusstseinsverlust‘ (ἔκστασις διανοίας) – im Sinne der oben zitierten Stelle des Basileios – führt. Dies begründet er damit, dass es nicht möglich sei, dass der Geist der Weisheit den Propheten mit Unwissenheit erfülle.8 Dieser scharfen Trennung zwischen der falschen, weil vorgetäuschten und mit einem Bewusstseinsverlust einhergehenden Ekstase und der in der biblischen Tradition gründenden mystischen, bewusstseinserweiternden Ekstase begegnen wir zum ersten Mal in den erwähnten theoretischen Werken der Kirchenväter.9 Während sie sich bei der mystischen Ekstase an den biblischen Propheten orientieren, gehen die Merkmale der falschen Ekstase letztlich auf die dionysische Ekstase bei Euripides (ἔκστασις φρενῶν) und die Philosophie Platons zurück. Hier wird der vom ‚Eros‘ besessene und von der Menge für verrückt gehaltene Philosoph durch den enthousiasmos in göttlicher Raserei (θεία μανεία) zur ekstatischen Schau der Ideen, also hin zum Göttlichen, ge-

5 6 7 8 9

Eusebios von Kaisarea: Historia Ecclesiastica, V.16, 7.2–9; ed. GUSTAVE BARDY, Paris 2001, S. 47.24–48.6. Ioannes Chrysostomos: In Acta apostolorum; PG 60, col. 172.43–45. Prokopios von Gaza: Commentarii in Genesin; PG 87 / 1, col. 173B. Prokopiοs von Gaza: Commentarii in Isaïam; PG 87 / 2, col. 1817A. Vgl. auch ALEXANDER KAZHDAN: Art. ‚Ecstasy‘. In: Oxford Dictionary of Byzantium 1 (1991), S. 675.

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führt.10 Dionysische Raserei und mystische Schau schließen sich demnach in der platonischen Philosophie nicht aus, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig.

2.

Die Bedeutung der mystischen Ekstase in der Spätantike

Von Platon, vor allem aber auch durch stoisches Gedankengut beeinflusst, thematisieren auch Philosophen der Spätantike die Ekstase als Weg, mit dem Göttlichen in Berührung zu kommen. So spielt die Ekstase als mystische Praxis im Neuplatonismus eine herausragende Rolle, und Plotin selbst ist bekannt für seine persönlichen Entrückungserfahrungen.11 Anders als bei Platon, ist es hier jedoch nicht mehr die dionysische Raserei, die gerade durch den Verlust des Bewusstseins zur Vereinigung mit dem Göttlichen führt, sondern das für die gesamte Spätantike – und eben gerade auch für das frühe Christentum – so typische asketische Lebensideal, das, kombiniert mit einer ausgeprägten Jenseitssehnsucht, in der Ekstase eine Bewusstseinserweiterung und damit die Vereinigung mit dem Göttlichen (Plotin) oder die Schau transzendenter Inhalte (Tertullian, Gregor von Nyssa, Dionysios Areopagites) anstrebt.12 Vor allem die Überzeugung, dass die Entrückungserfahrung mittels Imagination die Perzeption transzendenter Inhalte ermöglicht, beschränkt sich jedoch nicht alleine auf den philosophisch-theologischen Bereich, sondern ist vielmehr wesentlicher Bestandteil einer weitverbreiteten, religionsübergreifenden Imaginationsspiritualität, die gerade auch ein Charakteristikum der gesamten spätantiken Unterhaltungsliteratur – zu der auch

10 Vgl. FRIEDRICH PFISTER: Art. ‚Ekstase‘. In: Reallexikon für Antike und Christentum 4 (1959), S. 974–980. 11 Zur Bedeutung der mystischen Ekstase bei Plotin vgl. ERIC R. DODDS: Pagan and Christians in an Age of Anxiety, New York 1970, S. 72, 84–91; JENS HALFWASSEN: Plotin und der Neuplatonismus, München 2004, S. 49–58; KARIN ALT: Plotin, Stuttgart 2005, S. 9f., 29–31, 118–124. 12 Bei Tertullian: De anima 48.4, ed. JAN H. WASZINK, S. 854f., stellt die Ekstase die vierte und höchste Kategorie der Träume dar. Die Ekstase, so Tertullian, kann weder beschrieben noch gedeutet werden, ist aber besonders kostbar, wenn sie durch Enthaltsamkeit ausgelöst, in Gott stattfindet. Vgl. PATRICIA COX MILLER: Dreams in Late Antiquity, Princeton 1994, S. 69; BEAT NÄF: Traum und Traumdeutung im Altertum, Darmstadt 2004, S. 140. Zu der, stark vom Neuplatonismus beeinflussten, mystischen Theologie des Gregor von Nyssa vgl. JEAN DANIÉLOU: Platonisme et théologie mystique: Doctrine spirituelle de Saint Grégoire de Nysse, Paris 1944, S. 209–255; ALEXANDER KAZHDAN u. a.: Art. ‚Gregory of Nyssa‘. In: Oxford Dictionary of Byzantium 2, S. 882; COX MILLER (diese Anm.), S. 232f.; zur mystischen Ekstase bei Pseudo-Dionysios Areopagites vgl. WALTHER VÖLKER: Kontemplation und Ekstase bei Pseudo-Dionysius Areopagita, Wiesbaden 1958, S. 25–210; ALEXANDER KAZHDAN u. a.: Art. ‚Dionysios the Aeropagite, Pseudo-‘. In: Oxford Dictionary of Byzantium 1, S. 629 f.; SARAH KLITENIC WEAR u. a.: Dionysius the Areopagite and the Neoplatonist Tradition, Aldershot 2007, S. 128 f.; vgl. auch Anm. 86.

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die meisten Texte der monastischen Literatur gezählt werden dürfen – darstellt.13 Freilich werden hier die Visionserzählungen gerne als rhetorisches Mittel eingesetzt, was nicht nur mit ihrem hohen Unterhaltungswert zu erklären ist, sondern auch damit, dass sie einen geeigneten narrativen Rahmen darstellen, in dem abstrakte Ideen durch allegorische Visions-Inhalte vermittelt werden können. So illustrieren die monastischen Texte die theologischen Inhalte der christlichen Heilslehre und des kirchlichen Dogmas oftmals durch eingängige Bilder im Rahmen von Offenbarungserzählungen.14 Doch gerade die weite Verbreitung und die Beliebtheit von Entrückungserfahrungen in narrativen Texten zeigt deutlich, dass es nicht alleine um literarische Unterhaltung und theologische Belehrung geht, sondern eben auch um das Beschreiben einer Spiritualität, für welche die Perzeption transzendenter Inhalte kraft visionärer Erfahrungen ein tragendes Element darstellte. Inwiefern dies speziell für die monastischen Texte zutrifft, soll in den folgenden Ausführungen gezeigt werden.

3.

Dämonische Ekstasen in der monastischen Literatur

In einem großen Teil der monastischen Texte ist das bei den Kirchenvätern ausgeführte Kriterium der Bewusstseinserweiterung bzw. des Bewusstseinsverlustes zur Unterscheidung der echten, mystischen von der falschen, dionysischen Ekstase wieder anzu13 Diesbezüglich sind neben Erzählungen aus dem Alten Testament, der Johannesoffenbarung, den apokryphen Evangelien und der Apokalypse des Peter und Paulus auch die apokryphen Akten sowie die Henoch-Literatur, der Hirte des Hermas, die frühen Märtyrerakten (insbesondere die Passio Perpetuae) und die Roman-Literatur von Bedeutung. Vgl. ROSA SÖDER: Die apokryphen Apostelgeschichten und die romanhafte Literatur der Antike, Stuttgart 1932, S. 171–180; FRIDERICA WEINSTOCK: De somniorum visionumque in amatoriis graecorum fabulis vi atque usu. In: Eos 35 (1934), S. 29–72; DODDS (Anm. 11), S. 47–53; MARY DEAN-OTTING: Heavenly Journeys. A Study of the Motif in Hellenistic Jewish Literature, Frankfurt 1984; KLAUS BERGER: Visionsberichte. Formgeschichtliche Bemerkungen über pagane hellenistische Texte und ihre frühchristlichen Analogien. In: Studien und Texte zur Formgeschichte. Hrsg. von KLAUS BERGER, Tübingen 1992, S. 207–209; STAMATIS N. PHILIPPIDES: Η αφηγηματική αιτολόγηση των ονείρων στα αρχαία ελληνικά μυθιστορήματα. In: ὄψις ἐνυπνίου. Hrsg. von DIMITRIS. I. KYRTATAS, Herakleion 1993, S. 155–176; DIMITRIS. I. KYRTATAS: Τα όνειρα της ερήμου. Πειρασμοί και εσχατολογικές προσδοκίες των πρώτων χριστιανών ασκητών. In: ὄψις ἐνυπνίου (diese Anm.), S. 261– 281, hier S. 276; CHRISTINA ANGELIDI: Óνειρα και οράματα του προφήτη Ερμά. In: ὄψις ἐνυπνίου (diese Anm.), S. 212–225; COX MILLER (Anm. 12), S. 131–183; SUZANNE MACALISTER: Dreams and Suicides. The Greek Novel from Antiquity to the Byzantine Empire, New York 1996, S. 1– 18; NÄF (Anm. 12), S. 134–136. 14 Vgl. auch HIPPOLYTE DELEHAYE: Cinq Lessons sur la methode hagiographique, Brussels 1981, S. 117–146; ALEXANDER KAZHDAN / HENRY MAGUIRE: Byzantine Hagiographical Texts as Sources on Art. In: Dumbarton Oaks Papers 45 (1991), S. 11–18; PETER DRONKE: Imagination in the Late Pagan and Early Christian World. The First Nine Centuries A. D., Florenz 2003, S. 21f.

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treffen. Die letztere wird auch hier als Zustand des Wahnsinns beschrieben und terminologisch als ekstasis (ἔκστασις) und als ekstasis frenon (ἔκστασις φρενῶν) gekennzeichnet.15 Anders als die Kirchenväter verbinden jedoch die monastischen Texte die Kennzeichen der dionysischen Ekstase nicht mit der Pseudoekstase der falschen Propheten. Vielmehr beschreiben sie damit krankhafte Zustände, die fast immer mit dämonischer Besessenheit in Zusammenhang gebracht werden. Ihre Symptome übertreffen diejenigen der mystischen Ekstase an Heftigkeit und äußern sich in „Brüllen“, „zu Boden oder ins Wasser fallen“, „Körperstarre“, „Schäumen“ etc. und sind zuweilen so heftig, dass sie zum Tod führen.16 Als Grund für diese zerstörerische Ekstase wird häufig das Abdriften der Mönche vom Heilsweg angegeben. Besonders gefährdet dafür sind laut der Vita Pachomii die „normalen“ Mönche des koinobitischen Klosterlebens, „denn glauben sie etwas zu sein, was sie nicht sind, werden sie vom Feind dazu verführt, sehen zu wollen, und wenn sie verdorben sind, fallen sie in eine Ekstase (ἐμπέσῃ εἰς ἔκστασιν) wie so viele“,17 und Evagrios warnt: „Der Überheblichkeit folgt Zorn und Kummer und schließlich das äußerste Übel, Verrücktheit (ἔκστασις φρενῶν), Raserei und das Erblicken von einer Masse von Dämonen“.18 Und auch Antonius der Große berichtet in einem Väterspruch, dass er „Mönche kannte, die trotz harter Mühen gefallen und verrückt geworden sind (εἰς ἔκστασιν φρενῶν ἐλθόντας)“.19 Diese Warnungen werden in den Texten durch verschiedene Beispiele von dämonischen Ekstasen veranschaulicht. Eine besonders drastische Erzählung aus der Vita Pachomii berichtet von einem Bruder, der vom Dämon der Unzucht in eine Ekstase gerissen wurde (κατερράγη ἐν ἐκστάσει), sodass er wie tot auf dem Boden lag. Als er nach Tagen wieder ein wenig zu sich kam, ging er zu den Brüdern und sagte unter Weinen und Zittern, er selbst sei der Grund für seinen Untergang. […] Und noch während er dies sagte, wurde er so vom Dämon ergriffen, als wenn er außer sich geraten würde. Er rannte eine lange Strecke auf den Berg und kam in eine Stadt. Dort warf der Dämon den außer sich Geratenen (ἐκστατικὸν ὄντα) nach einiger Zeit in den Ofen des Bades, so dass er verbrannte.20

Auffällig ist bei diesen Schilderungen von dämonischen Ekstasen die Anlehnung an die aus den Evangelien bekannte Geschichte über den mondsüchtigen Knaben.21 Der Be15 Vgl. Appendix. 16 Markos Diakonos: Vita des Porphyrius von Gaza 90.2–6; ed. HENRI GRÉGOIRE / MARC-ANTOINE KUGENER, Paris 1930, S. 70,7–15. Vgl. auch Anm. 20. 17 Vita des Pachomios 135,11; ed. FRANÇOIS HALKIN, Genf 1982, S. 64,23. 18 Evagrios: Praktike 14,5; ed. ANTOINE GUILLAUMONT, Paris 1971, S. 534,1–3. 19 Apophthegmata Patrum (Alphabetische Sammlung), PG 65, col. 88B. 20 Vita des Pachomios 8,14–21; (Anm. 17), S. 14,30–15,6. 21 Laut Mk 9,17 f. wurde der Knabe von seinem Vater zu Jesus gebracht, da er seit seiner Kindheit immer wieder von einem unreinen Geist gepackt und geschüttelt worden sei und dabei Schaum vor dem Mund gehabt und mit den Zähnen geknirscht habe, bis er schließlich in Starrheit gefallen sei. In verkürzter Form erscheint die gleiche Erzählung bei Mt 17,15, wo der Vater des Jungen zu Jesus sagt: „Herr erbarme dich meines Sohnes, denn er ist mondsüchtig (σεληνιάζεται) und hat

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griff seleniazetai (σεληνιάζεται), also ‚mondsüchtig sein‘, kommt zwar in den monastischen Texten hin und wieder vor.22 Weit häufiger aber haben ihn die Autoren mit dem im Neuen Testament in dieser Bedeutung gänzlich ungebräuchlichen Begriff ekstasis (frenon) ausgetauscht.23 Beide Begriffe (σεληνιασμός und ἔκστασις φρενῶν) werden mit den Symptomen der Epilepsie beschrieben und können somit als Synonyme verstanden werden. Schon in der Antike wurde die als hiera nosos (ἱερά νόσος), also ‚Heilige Krankheit‘, bekannte Epilepsie in einen physiologischen Zusammenhang mit den Mondphasen gebracht und deshalb auch als Mondsucht bezeichnet.24 In Verbindung mit dämonischer Besessenheit taucht die Mondsucht dann zum ersten Mal in der erwähnten Geschichte im Neuen Testament auf und geht von hier aus, vor allem durch die Exegese des Origenes, in die Welt des frühen Christentums ein.25 Origenes’ Erklärung, dass der eigentliche Verursacher der Krankheit der Dämon und nicht der Mond sei, wie von der Masse der abergläubischen Bevölkerung geglaubt, widerspiegelt die kritische Haltung, die die Kirche gegenüber der Astrologie hegte. Die terminologische Entwicklung in den monastischen Texten zeigt jedoch deutlich, dass es im frühen Christentum nicht bei der bloßen dämonologischen Neuinterpretation des Begriffes seleniasmos, ‚Mondsucht‘, durch Origenes geblieben ist. Vielmehr wurde der Begriff von einem großen Teil der christlichen Autoren zunehmend gemieden und durch ekstasis (frenon) ersetzt. Zu erklären ist dies am ehesten damit, dass die dionysische Ekstase aus christlicher Sicht als dämonischer Irrsinn galt, der in seiner äußeren Erscheinung leicht mit allen Symptomen der Epilepsie in Zusammenhang gebracht werden konnte. Das Problem, dass der Terminus ekstasis, wie im Folgenden gezeigt wird, gleichzeitig für die mystische Ekstase verwendet wurde, lösten einige Autoren, indem sie die dämonische Besessenheit gar nicht benannten, sondern bloß mit den Symptomen der Epilepsie umschrieben.26

22 23 24

25

26

schwer zu leiden; er fällt nämlich oft ins Feuer und oft ins Wasser“. Bei Matthäus handelt es sich wahrscheinlich um eine Redigierung von Markus, wo (wie auch bei Lk 9,37–43) der Begriff ,mondsüchtig sein‘ (σεληνιάζεται) nicht verwendet wird, die Symptome der Epilepsie aber ausführlicher als bei Matthäus geschildert werden; vgl. GEORGIOS MAKRIS: Zur Epilepsie in Byzanz. In: Byzantinische Zeitschrift 88 (1995), S. 363–404, hier S. 365. Vgl. Appendix. Nur Theodoret von Kyrrhos verwendet den klassischen Begriff λύσση / λυσσάω, vgl. Appendix. Vgl. JOHN SCARBOROUGH: Art. ‚Insanity‘. In: Oxford Dictionary of Byzantium 2 (1991), S. 998; MAKRIS (Anm. 21), S. 365; OWSEI TEMKIN: The falling sickness. A history of epilepsy from the Greeks to the beginnings of modern neurology, Baltimore 21994, S. 95. Vgl. FRANZ JOSEPH DÖLGER: Der Einfluß des Origenes auf die Beurteilung der Epilepsie und Mondsucht im christlichen Altertum. In: Antike und Christentum 4 (1934), S. 95–98; ANDRÉ JEAN FESTUGIERE: Les moines ďOrient I, Paris 1960, S. 25; MAKRIS (Anm. 21), S. 394 Anm. 142; TEMKIN (Anm. 24), S. 91f. Vgl. Appendix. Nur Ioannes Klimakos erwähnt Epilepsie (ἐπιληψά) explizit, stellt aber keinerlei Verbindung zu dämonischer Besessenheit her: Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, coll. 698B, 796C; vgl. auch MAKRIS (Anm. 21), S. 296 Anm. 154.

72

4.

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Mystische Ekstasen in der monastischen Literatur

Betrachten wir nun die zahlreichen Erzählungen über mystische Ekstasen in den monastischen Texten, so wird schnell klar, dass es sich hier nicht wie bei den erwähnten Beispielen der Kirchenväter um bloße theoretische Reflexionen über die Erfahrungen heiliger Personen aus der Bibel handelt. Vielmehr gehen die Autoren einen Schritt weiter, indem sie die durch die Kirchenväter als christliche Spiritualitätserfahrung legitimierte biblische Ekstase in einen Realitätsbezug zu der von ihren Protagonisten gelebten monastischen Spiritualität setzen. Wie in den folgenden Ausführungen gezeigt werden soll, verdeutlicht nicht nur das häufige Vorkommen von Ekstase-Erzählungen, sondern v. a. auch ihre Kontextualisierung in den breiteren Rahmen der geschilderten asketisch-monastischen Lebenswelt, dass auch das frühbyzantinische Mönchtum als Teil einer für die gesamte Spätantike typischen Imaginationsspiritualität gesehen werden muss, in der das Verlangen nach Entrückungserfahrungen nichts Ungewöhnliches darstellt.27

4.1

Das Herbeiführen mystischer Ekstasen in der monastischen Literatur

Überall dort, wo das Verlangen nach mystischen Erfahrungen bestimmte Praktiken zum Evozieren von Entrückungszuständen hervorgebracht hat, drängt sich zunächst eine gewisse Grundambivalenz auf, die auch in Bezug auf die monastischen Texte relevant ist: Gemeint ist die Gleichzeitigkeit eines gesuchten, selbstinduzierten und eines überraschenden, spontanen Moments, das jeder göttlichen Revelation innewohnt.28 Wiederholt wird betont, dass eine Offenbarung nie alleine durch den menschlichen Willen herbeigeführt werden kann, sondern immer auch als spontan eintretender Gnadenakt Gottes verstanden werden muss. So heißt es bei Kyrillos von Skythopolis: „Wenn der Herr beschließt, seinen Heiligen etwas zu offenbaren, sind diese Propheten. Wenn er es aber verbergen will, dann sehen sie so wie alle anderen auch.“29 Gleichzeitig aber vermitteln die Texte, dass das Herbeiführen der mystischen Ekstase durch

27 Vgl. Anm. 11–13. 28 Vgl. ERNST BENZ: Die Vision. Erfahrungsformen und Bildwelt, Stuttgart 1969, S. 37; zum gleichen Phänomen in der klassischen syrischen Literatur und im Sufismus vgl. SERAFIM SEPPÄLÄ: In speechless Ecstasy. Expression and Interpretation of Mystical Experience in Classical Syriac and Sufi Literature, Helsinki 2003, S. 51. Dass die Problematik bis heute nicht an Aktualität verloren hat, zeigt KAYE HOFFMAN: Zur Aktualität der Besessenheit. In: FELICITAS D. GOODMAN: Ekstase, Besessenheit, Dämonen. Die geheimnisvolle Seite der Religion, Gütersloh 1997, S. 9–19, hier S. 18. 29 Kyrillos von Skythopolis: Vita des Ioannes 5; ed. EDUARD SCHWARTZ, Leipzig 1939, S. 205,10– 12.

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Askese als legitimer Weg angesehen wurde, mit dem Göttlichen in Kontakt zu treten. Besonders deutlich kommt diese Haltung in Arsenios’ Väterspruch „wenn wir nach Gott suchen, wird er uns auch erscheinen“30 zum Ausdruck. Auf welche Weise aber suchten die Heiligen Männer nach göttlichen Visionen? Was taten sie, um sich selbst in einen ekstatischen Zustand zu versetzen, um Offenbarungen zu empfangen? Als wesentliches Merkmal für das Evozieren von TranceZuständen erweist sich wiederholt das für die geschilderten asketischen Übungen so zentrale „Sich-nach-Innen-Kehren“, um auf dem Weg der Versenkung „die Augen der Seele auf die geistigen Kräfte zu konzentrieren“.31 Das Ziel der mystischen Kontemplation ist die Schau, in welcher das innere Auge nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare, das Jenseits im Diesseits, hingewendet ist. So verstanden stellt die Ekstase als intensivste – und einzig terminologisch festgelegte32 – Form der religiösen Trance eine Bewusstseinserweiterung dar, und eben nicht einen Bewusstseinsverlust wie im Falle der bei den Kirchenvätern beschriebenen falschen Ekstase, die durch Raserei und Wahnsinn gekennzeichnet ist. Gerade die Erweiterung des Bewusstseins durch die Ekstase ermöglicht es dem Asketen zumindest vorübergehend, die schmerzhafte Trennung von Gott im Diesseits zu durchbrechen und an die von ihm schon zu Lebzeiten ersehnten Orte der jenseitigen Welt zu gelangen. Das frühbyzantinische Mönchtum kennt zahlreiche ‚Techniken‘, die wesentliche Komponenten dieses auf Gott und das Jenseits ausgerichteten „engelgleichen Lebens“ (ἀγγελικòς βίος) darstell-

30 Apophthegmata Patrum (Systematische Sammlung) 11,5; ed. JEAN-CLAUDE GUY, Bd. II, Paris 2003, S. 138,11f. 31 Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, col. 809A. Weitere ähnliche Beispiele bei Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios 22 und 24, ed. EDUARD SCHWARTZ, Leipzig 1939, S. 35,15 und S. 37,12 f.: „Er erkannte mit den Augen des Geistes“ und „er schaute mit den Augen des Geistes“; Apophthegmata Patrum (Systematische Sammlung) 18,4,37; ed. JEAN-CLAUDE GUY, Bd. III, Paris 2005, S. 44: „ihre geistigen Augen öffneten sich“. Weitere Beispiele für „das Auge des Herzens“ bzw. „der Seele“ oder „des Verstandes“ aus der frühen mystischen Literatur bietet CAROLINA CUPANE: Metamorphosen des Eros. Liebesdarstellung und Liebesdiskurs in der byzantinischen Literatur der Komnenenzeit. In: Der Roman im Byzanz der Komnenenzeit. Referate des Internationalen Symposiums an der Freien Universität Berlin, 3. bis 6. April 1998. Hrsg. von PANAGIOTIS AGAPITOS / DIETHER-RODERICH REINSCH, Frankfurt a. M. 2000, S. 25–54, hier S. 37 Anm. 80. 32 Das Eintreten in eine Ekstase wird häufig beschrieben mit Wendungen wie „und dann geriet ich / er in Ekstase und sah […]“ (z. B. Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87 / 3, col. 2964A–B); „ich wurde (im Geist) entrafft / heruntergeführt / hochgehoben / hingeführt“ (z. B. Historia Monachorum in Aegypto 10,20; ed. ANDRÉ-JEAN FESTUGIÈRE, Brüssel 1961, S. 84,1f. (vgl. auch unten Anm. 50–52); „außer sich / in Ekstase geraten“ (ἐξίσταμαι) (z. B. Palladios: Historia Lausiaca 1,18–21; ed. CUTHBERT BUTLER, Hildesheim 1967, S. 15,22–25); oder durch allgemeinere Wendungen wie „er sah in einer Ekstase / es trat in Ekstase heran“ (z. B. Vita des Symeon Stylites des Jüngeren 57,28; ed. PAUL VAN DER VEN, Brüssel 1962, S. 51,11).

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ten33 und immer wieder in Zusammenhang mit Ekstase-Erfahrungen erwähnt werden, so das „Gebet“ ([προσ]ευχή),34 „Psalmen- und Hymnengesang“ (ψάλλειν)35 und das „Fasten“ (νηστεία, ἐγκράτεια).36 In Zusammenhang mit Visionserfahrungen wird überdies häufig das sogenannte „Sitzen“ (καθέζομαι)37 erwähnt, das in Anbetracht moderner religionsethnologischer und medizinischer Untersuchungen zur Bedeutung von Körperhaltungen für das Evozieren von Trancezuständen38 als wichtige Komponente der von den Mönchen praktizierten Meditationstechniken interpretiert werden kann. Eng damit zusammenhängend sind auch Begriffe der spirituellen Versenkung wie „Schweigen“ (σιωπή), „Ruhe“ (ἡσυχία), 39 das „unverwandte Hinschauen“ (ἀτενίζειν)40 aber auch das „Wachen“ (ἀγρυπνία).41 Trancezustände mit der Folge von Visionserlebnissen werden jedoch nicht nur als Folge von Meditation, Gebet und Wachen, sondern auch von nicht suggestiven Faktoren wie körperlicher Entkräftung und Krankheit geschildert.42 Allerdings ist dies in der frühbyzantinischen monastischen Literatur keinesfalls die Regel, so wie es für Texte des westlichen Mittelalters konstatiert wurde.43

4.2

Βeschreibung der Symptome der mystischen Ekstase in der monastischen Literatur

Betrachten wir nun die in Zusammenhang mit der mystischen Ekstase beschriebenen Symptome, so fällt zunächst auf, dass sie nicht nur auf eine bloße Einengung der materiellen Wahrnehmung wie z. B. bei leichten meditativen Trancezuständen, sondern vielmehr auf den „völligen Verlust der sensorischen Perzeption der Umwelt und Kata-

33 Zu allen im folgenden erwähnten Komponenten des angelikos bios vgl. KARL SUSO FRANK: ΑΓΓΕΛΙΚΟΣ ΒΙΟΣ. Begriffsanalytische Untersuchung zum „engelgleichen Leben“ im frühen Mönchtum, Frankfurt a. M. 1964, S. 18–114. 34 Z. B. Palladios: Historia Lausiaca 21; (Anm. 32), S. 69,4–15. 35 Z. B. Kallinikios: Vita des Hypatios, 61,2–4; ed. GERARD. J. M. BARTELINK, Paris 1971, S. 286,22–288,5. 36 Z. B. Historia Monachorum in Aegypto 21,6.2; (Anm. 32), S. 125,7. 37 Z. B. Apophthegmata Patrum (Alphabetische Sammlung), PG 65, col. 428D. Vgl. auch FRANZ DODEL: Das Sitzen der Wüstenväter: eine Untersuchung anhand der Apophthegmata Patrum, Freiburg 1997, S. 73, laut dem „das Sitzen die typische Übungshaltung für die Askese im Kellion“ gewesen sei. 38 FELICITAS GOODMAN: Trance. Der uralte Weg zum religiösen Erleben. Rituelle Körperhaltungen und ekstatische Erlebnisse, Gütersloh 1992, S. 11–24. 39 Z. B. Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios 19,10–12; (Anm. 31), S. 30,9–10. 40 Z. B. Vita des Symeon Stylites des Jüngeren 66,22–25; (Anm. 32), S. 58,1–4. 41 Z. B. Kyrillos von Skythopolis: Vita des Ioannes 9,10–12; (Anm. 29), S. 208,10–12. 42 Z. B. Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, col. 428D. 43 Vgl. PETER DINZELBACHER: Körperliche und seelische Vorbedingungen religiöser Träume und Visionen. In: I sogni nel medioevo. Hrsg. von TULLIO GREGORY, Rom 1985, S. 57–86, hier S. 71.

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lepsie“44 hindeuten und somit eine auffällige Nähe zum Schlaf aufweist. Besonders eindrücklich veranschaulicht dies eine Passage aus der Vita des Theodoros von Sykeon, in der die äußere Erscheinung des Ekstatikers mit einer schlafenden Person verglichen wird: Er verharrte dreizehn Tage lang ohne zu essen und zu reden in einem schlafähnlichen Zustand (ὥσπερ καθεύδων) und schaute gebannt auf irgendetwas hin. Nachdem die dreizehn Tage [in denen er in den Himmel eingetreten war und sich an dessen Anblick erfreute] vorbei waren, stand er plötzlich von diesem hoffnungslosen Zustand auf, gerade so wie er die Gewohnheit hatte, vom Schlafen aufzustehen.45

Aus der Beschreibung des Zustandes der Ekstatiker als „schlafähnlich“ geht die symptomatische Nähe von Schlaf und Ekstase hervor, was aber umso deutlicher zutage treten lässt, dass man sich über den Unterschied der beiden Bewusstseinszustände im Klaren war und dass man Wert darauf legte, diesen Unterschied terminologisch zu kennzeichnen. Damit halten sich die Autoren an Prokopius von Gazas Deutung der bezüglich Abgrenzung von Ekstase und Schlaf schwer zu interpretierenden Septuagintastelle: „Da ließ Gott eine Ekstase auf den Menschen fallen, sodass er einschlief“ (Gen 2,21). Prokopius führt aus: „Er schlief“ bedeutet nicht Schlaf […], sondern zeigt die Beschaffenheit der Ekstase an. Wenn nämlich die Propheten solche Offenbarungen erhielten, haben sie oft gewacht, und gemäß der göttlichen Kraft erhielten sie wie im Traum die Schau von dem, was er ihnen offenbaren wollte.46

In vielen Beispielen ist die Rede von Ekstasen, die sich nicht als kurzzeitiger ‚Anfall‘ äußern, sondern während einer längeren Zeitspanne andauern.47 Der Entrückte befindet sich dabei in der Regel in einer Art meditativer Kontemplation, welche häufig mit einer besonderen emotionalen Ergriffenheit einhergeht. Die durch das Geschaute ausgelösten Affekte wie Furcht, Schrecken, Freude oder Trauer können sich durch unterschiedliche körperliche Symptome wie Stöhnen, Weinen, Zittern oder durch das Ausstoßen einzelner Sätze durch den Ekstatiker äußern.48 Häufig berichten die Autoren das während der Entrückung Erlebte bzw. Geschaute aus der Perspektive der Asketen selbst. In diesen Fällen wird dem Leser meist vermittelt, dass der Ekstatiker sich in einer Art Selbstbeobachtung als Akteur eines imaginären Geschehens agieren sieht. Interessanterweise handelt es sich auch hierbei um ein für Trancezustände typisches Phänomen, welches in der Religionsethnologie aus der Sicht des Entrückten als

44 Diese Definition von Ekstase bei PETER DINZELBACHER: Revelationes, Turnhout 1991, S. 17. 45 Georgios: Vita des Theodoros von Sykeon 162,15–21; ed. ANDRÉ-JEAN FESTUGIÈRE, Brüssel 1970, S. 146,13–19. 46 Procopius of Gaza: In Genesin, PG 87/1, col. 173. 47 Z. B. Vita des Pachomios 71,2–8; (Anm. 17), S. 37,12–18. Vgl. auch Anm. 45. 48 Z. B. Athanasios von Alexandreia: Vita des Antonios 82,4–9; ed. GERARD J. M. BARTELINK, Paris 1994, S. 344,16–345,4.

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„Gefühl der Dissoziation“ beschrieben wird.49 Besonders häufig findet sich diese Art von Ekstaseerfahrungen in den Erzählungen von prophetischen Visionen des Symeon Stylites dem Jüngeren und dessen Mutter Martha, wo wiederholt Formulierungen anzutreffen sind wie „er/ich wurde im Geist entrückt und sah sich/mich selbst […]“ oder „er sah sich in der Kraft des Geistes […].“50 Die Rede ist also vom Heraustreten des Geistes aus dem Körper, was dem Ekstatiker ermöglicht, sich selbst an einem anderen Ort, nämlich da, wo er sich im Geist gerade befindet, imaginär stehen, herumgehen oder andere Handlungen vollziehen zu sehen. Auf eindrückliche Weise beschreibt auch Athanasios, wie Antonios einmal fühlte, dass er entrückt wurde […]. Das Sonderbare war, dass er dastand und sich selber wie aus sich herausgehen sah und von einigen in die Luft geführt wurde [… dann] sah er sich auf einmal selbst, wie wenn er zurückkommen und wieder bei sich stehen würde, und er war wieder gänzlich Antonios.51

Obschon die monastischen Texte keine theoretischen Diskussionen über die Trennung von Seele und Körper während der Ekstase enthalten, lassen die zitierten Passagen vermuten, dass die Autoren von einer solchen Trennung, wie sie auch Johannes Chrysostomos beschrieben hat (vgl. Anm. 6), ausgingen. Bestätigt wird dies durch Kyrillos von Skythopolis, der schreibt: „Der Heilige Ioannes hatte das Verlangen zu sehen, wie sich die Seele vom Körper trennt. Als er dabei war, Gott darum zu bitten, wurde er im Geist nach Bethlehem entrückt und sah […].“52

5.

Das Verhältnis der Ekstase zur Vision und zum Traum

Bei allen angeführten Beispielen handelt es sich um Erzählungen über mystische Ekstasen in einem engeren Sinne. Damit ist gemeint, dass die Ekstase entweder explizit als solche bezeichnet wird oder dass sie für den Rezipienten durch die oben erwähnten Symptome eindeutig als solche erkennbar ist.53 Gemeinsam ist diesen Berichten überdies, dass sie immer mit einem visuellen, oft auch mit einem audio-visuellen Offenba49 FRANK MAURICE WELTE: Art. ‚Trance‘. In: Metzler Lexikon Religion 3 (2000), S. 521 f. 50 Vita des Symeon Stylites des Jüngeren (Anm. 32), 71,4 f.; 104,4–9; 106,8–10; 160,16f.; 187,1, S. 61,3 f.; 81,27–82,3; 86,6–8; 142,15 f.; 165,4. Ein weiteres Beispiel findet sich bei Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, col. 812C. 51 Athanasios von Alexandreia: Vita des Antonios 65,2–6; (Anm. 48), S. 304,7–306,7. 52 Kyrillos von Skythopolis: Vita des Ioannes 17; (Anm. 29), S. 214,22; ähnlich – allerdings im Bezug auf das Träumen – auch bei Athanasios von Alexandreia, der „sich die träumende Seele als einen rationalen und unsterblichen Reisenden“ vorstellte; Athanasios von Alexandreia: Contra Gentes 31.38–44, ed. and transl. by ROBERT W. THOMSON, Oxford 1971, vgl. COX MILLER (Anm. 12), S. 66. Zur Diskussion über das Verhältnis zwischen Seele und Körper während des Träumens in der Spätantike vgl. COX MILLER (Anm. 12), S. 39–73. 53 Vgl. alle Beispiele im Appendix.

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rungserlebnis einhergehen. Häufig wird beschrieben, wie der Ekstatiker von einem Heiligen oder von einem engelhaften Boten geführt und an Orte des göttlichen Waltens, in den Himmel oder an andere Orte des göttlichen Heilsgeschehens entrückt wird, von dem er früher oder später wieder zurückkehrt. Was der Entrückte auf seiner Reise gesehen hat, wird dann mehr oder weniger ausführlich und literarisch ausgeschmückt wiedergegeben.54 Gleichzeitig kommen aber auch zahlreiche Beispiele von Ekstase-Erzählungen vor, bei denen das Wegtreten oder an einen anderen Ort Hingeführt werden nicht erwähnt wird. Es heißt dann einfach nur, dass jemand in Ekstase etwas sah.55 Dass das in der Ekstase Geschaute zuweilen auch als „Vision“ (ὅραμα, ὅρασις, ὀπτασία) bezeichnet wird,56 zeigt deutlich, dass es sich hier um zwei unterschiedliche Kategorien handelt: Während mit ekstasis ein – gleichermaßen körperlicher wie geistiger – Bewusstseinszustand bezeichnet wird, steht die Vision zunächst für den visuellen Inhalt, vor allem aber für den revelatorischen Ursprung und Gehalt des Geschauten. In Abgrenzung von den von den Dämonen ausgelösten trügerischen Bildern (φαντασία), handelt es sich bei der Vision immer um eine göttliche Offenbarung, die in allen Bewusstseinszuständen empfangen werden kann – sei es in Ekstase, im Schlaf oder im Wachzustand. Besonders deutlich geht dies aus einer Stelle der Historia Monachorum hervor, die von einem Asketen berichtet, der sich in der Wüste niederließ und während langer Zeit viele gute Werke vollbrachte. Er liebte die Ruhe und verbrachte den Tag mit Gebeten, Hymnen und zahlreichen kontemplativen Erfahrungen und sah göttliche Visionen (ὁράσεις θειοτέρας), sowohl im Wachzustand (ἐγρηγόρως) als auch im Schlaf (καθ᾿ ὕπνον).57

Und tatsächlich liefern die monastischen Texte neben den bisher besprochenen expliziten Ekstase-Berichten eine Vielzahl von Erzählungen über Visionen, bei denen unklar bleibt, ob sie im Wachzustand, im Schlaf, in Ekstase oder in einem anderen tranceartigen Zustand stattfinden. Der Eintritt in die Visionserfahrung wird dann gekennzeichnet

54 Entrückung zum oder in den Himmel: Apophthegmata Patrum (Systematische Sammlung) 7,52; ed. JEAN-CLAUDE GUY, Bd. I, Paris 1993, S. 384,7–14; Apophthegmata Patrum (Alphabetische Sammlung), PG 65, coll. 357; 409; Historia Monachorum in Aegypto 10,20; 21,6–10; (Anm. 32), S. 125,8–126,8; Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, col. 2992D–2993A; 2996A–B; Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios 50,32–65; (Anm. 31), S. 72,11–74,27; Vita des Ioannes 17; (Anm. 29), S. 214,22; Georgios: Vita des Theodoros von Sykeon 162,19–25; (Anm. 45), S. 146,17–23; Vita des Symeon Stylites des Jüngeren 29,1–12; 104,29–48; 124,66–109; (Anm. 32), S. 29,15–26; 82,22–83,15; 108,13–110,5; Vita der Martha 11,1–7; 17,7–22; ed. PIERRE VAN DER VEN, Brüssel 1962, S. 261,15–21; 265,19–266,6. Entrückung an heilige Stätten: Markos Diakonos: Vita des Porphyrius von Gaza 7,8–7,27; ed. HENRI GRÉGOIRE / MARC-ANTOINE KUGENER, Paris 1930, S. 7,8–7,27; Entrückung in eine Kampfarena: Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, col. 2917A. 55 Z. B. Vita des Pachomios 71; (Anm. 17), S. 37,13. 56 Z. B. Vita des Daniel Stylites 21,1; 22,23; ed. HENRY DELEHAYE, Brüssel 1923, S. 21,18; 24,8. 57 Historia Monachorum in Aegypto 1,45; (Anm. 32), S. 26,11–27,5.

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durch Ausdrücke wie „er/ich sah in einer Vision“ (ἐν ὁράματι/ἐν ὁράσει).58 Bei diesen Erzählungen hebt sich der visuelle Gehalt des Geschauten durch kein besonderes Merkmal von den Ekstase-Visionen ab, sodass es sich theoretisch um EkstaseErfahrungen handeln könnte. Ebenso könnte es sich aber um Visionen im Schlaf oder um Träume handeln. Dies wiederum wird bestätigt durch Erzählungen, in denen der Schlaf als Disposition des Visionärs angegeben oder ein Traum als Vision spezifiziert wird.59 Dabei fällt auf, dass die Verwendung von expliziten Traum-Begriffen häufig vermieden wird und stattdessen Formulierungen wie „er sah/es erschien im Schlaf“ (κατὰ τοὺς ὕπνους θεωρεῖ) anzutreffen sind.60 Dieser Sprachgebrauch scheint kein Zufall zu sein. Vielmehr koinzidiert er mit der allgemein negativen Beurteilung des Traumes im Neuen Testament sowie in der gesamten frühchristlichen Literatur.61 Auch in der monastischen Literatur wird der Traum zwar nicht grundsätzlich verleugnet oder abgelehnt, positiv bzw. für den Menschen bedeutungsvoll wird er aber nur als Offenbarungsmedium Gottes, niemals aber als mantisches Zeichen ausgelegt.62 Nahezu alle nicht von Gott gesandten Traumbilder werden dagegen als „Täuschungen“ (φαντασία) der Dämonen beurteilt, die durch die Hilflosigkeit der Schlafenden angezogen, den Traum als Angriffsmedium instrumentalisieren. Allerdings sind die Traumbegriffe selber nicht an den revelatorischen Gehalt des Geträumten gebunden, sondern werden austauschbar verwendet.63 Die in der Traumdeutung noch in den Oneirokritika des Artemidor64 (2. Jh. n. Chr.) gebräuchliche Gebundenheit der Traumbegriffe an die 58 Z. B. Georgios: Vita des Theodoros von Sykeon 58,23–24; (Anm. 45), S. 49,31–32. 59 Z. B. Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, col. 3012C. 60 Z. B. Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, col. 2885D–2887A. Solche Formulierungen sind bereits aus der Septuaginta bekannt: Num 12,6–8, 1. Kön 3,4 f. 61 Vgl. JAQUES LE GOFF: Le christianisme et les rêves (IIe–VIIe siècles). In: I sogni nel medioevo. Hrsg. von TULLIO GREGORY, Rom 1985, S. 171–218, hier S. 172; BERGER (Anm. 13), S. 204; MARCO FRENSCHKOWSKI: Traum und Traumdeutung im Matthäusevangelium. Einige Beobachtungen. In: Jahrbuch für Antike und Christentum 41 (1998), 5–47, hier S. 9; ANGELIDI (Anm. 13), S. 216. 62 Dies entspricht den wiederholten Verboten der Traumdeutung von kaiserlicher und kirchlicher Seite in Byzanz. Vgl. GEORGE CALOFONOS: Dream Interpretation: A Byzantinist Superstition? In: Byzantine and Modern Greek Studies 9 (1984/85), S. 215–220, hier S. 217; GILBERT DAGRON: Rêver de Dieu et parler de soi: Le rêve et son intérpretation d’après les sources byzantines. In: I sogni nel medioevo. Hrsg. von TULLIO GREGORY, Rom 1985, S. 37–55, hier S. 39; MARIE THERES FÖGEN: Die Enteignung der Wahrsager. Studien zum kaiserlichen Wissensmonopol in der Spätantike, Frankfurt a. M. 1993, S. 21; GREGOR WEBER: Kaiser, Träume und Visionen in Prinzipat und Spätantike, Stuttgart 2000, S. 112; MATTHEW W. DICKIE: Magic and Magicians in the GraecoRoman World, London et. al. 2001, S. 254, 262–272. 63 Zu allen in den behandelten Quellen vorkommenden Traumbegriffen vgl. Appendix. 64 Eine nützliche Zusammenfassung über Leben, Werk und Methode der Traumdeutung bei Artemidor bietet CHRISTINE WALDE: Antike Traumdeutung und moderne Traumforschung, Düsseldorf, Zürich 2001, S. 127–199.

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mantische Wertigkeit der Träume findet nachweislich bereits ab dem 1. Jh. v. Chr. keine Parallele mehr in Umgangs- und Prosasprache,65 was sich auch in den frühen monastischen Texten widerspiegelt. Während bei Artemidor oneiroi (ὄνειροι) immer bedeutungsvoll, d. h. in die Zukunft deutend, enypnia (ἐνύπνια) dagegen immer bedeutungslos sind,66 werden in den behandelten Texten also die unterschiedlichen Begriffe beliebig für alle Arten von Träumen verwendet und können demnach „göttlich“, „dämonisch“ oder in seltenen Fällen auch „physiologisch“ ausgelöst sein,67 sodass sowohl oneiros (ὄνειρος) als auch enypnion (ἐνύπνιον) einen „dämonischen“, aber auch einen „Offenbarungstraum“ bezeichnen kann. So wird von einem Einsiedler aus der Thebais gesagt, dass er durch den Stachel der Ruhmsucht von Traumbildern (oneiron) getäuscht wurde (ἐμπαιζόμενος ὑπὸ ὀνείρων).68 In der Vita des Daniel Stylites wird sogar derselbe (Berufungs-)Traum einmal als enypnion (ἐνύπνιον) und einmal als onar (ὄναρ) bezeichnet.69 Es ist also erst die Bewertung des Trauminhalts als „wahr“ oder „trügerisch“, die eine Unterscheidung (διάκρισις) der Träume ermöglicht.70 65 Austauschbar werden die Begriffe etwa bei Philon und Josephus verwendet; vgl. dazu FRENSCHKOWSKI (Anm. 61), S. 14; MIGUEL A. VINAGRE: Die griechische Terminologie der Traumdeutung. In: Mnemosyne 49 (1996), S. 257–282, hier S. 275 Anm. 59; WEBER (Anm. 62), S. 33. 66 Artemidor (I Proöm 1–2, ed. PACK [Leipzig 1963], S. 3–5) trennt zwischen ἐνύπνιον, dem bedeutungslosen und ὄνειρος, dem in Bezug auf die Zukunft relevanten Traum. Beim ὄνειρος wird wiederum eingeteilt in allegorikoi (ἀλληγορικοί), die mantischen, also zu deutenden Träume, und in theorematikoi (θεωρηματικοί), die Ereignisse so anzeigen, wie sie sich in der Zukunft abspielen werden; vgl. ANTONIUS H. M. KESSELS: Ancient Systems of Dream-classification. In: Mnemosyne 22 (1969), S. 389–424, hier S. 392; WALDE (Anm. 64), S. 151 f.; NÄF (Anm. 12), S. 126 f. 67 Die auf Hippokrates und Galen zurückgehenden (vgl. JOHN S. HANSON: Dreams and Visions in the Graeco-Roman World and Early Christianity. In: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt II 23.2 [1980], S. 1395–1427) und auch bei Gregor von Nyssa anzutreffende (FRANÇOIS REFOULÉ: Rêves et vie spirituelle d’après Evagre le Pontique. In: Supplément de la vie spirituelle 59 [1961], S. 478–508; MILLER [Anm. 12], S. 47–51; NÄF [Anm. 12], S. 157–159) physiologische Erklärung der Entstehung von Träumen (durch Verdauungsvorgänge) scheint hin und wieder auch in der monastischen Literatur durch: Apophthegmata Patrum (Systematische Sammlung) V 1,12– 14; ed. JEAN-CLAUDE GUY, Bd. I, Paris 1993, S. 240,10–14; ähnlich auch im 1. Antonios zugeschriebenen Brief: PG 40, 979A–B; vgl. dazu GUILLAUMONT (Anm. 18), Traité Pratique, S. 628; Les apophtègmes des pères I–IX, hrsg. von JEAN-CLAUDE GUY, Paris 1993, S. 241 Anm. 2, und ANTONIO BRAVO GARCÍA: Sueño y ensueño en la literature ascetico-mística del siglo IV: Evagrio Póntico. In: La religion en el mundo griego. Hrsg. von MOSCHOS MORFAKIDIS, Granada 1997, S. 183–193, hier S. 191f.; Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, col. 865 B, C; 869, 25; 881A, B; Evagrios: De Malignis Cogitationibus 27,21–26, ed. ANTOINE GUILLAUMONT, Paris 1998, S. 250,3–8. 68 Palladios: Historia Lausiaca 58,37; (Anm. 32), S. 153,1–3. 69 Vita des Daniel Stylites 23; (Anm. 56), S. 25,2; 25,8. 70 Die Aussage bei DAGRON (Anm. 62), S. 42 Anm. 21, dass sich die Hagiographen über den klassischen Unterschied zwischen ἐνύπνιον und ὄνειρος bewusst gewesen seien, kann aufgrund der hier behandelten Texte nicht bestätigt werden.

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Die bereits beobachtete grundsätzlich negative Haltung gegenüber dem Traum, die sich auch in der häufigen Vermeidung von Traumbegriffen zeigt, geht mit einer dezidierten Ablehnung des Schlafes einher, die ganz der oben beschriebenen Spiritualität des frühbyzantinischen Mönchtums entspricht. Gerade das Durchwachen der Nächte zugunsten von Gebet und Meditation gehörte zu einer der zentralen Übungen, die die Konzentration auf die Gottesschau konditionieren sollten.71 Die erstrangige Bedeutung des Wachens bietet auch eine Erklärung für die auffallend häufig vorkommenden Erzählungen über nächtliche Visionen, bei denen weder von Traum noch von Schlaf die Rede ist und die durch Wendungen wie „es erschien ihm in der Nacht“ (τῇ νυκτὶ ἐπιφαίνεται),72 „sie sah in einer nächtlichen Vision“ (ἐν τῇ νυκτὶ ἐκείνῃ εἶδεν ὅραμα),73 „es zeigte sich ihm in der Nacht“ (νύκτωρ ἐδεδηλώκει),74 „er sah in der Nacht“ (ἐν μιᾷ νυκτὶ θεωρεῖ)75 o. ä. eingeleitet werden.76 Es ist anzunehmen, dass mit diesen nächtlichen Visionen nicht Träume, sondern Offenbarungen, die sich während des so hochgehaltenen Wachens77 beim nächtlichen Psalmengesang und Gebet78 zugetragen haben, gemeint sind. Dass sich die Visionäre dabei in einem Zustand des erweiterten Bewusstseins befanden – vielleicht in leichter Trance, vielleicht auch in einer Ekstase – ist naheliegend. Auch bei allen anderen Visionen, bei denen der Bewusstseinszustand der Visionäre nicht genannt wird, scheint aus den genannten Gründen eher von Tranceoder Ekstaseerfahrungen als von Träumen die Rede zu sein. Die monastischen Texte vermitteln also, dass das Auftreten von Visionen nicht per se an einen bestimmten Bewusstseinszustand gebunden ist. Dies entspricht dem oben erwähnten Gedanken, dass Offenbarungen immer auch ein Gnadenakt Gottes sind. Sowohl die Auswahl der Visionäre als auch der Zeitpunkt, an dem sich die Visionen zutragen, sind letztlich alleine dem Willen und der Gnade Gottes vorbehalten. Gleichzeitig aber verdeutlichen die Texte, dass alle Formen der asketischen Anstrengung immer in Ausrichtung auf die Wahrnehmung Gottes vollbracht werden und somit die Voraussetzung für erweiterte Bewusstseinszustände darstellen, in denen sich besonders häufig Visionen zutragen. Das eigentliche Ziel, das mit dem Herbeiführen von Visionen erreicht werden soll, ist im Begriff ‚Vision‘ (ὅραμα, ὅρασις, ὀπτασία) selbst enthalten: Es geht um das Schauen, um die Visualisierung transzendenter Inhalte. Dieses Streben steht nicht etwa im Gegensatz zu dem in den monastischen Texten ebenfalls

71 72 73 74 75 76 77 78

Vgl. Anm. 34, 35, 39, 40, 41. Z. B. Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios 41,8; (Anm. 31), S. 61,11–16. Z. B. Vita der Martha 16,1; (Anm. 54), S. 265,1. Z. B. Theodoretos von Kyrrhos: Philotheos Historia 13,17; ed. PIERRE CANIVET, Bd. I, Paris 1977, S. 504,10 f. Kyrillos von Skythopolis: Vita des Ioannes 5,1f.; (Anm. 29), S. 204,15f. Solche Formulierungen sind bekannt aus Paulus, Apg 16,9; 18,9; 23,11; 27,23. Wie bei Kyrillos von Skythopolis: Vita des Ioannes 9; (Anm. 29), S. 208,10–12. Wie in der Vita des Pachomios 88,10; (Anm. 17), S. 44,8.

Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen

81

vermittelten Theologumenon, wonach Gott unsichtbar (ἀόρατος) ist79 und für den Menschen erst im Jenseits auf unverschlüsselte Weise wahrnehmbar werden kann.80 Vielmehr geht es von einem indirekten Sichtbarwerden Gottes aus, der dem Menschen im Diesseits in einer Vielzahl von Offenbarungen über eine Mittlergestalt, einen Engel oder Heiligen, und über mannigfache Zeichen seines Waltens, erscheint. Auffälligerweise haben auch die Vätersprüche, welchen anderswo im Vergleich zur „Hagiographie“ eine dezidiert „bilderfeindliche Haltung“ nachgesagt wurde,81 besonders bunte Visions-Allegorien zu bieten.82 Die einzige Ausnahme stellt Evagrios Pontikos dar,83 der eigentlich gerade dafür bekannt ist, dass er die Spiritualität des byzantinischen, insbesondere des ägyptischen Mönchtums wesentlich geprägt hat. Seine asketischen Instruktionen vermuten in jeder Form von geistigen Bildern – sei es im Traum des Schlafenden oder in den Gedanken des Wachenden, den logismoi (λογισμοί) – dämonische Kräfte, die den Mönch vom richtigen Weg abbringen wollen. Von ekstatischen Zuständen und allegorischen Visionen berichtet Evagrios nirgends; vielmehr bezeichnet er die Ekstase als „Neigung der verständigen Seele zum Schlechten hin“.84 Diese Einstellung entspricht ganz dem Ziel seines asketischen Aufstiegs, nämlich der rein

79 Dieses Attribut Gottes wird in den monastischen Texten wiederholt erwähnt, z. B. in der Vita des Pachomios 22,6; 48,4; 93,11; (Anm. 17), S. 17,17; 28,22; 46,9; Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, col. 812C; Vita des Symeon Stylites des Jüngeren 124,32 f. (τὰ μὴ βλεπόμενα); 196,21; (Anm. 32), S. 107,8 f.; 173,27; Vita der Martha 42,3; (Anm. 54), S. 284,27. Über die Entwicklung des Begriffs in der biblischen Literatur und bei den apostolischen Vätern vgl. WILHELM MICHAELIS: ὁρατός, ἀόρατος. In: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament 7 (1954), S. 369–371. 80 Nur ein einziges Mal ist verallgemeinernd von „Gottesschau“ (θεοφάνεια) die Rede: Kyrillos von Skythopolis: Vita des Ioannes 9; (Anm. 29), S. 208,15. 81 Vgl. DAGRON (Anm. 62), S. 47. 82 Vgl. Appendix. Beispiele von allegorischen Visionen in den Apophthegmata Patrum (Systematische Sammlung) 5,43; 6,25; 7,1; 7,52; 9,5; 9,6; 9,14; 9,24; 11,9; 13,17; 15,33; 15,91; 16,27; 18,3; Bd. I (Anm. 54), S. 288,1–14; 330,1–332,20; 336,4–11; 384,7–14; 428,4–13; 430,4–15; 438,11– 17; 446,19–23; Bd. II (Anm. 30), S. 140,1–5; 248,10–18; 300,1–11; 344,4–8; 410,6–11; Bd. III (Anm. 31), S. 38,13–40,25. Apophthegmata Patrum (Alphabetische Sammlung), PG 65, coll. 76; 121A; 156; 168; 216; 217; 276; 377C; 404A. 83 Auch in der Philotheos Historia des Theodoretos von Kyrrhos und in den Werken des Leontios von Neapolis kommen keine expliziten Beispiele für die mystische Ekstase vor, allerdings verschiedene allegorische Visionsberichte, z. B. Theodoretos von Kyrrhos: Philotheos Historia 21,17; 21,20C; 21,22; 26,19A; 26,19B; ed. PIERRE CANIVET, Bd. II, Paris 1979, S. 96,12–98,8; 102,9–104,4; 104,17–106,2; 198,20–200,1; 200,11–19. Leontios von Neapolis: Vita des Symeon Salos 1677D; ed. ANDRÉ-JEAN FESTUGIÈRE / LENNART RYDÉN, Paris 1974, S. 60,21–26; Leontios von Neapolis: Vita des Ioannes Eleimon 6,50–76; 23,20–35; 25,47–60; 32,5–15; 52,35–45; 60,1– 21; ed. ANDRÉ-JEAN FESTUGIÈRE / LENNART RYDÉN, Paris 1974, S. 351,26–352,10; 373,16–28; 377,19–28; 382,17–25; 403,7–16; 408,3–17. 84 Evagrios: Capitula xxxiii, PG 40, col. 1265,21–23.

82

Bettina Krönung

intellektuellen Erkenntnis Gottes, der pneumatike theoria (πνευματική θεωρία).85 Dass sich aber in allen anderen monastischen Texten dennoch die Imaginierung transzendenter Inhalte durch visionäre Erfahrungen durchsetzen konnte, zeugt davon, dass in der Realität des frühbyzantinischen Mönchtums eine Symbiose von sinnlicher – insbesondere visueller – Perzeption und Transzendenz gesucht wurde. Es ist gerade diese Symbiose, also die indirekte, allegorische Schau des Göttlichen, die die frühbyzantinischen Visionäre davor bewahrte, in den Verdacht der Häresie abzugleiten. Und es ist die gleiche Symbiose, die auch eine Integrierung der allegorischen Theologie des PseudoDionysios Areopagites in die byzantinische Orthodoxie ermöglichte, nämlich die Vorstellung, dass die Imagination den Aufstieg hin zur Schau des Göttlichen erst ermöglicht: Das menschenfreundliche Prinzip […] hat durch sinnliche Bilder die über die Himmel hinausgehenden Gedanken beschrieben […], sodass wir durch das Sinnliche zum Geistigen aufsteigen und durch Symbole, die das Heilige schaffen, in die leichten Höhen der himmlischen Hierarchien geführt werden.86

Die mystische Ekstase stellte ein wichtiges Mittel auf der Suche nach dieser Symbiose dar und war weit davon entfernt, verpönt zu sein.

85 Vgl. REFOULÉ (Anm. 67), S. 470–516; ANTONIO BRAVO GARCÍA: Sueño y ensueño en la literature ascetico-mística del siglo IV: Evagrio Póntico. In: La religion en el mundo griego. Hrsg. von MOSCHOS MORFAKIDIS, Granada 1997, S. 185–190. Allgemein zur Spiritualität des Evagrios vgl. ANTOINE GUILLAUMONT: Un philosophe au désert: Evagre le Pontique. In: Revue de l’histoire des religions 181 (1972), S. 29–56; ANTOINE GUILLAUMONT: La vision de l’intellect par lui-même dans la mystique évagrienne. In: Melanges de l’Université Saint-Joseph L (vol. I–II), Beyrouth 1984, S. 255–262. 86 Dionysios Areopagites: De Coelesti Hierarchia I, 3,16–23, ed. GÜNTER HEIL, New York 1991, S. 9,8–15.

Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen

83

Appendix I: Ekstase in der frühbyzantinischen monastischen Literatur .......................... S. 84–87 II: Träume in der frühbyzantinischen monastischen Literatur .......................... S. 88–90

De malignis cogitationibus 23,4, S. 232,7; Capitula xxxiii, PG 40, col. 1865,21–23

Syst.: 3,39,4, S. 172,17

Evagrios Pontikos: Praktike, ed. A. and C. GUILLAUMONT (Paris 1971); Gnostikos, ed. A. and C. GUILLAUMONT (Paris 1989); Ad monachos, ed. J. DRISCOLL (Rom 1991); De oratione, PG 79, coll. 1165–1200; De malignis cogitationibus, ed. A. and C. GUILLAUMONT (Paris 1998); Capitula xxxiii, PG 40, col. 1857–1866

Apophthegmata Patrum: Alphabetische Sammlung, PG 65, coll. 71–440; Systematische Sammlung, ed. J.-C. GUY (Paris 1993–2005)

Dialogus de contemplatione, ed. J.-C. GUY, Recherches de science religieuse 50 (1962), S. 232–236.

).,3.„C

Werk/Terminologie

5,2, S. 233,2

PG 65, col. 88B

Praktike 14,5–7, S. 534,1–3

Dämonische Ekstase ).,3.„C .2KˆG„3.H"C/ K!..ˆ/K@..& +D2GÅG

Appendix I: Ekstase in der frühbyzantinischen monastischen Literatur –

Alph.: PG 65, col. 100D; Syst.: 11,9,1–5; J.-C. GUY (Paris 2003), S. 140,1–5

Mystische Ekstase –

Alph.: PG 65, col. 208D; 357B; 408C; 409A; 428D; Syst.: 3,31,2; 3,33,2; 3,38,8; 7,52,24; 9,16,9; 18,10,2; 18,27,2, J.-C. GUY (Paris 1993), S. 166,10; 166,22; 170,22; 384,8; 440,4; J.-C. GUY (Paris 2005), S. 50,18; 80,20

).,3.„C

84 Bettina Krönung

71.2, S. 37.13

12,7, S. 103,12

51,2,1, S. 286,22

.2KˆG„Š2,3„: 44,40,1, S. 268,25 K!..ˆ/K@..&: 3,9,14; 6,6,4; 8,12,12; 9,10,21; 21,23,14; 21,24,1; 22,4,6; 28,1,17, Bd. I, S. 260,10; 354,9; 39814; 426,15; Bd. II, S. 106,16; 106,18; 128,13; 226,1

Epistula Ammonis Episcopi, de SS Pachomio et Theodoro, ed. F. HALKIN, Subsidia Hagiographica Graeca 19 (1932), S. 98–121.

Kallinikios: Vita des Hypatios, ed. G. J. M. BARTELINK (Paris 1971)

Theodoretos von Kyrrhos: Philotheos Historia, ed. P. CANIVET/A. LEROYMOLINGHEN, 2 Bde. (Paris 1977–1979)

8,14; 96,11; 135,11, S. 14,32; 47,25; 64,23

Vita des Pachomios, ed. F. HALKIN (Genf 1982)

1,20; 4,27; 29,26; 38,54, S. 15,24; 20,17; 85,14; 119,6 82,4, S. 346,1

18,26; 39,4, S. 48,22; 123,7

Palladios: Historia Lausiaca, ed. C. BUTLER (Hildesheim 1967)

Athanasios von Alexandreia: Vita des Antonios, ed. G. J. M. BARTELINK (Paris 1994)

9,11, S. 74,17

Historia Monachorum in Aegypto, ed. A.-J. FESTUGIÈRE, (Brüssel 1961)

65,2, S. 304,9

10,20–22; 21, 5–10, S. 84,1– 12; 125,8–126,8

Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen

85

41.3–8, S. 283.26– 284.5

Vita der Martha, ed. P. VAN DER VEN (Brüssel 1962)

Vita des Daniel Stylites, ed. H. DELEHAYE (Brüssel 1923)

101.10–14; 195.6–8; 243.1–3, S. 78.18–22; 172.17–19; 217.21–23

Vita des Symeon Stylites des Jüngeren, ed. P. VAN DER VEN (Brüssel 1962)

21.1–2; 96.17, S. 21.18–22.1; 90.17

11.3; 57.19, S. 261.18; 301.6

57.28; 71.9; 103.1; 123.32; 129.3; 134.1; 186.25; 210.1; 256.20, S. 51.11; 61.8; 80.25; 104.19; 116.14; 126.12; 165.3; 180.19; 222.10

Vita des Euthymios 50.35; 57.23, S. 73.11; 78.25

.2KˆG„Š2,3„: Vita des Euthymios 54.3; Vita des Kyriakos 9.17, S. 76.15; 228.11

).,3.„C

Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios, Vita des Ioannes, Vita des Kyriakos, ed. E. SCHWARTZ (Leipzig 1939)



PG 88, coll 796C; 797C; 812C

.2KˆG„3.H"C/ K!..ˆ/K@..&

Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, 632–1209.

).,3.„C +D2GÅG PG 87/3, coll. 2864A; 2865C; 2900A; 2916C; 2917A; 2964A; 2992D–2993A; 2996A

).,3.„C

Mystische Ekstase

Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, coll. 2851–3112.

Werk/Terminologie

Dämonische Ekstase

17.9–10, S. 265.21–22

8.3; 29.2; 104.4; 104.29; 106.9; 160.17; 176.4, S. 9.13; 29.16; 81.27; 82.23; 86.7; 142.16; 155.23

Vita des Ioannes 17.3, S. 214.23

PG 87/3, col. 2872B



86 Bettina Krönung

Georgios: Vita des Theodoros von Sykeon, ed. A.-J. FESTUGIÈRE (Brüssel 1970)

Markos Diakonos: Vita des Porphyrius von Gaza, ed. H. GRÉGOIRE/M.-A. KUGENER (Paris 1930)

Leontios of Neapolis: Vita des Symeon Salos und Vita des Ioannes Eleimon, ed. A.-J. FESTUGIÈRE/L. RYDÉN (Paris 1974) 90.3, S. 70.9

159.39–40, S.134.29–30

Vita des Ioannes: 38.132–141, S. 390.16–23 7.12, S. 7.12

162.15–21, S. 146.13–19

Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen

87

Athanasios von Alexandreia: Vita des Antonios, ed. G. J. M. BARTELINK (Paris 1994) Vita des Pachomios, ed. F. HALKIN (Genf 1982) Epistula Ammonis Episcopi, de SS Pachomio et Theodoro, ed. F. HALKIN, Subsidia Hagiographica Graeca 19 (1936), S. 98–121

Werk/Terminologie Evagrios Pontikos: Praktike, ed. A. and C. GUILLAUMONT (Paris 1971); Gnostikos, ed. A. and C. GUILLAUMONT (Paris 1989); Ad monachos, ed. J. DRISCOLL (Rom 1991); De oratione, PG 79, coll. 1165–1200; De malignis cogitationibus, ed. A. and C. GUILLAUMONT (Paris 1998); Capitula xxxiii, PG 40, col. 1857–1866 Apophthegmata Patrum: Alphabetische Sammlung, PG 65, coll. 71–440; Systematische Sammlung, ed. J.-C. GUY (Paris 1993–2005) Dialogus de contemplatione, ed. J.-C. GUY, Recherches de science religieuse 50 (1962), S. 232–236. Historia Monachorum in Aegypto, ed. A.-J. FESTUGIÈRE (Brüssel 1961) Palladios Historia Lausiaca, ed. C. BUTLER (Hildesheim 1967) 58,37, S. 153,3

¢G2„DEC

Alph.: PG 65, col. 168B

¢G3D

70,8, S. 37,9

19, S. 61,1

5,13, S. 13,12

Traumbegriffe žG!•G„EG 3,¼ ¢G3D Ad monachos 52, S. 10,13f.; Praktike 56, S. 630,2

Appendix II: Träume in der frühbyzantinischen monastischen Literatur §G2„DE•&Kñ&

Ž•3D

88 Bettina Krönung

Markos Diakonos: Vita des Porphyrius von Gaza, ed. H. GRÉGOIRE/ M.-A. KUGENER (Paris 1930) Georgios: Vita des Theodoros von Sykeon, ed. A.-J. FESTUGIÈRE (Brüssel 1970)

Vita des Symeon Stylite des Jüngeren, ed. P. VAN DER VEN (Brüssel 1962) Vita der Martha, ed. P. VAN DER VEN (Brüssel 1962) Vita des Daniel Stylites, ed. H. DELEHAYE (Brüssel 1923) Leontios of Neapolis: Vita des Symeon Salos und Vita des Ioannes Eleimon, ed. A.-J. FESTUGIÈRE/L. RYDÉN (Paris 1974)

Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, coll. 2851–3112 Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, 632–1209 Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios, Vita des Ioannes, Vita des Kyriakos, ed. E. SCHWARTZ (Leipzig 1939)

Kallinikios, Vita des Hypatios, ed. G. J. M. BARTELINK (Paris 1971) Theodoretos von Kyrrhos: Philotheos Historia, ed. P. CANIVET/A. LEROY-MOLINGHEN, 2 Bde. (Paris 1977–1979) PG 87,3, 3077A PG 88, 3, 669C Vita des Euthymio 10,28, S. 19,13

Vita des Symeon 1676C, S. 59,13 Vita des Ioannes 23; 32, S. 373,22; 383,6

23, S. 25,8

3,22; 21,17; 26,3, Bd. I, S. 286,23; Bd. II, 96,18; 162,15

23, S. 25,2

35,16, S. 34,16

PG 88, 865D,1

32,6–7, S. 210,15; 210,17 2,2; 21,34, Bd. I, S. 198,19; Bd. II, 122,7

21,17, Bd. II, S. 96,18

Ekstasen und andere Formen von Visionserfahrungen

89

Markos Diakonos: Vita des Porphyrius von Gaza, ed. H. GRÉGOIRE/ M.-A. KUGENER (Paris 1930) Georgios: Vita des Theodoros von Sykeon, ed. A.-J. FESTUGIÈRE (Brüssel 1970)

Ioannes Klimakos: Scala Paradisi, PG 88, 632–1209 Kyrillos von Skythopolis: Vita des Euthymios, Vita des Ioannes, Vita des Kyriakos, ed. E. SCHWARTZ (Leipzig 1939) Vita des Symeon Stylite des Jüngeren, ed. P. VAN DER VEN (Brüssel 1962) Vita der Martha, ed. P. VAN DER VEN (Brüssel 1962) Vita des Daniel Stylites, ed. H. DELEHAYE (Brüssel 1923) Leontios of Neapolis: Vita des Symeon Salos und Vita des Ioannes Eleimon, ed. A.-J. FESTUGIÈRE/ L. RYDÉN (Paris 1974)

Werk/Terminologie Ioannes Moschos: Pratum Spirituale, PG 87/3, coll. 2851–3112

Vita des Euthymios 10,28, S. 19,13

¢G2„DEC PG 87,3, 3077A

Vita des Symeon 1676C, S. 59,13 Vita des Ioannes 23; 32, S. 373,22; 383,6

23, S. 25,8

¢G3D

23, S. 25,2

35,16, S. 34,16

PG 88, 865D,1

Traumbegriffe žG!•G„EG 3,¼ ¢G3D §G2„DE•&Kñ&

Ž•3D

90 Bettina Krönung

SUSANNE KURZ und STEFAN SEIT

Die Einschätzung von Träumen und Traumdeutung im lateinisch-christlichen Mittelalter und im sunnitischen Islam 1.

Einleitung Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes. Josef […] beschloss, sich in aller Stille von ihr zu trennen. Während er noch darüber nachdachte, erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sagte: […] [F]ürchte dich nicht, Maria als deine Frau zu dir zu nehmen; denn das Kind, das sie erwartet, ist vom Heiligen Geist. Als Josef erwachte, tat er, was der Engel des Herrn ihm befohlen 1 hatte.

Nicht nur Josef erhält in der Geburtsgeschichte des Matthäus-Evangeliums im Traum göttliche Weisungen und handelt nachher ihnen gemäß. Die Erzählung setzt sich vielmehr mit einer dichten Folge von derartigen visionären Träumen fort: Auch die drei Sterndeuter, die auf dem Weg nach Bethlehem bei Herodes Station gemacht und dessen politischen Argwohn geweckt haben, erhalten im Traum Weisung, „nicht zu Herodes zurückzukehren“, um ihm vom Erlebten, von der Geburt Jesu, zu berichten. Deshalb „zogen sie auf einem anderen Weg heim in ihr Land.“ Unmittelbar darauf erscheint Josef erneut „im Traum ein Engel des Herrn und sagt: […] [N]imm das Kind und seine Mutter und flieh nach Ägypten; dort bleibe, bis ich dir etwas anderes auftrage; denn Herodes wird das Kind suchen, um es zu töten.“2 Josef handelt wieder weisungsgemäß, und Jesus entgeht so dem „Bethlehemitischen Kindermord“; nach dem Tod des Herodes erscheint dann dem Josef in der Tat noch einmal im Traum der Engel und erteilt den Auftrag zur Heimkehr; und wiederum folgt Josef mit seiner Familie diesem Befehl. Mit den Träumen, die Josef und den „Heiligen Drei Königen“ zuteil werden und derer sich Gott (in der Vermittlung eines Engels) bedient, um am Höhepunkt der Heilsgeschichte diese im Gang zu halten, hat die christliche Tradition ebenso klare wie prominente Belege dafür, dass Gott sich dem Menschen – mindestens in extraordinären Situationen – im Traum mitteilt, ihm Aufträge erteilt (oder erteilen lässt) und so in die 1 2

Mt 1,18–20.24 (Übersetzung hier wie im Folgenden: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1979 u. ö.). Mt 2,1.

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Susanne Kurz und Stefan Seit

Weltgeschichte als Heilsgeschehen steuernd eingreift. Und es gibt weitere Beispiele, auch für weissagende Träume anderen Typs, in denen etwa künftige Ereignisse in nicht ohne weiteres verständlichen Bildern angezeigt werden, mit an erster Stelle gewiss die vom alttestamentlichen Josef gedeuteten Träume, namentlich die des ägyptischen Königs von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen, von den sieben vollen und den sieben dürren Ähren, die auf eine Abfolge von sieben Jahren hoher landwirtschaftlicher Produktivität und von sieben Jahren der Missernten und des Hungers vorausverweisen. Dem steht freilich – gerade auch im Alten Testament – eine ganz andere, nämlich kritische Perspektive auf den Traum als einem Medium gegenüber, das der (vermeintlichen) Mitteilung zunächst verborgenen und nicht direkt zugänglichen Wissens dient.3 Mit dieser Spannung ist die Problemstellung vorgegeben, an die sich seit der Spätantike und das Mittelalter hindurch vielfältige theologisch-philosophische Reflexionen auf Traum und Traumdeutung anlagern. Wenn eher volkstümlich-schlichte Auffassungen mit reflektierten wissenschaftlichen Überlegungen über Gott, den Menschen, beider Erkenntnis- und Mitteilungsweisen sowie den Status des Menschen im Weltzusammenhang zusammentreffen, werden der Traum und seine mögliche Deutung vollends zum Problem, und zwar noch über das Problembewusstsein hinaus, das bereits alttestamentliche Texte erkennen lassen. Die beiden genannten Perspektiven kennt nicht nur das Christentum (und vor ihm teilweise das Judentum), sondern auch der Islam. Auch für den Islam ist von seinen Ursprüngen her der Traum als Instrument der göttlichen Selbstmitteilung an den Menschen ein geradezu selbstverständliches Phänomen, erhält doch sogar der Prophet Mohammed Teile seiner Offenbarung auf diesem Weg. Darüber hinaus ist in der islamischen Kultur auch die (natur-)philosophische Reflexion der Antike auf das Phänomen des Traumes mindestens ebenso präsent wie im Christentum des lateinischen Mittelalters – zeitweise sogar sehr viel präsenter und wirksamer. Gerade im Kulturvergleich eröffnet sich nun eine spannende Perspektive: die Möglichkeit, Positionen zu Traum und Traumdeutung in ihrem Verhältnis zu Grundauffas3

Insbesondere einige Propheten warnen nachdrücklich vor diesem Verständnis des Traums, indem sie natürlich zugleich die Würde ihrer eigenen prophetischen Beauftragung gegenüber allgemeineren, vielleicht alltäglicheren, jedenfalls aber missbrauchbaren und weniger ausgezeichneten Wegen zum verborgenen Wissen zur Geltung bringen. Deutlich zuspitzend und doch zugleich relativierend, nimmt das deuterokanonische, der Weisheitsliteratur zugehörige Buch Jesus Sirach (34,1–8) diese Überlegungen auf: „Nichtige und trügerische Hoffnung ist Sache des Toren, / und Träume regen nur Törichte auf.//[…]//Das Traumbild ist ein Spiegel,/das Abbild eines Gesichts gegenüber dem Gesicht selbst.//[…]//Wahrsagung, Zeichendeuterei und Träume sind nichtig: / Was du erhoffst, macht das Herz sich vor.//Sind sie nicht vom Höchsten zur Warnung gesandt, / so schenk ihnen keine Beachtung!“ Die Frage muss dann freilich lauten: Wie lassen sich die „vom Höchsten zur Warnung gesandt[en]“ Träume von jenen anderen, nichtigen oder gar irreführenden Träumen unterscheiden, in denen sich die menschliche Seele nur ihre eigenen Bedürfnisse, Befürchtungen, Hoffnungen und Wünsche als gleichsam halbobjektive Wirklichkeit vorgaukelt?

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sungen des Menschen- und Gottesbildes und der Erkenntnislehre zu profilieren: Was kann der Mensch wie und warum erkennen? Ist er ein Naturwesen oder ragt er über die Natur hinaus? Was bedeutet die eventuelle Vorhersehbarkeit der Zukunft für die Freiheit des Menschen im Verhältnis zu Allmacht und Allwissenheit Gottes einerseits sowie zu gesetzmäßigen Naturnotwendigkeiten andererseits?4 Diesen und benachbarten Fragen, von deren Beantwortung nicht zuletzt abhängt, wie ‚naive‘ und ‚wissenschaftliche‘ Auffassungen aufeinander bezogen werden können, soll im Folgenden nachgegangen werden, und zwar, indem christlich-abendländische und islamische Denktraditionen im Vergleich behandelt werden. Oberflächlich betrachtet mag dabei ein Ungleichgewicht auffallen, das die Aussagekraft des interkulturellen Vergleiches in Frage zu stellen scheint: Was die Auffassungen im lateinischen Christentum angeht, wird in erster Linie von philosophisch-theologischen Texten gehandelt, während im Abschnitt über die Ansichten im sunnitischen Islam ausführlicher auf die umfangreiche Traumdeutungsliteratur eingegangen wird. Der hauptsächliche Fokus liegt also auf unterschiedlichen Literaturgattungen, die aus europäischer Sicht überdies von unterschiedlicher wissenschaftlicher Qualität sind: regelrechte Wissenschaft auf der einen, praktisches Gebrauchswissen auf der anderen Seite. Ein sinnvoller interkultureller Vergleich muss jedoch nicht nur von den spezifischen Gegebenheiten der jeweiligen Kultur und von den Quellen ausgehen, die mit Blick auf die Fragestellung jeweils maßgeblich sind, in der jeweiligen Kultur am meisten in die Breite gewirkt und die Auffassungen über die behandelte Frage am nachhaltigsten beeinflusst haben; darüber hinaus spiegelt bereits die Differenz der Quellengattungen sehr grundlegende Unterschiede auf der Ebene des wissenssystematischen Status: Während das Problem der Wahrträume und ihres Offenbarungspotentials in Europa insbesondere von Philosophen und Theologen bearbeitet und durch grundlegende, kritische Überlegungen und systematische Reflexionen gelöst worden ist, stellt sich in der islamischen Kultur das Problem von vornherein unter anders konfigurierten Voraussetzungen und wurde hauptsächlich im Rahmen der Traumdeutungsliteratur behandelt, – und die philosophische und theologische Literatur kommt nicht prinzipiell zu einem anderen Ergebnis. In der Traumdeutungsliteratur ist der Umgang mit dem 4

Bereits hier bestehen erhebliche Unterschiede zwischen beiden Religionen und Kulturen, so etwa, was das Verständnis der menschlichen Vernunft und ihrer Reichweite angeht; vgl. zusammenfassend zum islamischen Verständnis der menschlichen Vernunft TILMAN NAGEL: Staat und Glaubensgemeinschaft im Islam. Geschichte der politischen Ordnungsvorstellungen der Muslime, Bd. II: Vom Spätmittelalter bis zur Neuzeit, München, Zürich 1981, S. 336f., der hervorhebt: „Göttliche ratio, deren Ausdruck eben auch die gottgewollte Ordnung des Diesseits ist, und menschliche ratio werden im Islam als zwei entgegengesetzte Kräfte empfunden.“ Zwar ist für das lateinische Christentum – gerade unter dem Aspekt der Erbsünde – das Verhältnis von menschlicher und göttlicher Vernunft nicht unproblematisch, es besteht aber gewiss kein Gegensatz; vielmehr ist für die Standortbestimmung der ratio humana die Idee der Gottesabbildlichkeit des Menschen fundamental. Dass dies für ein Verständnis von Traum und Traumdeutung von erheblichem Gewicht ist, wird im Folgenden zu zeigen sein.

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Problem pragmatisch; es wird also nicht auf einer grundsätzlichen, spekulativen Ebene angegangen, sondern vielmehr von Fall zu Fall durch bestimmte Techniken und Kriterien der Traumdeutung gelöst. Grundlage für diese unterschiedlichen Zugänge sind historisch bedingte Differenzen in den Auffassungen von Offenbarung, im Umgang mit derselben und in der Rezeption des philosophischen Denkens der Antike. All dies wirkt sich einerseits auf die Fragen aus, die Theologen und Philosophen überhaupt stellen (können), andererseits aber auch auf den Stellenwert und Einfluss theologischer und philosophischer Konzepte und Reflexionen innerhalb der Kultur.5 In Europa hat sich letztlich die theologisch-philosophische Reflexion auf Träume, wie sie hier diskutiert wird, bis in die Gegenwart erheblich auf allgemein verbreitete Auffassungen ausgewirkt, während ähnliches über die Traumdeutungsliteratur im islamisch geprägten Umfeld zu konstatieren ist. Verglichen werden also nicht theologisch-philosophische Äußerungen zu Traum und Traumdeutung im lateinisch-christlichen und islamischen Kontext, sondern maßgebliche und wirkmächtige Formen des Umgangs mit Träumen und Traumdeutung in beiden Kulturen mit einem Fokus auf den Problemen, die die in beiden Kulturen zunächst vorausgesetzte Möglichkeit von Wahrträumen aufwirft. Berechtigt und sinnvoll erscheint ein Vergleich dabei trotz aller Unterschiede nicht nur wegen der in beiden Kontexten auftretenden Schwierigkeiten bei der Einschätzung der in den Offenbarungsschriften hier wie dort als möglich gedachten Wahrträume und der Unterscheidung dieser ‚wahren‘ von ‚falschen‘ Träumen ohne Offenbarungsgehalt, sondern auch wegen der in beiden Kulturen gegebenen – wenn auch unterschiedlich ausfallenden – Auseinandersetzung mit dem griechischen Erbe. Die Unterscheidung zwischen regelrechter ‚Wissenschaft‘ und Wissensgebieten wie der Traumdeutung schließlich setzen in dieser Form von vornherein die spezifisch europäische Entwicklung der Wissenschaftskultur und Professionalisierung voraus, die aufgrund andersartiger historischer Entwicklungen und kultureller Gegebenheiten so in der islamischen Kultur vor dem Eindringen europäischer Modelle nicht vorlag und für unseren Zusammenhang deshalb keine sinnvollen Kategorien bereitstellt. So wird die Traumdeutung von den Muslimen ebenso als 'ilm („Wissen“ oder „Wissensgebiet“)6 bezeichnet wie etwa die Medizin, die Koranauslegung und die Theologie und sowohl den religiösen Wissenschaftszweigen als auch der Medizin zugerechnet.7

5 6

7

Siehe dazu unten den Abschnitt über die sunnitisch-islamische Situation. Der Begriff wird üblicherweise mit „Wissenschaft“, „science“ und dgl. übersetzt, was aber angesichts der in vieler Hinsicht andersartigen Konzepte und Entwicklungen die Gefahr birgt, den Leser in die Irre zu führen. Für eine umfassende Darstellung und Diskussion des Konzeptes 'ilm und verwandter Begriffe in der islamischen Kultur siehe FRANZ ROSENTHAL: Knowledge Triumphant: The Concept of Knowledge in Medieval Islam, Leiden 1970. Zu den unterschiedlichen Aspekten der Traumdeutung, etwa der religiösen und teils prognostischen Deutung von Wahrträumen und der diagnostischen Deutung von ‚Wirrträumen‘ in der islamischen Tradition siehe unten.

Die Einschätzung von Träumen und Traumdeutung

2.

Traum und Traumdeutung im lateinischen Mittelalter

2.1

Augustinus

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2.1.1 Die Gottesabbildlichkeit des menschlichen Geistes und ihre Bedeutung für das Erkenntnisgeschehen Aurelius Augustinus (354–430), der spiritus rector des philosophischen und theologischen Denkens des lateinischen Christentums mindestens bis ins 13. Jahrhundert hinein, kommt immer einmal wieder auf den Traum und die Möglichkeit der Traumdeutung zu sprechen,8 am prononciertesten wohl im inhaltlich abgeschlossenen zwölften Buch seines Genesis-Kommentars. Hier wie auch in anderen Kontexten dient Augustinus das allgemein vertraute Phänomen des Traumes allerdings eher zu dem Zweck einer Annäherung an das Erkenntnisgeschehen, das sich in Visionen ereignet und das zweifellos weniger leicht zugänglich ist, also als Beispiel für ein anscheinend sinnliches Wahrnehmen, das zustande kommt, obwohl die (äußeren) Sinne und ihre Tätigkeit suspendiert sind. Was hat Paulus, so fragt Augustinus, in den ‚dritten Himmel‘ entrückt, geschaut: eine körperliche Wirklichkeit, obgleich seine Sinne doch ausgeschaltet waren, oder eine geistig-geistliche Wirklichkeit? Weshalb und wie ereignet sich diese Vision dann aber in sinnlich-körperlichen Bildern und nicht rein geistig?9 8

9

Vgl. z. B. Aurelius Augustinus: Contra Academicos. Hrsg. von WILLIAM M GREEN, Turnhout 1970 (CCSL 29), lib. III, cap. 11f.; Ders.: De trinitate (Bücher VIII–XI, XIV–XV, Anhang: Buch V). Neu übersetzt und mit Einleitung hrsg. von JOHANN KREUZER. Lateinisch – Deutsch, Hamburg 2001, lib. XV, cap. 12. – Außerdem behandelt Augustinus das Thema in einigen seiner Briefe; vgl. z. B. Brief IX (an Nebridius) sowie insbesondere die Briefe CLIX und CLXII (an Evodius, mit Bezugnahme auf De libero arbitrio, wo Evodius als Gesprächspartner fungiert, De vera religione und – vorgreifend – eben auf De trinitate). Vgl. Aurelius Augustinus: De Genesi ad litteram. In: Ders.: De Genesi ad litteram libri duodecim. Hrsg. von JOSEPH ZYCHA, Prag, Wien, Leipzig 1894 (CSEL 28 [III / 1]), lib. XII, cap. 1f., S. 379–382. – Augustinus bezieht sich auf 2 Kor 12,1–4, wo Paulus sein Entrückungserlebnis folgendermaßen beschreibt: „Ich muss mich ja rühmen; zwar nützt es nichts, trotzdem will ich jetzt von Erscheinungen und Offenbarungen [ὁπτασίαι καì ἀποκαλύψεις; vgl. visiones et revelationes] sprechen, die mir der Herr geschenkt hat. Ich kenne jemand, einen Diener Christi, der vor vierzehn Jahren bis in den dritten Himmel entrückt wurde; ich weiß allerdings nicht, ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, nur Gott weiß es. Und ich weiß, dass dieser Mensch in das Paradies entrückt wurde; ob es mit dem Leib oder ohne den Leib geschah, weiß ich nicht, nur Gott weiß es. Er hörte unsagbare Worte, die ein Mensch nicht aussprechen kann.“ Der griechische Text lässt noch deutlicher als die lateinischen Termini der Vulgata und die deutsche „Einheitsübersetzung“ hervortreten, was Augustinus an dieser Darstellung interessieren muss, verweisen die Begriffe ὁπτασίαι und ἀποκαλύψεις doch eindeutig auf den Gesichtssinn und das Gehör: Paulus erinnert sich demnach einerseits an Visionen und Auditionen im engeren Sinn, weiß andererseits aber, wie er wiederholt betont, nicht, ob und – gegebenenfalls – wie der „Leib“ an seinen Erfahrungen beteiligt gewesen ist. Für den Apostel selbst mag darin kein erheblicher Widerspruch be-

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Augustinus stellt die Frage nach der ‚Erkenntnistheorie‘ der Vision und des Traumes bereits mit ihrer Formulierung in den Horizont seiner allgemeinen Erkenntnislehre: Menschliche Erkenntnis setzt zwar einerseits bei der Sinneswahrnehmung an, hat ihre eigentümliche Grundlage aber in einer geistigen, intellektualen Sphäre, die sich keinesfalls auf die Sinne und ihre Tätigkeit zurückführen lässt: Durch die sinnliche Wahrnehmung „bewirkt“10 das wahrgenommene Ding in der Seele Vorstellungsbilder (imagines), die in der Erinnerung aufbewahrt werden und von dort immer wieder aufgerufen, miteinander verglichen und verknüpft, aber auch gleichsam kreativ, von der Außenwelt abweichend, kombiniert werden können:11 Der Mensch vermag sich desstehen, für Augustinus als einen mit der griechischen Philosophie vertrauten und in ihren Kategorien denkenden Gelehrten der Spätantike verhält es sich hingegen anders: Optische und akustische Wahrnehmungen sind Leistungen der Sinne; diese wiederum gehören der körperlich-animalischen Seite des Menschen an. Davon, dass Paulus seine Visionen und Auditionen – das Gehör wird am Ende des kurzen Berichts noch ein weiteres Mal angesprochen – im Traum erfahren hätte, ist freilich im neutestamentlichen Text noch nicht die Rede, und auch für Augustinus ergibt sich dieser Zusammenhang eher indirekt: Im Kontext seines Genesis-Kommentars interessiert ihn am Bericht des Paulus zunächst dessen Behauptung, in den ‚dritten Himmel‘, d. h. – synonym – ins Paradies entrückt worden zu sein, insofern Paulus’ Zweifel an der Körperlichkeit seiner Erfahrung einige Überlegungen zur Körperlichkeit oder Geistigkeit der paradiesischen bzw. jenseitigen Existenz nahe legen. Mindestens teilweise extra causam erörtert Augustinus in diesem größeren Zusammenhang dann das Problem, ob und in welchem Sinn Entrückungen und vergleichbare Erkenntnissituationen, in denen die Seele den Körper hinter sich zu lassen scheint, dennoch körperlicher oder vielmehr geistiger Qualität seien (utrum corporale an spirituale esset [XII / 1, S. 380]). 10 Aurelius Augustinus: De trinitate (Anm. 8), IX / 6(11), S. 68.70 / 69.71: [R]es quaedam menti nuntiata per oculos memoriaeque transfusa imaginarium conspectum facit. […] ista [sc. die wahrgenommenen äußeren Dinge] uero aut praesentia sensu corporis tangimus aut imagines absentium fixas in memoria recordamur aut ex earum similitudine talia fingimus qualia nos ipsi si uellemus atque possemus etiam opere moliremur, aliter figurantes animo imagines corporum aut per corpus corpora uidentes, aliter autem rationes artemque ineffabiliter pulchram talium figurarum super aciem mentis simplici intellegentia capientes. („[D]er Gegenstand, der durch die Augen dem Geist kundgetan wurde und dem Gedächtnis eingeströmt ist, bewirkt eine bildhafte Vorstellung. […] Diese Dinge aber berühren wir entweder, wenn sie gegenwärtig sind, mit dem Sinn des Leibes, oder wir erinnern uns, wenn sie abwesend sind, ihrer Bilder, die im Gedächtnis haften, oder wir bilden aus ihrer Ähnlichkeit solche Vorstellungen, die wir, wenn wir wollten und könnten, auch selbst im Werke ausführen würden – wobei es etwas anderes ist, wenn wir in unserer Seele die Bilder von Körpern formen oder durch den Leib Körper sehen, etwas anderes, wenn wir die Gründe und die unaussprechlich schöne Kunst solcher Formen über die Sehkraft unseres Geistes hinaus mit einfacher Einsicht erfassen.“) 11 Zum Ganzen dieses Vorganges vgl. auch die besonders prominente Darstellung im zehnten Buch der Confessiones, hier zitiert nach Aurelius Augustinus: Bekenntnisse. Lateinisch und deutsch. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von JOSEPH BERNHART. Mit einem Vorwort von ERNST LUDWIG GRASMÜCK, Frankfurt a. M. 1987, z. B. X / 8(13), S. 504 / 505: Ibi [im Gedächtnis] sunt omnia distincte generatimque servata, quae suo quaeque aditu [nämlich durch die verschiedenen Sinne]

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halb auch vorzustellen, was er nie (oder noch nicht) wahrgenommen hat, er ist schließlich zum Denken in allgemeinen Begriffen im Stande, die kein (direktes) Gegenstück in der äußeren Wirklichkeit haben, und kann sich durch Nachdenken (cogitare/ cogitatio) ein geordnetes, ‚wissenschaftliches‘ Wissen von den Dingen der Außenwelt erwerben.12 Die Seele findet in sich darüber hinaus aber auch Inhalte vor, die nicht einmal lediglich indirekt auf der Wahrnehmung der Außenwelt beruhen, sondern die der Geist allein aus sich, in der Rückwendung auf sich selbst gewinnt. Dabei handelt es sich wenigstens um die Grundlagen der Logik und der Mathematik, vielleicht auch um inhaltlich differenzierte ‚Ideen‘ im platonischen Sinn.13 Viel wichtiger als dieses Interingesta sunt, sicut lux atque omnes colores formaeque corporum per oculos, per aures autem omnia genera sonorum omnesque odores per aditum narium, omnes sapores per oris aditum, a sensu autem totius corporis, quid durum, quid molle, quid calidum frigidumve, lene aut asperum, grave seu leve sive extrinsecus sive intrinsecus corpori. Haec omnia recipit recolenda, cum opus est, et retractanda grandis memoriae recessus et nescio qui secreti atque ineffabiles sinus eius: quae omnia suis quaeque foribus intrant ad eam et reponuntur in ea. Nec ipsa tamen intrant sed rerum sensarum imagines illic praesto sunt cogitationi reminiscenti eas. („Dort ist alles seiner Gattung nach getrennt aufbewahrt, was durch seinen jeweiligen Eingang hineingetragen worden ist, wie das Licht und alle Farben durch die Augen, alle Arten von Klängen aber durch die Ohren und alle Gerüche durch den Zugang der Nase, alle Geschmäcke durch den Zugang des Mundes, durch den Sinn aber des ganzen Körpers [den Tastsinn], was hart, was weich, was warm oder kalt, was glatt oder rau, schwer oder leicht ist, sei es von außerhalb oder von innerhalb des Körpers. Dies alles nimmt der weite Innenraum des Gedächtnisses und seine – ich weiß nicht, welche geheimen und unaussprechlichen – Winkel auf, um es bei Bedarf wieder hervorzuholen und erneut durchzuarbeiten, – alles was, jedes durch seine jeweilige Tür, ins Gedächtnis eintritt und in ihm aufbewahrt wird. Die Dinge treten allerdings nicht selbst ein; vielmehr sind dort die Abbilder der wahrgenommenen Dinge für das Denken zur Hand, das sich ihrer erinnert.“ [Übers. St. S. in Anlehnung an die Übertragung von JOSEPH BERNHART].) 12 Vgl. hierzu Augustinus: Confessiones (Anm. 11), X / 11(18), S. 512.514 / 513.515: Quocirca invenimus nihil esse aliud discere ista, quorum non per sensus haurimus imagines, sed sine imaginibus, sicuti sunt, per se ipsa intus cernimus, nisi ea, quae passim atque indisposite memoria continebat, cogitando quasi colligere atque animadvertendo curare, ut tamquam ad manum posita in ipsa memoria, ubi sparsa prius et neglecta latitabant, iam familiari intentioni facile occurrant. („Wir finden demnach, dass es nichts anderes ist, diese Dinge zu lernen, deren Bilder wir nicht mittels der Sinne schöpfen, sondern die wir ohne Bilder, so wie sie sind, durch sich selbst innerlich schauen, als dass wir das, was die Erinnerung durcheinander und ungeordnet enthielt, im Denken gleichsam zusammenlesen und uns, indem wir unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, darum bemühen, dass es in demselben Gedächtnis, wo es zuvor verstreut und vernachlässigt beiseitelag, gleichsam zur Hand liegt und der vertrauten Aufmerksamkeit leicht begegnet.“ [Übers. St. S. in Anlehnung an die Übertragung von JOSEPH BERNHART]). 13 Vgl. Augustinus: Confessiones (Anm. 11), X / 12(19), S. 514 / 515: Item continet memoria numerorum dimensionumque rationes et leges innumerabiles, quarum nullam corporis sensus inpressit, quia nec ipsae coloratae sunt aut sonant aut olent aut gustatae aut contrectatae sunt.

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pretationsproblem, was genau Augustinus als die Inhalte dieser ‚apriorischen‘ Erkenntnis bestimmt (wenn sie denn überhaupt differenzierte Inhalte aufweist), ist für das Verständnis der Augustinischen Gnoseologie und Anthropologie jedoch etwas anderes, nämlich die Figur der selbstreflexiven Denkbewegung, in der sich ein apriorisches Selbstwissen manifestiert, das für Augustinus aller Sacherkenntnis voraus- und zu Grunde liegt: Nur indem der menschliche Geist sich selbst als Einheit erfasst, gewinnt er das Prinzip und den Maßstab, aufgrund derer er das von den Sinnen angebotene Wahrnehmungsmaterial synthetisieren und verarbeiten kann.14 Die begrifflich-dis(„Außerdem enthält das Gedächtnis zahllose Lehrsätze und Regeln über Zahlen und Ausdehnungen [d. h. die Grundlagen der Arithmetik und der Geometrie]; von diesen Lehrsätzen und Regeln hat [aber] nichts der körperliche Sinn [dem Gedächtnis] eingeprägt, weil sie weder farbig sind noch klingen noch riechen noch schmecken noch ertastet sind.“ [Übers. St. S. in Anlehnung an die Übertragung von JOSEPH BERNHART]). 14 Demnach ist es die unterscheidende Eigentümlichkeit der Menschen, dass sie – im Gegensatz zu den Tieren, die ebenfalls wahrnehmen, Wahrnehmungsbilder im Gedächtnis aufbewahren und sogar an und mit ihnen arbeiten können – „das Vernommene von draußen drinnen mit der Wahrheit, die dort ist, vergleichen“ (Augustinus: Confessiones [Anm. 11], X / 6(10), S. 500 / 501: qui […] vocem acceptam foris intus cum veritate conferunt; Übers. St. S. in Anlehnung an die Übertragung von JOSEPH BERNHART). Die ‚innere Wahrheit‘, die den Maßstab für die Strukturierung des Wahrnehmungsmaterials angibt und kraft derer die Vernunft den (unmittelbar oder mittelbar verfügbaren) Sinnesdaten gegenüber als „Richterin“ (iudex ratio, X / 6[10], S. 500 / 501) agieren kann, gewinnt die (Geist-)Seele in der Gewissheit ihrer selbst: „In diesem Mancherlei von Empfindungen bin ich es, der durch die Sinne tätig ist: Einer, Ich, die Seele.“ ([Q]uae diversa per eos [sensus] ago unus ego animus, X / 7[11], S. 502 / 503.) – Den Zusammenhang zwischen der – vorgängigen – inneren Erkenntnis der Wahrheit und der Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit, d. h. der Aufschließung der Wahrnehmung und ihrer Inhalte, arbeitet Augustinus auch in De trinitate (Anm. 8), IX / 7(12), S. 70 / 71, scharf heraus; zugleich wird in der Qualifikation der Wahrheit als ‚ewig‘ und ihrer Identifikation als Schöpfer(in) deutlich, dass die Geistseele (mens, animus) in ihrer apriorischen Selbstgewissheit zur schlechterdings fundamentalen Gotteserkenntnis vorstößt: [I]n illa igitur aeterna ueritate ex qua temporalia facta sunt omnia formam secundum quam sumus et secundum quam uel in nobis uel in corporibus uera et recta ratione aliquid operamur uisu mentis aspicimus, atque inde conceptam rerum ueracem notitiam tamquam uerbum apud nos habemus et dicendo intus gignimus, nec a nobis nascendo discedit. („In jener ewigen Wahrheit also, von der alles Zeitliche geschaffen wurde, erblicken wir in der Schau des Geistes die Form, nach der wir sind und nach der wir in uns oder in den Körpern in wahrer und richtiger Verständigkeit etwas wirken. Die von dort her empfangene wahrhafte Kenntnis der Dinge haben wir gleichsam als ein Wort bei uns und zeugen es innerlich sprechend, und in seinem Geborenwerden entfernt es sich nicht von uns.“) – In der inneren Schau erlangt der Geist, unabhängig von jeder Sinneswahrnehmung die definitive, unbedingt wahre Kenntnis der Dinge, und zwar, indem er zur „ewigen Wahrheit“ vorstößt, die ihrerseits der schöpferische Ursprung aller Dinge ist. Dies vollzieht sich nicht allein als Akt der Selbsterkenntnis, sondern auch der Gotteserkenntnis, wobei sich die mens zugleich als trinitarisch strukturiert – zur inneren Zeugung des Wortes tritt die Liebe hinzu – und somit als gottähnlich verwirklicht; vgl. IX / 11(16), S. 76 / 77: [H]abet ergo animus

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kursive Erkenntnis, die aus den gespeicherten Vorstellungsbildern Konstanzen und Übereinstimmungen erhebt, die aus bloßen Ereignisfolgen Entwicklungslinien herausschält und etwa auch kausale Zusammenhänge in ihnen auffindet, ereignet sich in der Interaktion zwischen Wahrnehmung und Vorstellung einerseits sowie dem mentalen Selbstbezug andererseits – und setzt diesen letzteren als gegenüber der diskursiven Vernunfttätigkeit höhere Form der Erkenntnis voraus. Augustinus – und mit ihm seine mittelalterlichen Nachfolger, auch die meisten der im Weiteren behandelten Autoren – fasst diese Interaktion einerseits im Bild der richterlichen Tätigkeit, des (mentalen) ‚Urteils‘ über die Sinnesdaten; andererseits beschreibt er sie als Interpretationsgeschehen: Der Geist legt das in der Außenwelt Wahrgenommene als Zeichen auf eine dahinter liegende geistige Wirklichkeit aus, der er selbst immer schon angehört, und letztlich auf Gott als das eigentliche ‚Signifikat‘ der ganzen Schöpfung. Diese Erkenntnisleistung kann die mens humana vollziehen, weil sie sich in ihrem einfachen und an sich schlechterdings selbstidentischen Selbstwissen zugleich als dem trinitarischen Gott ähnlich und abbildlich erkennt. Damit geht nicht nur das Selbstbewusstsein des Ich, sondern – in und hinter diesem – das vorgängige Wissen von Gott aller Sacherkenntnis als deren Möglichkeitsbedingung voraus.

2.1.2 Der Intellekt als prophetisches Vermögen Die Konsequenzen der augustinischen Erkenntnislehre (und ihrer Fundierung in der Verschränkung der Selbsterkenntnis der – trinitarischen – mens humana mit der Gotteserkenntnis unter dem Aspekt der Gottesähnlichkeit) für die Frage nach dem Traum und seinen möglichen Bedeutungen sind weit reichend:15 Zunächst einmal kann Augustinus – entsprechend den drei interagierenden Stufen der seelischen Aktivität – drei hierarchisch gestufte Arten der Vision unterscheiden und damit sogleich auch den (Wahr-)Traum in seiner Wertigkeit erheblich relativieren: Ist auf der untersten Stufe die Sinneswahrnehmung angesprochen, wird auf der nächsten Stufe die Vorstellungskraft aktiviert und schließlich der Geist als intellectus.16 Allein nonnullam speciei notae similitudinem […]. quocirca in quantum deum nouimus similes sumus […]. („Die Seele hat also irgendeine Ähnlichkeit mit dem gekannten Wesen […]. So sind wir, soweit wir Gott erkennen, ihm ähnlich […].“). 15 Zu Augustins Verständnis des Traums vgl. allgemein MARIA ELISABETH WITTMER-BUTSCH: Zu Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter, Krems 1990 (Medium aevum quotidianum, Sonderband 1), S. 90–103. 16 Vgl. Augustinus: De Genesi (Anm. 9), XII / 7, S. 387f.: Haec sunt tria genera uisionum […]. primum […] appellemus corporale, quia per corpus percipitur et corporis sensibus exhibetur; secundum spiritale: quidquid enim corpus non est et tamen aliquid est, iam recte spiritus dicitur et utique non est corpus, quamuis corpori similis sit, imago absentis corporis, nec ille ipse obtutus, quo cernitur; tertium uero intellectuale ab intellectu, quia mentale a mente ipsa uocabuli nouitate nimis absurdum est ut dicamus. („Die drei Arten von Visionen sind die folgenden […]:

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auf dieser obersten Ebene der einfachen und intuitiven Erkenntnis (die der Sphäre des apriorischen Selbstwissens angehört) ist jeder Irrtum ausgeschlossen,17 ist die reine Geistestätigkeit doch nicht auf einen äußeren Gegenstand bezogen, den sie, namentlich in seiner Zeichenhaftigkeit, auch verfehlen könnte, sondern allein auf sich selbst und die ‚ewige Wahrheit‘, die sie in sich selbst auffindet. Demgegenüber unterliegen die Vorstellung und – noch mehr – die Sinneswahrnehmung der Täuschung; überdies sind ihre Inhalte unklar und durchaus nicht selbstverständlich und selbstverständlich wahr; Visionen im Bereich der Sinneswahrnehmung und der Vorstellungskraft – auch die stets der Imagination zugehörigen Traumgesichte – sind vielmehr, wenn sie nicht ohnehin rein körperliche Ursachen und also keine weitere Relevanz haben, Zeichen, die auf das eigentlich Gemeinte verweisen, ohne dass die beteiligten Seelenvermögen jedoch diese Bedeutung selbst zu erschließen vermöchten. Vielmehr bedürfen solche Visionen niederen Ranges der Bestätigung und Auslegung aufgrund einer höheren Einsicht, die von sich aus freilich nicht nur unanschaulich und folglich nicht als solche vermittelbar, sondern auch nicht Inhalt einer ‚Vision‘ oder ‚Audition‘ im engeren Wortsinn ist: Intellektuelle Einsichten werden nicht ‚gesehen‘, ‚gehört‘ oder in irgendeiner Weise erfahren, auch nicht im Traum. Sinneseindrücke und Vorstellungsbilder gleich welcher Provenienz wiederum haben an sich keine Bedeutung oder teilen diese doch wenigstens nicht unmittelbar mit. Wie im Fall des ‚normalen‘ Erkenntnisgeschehens, das von der sinnlichen Wahrnehmung von Dingen der äußeren Wirklichkeit ausgeht, muss auch bei Visionen und Träumen zunächst „das Vernommene von draußen drinnen mit der Wahrheit, die dort ist“, zusammengebracht und verglichen werden,18 Die erste Art […] wollen wir ‚körperlich‘ nennen, weil sie mittels des Körpers aufgenommen, nämlich durch die Sinne des Körpers dargeboten wird; die zweite [wollen wir] ‚geistig‘ [nennen]: Alles, was kein Körper, aber dennoch irgendetwas ist, wird bereits zu recht ‚Geist‘ genannt, und jedenfalls ist das Vorstellungsbild eines abwesenden Körpers, wie sehr es dem Körper auch ähneln mag, kein Körper, und es ist nicht jenes Ansehen [des Körpers] selbst, durch das [das Bild] gesehen wird. Die dritte Art aber [wollen wir] nach dem Intellekt ‚intellektual‘ [nennen], weil es aufgrund der Neuheit allzu unverständlich wäre, nach der mens selbst ‚mental‘ zu sagen.“) – Die erste Art ordnet sich demnach der Sinneswahrnehmung zu, die zweite hat es – trotz der zunächst irritierenden Bezeichnung ‚spiritual‘ bzw. ‚geistig‘, die Augustinus ausdrücklich nur im Sinn von ‚nicht unmittelbar körperlich‘ verstanden wissen will – mit den imagines, den Vorstellungsbildern zu tun, die die Seele zur Verfügung hat, die dritte kommt in der mens und durch sie zustande, also im höchsten menschlichen Seelenvermögen des Menschen, dem nach den Confessiones, nach De trinitate und anderen Werken Selbstbewusstsein und Selbstliebe, also (trinitarische) Gottesähnlichkeit und apriorisches Gotteswissen zukommen. 17 Vgl. Augustinus: De Genesi (Anm. 9), XII / 14, S. 398: [I]ntellectualis autem uisio non fallitur („Eine Vision des Verstandes unterliegt keiner Täuschung“); vgl. dazu auch, ausführlicher, cap. 25. Das aber meint nichts anderes, als dass der intellektuale Erkenntnisakt nicht auf etwas gerichtet ist, das als Zeichen für etwas anderes steht, sondern auf die Sache selbst. 18 Augustinus: Confessiones (Anm. 11), X / 6(10), S. 500 / 501. (Übers. St. S. in Anlehnung an die Übertragung von JOSEPH BERNHART); vgl. Augustinus: De Genesi (Anm. 9), XII / 11, S. 393:

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mag – im Fall von visiones spiritales – das Vorstellungsbild auch unter Umgehung der Sinneswahrnehmung hervorgerufen werden. Auch die Prophetie, die, gleichgültig, ob sie sich auf Traumbilder stützt oder auf Visionen, die im Wachzustand erlebt werden, tatsächlich höhere Einsichten vermittelt, den Bildern also Bedeutung abgewinnt, ist deshalb recht eigentlich eine Leistung des verstehenden Intellekts, also der höheren, immer schon gottähnlichen Geistigkeit des Menschen,19 nicht aber des ‚Geistes‘ (d. h. hier: der Vorstellung) und keinesfalls der Sinnlichkeit selbst, die nicht ohne die Mitwirkung der Vorstellungskraft auskommt; rein sinnliche Visionen kann es deshalb ohnehin nicht geben.20 Allenfalls fungieren visiones corporales und spiritales als An[C]orporalis sane uisio nullum horum generi praesidet, sed quod per eam sentitur, illi spiritali tamquam praesidenti nuntiatur. […] si […] anima rationalis est, etiam intellectui nuntiatur, qui et spiritui [sc. der Seele, insofern sie die Körperlichkeit übersteigt] praesidet, ut, si illud, quod hauserunt oculi atque id spiritui, ut eius illic imago fieret, nuntiauerunt, alicuius rei signum est, aut intellegatur continuo, quid significet, aut quaeratur, quoniam nec intellegi nec requiri nisi officio mentis potest. („Die körperliche Schau hat allerdings keinerlei Vorrang vor den anderen, vielmehr wird das durch sie Wahrgenommene der geistigen Schau als der ranghöheren überliefert. […] Ist die Seele […] vernünftig, dann geht die Meldung weiter bis zum Verstand, der auch dem Geist vorsteht, damit, wenn das, was die Augen geschöpft haben und dem Geist gemeldet haben, damit dort sein Abbild hergestellt wird, Zeichen für irgendeine Sache ist, entweder unmittelbar verstanden oder aber erforscht wird, was es bedeutet; denn ausschließlich durch die Pflichterfüllung des Geistes kann [etwas] verstanden oder erforscht werden.“). 19 Ohne die Verständnisleistung des intellectus, allein durch körperlich-sinnliche Wahrnehmung und die Bilder des spiritus, hat noch keine Prophetie stattgefunden; vgl. Augustinus: De Genesi (Anm. 9), XII / 9, S. 391 [N]isi accesserat mentis officium, ut etiam [signa] intellegerentur, nondum erat prophetia […]. („Wenn nicht der Dienst des Geistes hinzugekommen war, damit die Zeichen auch verstanden würden, gab es noch keine Prophetie […].“) Die Konsequenz ist dann aber eben, dass nicht der ‚Seher‘ oder der Empfänger bedeutsamer Träume der eigentliche Prophet ist, sondern derjenige, der die Gesichte auszulegen vermag, wie Augustinus mit Rekurs auf die alttestamentliche Josefsgeschichte hervorhebt (vgl. Gen 41,1–32): [I]taque magis Ioseph propheta, qui intellexit, quid significarent septenae spicae et septenae boues, quam Pharao, qui eas uidit in somnis; illius enim spiritus informatus est, ut uideret, huius mens inluminata, ut intellegeret. („Daher war Josef, der eingesehen hat, was die sieben Ähren und die sieben Kühe bedeuten, in höherem Maße Prophet als Pharao, der sie im Traum gesehen hat. Denn des Pharao Geist ist [nur] befähigt worden, um zu sehen, Josefs Verstand aber ward erleuchtet, um zu erkennen.“). 20 Zur Hierarchie der Visionsarten und ihrer Interaktion vgl. dann noch einmal, zusammenfassend, cap. 24, S. 416: [Visiones] habent […] ordinem suum et est aliud alio praecellentius. praestantior est enim uisio spiritalis quam corporalis et rursus praestantior intellectualis quam spiritalis. corporalis sine spiritali esse non potest, quandoquidem momento eodem, quo corpus sensu corporis tangitur, fit etiam in animo tale aliquid, non quod hoc sit, sed quod simile sit: quod si non fieret, nec sensus ille esset, quo ea, quae extrinsecus adiacent, sentiuntur. neque enim corpus sentit, sed anima per corpus, quo uelut nuntio utitur ad formandum in se ipsa, quod extrinsecus nuntiatur. non potest itaque fieri uisio corporalis, nisi etiam spiritalis simul fiat […]. at uero spiritalis uisio etiam sine corporali fieri potest, cum absentium corporum similitudines in spiritu adparent et fin-

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regungen und stellen das Material bereit, auf das sich dann die intellektuale Deutung bezieht. Das Traumbild ist also, analog zum (äußeren) Wort als einem sprachlichen Zeichen, ein (äußeres) Zeichen für die bezeichnete Sache, auf die allein der Intellekt ausgreift, das oberste Erkenntnisvermögen des Menschen, kraft dessen der Mensch immer schon über die Erkenntnis der dinglichen Wirklichkeit hinausreicht und an die göttliche Erkenntnisweise rührt. Allein auf dieser Ebene können Träume überhaupt etwas bedeuten; es sind also nicht die Traumbilder, die dem Menschen ein ihm verborgenes Wissen übermitteln, zu dem er anders keinen Zugang hätte; wenn sie überhaupt einen Sinn haben, dann bezeichnen sie nur deshalb etwas, weil ihre Bedeutung intellektuell erfasst wird. Das Signifikat der im Traum erscheinenden Zeichen muss der Intellekt nämlich bereits kennen, um den Traum zunächst als bedeutungstragend identifizieren und dann die Bedeutung interpretierend freilegen zu können. Der Intellekt aber ist ein einfaches Erkenntnisvermögen, das das zeitliche Nacheinander und den Kausalzusammenhang der Dinge und Phänomene transzendiert, und in diesem Sinn erkennt die mens stets in einer ‚übernatürlichen‘ Weise, nämlich unabhängig von der Außenwelt und ihrer sinnlichen Erfassung. Allerdings weist diese Erkenntnis aufgrund der menschlichen Natur und hinzutretender Hindernisse21 zunächst noch keine differenzierte Inhaltlichkeit auf. Entsprechend handelt es sich bei der visio intel-

guntur multae pro arbitrio uel praeter arbitrium demonstrantur. item spiritalis uisio indiget intellectuali, ut diiudicetur, intellectualis autem ista spiritali inferiore non indiget. („Die Visionen haben ihre Ordnung, und das eine ist hervorragender als das andere. Die geistige Vision ist nämlich vornehmer als die körperliche, und die intellektuale wiederum vornehmer als die geistige. Eine körperliche Vision kann es [deshalb] nicht ohne eine geistige geben, da nun einmal im selben Augenblick, in dem ein Körper durch einen Sinn des Körpers berührt wird, in der Seele etwas von dieser Art entsteht, – nicht, was der Körper ist, sondern, was ihm ähnlich ist. Wenn dies nicht entstünde, wäre der Sinn nicht das, wodurch das, was außerhalb vorliegt, wahrgenommen wird; denn nicht der Körper nimmt wahr, sondern die Seele durch den Körper, dessen sie sich wie eines Boten bedient, um innerhalb ihrer selbst das zu bilden, was von außen gemeldet wird. Es kann deshalb keine körperliche Vision stattfinden, wenn sich nicht gleichzeitig eine geistige ereignet […]. Die geistige Vision aber kann sich ohne eine körperliche ereignen, wenn Ähnlichkeitsbilder abwesender Dinge im Geist erscheinen und zahlreiche [Ähnlichkeitsbilder] nach Gutdünken erdacht werden oder sich unwillkürlich zeigen. Ebenso bedarf die geistige Vision der intellektualen, um sich beurteilen zu lassen; die intellektuale Vision aber bedarf dieser geistigen als der niederen nicht.“) – Für den hier insbesondere interessierenden Fall von Wahrträumen spielen visiones corporales selbstverständlich ohnehin keine Rolle, da im Schlaf die Sinnestätigkeit eben suspendiert ist. 21 Namentlich ist dies die ignorantia als Sündenfolge und -strafe, die wiederum neue Verfehlungen nach sich zieht; vgl. hierzu prominent Aurelius Augustinus: De libero arbitrio – Der freie Wille. Zweisprachige Ausgabe eingeleitet, übersetzt und hrsg. von JOHANNES BRACHTENDORF, Paderborn u. a. 2006 (Opera 9), z. B. III / 52 (178).

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lectualis dessen, der Träume zu deuten vermag, auch eher um die illuminatio mentis22 als um die übernatürliche Mitteilung von besonderen, ausgegliederten Wissensinhalten. Die Vorhersage künftiger Ereignisse im dinglich-bildlichen Zeichen wird man, so gesehen, mit Augustinus als Produkt der Deutung etwa eines Traumes im Licht der intellektualen Einsicht oder – umgekehrt – als Rückübersetzung des intuitiv Eingesehenen in eine äußere Ereignisfolge verstehen müssen. Die eigentliche Erkenntnisleistung aber verbleibt in jedem Fall beim (erleuchteten) Intellekt. Damit ist zugleich sehr klar gesagt, welche Vorstellung im augustinischen Kontext keinen Platz findet: Der Mensch, der in seinen höchsten Möglichkeiten die Naturalität, ihre Zwänge und gesetzmäßigen Notwendigkeiten transzendiert, unterliegt nicht zeitlich-kausalen Ereignisfolgen, die sich ihm im Traumbild erschlössen, etwa insofern dieses selbst eine Wirkung höherer Ursachen wäre, die auch das zukünftige Geschehen kausal bedingten. Kraft der similitudo Dei seines trinitarischen Geistes hat der Mensch Zugang zu einem apriorischen Wissen von Gott; er weiß deshalb in gewissem Sinn immer schon mehr, als er von außen je erfahren könnte. Alle Versuche, aus kreatürlichen Zeichen die Zukunft vorherzusagen, weist Augustinus deshalb andernorts kategorisch als „Hurerei der Seele“23 zurück: Der Mensch lässt sich mit Dingen ein, die in der Ordnung der Wirklichkeit unter ihm stehen; er macht sich von diesen Dingen und den vermeintlichen Zwängen der Natur abhängig, obgleich er ihnen seiner geistigen Natur nach nicht unterliegt.24 Die a- oder antinaturalistische Spitze von Augustins Menschenbild impliziert zugleich, dass Träume dem Menschen kein wirklich wichtiges Wissen mitteilen können – es sei denn, sein Intellekt tritt urteilend und interpretierend an die Traumbilder heran. Dann aber sind diese wiederum nicht die eigentliche Quelle des Wissens. 22 Vgl. Augustinus: De Genesi (Anm. 9), XII / 9, S. 391, Z. 15 (mens inluminata). 23 Augustinus: De doctrina Christiana. Hrsg. von WILLIAM M. GREEN, Wien 1963 (CSEL 80: Sancti Aureli Augustini opera, sect. VI, pars VI), II / 23 (35 / 88), S. 59: Hoc genus fornicationis animae; Übersetzung: Aurelius Augustinus: Die christliche Bildung (De doctrina christiana). Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von KARLA POLLMANN, Stuttgart 2002, S. 77. 24 Vgl. Augustinus: De doctrina Christiana (Anm. 23), II / 23 (36 / 91f.), S. 60: Sicut autem de stellis, quas condidit et ordinavit deus, humanae et deceptoriae coniecturae ab hominibus institutae sunt, sic etiam de quibusque nascentibus vel quoquo modo divinae providentiae administratione exsistentibus rebus multi multa humanis suspicionibus quasi regulariter coniectata litteris mandaverunt […]. […] Non enim quia valebant animadversa sunt, sed animadvertendo atque signando factum est ut valerent („Wie aber über die Sterne, die Gott geschaffen und angeordnet hat, von den Menschen trügerische Vermutungen aufgestellt worden sind, so haben auch viele Leute über jegliche Dinge, die entstehen oder auf irgendeine Weise durch die Lenkung der göttlichen Vorsehung existieren, vieles, was aufgrund menschlicher Mutmaßung angenommen wird, gleichsam als regelhaft schriftlich niedergelegt […]. [Diese Dinge] wurden ja nicht bemerkt, weil sie irgendeine objektive Macht haben, sondern umgekehrt aufgrund ihrer Wahrnehmung und Bezeichnung ist bewirkt worden, dass sie Macht besitzen“ [Augustinus: Die christliche Bildung (Anm. 23), S. 78]).

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2.2

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Johannes von Salisbury: Policraticus

Eine gewisse Naturalisierung des Menschen und seiner Erkenntnis, auch und gerade insofern sie sich im Traum vollzieht, wird nach der Vorbereitung im 12. Jahrhundert wohl erst aufgrund der Rezeption der Aristotelischen Naturphilosophie im Hochmittelalter vorgenommen, dann aber auch sofort zu einem erheblichen Problem. Die im 13. Jahrhundert auftretenden Spannungen sollen im Weiteren vor der Folie der Augustinischen Überzeugungen untersucht werden. Für die Rekonstruktion der dorthin führenden Entwicklungen ist jedoch der vorbereitende Blick auf Johannes von Salisbury (1115/20–1180) hilfreich. Dieser Autor, der unmittelbar vor Einsetzen der Neurezeption des Aristotelischen Gesamtwerks die zeitgenössische wissenschaftsgeschichtliche Situation kritisch reflektierend begleitet, widmet das ganze zweite Buch seines politisch-theoretischen Hauptwerks, des Policraticus, der Darstellung und Kritik divinatorischer Praktiken, darunter eben auch der Traumdeutung.25 Den theoretischen Rahmen seiner Überlegungen bildet die kategorische Zurückweisung der ‚naturalistischen‘ Lehren eines ‚neuen Stoikers‘.26 Nun weiß Johannes über die originäre stoische Philosophie nahezu nichts; er kritisiert unter dieser Chiffre vielmehr Auffassungen, die die Natur als einen geschlossenen, gesetzlich regulierten Kausalzusammenhang begreifen, in den sie auch und gerade den Menschen einstellen. Die ‚Stoiker‘ – manchmal spricht Johannes in diesem Kontext auch von ‚spekulativer‘ Mathematik – meinen also einerseits, der Mensch unterliege zwingenden naturalen Notwendigkeiten (die allein 25 Zum größeren Zusammenhang vgl. STEFAN SEIT: Die Kunst, die Wahrheit in den Sternen zu lesen. Astrologie, Divination und die ars coniectoris bei Johannes von Salisbury. In: Ars und Scientia im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Ergebnisse interdisziplinärer Forschung. Georg Wieland zum 65. Geburtstag. Hrsg. von CORA DIETL / DÖRTE HELSCHINGER, Tübingen, Basel 2002, S. 77–96; zum Traum bei Johannes: WITTMER-BUTSCH (Anm. 15), S. 134–138, allerdings ohne Einbettung in den Kontext von Johannes’ ‚christlicher Skepsis‘. 26 Vgl. Johannes von Salisbury: Policraticus I – IV. Hrsg. von KATHERINE STEPHANIE BENEDICTA KEATS-ROHAN, Turnhout 1993 (CCCM 118), lib. II, cap. 23, S. 137. – Im Folgenden – vgl. cap. 24, S. 137–139 – macht Johannes deutlich, dass er bei seiner primär praktisch motivierten Kritik den fehlgeleiteten Versuch ‚spekulativer‘ mathematici im Auge hat, unter Voraussetzung einer notwendigen Naturordnung notwendige Aussagen über die Zukunft zu treffen: Die natura, der seine Gegner auf die Spur kommen wollen, besteht entweder „in den Dingen“ oder „im göttlichen Willen“ (in rebus oder in diuina uoluntate; S. 138); die umfassende sapientia et scientia Dei („Weisheit und Wissen Gottes“) aber ist der menschlichen Erkenntnis verschlossen, sie einholen zu wollen geradezu frevelhaft. Si de ea natura niteris, quae in rebus, id est frequenti rerum cursu, uersatur, frustra tibi de siderum familiaritate blandiris, cum a solito rerum cursu multa diuertant […]. („Wenn du auf die Natur aus bist, die auf den Dingen, d. h. auf dem wiederholten Ablauf der Dinge beruht, gefällst du dir vergeblich in deiner Vertrautheit mit den Sternen, weil vieles vom gewöhnlichen Lauf der Dinge abweicht […].“) Die menschliche Erkenntnis dringt also allenfalls bis zur dinglichen Natur vor, muss sich dann aber damit begnügen, die üblichen Naturprozesse zu rekonstruieren, die zwar wahrscheinliche Vorhersagen über die Zukunft erlauben, aber doch jederzeit durchbrochen werden können.

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die zuverlässige Vorhersage künftiger Ereignisse ermöglichten), suchen diese aber doch andererseits zu erkennen, um dann aus ihnen herauszutreten, nämlich im Wissen um die (vermeintlich) notwendig eintretende zukünftigen Geschehnisse eben diese Zukunft zu manipulieren. Für Johannes bedeutet dieses Unterfangen einfach einen Selbstwiderspruch,27 dem gegenüber er schon aus logischen, noch mehr aber aus praktischen Erwägungen darauf besteht, die Ordnung der Natur werde erst in der (Re-) Konstruktion durch die menschliche Erkenntnis gestiftet, könne deshalb aber niemals im strengen Sinn notwendig sein. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Johannes, der im Kern die Augustinische Denktradition gegen die Neuerer seiner Zeit verteidigen will, auch mit dem Traum. Was nun seine Typologie der (vermeintlich) bedeutungstragenden Träume angeht, verdienen – auch für ihn selbst – unter den skizzierten ‚skeptischen‘ Prämissen nur zwei näheres Interesse: das somnium im engeren Sinn, in dem Dinge gesehen werden, die anscheinend zeichenhaft auf etwas anderes verweisen,28 und das oraculum. Für beide Typen arbeitet er die grundsätzlichen Probleme einer ‚kunstfertigen‘ Traumdeutung scharf heraus; er relativiert damit die Aussagekraft von Träumen überhaupt: Beim Traumorakel handelt es sich um Wahrträume von der Art der Träume, die Josef im Matthäus-Evangelium zuteil werden, und Johannes rekurriert auch ausdrücklich auf dieses biblische Beispiel: Im Traum treten menschliche oder menschenähnliche Personen, etwa Engel, auf, denen eine ausgezeichnete Autorität zukommt und die den Träumenden Auskünfte oder Weisungen erteilen.29 Ob diese verbalen Mitteilungen ernst zu nehmen sind, hängt demnach eben von der Autorität der erscheinenden Person ab, diese Autorität aber ihrerseits von den Verständnisvoraussetzungen des Träumenden.30 27 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 24, S. 138: [S]i futurorum potest ordo mutari, temerarium est rem sui natura incertam certo diffinire iudicio. Sin autem mutari non potest, quid prodest tanta curiositate scrutari quod nulla potest diligentia declinari? („Wenn die Ordnung des Zukünftigen sich ändern kann, ist es leichtfertig, eine ihrer selbst von Natur aus nicht gewisse Sache durch ein sicheres Urteil einzugrenzen. Wenn sie aber nicht abgeändert werden kann, was nützt es dann, mit so großer Neugierde zu erforschen, was sich doch durch keine Mühe abwenden lässt?“) Der Versuch, die Zukunft mit notwendiger Wahrheit vorherzusagen, gerade um dann aufgrund dieses Wissens in die doch notwendigerweise notwendige Ereignisfolge – andernfalls gäbe es auch kein notwendig wahres Wissen – abändernd einzugreifen, ist folglich selbstwidersprüchlich. 28 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 15, S. 94 f.: Somnium […] per quaedam inuolucra rerum gerit imagines in quibus coniectorum praecipue disciplina uersatur […]. („Der Traum [im engeren Sinn] führt mittels Verhüllungen der Dinge Bilder bei sich, mit denen sich die Wissenschaft von den Mutmaßungen vorzüglich befasst […].“). 29 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 15, S. 97–99. 30 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 15, S. 97: Ex quo apparet, etsi non simpliciter, tamen secundum quid, personas arte coniectoria non modo honestas sed et detestabiles uenerabilium nomine claudi. („Aufgrund dessen leuchtet ein, dass – wenn schon nicht schlechthin, so doch in einer [gewissen] Hinsicht – von der Auslegungskunst nicht nur ehrenwerte, sondern auch

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Um das aufgefundene Wahrheits- und Geltungskriterium steht es also nicht so gut, wie es zunächst scheint, wenn man nur an alttestamentliche Beispiele oder an Christen denkt, denen Gott, Engel, Heilige, geweihte Personen usw. im Traum erscheinen. Auch Heiden träumen, und diesen erscheinen dann ihre Götter und Respektspersonen, denen natürlich keinerlei objektive Autorität zukommt, was an der subjektiven Geltung, die ihre Worte beanspruchen, freilich nichts ändert. So erschien – nach Vergil – Jupiter Aeneas im Traum und befahl ihm, aus Karthago aufzubrechen und die Gründung Roms vorzubereiten, was Aeneas auch tat. Dass Jupiter und damit dem Traumorakel nur eine Scheinautorität zukommt, zeigt sich für Johannes erst im Rückblick, nämlich an der künftigen Gewaltgeschichte Roms,31 und diese durchaus ironische Wendung untergräbt die immanente Kriteriologie der Traumdeutung, die Johannes zunächst gefunden zu haben vorgibt. Wie steht es aber um die Möglichkeit, dingliche Traumbilder, somnia im engeren Sinn, verlässlich auszulegen? Johannes greift in diesem Zusammenhang auf die auf Augustinus zurückgehende und insbesondere durch Hugo von St. Viktor entfaltete Methodologie einer biblischen Hermeneutik zurück, und zwar namentlich auf die Warnung des Letzteren, Dinge seien nur im Schriftzusammenhang als Zeichen auszulegen,32 und – nach Augustinus – auch hier nur, wenn alle anderen Verständnisweisen bereits versagt haben. Entsprechend arbeitet Johannes die geradezu unübersehbare Vieldeutigkeit dinglicher Traumbilder scharf heraus, die sich somit jeder begründeten und nachvollziehbar regulierten, also ‚artifiziellen‘ Auslegung entziehen: Zwar verweist immerhin in der Regel Ähnliches auf Ähnliches; wenn aber auch die Interpretation e contrario bzw. per antithesim möglich ist33 – etwas verweist zeichenhaft auf sein Gegenteil – kann am Ende alles alles bedeuten. So ist es nur konsequent, wenn Johannes schließlich nachdrücklich von jeder elaborierten, lehr- und lernbaren Kunst der Traumdeutung Abstand nimmt: „Wer seine Leichtgläubigkeit an die Bedeutungen der Träume hängt, von dem ist offenkundig, verabscheuenswerte Personen in die Bezeichnung ‚verehrungswürdige Personen‘ eingeschlossen werden.“) Im Anschluss folgen Beispiele, die die historische und kulturelle Kontingenz und Voraussetzungsabhängigkeit deutlich machen. 31 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 15, S. 98: Sed si quis ab initio urbis conditae totam reuoluat historiam, eos [Romanos] ambitione et auaritia prae ceteris gentibus inueniet laborasse, et uariis seditionibus et plagis totum concussisse orbem. („Wenn aber jemand vom Anfang der Stadtgründung an die ganze Geschichte [Roms] überdenkt, wird er finden, dass die Römer vor allen anderen Völkern unter Ehrgeiz und Habsucht gelitten und durch verschiedene Zwistigkeiten und Verheerungen die ganze Welt in Angst versetzt haben.“) 32 Vgl. Hugo von Sankt Viktor: Didascalicon de studio legendi. Studienbuch. Hrsg., übersetzt und eingeleitet von THILO OFFERGELD, Freiburg u. a. 1997 (FC 27), V / 3, S. 322 / 323. 33 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 16, S. 100: Interdum tamen et per antithesim rerum sequenda sunt ueritatis uestigia. („Bisweilen jedoch müssen die Spuren der Wahrheit auch nach dem Prinzip des Gegensatzes verfolgt werden.“) Beispiele sind etwa: ruina – laetitia, res turpis et obscena – honestissimae veritatis substantia.

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dass er sowohl von der Reinheit des Glaubens als auch vom Pfad der Vernunft abirrt.“34 Zwar bestreitet auch Johannes nicht, dass Träume bedeutsam und sinnvoll sein können; diese Bedeutungen aber – wie Daniel oder (der alttestamentliche) Josef – auffinden zu können, verdankt sich einem besonderen, durch göttliche Gnade gewährten privilegium.35 Folgerichtig entziehen sich die (vermeintlichen) Bedeutungen der Traumgesichte der kunstfertigen Erschließung; wenn sie eingesehen werden, dann sind es wiederum nicht die Träume, die wahres Wissen vermitteln, sondern dieses verdankt sich einer unmittelbaren Erleuchtung und wird dann allenfalls mit Blick auf die Traumbilder expliziert. Fasst man die – hier freilich nur exemplarisch erarbeiteten – Ergebnisse zusammen, ist die klar traumkritische Tendenz des abendländischen Denkens mindestens der bis ins 12. Jahrhundert hinein bestimmenden Denktradition festzuhalten. In letzter Konsequenz geht diese Haltung auf ein Bild vom Menschen (und seiner Erkenntnismöglichkeiten) zurück, dass diesen aus dem Zusammenhang der natürlichen Wirklichkeit herausragen lässt: auch gnoseologisch entscheidend ist die fundamentale Beziehung des Menschen zu Gott, nicht seine Stellung im Kontext der Natur und ihrer gesetzmäßigen Ordnung.

2.3

Der ‚radikale Aristotelismus‘ an der Pariser Artistenfakultät im 13. Jahrhundert

2.3.1 Traum und Traumdeutung in den 1277 verurteilten Thesen Ein echter Paradigmenwechsel scheint sich in dieser Hinsicht mit der Rezeption der naturphilosophischen Perspektive des Aristoteles auf den Traum anzubahnen, wobei freilich die von Johannes kritisierten Naturalismen die intellektuellen Bedürfnisse ge34 Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 17, S. 102: Verum quisquis credulitatem suam significationibus alligat somniorum, planum est quia tam a sinceritate fidei quam a tramite rationis exorbitat. 35 Vgl. Johannes von Salisbury (Anm. 26), lib. II, cap. 17, S. 104. Daraus folgt: Quem uero ueritatis spiritus non illustrat, de arte somnolenta frustra confidit, cum ars omnis habet a natura originem, ab usu et rationem processum. Ratio uero in his tantum defectum patitur ut quo se uertat, quid iudicet, plerumque omnino non habeat. („Wen aber der Geist der Wahrheit nicht erleuchtet, der vertraut umsonst auf die ‚Kunst der Traumdeutung‘; jede Kunst hat ihren Ursprung nämlich von der Natur und schreitet fort aufgrund der Anwendung und der Vernunft. Die Vernunft aber leidet in diesen Angelegenheiten einen so großen Schaden, dass, wohin sie sich [immer] wendet, was [immer] sie beurteilt, sie gewöhnlich überhaupt nichts vermag.“) Es mag also durchaus sein, dass die ‚naturale‘ Grundlage für Wahrträume vorhanden ist; wie überall macht das aber noch keine Kunstfertigkeit, also eine elaborierte Auslegungskompetenz. Diese muss vielmehr in der Anwendung und unter Anleitung der Vernunft etabliert und immer weiter ausgebildet werden, wozu es wiederum Voraussetzungen anderer Provenienz bedarf: der ratio eben bzw. einer illuminatio, die nicht bereits mit der natura gegeben sind.

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weckt haben könnten, die die Aristotelischen Texte dann befriedigten. Von Johannes’ Policraticus aus gesehen, soll zunächst ein zeitlicher Schritt von etwa 100 Jahren nach vorne unternommen werden, um dann anhand zweier prominenter Beispiele die inzwischen eingetretene Veränderung der Erkenntnisperspektive mindestens ansatzweise aufzuklären. Den Ausgangspunkt bildet näherhin die Kritik, die der Bischof von Paris, Etienne Tempier, in der Lehrverurteilung von 1277 am ‚Naturalismus‘ der Aristotelischen Philosophie übt, wie sie an der Artistenfakultät der Universität Paris gelehrt wird.36 Zwar betreffen lediglich zwei der verurteilten 219 Thesen unmittelbar die hier interessierende Thematik; diese zwei Lehrsätze ordnen sich aber so in einen Zusammenhang ein, dass eine sachliche Tendenz rekonstruiert werden kann. (Dabei spielt zunächst keine Rolle, ob der Bischof von Paris und seine Helfer die Aristoteliker richtig verstanden haben oder auch nur verstehen wollten.) Die 33. These lautet, „dass Ekstasen und Visionen sich ausschließlich als Naturvorgänge ereignen“,37 und diese Behauptung wird durch den Bischof ausdrücklich als nicht rechtgläubig abgewiesen. Dasselbe gilt für die 65. These, dass „Gott oder ein reines Geistwesen sein Wissen der Menschenseele im Traum nur vermittels eines Himmelskörpers eingießt“.38 Im Hintergrund steht die den Aristotelikern zugeschriebene Vorstellung, das Weltgeschehen sei als in sich geschlossener, notwendiger Kausalzusammenhang zu verstehen, der angetrieben und determiniert wird, indem die Himmelsschalen, auf denen sich die Himmelskörper bewegen, den von Gott ausgehenden Bewegungsimpuls schrittweise nach unten weitergeben. Träfe dies zu, wäre die Konsequenz eine mehrfache: Als innerweltliches Wesen wäre der Mensch zugleich ein (ausschließlich) innernatürliches Wesen, das in seinem Denken und Handeln ganz der naturalen Notwendigkeit der von den Gestirnen ausgehenden Bewegung unterläge. Entsprechend lautet etwa die 162. These, dass „unser Wille der Macht der Himmelskörper unterliegt“.39 Diese vermitteln dann in ihrer geregelten Bewegung die göttliche 36 Zur Lehrverurteilung von 1277 vgl.: Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris übersetzt und erklärt von KURT FLASCH, Mainz 1989 (excerpta classica 6). Neben einer ausführlichen Einleitung bietet FLASCH den Text der 219 Thesen, die Bischof Etienne Tempier von Paris im Jahr 1277 verurteilte, mit einer deutschen Übersetzung und teilweise umfangreichen Erläuterungen. – Zur originär Aristotelischen Lehre vom Traum vgl. z. B. BERND MANUWALD: Traum und Traumdeutung in der griechischen Antike. In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung, Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von RUDOLF HIESTAND, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 24), S. 15–42, hier S. 36–38. Die im vorliegenden Aufsatz diskutierten Autoren kommen in diesem Sammelband nicht vor. 37 Zit. n. FLASCH (Anm. 36), S. 130 (Übers. St. S. in Anlehnung an KURT FLASCH): Quod raptus et visiones non fiunt, nisi per naturam. 38 Zit. n. FLASCH (Anm. 36), S. 158 (Übers. KURT FLASCH, geringfügig modifiziert): Quod Deus vel intelligentia non infundit scientiam anim[a]e human[a]e in sompno, nisi mediante corpore celesti. 39 Zit. n. FLASCH (Anm. 36), S. 223 (Übers. KURT FLASCH, geringfügig modifiziert): Quod voluntas nostra subjacet potestati corporum celestium.

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Vorsehung in das Naturgeschehen hinein; eine direkte Interaktion zwischen Gott und Mensch, die den Naturzusammenhang gleichsam überspränge, fände demgegenüber nicht statt, auch und gerade nicht in Gestalt einer übernatürlichen Mitteilung oder Weisung, die dem Menschen im Traum (oder als Vision) zuteil würde. Eine solche Erschließung besonderen Wissens könnte zwar stattfinden, aber eben nur, weil und insofern sie im notwendigen Naturgeschehen (immer schon) vorgesehen ist. Damit handelte es sich aber eben nicht um ein übernatürlich-spontanes, sondern um ein natural-notwendiges Geschehen. Viel interessanter als die Frage, ob der Bischof von Paris seinen Gegnern gerecht wird, ist der Befund, dass er, indem er sie kritisiert, implizit die kritisierte Grundposition übernimmt, nämlich die behauptete Naturalität des Menschen, genauer die Kappung seiner gottähnlichen und -abbildlichen Erkenntnistätigkeit im Sinn der augustinischen Tradition: Verteidigt werden deshalb – gleichsam in reduzierter Gestalt – nur Wahrträume und andere Visionen als Wunder: Gottes Möglichkeit also, das Naturgeschehen in der direkten Kontaktaufnahme mit dem ihm grundsätzlich eingeordneten Menschen zu durchbrechen, nicht aber mehr Augustins anthropologische Grundüberzeugung, dass der Mensch kraft seiner similitudo Dei immer schon die Natur transzendiert, so dass es eben überhaupt keines Eingriffes in die Natur und ihre Ordnung bedarf.

2.3.2 Boëthius von Dacien: De somniis Gerade auch aufgrund pauschalisierender Gegenreaktionen wie der von 1277 ist es ein philosophiehistorischer Gemeinplatz geworden, von der Existenz eines Kreises ‚radikaler Aristoteliker‘ oder ‚Averroisten‘ an der Pariser Artistenfakultät um die Mitte des 13. Jahrhunderts auszugehen, die aus dem ‚neuen‘, in der Amalgamierung mit arabischen Auslegungen rezipierten Aristoteles ihre Konsequenzen besonders unbekümmert um die theologisch-philosophische Tradition gezogen zu haben scheinen. Diese ‚Artisten‘ wären dann im Besonderen die Adressaten der Lehrverurteilungen jener Jahre, die freilich auch (einzelne) Lehren etwa des Thomas von Aquin treffen, der sich andererseits selbst kritisch mit einer extremen Auslegung der Aristotelischen Philosophie auseinandergesetzt hat. Einer der bereits von Thomas so genannten ‚Averroisten‘ ist Boëthius von Dacien (d. h. aus Dänemark; gest. vor 1284), und seine Schrift über den Traum (die freilich fragmentarisch erscheint) ist erhalten. Boëthius stellt sich nicht mehr primär die Frage, wie unter Umgehung der Sinne sinnliche ‚Visionen‘ möglich sind, sondern überlegt nun, „wie dem Menschen durch den Traum ein Vorauswissen künftiger Ereignisse zuteil werden kann“.40 Zunächst unterscheidet er ganz grundsätz40 Boëthius von Dacien: De somniis. In: Boethii Daci Opera, Bd. II, Teil 1: Opuscula: De aeternitate mundi, De summo bono, De somniis. Hrsg. von NIELS JORGEN GREEN-PEDERSEN, Kopenhagen 1976 (Corpus philosophorum Danicorum medii aevi VI / 2), S. 379–391, hier S. 382: quomodo homini per somnium potest fieri praecognitio eventuum futurorum; Boëthius kündigt im Anschluss ein zweites Mal – und in etwas allgemeinerer und grundsätzlicherer Formulierung – an, er

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lich zwischen Träumen, die ein solches Wissen vermitteln, und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, weil der Trauminhalt auf erinnerten Vorstellungsbildern beruht, die mit dem künftigen Ereignis nur zufällig-akzidentell zusammentreffen, nicht aber in einem geordneten Sachzusammenhang stehen. Daran anschließend erörtert er näher, wie ein solcher ordo überhaupt beschaffen sein könnte: Ganz offenkundig besteht ein Zusammenhang bei „Träumen, die die Ursache zukünftiger Dinge sind“,41 nämlich der eigenen Handlungen, die sich in der Seele vorbereiten, was sich dann in den Träumen des künftig Handelnden manifestiert. Ein anderer Fall liegt vor, wenn der Körper im Schlaf äußeren Einflüssen, wie zum Beispiel großer Hitze, ausgesetzt ist, die sich dann in den Traumbildern gleichsam spiegeln. Der Schlafende träumt dann vielleicht von einem Feuer, und dieser Traum wiederum kann in der Tat auf die künftigen Wirkungen der zu Grunde liegenden Einflüsse zeichenhaft vorausverweisen, etwa auf eine bevorstehende Erkrankung, die durch die Hitze verursacht wird (oder deren Symptom die Hitze ist). Diese Zusammenhänge können folglich die Basis für die Traumdeutung im Kontext medizinischer Diagnostik abgeben.42 Zweifellos liegt bei Boëthius ein ‚naturalistisches‘ Verständnis divinatorischer Träume vor, jedoch ist, was er zur Thematik beiträgt, reichlich unspektakulär, weil der Fall gerade nicht vorkommt, den man eigentlich erwarten würde: dass nämlich der Traum durch dieselbe übergeordnete natürliche Ursache veranlasst wird, die – direkt oder indirekt – auch ein bestimmtes künftiges Ereignis bedingte, auf das, bei angemeswolle erkunden, quid per somnium sciri possit et quomodo („was man mittels eines Traums wissen könne, und wie“). Daran schließt sich eine Untersuchung an, die zunächst systematisch und in regelrechter Quästionenform vorgenommen wird; allerdings wird die strenge Form lediglich zu Beginn des ersten Artikels durchgehalten, der sich eben der bereits formulierten Frage nach der Möglichkeit widmet, die Zukunft im Traum vorherzusehen: [P]rimo quaero, utrum scientia somnialis sit possibilis, sive utrum homo per somnia sua possit habere cognitionem futurorum eventuum. („[Z]uerst frage ich, ob ein Wissen im Traum möglich ist oder ob der Mensch durch seine Träume Kenntnis von künftigen Ereignissen haben kann.“) Bereits das corpus articuli geht dann in eine Typologie des Traums über; weitere Teilfragen fehlen. – Vgl. zum Text auch Boëthius of Dacia: On the Supreme Good, On the Eternity of the World, On Dreams. Translation and Introduction by JOHN F. WIPPEL, Toronto 1987 (Mediaeval Sources in Translation 30), mit einer hilfreichen Einleitung. 41 Boëthius (Anm. 40), S. 385: Alia autem sunt somnia, quae sunt causa futurorum. 42 Vgl. Boëthius (Anm. 40), S. 386: Ex somniis alia sunt signa futurorum. („Andere von den Träumen sind Zeichen künftiger Dinge [oder Ereignisse].“) Für Boëthius beruhen die Bezeichnungsverhältnisse – anders als in der wirkungsgeschichtlich hochbedeutsamen Zeichentheorie Augustins, wie sie insbesondere in De doctrina Christiana dargestellt wird – mindestens im vorliegenden Zusammenhang auf indirekten naturalen Kausalzusammenhängen: Zwei Wirkungen einer Ursache verweisen, gleichsam auf dem Umweg über diese, zeichenhaft aufeinander, insofern jede Wirkung Zeichen ihrer Ursache ist, damit aber auch auf deren weitere Folgen hin interpretiert werden kann. Im Sinn Augustins handelt es sich also um signa naturalia; vgl. Augustinus: De doctrina Christiana (Anm. 23), II / 1 (2 / 2).

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sener Interpretation, der Traum also zeichenhaft voraus wiese. Freilich führt Boëthius auch allerhand ‚Täuschungen‘, die dem Träumenden zustoßen, Erscheinungen von Engeln und Teufeln, auf körperlich-natürliche Ursachen zurück, neutralisiert diese ‚aufklärerische‘ Idee aber sogleich, indem er beteuert, er wolle keinesfalls bestreiten, dass – im göttlichen Auftrag – ein Engel oder auch der Teufel dem Menschen im Traum erscheinen könne.43 Systematische Relevanz scheint er dieser Möglichkeit aber wiederum nicht zuzubilligen; eher handelt es sich um ein konventionelles Zugeständnis, das einem Wunderglauben wie dem des Etienne Tempier Rechnung tragen soll. Im Ergebnis belegt damit jedoch auch diese erstaunlich zurückhaltende Behandlung des Themas (1) ein Auseinandertreten übernatürlicher Erkenntnisformen, die zugestanden bleiben, über die sich im naturphilosophischen Kontext aber folglich nichts Sinnvolles sagen lässt, und der natürlichen, naturphilosophischen Erkenntnis. In jedem Fall gilt aber (2), dass „verstandesmäßige Erkenntnisse in uns ausschließlich durch unsere Vorstellungsinhalte zustande kommen“,44 und hierin liegt der eigentliche Unterschied zu den älteren Konzeptionen, die zuvor exemplarisch vorgestellt worden sind: Für Augustinus und seine Nachfolger gibt es ein Erkenntnisgeschehen, das von vorneherein auf der intellektualen Ebene und unabhängig von Sinnlichkeit und Vorstellung stattfindet; gegenüber dem direkt oder indirekt bei der Sinneswahrnehmung ansetzenden Erkennen hat es sogar Vorrang und Vorgang, – und genau hierin gründet die Skepsis gegenüber dem Traum als einer möglichen Quelle höheren, verborgenen Wissens, während bei Boëthius von Dacien der Traum in einer völlig naturalisierten Erkenntniskonzeption keinen rechten Platz mehr zu haben scheint.

2.4

Albertus Magnus: De somno et vigilia

In dieser Hinsicht zeigt sich nun aber Albertus Magnus (ca. 1200–1280) noch deutlich großzügiger, und damit stellt sich für ihn ein überaus bedeutsames Problem: das der menschlichen Freiheit angesichts eines umfassenden natural-natürlichen Kausalzusammenhanges, das exakt so auch in seinen Schriften zu Grundproblemen der Astro43 Vgl. Boëthius (Anm. 40), S. 385: Et quamvis tales deceptiones contingere possint per causas naturales, non tamen nego quin angelus vel diabolus possit dormienti vel infirmo secundum veritatem apparere divina voluntate. („Obgleich derartige Täuschungen [sc. die Erscheinung von Engeln oder Teufeln] aufgrund natürlicher Ursachen eintreten können, bestreite ich gleichwohl keineswegs, dass durch göttlichen Willensentscheid einem Schlafenden oder Kranken wahrhaftig ein Engel oder Teufel erscheinen kann.“) 44 Boëthius (Anm. 40), S. 390: [I]ntellecta in nobis non fiunt nisi ex imaginatis. Hiermit ist die Augustinische Grundüberzeugung zu vergleichen, die intellektuale Einsicht – und mit ihr auch die visiones intellectuales – sei nicht nur höherrangig als die Tätigkeit der Sinne und der Vorstellungskraft, sondern deshalb auch von den Leistungen dieser Seelenvermögen unabhängig und geradezu die Möglichkeitsbedingung dafür, dass aus imagines wirkliches Wissen gewonnen werden kann.

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logie aufscheint.45 Tatsächlich ist die Thematik dieselbe, denn auch Träume gehen demnach letztlich auf die Himmelsbewegung zurück, deren – immer vorhandene – Wirksamkeit in der Seele des Menschen gerade deshalb die Bewusstseinsschwelle erreicht, weil (und insofern) die Ablenkung durch die sehr viel präsentere und gleichsam aufdringlichere Sinneswahrnehmung im Schlaf unterbrochen ist. Unter einer im eigentlichen Sinn philosophischen Perspektive handelt es sich um Formprinzipien, die stufenweise auf die nach- und untergeordneten Formen und so letztlich bis in die Materie hinein wirken – und das Weltgeschehen beeinflussen.46 Die Berührungspunkte dieses Naturalismus mit den Überlegungen des Boëthius von Dacien, aber auch mit den 1277 verurteilten Thesen sind offensichtlich. Wenngleich er schließlich doch die letzte Konsequenz scheut (die er insbesondere Averroes zuschreibt), folgert Albert aus dieser Konzeption doch zunächst, dass und weshalb es individuelle Differenzen in der Häufigkeit und Klarheit sowie in der auf künftige Ereignisse bezogenen Aussagekraft der Träume geben kann: Ebenso wie einzelne Menschen etwa den Leidenschaften gegenüber mehr oder weniger empfänglich sein können, gilt das auch für die Einwirkung ‚himmlischer‘ Einflüsse im Traum.47 45 Vgl. z. B. Albertus Magnus: Super sententias, II, dist. 15, a. 5, zit. n. Albertus Magnus: Ausgewählte Texte. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übersetzt von ALBERT FRIES. Mit einer Kurzbiographie von WILLEHAD PAUL ECKERT, Darmstadt 42001, S. 104 / 105: Dicendum, quod (stellae) nullam habent causalitatem supra liberum arbitrium secundum dicta sanctorum, et etiam philosophi non dicunt, quod habeant causalitatem supra liberum arbitrium nisi sicut probatum est primo, scilicet per consequens, inquantum liberum arbitrium trahitur a complexione ad inclinationem quorundam actuum […]. („Festzuhalten ist, dass die Sterne nach dem Zeugnis der heiligen Lehrer keinen ursächlichen Einfluss auf den freien Willen haben, und auch die (Natur-) Philosophen schreiben ihnen eine solche Macht nicht zu, höchstens in dem früher dargelegten Sinn, d. h. als Folgewirkung, sofern das Willensvermögen auch von der organischen Befindlichkeit her eine Hinneigung zu bestimmten Handlungen erfährt […].“) 46 Die folgenden Ausführungen beruhen auf Alberts Kommentar zu Aristoteles’ De somno et vigilia: Albertus Magnus: De somno et vigilia. In: Ders.: Opera omnia. Hrsg. von AUGUSTE BORGNET, Bd. 9: Parvorum naturalium pars prima, Paris 1890, S. 121–207. – Zu Alberts Perspektive auf Traum und Traumdeutung vgl. WITTMER-BUTSCH (Anm. 15), S. 143–150. 47 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 5, S. 183b–184a, der im Zusammenhang einer Typologie der Begabung zu verschiedenen Erkenntnisweisen zunächst diejenigen Menschen nennt, „die einen Intellekt besitzen, der viel bewirkt und klar [ist]“ ([q]uibus […] est intellectus multum agens et clarus), und die deshalb besonders zur Verstandeseinsicht und also „gemäß ihrer Natur in hervorragender Weise zu den höchsten Wissenschaften begabt sind, die man ‚Weisheiten‘ nennt“ (ad altissimas scientias quae sapientiae vocantur, optime et secundum naturam dispositi); danach folgen die Menschen, die aufgrund ihrer besonders disponierten Vorstellungskraft (aliqui optimum habentes organum phantasiae et imaginationis) eine angeborene Befähigung zur Metaphysik besitzen. Abschließend kommt Albert endlich auf diejenigen Menschen zu sprechen, die beide Anlagen miteinander verbinden; sie sind es, die deshalb, nämlich weil sie nicht nur empfänglich für Vorstellungsbilder sind, sondern sie auch zu deuten vermögen, recht eigentlich die Fähigkeit zum Wahrtraum besitzen: Sunt autem tertii per optimam dispositionem habentes in

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Diese Parallele wird ihrerseits gerade durch die Konkurrenz bestätigt, die zwischen den sinnlich-körperlichen passiones und der Empfänglichkeit der Vorstellungskraft für (Traum-)Gesichte besteht, dadurch also, dass die Tätigkeit der Sinne und die imaginative Verarbeitung des Wahrnehmungsmaterials die Wirksamkeit der höheren Formen auf die menschliche Seele überlagern und stören können. Je stärker solche Ablenkungen zurückgedrängt werden, aufgrund einer habituellen Disposition, aber auch durch asketische Affektkontrolle, als desto häufiger, klarer und aussagekräftiger erweisen sich die Träume.48 Die Analogie zu den körperlich-sinnlichen Leidenschaften stellt für Albert jedoch zugleich die Lösung des Freiheitsproblems bereit: Er beharrt darauf, die himmlischen Formen beeinflussten zwar die menschlichen Seelen, determinierten sie und insbesondere ihre Willensentscheidungen jedoch gleichwohl nicht mit Notwendigkeit, so dass dem Menschen auch innerhalb des natürlichen Wirkzusammenhangs, der die Astrologie ebenso ermöglicht wie Wahrträume und ihre Deutung auf das künftige Geschehen hin, doch eine mindestens relative Wahl- und Entscheidungsfreiheit erhalten bleiben soll: Ebenso wie die Leidenschaften – mehr oder weniger stark – das menschliche utrisque, tam in intellectu videlicet, quam etiam in imaginatione et organo, et illi et bona et ordinata valde habent simulacra, et praeparantur semper ad veros et ceteros intellectus: et illi sunt de habilitate naturae et vere somniantes sunt, et vere prae aliis visiones habentes, et nonnumquam etiam clarissimas pronuntiantes prophetias. („Es gibt aber die dritten [sc. Menschen eines dritten Typs], die aufgrund ihrer sehr guten Anlage in beidem befähigt sind, nämlich sowohl im Intellekt als auch in der Vorstellungskraft; sie haben sowohl gute als auch sehr geordnete (Vorstellungs-) Bilder und rüsten sich stets für wahre und gewisse Verstandeseinsichten. Aufgrund der Ausstattung ihrer Natur haben sie Wahrträume und wirklich vor den anderen Visionen; bisweilen verkünden sie auch sehr deutliche Prophezeiungen.“) – Albert führt diese unterschiedlichen Fähigkeiten zwar auf natürliche Begabungen zurück, will diese aber – gegen die Intellekttheorie des Averroes – zugleich nicht als Folgen graduell verschiedener Belastungen des (einen) Intellekts durch die Materialität des Körpers verstanden wissen (vgl. cap. 6, S. 185a); vielmehr habe der Schöpfer der Seelen deren unterschiedliche Begabungen in ihnen angelegt; vgl. S. 186a: [R]elinquitur […] quod [haec differentia] causatur ab eo qui facit animas. – Vgl. WITTMERBUTSCH (Anm. 15), S. 145. 48 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 5, S. 184a: Si tamen ex hoc supponatur, quod aliis et praecipue exterioribus et corporalibus passionibus detineantur, et ideo timor et concupiscentia venereorum et sollicitudines et dissolutiones gaudiorum vanorum, et tristitiae, propterea quod animam detinent, ad se trahunt imaginationem, et turbant intellectum ne moveri possit ab influentia descendente vel alia causa movente. („Wenn man aufgrund dessen jedoch unterstellt, dass sie [sc. die zum Wahrtraum Begabten] von anderen und insbesondere von äußerlichen und körperlichen Leidenschaften mit Beschlag belegt werden, ziehen deshalb auch die Furcht, die Begierde nach Geschlechtlichem, Besorgnisse und die Schwächung durch leere Vergnügungen sowie die Trauer, weil sie die Seele mit Beschlag belegen, die Vorstellungskraft auf sich und verwirren den Intellekt, so dass er sich nicht durch einen von oben einströmenden Einfluss oder eine andere bewegende Ursache bewegen lässt.“) – Zum Aspekt der ‚asketischen‘ Affektkontrolle vgl. auch cap. 12, S. 195a.

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Denken und Handeln beeinflussen, indem sie der Seele eine gewisse Neigung nach der einen oder anderen Seite verleihen, die jedoch gleichwohl Entscheidungsspielräume offen lässt, gilt dies auch für die Wirkung der Sterne.49 Sogar Dinge und Geschehnisse, die nicht ‚frei‘ sind, in dem Sinn, dass sie sich entscheiden könnten, bleiben insofern kontingent, als die himmlischen Formen nur sehr indirekt und vermittelt auf die konkreten Dinge wirken und ihnen ihren Bewegungsimpuls mitteilen. Im Verhältnis zu den Einzeldingen sind diese Formen also nur recht allgemein und unspezifisch wirksam; welche Ereignisse tatsächlich eintreten, hängt deshalb insbesondere von der Interaktion und Überlagerung näher liegender, d. h. unmittelbarer wirksamer und deshalb auch spezifischerer Ursächlichkeiten ab.50 Hierin gründet nun zugleich die wesentliche Schwierigkeit, mit der sich die Trauminterpretation konfrontiert sieht: Traumbilder zeigen Ursachen und Wirkzusammenhänge, die die Zukunft bestimmen, wenn überhaupt, dann nur recht unscharf, so dass der interpretierende Übergang von den Zeichen zu den Signifikaten nicht strenge Eindeutigkeit und Klarheit erreicht. Vielmehr wird die Zukunft – bestenfalls – per simili-

49 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 8, S. 189a: Dicamus […], quod licet propositum et voluntas sint causae per se operum nostrorum quibus non sit necessitas ad aliter movendum quam volunt, tamen haec secundum inclinationes subdantur causis universalibus superioribus et naturae: et ideo inclinantur ab his ad aliquid volendum, sicut inclinat alicui injacens passio timoris vel concupiscentiae voluntatem, quod aliquid vult, quod liberatus ab hujusmodi passione nequaquam vellet, et est adeo violentum, quod licet non imponat necessitatem, tamen fere totam trahit hominum multitudinem […]. Per eundem autem modum trahit vis ex stellis versa ad nos, licet non percipiamus eam nisi in somnis quando quiescimus ab operationibus et passionibus aliis. („Wir können sagen […], dass, obgleich Vorsatz und Wille durch sich die Ursachen unserer Handlungen sind, für die keine Notwendigkeit besteht, sich anders zu bewegen, als sie wollen, diese [Ursachen] sich gleichwohl gemäß den Neigungen allgemeinen, höheren Ursachen sowie der Natur unterwerfen; deshalb werden sie von diesen dazu geneigt gemacht, etwas zu wollen, wie jemanden eine nahe liegende Leidenschaft der Furcht oder der Begierde den Willen geneigt macht, etwas zu wollen, was er, befreit von einer derartigen Leidenschaft, keinesfalls wollen würde, und sie ist so heftig, dass sie, obgleich sie keine Notwendigkeit auferlegt, doch beinahe die ganze Masse der Menschen mitreißt […]. Auf dieselbe Weise aber reißt die von den Sternen her auf uns gerichtete Kraft mit, obgleich wir sie nur im Schlaf empfangen, wenn wir von anderen Tätigkeiten und Leidenschaften ungestört sind.“) 50 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 11, S. 193b–194a: Nec lateat nos, quod illa forma [quae quasi formalis et agens est omnium formarum inferiorum; S. 193a] sit movens, licet afficiat corpora, tamen non imponit necessitatem. Est enim illa forma causa remota […]. („Wir sollten nicht übersehen, dass jene Form [die gleichsam formhaft und wirkend ist für alle niederen Formen] bewegt, aber obgleich sie auf die Körper wirkt, ihnen dennoch keine Notwendigkeit auferlegt. Jene Form ist nämlich entfernt […].“) Deshalb, so führt Albert weiter aus, ist die Mitwirkung von Sekundärursachen notwendig, damit eine derartige causa remota überhaupt ursächlich wirksam werden kann.

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tudines et metaphoras51 angezeigt, und Ähnlichkeiten, Analogien und Metaphern zu deuten, unterliegt charakteristischen Unschärfen und bleibenden Uneindeutigkeiten. Eben deshalb, so macht Albert mehrfach deutlich, kann es keine regelrechte Wissenschaft der Vorhersage geben, die mit notwendigen Wahrheiten aufzuwarten hätte, sondern allenfalls eine ars, eine erfahrungsfundierte und anwendungsbezogene Kunstfertigkeit der Auslegung von zeichenhaften (Traum-)Gesichten, die gelegentlich und kontingenterweise wahre Aussagen über die Zukunft trifft.52 Dieser wissenschaftskonzeptionellen Bestimmung wiederum korrespondiert Alberts ‚Erkenntnistheorie‘ des Wahrtraumes; eine genauere Untersuchung, als sie hier möglich ist, könnte auch in dieser Hinsicht Alberts Zwischenstellung zwischen aristotelischer Naturphilosophie und dem älteren ‚hermeneutischen‘ Denken erweisen: Der Mensch hat im Traum keinen intellektual-intellektuellen Zugang zu den höheren Formprinzipien selbst; vielmehr sind die sich – bei suspendierter Sinneswahrnehmung – einstellenden Traumbilder entfernte und deshalb unscharfe Wirkungen der Formen auf die Vorstellungskraft (imaginatio bzw. phantasia) des Menschen.53 Ihren Sinn geben diese Vorstellungsbil51 Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 4, S. 182a („durch Ähnlichkeitsbilder und Übertragungen“). 52 Für Albert ist aus Erfahrung geradezu selbstverständlich, dass es eine solche ars interpretandi gibt; vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 8, S. 189a: Nos autem experti sumus veritatem esse in arte interpretandi somnia […]. („Wir aber haben erfahren, dass es in der Kunst, Träume zu deuten, Wahrheit gibt.“) Vorerst lässt Albert aber noch offen, ob diese Wahrheit necessaria vel contingens ist. Da nun aber die Wirkungen ‚himmlischer‘ Ursachen, d. h. der Gestirne auf das naturale Geschehen, nicht notwendig eintreten, muss dies auch für die Vorhersage dieser Wirkungen gelten. In tract. II, cap. 9, S. 206 f., kommt Albert dann noch einmal auf die persönlichen, natürlichen oder im Sinn einer ars, insbesondere durch den usu[s] interpretandi erworbenen, Qualifikationen zu sprechen, die zur Deutung unklarer Träume befähigen und die näherhin den „höchst kunstfertigen Richter […] der Träume“ ([a]rtificiosissimus […] judex […] somniorum) auszeichnen. Insbesondere muss ein solcher Richter aufgrund seiner Erfahrung die persönlichen und situativen Umstände des Traums angemessen berücksichtigen können, die die Traumbilder und deren Bedeutung maßgeblich mitbestimmen. Alles dies entspricht nicht der die scientia im engeren Sinn kennzeichnenden strengen Allgemeingültigkeit. – Zu Alberts kritischer Perspektive auf den Traum und seine Deutung vgl. WITTMER-BUTSCH (Anm. 15), S. 148 f. 53 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 4, S. 182b: Die Bewegungsursache sei zwar „eher allgemein, entfernt und intellektual als bildlich und wahrnehmbar“ (communis et remota et intellectualis potius quam imaginabilis vel sensibilis), woraus auch resultiere, dass sie keine Kenntnisse über einzelne, kontingente Ereignisse in der Zukunft mitteile, und daraus könne man folgern, sie wirke auch nicht bewegend auf die Sinneswahrnehmung oder die Vorstellungskraft, – sondern eben, gemäß ihrer eigenen Beschaffenheit, auf den Intellekt. Dies aber sei unzutreffend (non […] hoc est verum). „Obwohl sie nämlich nicht anschaulich ist und keine sinnliche Qualität besitzt, […] bewegt sie dennoch den Körper und die vegetabile sowie sensible Seele. Eine derartige Bewegung wird in der Sinnenseele und im Körper aber nicht nach der Möglichkeit des ersten Einwirkenden, sondern eher gemäß der Möglichkeit der empfangenden sinnlichen Seele und des Körpers bewirkt […].“ (Licet enim non sit figuralis, nec qualitatem sensibilem habens,

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der dann freilich nur im engen Zusammenwirken zwischen imaginatio und intellectus preis, und nur Menschen, bei denen diese Interaktion der Seelenvermögen aufgrund ihrer Naturanlage und – gegebenenfalls – langer, mit wirksamer Affektkontrolle einhergehender Übung – eben aufgrund der Ausbildung einer ars – gut funktioniert, sind deshalb, wenn schon nicht zu den Wahrträumen selbst, so doch zu ihrer Auslegung mit einem begrenzten Wahrheitsgehalt im Stande. Demgegenüber besteht im direkten und klaren Zugang der intelligentia zu den himmlischen Formen die Weisheit, die der Vermittlung durch unscharfe Bilder nicht bedarf, und wenn, auf der anderen Seite der Traumbegabung, die Seele über eine besonders ausgeprägte Vorstellungskraft verfügt, deren Inhalte dann ‚im Lichte des Verstandes‘ erschlossen werden, begründet dies eine Begabung zur metaphysisch-wissenschaftlichen Erkenntnis.54 Der Wahrtraum steht für Albert also zwischen Weisheit und Wissenschaft, und in seinem Bezug auf die höheren, entfernteren Formen, die sich in den kreisförmigen Bewegungen der Gestirne ausdrücken, ist er klar ein innernatürliches Phänomen: Albert hat in der Tat diese Form der prophetischen Zukunftsschau naturalisiert und sieht sich deshalb ausdrücklich veranlasst, festzuhalten, dass es selbstverständlich außerdem eine gänzlich andere, auf übernatürlicher göttlicher Inspiration beruhende Form der Prophetie geben könne. Diese aber ist Gegenstand theologischer, nicht aber naturphilosophischer Erörterung und bleibt deshalb im Kontext der Auseinandersetzung mit den naturkundlichen bzw. -philosophischen Schriften des Aristoteles und im Horizont einer ‚physikalischen‘ Fragestellung (ex physicis rationibus)55 ausdrücklich gänzlich unberücksichtigt.56 tamen […] motiva est corporis et animae vegetabilis et sensibilis: motus autem talis non efficitur in anima sensibili et corpore secundum potestatem primi influentis, sed potius secundum potestatem recipientis animae sensibilis et corporis […].) – Der Mensch aber erkennt eben nicht rein intellektual, sondern auf der Grundlage von Sinnesdaten und per phantasmata, und dies gilt auch für seine Wahrträume. – Mit der Konsequenz, dass diese auf konkrete Dinge und Ereignisse hin ausgelegt werden müssen, wenn sie überhaupt etwas sagen sollen, dies aber wiederum nicht klar und eindeutig geschehen kann, weil die himmlischen Ursachen, die sich im Traum bemerkbar machen, ihrerseits nicht notwendig das Weltgeschehen bestimmen. Zur nicht-intellektuellen Wirkung des Traums vgl. auch PAUL DIEPGEN: Traum und Traumdeutung als medizinisch-naturwissenschaftliches Problem im Mittelalter, Berlin 1912, S. 31. 54 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 5, S. 183b: Sunt iterum aliqui optimum habentes organum phantasiae et imaginationis […]: et tales sunt perfecti in metaphysicis secundum naturae habilitatem. („Wiederum gibt es Menschen, die ein sehr gutes Organ der Phantasie und der Vorstellungskraft besitzen […]; sie sind ihrer Naturanlage nach vollkommen im Bereich der Metaphysik.“) Was hier für Albert die altissimae scientiae einerseits und die Metaphysik andererseits sind und welche Aufgaben sie haben, bedürfte einer gesonderten Untersuchung. 55 Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 12, S. 193b. – Für „die andere Art der Vision und der Prophetie“, die auf göttlicher Inspiration, nicht auf natürlichen Ursachen beruht, ist nach Albert die Theologie, nicht die Naturphilosophie zuständig. 56 Vgl. Albertus Magnus (Anm. 46), lib. III, tract. 1, cap. 8, S. 188a: Nos autem in hoc opere tantum physice loquentes, videmus ex physicis nullo modo posse probari a diis vel intelligentiis hujusmo-

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Gerade am entlegen erscheinenden Problem des Wahrtraumes und seiner Deutungsmöglichkeiten zeigt sich somit, dass und wie Theologie und Philosophie im diachronen Prozess disziplinär auseinander treten und welchen Veränderungen im Bild des Menschen, seiner Erkenntnismöglichkeiten und seines Verhältnisses zu Gott dies entspricht. Kurz und vielleicht allzu vereinfachend gesagt, wird – in der Tendenz – der Mensch vom Abbild Gottes (kraft seiner naturtranszendenten intelligentia) zum Naturding, das freilich außerdem Adressat von Offenbarung und Träger von Theologie ist. Gerade deshalb bemüht sich die Hauptlinie mittelalterlichen Denkens noch Jahrhunderte lang um die Aufrechterhaltung der Integration beider Dimensionen. Im zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung soll ein vorsichtiger Versuch unternommen werden, diese Zusammenhänge am Beispiel von Traum und Traumdeutung mit den Verhältnissen im islamischen Kultur- und Wissenschaftszusammenhang zu vergleichen. Dieser Zugriff ist umso mehr angebracht, als das Hochmittelalter seine ‚neue‘ Philosophie – affirmativ oder kritisch – auf islamische Wissenschaftler und ihre Aristotelesinterpretation zurückführt. Erkenntnis leitend ist dabei insbesondere die systematische Frage nach unterschiedlichen Verständnisweisen der ratio humana in ihrem Verhältnis zur ratio divina.

3.

Träume und ihre Deutung in der sunnitisch-islamischen Kultur57

3.1

Einführung

„Dieses Wissensgebiet ('ilm, sc. von der Traumdeutung) ist eine der religionsgesetzlichen Disziplinen (min al-'ulûm aš-šar'iyya). […] In jedem Falle haben alle Menschen Traumgesichte (ru'yâ), und diese Gesichte müssen gedeutet werden (lâ budda min ta'bîrihâ).“ So leitet der bekannte Historiker und Geschichtsphilosoph Ibn Chaldûn di influentias somniorum venire in animas. („Wir, da wir in diesem Werk ausschließlich naturphilosophisch argumentieren, sehen ein, dass aufgrund naturphilosophischer Überlegungen auf keine Weise bewiesen werden kann, dass von Göttern oder Intelligenzen her derartige Einflüsse in die Seelen der Schlafenden gelangen.“) In der scharfen Trennung der Disziplinen und Erkenntnisweisen kommt Albert – gegen die Augustinische Tradition – etwa auch mit Boëthius von Dacien überein. Insofern trifft auch ihn der von Etienne Tempier erhobene Vorwurf des naturalistischen Immanentismus, des Verständnisses der Natur als eines in sich funktionstüchtigen, gesetzmäßig geordneten Systems. 57 Traum und Traumdeutung sind im islamischen Kontext ein sehr weit gespanntes Feld. Deshalb wird hier nur ein Ausschnitt des Umgangs mit Träumen präsentiert, der anhand der kulturvergleichenden Perspektive dieses Beitrags erarbeitet worden ist, und schwerpunktmäßig auf die Zusammenhänge innerhalb der nicht-mystischen und tendenziell philosophiefeindlichen breiten sunnitischen Strömung eingegangen. Eine weitere Quelle verbreiteter Vorstellungen neben der im Folgenden vorzustellenden Traumdeutungsliteratur ist allerdings auch die sûfische Literatur.

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(gest. 1406) in seiner Muqaddima im Kapitel über die Wissensgebiete oder Disziplinen ('ulûm) den Abschnitt über die Traumdeutung ein.58 Dann fährt er mit koranischen Belegen für Träume und ihre Deutung und mit Überlieferungen vom Propheten Mohammed fort, die allesamt die Traumdeutung als islamisch begründete Disziplin ausweisen und mit den koranischen Propheten und der an sie ergangenen Offenbarung verknüpfen, hatte doch der Prophet Mohammed selbst Teile der Offenbarung durch Träume erhalten und in eigener Person ein Beispiel für spätere Traumdeuter gegeben, indem er seine Gefährten nach Träumen befragt und diese dann gedeutet hatte.59 Damit war der Grundstein dafür gelegt, dass Wahrträume in der gesamten Geschichte der islamischen Kultur weitgehend unumstritten als eine Form von Offenbarung betrachtet wurden, wenn auch der den Propheten vorbehaltenen Offenbarung durch den Engel (wahy) und der göttlichen Inspiration (ilhâm) klar untergeordnet.60 Träume galten demnach als potentieller Kanal für Botschaften aus dem „Verborgenen“ (ghaib), also der für menschliche Wahrnehmung nicht fassbaren, göttlichen Sphäre.61

3.2

Die Traumdeutung, ihre Entwicklung und die Traumdeutungsliteratur

Grundlegende Voraussetzungen, die alle ‚mittelalterlichen‘ Muslime teilten, wenn sie sich mit Träumen und Traumdeutung befassten, waren daher die Anerkennung des grundsätzlich vorhandenen Potentials der Träume, Wissen aus der Sphäre des „Verborgenen“ zu vermitteln, und die Annahme, dass dies häufig in verschlüsselten Bildern geschehe, die folglich der Deutung bedürften. Damit ist zwar die Ausgangslage ähnlich wie im Christentum, und auch der später für ‚Wirrträume‘ verwendete Ausdruck 58 Ibn Chaldûn: Muqaddimat al-'Allâma Ibn Chaldûn. Hrsg. von MUSTAFÂ MUHAMMAD, o. O. o. J., S. 475 (übersetzt aus dem Arabischen). Siehe außerdem Ibn Khaldun: The Muqaddima: An Introduction to History. Translated from the Arabic by FRANZ ROSENTHAL. Abridged and edited by N. J. DAWOOD, London, Henley 1967, S. 367. Von einer kompletten Wiedergabe der arabischen und persischen Originalzitate in Umschrift wird abgesehen und nur die deutsche Übersetzung angegeben. Soweit nicht anders kenntlich gemacht, stammen deutsche Übersetzungen von der Verfasserin. 59 Siehe dazu z. B. ANNEMARIE SCHIMMEL: Die Träume des Kalifen. Träume und ihre Deutung in der islamischen Kultur, München 1998, S. 17–20, zum Propheten als Deuter der Träume seiner Gefährten vgl. vor allem S. 17. 60 Im Allgemeinen heißt es, der Wahrtraum sei von der Wertigkeit eines Sechsundvierzigstels der Prophetie, doch nur der Wahrtraum des Propheten sei absolut wahr und bindend. Er und nach ihm die großen „Gottesfreunde“ (also besonders begnadete Fromme) können solche Wahrträume auch im Wachzustand sehen, gewöhnliche Menschen dagegen nur im Schlaf. Da der Traum als einzige nach dem letzten Propheten – dem „Siegel der Propheten“ Mohammed – noch mögliche Form der Prophetie gilt, hatte auch die Traumdeutung ein hohes Prestige (vgl. dazu SCHIMMEL [Anm. 59], S. 20). 61 Siehe dazu u. a. HELMUT GÄTJE: Philosophische Traumlehren im Islam. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 109 (1959), S. 258–285.

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adghâth al-ahlâm ist bereits im Koran enthalten und wurde zur Etablierung einer prinzipiellen Unterscheidung zwischen ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Träumen genutzt. Doch der auf christlicher Seite bereits in der Bibel angelegte, höchst skeptische Umgang mit Träumen gewöhnlicher Menschen im Allgemeinen konnte in dieser Weise im sunnitischen Islam aufgrund der genannten Voraussetzungen gar nicht aufkommen. Berufsmäßige Traumdeuter unterschieden sich daher in den grundlegenden Annahmen über das Potential von Träumen auch nicht wesentlich von Religionsgelehrten, Theologen oder sogar Philosophen: An so klaren Aussagen in Koran und Hadîth,62 wie sie zum Thema Wahrträume vorhanden sind, kam man nicht vorbei. Um diese Sachlage zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass für Muslime – und besonders für die sunnitische Mehrheit – die Offenbarungsschrift und das autoritative Vorbild des Propheten die einzig verlässlichen Bezugspunkte bei der Entscheidung über religiöse und religionsrechtliche Fragen jeder Art waren und der intellektuellen Eigenaktivität des Menschen nur eine sehr eingeschränkte Rolle zugebilligt wurde. Das ‚Informationspotential‘ von Wahrträumen und ihre Funktion als Verbindung zur göttlichen Sphäre galten demnach als Faktum. Damit waren für den Umgang mit Träumen abstrakte Spekulationen über deren Entstehung und Charakter auf einer grundsätzlichen Ebene weniger bedeutsam als die Entwicklung praktischer Instrumente zur Unterscheidung von Wahrträumen und ‚Wirrträumen‘ und zur korrekten Auslegung der erstgenannten. Diese Aufgaben übernahmen die Traumdeuter, deren Tätigkeit auch die Entwicklung einer umfangreichen Literatur zur Traumdeutung mit sich brachte.63 Wie es kam, dass die Traumdeutung – obgleich zunächst ein Erbe des vorislamischen Orients64 – unter den Gläubigen der neuen Religion dennoch nicht in Misskredit geriet, haben wir schon gesehen: Nicht nur der Prophet Mohammed selbst sanktionierte die Traumdeutung, sondern auch der Koran enthält unmissverständliche Erzählungen über die Deutung von Wahrträumen – namentlich die Josefsgeschichte.65 Die Sanktionierung der Traumdeutung durch die doppelte Autorität von Koran und prophetischem Vorbild ermöglichte auch die relativ unkomplizierte Eingliederung der Traumdeutung in die islamischen Wissensgebiete, obwohl griechisches Erbe in sie einfloss und sie 62 Überlieferte Berichte über Aussprüche und Handlungen des Propheten Mohammed heißen Hadîthe, die Literaturgattung insgesamt trägt die hier verwendete Bezeichnung Hadîth. 63 Zu der enormen Menge und Verbreitung von Traumbüchern spätestens ab dem 10. Jahrhundert siehe z. B. CHERIFA MAGDI: Die Kapitel über Traumtheorie und Traumdeutung aus dem Kitâb attahrîr fî 'ilm at-tafsîr des Diyâ' ad-Dîn al-Dschazîrî (7. / 13. Jahrhundert), Phil. Diss. Göttingen 1969, S. 23, und SCHIMMEL (Anm. 59), S. 22 u. 24. 64 Zum babylonischen Erbe, das bereits vor dem griechischen in die arabische Traumdeutung eingeflossen war, siehe TOUFIC FAHD: La divination arabe. Études religieuses, sociologiques et folkloriques sur le milieu natif de l’Islam, Paris 1987, S. 248. FAHD versteht unter der „arabischen Periode“ die vorislamische Zeit und die ersten drei Jahrhunderte der Hidschra-Zeitrechnung (FAHD, S. 249). 65 Vgl. dazu z. B. Anm. 68.

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nicht zuletzt durch diesen Prozess zu einer regelrechten Disziplin wurde.66 Als Autorität der Traumdeutung wurde während dieses Prozesses der religiöse Richter und Traditionarier (Vertreter der Hadîth-Wissenschaft) Ibn Sîrîn etabliert, der durch seine respektablen Tätigkeiten zuverlässig und geeignet erschien, die Einführung fremder und damit zunächst einmal problematischer Elemente in die Traumdeutung zu legitimieren.67 So wie die Möglichkeit, durch Träume Botschaften aus dem „Verborgenen“ zu empfangen, nach allgemeiner Auffassung jedem Menschen offen stand, selbst Kindern und Ungläubigen,68 wurde auch die Traumdeutung, die in der vorislamischen Zeit noch als außergewöhnliche Begabung betrachtet worden war, durch ihre Entwicklung zu erlernbarem Erfahrungswissen in islamischer Zeit prinzipiell jedem zugänglich – sofern die nötigen Voraussetzungen wie Scharfsinn und Urteilsvermögen gegeben waren. Zu Beginn wurden unterschiedliche Überlieferungen über Träume und ihre Deutung gesammelt. Mit der Übersetzung eines großen Teils von Artemidors Oneirokritika ins Arabische im 9. Jahrhundert bekamen die Verfasser von „Traumbüchern“ dann Anregungen zur Systematisierung des Materials69 und äußerten sich auch in theoretischen Einleitungen. Der theoretische Teil eines „Traumbuches“ war aber meist sehr kurz gehalten.70 Er enthielt zwar Überlegungen zu Herkunft und Beschaffenheit der Träume. Über diese Vorstellungen – etwa: ob die Seele im Schlaf den Körper verlässt oder nicht – wurde aber keine Einigkeit erzielt. In diese theoretischen Überlegungen sind auch mehr oder weniger deutlich erkennbare Elemente aus den philosophischen Traumleh66 Die Astrologie zu etablieren war schwieriger, weil sie als fremd empfunden wurde und infolgedessen erheblich größeren „Islamisierungsaufwand“ erforderte. Hinzu kam, dass die Annahme, aus den Sternen könne man Zukünftiges ablesen, aus religiöser Sicht verdächtig an die Verehrung der Gestirne erinnerte, die in einem strengen Monotheismus keinen Platz hatte (JOHANN CHRISTOPH BÜRGEL: Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991, S. 207). 67 Siehe dazu MAGDI (Anm. 63), S. 17. 68 Über die Frage, ob auch Kinder und sogar Ungläubige Wahrträume haben können, hatte man zunächst diskutiert. Vor allem unter Verweis auf den Koran (insbesondere die Josefsgeschichte, in der nicht nur Josef schon als Knabe, sondern auch der ungläubige Pharao Wahrträume hat) wurde sie letztlich bejaht (siehe SCHIMMEL [Anm. 59], S. 43f.). Trotzdem gab es nicht nur die Vorstellung, dass gute und fromme Menschen eher Wahrträume sehen als andere und dass auch die rituelle Reinheit eine Rolle spielt, sondern auch die – allerdings im Zusammenhang mit einem Gelehrten des 8. Jahrhunderts, also recht früh in der Entwicklung der islamischen Traumdeutung verbürgte – Ansicht, dass die Einsicht in Träume von der Tadellosigkeit der Lebensführung abhängen und sich daher auch verflüchtigen kann (SCHIMMEL [Anm. 59], S. 38f. u. 59). 69 Nach FAHD hat erst das griechische Erbe zu methodischen Klassifikationen der arabischen Divination insgesamt geführt (FAHD [Anm. 64], S. 39). 70 Das ist bereits bei Artemidors Werk der Fall und verstärkt sich in den Traumbüchern der Muslime zusehends (vgl. z. B. MAGDI [Anm. 63], S. 23). Im Übrigen, so MAGDI, sei der theoretische Einfluss Artemidors auf die islamische Traumdeutung eher gering zu veranschlagen; hier hätten theologische und philosophische Traditionen eine größere Rolle gespielt (MAGDI [Anm. 63], S. 33).

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ren eingeflossen, die jedoch mit religiösen Vorstellungen kombiniert oder durch solche erweitert wurden.71 Wichtiger sind jedoch meist auf die Praxis ausgerichtete Handlungsanweisungen an den Traumdeuter und Methoden zur Unterscheidung und Deutung der Träume. Zwar wird die grundsätzliche Frage, ob Träume wahr sein und Botschaften vermitteln können, gelegentlich angesprochen, aber auch schnell und mit leichter Hand unter Verweis auf Koran und Hadîth hinweggewischt. So äußert etwa Dschazîrî in seinem für die Theorie verhältnismäßig ergiebigen Werk im Kapitel „Eine Antwort auf die Lehrmeinungen, die behauptet haben, der Traum sei nicht wahr, wie auch die Meinungen derjenigen, die sagten, dies sei ein Frevel“: Wir behaupten: Wenn der Traum keine Offenbarung und keine Wahrheit von Gott gewesen wäre, dann hätte er ihn nicht Adam beigegeben. […] Dann ist er [sc. der Traum] an Abraham weitergeleitet worden, als Gott ihm im Traum offenbarte, er solle seinen Sohn schlachten. […]72 Wenn der Traum keine Wahrheit von Gott gewesen wäre, dann wäre Abraham nicht bereit gewesen, seinen Sohn zu opfern. Dann wurde der Traum Jakob übertragen […].73

Und auf dieser Ebene geht die Argumentation weiter, ohne dass abstraktere theoretische Überlegungen eine Rolle spielten. Auch die Ansichten der Gegner, gegen die das Kapitel gerichtet ist, bleiben unklar. Offensichtlich hat sich aufgrund der in Koran, Hadîth und Auslegungstradition gemachten Aussagen die Frage, ob Träume Botschaften von Gott übermitteln können, trotz offenbar existierender abweichender Ansichten den Verfassern von Traumdeutungsliteratur nie ernsthaft gestellt. Auch für theologisch gebildete Gelehrte scheint das Phänomen Traum oftmals durch „die Einordnung in den Zusammenhang der anderen religiösen Begriffe hinreichend erklärt“74 gewesen zu sein. Der größte Teil der „Traumbücher“ besteht denn auch – der starken praktischen Ausrichtung der Traumdeutung entsprechend – in einer Auflistung möglicher Bedeutungen aller denkbaren Symbole, die in einer hierarchischen Anordnung aufgeführt sind.75

71 Gerade das von MAGDI (Anm. 63) mit Blick auf die theoretische Einleitung untersuchte Werk des Dschazîrî aus dem 13. Jahrhundert bietet jedoch eine relativ ausführliche theoretische Einführung, in der sowohl philosophische als auch medizinische Vorstellungen und eine gründliche Differenzierung auch der ‚Wirrträume‘ enthalten sind (vgl. bes. S. 41–43 und die Darstellung zentraler Themen bei Dschazîrî sowie ihre – teils mutmaßlichen, teils unstrittigen – philosophischen Bezüge auf S. 44–57). 72 Der Verweis auf Koran 37,102 folgt zwei Sätze weiter. 73 Aus dem Arabischen übersetzt in MAGDI (Anm. 63), S. 89; arabischer Text in handschriftlicher Edition im selben Werk, S. 41f. (Zählung in indischen Ziffern). Siehe dort auch die deutsche Übersetzung des ganzen theoretischen Teils auf S. 60–107 und die handschriftliche arabische Edition des Textes auf S. 1–82 (Zählung in indischen Ziffern). 74 GÄTJE (Anm. 61), S. 259. 75 Zur Entwicklungslinie der Traumdeutung von der vorislamischen Zeit über die Rezeption des griechischen Erbes bis zur vollen Ausprägung islamischer Traumdeutung als ‚Wissenschaft‘ siehe den historischen Überblick im sehr klar strukturierten ersten Kapitel bei MAGDI (Anm. 63), S. 7– 25.

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Die weiteren Beschäftigungen der Autoren von „Traumbüchern“ waren ganz unterschiedlich: Es gibt unter ihnen Traditionarier und Rechtsgelehrte – also muslimische Religionsgelehrte – ebenso wie Literaturschaffende und Militärs und natürlich eine große Zahl von Mystikern.76 Das entspricht dem häufig anzutreffenden Befund, dass ‚Professionalität‘ in der islamischen Kultur zumindest im Bereich der ‚Wissenschaften‘ nicht mit den in Europa bekannten Mustern und Begriffen zu fassen ist. Die Anzahl der erhaltenen Handschriften von „Traumbüchern“ ist enorm. Es gibt umfassende Werke und solche zu Einzelproblemen (wie der Schau des Propheten), auch gereimte Werke, die leichter zu memorieren sind.77 „Traumbücher“ sind auf Arabisch, Persisch und Türkisch belegt, aber auch in weiteren Sprachen.78 In der Regel waren sie als Hilfsmittel für professionelle Traumdeuter gedacht. In jedem Falle blieben aber die grundlegenden gedanklichen Voraussetzungen über Jahrhunderte hinweg ungefähr gleich, so dass die klassische Struktur der „Traumbücher“ sich bis an die Schwelle der Gegenwart erhalten konnte.79 Das umfassende Werk des Nabulusî aus dem 18. Jahrhundert, das im 19. Jahrhundert als Lithographie publiziert wurde, ändert lediglich das Ordnungskriterium und listet die Symbole in alphabetischer Reihenfolge auf.80 Bei der Traumdeutung kam der Person des Traumdeuters eine wichtige und verantwortungsvolle Aufgabe zu. Wie gängig es war, Traumdeuter hinzuzuziehen – insbesondere wenn der Träumer eine wichtige Persönlichkeit war81 – zeigen zahlreiche in der Literatur verstreute Anekdoten.82 Dabei werden immer wieder Träume von der Art angeführt, deren Deutung von vordringlichem Interesse war: Wahrträume, die überdies oft prognostischen Charakter hatten. Der Traumdeuter wurde sogar mit einem Arzt verglichen: Da er durch die Interpretation von Träumen eine Form von Offenbarung zugänglich machte oder gar erst als solche erkennbar werden ließ, musste er sehr umsichtig vorgehen und trug eine große Verantwortung. Tatsächlich konnte die Arbeit des Traumdeuters aber auch medizinisch relevant werden. ‚Wirrträume‘ nämlich sind nicht nur solche Träume, die nichts zu bedeuten haben, weil sie entweder vom Teufel geschickt oder von der Seele des Träumenden erzeugt werden, deren Wünsche und Begierden in dem Traum Ausdruck finden, sondern nach 76 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 23f. u. 25–28. 77 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 22. 78 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 24. Einer der großen Vorzüge der sehr materialreichen Werke ANNEMARIE SCHIMMELs ist die durchgehende Berücksichtigung von Quellenmaterial in allen wichtigen Sprachen islamischer Kultur. 79 MAGDI (Anm. 63), S. 25. 80 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 24. 81 Die Träume armer Leute werden weniger ernst genommen, weil ihre bedrückende Lebenssituation sich meist in die Träume einmenge oder sie im Traum eine schöne Gegenwelt sähen (SCHIMMEL [Anm. 59], S. 36 u. 54). 82 Ein Beispiel ist die Anekdote über den Herrscher, der träumt, ihm fielen alle Zähne aus, bei Fachr od-Dîn 'Alî-ye Safî: Latâ'ef ot-tavâ'ef. Hrsg. von AHMAD GOLTSCHÎN-E MA'ÂNÎ, 4. Aufl., Teheran 1362 š. / 1983, S. 213.

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der Übernahme griechischer medizinischer Vorstellungen zählte man dazu auch die Leibreizträume und die Träume, die gemäß der Lehre von den Körpersäften auf ein Ungleichgewicht dieser Säfte hinwiesen und damit diagnostischen Charakter hatten. Solche Träume sagen also, obwohl sie keine Wahrträume sind, dennoch etwas aus. Wahrträume dagegen sind Träume, die von Gott kommen und dem Menschen eine Botschaft übermitteln, sei es direkt (theorematische Träume) oder in allegorischer Form, die erst entschlüsselt werden muss. Ebenso wie um Voraussagen zukünftiger Ereignisse kann es sich dabei aber auch um die Lösung religiöser Probleme, Handlungsanweisungen, Trost oder Lob und jede Art sonstiger Informationen handeln.83 Die muslimische Traumdeutung hat zahlreiche Methoden und Kriterien entwickelt, mit deren Hilfe ‚wahre‘ von ‚falschen‘ Träumen unterschieden und Wahrträume gedeutet werden konnten. Dabei spielten nicht nur Personen eine Rolle, die in den Träumen auftraten – so kommt der Prophet Mohammed nur in Wahrträumen vor, denn der Teufel ist nicht in der Lage, sich seiner Gestalt zu bedienen, wie ein Hadîth sagt –,84 sondern auch der genaue Zeitpunkt des Traumes. Die Unterscheidung zwischen Wahrträumen und ‚Wirrträumen‘ traf der Traumdeuter als erfahrener Spezialist, der sich auf überliefertes, in der Praxis bewährtes Wissen und auf die eigene Erfahrung stützte. Das Problem, dass ein Traum auch eine Täuschung sein kann, wird also durch detailliert ausgearbeitete Kriterien und Anweisungen an den Traumdeuter sowie durch dessen erfahrungsbasierte Einschätzung gelöst, nicht durch grundsätzliche theoretische Reflexionen, die etwa die Aussagekraft von Träumen generell hätten einschränken können.85 Bevor er den Traum deutete, hatte der Traumdeuter eine umfangreiche ‚Anamnese‘ zu tätigen. Dabei waren auch Name, Alter, Beruf, Herkunft, Religion und Muttersprache des Träumers sowie Speisen von Belang, die er zu sich genommen hatte. Der Bedeutung von Begleitumständen wie auch der Religion, Kultur und Muttersprache des Träumers bei der Erzeugung von – wahren wie ‚wirren‘ – Traumbildern war man sich also deutlich bewusst.86 Um den Traum zu deuten, standen unterschiedliche Methoden zur Verfügung, die der Traumdeuter samt den damit verknüpften weiteren Kenntnissen zu beherrschen hatte. Es gab neben der symbolischen Methode, die bestimmten Traumbildern mögliche übertragene Bedeutungen zuwies, die antithetische Methode, der zufolge das Traumgeschehen auf sein Gegenteil hindeutete, außerdem eine philologisch-assoziative 83 So geht es in einem Traum Ibn Challikâns (13. Jahrhundert) um Grammatikfehler (FAHD [Anm. 64], S. 307 f.). 84 Siehe dazu u. a. SCHIMMEL (Anm. 59), S. 231. Zur Schau des Propheten im Traum und den dafür ausgearbeiteten Deutungsmöglichkeiten vgl. die diesbezüglichen Abschnitte im achten Teil des Buches, S. 230–259. Die relevante Überlieferung führt FAHD (Anm. 64), S. 292, an. 85 Zur Unterscheidung der Traumarten und der dabei angesetzten Kriterien siehe SCHIMMEL (Anm. 59), S. 35–38 und MAGDI (Anm. 63), S. 52–57. 86 Zur ‚Anamnese‘ durch den Traumdeuter siehe MAGDI (Anm. 63), S. 41f.; SCHIMMEL (Anm. 59), S. 52–61, führt noch weitere Umstände an, auf die zu achten sei.

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Methode, bei der Bedeutungen aus den Wurzelkonsonanten der Bezeichnungen für zentrale Gegenstände des Traums abgeleitet oder Nebenbedeutungen von Wörtern zur Deutung herangezogen wurden, des Weiteren die Entschlüsselung durch Zahlensymbolik, indem man Bedeutungen aus den Zahlwerten bestimmter Wörter erschloss, und schließlich die originär islamische Methode durch Vergleich mit dem Koran: Man deutete im Traum auftauchende Wörter oder Inhalte durch Koranverse, in denen sie vorkommen.87

3.3

Theologische Implikationen der Traumdeutung und Anforderungen an Traumdeuter

Geht man davon aus, dass Träume zwar nicht ausschließlich, aber auch Informationen über Zukünftiges vermitteln, dass Gott die Menschen also durch Träume an seinem Vorherwissen teilhaben lässt, so impliziert das den Gedanken der Vorherbestimmung der Geschehnisse. In der Tat wird dieser Gedanke in der Traumdeutung sehr klar vertreten: Die Seele, die im Traum zur göttlichen Sphäre aufsteigt, bekommt ihre Träume vom Traumengel eingegeben, der sich bei der „Wohlverwahrten Tafel“ aufhält, an dem Ort also, an dem alles von Ewigkeit her aufgezeichnet ist. Selbst die Menge der Wahrträume ist einem jeden Menschen von vornherein zugeteilt.88 Es gibt aber auch die Vorstellung, dass gute Taten eines Menschen oder Fürbitten eines anderen ein ursprünglich vorgesehenes Unheil abwenden können, so dass der Betroffene es nur im Traum erlebt.89 Generell ist im muslimischen Denken ein Minimum an Vorherbestimmung des menschlichen Lebens immer schon gedacht und auch nie angefochten worden: die Vorherbestimmung des Todeszeitpunkts und des täglichen Lebensunterhaltes. Hier ist an der Offenbarung wohl nicht zu rütteln gewesen, denn selbst manche Gegner von Prädestination und Determination, die im 7. und 8. Jahrhundert heftige Debatten mit den Prädestinatianern führten, akzeptierten die Vorherbestimmung dieser beiden Aspekte menschlichen Lebens.90 Aufs Ganze gesehen setzt sich ein mehr oder weniger moderater Glaube an die göttliche Vorherbestimmung durch, auch wenn immer um ein

87 Für dieselbe Methode wurde aber auch Poesie nutzbar gemacht. Zu den Traumdeutungsmethoden siehe SCHIMMEL (Anm. 59), S. 61–67 und systematisch aufgelistet bei MAGDI (Anm. 63), S. 24. 88 MAGDI (Anm. 63), S. 48 (mit direktem Bezug auf den Prädestinationsgedanken bei Dschazîrî) u. S. 50 f.; SCHIMMEL (Anm. 59), S. 29 u. 94; GÄTJE (Anm. 61), S. 282 f. 89 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 94. 90 W. MONTGOMERY WATT / MICHAEL MARMURA: Der Islam II: Politische Entwicklungen und theologische Konzepte, Stuttgart u. a. 1985 (Religionen der Menschheit 25,2), S. 87 u. 94 (für alHasan al-Basrî). Zum Gesamtproblem und den unterschiedlichen historisch bezeugten Auffassungen siehe das ganze Kapitel 4: „Die Bestimmung der Ereignisse durch Gott“.

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Mindestmaß menschlicher Handlungs- und Entscheidungsfreiheit gerungen wird, um die Gerechtigkeit von Lohn und Bestrafung im Jenseits aufrecht zu erhalten.91 Dieser Aspekt der Traumdeutung wird in der Traumdeutungsliteratur nicht erkennbar problematisiert. Ihre Voraussetzungen werden als gegeben genommen, denn der Bezug auf Koran und Hadîth reicht als Legitimation aus, um eine weitere Rechtfertigung überflüssig zu machen. So ist die Traumdeutung, wie wir eingangs bereits gesehen haben, nach Ansicht Ibn Chaldûns denn auch ein allgemein anerkanntes Wissensgebiet, das zu den religiösen Disziplinen zählt. Es setzt erkennbar eine breite, auch religiöse Bildung voraus. Ein Traumdeuter musste sich im Grunde in allen Wissensbereichen auskennen: in Koranauslegung und Hadîth ohnehin, darüber hinaus aber auch in Poesie und Sprichwörtern, Astrologie und Physiognomie sowie in weiteren Gebieten. Der gängige Vergleich des Traumdeuters mit einem Arzt unterstreicht die große Verantwortung des Berufes, und in klassischen islamischen ‚Wissenschafts‘-Enzyklopädien wird die Traumauslegung auch zusammen mit der Medizin behandelt92 – lassen sich doch selbst manche ‚Wirrträume‘ noch diagnostisch fruchtbar machen. Der Vergleich des Traums mit einem Rechtsgutachten (fatwâ), der ebenfalls vorkommt, setzt dagegen den Akzent auf den Wahrtraum und seine religiöse Bedeutung und legt Gewicht darauf, dass man Träume nur von qualifizierten Personen deuten lassen dürfe.93

3.4

Muslimische Philosophen und das Problem der Wahrträume

Interesse an der Erklärung von Wahrträumen und ihrer Entstehung hatten – im Zusammenhang mit dem Problem der Offenbarung an Propheten – besonders muslimische Philosophen, und von ihnen stammen auch Konzepte, die im religiösen Zusammenhang aufgenommen, jedoch theologisch umgebildet wurden94 und in solcher Form auch Eingang in die Traumdeutungsliteratur gefunden haben. Ähnlich wie im christlichen Kontext bewegen sich die muslimischen Philosophen in einem vom griechisch91 Zu dieser Problematik und den Bewältigungsversuchen siehe Anm. 90 sowie TILMAN NAGEL: Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994, bes. S. 43–49. Für eine Diskussion der im Koran enthaltenen Belege für Vorherbestimmung und Eigenverantwortlichkeit des Menschen sowie für einen knappen Überblick über die später entwickelten Standpunkte und die sich letztlich durchsetzende Auffassung siehe auch Ders.: Der Koran. Einführung – Texte – Erläuterungen, 4. Aufl., München 2002, Kap. IV „Der Mensch im Koran“, bes. S. 263–298. Die letztlich siegreiche Tendenz im sunnitischen Islam, Gottes Allmacht gegenüber der ‚Mächtigkeit‘ der Geschöpfe zu unterstreichen, spielt BÜRGEL (Anm. 66) mit Blick auf alle Bereiche des Lebens, der Kultur und der Wissenschaft in Allmacht und Mächtigkeit durch. 92 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 55. Auch in Safîs Anekdotensammlung werden die Traumdeuter – ebenso wie die Sterndeuter und die antiken Philosophen – im selben Kapitel behandelt wie die Ärzte (nämlich in Bâb 8). 93 SCHIMMEL (Anm. 59), S. 55. 94 MAGDI (Anm. 63), S. 49.

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hellenistischen Erbe vorgegebenen Rahmen von Begriffen, Methoden und Vorstellungen.95 Auf der Grundlage philosophischer Seelen- und Erkenntniskonzepte suchen sie Erklärungen für den Vorgang des Träumens. Dabei ergibt sich im Prinzip eine ganz ähnliche, naturphilosophische Perspektive, wie sie in diesem Beitrag mit Blick auf das lateinische Christentum erläutert wird. Grundsätzlich ist das System der muslimischen Philosophen ebenfalls so angelegt, dass Wahrträume (ebenso wie die Offenbarung an Propheten) als innernatürlicher Prozess wahrgenommen werden. Dieser Prozess wird von den muslimischen Philosophen aber mit dem übernatürlichen Vorgang des Wahrtraums (bzw. der Offenbarung) gleichgesetzt. Das erklärt sich daraus, dass die Philosophen Wahrträume anerkannten und auch religiöse Begrifflichkeiten und Vorstellungen aufnahmen, jedoch letztlich eine konsequente Erklärung auch des Wahrtraums innerhalb der griechischen philosophischen Denkmodelle und mit Hilfe von dort stammender Begriffe versuchten.96 Zusammenführen konnten sie diese durchaus nicht harmonischen Traditionen durch die These, dass die religiösen Begriffe nur Symbole für universale intellektuelle Wahrheiten seien, die von gewöhnlichen Sterblichen mit eingeschränktem Erkenntnisvermögen nicht direkt erfasst werden könnten.97 So wird im Ergebnis eine terminologische Harmonisierung der unterschiedlichen Vorstellungswelten vollzogen: Die Seelen der Sphären sind dabei die Engel, die den von Gott ausgehenden Erkenntnisvorgang im Traum vermitteln – oder diese Rolle fällt der göttlichen Fürsorge zu, die seine Schöpfung durchdringt und mit dem tätigen Intellekt identifiziert wird.98 Gegen die dennoch empfundene Gefahr der ‚Naturalisierung‘ von Offenbarungsvorgängen haben sich die Theologen energisch verwahrt.99 Ebenso gegen die Reduzierung des geoffenbarten Gotteswortes auf bloße Allegorie. Das hängt maßgeblich mit dem Status des Korans als der unerschaffenen und klar verständlichen Rede Gottes zusammen, die nur dann interpretiert werden darf, wenn dies unbedingt erforderlich ist. 95 Die philosophischen Traumlehren hat GÄTJE (Anm. 61) anhand der diesbezüglichen Schriften des Kindî (9. Jahrhundert), Fârâbî (10. Jahrhundert), Ibn Sînâ (d. i. Avicenna, 10. Jahrhundert) und Ibn Rušd (d. i. Averroes, 12. Jahrhundert) als der bedeutendsten Vertreter griechischen Gedankengutes untersucht und dargestellt (Traumlehren, S. 260 mit Nennung der Schriften). 96 GÄTJE (Anm. 61), S. 260, 272 u. 282. 97 Unter anderen thematisiert BÜRGEL (Anm. 66), S. 120 u. 123, diese Gleichsetzung in Allmacht und Mächtigkeit. 98 GÄTJE (Anm. 61), S. 279 (namentlich bei Fârâbî und Avicenna). 99 Vgl. dazu FAZLUR RAHMAN: Prophecy in Islam. Philosophy and Orthodoxy, London 1958, S. 109f. Er bietet dort auch eine knappe Darstellung der grundlegenden Differenz zwischen Philosophen und Theologen: Für die Theologen und Religionsgelehrten erfordert die ewige Wahrheit moralisches Handeln. Sie erlässt das Gesetz und ist unterscheidbar oberhalb der menschlichen Sphäre angesiedelt. Für die Philosophen ist das eigentliche Ziel das Erkennen der Wahrheit, die so auch in den Verfügungsbereich menschlicher Erkenntnisprozesse gerückt wird – dies ist für muslimische Theologen eine höchst problematische, um nicht zu sagen inakzeptable Vorstellung.

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Über die Kriterien dafür herrschte zwar keineswegs Einigkeit, die Philosophen gingen jedoch für das Empfinden der meisten Theologen und Religionsgelehrten viel zu weit. Auch die Philosophen gehen aber davon aus, dass das Weltgeschehen vorherbestimmt ist. Besonders deutlich wird das, wenn Avicenna von unabänderlichem Unheil spricht, das im Traum erst kurz vor Eintreten vorhergesagt wird.100 Die philosophischen Traumlehren nehmen außerdem Aspekte der Traumdeutung auf, wenn sie über die Arten und die Entschlüsselung von Träumen sprechen und sich der gängigen religiösen Termini bedienen. Es gibt also Wechselwirkungen zwischen philosophischen Traumlehren und den theoretischen Elementen der Traumdeutungsliteratur, doch die Grundannahme, dass es Wahrträume mit Offenbarungscharakter durch die Einwirkung einer höheren Kraft gebe, wurde nicht erschüttert und damit auch nicht zum Gegenstand kritischer und einflussreicher theoretischer Reflexionen.

3.5

Die Stellung von Philosophie und ‚Theologie‘ im Kontext der islamischen Kultur

Wir sehen also, dass auch die muslimischen Philosophen die auf Koran und Hadîth beruhenden Grundannahmen der Traumdeutung anerkannten und ihre philosophischen Gedankengänge auf teils recht oberflächlich anmutende Weise mit den Begrifflichkeiten der Offenbarung in Übereinstimmung brachten. Zwar behaupteten die Philosophen, der Mensch könne mit seinem Intellekt Gott erkennen, es gebe also einen zweiten Weg zur Wahrheit neben der Offenbarung. Doch diese Ansicht ist die Meinung eines exklusiven, kleinen Kreises geblieben, die sich nicht gegen die Auffassung durchsetzen konnte, dass dem Koran und den Prophetenüberlieferungen in ihren möglichst wenig interpretierten Ausdrucksformen immer Vorrang gegenüber dem menschlichen Erkennen einzuräumen sei. Zwar war die Welt auch für sunnitische Muslime gemäß der göttlichen ratio und daher ‚verstandesgemäß‘ eingerichtet, aber die menschliche ratio gilt als der göttlichen entgegengesetzt: Sie ermöglicht das Spekulieren, das wiederum zu Zweifeln führt. Dass der Mensch aufgrund seines Verstandes von sich aus die Welt und ihre Ordnung oder gar Gott adäquat erfassen könnte, wurde nicht akzeptiert.101 Die Trennungslinie zwischen Schöpfer und Geschöpf, Gott und Mensch war dafür zu groß und – anders als im Christentum – nicht durch die Annahme einer Ähnlichkeit der menschlichen und göttlichen Vernunft zu überbrücken. Menschliches Spekulieren und die uneingeschränkte Nutzung des Verstandes beinhalteten also ein unwägbares Gefahrenpotential, das es möglichst einzudämmen galt. Gab auf dieser Grundlage schon die Theologie konsequenten Sunniten Anlass zum Misstrauen, weil sie sich aus der Philosophie stammender rationaler Methoden und Begriffe bediente, und war sie nur unter der Voraussetzung akzeptabel, dass sie zu apologetischen Zwecken notwendig sei, so wurde die Philosophie mit noch weit größe100 GÄTJE (Anm. 61), S. 280, und SCHIMMEL (Anm. 59), S. 29. 101 Siehe dazu NAGEL (Anm. 4), S. 336 f.

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rem Argwohn betrachtet. Als Wissensgebiete ('ulûm), die der Beschäftigung wert und wahrhaft nützlich sind, können daher nach Auffassung namhafter Gelehrter der späteren Jahrhunderte nur die religiösen Disziplinen durchgehen, die als vom Propheten ererbt galten und keiner weiteren Rechtfertigung bedurften.102 In deren Rahmen kam durchaus auch der menschliche Verstand zum Einsatz, jedoch lediglich in eng gesteckten Grenzen.103 Anfangs wirkten sich die Gedanken der Philosophen auch auf theologische Inhalte kaum aus. Das änderte sich ab dem 11. und 12. Jahrhundert, weil Theologen nun doch nachweisen wollten, dass die Theologie der Philosophie ebenbürtig sei (etwa Ghazâlî, gest. 1111). So meint Fachr ad-Dîn ar-Râzî (12. Jahrhundert) zwar, was die Philosophen sagten, sei nicht falsch, aber die Begründung sei doch mangelhaft, da sie nur die menschliche Erkenntnis, nicht die Offenbarung herangezogen hätten.104 Damit sind wir wieder bei der Offenbarung und dem Umgang mit ihr angekommen: Die offenbarte Schrift, der Koran, und der Hadîth sind für den Sunniten Maßstab in allen religiösen Belangen, davon abgeleitet auch die religionsgesetzlichen Regelungen, die Gelehrte erarbeitet haben. So kommt es, dass auch ein scheinbarer Wahrtraum, in dem der Prophet erschienen ist, unschwer als platte Lüge entlarvt werden kann, wie in der folgenden Anekdote aus einer persischen Sammlung des 16. Jahrhunderts: Ein betrügerischer Asket kam zu einem scharfsinnigen König, der der Trunksucht am Wein verfallen war, und sagte: „Letzte Nacht habe ich Seine Erhabenheit den Gesandten (hazrat-e resâlat-panâh) im Traum gesehen, wie er mir sagte: ‚Geh und sag dem König, er soll weniger Wein trinken!‘ “ Der König entgegnete: „Bei Gott, du hast diesen Traum fälschlicherweise (be dorûgh) Seiner Erhabenheit zugeschrieben (bar ân hazrat baste'î)!“ Der Asket fragte: „Weshalb sagst du, dass dieser Traum eine Lüge sei?“ Antwort: „Weil du sagtest, der Prophet habe gesagt: ‚Er soll weniger Wein trinken.‘ Denn diese Worte sind eine Erlaubnis dafür, dass man weniger trinken darf, dabei ist [doch] wenig ebenso wie viel davon religionsgesetzlich verboten (harâm), und Seine Erhabenheit wird niemals die Erlaubnis zu wenig vom Verbotenen geben, ebenso wie er auch nicht die Erlaubnis zu viel vom Verbotenen geben wird!“ Der Asket schämte sich, und die Anwesenden lobten den Scharfsinn des Königs.105

Hier wird nicht nur die zentrale Rolle ersichtlich, die das religiöse Gesetz und seine Fundierung in Koran und Prophetenüberlieferung besitzt, wir sehen nicht nur, dass dieses Gesetz als Maßstab zur Einschätzung eines solchen Traumes genutzt wird, son102 So etwa nach Ansicht Ibn Taimiyyas (vgl. BÜRGEL [Anm. 66], S. 99). 103 BÜRGEL (Anm. 66), S. 113. 104 NAGEL, Theologie (Anm. 91), S. 201f. u. 193. Zum Verhältnis von Theologie und Philosophie ab Ghazâlî und in den späteren Jahrhunderten, die allerdings noch kaum erforscht sind, siehe das Kapitel IV „Theologie und Philosophie“ und dort insbesondere die Abschnitte 3. bis 5. (S. 177– 204). Zum Gesamtproblem des Umgangs mit dem griechischen Erbe und der Aufnahme philosophischer Elemente in die Theologie siehe außerdem die entsprechenden Kapitel bei BÜRGEL (Anm. 66). Die Verbindungen von mystischem und philosophischem Denken, die vor allem im Gefolge des Ibn 'Arabî (12.–13. Jahrhundert) weitere Verbreitung fand, würden eine eigene Abhandlung erfordern. 105 Safî (Anm. 82), S. 70 f. (übersetzt aus dem Persischen).

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dern deutlich wird auch, dass weder die Möglichkeit eines autoritativen Traumes vom Propheten in Zweifel gezogen noch die Aussage des Propheten in diesem Traum für Lüge erklärt wird – gemäß dem Grundsatz, dass ein Traum, in dem der Prophet erscheint, nicht falsch sein kann. Vielmehr wirft der König dem Asketen – ganz im Einklang mit diesem Grundsatz – vor, er habe den Traum dem Propheten fälschlicherweise zugeschrieben. Mit anderen Worten: Da die berichtete Aussage nicht vom Propheten stammen kann, hat der Asket ihn auch nicht in einem Traum dieses Inhalts gesehen. Damit wird die Substanz des Traumes angefochten und sein Inhalt hinfällig. Auch das Ziel des Asketen, sich selbst mit einem Nimbus besonderer göttlicher Begnadung zu umgeben, ist damit vollständig gescheitert. Das zeigt, dass gänzlich neue, etwa der von Mohammed verkündeten Offenbarung oder dem religiösen Gesetz entgegenstehende Offenbarungen von Wahrträumen nicht zu erwarten waren – zumindest hätten sie keine Aussicht auf Akzeptanz gehabt. Im allgemein anerkannten islamischen Rahmen verbleibende Ansichten oder persönliche Entscheidungen (wie der Wechsel der Rechtsschule oder die Gründung einer neuen) dagegen konnten durchaus durch Wahrträume legitimiert werden.

4.

Zusammenfassung

Die reduzierte und stark reglementierte Rolle der menschlichen ratio, die im sunnitischen Islam mit einem anderen Menschenbild gekoppelt ist und einen andersartigen Umgang mit der Offenbarung ebenso bedingt wie ein anderes Wissenschaftsverständnis, als sie sich im lateinischen Christentum des Mittelalters finden, lässt sich am Umgang mit und der Einschätzung von Träumen im Allgemeinen und Wahrträumen im Besonderen herausarbeiten. Dies aufzuzeigen war Ziel des vorliegenden Beitrags – nicht zuletzt anhand der Beobachtung, dass maßgebliche, kulturell nachhaltig wirksame Ansichten sich in gänzlich unterschiedlichen Literaturgattungen niedergeschlagen haben, obwohl hier wie dort philosophische Überlegungen ebenso existierten wie überwiegend praktisch ausgerichtete Traumdeutungsliteratur. Zwar sind Perspektiven auf das Problem von Traum und Traumdeutung, die sich aus der Aristotelischen Naturphilosophie ergeben, im Islam sogar noch früher und wohl auch nachdrücklicher wirksam als im lateinisch-christlichen Kulturzusammenhang – hier beispielsweise bei den ‚radikalen Aristotelikern‘, aber auch bei Albert dem Großen –, werden aber nicht oder kaum in ein breiter und auch in die Religionsgelehrsamkeit hinein wirkendes Verständnis integriert. Dies verhält sich im lateinischen Christentum anders, wo – teilweise durchaus kontroverse – Diskussionen um eine produktive Integration des Aristotelischen Denkens in die Theologie geführt werden, und zwar auch, was das Verständnis von Traum und Traumdeutung angeht. Mindestens ebenso bedeutsam aber ist das Weiterwirken des hauptsächlich von Augustinus herrührenden Konzeptes der menschlichen in ihrem Verhältnis zur göttlichen Vernunft: Als imago Dei ist der Mensch nicht einfach ein Naturwesen, das den Naturnotwendigkeiten

130

Susanne Kurz und Stefan Seit

unterliegt, sondern er transzendiert diese mindestens teilweise aufgrund seiner Geistigkeit. Im Islam hingegen versteht sich der Mensch in erster Linie als der von seinem Herrn radikal verschiedene Diener eines Gottes, der ins Weltgeschehen eingreift und sich mitteilt, wie er will. Der Unterschied im Menschenbild und in der Einschätzung der menschlichen ratio wird am Umgang mit Träumen besonders dann deutlich, wenn es um Akzeptanz und Bewertung von Wahrträumen geht. Diese nämlich sehen zwingend voraus, dass der Mensch entweder Teil einer Naturordnung ist, die sein künftiges Geschick bestimmt und sich im Traum erschließt, oder aber Adressat übernatürlicher Mitteilungen über willkürliche Eingriffe Gottes in das Weltgeschehen.

Teil II: Diskussionen

132

Notger Slenczka

NOTGER SLENCZKA

Träume zwischen Gott und Teufel

1.

Hinführung: Der Traum in der Neuzeit

Weniges fasziniert so wie der Traum. Eine Welt nimmt uns gefangen, die den Gesetzen der Wirklichkeit, die uns wachend umgibt, nicht gehorcht. Ich träumte beispielsweise einmal, dass ich in einem Garten – den ich mühelos als unseren eigenen identifizierte, obwohl er nichts mit ihm gemeinsam hatte – drei Tiere in scharf gezeichneten, zwischen Wurzelwerk eingegrabenen Erdlöchern sah, die ich zunächst als Igel, nach einer leichten Verwandlung ohne die geringste Verwunderung als Stachelschweine, und nach einer weiteren Veränderung dann als Mungos identifizierte; wenig später gesellte sich ein undeutlicher weißer Schatten hinzu, und ich wußte genau, dass ich, wenn ich schärfer hinsehen würde, einen Eisbären sehen würde. Der Traum führt uns ein in eine Welt, die den Überzeugungen, die uns im Wachzustand umgeben, nicht gehorcht, und die wir doch selbstverständlich und ohne Verwunderung akzeptieren; die Tagwelt des Wachens, ihre Bedingungen der Möglichkeit und ihre Kriterien der Glaubwürdigkeit haben in dieser Welt kein Recht und sind für den Träumenden schlicht vergessen. Nicht umsonst ist für Descartes in der ersten seiner Meditationen der Hinweis auf den Traum der Ausgangspunkt für eine Anfrage an die Gültigkeit unserer Wirklichkeitsüberzeugungen:1 Wäre es nicht möglich, fragt er, dass die Überzeugung bezüglich der Wirklichkeit der Welt, die uns umgibt, ebenso Täuschung ist wie die Überzeugungen, die wir im Traum unterhalten und die wir als Täuschung doch im Traum selbst nicht durchschauen? Wäre es nicht möglich, so setzt er vorweggenommenen Einwänden entgegen, dass ein genius malignus, ein allmächtiger, aber bösartiger Gott uns diesen Traum eingibt, uns in ihm gefangenhält und in uns Evidenzen weckt, die denen gleichen, mit denen ein Traum uns umgibt: Grundlos, aber in seinem Täuschungscharakter nicht durchschaubar?2 Nicht erst der Albtraum, sondern auch das ganz harmlose

1

2

René Descartes: Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie lateinisch und deutsch. Auf Grund der Ausgabe von ARTUR BUCHENAU neu hrsg. von LÜ3 DER GÄBE, durchges. von HANS GÜNTER ZEKL, Hamburg 1992 (Philosophische Bibliothek 250a), Meditatio I, 5. Descartes (Anm. 1), Meditatio I, 9.12.

134

Notger Slenczka

Traumgesicht ist immer wieder neu eine tiefe Verunsicherung des Vermögens, mit dem wir über Täuschung und Wahrheit urteilen – und der Nachweis Descartes’, dass im Gewissheitspunkt des cogito zugleich die Gewissheit eines göttlichen Wesens mitgesetzt ist, das uns nicht täuscht, ist gleichsam eine Dämonenaustreibung der Vernunft, ein Nachweis, mit dem die Neuzeit sich der Wahrheitsfähigkeit des Menschen vergewissert.3 Seitdem ist die Zeit des Traums die Vergangenheit. In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht macht Kant auch einige wenige Bemerkungen zum Traum – und ihm ist es besonders rätselhaft, wie „wir oft im Traume in die längst vergangene Zeit versetzt werden, mit längst Verstorbenen sprechen, dieses selbst für einen Traum zu halten versucht werden, aber doch diese Einbildung für Wirklichkeit zu halten uns genötigt sehen“.4 Wo die früheren Jahrhunderte im Traum die Zukunft abgeschattet sahen, ist seit der Aufklärung der Traum Produkt der Ideenassoziation: Wir kombinieren träumend früher Gesehenes nach den Regeln der Zusammengehörigkeit. Dass die Träume aber Zukunft erschließen, ist, so der Nachfolger Kants auf dem Königsberger Lehrstuhl, Wilhelm Traugott Krug, eine Altweiberfabel: Traum […] ist eine Reihe von Vorstellungen, die sich von selbst nach den Gesetzen der sog. Ideenassociation in uns entwickelt. […] Wir geben also dann unsern Vorstellungen keine anderweite Richtung und Verknüpfung, wie wir dieß beim Nachdenken über einen Gegenstand zu thun pflegen. […] Daß die Träume eine offenbarende Kraft haben oder uns die Zukunft enthüllen, ist eine ganz unerweisliche Behauptung. Denn wenn auch unter den Millionen von Träumen […] einige (wie man gewöhnlich sagt) eintreffen: so beweist ja dieß noch gar keinen Zusammenhang zwischen dem Traume und dem Erfolge. Die Traumdeuterei (Mantik oder Symbolik der Träume, divinatio ex somniis) beruht also auf einer bloßen petitio principii, welche die Philosophen wohl den alten Weibern überlassen sollten.5

Im Traum ist das Subjekt aktiv, es formt aus den Bildern früherer Erfahrung eine Welt; und es wird damit nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit lebendig. Mit Sigmund Freuds Traumdeutung erwacht zwar die divinatio ex somniis, das Wahrsagen aus Träumen wieder; hier geben die Träume wieder Auskunft, nun aber eben nicht über die Zukunft, sondern über das Ich, dabei über seine im Unbewussten verdrängt fortlebende Vergangenheit, über Wünsche, die der Träumende sich zugleich verbietet; im scheinbar sinnlosen oder angsterregenden Traum meldet sich der Wunsch unter seiner

3 4

5

Descartes (Anm. 1), Meditatio II und III. Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [11798], I § 34. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. 1: Kants Werke 7, Berlin 1917, S. 106. WILHELM TRAUGOTT KRUG: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften nebst ihrer Literatur und Geschichte, Bd. 4, Leipzig 21834, S. 237 f.

Träume zwischen Gott und Teufel

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Zensur und wartet darauf, dass seine Symbole entziffert werden.6 Im Traum manifestiert sich eine verdrängte Vergangenheit, ein Wunsch, der nur dadurch einen Weg zum Bewusstsein findet, dass er den ordentlichen Weg von der Wahrnehmung zum Bewusstsein umkehrt und ‚rückwärts‘ geht: Ein alter Bewusstseinsinhalt übersetzt sich in Wahrnehmung und stellt sich in einer oft beunruhigenden Metapher ebenso dar wie er sich verbirgt: Was im halluzinatorischen Traum vor sich geht, können wir nicht anders beschreiben, als indem wir sagen: Die Erregung nimmt einen rückläufigen Weg. Anstatt gegen das motorische Ende des Apparats pflanzt sie sich gegen das sensible fort und langt schließlich beim System der Wahrnehmungen an.7

In der zweiten, 1914 erschienenen Auflage seiner Traumdeutung bietet Freud an dieser Stelle einen hochinteressanten Zusatz, nämlich: Die erste Andeutung des Moments der Regression findet sich bereits bei Albertus Magnus. Die Imaginatio, heißt es bei ihm, baut aus den aufbewahrten Bildern der sinnfälligen Objekte den Traum auf. Der Prozeß vollzieht sich umgekehrt wie im Wachen.8

Das ist ein interessanter Verweis, und wenn man ihm nachgeht, steht man bei einem der umfangreichsten Traktate, die das Mittelalter zum Thema Schlaf, Traum und zu den Möglichkeiten der Traumdeutung hervorgebracht hat. Man steht damit zugleich bei einer der interessantesten Gestalten des Mittelalters überhaupt, einem Philosophen und Theologen (in dieser Reihenfolge!), dem Lehrer und Förderer des Thomas von Aquin, nur wenig älter als dieser und wie Thomas – aber in ganz anderer Weise als dieser – ein Genie. Und wenn man näher hinsieht, dann ist bei Albertus Magnus auch die These Freuds vorgebildet, dass im Traum das Ich sich selbst auslegt und nur mit sich selbst zu tun hat.

6

7 8

Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900], Studienausgabe. Hrsg. von ALEXANDER MITSCHERLICH, 9. korrigierte Auflage, Bd. II, Frankfurt a. M. 1994. Die Grundeinsicht, die Freud in dieser Schrift erstmals im Zusammenhang vorträgt, ist die These, dass Träume grundsätzlich Wunscherfüllungen symbolisieren (hier S. 175 u. ö.); durch die Verdeckungstendenz des Traums erschließt sich ihm die Struktur des Verhältnisses von verdrängtem Unbewusstem und der ‚Zensurinstanz‘, die diesem verdrängten Wunsch den direkten Ausdruck verwehrt – vgl. dazu cap VII (S. 488– 588). Dazu nur: ERNEST JONES: Sigmund Freud. Leben und Werk [engl. 1955], 3 Bde., München 1984, Bd. 1, S. 410–421 und S. 422–466. Freud (Anm. 6), S. 518. Freud (Anm. 6), S. 518.

136

2.

Notger Slenczka

Abgrenzung: Die Untersuchung des Traums in der Wissenschaft des Mittelalters

Ich wende mich in dieser Darstellung also Albertus Magnus9 und Thomas von Aquin10 zu; damit habe ich eine weitreichende Entscheidung bezüglich des Themas getroffen: Gegenstand ist die ausdrückliche theologische und philosophische Reflexion des Traums – nicht die Beschreibung der Art und Weise, wie das Phänomen des Traums die religiöse Mentalität im Verlauf der Jahrhunderte, die wir als Mittelalter zusammenfassen, prägte.11 Gegenstand ist damit auch die Differenziertheit, die diese Reflexion

9 Albertus Magnus: Libri tres, Operum V: Parva Naturalia, Lyon 1651, S. 64–109. Eine neuere Edition existiert nicht, die Editio Coloniensis sieht den Traktat als Teilband des Bandes VII vor; das Erscheinen ist aber nicht absehbar. Ich zitiere im Folgenden unter Angabe des jeweiligen Buches, des Tractatus und des caput sowie der Paginierung der genannten Ausgabe. Der Text ist zweispaltig gesetzt; ich identifiziere die linke Spalte jeder Seite als A, die rechte als B; falls es zur Identifizierung einer bestimmten Passage oder eines Begriffs notwendig ist, zähle ich innerhalb der Spalten die Absätze (ggfs. unter Auslassung der Überschriften) mit jeder Spalte neu beginnend, innerhalb der Absätze die Zeilen mit jedem Absatz neu beginnend. Gelegentliche Akzente des Originals lasse ich weg; ‚u‘ ändere ich ggfs. kommentarlos in ‚v‘, Ligaturen (æ) werden aufgelöst geboten. Alle Übersetzungen in diesem Aufsatz stammen von N. Sl. 10 Ich beziehe mich hier hauptsächlich auf die einschlägigen Passagen aus Thomas von Aquin: Summa theologiae II–II q 95 und q 174. Verwendete Edition: Die deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica. Hrsg. vom Katholischen Akademikerverband, Salzburg u. a. 1933–2004. 11 WILHELM SCHMITZ: Traum und Vision in der erzählenden Dichtung des deutschen Mittelalters, Münster 1934 (Forschungen zur deutschen Sprache und Dichtung 5); HANS-JOACHIM KAMPHAUSEN: Traum und Vision in der lateinischen Poesie der Karolingerzeit, Bern, Frankfurt a. M. 1975 (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 4); Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hrsg. von AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI / GIORGIO STABILE, Stuttgart, Zürich 1989; NIGEL F. PALMER / KLAUS SPECKENBACH: Träume und Kräuter. Studien zur Petroneller ‚Circa instans‘Handschrift und zu den deutschen Traumbüchern des Mittelalters, Köln, Wien 1990; MARIA ELISABETH WITTMER-BUTSCH: Zur Bedeutung von Schlaf und Traum im Mittelalter, Krems 1990 (Medium aevum quotidianum, Sonderband 1); UTE REICHEL: Astrologie, Sortilegium, Traumdeutung. Formen von Weissagung im Mittelalter, Bochum 1991 (Bochumer historische Studien. Mittelalterliche Geschichte 10), allerdings abweichend vom Titel fast ausschließlich auf die Astrologie konzentriert; HANS-WERNER LÖBNER: Reden und Träume als strategische Elemente der Geschichtsschreibung des Mittelalters. Eine Untersuchung am Beispiel der Reden und Träume der Sverris-Saga, Diss., Freiburg (Breisgau) 1992 [nicht eingesehen]; Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung, Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von RUDOLF HIESTAND, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 24); JEAN-CLAUDE SCHMITT: Hildegard von Bingen oder die Zurückweisung des Traums. In: Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld. Internationaler wissenschaftlicher Kongreß zum 900jährigen Jubiläum, 13.–19. September 1998, Bingen am Rhein. Hrsg. von ALFRED HAVERKAMP, Mainz 2000, S. 351–373; ISABEL MOREIRA:

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erreichte, als im 12. und 13. Jahrhundert die naturkundlichen Schriften des Aristoteles durch die Vermittlung der arabischen Philosophie über Spanien und Norditalien in das Abendland gelangten. Unter diesen Schriften waren die unter dem Titel Parva Naturalia zusammengefassten Schriften zur Seelenlehre, unter ihnen eine Schrift über den Schlaf, eine Schrift über den Traum und eine Schrift über die Wahrsagung aus Träumen, die das Niveau vorgaben, hinter das eine künftige Reflexion nicht mehr zurückfallen durfte. Und nicht zu vergessen: Dieses Niveau wurde nicht nur von Aristoteles vorgegeben, sondern durch die Kommentierung dieser Schriften durch arabische und jüdische Philosophen,12 die den großen Theologen der Hochscholastik in teilweise mangelhaften lateinischen Übersetzungen vorlagen und die Albertus Magnus in tiefer Bewunderung als Peripatetici, als genuine und authentische Mitglieder der Schule des Aristoteles apostrophiert.13 Wir beschäftigen uns also mit der Theorie und nicht mit der Volksreligion. Dass hier der Traum eine zentrale Rolle spielt, ist selbstverständlich. Die zentrale kirchliche Rechtssammlung, das Decretum Gratiani, verbietet unter vielen divinatorischen Praktiken die Verwendung eines Traumdeutungsbuches, „das fälschlich mit dem Namen des Daniel betitelt ist“14 – gemeint sind die Somnialia Danielis, eine Art Wörterbuch, das es ermöglicht, Traumbilder in die unter den Bildern bezeichnete künftige Wirklichkeit zu übersetzen.15 Daneben gab es die Somnialia Joseph – der Fiktion nach die Handbücher, die die großen biblischen Traumdeuter Daniel und Joseph zum Gebrauch für jedermann zusammengestellt haben. Zugleich gab es ein verwandtes Phänomen, die Visionsliteratur, extrakorporale Seelenreisen in jenseitige Welten: Zu nennen ist als eines unter vielen Beispielen die umfängliche, die göttliche Komödie des Dante präludierende Tradition der Jenseitsvisionen, etwa die Visio Thurkilli: ein britischer Bauer, der in einen totenähnlichen Schlaf versinkt, während dessen seine Seele eine Jenseitsreise antritt, an deren Ende er einer staunenden Gemeinde warnend vom jenseitigen

12 13 14

15

Dreams and Divination in Early Medieval Canonical and Narrative Sources: The Question of Clerical Control. In: The Catholic Historical Review 89 (2003), S. 621–642. Thomas (Anm. 10), II–II q 95; näher s. u. Vgl. Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 1 [S. 65 A Abs. 1, Z. 33ff.]; III, tract 1, cap 12 [S. 103 B Abs. 1, Z. 19] und pss. Gratianus: Concordia Discordantum Canonum, p 2 causa 26 q 7 c 16: qui adtendunt somnialia scripta, et falso in Danielis nomine intitulata (hier verwendet wurde die Edition EMIL FRIEDBERGS [Corpus Iuris Canonici, Nachdruck Graz 1959, I: Decretum magistri Gratiani). JUTTA GRUB: Das lateinische Traumbuch im Codex Upsaliensis C 664 (9. Jahrhundert). Eine frühmittelalterliche Fassung der lateinischen Somniale Danielis-Tradition. Kritische Erstedition mit Einleitung und Kommentar, Frankfurt a. M., Bern, New York 1984 (Lateinische Sprache und Literatur des Mittelalters 19); STEVEN R. FISCHER: The Complete Medieval Dreambook. A Multilingual, Alphabetical Somnia Danielis Collation, Bern, Frankfurt a. M. 1982; Die Volks-Traumbücher des byzantinischen Mittelalters. Übersetzt und hrsg. von KARL BRACKERTZ, München 1993. Vgl. auch WITTMER-BUTSCH (Anm. 11), S. 172–189.

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Geschick der Seelen berichtet.16 Eines der wirkungsreichsten Vorbilder dieser Art von Literatur sind die Berichte über ein Geschick der Seele nach dem Tod oder über Erfahrungen hinsichtlich der Zeit nach dem Tod, die etwa Papst Gregor I. im IV. Buch seiner Dialoge wiedergibt17 und die ihm als Beweis für eine Fortexistenz der Seele nach dem Tod und als mahnender Hinweis auf ihr künftiges Geschick dient – und auch folgt hier nach dem Referat vieler, offenbar verlässlicher Visionen ein Hinweis auf den Traum als Quelle des Wissens über das Jenseitsgeschick, dem Gregor mit großer Reserve gegenübersteht: Nur heilige Männer sind mittels eines inneren Gefühls (intimo sapore) dazu in der Lage, die Mitteilung eines guten Geistes – eines Engels – von falschen Vorspiegelungen zu unterscheiden; ist man nicht vorsichtig in diesen Dingen, so fällt man dem spiritus deceptor anheim,18 der Vorform des genius malignus bei Descartes. Diese Hinweise gebe ich nur um anzudeuten, dass das Thema viel umfänglicher ist und dass mich ein schlechtes Gewissen bei der hier vorgenommenen Reduktion begleitet, der Reduktion auf theorieversessene wie geschichtsvergessene systematische Theologen; und so komme ich damit eben in der Tat zur Theorie, nicht gleich zu Albertus, sondern erst zu Thomas – denn die Besonderheit und das Niveau der einschlägigen Schriften des Albertus Magnus erschließen sich besser, wenn man zunächst einige Seitenblicke auf seinen Schüler wirft.19 16 Die Vision des Bauern Thurkill. Visio Thurkilli mit deutscher Übersetzung hrsg. von PAUL GERHARD SCHMIDT, Weinheim 1987 (Acta humaniora). Verwandt ist die Visio Tnugdali: Visio Tnugdali. Lateinisch und altdeutsch. Hrsg. von ALBRECHT WAGNER, Erlangen 1882. Wohlgemerkt: Es handelt sich hier um eine andere Literaturgattung als um Traumberichte – aber die sachliche Nähe ergibt sich aus dem schlafähnlichen Zustand der Jenseitsbesucher, aus der divinatorischen Funktion der Erlebnisse und nicht zuletzt daraus, dass die Phänomene des Traums und der Vision etwa bei Gregor d. Gr. (s. u.) oder auch bei Thomas von Aquin (s. u.) oder in der Enzyklopädie des Vinzenz von Beauvais (s. u.) in einem Zusammenhang behandelt werden. 17 Gregor Magnus: Dialogi IV cap 50. Verwendete Edition: Grégoire le Grand. Dialogues, Bd. 3: Livre IV: Index et tables. Texte critique et notes par ADALBERT DE VOGÜÉ. Traduction par PAUL ANTIN, Paris 1980 (Sources Chrétiennes 265), S. 172ff. 18 Gregor (Anm. 17), S. 174, 38–176, 42 (Zeilenzählung bezieht sich auf das Kapitel). 19 Die umfängliche Abhandlung über den Schlaf und den Traum in der Enzyklopädie (Speculum maius) des (ebenfalls dem Dominikanerorden zugehörigen) Vincenz von Beauvais (vor 1200– 1264) ziehe ich nur am Rande heran; die Abhandlung stellt ein Exzerpt aus den genannten aristotelischen Schriften dar: Vincentius Burgundus: Speculum quadruplex maius, tom I (speculum naturale) lb. 26: De somno et vigilia; Ausgabe Duacum (= Douai) 1624, hier Sp. 1841–1915. Nach meinem Eindruck ist das Kapitel über den Schlaf bzw. den Traum insbesondere in der Analyse des Schlafs von Albertus’ Kommentierung beeinflusst (vgl. die Bezugnahme auf Albertus in cap 1 [Sp. 1841]); bei Vinzenz liegt aber ein höheres Gewicht als bei Albertus auf der Untersuchung des Traums als auf der des Schlafs, und in diesem Teil der Untersuchung weicht er bereits in der Fragestellung, aber auch in der Behandlung der Einflussnahme Gottes bzw. der Dämonen auf den Traum deutlich von Albertus ab: cap 63ff. [Sp. 1877 ff.]. Nach den Darlegungen zum Schlaf geht

Träume zwischen Gott und Teufel

3.

139

Der theologische Ort der Behandlung des Traums bei Thomas von Aquin

Es kommt bei diesem Blick auf Thomas nicht auf die Theorie im einzelnen an, sondern auf den Ort, an dem sich Thomas mit dem Traum und der Divination, dem Wahrsagen aus Träumen, beschäftigt. Beide Passagen finden sich in der Tugendlehre der Theologischen Summe (II–II), die eine im Traktat über die Tugend der Gerechtigkeit (II–II q 56ff.), genauer in den Ausführungen über die gerechte Grundhaltung, die Gott das Seine gibt, nämlich in den Ausführungen über die religio (II–II q 80ff.); und hier kommen die Ausführungen über den Traum zu stehen im Rahmen der Darstellung der der religio entgegengesetzten Laster (de superstitione – vom Aberglauben: q 92), eben des Lasters der superstitio divinativa, des wahrsagenden Aberglaubens:20 Grundsätzlich gehört der Umgang mit dem Wahrheitsgehalt der Träume zu den Versuchen des Menschen, von sich aus und ohne eine spezielle Offenbarung Gottes zu gewinnen, was Gott allein vorbehalten ist: das Wissen um die Zukunft.21 Freilich, so weiß Thomas natürlich,22 gibt es auch ein legitimes Wissen um die Zukunft: Wenn jemand etwa die einem Ereignis vorausgehenden Ursachen kennt und identifiziert, weiß er mit höherer oder geringerer Wahrscheinlichkeit, dass dieses Ereignis eintreten wird – das deutlichste Beispiel dafür in der Gegenwart ist die Wettervorhersage. Aber es kommt eben auch vor, dass Gott, dem alle künftigen Ereignisse jetzt schon gegenwärtig und bekannt sind, durch eine spezielle Eingebung, auch in Träumen, ein Wissen um die Zukunft vermittelt. Diese divinatio ex somniis, diese Art des Wahrsagens aus Träumen ist erlaubt. Nicht erlaubt dagegen ist das Bemühen um ein Wissen von der Zukunft, das Wahrträume durch ausdrückliches Anrufen von Dämonen zu erlangen sucht oder das sich auf das Vorhersagen von Ereignissen erstreckt, die sich menschlichem Wissen prinzipiell entziehen; dergleichen ist unerlaubter Aberglaube.23 Daran sieht man: Der Traum ist ein ambivalentes Phänomen und mit Vorsicht zu genießen. Es kann sich ebenso um einen unerlaubten Eingriff in göttliche Prärogative handeln wie um eine Teilgabe Gottes an seinem Wissen um die Zukunft. Die zweite längere Passage, in der Thomas auf den Traum eingeht, findet sich in der Darstellung der Gabe der Prophetie24 – hier gibt es verschiedene Grade der Prophetie, deren sechs unterscheidet Thomas, darunter eben den Grad, in qua manifestatur

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Vinzenz ab cap 32 [Sp. 1861ff.] zum Traum über; cap 75 [Sp. 1885ff.] Übergang zur visio, dann zur prophetia und zum raptus. Thomas (Anm. 10), II–II q 95. Thomas (Anm. 10), II–II q 95 a 1resp. Thomas (Anm. 10), II–II q 95 a 1resp. Thomas (Anm. 10), II–II q 95 a 2resp; a 3resp; a 4resp; zum Traum: a 6resp. Thomas (Anm. 10), II–II q 171–174. Im größeren Zusammenhang der Behandlung de gratia gratis data; vgl. ebd., q 171 prooem.

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supernaturalis veritas per imaginariam visionem25 – und hier gibt es eben unter anderem den Traum, der im Schlaf und die Vision, die im Wachzustand auftritt. Die Vision steht dabei höher als der Traum, aber auch innerhalb der Traumphänomene gibt es Abstufungen: Ein Traum, der nur aus Bildern besteht, ist wesentlich weniger wert als ein Traum, der selbst eine verbale Erklärung der Bilder beistellt. Es ist die Eindeutigkeit des Bezeichneten, der künftigen oder verborgenen Ereignisse, die eine Abstufung zwischen Träumen und Visionen höherer oder niedrigerer Dignität erlaubt; und vor allem stehen ein Traum oder eine Vision um so höher, je klarer und eindeutiger sie die Quelle der Vision und ihre Absicht erkennen lassen: Wo die Vision auf ein Gott zugewandtes Leben abzielt oder gar Gott selbst Gegenstand der Vision ist, da ist Anlass zu der Feststellung, dass es Gott – und nicht ein Dämon – ist, der dieses Wissen um die Zukunft oder um natürlicherweise verborgene Dinge vermittelt. Denn die von Dämonen hervorgerufenen Träume oder Visionen sind, so weiß Thomas, von der Absicht geleitet, von Gott bzw. von dem auf Gott ausgerichteten Leben wegzuführen. Die Unterscheidung dessen, was ein Dämon tut, von der Offenbarung künftiger oder übernatürlicher Dinge durch Gott stellt Thomas allerdings, wie man an dem entsprechenden Abschnitt in der Summa contra Gentiles sehen kann, vor große Schwierigkeiten; man merkt ihm an, dass Thomas am liebsten alle Gestalten der Wahrsagerei einschließlich des Traums als unerlaubte superstitio rubrizieren würde – und daran hindert ihn im Grunde nur der Umstand, dass in der Bibel selbst – selten zwar, aber prominent – Träume eine wichtige Rolle spielen: in Jakobs Traum am Jabok, mehrfach in der Josephsgeschichte und im Buch Daniel.26 Der Traum als ambivalentes, zutiefst gefährliches Phänomen – das ist der Hintergrund, vor dem ich mich nun den Traktaten des Albertus Magnus über den Traum zuwende.

25 Vgl. dazu und zum Folgenden: Thomas (Anm. 10), II–II q 174 a 3resp; „in dem eine übernatürliche Wahrheit durch eine bildhafte Schau sich darstellt“. 26 Thomas von Aquin: Summa contra Gentiles III cap 154, wo Thomas unter den Gaben der gratia gratis data die Prophetie behandelt; auf Träume und Visionen als Quelle der divinatio kommt er erst zu sprechen, als er von der Macht der Dämonen handelt, Künftiges (mit dem Ziel der Wegführung vom Glauben) zu offenbaren; er resümiert: Et licet quandoque haec disponantur voluntate divina, ministerio bonorum spirituum, quia et a Deo multa per somnia revelantur […] tamen plerumque ex operatione spirituum malignorum accidunt; ut et sancti Doctores dicunt, et etiam ipsi gentiles censuerunt „Und wenn auch dies zuweilen angeordnet wird gemäß dem göttlichen Willen, durch den Dienst der guten Geister, dass auch von Gott her vieles durch Träume offenbart wird […] erfolgen sie [die Träume] dennoch meistens aus der Wirksamkeit böser Geister, wie auch die heiligen Lehrer sagen und selbst die Heiden urteilten.“ Verwendete Edition: S. Thomae Aquinatis: Liber de Veritate Catholicae Fidei contra errores Infidelium qui dicitur Summa contra gentiles, Vol. III: Textus Leoninus diligenter recognitus, Rom 1961, S. 228–233.

Träume zwischen Gott und Teufel

141

4.

Der Charakter der Kommentierung der Schlaf- und Traumtheorie des Aristoteles durch Albertus Magnus

4.1

Die Freiheit gegenüber Aristoteles und der peripatetischen Tradition

Die Textgrundlage des Folgenden sind die drei Bücher Alberts über Schlafen und Wachen, die den oben genannten, unter die Parva Naturalia gerechneten drei aristotelischen Schriften zu Schlaf und Wachen, zum Traum und zur Wahrsagung aus Träumen kommentierend folgen.27 Diese Kommentierung verfährt aber in der für Albertus üblichen großen Freiheit nicht nur gegenüber dem Gedankengang, sondern auch gegenüber der Lehrmeinung des Aristoteles; im einleitenden ersten Kapitel kündigt Albertus an, dass er den Gedankengang des Aristoteles verlassen und durch Exkurse ergänzen werde, wo die Ausführungen des Aristoteles unbefriedigend bleiben: Quia vero librum Aristot[elis] de scientia ista habemus, sequemur eum eo modo quo secuti sumus eum in aliis, facientes digressiones ab ipso ubicunque videbitur aliquid imperfectum vel obscurum dictum.28

Neben Aristoteles treten seine Kommentatoren, die Albertus, wie gesagt, als die Peripatetici zusammenfasst: Avicenna (Ibn Sina), Averroes (Ibn Rushd), Alpharabi, Algazel, Moses ben Maimon und der antike Arzt Galen,29 die nicht nur Albertus Magnus ausführlich rezipiert, sondern die auch in anderen Traktaten zum Traum aus dem 13. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielen.30 Albertus geht mit diesen Autoritäten in gro27 Albertus (Anm. 9); Buch I entspricht der aristotelischen Abhandlung über das Wachen und Schlafen; Buch II der aristotelischen Abhandlung vom Traum; Buch III behandelt – wie der dritte einschlägige Text des Aristoteles – die Möglichkeit der Zukunftserkenntnis aus dem Traum (divinatio ex somniis). 28 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 1 [S. 65 A Abs. 1, Z. 26–30]; „Weil wir aber das Buch des Aristoteles über dieses Wissensgebiet haben, wollen wir ihm folgen in der Weise, wie wir ihm in anderen [Gebieten] gefolgt sind, indem wir von seinem Gedankengang abweichen, wo immer er etwas Unvollkommenes oder etwas Dunkles gesagt zu haben scheint.“ Digressio bezeichnet zunächst einen den Gedankengang des Aristoteles verlassenden Exkurs, dann aber eben auch eine Abweichung von der Lehrmeinung des Aristoteles oder seiner Schüler. 29 Albertus (Anm. 9); exemplarische Belege ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit: I, tract 1, cap 7 wird Galen (129–199) herangezogen; ebd., cap 9 wird u. a. Averroes [Ibn Rushd, 1126–1198] diskutiert, in I, tract 2, cap 4 wird daneben Alpharabius [al-Farabi, 870–950] zitiert, in I, tract 1, cap 1 wird u. a. Avicenna [Ibn Sina, 980–1037] und Algazel [al-Gazzali, 1058–1111] genannt, deren Traumtheorie auch in III, tract 1, cap 6 ausführlich diskutiert wird wie auch ebd., cap 7 die Theorien von Averroes, Alpharabi und Isaak Israelita [Isaak Israeli, 9. / 10. Jahrhundert]. Vgl. auch die ausführlichen Bezugnahmen auf die arabischen und jüdischen Kommentatoren und auf die antike Traumforschung in III, tract 1, cap 1 und cap 2; in cap 1 wie pss. Bezugnahme auf Rabimoyse de Aegypto [Moses ben Maimon = Maimonides, 1135–1204]. 30 CHERIFA MAGDI: Die Kapitel über Traumtheorie und Traumdeutung aus dem Kitāb at-ta'rīr fī' ilm at-tafsīr des Diyā’ ad-Dīn al-Gazīrī (7. / 13. Jahrhundert), Freiburg 1971.

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ßer Freiheit um – das betrifft gerade die Ausführungen des Aristoteles zur divinatio ex somniis, die Albertus als so unbefriedigend empfindet, dass er einer Auslegung des Textes des Aristoteles einen ganzen Traktat mit einer eigenen, von Aristoteles ebenso wie von den Peripatetikern abweichenden Position vorausschickt.31 Die Freiheit gegenüber den Autoritäten gewinnt Albertus insbesondere dadurch, dass er sie mit offenbar eigenen empirischen Beobachtungen konfrontiert und diese als Argument einführt; der Kommentar ist nicht zuletzt dadurch lesenswert, dass er immer wieder auf die Erfahrung rekurriert.32

4.2

Die Freiheit gegenüber der Theologie

Auch Thomas von Aquin deutet in seinen bereits oben angezogenen Ausführungen zum Traum an, dass er sich mit der aristotelischen Theorie des Schlafs und des Traums und mit ihrer Rezeption zumindest bei Avicenna beschäftigt hat,33 wiewohl es aus seiner Feder keinen expliziten Kommentar zu den einschlägigen Schriften des Aristoteles gibt. Thomas ist aber nicht eigentlich am Traum als naturphilosophischem bzw. psychologischem Phänomen interessiert, sondern ihn interessiert die Zuordnung und Einordnung des Traums in die klassischen theologischen Themen der Gabe und Arten der Prophetie, des Aberglaubens und seiner Formen, und ihn interessiert die Frage, wie man die Geister unterscheidet und identifiziert, die sich durch den Traum melden. Dieses Interesse und die Orientierung an den einschlägigen theologischen Parallelphänomenen teilt auch Vinzenz von Beauvais.34 Bei ihnen wie der ihnen vorausgehenden mittelalterlichen Tradition der Behandlung des Traums konzentriert sich alles auf die Theologie. Die Schriften des Albertus hingegen sind Kommentare zu Aristoteles und, so hält er ausdrücklich fest, rein physikalische Texte, am Phänomen des Schlafes, des Traums und des Wahrsagens bzw. der Prophetie interessiert ohne jeden Blick auf die Theologie: Est autem & aliud genus visionis & prophetiae secundum altissimos theologos, qui de divinis loquuntur inspirationibus, de quibus ad praesens nihil dicimus omnino: eo quod hoc ex physicis rationibus nullo modo potest cognosci: physica enim tantum suscepimus dicenda, plus secundum Peripateticorum sententiam persequentes ea quae intendimus, quam etiam ex nostra

31 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 1 – der gesamte tract 1 dieses III. Buches ist kein Kommentar. 32 Etwa Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 9 [S. 81 A Abs. 3]; häufig mit der Wendung: est per experta: ebd., II, tract 1, cap 5 [S. 86 B Abs. 2 Ende], cap 6 [S. 87 A Abs. 2, Z. 18 – hier allerdings eine traditionelle ‚Beobachtung‘], cap 7 und vielfach in III. 33 Thomas geht beispielsweise auch auf die bei Albertus Magnus vorgetragene Deutung der divinatorischen Träume als Wirkung der Himmelskörper ein: Thomas (Anm. 10), II–II q 95 a 6resp, dazu vgl. unten. 34 Vinzenz von Beauvais (Anm. 19), cap 32ff. (Sp. 1861ff.).

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scientia aliquid velimus inducere: si quid enim forte propriae opinionis haberemus, in theologicis magis quam in physicis, Deo volente, a nobis proferetur.35

Dieser Ansatz ist typisch für die strikte Unterscheidung der Philosophie von der Theologie, die Albertus vornimmt; seine Theorie vom Schlaf, vom Traum und von der Weissagung aus Träumen ist rein naturwissenschaftlicher Art. Ihm geht es darum, eine schlüssige Theorie nach peripatetischen Maßstäben zu rekonstruieren – und ebenso geht er beispielsweise vor in der Rekonstruktion der Gotteslehre der Metaphysik des Aristoteles: Wie sich das zur christlichen Theologie fügt, ist ausdrücklich nicht seine Sorge.36

5.

Die Theorie des Schlafs, des Traums und der Zukunftsweissagung aus Träumen

5.1

Aufbau

Doch der Weg zum Traum und zur Frage, ob der Traum Wahrheiten vermittelt, ist schwierig. Zwar zielen bei Aristoteles ebenso wie bei den meisten seiner Kommentatoren alle Ausführungen zum Schlaf auf eine Theorie des Traums, und alle Ausführungen zum Traum laufen auf die Frage zu, ob dem Traum ein Wissen über die Zukunft abzugewinnen ist – aber es gilt eben auch umgekehrt: Die rein doxographisch meist rasch mit ja oder nein zu beantwortende Frage, ob der Traum etwas über die Zukunft sagt, erschließt sich erst, wenn man im Allgemeinen weiß, was der Traum ist; und man versteht auch erst, was der Traum ist, wenn man weiß, was der Schlaf ist; und so lässt sich das fortsetzen: Man begreift erst, was der Schlaf ist, wenn man die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung einerseits und die Theorie der Verdauung andererseits kennt, die Albertus voraussetzt. Und wenn ich dieses Hintergrundwissen aufzähle, das man haben müsste, um zu begreifen, dass es zu so etwas wie einem Traum kommen kann, dann

35 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 12 [S. 103 B Abs. 1, Z. 13–24]; „Es gibt aber auch eine andere Art der Schau und der Prophetie gemäß den höchstgestellten Theologen, die von göttlichen Inspirationen sprechen, von denen wir gegenwärtig überhaupt nichts sagen, und zwar deshalb, weil die durch naturphilosophische Gründe (de physicis rationibus) auf keine Weise erkannt werden kann. Nur über naturphilosophische Sachverhalte haben wir uns vorgenommen zu sprechen, folgen mit dem, was wir darstellen, eher der Meinung der Peripatetiker, als dass wir aus unserer [eigenen] Wissenschaft etwas einführen wollen. Wenn wir [darüber hinaus] möglicherweise eine eigene Ansicht haben, wird diese in theologischen Abhandlungen eher als in naturphilosophischen – so Gott will – von uns vorgetragen werden.“ Vgl. III, tract 1, cap 3. 36 Vgl. etwa die einschlägigen Passagen der Gotteslehre im Metaphysikkommentar: Metaphysica XI, tract 1, cap 9 [Opera omnia 16,2, Münster 1960, S. 473 B 92ff.]; tract 2, cap 1 [S. 482 A 23ff.]; cap 10 [S. 496 B 63ff.]; tract 3, cap 7 [S. 542 B 20–31 (Zeilenzählungen beziehen sich jeweils auf das Kapitel)].

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wird der Leser mir dankbar sein, wenn ich nur die Grundzüge nachvollziehe und viele Details auf sich beruhen lasse.37

5.2

Die Theorie des Schlafs

5.2.1 Der Schlaf als passio der Sinne Beginnen wir mit dem Schlaf; ich stelle Albertus Magnus dar ohne ständigen Verweis darauf, ob, dass und inwiefern er Aristoteles folgt. Die wichtigste Feststellung ist die, dass der Schlaf eine passio ist, also ein Vorgang, der durch etwas ausgelöst ist und sich an einer aufnahmefähigen Grundsubstanz vollzieht. Diese für den Schlaf (und das Wachen) aufnahmefähige Fundament bilden – das ist die zweite These – die Sinne und nicht etwa auch der Ernährungsapparat oder nur das intelligible Erkenntnisvermögen.38 Dass nicht nur der Intellekt vom Schlaf betroffen ist, zeigt sich daran, dass nicht nur beim Menschen, sondern bei allen Lebewesen, die über Sinneswahrnehmungen verfügen, Schlafphasen zu beobachten sind.39 Vom Schlaf betroffen zu sein ist nicht dem Menschen vorbehalten, betroffen vom Schlaf ist damit auch nicht primär die Geistseele – dergleichen haben Tiere nicht, und sie schlafen doch. Pflanzen hingegen – wir brauchen diese Diskussion bei Albertus nicht nachzuvollziehen40 – schlafen nicht; der Schlaf ist vielmehr eine Art Lähmung der Sinnesvermögen und folgeweise auch der Bewegungsfähigkeit.

5.2.2 Die Funktion des spiritus Damit ist sofort deutlich, dass der Schlaf ein hochkomplexes Phänomen ist, denn er betrifft mit der Sinnlichkeit ein Vermögen, das nicht fein säuberlich auf die Seele oder auf den Körper verteilt werden kann, sondern das ein hoch differenziertes psychophysisches Vermögen ist, das also körperliche Organe zur Grundlage hat, die aber von einem Zentrum bestimmt werden, das ‚Seele‘ heißt und diesen Organen die Lebendigkeit und die Tätigkeit gibt, die sie für sich allein nicht haben.41 Unschwer ist das, so 37 PAUL DIEPGEN: Traum und Traumdeutung als medizinisch-naturwissenschaftliches Problem im Mittelalter, Berlin 1912; HANS SCHADEWALDT: Die mittelalterliche Physiologie des Traumgeschehens. In: HIESTAND (Anm. 11), S. 207–223; BERT ROEST: Divination, visions and prophecy according to Albert the Great. In: Media latinitas. A collection of essays to mark the occasion of the retirement of Lodewijk J. Engels. Hrsg. von RENÉE INEKE APOLONIA NIP u. a., Steenbrugge 1996 (Instrvmenta patristica 28), S. 323–328. 38 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 3. 39 Albertus diskutiert diese Frage in Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 4 und – unter Berücksichtigung offensichtlich eigener Beobachtungen zu den Schlafgewohnheiten einzelner Tierarten – in cap 6 [bes. S. 68 B Abs. 2 / 69 A Abs. 1]. 40 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 3 [S. 66 B Abs. 3ff.]. 41 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 3 [S. 66 A Abs. 3, Z. 6–30].

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würde Albertus vermutlich sagen, im Tod erkennbar: Das Organ ist dann immer noch unversehrt, aber es funktioniert nicht, weil die Seele fehlt. Das Zusammenwirken von Seele und Körper ist auf vermittelnde Instanzen angewiesen, deren wichtigste der spiritus ist,42 Geist, eigentlich eine Instanz, die erst in den späten aristotelischen Schriften ausdrücklich eingeführt wird. Spiritus ist nichts ‚Geistiges‘ im Sinne von etwas ‚Immateriellem‘, sondern eine Art Materie – ein ‚feiner Körper‘, ‚etwas zwischen Luft und Wasser‘, sagt Albertus,43 es entsteht aus der Feuchtigkeit der Speise, ist der Lebensgeist – wir spüren ihn, wenn wir lange gehungert haben und nach einem guten Essen die Lebensgeister zurückkehren.44 Der spiritus ist ein buntes, bewegliches, Veränderungen unterworfenes Phänomen, denn durch dieses Instrument vollzieht die Seele eines Lebewesens alle ihre unterschiedlichen Akte in den unterschiedlichen Organen: Durch den spiritus verdaut sie, durch den spiritus wirkt sie in den Sinnesorganen, durch den spiritus verleiht sie dem Körper Leben: Est igitur instrumentum animae directum ad omnes operationes eius: & ideo movetur sursum, & deorsum, & ad latera, & est vehiculum vitae & omnium operationum vitae quae est ab anima, & omnium virtutum eius.45

Dieser spiritus ist wandelbar und tritt beim Menschen in unterschiedlichen Modifikationen an unterschiedlichen Orten auf; sein Ausgangspunkt ist das Herz, der Ort der Wärme; er geht von dort aus zur Leber als spiritus naturalis und wirkt dort Verdauung, die Umwandlung und Assimilation von Nahrungsmitteln; er geht weiter mit der Körperwärme zum Hirn als spiritus animalis, bedingt dort das Wahrnehmen, Denken und so fort. Dieser mit der Körperwärme verbundene und mit ihr fließende Lebensgeist aktiviert also auch die Sinnesorgane und entströmt ihnen; und wo dieser Lebensgeist nicht ist, verlieren die Sinnesorgane ihre Aktivität.46

42 Zum Folgenden vgl. den knappen Exkurs des Albertus zu diesem Thema: Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7 [S. 69 B–70 B]. 43 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7: corpus subtile [S. 69 B Abs. 1, Z. 4]; secundum naturam inter aërem & aquam medium [S. 69 B Abs. 1, Z. 5f.] („Gemäß der Natur [ist es] die Mitte zwischen Luft und Wasser“). 44 confortatur multum corpus ex multitudine spiritus; Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7 [S. 69 B Abs. 1, 12f.]. 45 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7 [S. 69 B Abs. 1, Z. 19–23; vgl. S. 70 A Abs. 1, Z. 35–45]; „Er [der spiritus] ist ein Instrument der Seele, das auf alle ihre Tätigkeiten ausgerichtet ist; und daher bewegt er sich nach oben und nach unten und zur Seite und ist ein Fortbewegungsmittel des Lebens und aller Tätigkeiten des Lebens, die von der Seele ausgehen, und aller seiner [des Lebens] Kräfte.“ 46 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7 [S. 69 B Abs. 1]; zur Bewegung des spiritus vgl. auch ebd., tract 2, cap 3.

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5.2.3 Schlaf als notwendige Regeneration Die Deutung des Schlafes bei Albertus setzt diese Instanz des spiritus voraus. Zunächst einmal hat der Schlaf eine biologische Funktion: Im Gebrauch der Sinne ermüdet der Mensch, weil er dabei beständig die Lebenskraft des spiritus und die natürliche Wärme des Körpers verströmt; ohne eine Phase der Regeneration, des Sammelns der Lebenskräfte, stirbt ein Lebewesen.47 Das impliziert weiter die von Albertus unterstrichene und auf den zweiten Blick in der Tat nicht selbstverständliche Einsicht, dass der Schlaf um des Wachens willen ist und nicht umgekehrt.48 Der Schlaf ist eine Umkehrung der nach außen gerichteten Lebensbewegung des Wachzustandes, ein ‚nach innen Gehen‘, eine Kräftigung des inneren Sinnes (sensus spiritualis) durch das Unterbrechen der kräftezehrenden körperlichen Sinnestätigkeit.49

5.2.4 Die Entstehung des Schlafes Zur Erklärung der Entstehung des Schlafes geht Albertus von der Beobachtung aus, dass sich der Schlaf häufig nach einem guten Essen mit reichlich Wein einstellt: Der Kopf wird schwer und sinkt auf die Brust, eine ungeheure Schwere legt sich auf die Lider, wir können sie nicht mehr offenhalten, der gesamte Mensch sackt in einer nach vorn gerichteten Abwärtsbewegung im Stuhl oder Sessel zusammen.50 Diese äußere Bewegung entspringt einer inneren Bewegung beim Verdauungsvorgang, der noch nicht eigentlich im Magen, sondern in der Leber beginnt: Warme Säfte und Dämpfe entstehen durch die Feuchtigkeit der Speise, die wie alles Warme in einem raschen Strom durch die Adern des Körpers51 mit dem Blut nach oben in den Kopf steigt wie – so das ausdrücklich verwendete Bild – Wasserdampf vom Meer durch die Wärme der Sonne aufsteigt,52 oder wie bei der Destillation von Rosenwasser.53 Und wie der Was47 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 8 [S. 70 B Abs. 2, Z. 31f.]; ebd., tract 2, cap 2 sowie 3 [S. 75 B Abs. 1, Z. 8–10]. 48 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 8 [S. 70 B / 71 A]. 49 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 9; vgl. ebd., tract 2, cap 2. 50 Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 7 [S. 79 A Abs. 1, Z. 51–54 und Kontext]; vgl. auch ebd., cap 9 [S. 81 A Abs. 1, Z. 4–6]. 51 Albertus legt großen Wert auf die Rückbindung des Verdauungsvorganges an die anatomischen Gegebenheiten, die vom Herz nach oben und nach unten führenden Hauptschlagadern einerseits und die Anatomie der Herzkammern andererseits: Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 10 [S. 82 B Abs. 1, Z. 4ff.]; ebd., tract 2, cap 6 [S. 78 A Abs. 1, Z. 5–17]; ebd., cap 7 [S. 78 B Abs. 2, Z. 9– 16]; ebd., cap 10 [S. 82 B Z. 1ff.]. 52 Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7 [S. 70 A Abs. 1, Z. 23–34], vgl. ebd., tract 2, cap 3 [S. 75 B Abs. 1, Z. 17–21]; ebd., cap 9 [S. 81 B Abs. 2, Z. 10–21]. Mir scheint insgesamt die Deutung des Menschen als Mikrokosmos ein Schlüssel zu diesem Traktat zu sein – vgl. neben den genannten Stellen auch die später eingeführte Entsprechung von spiritus und dem lumen radiale, durch das die intelligentiae den Kosmos lenken: Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 8 [S. 99 A Abs. 1, 52f.].

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serdampf sich in den kalten Regionen der Luft abkühlt und als kalter Regen zurückfällt, so steigt auch diese von der Verdauung ausgelöste Bewegung des Blutes und der Körpersäfte über den Hinterkopf auf, kühlt sich im Gehirn, das ein kaltes Organ ist, ab und fällt als feuchte Kälte über die Stirn und das Gesicht wieder ab. Dort, an der Stirn, sitzt der sensus communis, das Zentrum der Sinne.54

5.2.5 Sensus communis Was das ist, kann man sich sehr einfach klarmachen, wenn man sich fragt, warum wir eigentlich Töne einerseits und Farben andererseits unterscheiden und doch einem Gegenstand zuordnen können.55 Am Ohr und am Auge, die jeweils auf Töne und Farben spezialisiert sind, kann es nicht liegen, denn ein Ohr hat keinen Zugang zur Farbe und kann daher nicht Farbe und Ton unterscheiden; vielmehr liegt das daran, dass die Sinneseindrücke nicht säuberlich getrennt bleiben, sondern wie die Achsen eines Rades auf ein Ganzes, die Nabe hin vermittelt werden und in einem Grundsinn zusammenlaufen – eben dem sensus communis. In ihm laufen nicht nur alle Nervenbahnen von den Sinnen aus zusammen, sondern von ihm aus strömt den einzelnen Sinnen – dem Auge und dem Ohr – der spiritus zu, der ihre Tätigkeit ermöglicht. Es ist – nun sehr verkürzend gesprochen – dieser sensus communis, an dem sich der Strom der kalten Feuchtigkeit niederschlägt; er ist vom Schlaf betroffen, was man daran merkt, dass der Schlaf niemals nur einzelne Sinne betrifft (so dass das Auge schliefe, während das Ohr wach wäre), sondern der Schlaf überfällt alle Sinne gleichzeitig: Vom sensus communis aus zieht sich die Wärme und damit der Lebensgeist aus den Sinnesorganen zurück; der gesamte Lebensgeist kann sich damit in der Leber versammeln – der Mensch ist konzentriert auf die Verdauung – und erst wenn dieser Prozess abgeschlossen ist, wenn die wilde Bewegung des Aufstiegs der Säfte beendet ist, wenn sich die leichteren, aufsteigenden Säfte von den schwereren, absinkenden getrennt haben, dann steigen diese reinen und leichten Säfte auf, die nicht lange im Gehirn bleiben und daher nicht so leicht abkühlen. So wird dem sensus communis und von dort aus den Sinnesorganen wieder Wärme und Lebensgeist zugeführt: Der Mensch erwacht. Insgesamt: Der Schlaf ist ein Rückgang zunächst der Wärme, dann des Lebensgeistes von außen nach innen, eine notwendige und heilsame Gegenbewegung gegen den Wärme- und Lebensgeistverlust, den das Wachen und die Wahrnehmung darstellt.

53 Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 7 [S. 78 B Abs. 2, Z. 18–24]. 54 Albertus stellt den beschriebenen Vorgang mehrfach dar: Albertus (Anm. 9), I, tract 1, cap 7 [S. 69 B Abs. 1], und dann bes. ebd., tract 2, cap 3 und cap 6–7 und 9. Zum Kopf bzw. zur Stirn als Sitz des sensus communis: ebd., tract 2, cap 3 [S. 76 A Abs. 3]; cap 7 [S. 79 A Abs. 1, 10–20]. 55 Vgl. zum Folgenden Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 1. Albertus stellt den sensus communis als ein Wahrnehmen der Wahrnehmungen vor; der ‚innere Sinn‘: ebd., [S. 73 A Abs. 1, Z. 7–11].

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5.2.6 Auslöser des Schlafs Dabei ist deutlich, dass nicht nur die Verdauung diese Wirkung hat, sondern diese Grundbewegung der Konzentration nach innen, die den Schlaf hervorruft, kann auch anders ausgelöst werden: Körperliche Arbeit und Erschöpfung – das übermäßige Hinaustreten der Körperwärme und des Lebensgeistes nach außen, lösen eine Gegenbewegung der Konzentration aus.56 Oder: Et similiter accidit quando aliquis profunde cogitat de re aliqua apud se, & maxime subtili & divina, quae vix simile habet in exterioribus corporis: tunc enim animae vigor ingreditur intra seipsum, & similiter sensus communis, & retrahit secum spiritus ab exterioribus organis: & relictis exterioribus a spiritu & calore gravat ea frigiditas, & incipit homo dormitare.57

Und nun weiß man, warum man beim Lesen abstrakter, gar theologischer Aufsätze einschläft: Nicht etwa, weil der Text unanschaulich und langweilig oder man selbst unkonzentriert ist, sondern weil man sich von der Anschauung abwendet und zu sehr auf das Innere konzentriert. Ja noch mehr: Et est hoc quod homines dormiunt quando audiunt ea de quibus subtiliter cogitant, vel quando sine auditu tractant ea apud seipsos.58

Damit weiß man, warum man zuweilen bei einem Vortrag, der sich mit den Subtilitäten der peripatetischen Verdauungslehre befasst, einzuschlafen droht. Und Albertus kann auch verständlich machen, dass man im Konzert einschläft.59

5.2.7 Zusammenfassung Bevor der Leser nun aber einschläft, kehre ich zurück zu Albertus, und komme nun wirklich zum Traum – nachdem ich in einem knappen Zitat noch einmal die Theorie des Schlafes zusammengefasst habe: Cum enim infrigidatus humor primo tangit organum sensus communis, quod est ab anterioribus capitis & cerebri, tunc continue tangit nervos sensuum particularium ad sensum communem directos: & cum immutet in eis qualitatibus quae sunt frigus & humor, ut inferius patebit,

56 Vgl. zum Folgenden Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 4, vgl. auch cap 8. 57 Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 4 [S. 76 A Abs. 4, Z. 14 – S. 76 B Abs. 1, Z. 7]; „Und ebenso geschieht es, wenn jemand tief nachdenkt bei sich über eine Sache, und insbesondere über eine besonders schwierige und göttliche Sache, die kaum eine Ähnlichkeit mit äußeren Körpern hat; dann nämlich wendet sich die Kraft der Seele auf ihr Inneres, und ebenso der sensus communis und zieht die Lebenskraft ab aus den äußeren Organen – und entleert vom Lebensgeist und von der Wärme werden sie schwer durch die Kälte, und der Mensch fängt an zu schlafen“. 58 Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 4 [S. 76 A Abs. 4, Z. 14 – S. 76 B Abs. 1, Z. 7–10]; „Und daran liegt es, dass Menschen einschlafen, wenn sie von etwas, worüber man tiefsinnig nachdenkt, hören, oder wenn sie das unhörbar mit sich selbst behandeln.“ 59 Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 4 [S. 76 A Abs. 4, Z. 14 – S. 76 B Abs. 1, Z. 10–21].

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immutat & immobilitat in eis virtutem tactus, in qua fundantur aliae: & sic omnes ligantur & immobilitantur.60

5.3

Der Traum

Damit ist deutlich, dass der Schlaf zunächst eine durch den Rückzug der Wärme und des spiritus hervorgerufene Lähmung der Sinne im Ausgang vom Sinneszentrum ist, mit der Folge, dass auf die Sinne von außen keine Reize mehr einwirken können. Aber wenn das richtig ist: Wie kann es dann im Schlaf zu Träumen kommen? Der Traum ist schließlich ein Berührtwerden der Sinne,61 die aber doch für das Äußere geschlossen sind. Die Bilder können somit nicht von außen in die Sinne gelangen, und so bleibt nur die Möglichkeit, dass im Traum die Sinnesorgane affiziert werden durch Bilder, die im Inneren des Menschen aufsteigen, aus dem Inneren des Kopfes oder des Körpers:62 somnium autem quoddam phantasma videtur esse per experta: […] manifestum est igitur, quoniam partis sensibilis animae est somniare, non quidem sensibilis, secundum quod simpliciter est sensibile, quia sic fit in actu ab exterioribus, sed sensibilis est secundum quod sensibile efficitur phantasticum informatum & affectum a phantasmate: hoc autem est quod diximus in principio, quod somnium incipit a phantasia vel imaginatione, & terminatur ad sensibilem particulam animae: & e converso vigilia incipit a sensu, & terminatur ad imaginationem & memoriam & opinionem & intellectum in aliquibus. Est ergo phantasma somnium faciens non simpliciter factum: quia sic esset a rebus factum, sed est factum quodammodo per reversionem evaporationis tenuis & lucidae, quae in somno ab interiori capitis revertitur ad principium organorum sensibilium: deceptio autem in his fit a vinculo detinente iudicium potentiarum animae, quae possunt discernere verum & falsum in phantasmatum collatione secundum compositionem & divisionem facta.63 60 Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 1 [S. 73 A Abs. 1, Z. 6 von unten – B Abs. 1, Z. 3]; „Wenn nämlich die kaltgewordene Feuchtigkeit zuerst das Organ des Sinneszentrums berührt, das vorn am Kopf und am Hirn sitzt, dann berührt sie folgeweise die Leitungsbahnen der einzelnen Sinne, die auf das Sinneszentrum hinführen. Und wenn sie sie verändert durch die Qualitäten der Kälte und der Feuchtigkeit, wie unten deutlich werden wird, dann ändert und lähmt sie in ihnen die Kraft des Tastsinns, auf dem die anderen Sinne aufbauen. Und so werden sie [die Sinne] alle gebunden und gelähmt.“ Ich übergehe ein Detail, nämlich Albertus’ Theorie über die fundierende Funktion des Tastsinns; ebd., cap 1; sie ist interessant, aber für einen Überblick über den Gedankengang nicht unverzichtbar. 61 Albertus schließt damit die Möglichkeit aus, dass der Traum eine Täuschung der pars intelligibilis der Seele sein könnte – wir träumen nicht nur abstrakte Wesensformen, sondern wir träumen konkrete Einzeldinge und -ereignisse, die nur die Sinne vermitteln können: Albertus (Anm. 9), II, tract 1, cap 1. 62 Vgl. Albertus (Anm. 9), II, tract 1, cap 1 [S. 83 B Abs. 1, Z. 37–42]; damit wendet sich Albertus gegen die alternative Möglichkeit, dass die Bilder gleichsam in den Sinnesorganen selbst ‚aufbewahrt‘ sind. Vgl. zur Physiologie der Einbildungskraft auch: SCHADEWALDT; DIEPGEN; ROEST (alle Anm. 37). 63 Albertus (Anm. 9), II, tract 1, cap 4 [S. 86 A Abs. 1, Z. 29–54]; „Der Traum scheint, so lehrt die Erfahrung, eine Art inneres Bild [phantasma] zu sein. […] Es ist allerdings offensichtlich – da ja

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5.3.1 Der Traum als ‚von innen‘ erfolgende Reizung der Sinne Dies ist der Rahmen. Um dies als plausible Beschreibung der Entstehung des Traums auszuweisen, muss Albertus zum einen die Frage beantworten, wie es zur beschriebenen Umkehrung des Wahrnehmungsvorgangs kommen kann, und zweitens erklären, wie es zu dem phantasma kommt, das den eigentlich untätigen Sinn anregen kann.64 Zur Plausibilisierung der zweiten Frage verweist er darauf, dass ein Wahrnehmungsgegenstand nicht etwa nur im Moment der Wahrnehmung, sondern auch nach der aktuellen Wahrnehmung die Sinne prägen kann – wie auch ein Pfeil fliegt, nachdem er die Bogensehne, die ihn vorwärtsbewegte, schon verlassen hat; Albertus verweist auf das Phänomen der Nachbilder, die der Niederschlag eines Wahrnehmungsgegenstandes sind und die in den äußeren Sinnen gegenwärtig bleiben auch dann, wenn man den Blick von den Gegenständen – etwa der Sonne – abgewendet hat; so bleibt auch im sensus communis gleichsam ein Nachbild der Wahrnehmungen.65 Die zweite Frage beantwortet Albertus mit dem Hinweis, dass die Sinne des Menschen nicht nur passiv Einwirkungen der Sinnesgegenstände aufnehmen, sondern selbst auch auf benachbarte Körper einwirken können. Albertus trägt hier als Beispiel die nicht nur von ihm vertretene Behauptung vor, dass ein neuer, klarer Spiegel sich durch den Blick einer menstruierenden Frau rot färbt,66 zweitens verweist er darauf, dass beispielsweise auch Lebensmittel – Wein – den Geschmack benachbart liegender Lebensmittel annehmen können. Daraus folgert er, dass – wenn schon derartige Einwirkungen nach außen möglich sind, die äußeren Sinnesorgane um so leichter von den Bildern in cella anterioris capitis – im Gehäuse der Vorderseite des Kopfes – infor-

der zu Sinneswahrnehmungen fähige Teil der Seele träumt – nicht sinnlich wahrnehmbar, wie etwas schlichtweg sinnlich wahrnehmbar ist, denn so würde es ausgelöst von äußeren Gegenständen. Es ist vielmehr sinnlich wahrnehmbar, wie eine Einbildung sinnlich wahrnehmbar wird, die von einem inneren Bild eingeprägt und ausgelöst ist. Und darum sagten wir am Anfang, dass der Traum beim inneren Bild und bei der Vorstellung einsetzt und abzielt auf den sinnlichen Teil der Seele; und umgekehrt fängt der Wachzustand von den Sinnen an und zielt auf die Vorstellung und die Erinnerung und die Urteilsbildung und das Verstehen von etwas. Das Traumbild ist nicht einfach ausgelöst, denn dann wäre es von äußeren Dingen ausgelöst, sondern es ist in gewisser Weise ausgelöst durch die Umkehr der zarten und lichten Ausdünstung, die im Schlaf vom Inneren des Kopfes zurückfließt zum Ursprung der Sinnesorgane [zum inneren Sinn]. Die Täuschung aber [über die Wirklichkeit des phantasma] stammt von der Fessel, die die Urteilsfähigkeit der Seele gefangen hält, die wahr und falsch unterscheiden kann, die bei der Aufnahme der inneren Bilder nach der Verbindung und Trennung erfolgt ist.“ Vgl. die vorgreifende Darstellung der These: Ebd., cap 1 [S. 84 A Abs. 3, Z. 16–30]. 64 Albertus (Anm. 9), II, tract 1, cap 5. 65 Albertus (Anm. 9), II, tract 1, cap 5 mit sehr schönen Beobachtungen; zur Übertragung auf den sensus communis: S. 87 A Abs. 1, Z. 18–26. 66 Albertus (Anm. 9), II, tract 1, cap 6.

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miert werden können, mit denen sie durch Nerven verbunden sind:67 Der ‚innere Sinn‘ bzw. die Einbildungskraft schlägt sich in den Sinnesorganen nieder. Dieser Vorgang der Einwirkung des Inneren auf die Sinne findet ständig statt, sagt Albertus, wird jedoch vom Menschen immer in der Ablenkung durch die äußeren Sinneseindrücke übersehen. Wir sind im Wachen nach außen konzentriert, von der Welt und ihrer Bewegtheit gleichsam aufgesogen – das ist ein mystisches Motiv bei dem nüchternen Philosophen: Erst wenn die äußeren Eindrücke schweigen, dann melden sich die inneren Bilder:68 Dabei gibt es durchaus auch im Wachzustand, so sagt Albertus, Vorgänge, die dem entsprechen, was sich im Schlaf abspielt: dass Einbildungen sich in Sinneswahrnehmungen niederschlagen. Er gibt ein Beispiel: Ein Kind, das in einem dunklen Keller ist, in dem es nichts sieht, ist gleichsam in dem Zustand, dass seine Sinnesorgane ihm nichts vermitteln; aber es steigen äußerst lebendige Einbildungen von Gefahren aus seinem Inneren auf, die eine solche Macht entfalten, dass das Kind sich einbilden kann, es erfahre im Dunkeln die Berührung einer fremden Wirklichkeit. Die rein innere Einbildung schlägt sich in den durch die Dunkelheit untätig gewordenen Sinnen nieder.69

5.3.2 ‚Innere Bilder‘ Diese inneren Bilder, die in der Einbildungskraft des Schlafenden auftreten, muss man sich also zunächst wie Nachbilder des einst Gesehenen vorstellen: Wie wir, wenn wir in die Sonne sehen und dann die Augen schließen, einen schwarzen, allmählich die Farbe wechselnden Fleck auf hellem Hintergrund sehen,70 so bleiben Bilder dessen, was wir gesehen haben, über die aktuelle Wahrnehmung hinaus nicht nur in unseren Sinnesorganen, sondern im Vorstellungsvermögen haften. Diese Bilder, die im Sitz des Vorstellungsvermögens entstehen, teilen sich nun auch anderen Medien mit, die gleichsam zum Spiegel dieser Bilder werden. Das gilt zunächst für den Strom von Blut und Körpersäften, der im Schlaf vom Herz über die Leber zum Hirn strömt; solange dieser Strom angereichert ist mit schweren Bestandteilen und heftig bewegt ist, d. h.: Am Anfang der Verdauung transportiert er nur undeutliche Bilder und Eindrücke, wie in einem trüben, wirbelreichen Strom Gegenstände nicht sichtbar bleiben, sondern nur einen weiteren Wirbel auslösen; gegen Ende des Verdauungsvorgangs, wenn sich in einem physiologischen Trennvorgang das schwere, nach unten tendierende Blut vom leichteren, nach oben tendierenden gelöst hat, kurz vor dem Erwachen also, ist dieser Strom ruhiger und ein gleichsam durchsichtiges Medium, das zum Transport von Bildern besser geeignet ist; während man zu Beginn des Schlafs unruhige, sich vielfältig

67 68 69 70

Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 6 [S. 88 A Abs. 4, Z. 12f.]. Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 1. Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 4 [S. 92 A Abs. 1, Z. 1–18]. Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 5 [S. 86 B Abs. 2 und 3 / 87 A Abs. 1].

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wandelnde und verzerrte Traumbilder hat, zeigen sich dann, wenn der Verdauungsvorgang zu einer Trennung der Säfte geführt hat, reine und klare Bilder.71 Das hat dann zur Folge, dass sich an den Leitungen der Sinnesorgane die den Bildern entsprechenden Wahrnehmungen manifestieren – und das ist genau die Umkehrung des Vorgangs der Wahrnehmung, auf die Albertus in dem eben gebotenen Zitat hinweist und auf den Freud sich im eingangs zitierten Satz bezogen hatte: Das phantasma, die Einbildung schafft sich ihre Wahrnehmung.

5.3.3 Die Herkunft der Bilder Die Träume sind nach dem Bisherigen Täuschungen. Möglich werden diese Täuschungen, weil das Urteilsvermögen durch die Ruhigstellung des inneren Sinnes und aller Sinne behindert ist: Durchschnittlicherweise decken wir Sinnestäuschungen dadurch auf, dass wir die Fehlwahrnehmung eines Sinnes durch einen anderen falsifizieren.72 Albertus verweist auf die Sinnestäuschung, die entsteht, wenn man mit geschlossenen Augen eine Kugel zwischen die überkreuzten Finger einer Hand nimmt und dadurch der Eindruck entsteht, dass man es mit zwei Kugeln zu tun hat; die Täuschung verfliegt bzw. wird durchschaut, sobald man die Augen öffnet. Diese Möglichkeit der Prüfung der Wahrnehmung mittels anderer Sinne steht wegen der Inaktivität der Sinne bzw. des sensus communis, der für diesen urteilenden Vergleich zuständig ist, im Schlaf nicht zur Verfügung.73 Die Bilder des Traums verraten – darin ist sich Freud mit Aristoteles einig – bisweilen mehr über den Träumenden als über die Wirklichkeit außerhalb von ihm; denn zum Entstehen und zu der Art der Bilder tragen viele Einflüsse bei: Darunter die Gewohnheit. Die Sitten. Schauspiele, die man gespannt angesehen hat – heute würde man die Filme dazurechnen. Die Studien, die man betrieben hat und die einen bis in den Traum nicht loslassen. Und – auch hier präludiert Albertus Freud – die Wünsche (desideria), die den Menschen umtreiben und die er sich verbietet, verfolgen uns bis in den Traum, wie gerade die damaligen Mönche sehr genau wussten. Insgesamt sei auch die morali-

71 Vgl. Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 1 und 2 [bes. S. 89 B Abs. 3 / 90 A Abs. 1]; vorausgesetzt ist dabei die aristotelische Deutung des Wahrnehmungsvorgangs, nach dem sich die Formen des Wahrnehmungsgegenstandes durch ein Medium (bei Sehen etwa die Luft) bis zum Sinnesorgan fortsetzen und ihm die jeweilige Form einprägen; hier fungiert die Körperflüssigkeit als Medium, durch das die Bilder zu den Sinnesnerven transportiert werden [vgl. bes. S. 89 B Abs. 2, 3–10]. 72 Die Instanz, die diesen Vergleich vornimmt, ist der sensus communis: Albertus (Anm. 9), I, tract 2, cap 1 [S. 73 A Abs. 1, Z. 11f.]. 73 Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 2 [S. 90 B Abs. 1, Z. 19ff.], vgl. ebd., tract 1, cap 7 [S. 88 B Abs. 1 am Ende], dort [Abs. 2] auch das Kugelexperiment; dazu CHRISTOPH VON CAMPENHAUSEN: Die Sinne des Menschen. Einführung in die Psychophysik der Wahrnehmung, 2 Bde., Stuttgart, New York 21993, Bd. 1, Kap. II, S. 12f.

Träume zwischen Gott und Teufel

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sche Grundhaltung in Rechnung zu stellen – ein Gerechter hat andere Träume als ein Ungerechter.74

5.4

Der Zukunft erschließende Traum

Damit sind alle Voraussetzungen bereitgestellt für die Frage nach der divinatio ex somniis, für die Frage also danach, ob (und wenn ja: von wem) im Traum dem Menschen Informationen über künftige oder dem Erkennen verborgene Ereignisse mitgeteilt werden; diese Frage hat keine spezifisch christlichen Implikationen75 – auch Aristoteles behandelt sie in einer eigenen Schrift, die immer im Zusammenhang der Frage nach dem Schlaf und nach dem Traum mitkommentiert wird.

5.4.1 Kritik an den Aristotelikern und das Beweisziel: Eine vernünftige Theorie der divinatio ex somniis Gleich zu Beginn markiert Albertus, wie schon gesagt, eine tiefe Unzufriedenheit mit den Auskünften der Peripatetiker: Sie verlassen, so stellt er fest, die Lehrtradition der eigenen Schule und halten sich an die Stoiker und Epikureer. Die entsprechenden Ausführungen des Aristoteles seien knapp, ohne plausible Beweise, und auch sonst unvollkommen; Aristoteles, so scheint es Albertus, unterschätzt die Möglichkeiten für die Deutung von Träumen, die sich aus einem richtigen Verständnis des Entstehens solcher Träume ergeben, wenn er den Magiern und Sternkundigen die entscheidende Deutungshoheit zuweist: Et hoc ipsum quidem de divinatione dicit Aristot[eles] breve quidem est & imperfectum, & habens plurimas dubitationes. […] Imperfectum autem est: quoniam licet sine magicis & astronomicis non possit esse ars interpretandi somnia adipisci, tamen solis physicis sufficienter scitur ex quibus & qualibus simulachris consistit somnium de quo debet esse divinatio: & hoc neque ab Arist[otele] neque a Philosophis quicquam determinatum est. Plurimas autem dubitationes habet: quia in incerto relinquitur causa talium somniorum.76

74 Albertus (Anm. 9), II, tract 2, cap 2 [S. 90 B Abs. 2, Z. 9–19 / S. 91 A Abs. 1, Z. 1–11]. 75 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 8 [S. 99 A Mitte]; vgl. ebd., cap 12. 76 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 1 [S. 93 A Abs. 2, Z. 22 – S. 93 B Abs. 2, Z. 10]; „Und das, was Aristoteles über die Weissagung sagt, ist ziemlich kurz und unvollkommen, und es wirft sehr viele Fragen auf […] Unvollständig ist es: Denn wenn auch ohne Weise (magici) und Astrologen eine Kunst der Traumdeutung nicht erlangt werden kann, so wissen doch nur die Naturphilosophen (physici) hinreichend, aus welchen und wie beschaffenen Bildern ein Traum besteht und worauf sich sein wahrsagender Gehalt bezieht; und darüber haben weder Aristoteles noch die Philosophen etwas Bestimmtes gesagt. Und es wirft sehr viele Fragen auf, weil die Ursache solcher Träume im Ungewissen bleibt.“ Vgl. auch die umfängliche Widerlegung der Interpretation oder Bestreitung der divinatio, ebd., cap 6–8.

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Die Behandlung der Träume ohne naturwissenschaftliche Grundlage, so könnte man diese Philosophenschelte zusammenfassen, ist nicht sinnvoll, denn die Bedeutung eines Traums erschließt sich nur, wenn man weiß, wie er zustande kommt. Diese Frage kann eben nicht den Deutungspraktikern – Magiern und Astrologen – überlassen77 und auch nicht auf übernatürliche Einflüsse zurückgeführt werden. Aristoteles weist in seinem kurzen Traktat bezüglich der Frage der Deutung des Traums nur darauf hin, dass eine solche Deutung die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu entdecken, voraussetze; Albertus hingegen macht darauf aufmerksam, dass man als Deuter auch wissen müsse, nach welchen Ähnlichkeiten man zu suchen und wie man sie zu deuten habe.

5.4.2 Die Grundthese: Es gibt Träume, die Zukunft erschließen Das setzt voraus, dass Albertus – und das führt ihn auch über die abwägende Haltung des Aristoteles hinaus – der festen Überzeugung ist, dass es Träume gibt, die einen die Zukunft offenbarenden Gehalt haben, und zwar ist das eine Aussage, die er nicht irgendwelchen theologischen Dogmen oder religiösen Voraussetzungen entnimmt, sondern für die er die Dignität einer Erfahrungstatsache in Anspruch nimmt: est enim hoc non auditus inanis, sed experientiae testimonium, quod vix arbitror quemquam inveniri hominem, qui non de multis futuris praemonitus sit per suiipsius somnia: & quod in veritate de quibusdam somniis sit divinatio, non est incredibile: habet hoc enim quandam rationem […]78

Diese feste Überzeugung, dass Träume eine offenbarende Funktion haben können, geht offensichtlich auf ein eigenes Erlebnis des Albertus zurück, von dem er ganz unvermittelt in einem späteren Zusammenhang erzählt: Er hatte in einem Traum gesehen, wie ein Junge in einem Fluss in ein Mühlrad gezogen wurde und so zu Tode kam; und gerade als er den Traum seinen Mitbrüdern erzählte, kam eine Frau auf den Klosterhof, deren Kind gerade eben dieser Unfall passiert war.79 Albertus ist der Meinung, dass die Bestreitung der die Zukunft erschließenden Bedeutung der Träume zwei Gründe hat:80 Zum einen wird diese Behauptung einer divinatorischen Bedeutung der Träume um ihre Glaubwürdigkeit gebracht, wenn man jedem Traum eine solche Bedeutung unterlegt – es sind eben manche, nicht alle Träume zukunfterschließend. Auf der anderen Seite ist die mangelnde Kenntnis über den völlig 77 Albertus (Anm. 9), III, tract 2, cap 5 [S. 106 A Abs. 2, Z. 1–11]; ebd., tract 1, cap 8 [S. 99 A]. 78 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 2 [S. 94 A Abs. 2, Z. 11–16]; „Es ist kein leeres Hörensagen, sondern das Zeugnis der Erfahrung, dass, wie ich glaube, kaum ein Mensch gefunden werden kann, der nicht vielfach über künftige Ereignisse unterrichtet worden ist durch eigene Träume; und dass auch tatsächlich manche Träume einen wahrsagenden Gehalt haben, ist nicht unglaubhaft – denn das hat einen bestimmten Grund.“ 79 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 10 [S. 101 A Abs. 1, Z. 14–25]. 80 Zum Folgenden vgl. Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 1 [S. 94 A Abs. 2, Z.17–24].

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rationalen Grund dieser Bedeutung der Träume ein Anlass dafür, ihnen diese Bedeutung gänzlich abzusprechen.81 An der Klärung der Frage, warum es zukunfterschließende Träume geben kann, hängt sowohl die Möglichkeit, zukunfterschließende Träume von anderen zu unterscheiden und die übertriebene Behauptung einer wahrsagenden Bedeutung aller Träume zu vermeiden, als auch die Möglichkeit, wissenschaftliche Zweifler von der Möglichkeit solcher Traumbedeutungen zu überzeugen.

5.4.3 Der Einfluss der Zukunft bestimmenden Kräfte auf den Menschen als Ursprung des Traums Nun entfaltet Albertus eine Theorie, von der aus verständlich wird, wie es zu solchen Ereignissen kommen kann, die hochkomplex ist und die ich auch wieder nur in den Grundzügen referiere. Vorausgesetzt ist, dass die meisten Träume aus dem Inneren des Menschen aufsteigen, aus der Einbildungskraft; und sie repräsentieren nichts weiter als diese Einbildungskraft, zuweilen vergangene Erlebnisse oder Sehnsüchte und Wünsche – haben aber keinen wahrsagenden Sinn. Sodann gibt es Träume mit divinatorischem Charakter, deren Ursprünge in uns selbst liegen, die der Niederschlag einer körperlichen Verfassung oder von Leidenschaften oder Krankheiten sind und nur in diesem Sinne ein Zeichen oder auch eine Ursache der Zukunft sein können: Die noch verborgene Krankheit manifestiert sich im Traum.82 Auf der anderen Seite lehrt, wie gesagt, die Erfahrung, dass es solche Träume gibt, die wahrsagenden Charakter haben in dem Sinne, dass sie nichts am Träumenden selbst bezeichnen und nicht aus ihm selbst ihren Ursprung haben können, weil sie etwas räumlich oder zeitlich sehr Entferntes, mit dem Träumenden nicht Zusammenhängendes zum Gegenstand haben.83 Diese sind aber meistens so verfasst, dass sie das künftige Ereignis nicht direkt oder auch nur seine Ursache, aus der es dann zu erschließen wäre, bezeichnen, sondern sie deuten die Zukunft häufig lediglich in einem interpretationsbedürftigen Bild an.84 Das könnte nun ein Argument gegen eine divinatorische Funktion von Träumen sein – die Träume sind unklar, vieldeutig, bodenlos, zeigen weder den Sachverhalt selbst noch auch die Ursache, aus der er sich ergeben wird, sondern bestenfalls den Sachverhalt in einem ganz fremden Medium oder einer Metapher.85

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Vgl. dazu auch Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 1 [S. 94 A Abs. 1, Z. 1 – Ende des Absatzes]. Albertus (Anm. 9), III, tract 2, cap 1. Albertus (Anm. 9), III, tract 2, cap 6. Vgl. die Auflistung der Modi bzw. Grade dieser Träume: Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 10. Vgl. die von Albertus referierten Einwände, die sich auf diesen metaphorischen Charakter der Träume stützen: Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 2 und 4.

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Albertus weist nun darauf hin, dass das auch gar nicht anders sein kann; Gegenstand der divinatio sind kontingente künftige Ereignisse, Ereignisse also, die nicht mit Notwendigkeit eintreffen, sondern so, dass sie auch genauso gut nicht sein können. Sie selbst, da sie erst mit ihrem Eintreffen sind, können nicht auf die Seele einwirken und auch keine ihrer Ursachen, weil diese so unbestimmt sind wie die Ereignisse selbst; was sich darstellen kann, sind die Ursachen, die alles Geschehen bestimmen, die dann aber aufgrund ihrer besonderen Natur nur indirekt und in einem interpretationsbedürftigen Bild repräsentiert werden können. Hier müsste man nun die peripatetische Metaphysik entfalten, nach der die Umläufe des Gestirnhimmels selbst wieder von intelligentiae, höchsten Wesen, in Gang gehalten werden, die untereinander abgestuft alle Wirklichkeit bestimmen wie ein Künstler mit seinem Material umgeht und die jeweils einander erkennen und aufeinander einwirken können. Diese intelligentiae wirken auf alle Wirklichkeit mittels eines Mediums ein, das auf der Ebene des menschlichen Mikrokosmos dem spiritus entspricht, ein lumen radiale.86 Wer diese intelligentiae erkennt, erkennt auch alles, was sie bewirken, und wo sich diese intelligentiae durch einen Einfluss auf den Menschen zu erkennen geben, da wird die Zukunft erkannt. Und – das ist vorausgesetzt – diese intelligentiae wirken immer, bestimmen unser körperliches Leben auf eine Zukunft hin.

5.4.4 Die Träume als Deutungsleistung der Seele Albertus rechnet also damit, dass nicht alle,87 wohl aber manche Träume nicht nur in der zuvor beschriebenen Weise ein Nachbild äußerer Sinneserfahrungen in uns repräsentieren, sondern Einwirkungen einer höheren Intelligenz auf uns darstellen. Allerdings ergibt sich so noch keine überzeugende Traumtheorie – denn ein Traum hat es mit Bildern, und nicht mit Produkten der anima rationalis, die den intelligiblen Wesen analog wäre, zu tun; wie schlägt sich solch ein Einfluss an einer sinnlichen Seele nieder? Sed nolo, quod hoc alicui difficultatem generet quod dixi, quod illa influentia est causa communis & remota & intellectualis potius quam imaginabilis vel sensibilis: ex hoc enim posset credi, quod non moveret [s.c. causa communis] animam sensibilem, & sic non generaret phantasma: non enim hoc est verum: licet enim non sit figurabilis, nec qualitatem sensibilem habens, tamen ex quo effluit in lumen caeleste & elementa, motiva est corporis & animae vegetabilis & sensibilis: motus autem talis non efficitur in anima sensibili & corpore secundum potestatem primi influentis, sed potius secundum potestatem recipientis animae sensibilis & corporis: & ideo illa forma sic efficiens animam sensibilem est ex loco passionis inclinantis ad hoc ad quod movet. Cum autem anima sit informata & affecta, tunc ipsa per imaginationem parat & fingit simulachra, quibus hoc repraesentetur: & cum non habet propria, nec 86 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 8 [S. 99 A Abs. 1, Z. 39–64]; Vergleich mit dem spiritus: Z. 52f.; Begriff lumen radiale: Z. 61; vgl. die ausführlichen Darstellungen: ebd., cap 4, cap 9, cap 11; tract 2, cap 6. 87 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 3.

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habere potest, praeparat aliena ex quorum metaphoris hoc pronuntietur, per omnem eundem modum quo timens imaginatur terribilia, & amans concupiscibilia somnia, & esuriens simulachra ciborum: forma enim ex influentia somniorum afficiens, agit in animam praeceptibiliter, quando anima vacat a tumultu sensuum, & est medium per quod pervenit ad animam quam tangit: & tunc facit in ea quod solent facere prius inductae passiones.88

Das ist eine ganz erstaunliche Deutung: Ein Traumbild entsteht in bestimmten Fällen dann, wenn ein höherer, mit den alles Geschehen auf der Welt bestimmenden Gestirnen zusammenhängender Einfluss auf den Körper und durch ihn vermittelt auf die Seele einwirkt. Die intelligentiae wirken aber nicht – damit wendet sich Albertus gegen Avicenna und Averroes – direkt auf die Seele oder den intellectus agens ein; der Rezipient dieser Einwirkung ist vielmehr zunächst der menschliche Körper, und nur durch ihn vermittelt teilt sich die Einwirkung der Seele mit, die ihrer Natur entsprechend sie so aufnimmt, dass sie Vorstellungsbilder hervorbringt, die damit Metaphern des Einflusses der Wirkkraft der intelligentiae sind.89 Damit erklärt Albertus den metaphorischen Charakter des Traumbildes: Es repräsentiert eine causa remota allen Geschehens und repräsentiert sie im Medium eines Vorstellungsbildes – wobei diese Bilder unterschiedliche Grade der Deutlichkeit und Explizitheit haben können.90 Diese Einwirkung geschieht beständig, ist aber gewöhnlich verdeckt unter der Ablenkung, die die Außenwelt im Wachzustand auf den Menschen ausübt; erst wenn der 88 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 4 [S. 96 A Abs. 2, Z. 23–52]; „Aber ich will nicht, dass meine Aussage, dass dieser Einfluss eher eine allgemeine und ferne und intelligible Ursache ist als eine vorstellbare und wahrnehmbare, jemandem Schwierigkeiten bereitet; daraus könnte man nämlich zu der Ansicht kommen, dass sie [s.c. die allgemeine Ursache] die sinnliche Seele nicht bewegt und also kein Vorstellungsbild hervorruft. Aber das ist nicht wahr: Wenn sie auch nicht gestalthaft ist und keine sinnliche Qualität hat, bewegt sie doch […] den Körper und die lebendige und sinnliche Seele; eine solche Bewegung wird aber in der sinnlichen Seele und im Körper nicht hervorgerufen gemäß der Macht des ersten Einflussnehmenden, sondern eher gemäß der Fähigkeit der aufnehmenden sinnlichen Seele und des Körpers. Und daher wirkt sie [die Bewegung] auf die Seele ein wie eine Leidenschaft, die zu dem eine Neigung hervorruft, zu dem sie hinbewegt. Wenn aber die Seele so bestimmt und gereizt ist, dann bereitet und bildet sie selbst durch die Einbildungskraft Bilder, durch die sie dies darstellt; und da sie keine angemessenen hat und nicht haben kann, stellt sie andersartige her, durch deren übertragenen Sinn sie das ausdrückt, genau in der Weise, in der jemand, der sich fürchtet, schreckliche, und jemand, der liebt, begehrliche Träume sich einbildet, und wer Hunger hat, Abbilder von Nahrungsmitteln träumt. Die Wirkkraft nämlich, die aus dem Einfluss [einer intelligentia] auf die Träume ausgeht, wirkt auf die Seele nach Art einer Vorschrift dann, wenn die Seele leer ist von der Unruhe der Sinne, und sie [die Wirkkraft] ist ein Mittel, durch das er [der Einfluss] zur Seele kommt, die er berührt; und dann bewirkt er in ihr, was gewöhnlich die zuvor genannten Leidenschaften bewirken.“ 89 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 6 gegen Avicenna und Averroes; vgl. bes. den Schluss des cap 7; vgl. ebd., cap 4 [bes. S. 96 A Abs. 2, Mitte]; cap 8 [S. 99 A unten]; tract 2, cap 6 [S. 107 A Abs. 1, Z. 26–36]. 90 Vgl. das schon mehrfach herangezogene Kapitel über die Arten und Grade der Deutlichkeit des divinatorischen Traums: Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 10.

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Mensch schläft, werden jene Kräfte spürbar – wie bei Nacht beispielsweise auch Töne intensiver wahrgenommen werden als am lärmerfüllten Tag.91 Die Menschen sind beständig durch die wirkende Kraft der intelligentiae auf eine Zukunft hin bewegt; diese Einwirkung, die Bewegung dieser intelligentiae schlägt sich durch den Körper an der Seele nieder, wie sich im Schlaf ein Wunsch oder eine Leidenschaft niederschlägt: Es steigen Bilder auf, die nun nicht beliebig sind, sondern die auf ihre Weise den Einfluss der bestimmenden Macht und diese selbst zur Darstellung bringen – in eben der Weise, wie ein Furchtsamer seine Furcht in Schreckbildern auslebt und ein anderer sein sexuelles Begehren in entsprechenden Bildern darstellt. Diese Bilder sind dabei je nach dem Grad, in dem die Vernunft des Schlafenden durch die Lähmung der Sinne mitbetroffen ist, mehr oder weniger klar und eindeutig: Quando autem est somnium ut res ipsa, tunc minus fuit vinculum animae, sive in somno, sive in visione: & ideo tunc intellectus illustratus ab influentia abstraxit formas & species proprias a phantasmatibus, & ordinavit eas sub proprio & perfecto conceptu rationis, qui dicit hoc vel illud esse futurum: quando autem in toto ligata est anima rationalis, tunc pro certo non potest nisi in alienis phantasmatibus per modum, qui dictus est, manifestari.92

91 Vgl. Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 4 [Fortsetzung des zit. Textes, S. 96 A Abs. 2, Z. 52– S. 96 B 1, Z. 8]: Fiunt tamen somnia aliquando in quibus per influentiam causantur verae intelligentiae, sive cum metaphoris, sive cum propriis similitudinibus sumptae: de quibus omnibus unam & eandem arbitror esse rationem: quando enim vera intelligentia est cum metaphoricis symbolis, tunc pro certo afficit forma influxa animam sensibilem, & illustratio eius tetigit intellectum per modum quem inferius dicemus: sed tamen non est tanta vis intellectus per vinculum sensuum & animae, quod in toto elevet ipsum intellectus, & ordinet conceptum eius per species proprias, ita quod in anima rationali fiat notitia certa de hoc & propria. „Manchmal ereignen sich aber Träume, in denen durch den Einfluss wirkliche Einsichten bewirkt werden, sei es mit Metaphern, sei es mit eigenen Gleichnissen. Diese haben meiner Meinung nach alle einen Grund: Wenn es sich nämlich um eine wahre Einsicht handelt mit übertragenen Zeichen, dann berührt die eingeflößte Form die sinnliche Seele, und deren Bild berührt den Verstand in der Weise, die wir unten beschreiben werden. Aber dennoch hat der Verstand durch die Bindung der Sinne und der Seele nicht solche Kraft, dass der Verstand diese (Fessel) ganz aufhebt, und seinen Begriff durch eigentliche Bilder ordnete, so dass in der Geistseele eine gewisse und eigentliche Erkenntnis darüber entstünde.“ Vgl. ebd., tract 2, cap 6 [S. 107 A Abs. 2 / B Abs. 1]. 92 Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 4 [S. 96 B Abs. 1, Z. 8–17]; „Wenn aber der Traum ist wie die Sache selbst, dann liegt das daran, dass die Gebundenheit der Seele [durch den Schlaf] weniger stark war, sei es im Schlaf, sei es in einer Vision; und daher entnimmt der Verstand, der von einem [höheren] Einfluss erleuchtet ist, die Gestalten und Arten den Vorstellungsbildern und ordnet sie unter den eigentümlichen und vollkommenen Begriff, der sagt, dass dies oder jenes geschehen werde. Wenn aber die Vernunftseele völlig gebunden ist, dann kann sich die Wirklichkeit nur in sachfremden [metaphorischen] Einbildungen manifestieren.“ Vgl. die Unterscheidung der Arten der Darstellung des Einflusses der intelligentiae: Ebd., cap 10.

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Zusammenfassung

Das Besondere und das Eigentümliche an dieser Theorie des divinatorischen Traums sind nicht die Einzelheiten des vorausgesetzten metaphysischen Modells, sondern dies: Dass hier entschlossen der Traum nicht als unmittelbarer Niederschlag einer göttlichen oder dämonischen Macht gedeutet wird. Entsprechende stoische Lehren von einem unmittelbaren Einwirken von Göttern oder Dämonen auf die Einbildungskraft weist Albertus als ‚Absurditäten‘ ab;93 entsprechende christliche Lehren von einem göttlichen Einwirken sind hier, im Bereich der Philosophie, nicht von Relevanz. Nicht der Niederschlag einer göttlichen Macht, sondern Produkt der Einbildungskraft ist das Traumbild; das Bestimmtsein des Lebens, das Bewegtsein auf ein Ziel hin, das der Mensch im Getriebe des Lebens übersieht, gewinnt im Schlaf, wenn die Sinne und ihr Tumult abgestellt sind, Gestalt und Ausdruck in Bildern, in denen es sich manifestiert, wie eine Leidenschaft oder ein Begehren oder die Angst sich in entsprechenden Bildern niederschlägt: videtur dicendum, quod formae caelitus evectae ad nos, corpora nostra tangentes fortissime movent, & suas imprimunt virtutes, licet non sentiantur propter exteriorem tumultum: & ideo quando alienatio fit a sensibus quocunque modo illud fiat, tunc percipiuntur motus sicut patiens percipit motum passionis, licet non moveat ut passio, sed potius ut signum, & quaedam causa futurorum: anima autem imaginativa ad quam pervenit motus huiusmodi formę, recipit motum secundum modum possibilem sibi, & hoc est ad formas imaginationis. Quaerit igitur formas simulachrorum, quibus explicabitur talis forma, sicut quaerit formas quibus explicatur amor venereorum, in eo quod a tali detinetur concupiscentia, ad praeparationem talium imaginum inclinat forma caelestis iniacens somnianti & movens eum ut faciat vires corporis & animae sibi instrumentaliter deservire, sicut facit in materia quam movet ad alterationem & generationem […] & ideo talibus instrumentis multiplicantur multa simulachra sicut in materia multiplicantur & multa agentia sub ipsa: & ex materia est, quod fit somnium multorum factorum & dictorum, in quibus demonstratur caelestis formae explicatio. Huius autem exemplum est videre in forma artis: quoniam haec est species operis, & ubi procedit in materiam artificiati, multis utitur instrumentis: & haec eadem movens animan artificis, movet virtutes ad imaginandum figuras omnium convenientium ad hoc ut in artificiatum producatur. Istud igitur est dictum propheticum, cui annectimus adhuc duo capitula ut fiat magis manifestum.94

93 Albertus (Anm. 9), III, tract 2, cap 4. Gott würde nämlich, sagt Albertus, wenn er wirklich direkte Ursache der Träume wäre, die divinatorischen Träume nicht (wie es faktisch geschieht) vorwiegend Geringen oder geistig Minderbemittelten geben, sondern denen, die diese Divination zum Besten der Menschen verwenden könnten. Als ‚absurd‘ bezeichnet er die Rückführung auf Dämonen, ebd., tract 1, cap 8 [S. 99 A unten]. 94 Vgl. Albertus (Anm. 9), III, tract 1, cap 9 [S. 100 A Abs. 1, Z. 46 – B Abs. 1, Z. 12]; „Es ist zu sagen, dass die Wirkkräfte, die vom Himmel her in uns hervorgerufen wurden, unsere Körper berühren und heftig in Bewegung bringen und ihre Kräfte einprägen, wenn sie auch nicht verspürt werden wegen der äußeren Unruhe [die uns bei wachen Sinnen umgibt]. Aber dann, wenn eine Entfremdung [Trennung] von den Sinnen entsteht, wie immer das auch geschehen mag, dann werden die Bewegungen [die die Wirkkräfte vom Himmel ausüben] wahrgenommen wie ein der

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Der Traum ist nur als Ausdruck der Seele, die den die Zukunft hinaufführenden Kräften durch den Körper ausgesetzt ist, Darstellung dieser bestimmenden Mächte und der von ihnen verhängten Zukunft. Es ist die Seele, die diese körperlich vermittelten Zustände in Bildern zur Darstellung bringt und auslegt, die Seele deutet im Traum ihre eigenen, körperlich vermittelten Zustände, die dann ferne Metaphern der Zukunft sind, auf die die zukunftbestimmenden Mächte aus sind. Im Traum spricht sich die Seele aus – das ist die eigentümliche Einsicht des Albertus Magnus, durch dessen Traumschriften bereichert zu werden zu lesen mir dieser Beitrag Gelegenheit gegeben hat.

Leidenschaft Unterworfener den Zug der Leidenschaft wahrnimmt – wenn sie [die Bewegung] auch nicht bewegt wie eine Leidenschaft, sondern eher wie ein Zeichen und eine Ursache künftiger Geschehnisse. Die Einbildungskraft der Seele, zu der die Bewegung dieser Wirkkraft gelangt, nimmt die Bewegung auf in der Art, die ihr möglich ist, und das heißt: in der Gestalt der Einbildung. Sie sucht also nach Bildformen, in denen sie eine solche Wirkkraft auslegen kann, wie sie nach Formen fragt, in denen sie die körperliche Liebe auslegen kann, wenn sie von einer solchen Begierde gefangen gehalten wird; zur Ausbildung solcher Bilder macht die himmlische Wirkkraft geneigt, die auf den Schlafenden so einwirkt, dass sie die Kräfte des Körpers und der Seele zu ihrem Instrument macht, wie sie es tut in der Materie, die sie zur Veränderung und zum Werden bewegt. Und daher werden durch solche Instrumente viele Bilder erstellt […] und an der Materie [d. h. an der affizierten Seele und am Körper] liegt es, dass [aus der einen Bewegung durch die Wirkkraft] ein Traum aus vielen Taten und Worten wird, in denen die Auslegung der himmlischen Wirkkraft sich zeigt.“

HANS ULRICH SCHMID

Gudrun, Gisli, Gunnar … Träume(r) in der altisländischen Literatur er á asclimom ernir sitia oc drífr drótt o˛ll draumþinga til (Helgakviða Hundingsbana o˛nnor; 50,7–10) „denn auf Eschenzweigen sitzen Adler und alle Menschen treiben dem Thing der Träume zu“ „Those who read sagas, or even folktales and later literature of Iceland must be struck by the prominence given to dreams, and especially to those of a symbolic kind.“1

Die altisländische Literatur ist reicher an Gattungen, als gemeinhin bekannt: Neben den drei prominenten Genres, den Sagas (der ersten artifiziellen Prosagattung in einer germanischen Volkssprache), der grundsätzlich anonymen eddischen Dichtung und den geradezu manierierten Versdichtungen zumeist namentlich bekannter Skalden (überwiegend isländischer Herkunft) gibt es religiöse Übersetzungsliteratur, volkssprachige Heiligenviten, Historiographie, volkstümliche Balladen (die sogenannten Rímur) und weitere Prosagattungen.2 Das Gros der Überlieferungen stammt bis ins 13. Jahrhundert fast ausschließlich aus Island. Erst später und sehr zögerlich tritt auch die kontinentalskandinavische Literatur etwas mehr ins Licht. Für die folgende Darstellung konnte nicht der kaum überschaubare Gesamtbestand der in der altnordischen Literatur geschilderten Träume gesichtet und verarbeitet werden, sondern es können nur ausgewählte Einzelbeispiele aus den eben genannten prominenten Gattungen – Isländersaga, Skaldik und Edda – näher betrachtet werden. Möglicherweise ergibt sich daraus aber dennoch eine gewisse Typik und Repräsentativität. Das Hauptaugenmerk wird der Frage nach der Funktion der Träume innerhalb der jeweiligen literarischen Kontexte gelten, in denen sie geschildert, poetisch stilisiert, teils auch gedeutet werden. Eine andere Frage wäre die Herkunft der Traummotive, die wohl kaum isländische Besonderheiten sind, sondern einer gesamteuropäischen Tradi-

1

2

GABRIEL TURVILLE-PETRE: Dream Symbols in Old Icelandic Literature. In: Festschrift Walter Baetke. Dargebracht zu seinem 80. Geburtstag am 28. März 1964. Hrsg. von KURT RUDOLPH / ROLF HELLER / ERNST WALTER, Weimar 1966, S. 343–354, hier S. 343. Einen knappen, aber guten Überblick in deutscher Sprache gibt HEIKO UECKER: Geschichte der altnordischen Literatur, Stuttgart 2004.

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tion entstammen. Mit Sicherheit waren die Somnia Danielis (bzw. das Somniale Danielis), jene im Mittelalter weit verbreitete Liste von Traummotiven mit beigefügter kurzer Deutung, auch in Island bekannt. Es sind Übersetzungen in mehrere mittelalterliche Volkssprachen (Deutsch, Englisch, Irisch, Walisisch) erhalten.3 Aus der ‚klassischen‘ altisländischen Epoche ist zwar keine Version bekannt, doch zeigt eine um 1500 geschriebene gekürzte isländische Textversion, dass der Verbreitungsraum der Somnia bis an die Grenzen des westeuropäischen Kulturraumes reichte.4 Allerdings ist das Vorhandensein einer volkssprachlichen Fassung keineswegs die Voraussetzung für die Kenntnis des Textes.

1.

Träume in Isländersagas

In den Isländersagas und den altnordischen Königssagas wird – entgegen einem landläufigen Image – nicht nur gekämpft, gebrandschatzt, gezecht und prozessiert, die Autoren begnügen sich auch nicht mit der Darstellung von „farming, feuding, and family life of Icelandic settlers“.5 Es wird auch überraschend viel geträumt. Man hat einen Durchschnittswert von drei bis vier Träumen pro Saga errechnet.6 Wohl die ‚verträumteste‘ der klassischen Sagas ist die Laxdœla Saga. Sie enthält sieben ausführlich dargestellte Träume, also in etwa das Doppelte des Durchschnitts. Einer davon soll exemplarisch herausgegriffen werden. Er ist in seiner narrativen Funktion im Bezug auf die ganze Saga in mancher Hinsicht prototypisch für Sagaträume. Vorab soll zum Verständnis der Inhalt der Saga kurz zusammengefasst werden. Nach einem langen Vorspiel, in dem Personen der Landnahmezeit auftreten und die Szenerie des 10. Jahrhunderts aufgebaut wird, erscheint endlich die weibliche Hauptperson, nämlich Gudrun Ósvifrsdóttir (überhaupt ist die Laxdæla Saga die Saga der starken Frauen). Gudrun wird im Laufe ihres Lebens bzw. im Laufe der Saga vier Männer heiraten. Die Ehen der Protagonistin geben die Sagastruktur vor. Ihren ersten Mann heiratet sie gezwungenermaßen, die anderen aus jeweils eigener Entscheidung, aber aus unterschiedlichen Motiven heraus. Den einen Mann jedoch, den wirklich geliebten, Kjartan Óláfsson, kann sie nicht heiraten. Sie wollte mit ihm nach Norwegen fahren (Kavalierstouren an den dortigen Königshof gehörten zu den Pflichtübungen vornehmer junger Isländer in einer Reihe von Sagas), doch Kjartan schlug diesen Wunsch mit einigermaßen fadenscheinigen Begründungen aus. Auf das Versprechen,

3 4 5 6

Vgl. STEVEN R. FISCHER: The Complete Medieval Dreambook. A Multilingual, Alphabetical Somnia Danielis Collation, Bern, Frankfurt a. M. 1982. Vgl. TURVILLE-PETRE (Anm. 1), S. 352f. So LARS LÖNNROTH: Dreams in the Sagas. In: Scandinavian Studies 74 (2002), S. 455–463, hier S. 455. Vgl. PETER HALLBERG: Die isländische Saga, Bad Homburg, Berlin, Zürich 1965, S. 94.

Gudrun, Gisli, Gunnar . . .

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das isländische Saga-Mädchen ihren davon segelnden Ehemännern in spe üblicherweise geben, nämlich drei Jahre lang zu warten, will Gudrun sich nicht einlassen. Und so kehrt Kjartan auch nicht pünktlich zurück. Das tut nur sein Freund Bolli, der Gudrun gegenüber Andeutungen macht, Kjartan habe eine Liaison mit einer norwegischen Prinzessin begonnen. Die von Bolli verheimlichte Wahrheit aber ist, dass Kjartan unfreiwillig, nämlich als Geisel des Königs Olaf Tryggvason zurückbleiben musste. Wenig später heiraten Gudrun und Bolli, und als Kjartan zurückkehrt, steht er vor vollendeten Tatsachen. Es folgen wechselseitige Beleidigungen, Demütigungen, Diebstähle, die meistens von Gudrun ausgehen, von Kjartan aber mit gleicher oder üblerer Münze heimgezahlt werden. Es kommt dahin, dass Gudrun ihren Mann Bolli anstiftet, Kjartan zu ermorden. In einer herzanrührenden Szene stirbt der zu Tode verwundete Kjartan in den Armen seines alten Freundes, der sein Mörder werden musste. Nach längerer Zeit wird Bolli seinerseits von Kjartans Brüdern ermordet (wie könnte es auch anders sein in einer Isländersaga?). Einmal wird Gudrun noch heiraten, ehe sie hochbetagt und altersblind auf ihrem Hofe am Helgafell stirbt, und zwar als fromme Einsiedlerin, die als erster Mensch auf Island den Psalter auswendig kann. In diesen Hauptstrang, dessen Generalthema die verhängnisvolle unerfüllte Liebe zwischen Gudrun und Kjartan ist, sind in bester Sagatradition eine ganze Menge Nebenhandlungsstränge integriert, deren Gewirr hier nicht entflochten werden kann. Es empfiehlt sich die Lektüre der Saga, wenn nicht im Original, so in einer Übersetzung.7 Nun zum Thema Träume. Vielfach haben Sagaträume die Funktion, auf Zukünftiges vorauszuverweisen. Das ist ein altes literarisches Muster, man denke nur an die Josephs-Träume in der alttestamentlichen Genesis. Dieses Kunstgriffs8 bedient sich auch der Saga-Autor. Als Gudrun zum ersten Mal in der Laxdœla Saga auftritt – sie ist noch ein junges Mädchen – erzählt sie einem Besucher seltsame Träume, die sie kurz zuvor nacheinander hatte. Hier der leicht gekürzte Wortlaut in Übersetzung: 7

8

Laxdœla saga. Hrsg. von KR. KÅLUND, Halle a. d. Saale 1896 (Altnordische Saga-Bibliothek 4). Deutsche Übersetzung: Laxdoela Saga. Die Saga von den Leuten aus dem Laxardal. Hrsg. und aus dem Altisländischen übersetzt von HEINRICH BECK, München 1997. Auf eine auffallende Parallele in der Edda weist ROLF HELLER: Die Laxdœla Saga. Die literarische Schöpfung eines Isländers des 13. Jahrhunderts, Berlin 1976 (Abh. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Klasse 65,1), S. 1–152, hier S. 114 f. hin: „Das Gedicht steht als Auftakt vor allen in Einzelgedichten festgehaltenen Erlebnissen Sigurds – und das nicht nur äußerlich im Codex regius, sondern auch seinem Inhalt nach – und gibt in gedrängter Form einen Überblick über sein Leben. Damit bildet Gripirs Prophezeiung eine Parallele zu Gests Deutung der Träume Grudruns […]. Gestalt und Aufgabe Gripirs wirken wie ein Modell für den Rest der Saga. Bei beiden erkennen wir auch das Zögern, Unheilvolles, das sich vor ihrem inneren Auge abzeichnet, auszusprechen […]. Vorausweisende Träume haben in der Heldendichtung eine große Rolle gespielt; die Grípisspá öffnet in den Worten eines klugen, vorausschauenden Mannes den Blick über ein ganzes Menschenleben – beides vereint dürfte durch die künstlerische Kraft des Laxd.-Verfassers die eindrucksvolle Szene […] haben entstehen lassen.“

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„Mir war, als stünde ich draußen an einem Bach und hätte eine Hakenhaube auf dem Kopf, […] die schien mir nicht zu passen, und ich hatte großes Verlangen, eine andere aufzusetzen. Aber viele redeten mir zu, ich solle das lassen. Aber ich hörte nicht darauf und riss mir die Haube vom Kopf und warf sie in den Fluss. Damit war der Traum vorbei.“ – Und weiter erzählte Gudrun: „Das war der Anfang des zweiten Traumes, dass ich glaubte an einem See zu stehen. Mir war, als hätte ich einen Silberring am Arm, der mir gehörte und mir gut stand. Er schien mir sehr kostbar und ich hoffte, ihn lange zu besitzen. Doch ehe ich mich’s versah, glitt mir der Ring vom Arm ins Wasser, und ich sah ihn nie wieder.9 Das schmerzte mich mehr als der Verlust sonst eines Schmuckstücks. Dann erwachte ich.“ Weiter sprach Gudrun: „Mein dritter Traum war, dass ich einen Goldreif am Arm hätte, der mir gehörte. Ich dachte, mein Verlust wäre ersetzt, und meinte, ich könnte an diesem Ring länger Freude haben als am vorigen, doch schien mir der Ring nicht besser zu stehen als der Silberring, obwohl Gold kostbarer ist als Silber. Mir war so, als ob ich hinfiele und wollte mich mit dem Arm aufstützen. Dabei stieß der Ring auf einen Stein und brach entzwei. Aus den Stücken floss Blut. Ich fühlte mehr Trauer als Ärger über den Verlust. Ich dachte, der Ring könnte vorher schon Risse gehabt haben, und als ich die Stücke nochmals besah, entdeckte ich mehrere Risse. Ich dachte mir, wenn ich nur besser Acht gegeben hätte, wäre er noch heil. Länger war der Traum nicht.“ Und weiter sprach Gudrun: „Das war mein vierter Traum, dass es mir schien, ich hätte einen Goldhelm10 auf, reich mit Edelsteinen verziert. Er gehörte mir, aber es quälte mich, ihn zu tragen. Ich musste den Kopf gesenkt halten, gab aber dem Helm keine Schuld und wollte mich nicht von ihm trennen. Dann stürzte er mir vom Kopf und in den Hvammsfjord. Dann erwachte ich. Nun habe ich dir alle meine Träume erzählt.“

Der alte Gestr – so hieß der Mann, dem Guðrun ihre Träume erzählte – kann sie deuten: Ich sehe ganz klar vor mir, was diese Träume bedeuten, und es wird dir ziemlich eintönig vorkommen, denn ich werde sie fast auf dieselbe Weise deuten. Du wirst vier Männer haben, und ich fürchte, der erste wird keine Liebesheirat sein […]. Dass du dir die Haube vom Kopf gerissen und sie ins Wasser geworfen hast, bedeutet, dass du ihn verlassen wirst.

Den zweiten Mann, so Gestr weiter, werde Gudrun lieben, aber er wird ertrinken. Der Dritte wird ermordet werden, denn aus dem Goldreifen tropfte Blut. Der vierte Mann werde ein großer Häuptling sein. Er werde aber mit dem Hvammsfjord Bekanntschaft machen, also ebenfalls ertrinken. 9 Dieses Traummotiv und seine Deutung sind in den weit verbreiteten Somnia Danielis enthalten. In einer deutschen Version heißt es: Fingerlein oder zierhait der arm verlieren / bedeyt schwere betrübnuß („Ringe oder Armreifen zu zerbrechen bedeutet großen Schmerz“); NIGEL F. PALMER / KLAUS SPECKENBACH: Träume und Kräuter. Studien zur Petroneller ‚Circa instans‘-Handschrift und zu den deutschen Traumbüchern des Mittelalters, Köln, Wien 1990 (Pictura et poesis 4), S. 267. Vgl. auch in der Sammlung von FISCHER (Anm. 3), S. 121: Anulos vel armillas perdere significat gravem dolorem („Ringe oder Armreifen zu zerbrechen bedeutet großen Schmerz“). Es ist natürlich auch nicht auszuschließen, dass der Verfasser das Motiv aus literarischer isländischer Überlieferung kannte. Vgl. die Hinweise HELLERs (Anm. 8), S. 133, auf eine Parallele in der Olafs-Vita des Oddr Snorrason. 10 Vgl. in den Somnia Danielis: Wem dann enträumbt, sein haubt sey wol geczieret, das bedeüt grossen schaden. Zitiert nach PALMER / SPECKENBACH (Anm. 9), S. 242; („Wenn jemand träumt, sein Haupt sei wohl geziert, das bedeutet großen Schaden“).

Gudrun, Gisli, Gunnar . . .

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Diese Träume deuten Künftiges nicht nur an, sondern sie nehmen die wesentlichen Ereignispunkte der Saga vorweg. Wichtig erscheint mir, dass die Träume am Ende der Saga so etwas wie ein Gegenstück haben, ein narratives Pendant, das nicht geträumt ist, sondern in der erzählten Realität spielt. Gudrun beendet – wie schon gesagt – ihre Tage als fromme Einsiedlerin. Ab und zu besucht sie Bolli, ihr Sohn aus dritter Ehe (mit dem namensgleichen Vater, der Kjartan erschlagen hat und später selbst einem Rachemord zum Opfer fiel). Dieser Bolli stellt nun am Ende der ganzen Erzählung seiner alten Mutter genau die Frage, welche sie dazu zwingt, ihre ‚Lebenssaga‘ zu resümieren. Er fragt sie, welchen von ihren Ehemännern sie am meisten geliebt habe. Die alte Frau antwortet zunächst ausweichend und nennt ihre Männer in umgekehrt chronologischer Reihenfolge: Þorkell war ein sehr mächtiger und großer Häuptling. Keiner war tüchtiger als Bolli. Þorðr Ingunnarson war der Klügste von ihnen und ein großer Rechtsgelehrter. Von Þorvaldr will ich nicht reden.

Da sind sie wieder, die vier Männer, von denen Gudrun als Mädchen geträumt hat, ohne es zu wissen. Aber alles, was seine Mutter da gesagt hat, weiß Bolli ja selber. Was er wirklich wissen will, ist etwas ganz anderes. Er mag sich nicht mit der ausweichenden Antwort zufrieden geben. Und dann kommt es: Þeim var ek verst, er ek unna mest („zu dem war ich am schlechtesten, den ich am meisten geliebt habe“).11 Gerade diese Korrespondenz von Traum zu Beginn und Resümee am Ende zeigt, woraufhin der erzählte Traum angelegt war. Der Traum und das þeim var ek verst bilden die Klammer oder den Rahmen, in den die gesamte Sagahandlung eingelagert ist. Das zeigt aber auch, wie sehr diese Isländersaga durchkomponiert ist. Der Traum weist nicht nur wie viele (wohl die meisten) Sagaträume auf Künftiges voraus.12 Er struktu11 Möglicherweise ist auch dieser Ausspruch ein Edda-Anklang, wie HELLER (Anm. 8), S. 116, annimmt. Der sterbende Sigurd sagt in der Sigurðarqviða in scamma (Strophe 28): Mér unni mær / fyr mann hvern („Mich liebte das Mädchen mehr als irgendeinen Mann sonst“). Vgl. Edda. Die Lieder des Codex Regius nebst verwandten Denkmälern. Hrsg. von GUSTAV NECKEL, I. Text, 5. verbesserte Auflage von HANS KUHN, Heidelberg 1983, S. 211, Übersetzung: Die Götter- und Heldenlieder der Älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und hrsg. von ARNULF KRAUSE, Stuttgart 2004, S. 372. Auf eine ganz andere, aber immerhin auffallende Parallele in dem altirischen Klagelied der Dichterin Líadan (9. Jh.) hat P[ATRICK] L[EO] HENRY: Líadan and Guðrún. An IrishIslandic Correspondance. In: Zeitschrift für celtische Philologie 27 (1958 / 59), S. 221f., hingewiesen. Líadan ist in Abwesenheit ihres Geliebten Cuirithir Nonne geworden, woraufhin er sich auf Pilgerfahrt begibt. Sie macht sich auf die Suche nach ihm, und in diesem Zusammenhang fallen die Worte nech ro.charus ro.cráidius („the one whom I loved I have tormented“). Ob solche Ähnlichkeiten wirklich aussagekräftig sind und die Annahme einer wie auch immer gearteten Abhängigkeit rechtfertigen, vermag ich allerdings nicht zu beurteilen. 12 Vgl. auch LÖNNROTH (Anm. 5): „One obvious function of saga dreams is to anticipate future events, for a dream in a saga, usually reported by the dreamer to a confidant, is always a concealed warning to the dreamer, a warning that the proper confidant will be able to interpret correctly […].“ (S. 455f.).

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riert zusätzlich die Haupthandlung13 und korrespondiert schließlich mit einem Schlussresümee.14 Und hierin liegt auch die narrative Funktion im Gesamtkontext und -konzept der Laxdœla Saga.

2.

Skaldenträume

Viele Skaldengedichte finden sich als sogenannte Lausavísur („lose Strophen“) in Sagas, in denen die Verfasser der Strophen selbst eine zentrale Rolle spielen. Eine Gruppe von Sagas kann man sogar als ‚Skaldensagas‘ ansprechen. Dazu gehört in gewisser Weise auch die Saga von Gisli Súrsson (die Gísla saga Súrssonar).15 Hier wiederum nur kurz das Wichtigste zum Inhalt, soweit es für das Verständnis der Strophen, von denen die Rede sein soll, nötig ist: Gislis Schwager Vésteinn ist während eines nächtlichen Unwetters von einem Unbekannten ermordet worden. Gisli glaubt aufgrund eines Traumes (dessen Inhalt aber nicht mitgeteilt wird und um den es hier nicht geht) zu wissen, wer der Mörder war, und tötet den von ihm Verdächtigten: Es ist der Mann seiner Schwester, die fortan gezwungen ist, eine ambivalente Rolle zu spielen: Sie muss diejenigen unterstützen, die ihren Mann rächen wollen und gleichzeitig ihren Bruder schützen. Im größeren Teil der Saga ist Gisli dann als Geächteter auf der Flucht vor seinen Verfolgern (die Erzählung hat etwas von einem Roadmovie). Es gelingt ihm immer wieder listenreich, Eyjólf den Grauen, der das Kopfgeld für ihn kassieren will, ins Leere laufen zu lassen. Gislis Frau Auðr und ihre Pflegetochter ziehen in eine verlassene Gegend weit draußen an den unwirtlichen und unwegsamen Westfjorden. Gisli kann deshalb mit seiner Frau und dem Mädchen in Kontakt bleiben. Aber auch hierher verfolgt ihn dieser verbissene Eyjólf mit seinen Leuten. Über zehn Jahre ist Gisli auf der Flucht. Zuletzt versteckt er sich in einem elenden Erdloch unweit des Hauses, in dem Auðr wohnt. Dort hat er 13 KLAUS SPECKENBACH: Von den Troimen. Über den Traum in Theorie und Dichtung. In: „Sagen mit Sinne“. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Hrsg. von HELMUT RÜCKER / KURT OTTO SEIDEL, Göppingen 1976 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180), S. 169–204, hier S. 180. 14 Ich möchte mich dem Urteil HELLERs (Anm. 8), S. 149, anschließen: „Gudruns Urteil über die vier Ehemänner ist in Zusammenhang zu sehen mit den vier Träumen des jungen Mädchens – Vorausschau und Rückblick ergänzen einander und legen sich wie eine Klammer um alles Dazwischenliegende. Hinzu tritt nunmehr aber noch das klärende Wort über die Bedeutung des Liebeserlebnisses mit Kjartan. Auf Grund der Einblicke in das dichterische Wirken des Sagaverfassers glaube ich nicht, daß die berühmten Worte Gudruns ‚þeim var ek verst, er ek unna mest‘, auf einer historischen Überlieferung basieren. Nach meiner Auffassung sind sie dem Kopfe des Laxd.-Dichters entsprungen, zugleich Krönung und Abschluß einer genialen Sagakonzeption.“ 15 Gísla saga Súrssonar. Hrsg. von FINNUR JÓNSSON, Halle a. d. Saale 1903 (Altnordische SagaBibliothek 10). Deutsche Übersetzung: Die Saga von Gisli Sursson, aus dem Altisländischen übertragen und erläutert von FRANZ B. SEEWALD, Stuttgart 1976.

Gudrun, Gisli, Gunnar . . .

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wiederholt Träume, und zwar nicht in den kurzen Sommernächten, sondern vor allem in der langen Dunkelheit des isländischen Herbstes und des Winters. Darin erscheinen ihm abwechselnd zwei Frauen.16 Zunächst erzählt Gisli davon seiner Frau Auðr: „Ich habe zwei Traumfrauen“, sagte er. „Und die eine ist gut zu mir und rät allzeit Gutes, doch die andere sagt mir dauernd etwas, das mir [von Mal zu Mal] schlimmer scheint und prophezeit mir nur Schlimmes. Und das träumte mir nun, dass mir so war, als ob ich zu einem Haus oder einer Halle ginge, und ich ging in das Haus und darin erkannte ich viele meiner Verwandten und Freunde. Sie saßen am Feuer und tranken. Und es waren sieben Feuer; einige waren ziemlich herunter gebrannt, andere loderten sehr hell. Da kam meine Traumfrau herein, die bessere, und sagte, dass das mein Leben bedeute, was mir noch zu leben übrig blieb. Und sie riet mir, dass ich, solange ich lebe, die alte Religion aufgeben und an keinem Zauber teilnehmen solle oder alten Bräuchen und gut sein solle zu den Lahmen und Blinden und Menschen, die geringer sind als ich. Länger war der Traum nicht.“

Dies ist aber nichts anderes als eine Prosazusammenfassung einiger der Strophen, in denen Gisli seiner Frau Auðr ebenfalls von seinen Träumen erzählt. Man merkt deutlich, dass der Verfasser ein frommer Mann war, wohl sogar ein Mönch. Doch nun zu den Skaldenstrophen selbst. In der Forschung wird davon ausgegangen, dass Skaldenstrophen in vielen Fällen älter sind als die Sagas, in die sie eingebettet sind und in denen sie zitiert werden. Das dürfte zumindest auf einige von Gislis Traumstrophen zutreffen.17 Schon deshalb können sie nicht in der Weise vom Saga-Verfasser als Mittel zur antizipierenden Handlungsstrukturierung konzipiert sein, wie wir das bei den vier Träumen der Gudrun gesehen haben. Dennoch haben sie ihre spezifische Funktion im Fortgang der Erzählung. Sie sind nämlich auf sehr geschickte Weise so integriert, dass sie zum einen den unvermeidlichen Fortgang der Handlung, die konsequent auf Gislis Ermordung zuläuft, immer wieder unterbrechen (es gibt keine direkte Abfolge der Strophen), zum andern aber bilderreich genau dieses grausame Ende ahnen lassen. Diese Kombination aus mehrfacher Unterbrechung des Fortgangs und gleichzeitigem Verweis auf das Bevorstehende erhöht die Dramatik der Darstellung insgesamt. Hier können nicht alle Traumstrophen vorgestellt werden, und zwar schon deshalb nicht, weil sie die sehr vertrackte Form des ‚Dróttkvætt‘ aufweisen, eine achtzeilige Strophenform mit streng geregeltem Stab- und Binnenreim, komplizierter Wortstellung und dunklen Umschreibungen von Begriffen, die man als ‚Kenningar‘ (Einzahl ‚Kenning‘) bezeichnet. Das Ganze ergibt eine ziemlich komplexe poetische Mixtur. Aber dennoch einige Textproben.

16 Zur Motivik der antithetischen (dualistischen) Frauengestalten vgl. TURVILLE-PETRE (Anm. 1), bes. S. 345–347. 17 Allerdings weisen die Gisli-Strophen deutliche Spuren von Einflüssen auf, die es verbieten, sie unkritisch dem historischen Gisli zuzuschreiben. Vgl. hierzu grundsätzlich GABRIEL TURVILLEPETRE: Gisli Sursson and his Poetry: Traditions and Influences. In: Modern Language Review 39 (1944), S. 374–391.

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Zunächst eine Strophe (23) über die gute Traumfrau: Fleins bauþ meþ sér sínom saumhlo˛kk gro˛´om blakke, þá vas brúþr viþ, beiþe, blíþ lofskreyte, ríþa; mágrundar kvazk mundo, mank orþ of þat skorþo, hyrjar Sól af heilo, hornflœþar, mik grœþa.

Um eine solche Strophe übersetzen zu können, muss man die Wörter erst einmal in eine Art ordo naturalis überführen. Es ergibt sich: Saumhlo˛kk bauþ fleinsbeiþe ríþa sínom gro´˛om blakke meþ sér; þá vas brúþr blíþ viþ lofskreyte; mágrundar hyrjar Sól kvazk mundo grœþa mik af heilo; mank orþ hornflœþar skorþo of þat. Die Walküre des Saumes bot dem Speerforderer an, mit ihr ihr graues Pferd zu reiten; da war die Frau freundlich zum Liedverschönerer. Die Sonne des Feuers des Möwengrundes sagte, dass sie mich ohne Betrug heilen würde; ich erinnere mich an die Worte der Trägerin der Hornflut.

Die Strophe enthält drei Frauenkenningar: 1. die Walküre des Saumes, 2. die Sonne des Feuers des Möwengrundes und 3. die Trägerin der Hornflut. Nr. 1 – die Walküre des Saumes – ist eine weibliche Person, die etwas mit dem Gewandsaum zu tun hat, jemand der näht, also die Frau. Zum Verständnis von Nr. 2 muss man wissen, dass der „Möwengrund“ das Meer ist, dessen „Feuer“ das Gold und die „Sonne“ des Ganzen wiederum – die Frau. Die „Hornflut“ in Nr. 3 ist das Bier, dessen „Trägerin“ wiederum die Frau, die es hereinträgt. Einfacher strukturiert sind die Kenningar „Speerforderer“ (ein Krieger) und „Liedverschönerer“ (ein Dichter). Beides meint Gisli. Kurz gesagt: „Die Frau bot mir an, mit ihr ihr graues Pferd zu reiten. Sie war freundlich zu mir. Sie sagte, dass sie mich heilen würde. Ich erinnere mich an die Frau.“ Wohin reitet der träumende „Liederverschönerer“ mit der „Sonne des Feuers des Möwengrundes“? Die folgende Strophe (24) gibt Aufschlüsse über das Reiseziel: Dýr lét dro˛´po stjóra dís til sess of vísat lœges elds, þars lo˛´go (lítt týnek því) dýnor; ok með sér en svinna saums leidde mik Nauma, sákat hól í hvílo, hlaut skald sæing blauta

In Prosawortfolge ergibt sich: Dýr dís lœges elds lét of vísat dro˛´ po stjóra till sess, þars dýnor lo˛´go; týnek því lítt; ok en svinna saums Nauma leidde mik meþ sér; skald hlaut blauta sæing; sákat hól í hvílo.

Gudrun, Gisli, Gunnar . . .

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Die herrliche Göttin des Meerfeuers wies dem Steuerer der Drapa (des Lobgedichts) einen Sitz an, wo Daunenkissen lagen. Das vergesse ich nie. Und die weise Nauma des Saumes führte mich mit sich. Der Dichter bekam eine weiche Bettdecke. Ich sah keine Vertiefung im Bett.18

Das „Meerfeuer“ ist wiederum das Gold, und dessen „Göttin“ ist die Frau. Der „Steuerer der Drapa“ ist der Dichter, also Gisli selber, und die „Nauma des Saumes“ wiederum die Frau (Nauma ist der Name einer Göttin). Die gute Traumfrau führt Gisli also in ihr weiches und makelloses Bett. Also: „Die Frau wies mir einen Platz im Bett an. Das vergesse ich nie. Sie führte mich. Ich bekam eine weiche Bettdecke. Ich sah keine Vertiefung im Bett.“ Was aber macht die andere Frau, die böse, unheilvolle, im Traume mit dem Mann, der sich im kalten und feuchten Erdloch vor seinen Verfolgern versteckt? Die Antwort gibt eine weitere Strophe (29): Hugþak geyme-Go˛ndol gunno˛ldo mér falda of rakskorenn reikar rúf dreyrugre húfo, være hendr á henne í hjo˛rregne þvegnar; svá vakþe mik Sága saums ór mínom draume

In Prosa: Hugþak geyme-Go˛ndol gunno˛ldo falda mér dreyrugre húfo of rakskorenn reikar rúf, være hendr á henne þvegnar í hjo˛rregne; svá vakþe Sága saums mik ór mínom draume. Ich dachte, dass die Verwahr-Göndol der Kampfwelle mir eine blutige Haube über die eben geschorene Ähre des Hauptes stülpte, dass ihre Hände verschmiert waren mit dem Schwertregen. Dann weckte mich die Sága des Saums aus dem Schlaf.

Die „Welle des Kampfes“ oder „Kampfwelle“ ist das Blut. Göndol ist der Name einer Göttin. Die Göttin, die das Blut verwahrt, ist die böse Traumfrau. Die „Ähre des Hauptes“ ist das Haar. Der „Schwertregen“ bedeutet wiederum Blut. Die unheimliche Nachtfrau stülpt Gisli eine blutige19 Haube über den Kopf. „Sága des Saums“ ist wieder die Frau. In diesem Fall bezieht sich die Kenning allerdings nicht auf die böse Frau, sondern auf Auðr, die ihren Mann aus dem bösen Traume weckt. Gisli spricht die Strophe zu ihr. Im Klartext: „Mir war, als ob mir die Frau eine blutige Haube über den Kopf stülpte mit blutverschmierten Händen. Dann wecktest du mich aus dem Schlaf.“

18 Vgl. in den Somnia Danielis: Lectum sibi stratum & bene stratum uiderit, claritatem significat („Wenn jemand ein für ihn gemachtes, und (zwar) ein gut gemachtes Bett (im Traume) sieht, das bedeutet Ruhm“); FISCHER (Anm. 3), S. 31. 19 Blutträume kündigen in allen Versionen der Somnia Danielis Unheil an. Vgl. FISCHER (Anm. 3), S. 36.

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Wozu nun diese poetisch stilisierten Traumschilderungen? Sie fügen sich, wie gesagt, nicht wie die Guðrun-Träume als handlungsprospektiv in den Fortgang der Erzählung ein, sondern dienen der Steigerung der Dramatik gegen Ende der Saga. Wenn die brutale Nachtfrau alleine auftreten würde, könnte man die Albträume als unheilvollen Hinweis auf den nahe bevorstehenden grausamen Tod Gislis interpretieren. Aber wohin dann mit der guten Frau, die Gisli mit in ihr makelloses Bett nimmt? Sie fügt sich nicht in den Fortgang der Sagahandlung, die sich ja unerbittlich auf die Katastrophe zu bewegt. Allenfalls könnte sie als retardierendes Moment interpretiert werden. Einige der Skaldenstrophen, die hier nicht zitiert werden können, enthalten wie die Prosaepisode den Aufruf zu guten Taten im Sinne christlicher Ethik. Die Vermutung liegt also nahe, dass hier der heidnische Sagaheld Gisli Súrsson wenn schon nicht zum christlichen Märtyrer stilisiert werden sollte (das war schlechterdings unmöglich), so doch zu einem Helden, dem christliche Werte und Verhaltensweisen nicht unbekannt waren. Warum ließ der Verfasser dann aber Gisli nicht gleich gut christlichmittelalterlich von Himmel und Hölle träumen? Eine Erklärung wäre die Annahme, dass in der Zeit zwischen dem historischen Gisli Súrsson (von dessen faktischer Existenz man ja ausgehen kann) und der Abfassung seiner Saga in der erhaltenen Form, Strophen in Umlauf waren, die in der mündlichen Überlieferung Gisli zugeschrieben wurden und die der Verfasser schon aufgrund ihrer Bekanntheit als Zitate in sein Prosawerk integrieren musste. Gislis Träume sind also wohl nicht primär aus narrativem Kalkül heraus als Elemente der Prosa-Saga und für die Prosa-Saga konzipiert und gedichtet worden, sondern eher umgekehrt wurde die Saga nachträglich und aufbauend auf die Strophen verfasst. Dass es dem Verfasser dabei gelungen ist, die Strophen sehr geschickt in sein Prosawerk zu integrieren, wird jeder bestätigen, der sie zusammen mit ihrem überlieferten Kontext liest.

3.

Edda-Träume

Nun zur eddischen Dichtung. Darunter versteht man zum einen Dichtungen mythologischen Inhalts, zum anderen Heldenlieder (die bekanntlich teilweise auch den Nibelungenstoff behandeln). Die wichtigste Sammlung eddischer Dichtungen ist der im 13. Jahrhundert geschriebene Codex Regius, aber auch außerhalb dieser Handschrift sind einzelne eddische Lieder überliefert, die sich inhaltlich und formal zu den Liedern des Codex Regius fügen. In beiden Gruppen spielen Träume eine Rolle. Im Bereich der mythologischen Lieder oder Götterlieder wäre das Lied Baldrs draumar („Baldurs Träume“) zu erwähnen. Hier wird allerdings nicht wie in den bisher besprochenen Fällen der Inhalt eines Traumes geschildert, sondern man erfährt nur die Tatsache, dass Baldur von bösen Träumen gequält wird, was die Götter in Panik geraten lässt. Odin reitet daher in die Unterwelt, erweckt eine tote Seherin aus ihrem Grabhügel zum Leben und stellt sich der Dame mit dem falschen Namen Vegtamr vor. Dann stellt er ihr Fragen über die Zukunft, speziell über das künftige Schicksal seines

Gudrun, Gisli, Gunnar . . .

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Sohnes Baldur. Die Seherin sagt ihm Baldurs Tod voraus, über den es zwar kein Eddalied gibt, der aber in der Prosaedda des Snorri Sturluson in allen Einzelheiten geschildert wird. Er wird von einem trotteligen blinden Gott mit einem Mistelzweig erschossen. Hinter allem steht Loki, der große Intrigant im nordischen Götterhimmel. Die bösen Träume der Lichtgestalt unter den Asengöttern verheißen also Unheil und geben den Anstoß zu Odins gefährlicher Unterwelt-Reise, die dann der eigentliche Gegenstand eines Eddaliedes ist. Sie sind eine Art Rahmenhandlung. Nicht nur angedeutet, sondern detailliert erzählt werden Träume in einem anderen Eddalied, nämlich dem Grönländischen Atlamál20 aus dem Heldenteil. Das wohl frühestens im 12., vielleicht auch erst im 13. Jahrhundert (also nicht allzu lange vor der Niederschrift des Codex Regius) entstandene Lied behandelt denselben Stoff wie die wesentlich ältere Atlakvíða, nämlich den Zug der Burgunden an den Hof des Attila21 (altnordisch Atli, Genitiv Atla, deshalb auch Atlamál). Die jüngere Version hat gegenüber der älteren Bearbeitung des Stoffes viele neue Motive eingearbeitet, unter anderem eben Traummotive. Und um diese soll es kurz gehen. Die Träume ereignen sich in der Nacht vor der Abreise des von Högni und Gunnar angeführten Zuges. Nachdem die Boten aus dem Hunnenland freundlich und aufwendig bewirtet worden sind, geht Högni mit seiner Frau namens Kostbera zu Bett, ebenso Gunnar mit seiner Gemahlin Glaumvör. Kostbera schreckt aus bösen Träumen auf und sagt zu Högni: Blæio hugða ec þína brenna í eldi, hyrti hár logi hús mín í gognom Dein Bettuch sah ich im Feuer brennen, es sauste eine hohe Flamme gegen mein Haus.22 Bio˛rn hugða ek hér inn kominn, bryti up stocca, hristi svá hramma, at vér hrœdd yrðim; munni oss mo˛rg hefði, svá at vér mættim ecci þar var oc þro˛mmum þeygi svá lítil Ein Bär,23 so schien mir, sei hereingekommen, brach die Balken auf, schlug so die Pranken, dass wir erschraken. Im Maul hatte er viele von uns, so dass wir nichts vermochten; da war der Lärm kein geringer.

20 Edda (Anm. 11), S. 248–263, Übersetzung (Anm. 11), S. 429–451. 21 Auf eine ganz erhebliche stoffliche Differenz zum mittelhochdeutschen Nibelungenlied ist am Rande hinzuweisen: Die Edda-Gudrun ist zwar das nördliche Pendant der Nibelungenlied-Krimhild, aber sie rächt nicht wie diese den erschlagenen Sigfrid an Gunther und Hagen, sondern sie rächt ihre Brüder Gunnar und Högni an Atli, der diese aus Habgier auf seine Burg geladen hat, um zu erfahren, wo der Hort versteckt ist. Er lässt die Burgunden ermorden. 22 Vgl. bei FISCHER (Anm. 3), S. 70, die Einträge zum Stichwort ‚fire‘. Feuer ist durchwegs ein bedrohliches Traummotiv. 23 Vgl. FISCHER (Anm. 3), S. 30: Vrsum ad se infestare uiderit, inimici seditionem significat. („Wenn jemand einen Bären auf sich eindringen sieht, bedeutet das Zerwürfnis.“)

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Hans Ulrich Schmid

O˛rn hugða ec hér inn fliúga at endlo˛ngo húsi þat mun oss driúgt deilaz, dreifði hann oss o˛ll blóði hugða ec af heitom, at væri hamr Atla Einen Adler24 meinte ich hereinfliegen zu sehen, ins endlange Haus. Das wird uns Gefahr bringen. Er bespritzte uns mit Blut. Ich verstand es als Drohung, dass es eine [andere] Gestalt Atlis wäre.

Högni glaubt nicht an Träume und solches Weibergeschwätz. Er tut alles ab, indem er die Träume zwar als Vorzeichen deutet, sie aber auf ganz alltägliche Dinge bezieht. Das brennende25 Leinen im Traum sei nichts anderes als das schäbige alte Bettzeug, das herumliegt und sowieso verbrannt werden muss. Der Bär sei sicherlich ein Eisbär gewesen, und so kündigten sich üblicherweise Oststürme an. Der Blutadler bedeute nichts anderes, als dass bald Schlachttag sei. Auch Glaumvör erwacht aus unheilvollen Träumen, weckt ihren Ehemann Gunnar und sagt: Gorvan hugða ec þér gálga, gengir þú at hanga æti þic ormar, yrða ec þic qviqvan, gorðiz ro˛c ragna; ráð þú hvat þat væri Bereitet sah ich dir einen Galgen. Du gingst, um zu hängen. Es fraßen dich Schlangen.26 Ich sah dich [noch] leben. Es ereignete sich [dein] Untergang. Sage, was das bedeutet. Blóðgan hugða ec mæki borin ór serc þínom illt er svefn slícan at segia nauðmanni; geir hugða ec standa í gognom þic miðian, emioðo úlfar á endom báðom Ein blutiges Schwert27 sah ich gezogen aus deinem Gewand. Schlimm ist es, solchen Traum dem Verwandten zu sagen. Ein Speer, dachte ich, ginge mitten durch dich. Es heulten Wölfe28 an beiden Enden.

24 Der Adler als Unheil andeutendes Traummotiv erscheint auch in den Somnia Danielis. In der bereits (Anm. 9) erwähnten frühneuhochdeutschen Übersetzung hrsg. von PALMER / SPECKENBACH heißt es (S. 262): Adler eynen einig sehen in eym hauß / bedeyt feindtschafft („Einen einzelnen Adler in einem Haus zu sehen, bedeutet Feindschaft“). Vgl. in der Zusammenstellung bei FISCHER (Anm. 3), S. 62: Aquilas in domum tuam intrare: inimiciciam („Adler in dein Haus kommen [zu sehen, bedeutet] Feindschaft“). 25 Vgl. PALMER / SPECKENBACH (Anm. 9), S. 264: Brünst sehen / bedeyt perickel des lebens („Feuersbrünste zu sehen, bedeutet Lebensgefahr“). Vgl. ferner FISCHER (Anm. 3), S. 70 unter dem Stichwort ‚fire‘. 26 Vgl. bei FISCHER (Anm. 3), S. 134: Serpente infesto pati, inimici uisionem significat („Von einer Schlage angegriffen zu werden, bedeutet Voraussicht auf einen Feind“). 27 Vgl. FISCHER (Anm. 3), S. 144, die Einträge unter dem Stichwort ‚sword‘ („Schwert“). Es handelt sich überwiegend um ein Unheil ankündigendes Traummotiv.

Gudrun, Gisli, Gunnar . . .

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Á hugða ec hér inn renna at endilo˛ngo húsi, þyti af þiósti, þeystiz uf becci; byrti fœtr ycra brœðra hér tveggia, gerðit vatn vægia; vera mun þat fyr necqvi Einen Fluss29 sah ich hereinbrausen ins endlange Haus; er toste vor Zorn, überflutete die Bänke, brach eure Füße, euch beiden Brüdern. Nichts hemmte das Wasser. Das muss etwas bedeuten.30

Und schließlich: Konor hugðac dauðar koma í nótt hingat værit vart búnar, vildi þic kiósa, byði þér brálliga til beccia sinna; ec qveð aflima orðnar þér dísir Frauen, dünkte mich, tote,31 kamen heute Nacht hierher, schäbig gekleidet, wollten dich mitnehmen, baten dich sogleich auf ihre Bänke. Ich glaube, schwach geworden sind deine Dísen [gute Schicksalsgöttinnen].

Anders als sein Bruder Högni nimmt Gunnar die Träume seiner Frau ernst. Zwar deutet er nicht alle Träume, aber er erkennt das Wolfsgeheul als Ankündigung eines bevorstehenden Kampfes und seines baldigen Todes. Das genügt. Doch die Fahrt zu Atli ist bereits beschlossen. Es gibt kein Zurück mehr. Die wesentlich ältere Atlakviða weiß nichts von alledem. Es handelt sich offenbar um eine jüngere Ausmalung der Szenerie, wie überhaupt das jüngere Atli-Lied Details einführt, die dem älteren fremd sind. Die Träume kündigen bevorstehendes Unheil an, sind also auf den Fortgang der Handlung hin konzipiert. Im Unterschied zu den Träumen der Gudrun in der Laxdæla Saga sind die Träume der Frauen von Högni und Gunnar aber nicht so ‚konstruiert‘, dass ihnen das Künftige schon verschlüsselt immanent wäre. Sie sind ganz allgemeine Vorzeichen des Untergangs, dem Gunnar und Högni entgegengehen werden. In Gislis Träumen lässt sich die böse Frau sicher als Vorzeichen des nahe bevorstehenden Todes deuten. Die toten Frauen, die Gunnar im Traum der Glaumvör mitnehmen, könnten deshalb sogar an Gislis böse Traumfrau erinnern. Aber sie tun ihm keine Gewalt an. Sie sind ‚nur‘ Boten des kommenden Unheils.

28 Vgl. FISCHER (Anm. 3), S. 160: A lupo se comprehendere vel tenere: ab inimicis opprimi signat („Von einem Wolf angefallen oder gepackt zu werden, [bedeutet] von Feinden bedrückt zu werden“). 29 Vgl. FISCHER (Anm. 3), S. 122: Flumen in domum suam intrare, periculum ipsa patietur (u. ä.). („Einen Fluss in sein Haus eindringen [zu sehen, bedeutet] es wird Gefahren erleiden“). 30 TURVILLE-PETRE (Anm. 1), S. 350, weist auf eine Parallele in den Somnia Danielis hin: Flumen in domum suam intrare, periculum ipsa patietur („Einen Fluss in sein Haus eindringen [zu sehen, bedeutet] es wird Gefahren erleiden“). Vgl. auch FISCHER (Anm. 3), S. 122. 31 Vgl. FISCHER (Anm. 3), S. 55: A mortuo qui se viderit trahere: nil boni designat („Wer sieht, dass er von einem Toten angegangen wird, das bedeutet nichts Gutes“).

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Noch etwas anderes kommt jedoch hinzu, etwas das einen entscheidenden Unterschied zu den bisher besprochenen Träumen ausmacht: Dadurch nämlich, dass die Unheilsträume auf die beiden Ehefrauen verteilt und nacheinander dem jeweiligen Mann mitgeteilt werden, schafft sich der Dichter die Möglichkeit, Högni und Gunnar auf indirektem Wege als unterschiedliche Charaktere darzustellen. Die Träume der Atlamál dienen auch der Gestaltung der handelnden Figuren, sind also nicht nur der Antizipation des Kommenden geschuldet. Wenn wir zurückblicken, sehen wir bei den hier besprochenen Träumen aus der altisländischen Literatur durchaus gewisse funktionale Ähnlichkeiten32 im Hinblick auf die Handlungs- und Ereigniszusammenhänge, in denen sie stehen. Wohl deuten sie in irgendeiner Weise darüber hinaus stets auch noch auf etwas anderes. LARS LÖNNROTH hat es unter Verweis auf WILHELM HENZEN33 so formuliert: „[…] they may signal the presence of some metaphysical force – a blind destiny or possibly a god – operating behind the stage.“34 Doch das ist ein weiterer Gesichtspunkt. Ich wollte mich hier auf die narrativen Funktionen beschränken. Bei genauerem Zusehen wird auch unter diesem Aspekt ganz Unterschiedliches erkennbar. Selbst wenn teilweise bekannte Traummotive und -deutungen von den altisländischen Autoren verwendet worden sind, so ist doch die Art und Weise, wie sie poetisch bearbeitet und mit unterschiedlichem narrativem Kalkül in die Handlungsabläufe integriert worden sind, deren Eigenleistung.

32 Worauf hier (aufgrund der begrenzten Auswahl) nicht eingegangen werden konnte, sind die aufs Ganze gesehen doch unterschiedlichen Traummotive in Isländersagas auf der einen und Vorzeitsagas sowie Edda auf der anderen Seite. Vgl. dazu GEORGIA DUNHAM KELCHNER: Dreams in Old Norse Literature and their Affinities in Folklore, Cambridge 1935. 33 WILHELM HENZEN: Über die Träume in der altnordischen Sagalitteratur, Leipzig 1890. 34 LÖNNROTH (Anm. 5), S. 456.

RUDOLF VOSS

Traum, Vision, Imagination – Konstruktionen innerer Wahrnehmung in der deutschen Lyrik der klassisch-höfischen Periode 1.

Zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Themas

Lyrik und Traum – die Gattung und das Motiv scheinen gleichsam verschwistert. Wo eine Sphäre innerer Erfahrung erschlossen wird, wie es die Lyrik so intensiv wie kein anderes literarisches Genre vermag, da liegt in der Tat der Bezug auf Traumerleben als eine besonders tief in der Psyche des Subjekts verwurzelte Erlebnisweise nahe. Nimmt man die romantische Lyrik als Maßstab, so kann man nicht umhin, der Motivik und Thematik des Traums in diesem Sinn hohe Signifikanz zuzusprechen. In der mir vorliegenden Ausgabe der weit verbreiteten Anthologie deutscher Gedichte von ECHTER1 MEYER finden sich unter den gut 80 ausgewählten Gedichten aus der Epoche der Romantik 16, also etwa 20 Prozent, in denen Traummotivik eine sinntragende Funktion zukommt; von den dort aufgenommenen 16 Eichendorff-Gedichten sind es allein deren fünf, also beinahe ein Drittel. Eine solch hohe Signifikanz kommt der Traummotivik in der mittelalterlichen deutschen Lyrik der klassisch-höfischen Periode, also der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts und des frühen 13. Jahrhunderts, bei weitem nicht zu. Von daher ist es wohl erklärlich, dass bisher eine systematische Aufarbeitung unterblieben ist. Bis einschließlich Walther von der Vogelweide verzeichnet die Überlieferung etwa 370 Gedichte oder gedichtähnliche Strophengruppen von 24 namentlich bekannten und einigen anonymen Autoren. Lediglich sieben oder acht davon entfalten Traummotivik, sei es, der Ambivalenz antiker und mittelalterlicher Theoriebildung entsprechend,2 im Sinne psychischer Trugbilder, sei es im Sinne bedeutsamer Eingebung: je eines von Friedrich 1 2

THEODOR ECHTERMEYER: Deutsche Gedichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, neugestaltet von BENNO VON WIESE, Düsseldorf 1960. Siehe überblicksweise mit weiterführender Literatur HANS H. LAUER: Art. ‚Traum‘. In: Lexikon des Mittelalters. Hrsg. von ROBERT-HENRI BAUTIER / ROBERT AUTY, Bd. VIII, München 1997, Sp. 962–964. In der altgermanistischen Forschung wurde das Sinnspektrum zuerst ausgeleuchtet von KLAUS SPECKENBACH: Von den troimen. Über den Traum in Theorie und Dichtung. In: „Sagen mit sinne“. Festschrift für Marie-Luise Dittrich zum 65. Geburtstag. Hrsg. von HELMUT RÜCKER / KURT OTTO SEIDEL, Göppingen 1976 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 180), S. 169– 204; freilich bleibt die Lyrik unberücksichtigt.

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von Hausen (MF VIII) und von Heinrich von Morungen (MF XXXII), fünf oder sechs von Walther ([W 10, IV], W 10, VIII; W 51, W 64, W 96, W 97).3 Erweitert man allerdings, wie nicht nur legitim, sondern geradezu sachlich geboten, die Perspektive auf die eng verwandten Bereiche visionärer, ekstatischer oder imaginativer Wirklichkeitswahrnehmung, so verbreitert sich die Untersuchungsbasis beachtlich, nämlich um ein weiteres Lied Friedrichs von Hausen (MF V), ein Versikel im Leich – einer lyrischen Großform – Ulrichs von Gutenburg (MF IVb), ein Lied Berngers von Horheim (MF II), ein Lied Wolframs von Eschenbach (MF III), je fünf Gedichte Morungens (MF IV, MF V, MF XXII, MF XXIX, MF XXX) und Walthers (W 2, II/III; W 11a, W 21, IV; W 68, W 91). Ingesamt bieten sich so 21 oder 22 Lieder bzw. liedartige Gebilde an, also annähernd sechs Prozent des Gesamtbestands. Bei Morungen sind es immerhin sechs von 35 Gedichten, bei Walther zehn oder elf von knapp 100. Auch wenn durch die Erweiterung der Materialbasis die Belegdichte der romantischen Lyrik längst nicht erreicht wird, so ist der Befund doch bei näherem Zusehen aufschlussreich, insbesondere bezüglich der Autoren, die vornehmlich traumhaftes, visionäres oder imaginatives Erleben suggerieren. Es kann nicht zufällig sein, dass sich die Belege auf die Lyrik Heinrichs von Morungen und Walthers von der Vogelweide konzentrieren, bei allen anderen Autoren hingegen allenfalls singulär bleiben. Will man der Bedeutung dieses Sachverhalts näher kommen, so ist vorab die Situation der deutschsprachigen Lyrik in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zu umreißen. Das Spektrum der Lyrik dieser Periode erstreckt sich auf drei nicht gleichgewichtige Subspezies, die sich durchaus berühren oder sogar überschneiden: Minnesang als leitende Teilgattung, daneben religiöse Lyrik und Spruchdichtung. Die Spruchdichtung, nach Ausweis der Verfassernamen Spervogel und Herger eine zunächst von sozial niedrig gestellten Autoren gepflegte Kunstform, deckt verschiedene thematische 3

Textausgaben: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von KARL LACHMANN und MORIZ HAUPT, FRIEDRICH VOGT und CARL VON KRAUS, bearbeitet von HUGO MOSER und HELMUT TERVOOREN, Bd. I: Texte, 37., revidierte Auflage, Stuttgart 1982 (zitiert als MF mit nachfolgender Angabe der Nummer des Gedichts in römischen Ziffern gemäß Anordnung im Autor-Œuvre und der Strophe in arabischen Ziffern); Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe KARL LACHMANNs, mit Beiträgen von THOMAS BEIN und HORST BRUNNER, hrsg. von CHRISTOPH CORMEAU, Berlin, New York 1996 (zitiert als W mit nachfolgender Angabe der Nummer des Gedichts in arabischen Ziffern und der Strophe in römischen Ziffern). – Nicht anders als in der deutschen Lyrik scheint es sich in der altprovenzalischen bzw. altfranzösischen zu verhalten. Von den 70 in der zweibändigen Anthologie von DIETMAR RIEGER: Mittelalterliche Lyrik Frankreichs I / II, Stuttgart 1980 / 1983 aufgeführten Liedern ist lediglich eines in etwa einschlägig, nämlich Farai un vers de dreyt nien („Ich werde ein Lied über rein gar nichts machen“) des ersten namentlich bekannten Troubadours, Wilhelms IX. von Aquitanien und Poitou. Ohne dass direkt von Traum die Rede ist, suggeriert das lyrische Ich, schlafend auf dem Pferd gedichtet zu haben. Der beanspruchte Zustand des Unbewussten ermöglicht es dem Sänger, sich von einer distinkten Sinndeutung des anschließend thematisierten Liebesschmerzes zu dispensieren.

Traum, Vision, Imagination

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Bereiche ab: lebenspraktische, ethische und religiöse Didaxe, Gönnerlob und die eigene dürftige soziale und materielle Lage. Es versteht sich, dass einer solchen Interessenbildung die sublime Welt innerer Befindlichkeit, wie sie Traum, Vision, Imagination erschließen, fremd bleibt. Die deutschsprachige religiöse Lyrik der Zeit vor und um 1200 ist vornehmlich durch die Kreuzzugsthematik gekennzeichnet; ihr Diskurs ist demgemäß ideologisch geprägt, ihre Wirkungsabsicht propagandistisch, so dass auch sie keine besondere Affinität zur Innensphäre des Traums aufweist. Demgegenüber manifestiert sich im Minnesang als der für die feudalhöfische Gesellschaft des Hohen Mittelalters neben dem Versroman maßgeblichen Kunstform durchaus ein höherer Grad an Verinnerlichung. Aber selbst für die höfische Liebeslyrik in ihren verschiedenen Ausprägungen ist psychologisch nuancierte Versenkung ins subjektive Innere nicht das dominierende Anliegen. In der nach Mitte des 12. Jahrhunderts anzusetzenden ersten Phase, dem nach der Verbreitungsregion benannten ‚donauländischen‘ Minnesang mit dem Kürenberger als erstem und wichtigstem Vertreter, ist Liebe zuvörderst elementares Begehren; reflexive Momente treten erst in Ansätzen in Erscheinung. Sublimierung findet, wenn überhaupt, in symbolischer Weise statt, so vor allem in Kürenbergers bekanntester Schöpfung, dem zweistrophigen Falkenlied, in dem eine Dame den Verlust eines von ihr erzogenen Jagdfalken beklagt; vom Ende des Liedes her ergibt sich, dass der entflogene Falke den durch weibliche Erziehung kultivierten Geliebten bezeichnet, der sich zuletzt kraft eines ihm innewohnenden elementaren Freiheitspotentials der Domestizierung entzieht. Generell darf man feststellen, dass die Lyrik der ‚donauländischen‘ Phase dem Mann einen größeren Aktionsspielraum zuerkennt als der Frau, so dass nach Ausweis der Frauen-Rollenstrophen primär der weibliche Partner als Leid tragend an der durch äußere, gesellschaftliche Widerstände oder intersubjektive Divergenz gefährdeten oder scheiternden Beziehung dasteht. Für eine Psychologie des Traums ist in diesen Konstellationen kein Platz. Selbst die nachhaltig traditionsstiftende Lyrik der hohen Minne, die in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts unter provenzalischem Einfluss mit Friedrich von Hausen, einem hochrangigen, im pfälzischen Raum beheimateten Reichsministerialen im Dienst Friedrich Barbarossas, anhebt, ist nicht eigentlich psychologisch orientierte Kunst. Ihr Diskurs ist vielmehr dem Gehalt nach primär ethisch-ideologisch geprägt, der Methode nach entsprechend rational-analytisch. In dieser Konzeption erscheint die Dame in eine absolute, quasi religiöse Wertsphäre gerückt, ja entrückt; sie repräsentiert die im platonisch-neuplatonischen Denken oberste, alle anderen Werte einschließende Idee des Guten. Diu guote, so wird die Dame, von aller persönlicher Eigenschaftlichkeit abstrahierend, durchgängig – wir könnten geneigt sein zu sagen: stereotyp – apostrophiert. Die positive Wirkung, die sie auf den werbenden Mann ausübt, liegt in seiner Erziehung, eigentlich seiner Selbsterziehung in ihrem Dienst. Die derart ins Extrem gesteigerte Überhöhung der Dame über den werbenden Ritter bedingt es, dass seine Liebe unerfüllbar ist. Da der Wunsch nach Liebeserfüllung trotz des angenommenen Wertgefälles aber bleibt, eignet dem Minnesang außer dem Impetus des Frauenpreises auch der der Artikulation und – so gut dies möglich ist – der Bewältigung von Leiderfah-

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rung. Die Strategie der Leidbewältigung speist sich vornehmlich aus der utopischen Hoffnung, dass doch einmal geschehen möge, was eigentlich ausgeschlossen ist: die emotionale Zuwendung der Dame. Unter allen Autoren, welche das an sich schon extravagante Leitbild der hohen Minne propagieren, ragt durch besonders extreme Positionierung Reinmar der Alte heraus, möglicherweise aus dem elsässischen Hagenau stammend und wahrscheinlich für längere Zeit am Babenberger Hof in Wien wirkend. In der wohl bekanntesten Reinmar-Strophe aus dem Lied Swaz ich nu niuwer maere sage manifestiert sich dieser hochgradig idealistische und intellektualistische Duktus paradigmatisch (MF XIV, 3): Sô wol dir, wîp, wie rein ein nam! wie sanfte er doch z’erkennen und ze nennen ist! ez wart nie niht sô lobesam, swâ dûz an rehte güete kêrest, sô du bist. Dîn lop mit rede níemàn volenden kan. swes dû mit triuwen pfligest wol, der ist ein saelic man und mac vil gerne leben. dû gîst al der welte hôhen muot: maht ouch mir ein wênic vröide geben! Wohl dir, Frau, was für ein reiner Name! Wie sanft er doch zu erkennen und zu nennen ist! Niemals wurde etwas so lobenswürdig als da, wo du es auf das wahrhaft Gute ausgerichtet hast, welches du bist. Niemand kann deinen Ruhm mit Worten vollendet ausdrücken. Wessen du dich in Treue zum Wohle annimmst, der ist ein vom Heil begünstigter Mann und vermag sehr gerne zu leben. Du gibst aller Welt freudige Hochstimmung. Du kannst auch mir ein wenig Freude geben!

Ohne die Aussage der Strophe in allen Nuancen erschließen zu wollen, lässt sich grundsätzlich festhalten: Der Frauenpreis zielt nicht auf eine konkrete Person, sondern auf den namen Frau, d. h. auf den Begriff, die Idee der Weiblichkeit als mit der rehten güete, der Idee des Guten kongruent. Als Repräsentantin der Idee des Guten übt die Frau eine universal glückstiftende Wirkung aus, von der allerdings das lyrische Ich allenfalls potentiell erreicht wird. Während die zitierte Lesart der Handschriften A (der kleinen Heidelberger) und B (der Weingartner) dem lyrischen Subjekt immerhin eine wenn auch eingeschränkte positive Aussicht auf ein wênic vröide, ein kleines Glück, zubilligt, reduzieren die Lesarten der Handschrift C (der großen Heidelberger oder Manessischen) und E (der Würzburger) das Hoffnungsmoment bis zum Verschwinden. Handschrift C formuliert die Frage Maht du …, also „Kannst du mir ein wenig Freude geben?“, Handschrift E steigert die Skepsis, indem sie die Frage als eine Art Theodizee-Frage vor dem Hintergrund unaufhebbarer Leidbestimmtheit stellt: Wane maht du mir …, d. h. „Warum kannst du mir nicht ein wenig Freude geben?“ Eine solche finale Wendung des Frauenpreises in einen Klagegestus liegt durchaus in der Linie der Gesamtkonzeption des Gedichts; es präsentiert seine Botschaft nämlich schon eingangs in distinktem Bekenntnis zur Monotonie seiner Thematik als eine solche des Leides und der Klage (MF XIV, 1):

Traum, Vision, Imagination

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Swaz ich nu niuwer maere sage, des endárf mich nieman vrâgen: ich enbin niht vrô. Was ich nun an Neuigkeiten berichte, danach braucht mich niemand zu fragen: Ich bin nicht froh.

Und entsprechend thematisieren, was in diesem Zusammenhang nicht näher auszuführen ist, auch alle anderen Strophen des fünfstrophigen Liedes diese notorische Leiderfahrung. Reinmar wendet diese unbedingte Leiderfahrung in einen hohen ethisch-ästhetischen Anspruch an sich und an die Gesellschaft. In einem anderen, ebenso viel beachteten Lied, Ein wîser man sol niht ze vil, formuliert er in diesem Sinn (MF XII, 5): Des einen und dekeines mê wil ich ein meister sîn, al die wîle ich lebe: daz lop wil ich, daz mir bestê und mir die kunst diu werlt gemeine gebe, Daz nieman sîn léit álsô schône kan getragen. In einer einzigen Sache und keiner anderen will ich Meister sein, solange ich lebe: Ich will, dass mir der Ruhm beständig zukomme und mir die ganze Welt die Kunst zuerkenne, dass niemand sein Leid auf so schöne Weise zu tragen versteht.

Die Kunst, von der hier die Rede ist, reicht weit über das dichterische Werk hinaus. Es geht vielmehr um das mit höchster intellektueller Bewusstheit gestaltete Lebensganze; Ästhetik ist somit zu einem radikalen Ästhetizismus gesteigert. Wie sehr dabei alle emotional-affektischen Momente sublimiert werden, zeigt sich etwa in einer vorangehenden Strophe des Liedes, in welcher das lyrische Subjekt ein Aufbegehren ausdrückt (MF XII, 3): sol nû diu triuwe sîn verlorn, sô endarf ez nieman wunder nemen, hân ich underwîlen einen kleinen zorn. Wenn nun die Treue vergeblich sein soll, so braucht es niemanden Wunder zu nehmen, wenn ich zuweilen einen kleinen Zorn habe.

Der Affekt erscheint hier, weit entfernt von spontaner Artikulation, mehrfach gebrochen. Zum einen handelt sich um einen reduzierten Affekt, eben einen kleinen zorn, zum anderen ist er in Ausnahmesituationen abgedrängt (underwîlen), zum dritten wird durch die doppelt konditionale Satzstruktur ein Höchstmaß an reflektorischer Distanz erzeugt, und zum vierten richtet sich die Argumentation gar nicht an die Auslöserin des Affekts, an die Dame, sondern an die Gesellschaft, deren Einstellung auf diese Weise gelenkt werden soll. Es dürfte sich angesichts solch extremer intellektualistischer Positionierung verstehen, dass bei Reinmar – nach Walther mit 60 ihm zugeschriebenen Liedern der produktivste deutsche Lyriker in der klassisch-höfischen Periode – der Motivkomplex Traum, Vision, Imagination überhaupt keine Rolle spielt. Wenn also am extremen Fall Reinmars deutlich wurde, dass dieser Komplex in der Lyrik der hohen Minne keinen genui-

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nen Rang beanspruchen kann, so ist zunächst zu fragen, in welcher besonderen Konstellation oder welchen Konstellationen er dennoch in Erscheinung tritt. Vor allem möchte ich diesbezüglich den Intentionen des ausgiebigeren Gebrauchs bei Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide nachgehen. Zuvor wende ich mich einzelnen betreffenden Gedichten Friedrichs von Hausen, Ulrichs von Gutenburg, Berngers von Horheim und Wolframs von Eschenbach zu.

2.

Friedrich von Hausen, Ulrich von Gutenburg, Bernger von Horheim, Wolfram von Eschenbach

Das früheste deutschsprachige Lied, welches Traummotivik einsetzt, ist In mînem troume ich sach Friedrichs von Hausen, ein schlicht angelegtes einstrophiges Gebilde, gleichwohl von hoher ideologischer Symptomatik (MF VIII): In mînem troume ich sach ein harte schoene wîp die naht unz an den tach: do erwáchetè mîn lîp. Dô wart si leider mir benomen, daz ich enweiz, wâ si sî, von der mir vröide solte komen. daz tâten mir diu ougen mîn, der wolte ich âne sîn. In meinem Traum sah ich eine sehr schöne Frau die Nacht über bis zum Tag; da erwachte ich. Da wurde sie mir leider fortgenommen, so dass ich nicht weiß, wo sie ist, von der mir Freude zukommen sollte. Das taten mir meine Augen an; deren wollte ich ledig sein.

Dadurch, dass die Situation der Wahrnehmung einer überaus attraktiven Frau als die eines Traums und damit einer Täuschung gekennzeichnet wird, vermittelt das Lied die für den Minnesang typische Diskrepanz zwischen Glücksbegehren und Leiderfahrung. Daher entbehrt der Traum jedweden individuellen Gehalts; das Traumgesicht erscheint absolut statisch, so als sehe das Ich nicht, sozusagen filmisch, eine konkrete Person in natürlicher Bewegung, sondern ein ideales Bild. Ebenso charakteristisch für den Minnesang ist, dass sich das Ich, indem es seinen Augen die Schuld an der Täuschung gibt, weil sie das im Traum reproduzierte Bild der Dame aufgenommen haben, letztlich selbst die Verantwortung zuschreibt. Und schließlich indiziert der irreale Wunsch, ohne Augen zu sein, die Ausweglosigkeit der Verstrickung in die Liebe. Mit dem Motiv des Traums verwandt ist das der tranceartigen Versunkenheit. Hausens Lied Sî darf mich des zîhen niet bedient sich eingangs dieses Motivs, um gemeinsam mit dem Eros-Aspekt einen weiteren Aspekt der hohen Minne effektvoll herauszustellen, nämlich die ethische Verfasstheit (MF V, 1): Sî darf mich des zîhen niet, ich enhête sî von herzen liep.

Traum, Vision, Imagination

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des möhte sî die wârheit an mir sehen, und wíl si es jéhen. ich kom sîn dícke in sô grốze nôt, daz ich den liuten guoten morgen bôt gegen der naht. ich was sô verre an sî verdâht, daz ich mich underwîlent niht versan, und swer mich gruozte, daz ich sîn niht vernan. Sie [die Dame] darf mich nicht dessen beschuldigen, dass ich sie nicht von Herzen lieb hätte. Wenn sie es eingestehen will, könnte sie die Wahrheit an mir sehen. Ich kam durch sie in so große Not, dass ich den Leuten ‚Guten Morgen‘ sagte, als es Nacht wurde. Ich war so sehr in Gedanken an sie versunken, dass ich bisweilen nicht bei Besinnung war und dass ich ihn nicht vernahm, wenn mich jemand grüßte.4

Beide Motive, das des Traums und das der Liebestrance, können nicht unbedenklich in der individuellen Erfahrung des Autors verortet werden. Vielmehr sind sie Bestandteile einer traditionellen, auf Ovid zurückgehenden Liebespsychologie,5 wie sie in Deutschland zu Hausens Zeit in der volkssprachigen Literatur zuerst im Hauptwerk der frühhöfischen Epik, dem Eneasroman Heinrichs von Veldeke, verbreitet wurde. Dort manifestiert sich die Intensität von Didos Gefühl für Eneas nach der ersten Begegnung in einem trancehaften Versunkenheitszustand (835ff.). Und bald darauf, bevor es zur Liebesvereinigung kommt, träumt Dido so intensiv von einer intimen Begegnung mit dem Helden, dass ihr Liebesschmerz nach dem – zunächst – enttäuschenden Erwachen um so größer ist (1414ff.).6 Eben weil es sich um überindividuelle Muster handelt, kann es nicht Wunder nehmen, dass der bei Hausen vorfindliche Motivkomplex Traum und Trance in ähnlicher Weise und mit gleicher oder ähnlicher Funktion auch anderwärts wiederkehrt. Im 4

5

6

Einen tranceartigen Verwirrungszustand beschreibt bereits, wenn auch weniger ausdrucksstark, das Lied En chantan m’aven a membrar („Beim Singen habe ich mich erinnert“) des Folquet de Marseille, zu dem Hausens Sî darf mich des zîhen niet eine Kontrafaktur liefert; Übertragung: „Es kommt manchmal dazu, daß, wenn man mich anspricht, ich nicht weiß, wovon die Rede ist, daß, wenn man mich grüßt, ich nichts höre; deshalb darf mich kein Mensch schelten, dem ich, wenn er mich grüßt, kein Wort darauf sage.“ (Friedrich von Hausen. Lieder. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von GÜNTHER SCHWEIKLE, Stuttgart 1984, S. 41ff.). Besonders eindrucksvoll ist diesbezüglich der Brief des Paris an Helena in den Heroides (Ep. XVI [XV], 101ff.): te vigilans oculis, animo te nocte videbam, / lumina cum placido victa sopore iacent. / quid facies praesens, quae nondum visa placebas? Übertragung: „Dich erblickt ich im Wachen vor mir, bei Nacht mit dem Geiste, wenn der Schlummer sich sanft über die Augen gesenkt. Wie erst, wenn du erscheinst, wo du ungesehn schon entzücktest?“ (Publius Ovidius Naso: Liebesbriefe. Heroides – Epistulae. Lateinisch – Deutsch. Hrsg. und übersetzt von BRUNO HÄUPTLI, Zürich 1995 [Sammlung Tusculum], hier S. 158f.). Spätere prominente Beispiele für Liebestrance sind die Blutstropfenszene in Wolframs Parzival (282,12ff.) und verschiedene Szenen in Chrétiens Lancelot sowie im Prosa-Lancelot, in denen der Held der Geliebten Ginover begegnet.

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Leich Ulrichs von Gutenburg, eines wohl im Elsass ansässigen, ebenfalls im staufischen Umkreis tätigen Zeitgenossen Friedrichs von Hausen, heißt es (Versikel IVb): daz wirt wol schînen, swenne ich den mînen morgen an den strâzen den liuten biute gegen der naht: ich zer die zît gar ungewaht. Das [gemeint ist der Verlust der Besinnung] muss wohl offenbar werden, wenn ich den Leuten an den Straßen mein „Guten Morgen“ entbiete, wenn es auf die Nacht zugeht, dass ich die Zeit ganz unerwacht [d. h. in tranceartiger Fortsetzung des Schlafs] dahin bringe.

Bernger von Horheim, ein geographisch nicht sicher einzuordnender, aber gleichfalls in staufischer Umgebung nachweisbarer Autor, etwas jünger als Hausen und Gutenburg, gewinnt dem Motiv der Versunkenheit in eine innere Wunschwelt durch vielfältige Ausdifferenzierung eine eigene Note ab, um letztlich doch ebenfalls auf die Diskrepanz zwischen Vorstellung und wirklicher Befindlichkeit hinzuarbeiten. Fast die ganze erste Strophe des Liedes Mir ist alle zît, als ich vliegende var breitet eine wahnhaft-exaltierte Glücksphantasie aus (MF II, 1): Mir ist alle zît, als ich vliegende var ob al der welte und diu mîn alliu sî. swar ich gedenke, vil wol sprunge ich dar. swie verre ez ist, wil ich, sô ist ez mir nâhe bî. Starke unde snel, beidiu rîch unde vrî ist mir der muot: dur daz loufe ich sô balde; mir enmac entrinnen dehein tier in dem walde – Mir ist alle Zeit, als ob ich fliegend einherfahre über alle Welt und als ob die ganz mir gehöre. Wohin ich mich in Gedanken versetze, dahin könnte ich sehr wohl springen. Wie weit es auch entfernt ist, wenn ich will, so ist es nahe bei mir. Stark und schnell, sowohl mächtig als auch frei ist mir der Sinn. Deshalb laufe ich eilig; mir kann kein Tier im Wald entrinnen –

Dagegen vollzieht der letzte Vers einen radikalen Absturz in eine depressive Gemütslage: daz ist gar gelogen: ich bin swaere als ein blî. Das ist ganz und gar unwahr: Ich bin schwer wie Blei.

Die folgenden drei Strophen reproduzieren je für sich diese antithetische Struktur, wobei eine Fokussierung auf die Liebesthematik erfolgt. Paradigmatisch zitiert seien der Beginn und das Ende der zweiten Strophe (MF II, 2): Ich mac von vröiden toben âne strît: mir ist von minne sô liebe geschehen. […] wes liuge ich gouch? ich enweiz, waz ich singe. mir wart nie wirs, wil ich der wârheit jehen. Zweifellos kann ich vor Freude rasen: Mir ist durch die Minne so viel Glück zuteil geworden. […] Was lüge ich, ich Tor? Ich weiß nicht, was ich singe [dichte]. Niemals wurde mir weher, wenn ich die Wahrheit bekennen will.

Traum, Vision, Imagination

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Der einzige Autor, welcher der Imagination uneingeschränktes Recht zuerkennt, ohne desillusionierende Wendung, ist Wolfram von Eschenbach, aus der Gegend von Ansbach in Franken stammend. Die Anfangsstrophe seines Liedes Ein wîp mac wol erlouben mir formuliert in diesem Sinn (MF III, 1): Ein wîp mac wol erlouben mir, daz ich ir neme mit triuwe war. ich ger – mir wart ouch nie diu gir verhabet –, mîn ougen swingen dar. Wie bin ich sus iuwelenslaht? si siht mîn herze in vinster naht. Eine Frau soll mir sehr wohl erlauben, dass ich mich ihrer in Treue annehme. Ich begehre – und dieses Begehren wurde mir nie verhindert –, dass ich meine Augen dorthin [zu der Dame] schwingen lasse. Wie bin ich nur so eulenartig? Mein Herz sieht sie [selbst] in finsterer Nacht.

Wolfram ist eben – zusammen mit Walther von der Vogelweide – der Autor der klassisch-höfischen Periode, der das stärkste Selbstbewusstsein im Diskurs über die höfische Liebe an den Tag legt; in seinem epischen Hauptwerk, dem Parzival, stellt er dies in verschiedenen kritischen Exkursen über weibliches Verhalten unter Beweis (Parzival 2,23ff.; 114,5ff.).

3.

Heinrich von Morungen

In der Lyrik Heinrichs von Morungen – der Autor war vermutlich auf der Burg dieses Namens bei Sangershausen in Thüringen und damit im weiteren Umfeld des bedeutendsten fürstlichen Literaturmäzens der Zeit, des Landgrafen Hermann von Thüringen, beheimatet – erfährt der Motivkomplex Traum, Vision und Imagination die intensivste Ausprägung. Explizit ist das Traum-Motiv im Lied Mir ist geschehen als einem kindelîne eingesetzt (MF XXXII). Dessen erste Strophe wandelt den Narziss-Mythos ab, indem sich das Sänger-Ich mit einem Kind vergleicht, welches beim Betrachten seines Spiegelbildes – den Schein mit der Realität verwechselnd – so gierig nach seinem Abbild greift, dass es dabei zu seinem Leidwesen mit dem Spiegel sein eigenes Bild zerstört. Die dritte Strophe greift den zentralen Aspekt des Narziss-Mythos auf; in ihr vergleicht sich das lyrische Ich mit einem Kind, welches sein Bild in einem Brunnen erblickt und sich in dieses Bild für immer, bis zum Tode hin, verliebt. Morungen kennzeichnet auf diese Weise das gefährliche Ausmaß des Rückzugs in die Sphäre selbstbezogener Imagination. Die zweite Strophe bindet das Traum-Motiv in diesen Zusammenhang imaginärer und damit problematischer Glücksstiftung ein (MF XXXII, 2):7 7

Der anonym überlieferten französischen Kanzone Aissi m’ave cum al enfan petit („So wie dem kleinen Kind ergeht es mir“) fehlt bezeichnenderweise das Traummotiv; Text der Kanzone und

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Minne, diu der werelde ir vröude mêret, seht, diu brâhte in troumes wîs die vrouwen mîn, dâ mîn lîp an slâfen was gekêret und ersach sich an der besten wunne sîn. Dô sach ich ir liehten tugende, ir werden schîn, […]. Minne, welche die Freude der Welt vermehrt, seht, die brachte nach Traumes Art meine Dame herbei, als ich eingeschlafen war und in der Schau meiner höchste Wonne in Verzückung geriet. Da sah ich ihre strahlende Tugend und ihren wertvollen Glanz […].

Das lyrische Ich thematisiert hier in emphatischer Diktion eine sich im Traum vollziehende Vision höchster Vollkommenheit, eine Vollkommenheit, in der ethische und ästhetische Momente zur absoluten Identität gelangen. In diesem absoluten Horizont wird der ethische Begriff tugent mit dem eine ästhetische Kategorie bezeichnenden Adjektiv lieht verbunden und reziprok die ästhetische Kategorie schîn mit dem eine ethische Kategorie bezeichnenden Adjektiv wert. Als wesentliche Intention, die dem Motiv der geistigen Schau in Morungens Lyrik zukommt, zeichnet sich somit ab, das im Konzept der hohen Minne weitgehend verdrängte sinnliche Potential zurückzuholen und mit dem spirituellen Grundduktus des Minnesangs zu verknüpfen. Allerdings bleibt die Synthese fragil, weil eben durch die umrahmenden Strophen stets der subjektive, selbstbespiegelnde Charakter der Wahrnehmung gegenwärtig gehalten wird. Und so ist es nur konsequent, dass das Lied mit der Einsicht in die Unerreichbarkeit jenes in der imaginären Ausnahmesituation des Traums geschauten Glücks endet (MF XXXII, 4): Owê leider, jô wânde ichs ein ende hân ir vil wunnenclîchen werden minne. nû bin ich vil kûme an dem beginne. des ist hin mîn wunne und ouch mîn gerender wân. Oh weh, zu meinem Leidwesen, fürwahr wähnte ich ihre wonnereiche, wertvolle Liebe zu Ende zu erfahren. Nun bin ich [aber] kaum am Anfang. Deshalb sind meine Wonne und auch meine sehnsüchtige Hoffnung dahin.

Vielleicht beinhaltet auch ein weiteres Morungen-Lied ein Traumgeschehen, nämlich die Tagelied-Variation Owê, sol aber mir iemer mê (MF XXX). Das mittelalterliche Tagelied ist eine Sondergattung des Minnesangs. Es handelt von der schmerzlichen Trennung zweier Liebender, Ritter und Dame, nach gemeinsamer Liebesnacht. Obwohl also das Tagelied im Unterschied zur Lyrik der hohen Minne von erfüllter Liebe handelt, ist auch es von der Gefühlslage des Leides geprägt. In der Regel markiert das Tagelied die Situation durch epische Elemente; die Stimmung ergibt sich im Dialog zwischen männlicher und weiblicher Rollenrede. Morungens Lied stellt insofern eine Hinweise auf die Forschung: Heinrich von Morungen: Lieder. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung, Kommentar von HELMUT TERVOOREN, Stuttgart, verbesserte Ausgabe 1992, S. 184 ff.

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Variation des Typus dar, als es zum einen jedweder epischer Situierung entbehrt und zum anderen Mann und Frau aus der Erinnerung, also aus der Situation nicht der Trennung, sondern des Getrenntseins sprechen lässt. Der Bezug zum Tagelied wird gleichwohl durch die refrainartige Schlusszeile einer jeden Strophe vergegenwärtigt: Dô tagte ez. Auch dieses Lied spricht, wie das zuvor behandelte Lied Mir ist geschehen als einem kindelîne, von der Verzückung des Mannes (MF XXX, 4: ersehen), allerdings in einer gesteigerten sinnlichen Wahrnehmungssituation, nämlich beim Anblick der entblößten Dame. Nichtsdestoweniger eignen der Wahrnehmung auch visionäre Züge, denn die die Nacht erhellende Leuchtkraft, die der Mann der Dame zuschreibt, macht sie zur Erscheinung aus einer anderen Welt (MF XXX, 1): Owê, – Sol aber mir iemer mê geliuhten dur die naht noch wîzer danne ein snê ir lîp vil wol geslaht? Der trouc diu ougen mîn. ich wânde, ez solde sîn des liehten mânen schîn. Dô tagte ez. Oh weh, soll mir niemals wieder durch die Nacht ihre herrliche Gestalt noch weißer als Schnee entgegenleuchten? Die trog meine Augen. Ich glaubte, es wäre der Schein des hellen Mondes. Da wurde es Tag.

Unzweifelhaft wird in der Redeperspektive das Leuchten als ein solches aus sich selbst dargestellt, wie es Heiligen zugeschrieben wird. Hingegen verwirft das lyrische Ich die ihm selbst zunächst nahe liegende ‚natürliche‘ Erklärung, dass der Glanz der Dame in Wirklichkeit der des Mondes gewesen sei, als Irrtum. Die innere, visionsartige Wahrnehmung triumphiert somit über die realweltliche. Von daher ist es auch nicht auszuschließen, dass die intime Berührung in der Geste des Kusses oder vielmehr des permanenten Geküsstwerdens der Sphäre der Innenschau zuzurechnen ist (MF XXX, 3): Owê, – Si kuste âne zal in dem slâfe mich. Oh weh, sie küsste mich zahllos oft, während ich schlief. – Übersetzungsvariante: Sie küsste mich zahllos oft im Traum.

Für letztere Auffassung spricht zum einen der Umstand, dass realiter im Schlafzustand die Wahrnehmung so stark reduziert ist, dass äußeres Geschehen nicht bewusst wird, es sei denn – wovon aber nicht die Rede ist –, der Schlafende erwacht. Und zum anderen spricht die hyperbolische Diktion für ein Geschehen jenseits lebensweltlicher Erfahrungsmöglichkeit. Mag sein, dass Morungen die Aussage bewusst in der Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit gehalten hat. Wenn also auch Morungen Traum, Vision und Imagination letztlich angesichts der für die hohe Minne typischen Leiderfahrung desillusioniert, wie es auch fast alle

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betreffenden Lieder der zuvor behandelten Autoren getan hatten, so gewinnen diese Wahrnehmungsweisen in seiner Lyrik doch eine geradezu suggestive Wirkung. Kein anderer Minnesänger kommt Morungen an visionärer Phantasie gleich. Besondere Ausdruckskraft eignet diesbezüglich dem Lied Ich waene, nieman lebe. Eingangs stellt der Sänger seine Einsamkeit im Leid heraus, aus der ihn allenfalls die Dame als Inbegriff des Guten durch emotionale Teilnahme, durch Weinen, befreien könnte. Die Intensität der eigenen Bindung an die Dame macht der Sänger an seiner tranceartigen Versunkenheit fest (MF XXII, 1): Wê, wie tuon ich sô, daz ich sô herzeclîche bin an sî verdâht, daz ich ein künicrîche vür ir minne niht ennemen wolde, […]. Wehe, wie verhalte ich mich, dass ich so von Herzen in Gedanken an sie verloren bin, dass ich kein Königreich statt ihrer Liebe nehmen wollte […].

Bereits diese Passage macht freilich durch die problematisierende Fragehaltung deutlich, dass sich der behauptete Trancezustand nicht spontan mitteilt, sondern dass er durch distanzierende Reflexion vermittelt wird. Die gleiche Ambiguität von irrationalem Erleben und Reflexion kennzeichnet auch die übrigen Strophen. In der zweiten Strophe verteidigt der Sänger zunächst seine heimliche, d. h. ganz auf innerlichen Vollzug abgestellte Liebe gegen gesellschaftliche Missgunst. Anschließend stellt er heraus, dass sich gerade in der Einsamkeit intensivstes Liebeserleben ereignet (MF XXII, 2): swen ich eine bin, si schînt mir vor den ougen. sô bedunket mich, Wie si gê dort her ze mir aldur die mûren. ir rede und ir trôst enlâzent mich niht trûren. swenne si wil, sô vüeret sî mich hinnen zeinem venster hôh al über die zinnen. Wenn ich alleine bin, so scheint sie [die Dame] mir vor Augen. Dann dünkt es mich, dass sie zu mir mitten durch die Mauern herein trete. Ihre Rede und ihr Trost nehmen mir mein Trauern. Wenn sie es will, so führt sie mich von hinnen an einem Fenster hinaus hoch über alle Zinnen.

Die Vision der Dame erscheint hier in einem äußersten Maß dynamisiert. Die Dame wird im spirituellen Innenraum in einer von aller realen Einschränkung entbundenen Bewegung auf das lyrische Ich hin vorgestellt, und entsprechend erfährt sich das lyrische Ich kraft der Allmacht der Dame in einer seine physische Existenz überschreitenden Bewegung in einen gleichsam transzendenten Raum hinein, also in einem Zustand der Ekstase. Wenn es überhaupt noch eine Steigerung zu dieser suggestiven Wirkung, die der Dame zugeschrieben wird, geben kann, dann liegt sie in der Deifizierung als Venus und der Gleichsetzung mit der kosmischen Erscheinung der Sonne in der folgenden Strophe (MF XXII, 3):

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Ich waene, si ist ein Vênus hêre, die ich dâ minne, wan sie kan sô vil. sî benimt mir beide vröide und al die sinne. swenne sô si wil, Sô gêt sî dort her zuo einem vensterlîne unde siht mich an reht als der sunnen schîne. Ich glaube, sie ist die erhabene Venus, die ich da liebe, denn sie vermag so viel. Sie nimmt mir sowohl die Freude als auch meinen ganzen Verstand. Wenn immer sie will, so geht sie dort her zu einem Fensterlein und sieht mich an genau so wie der Sonnenschein.

Eben an diesem Höhepunkt vollzieht das Lied jedoch die für den Minnesang typische Desillusionierung, und zwar in einer besonders abrupten Wendung (MF XXII, 3): swánne ich sî danne gerne wolde schouwen, ach, sô gêt si dort zuo andern vrouwen. Wann immer ich sie dann gerne näher betrachten wollte, ach, so geht sie dort mit anderen Damen einher.

Die Suggestion, die von der Dame ausgeht, erweist sich so als Autosuggestion. Allerdings beendet die relativierende Reflexion den ekstatischen Aufschwung nicht definitiv. Wie problematisch er in Anbetracht der realen Wahrnehmung der Distanz auch sein mag, so wird er doch aus der Vollkommenheit der Dame legitimiert (MF XXII, 4): Dô si mir alrêrst ein hôchgemüete sande in daz herze mîn, des was bote ir güete, die ich wol erkande, und ir liehter schîn Sach mich gǘetlî̀ch an mit ir spilnden ougen, lachen sî began ûz rôtem munde tougen. sâ zehant enzunte sich mîn wunne, daz mîn muot stêt hôhe sam diu sunne. Als sie mir zuerst eine freudige Hochstimmung in mein Herz sandte, da war der Bote ihre Vollkommenheit, die ich sehr wohl erkannte, und ihr heller Schein sah mich auf gute Weise an mit ihren strahlenden Augen; aus rotem Mund begann sie heimlich zu lachen. Da entzündete sich sogleich meine Wonne, so dass mein Inneres hoch wie die Sonne dasteht.

Es ist gerade dieses Spannungsverhältnis von Legitimation und Infragestellung innerer Wahrnehmung, welches die besondere, über vergleichbare Gedichte hinausreichende Faszinationskraft der Lyrik Morungens ausmacht. In der Schlussstrophe des Liedes erweitert Morungen dieses Spannungsgefüge um weitere Dimensionen. Zunächst revoziert er die vorangehenden Aussagen aus religiöser Perspektive, also auf nach mittelalterlichem Weltverständnis höchster Ebene (MF XXII, 5): Wê, waz rede ich? jâ ist mîn geloube boese und ist wider got. wan bite ich in des, daz er mich hinnen loese? ez was ê mîn spot.

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Oh weh, was rede ich? Fürwahr, mein Glaube ist schlecht und wider Gott. Warum bitte ich ihn nicht darum, dass er mich von hinnen erlöse? Was ich zuvor gesprochen habe, war nicht Ernst.

Minnesang, der die Dame in so extremer Weise verabsolutiert, dass er sie mit einer heidnischen Gottheit gleichsetzt, und der dazu dem Ich ein quasi-religiöses, mystisches Erleben des doch säkularen Phänomens Liebe zuschreibt, muss in der Tat in Widerspruch zum religiösen Wertsystem geraten. Wenn es in Morungens Lied bei der Revokation vom religiösen Standpunkt aus bliebe, hätte schließlich die im soziokulturellen System gesetzte Norm über die innere Befindlichkeit obsiegt. Aber dem ist nicht so. Morungen verlagert nämlich die Perspektive final auf ein bisher nur implizit präsentes Terrain, das der Kunst (MF XXII, 5): Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet. waz ob mir mîn sanc daz lîhte noch erwirbet, swâ man mînen kumber sagt ze maere, daz man mir erbunne mîner swaere? Ich mache es so wie der Schwan, der singt, wenn er stirbt. Was wohl, wenn mir vielleicht mein Gesang dazu verhilft, dass, wo immer man meinen Kummer kundtut, man mich um mein Leid beneidet.

Mit dem aus der Antike übernommenen Motiv des Schwanengesangs beansprucht Morungen für seine Dichtung, wie problematisch ihr Gehalt auch sein mag, ein höchstes Maß an existentieller Authentizität und ästhetischer Ausdruckskraft, Qualitäten, die seine Person als Künstler aus dem gesellschaftlichen Umfeld herausheben. Der visionär-imaginative Charakter der Lyrik Morungens korreliert auf diese Weise mit jenem in der Epoche unerreichten Bekenntnis zur Poesie als Lebensbestimmung, welches das Lied Leitlîche blicke ausspricht (MF XIII,1): wan ich dur sanc bin ze der welte geborn. denn um des Sanges willen bin ich auf die Welt gekommen.

Angesichts solcher Apostrophierung des poetischen Schaffensakts ist es nur konsequent, dass einige Morungen-Gedichte explizit den Konstruktcharakter der Imagination herausstellen. So spricht das Lied In sô hôher swebender wunne von einer ekstatischen Befindlichkeit in Form eines irrealen Vergleichs (MF IV, 1): ich var, als ich vliegen kunne, mit gedanken iemer umbe sie, […]. Ich bewege mich, so als ob ich fliegen könnte, in meinen Gedanken immer um sie [die Dame] herum […].

Im Lied Von den elben wirt entsehen vil manic man, das Liebe als einen Vorgang der Ich-Entgrenzung bis hin zur Ich-Auflösung versteht, weist die Projektion in eine unbestimmte Zukunft den ekstatischen Zustand als Gedankenspiel aus (MF V, 1):

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[…] sô vréut si sô sếre mich, daz mîn lîp vor wunnen muoz zergên. […] so würde sie mich so sehr erfreuen, dass ich vor Wonne vergehen muss [müsste].

Und im Lied Wie sol vröidelôser tage wird die einstige in kosmische Höhen ausgreifende Euphorie in der Erinnerung als imaginär relativiert (MF XXIX, 2): Ich was eteswenne vrô, dô mîn herze wânde nebent der sunnen stân. Ich war irgendwann einmal froh; damals glaubte mein Herz neben der Sonne zu stehen.

Als wesentlicher Befund bezüglich der Bedeutung des Motivkomplexes Traum, Vision, Imagination in der Lyrik Morungens lässt sich somit festhalten: Obwohl auch seine Lieder die Instabilität dieser Wahrnehmungsweisen kenntlich machen, erschließen sie damit doch eine von keinem anderen Autor der Epoche erreichte Tiefendimension von Innerlichkeit. In der inneren Wahrnehmung gelangen, wenn auch nur momentan, Spiritualität und Sinnlichkeit in Balance. Die Thematisierung innerer Vorgänge erfolgt dabei auf einem Niveau jenseits naiver Ausdrucksgebärde, nämlich im Modus vielschichtiger, reflektierter, artifizieller Konstruktion.

4.

Walther von der Vogelweide

Walther von der Vogelweide, dessen geographische Herkunft und sozialer Stand unsicher sind, darf aufgrund der Vielgesichtigkeit seines Werks und der sich in ihm vollziehenden Positionswechsel und Paradigmenverschiebungen als der herausragende Lyriker der klassisch-höfischen Periode angesehen werden. Sein Schaffen umfasst Minnesang, religiöse Lyrik und Spruchdichtung. Die Tendenzen seiner Minnedichtung reichen von anfänglicher Affirmation der Idee der hohen Minne über die vor allem an Reinmars hypertropher Ausformulierung festmachende fundamentale Kritik und die Propagierung der Idee einer Liebe auf Gegenseitigkeit bis hin zum Versuch, diese neue Konzeption mit der traditionellen, der hohen Minne auszusöhnen. Seine religiöse Lyrik bewegt sich dogmatisch in traditionellen Bahnen, zeigt dabei aber auch persönliche Betroffenheit. Seine Spruchdichtung deckt die schon bei seinen Vorgängern präsenten Bereiche ab; darüber hinaus erschließt Walther dem Genre die Dimension des Politischen. In der nach dem Tod Heinrichs VI. einsetzenden Krisenzeit hat sich Walther propagandistisch für verschiedene deutsche Könige engagiert, für den Staufer Philipp von Schwaben, dann den Welfen Otto IV., schließlich den Staufer Friedrich II. Zugleich hat er aber auch publizistisch die Interessen von fürstlichen Gönnern vertreten oder um deren Gunst geworben; insbesondere sind seine Beziehungen zum Hof der Babenberger in Wien sowie zum Hof des Landgrafen Hermann von Thüringen bedeutsam. Der Propaganda steht bei Walther die Kritik oder gar die Polemik in schärfster Form zur Seite; bisweilen schlägt das eine in das andere um. Angesichts dieser überaus spannungsträchtigen Befunde ist es kaum verwunderlich, dass Walther auch das Motiv

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des Traums und die damit verwandten Motive in besonders unterschiedlicher Weise funktionalisiert. Zunächst zur Minnelyrik: Das Lied Sumer unde winter beide sint bedient sich des Topos der Augen des Herzens, um im Sinne Morungens die innere bildhafte Vergegenwärtigung der Dame theoretisch zu begründen (W 68, IIIf.): In weiz niht wol, wie ez dar umbe sî: sîn gesach mîn ouge lange nie. sint ir mînes herzen ougen bî, sô daz ich âne ougen sihe sie? Dâ ist doch ein wunder an geschehen. wer gap im daz sunder ougen, daz ez si zaller zît mac sehen? Welt ir wizzen, waz diu ougen sîn, dâ mit ich si sihe dur elliu lant? ez sint die gedenke des herzen mîn, dâ mitte sihe ich dur mûre und ouch dur want. Ich weiß nicht genau, wie es darum bestellt ist: Mein Auge hat sie lange nicht gesehen. Sind denn die Augen meines Herzens bei ihr, so dass ich sie ohne Augen sehe? Damit ist doch ein Wunder geschehen. Wer gab ihm [dem Herzen] dies, dass es sie jederzeit ohne Augen sehen kann? Wollt ihr wissen, welches die Augen sind, womit ich sie durch alle Länder sehe? Es sind die Gedanken meines Herzens; damit sehe ich durch Mauer und Wand.

Das Motiv der Augen des Herzens erscheint im gleichen Sinn in der in einer spruchartigen Reihe unterschiedlicher Thematik stehenden Minne-Strophe Mîn vrouwe ist underwîlent hie (W 21, IV): waz hilfet, tuon ich die ougen zuo? sô siht iedoch mîn herze dar.8 Was hilft es, wenn ich die Augen zumache? Dann sieht dennoch mein Herz dorthin.

Ebenfalls als Morungen-Rekurs ist das ekstatische Moment in der Eingangsstrophe des Liedes Ich bin nû sô rehte vrô anzusehen (W 91, I): Ich bin nû sô rehte vrô, daz ich vil schiere wunder tuon beginne. swenne ez sich gefüeget sô, daz ich erwirbe mîner frouwen minne, , sô stîgent mir die sinne hôher danne der sunnen schîn. gnâde, ein küneginne! Ich bin nun so richtig froh, dass ich beinahe anfange, Wunder zu tun. Wenn es sich fügen wird, dass ich die Liebe meiner Dame gewinne, [seht,] so steigt mein Geist höher als der Schein der Sonne. Gewährt Gnade, Königin! 8

Text gemäß Hs. O (Fragment, ehemalige Preußische Staatsbibliothek, jetzt Krakau); Hss. B und C: so sehent si dvrch min herze dar („Dann sehen sie [die Augen] durch mein Herz dorthin.“); Hs. E: so siht sie doch durch daz herze dar („Dann blickt sie [die Dame] doch durch das Herz dorthin.“). Die abweichenden Lesarten ergeben den gleichen Befund.

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Allerdings handelt es sich hier nicht um simplifizierende Morungen-Nachfolge. Vielmehr unterzieht Walther das Motiv der Ekstase verschiedenen Brechungen. Da ist zunächst die ironische Diktion des ersten Satzes; beinahe Wunder zu wirken heißt im Grunde, keine Wunder zu tun. Sodann ist der behauptete ekstatische Zustand an die Bedingung einer künftigen Liebeserfüllung gebunden und damit ungewiss. Weiterhin wird in der dritten Strophe der euphorische Tenor der beiden ersten Strophen als der eines Liedes aufgewiesen, also als fiktional (W 91, III): Disen wunneklîchen sanc hân ich gesungen mîner [] frouwen ze êren Diesen wonnereichen Sang habe ich meiner Dame zu Ehren gesungen.

Und schließlich lässt Walther wie aus dem Off einen Sprecher auftreten, der sich, halb als Komplize, halb als Konkurrent, von dem Sänger nach eigener vergeblicher Werbung Hilfe auf Erhörung bei der Dame erhofft (W 91, V): Hœrâ Walther, wie ez mir stât, mîn trûtgeselle von der Vogelweide. helfe suoche ich unde rât: diu wolgetâne tuot mir vil ze leide. Kunden wir gesingen beide, daz ich mit ir müeste brechen bluomen an der liehten heide! Höre her, mein lieber Freund Walther von der Vogelweide, wie es um mich steht. Ich suche Hilfe und Rat: Die Schöne tut mir viel Leid an. Wenn wir nur beide singen könnten, dass es mir bestimmt sei, mit ihr auf der hellen Heide Blumen zu brechen!

Man darf konstatieren, dass Walther mit der ihm eigenen intellektuellen Brillanz ein Vexierspiel betreibt, welches die Idee der hohen Minne subtil unterläuft. Eine Steigerung zur radikalen Demontage von Glücksillusion vollzieht das Erzähllied Dô der sumer komen was unter distinkter Verwendung des Traummotivs. Das Subjekt des Liedes berichtet, wie es, an einem sommerlichen Lustort (locus amoenus) in den Traum gesunken, sich als allmächtig und vollkommen glücklich erlebte, so lange, bis das Schreien einer verfluchten Krähe es aufweckte. Sarkastisch schließt das Lied-Subjekt mit der Mitteilung des „Trosts“, den ihm ein uraltes Weib mit der Deutung des Traums gespendet hat (W 64, V): nû hât si mir bescheiden, waz der troum bediute. daz hœret, lieben liute: zwên und einer, daz sint drî, dannoch seite si mir dâ bî, daz mîn dûme ein vinger sî. Nun hat sie mir kundgetan, was der Traum bedeute. Das sollt ihr, liebe Leute, hören: Zwei und eins, das sind drei. Außerdem sagte sie mir noch, dass mein Daumen ein Finger sei.

Offensichtlich ist die Deutung derart willkürlich, inkohärent und trivial, dass mit ihr auch der Traum selbst um seine Valenz gebracht wird. Walther zeigt sich mit dieser

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Schlusspointe, wie in nicht wenigen anderen Gedichten auch, als ausgemachter kritischer Rationalist. Das heißt freilich nicht, dass er dem Traummotiv keinerlei positive Wertigkeit zuerkennen würde. Eines seiner viel beachteten und hochgeschätzten Mädchenlieder, die das Ideal einer erfüllten Liebe propagieren, Nement, frowe, disen cranz, führt das lyrische Ich ebenfalls in eine idyllische Landschaft, wo sich eine intime Begegnung mit einer als frowe titulierten maget ereignet. Auf dem Höhepunkt des Glücksgefühls decouvriert der Sänger jedoch das Geschehen in einer abrupten Wendung als Traumgespinst (W 51, IV): Seht, dô muoste ich von fröiden lachen, dô ich sô wunneclîche was in troume rîche, dô taget ez und muose ich wachen. Seht, da musste ich vor Freude lachen, als ich so wonnevoll im Traum reich [an Glück] war, da wurde es Tag, und ich musste erwachen.

Mit dieser Wendung knüpft Walther an Morungens vorangehend besprochene Tagelied-Variation Owê, sol aber mir iemer mê an (MF XXX). Während diese aber von einer durchgehenden Leidbestimmtheit geprägt ist, verfolgt Walthers Lied eine andere Aussageintention. Indem nämlich das lyrische Ich aus dem Traumerleben einen positiven Impuls bezieht, nämlich eine erotische Affizierung, rückt eine erfüllte Liebe in der lebensweltlichen Situation in den Bereich des Möglichen (W 51, V): Mir ist von ir geschehen, daz ich disen sumer allen meiden muoz vaste under diu ougen sehen. lîhte wirt mir eine, sô ist mir sorgen buoz. Waz obe si gêt an disem tanze? frowe, dur iuwer güete rucket ûf die hüete. owê, gesæhe ichs under cranze! Mir ist von ihr widerfahren, dass ich diesen Sommer über allen Mädchen tief in die Augen sehen muss. Es ist leicht möglich, dass eine davon mein wird; dann ist meinen Sorgen abgeholfen. Wie wäre es, wenn sie bei diesem Tanz einhergeht? Ihr Damen, nehmt gütigerweise die Hüte ab! Oh weh, wenn ich sie [dann] unter einem Kranz sähe!

Auch wenn in der abschließend geäußerten Befürchtung, die Auserwählte könne einen Kranz tragen, also bereits an einen anderen Liebhaber gebunden sein, das für den Minnesang typische Moment der Leiderfahrung potentiell weiterwirkt, räumt das Lied doch dem Subjekt die Fähigkeit und das Recht dynamischen Glücksstrebens ein, und dies in der Konsequenz eines inneren, traumhaften Erlebens. Ein anders als in der Minnelyrik gelagertes Spannungsfeld, nämlich die DiesseitsJenseits-Antithese, erschließt der Motivkomplex Traum, Vision und Imagination in Walthers religiöser Lyrik und in seiner Spruchdichtung. Das Walthers Alterswerk zuzurechnende, von tiefer Diesseitsskepsis und persönlichem Sündenbewusstsein be-

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stimmte Lied Ein meister las setzt gleich zu Anfang das Traummotiv ein, um die Vergänglichkeit und Nichtigkeit irdischer Werte überhaupt angesichts des jenseitigen Daseinsziels zu kennzeichnen (W 96, I): Ein meister las, troume und spiegelglas daz sî zem winde bî der stæte sîn gezalt. […] sô wê dir, Welt, wie dirz gebende stât! Ein Meister lehrte, dass Traum und Spiegelglas dem Wind an Beständigkeit zugesellt seien. […] Oh weh dir, Welt, wie dir dein Kopfschmuck steht!

In Walthers persönlichstem Werk, dem oft als Elegie bezeichneten Lied Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr, das der Erfahrung äußerster Entfremdung von den einst, in der Jugend, vertrauten Gegebenheiten Ausdruck gibt, formuliert im gleichen Sinn grundstürzender Infragestellung der zweite Vers (W 97, I): ist mîn leben mir getroumet, oder ist ez wâr? Ist mir mein Leben im Traum erschienen, oder existiert es wahrhaftig?

Auch in einer von Endzeitstimmung geprägten Spruchstrophe des Wiener Hoftons mag die Vorstellung eines trügerischen Lebenstraums impliziert sein (W 10, IV): Nû wachet! uns gêt zuo der tac, gegen dem wol angest haben mac ein ieglich kristen, juden unde heiden. Nun erwacht! Der Tag kommt zu uns, vor dem ein jeglicher Christ, Jude und Heide Furcht haben soll.

Im Unterschied dazu kann dem Traummotiv bei Walther in Anknüpfung an prophetische Tradition freilich auch die Funktion zukommen, den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu bestärken. Direkten Bezug auf alttestamentliche Prophetie nimmt eine andere Strophe des Wiener Hoftons (W 10, VIII): Ez troumte, dest manic jâr, ze Babylône, daz ist wâr, dem künige, ez würde bœser in den rîchen. Es träumte, dies ist viele Jahre her, zu Babylon, das ist wahr, dem König, dass es in den Reichen schlechter würde.

Die Reminiszenz, die offenkundig ein genaues Wissen des Publikums voraussetzt, bezieht sich auf den Bericht des Daniel-Buches (2,1ff.) von Nebukadnezars Traum von einer Bildsäule aus Gold, Silber, Erz, Eisen und Ton, die durch einen Stein zermalmt wird. Der Prophet Daniel erkennt und deutet den Traum kraft göttlicher Eingebung: Die vier Metalle bedeuten vier aufeinander folgende, jeweils verschlechterte Weltreiche; die Schwäche gerade des letzten Reiches wird durch die Mischung des Eisens mit Ton versinnbildlicht. Walther leitet aus der derart biblisch autorisierten geschichtspes-

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simistischen Einschätzung der Gegenwart als Zeit des Übels den moralischen Appell ab, das Schlechte nicht noch schlechter zu machen. Dementsprechend können auch visionäre Elemente im Dienste moralischer Kritik und Belehrung eingesetzt werden. In der Strophe Ich hân gesehen in der werlte ein michel wunder (W 11a) des König Friedrichs-Tons simuliert das Ich eine übersinnliche Wahrnehmung, indem es den Heuchler als Monstrum (ein seltsæn kunder) mit divergentem Erscheinungsbild beschreibt. Die eindrucksvollste visionäre Attitüde nimmt der Sänger im frühesten überlieferten Spruchton ein, dem Reichston (W 2), entstanden in den Jahren 1198–1201, also der Anfangszeit der Thronwirren nach dem Tod Heinrichs VI. Die erste und bekannteste Strophe, Ich saz ûf eime steine, zeigt den Sänger als melancholisch über den Verfall der ethischen und politischen Ordnung Meditierenden; die Pose, in der sich der Sänger präsentiert, hat die Nachwelt so sehr beeindruckt, dass sie für das Autorbild Walthers in den Liederhandschriften B und C gewählt wurde. In den beiden anderen Strophen steigert sich die Meditation zur Vision und zur Audition des Weltganzen. So behauptet der Sänger in der zweiten Strophe, nichts weniger als die Natur in ihrer Totalität sinnfällig erfahren zu haben (W 2, II): Ich hôrte ein wazzer diezen9 unde sach die vische vliezen, ich sach, swaz in der welte was, velt, walt, loup, rôr unde gras. swaz kriuchet unde vliuget und bein zer erden biuget, daz sach ich […]. Ich hörte ein Wasser [die Wasser] rauschen und sah die Fische schwimmen, ich sah, was immer in der Welt war, Feld, Wald, Laub, Rohr und Gras. Was immer auch kriecht und fliegt und Beine zur Erde biegt, das sah ich […].

Der Zustand der Natur wird dabei durchaus als konfliktuös erkannt. Allerdings konstatiert der Sänger, dass die Konflikte im Bereich der Natur durch – nach mittelalterlicher Auffassung von Gott gegebene – Ordnung gebändigt sind, im Gegensatz zur Situation im Deutschen Reich, dessen Ordnung zerstört ist. Im letzten Vers erfolgt ein Appell an Philipp von Schwaben, die Reichskrone zu nehmen und damit die hierarchische Ordnung wiederherzustellen. Die dritte Strophe fokussiert die umfassende visionäre und auditive Weltwahrnehmung auf das destruktive Verhalten von Papst und Kurie (W 2, III).

ich hôrte in Rôme liegen, zwêne künige triegen. 9

Text nach Hs. A; Hss. B und C: dv′ wazzer.

Traum, Vision, Imagination

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Ich hörte, wie man in Rom log und zwei Könige betrog.

Es ist evident, dass die Attitüden der Meditation, der Vision und der Audition im Reichston funktional eingesetzt sind im Dienst einer politischen Wirkungsabsicht. Walther ergreift propagandistisch wirksam mit religiös-transzendent fundierter Argumentation Partei für den staufischen Thronprätendenten und gegen Papst Innozenz III., dessen Eingreifen in den Thronstreit zugunsten des Welfen Otto IV. er als dem Ideal einer spirituellen, apolitischen Kirche zuwider ins Verdikt nimmt.

5.

Fazit

Die Überschau zeigt, besonders nachdrücklich im Falle Walthers, dass der Motivkomplex Traum, Vision, Imagination in der Lyrik der klassisch-höfischen Periode in vielfältiger Weise konstruktiv eingesetzt ist. Das Spektrum der Möglichkeiten reicht mit unterschiedlichen Schattierungen von der affirmativen Anwendung bis hin zur desillusionierenden. Im sachlichen Bezug sind primär säkulare Themen- und Problemfelder erschlossen, daneben aber auch religiöse. Obwohl die Materialbasis relativ schmal ist, führt die Betrachtung der Funktionen, die dem Motivkomplex Traum, Vision, Imagination zugewiesen sind, ins Zentrum der soziokulturellen Diskurse der Epoche.

ERNST-DIETER HEHL 1

Politische Träume und Visionen im Mittelalter

Politische Träume und Visionen im Mittelalter sind ein großes Thema.2 Man könnte die einzelnen Gesänge von Dantes Göttlicher Komödie unter diesen Gesichtspunkten für die politischen Akteure der Zeit vor 1300 untersuchen: Wer ist zu ewigen Höllenstrafen verdammt, wer befindet sich im Fegefeuer, wer ist in das himmlische Paradies eingelassen worden? Hinter all dem steht ein politisch-moralisches Urteil des Florentiner Dichters. Aber auch wenn er mit seinen Zuordnungen den Zeitgenossen Spiegel richtiger und falscher Lebensführung vorhält, seine visionäre Schau betrifft vergangenes Leben. Sie kann und will die politischen Verhältnisse der eigenen Zeit nicht unmittelbar beeinflussen. Dante steht damit in einer langen Tradition. Selbst den großen Karl sahen Visionäre wenige Jahre nach seinem Tod für seine Verfehlungen im Jenseits büßen.3 Aber das sind keine politischen Vergehen, sondern persönliche Sünden sexueller Natur. Die Visio Wettini, von dem Reichenauer Mönch Walahfrid Strabo in Verse gefasst, ist das herausragende Beispiel einer Vision, die um den Frankenkaiser kreist.4 Derartige Visi1

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Die Anmerkungen geben vor allem die Quellenhinweise. Dabei verwende ich folgende Abkürzungen: FSGA = Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr-vomStein-Gedächtnisausgabe. Für die Quellen zur fränkisch-deutschen Geschichte gebe ich neben den kritischen Editionen die zweisprachigen Ausgaben dieser Reihe an, der ich die Übersetzungen entnommen habe. MGH = Monumenta Germaniae Historica; einzelne Reihen: SS = Scriptores (in Folio); SS rer. Germ. = Scriptores rerum Germanicarum in usum scholarum separatim editi; SS rer. Germ. N. S. = Scriptores rerum Germanicarum. Nova Series. Vgl. zusammenfassend JACQUES LE GOFF / NICOLAS TRUONG: Die Geschichte des Körpers im Mittelalter, Stuttgart 2007 (franz. 2003), S. 88–98. FRANZ NEISKE: Vision und Totengedenken. In: Frühmittelalterliche Studien 20 (1986), S. 137– 185. Vgl. auch WILHELM LEVISON: Die Politik in den Jenseitsvisionen des frühen Mittelalters. In: Ders.: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit, Düsseldorf 1948, S. 229–246 (zuerst in: Festgabe Friedrich von Bezold, Bonn 1921, S. 81–100), hier S. 235–238. Walahfrid Strabo: Visio Wettini – Die Vision Wettis. Lateinisch – Deutsch. Übersetzung, Einführung und Erläuterungen von HERMANN KNITTEL, Sigmaringen 1986, Vv. 446–465, S. 67; Kritische Edition: Poetae Latini aevi Carolini, Bd. 2, rec. ERNST DÜMMLER, Berlin 1894 (MGH Poetae 2), S. 301–333; dort S. 267–275 die von Walahfrid benutzte Prosafassung aus der Feder des Abtes Heito von Reichenau (das Kapitel über Karl den Großen [c. 11] hier S. 271). Walahfrid

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onen pendeln zwischen zwei Polen: Sie fordern entweder auf, durch Gebet und frommes Werk dem Unglücklichen aus seiner qualvollen Lage zu helfen, oder sie konstatieren, er habe zu Recht nichts anderes als ewige Verdammnis und unaufhörliche Qualen verdient. Ebenso klar ist, dass sie weniger mit den realen Handlungen des in der Vision Geschauten zu tun haben als mit den Wertmaßstäben des Visionärs und seiner Zeitgenossen. Nur selten sind sie mit konkreten historischen Zuständen oder Handlungen zu verbinden.5 Dann interessieren sie auch den Historiker von heute, der sich mit politischer Geschichte in engerem Sinne befasst, vor allem wenn es sich um zeitnahe Zeugnisse visionärer Schau handelt. Denn in solchen spiegeln sich Diskussionen um die Richtigkeit politischer Maßnahmen, um politische Alternativen oder ein Bewusstsein, die Dinge liefen generell nicht zum Besten. Das gilt in besonderem Maße, wenn der Herrscher bzw. die führende politisch-soziale Gruppe Gegenstand einer solchen Vision ist oder der Herrscher selbst Visionen hat. Diesem Problemkreis möchte ich an einigen Beispielen nachgehen. Zwischen Traum und Vision zu unterscheiden, ist hierbei nicht notwendig.6 In allen Fällen handelt es sich um geschaute Bilder oder Handlungsabläufe, die einem entweder beim Schlafen oder im Wachen zuteil werden, ohne dass der Schauende sich am Ort der

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identifiziert den Herrscher durch ein Akrostichon; Heito verschweigt den Namen. – Vgl. CLAUDE CAROZZI: Le voyage de l’âme dans l’au-delà d’après la littérature latine (Ve–XIIIe siècle), Rom 1994 (Collection de l’École française de Rome 189), S. 324–341; ebd., S. 341–346: „La réhabilitation de Charlemagne“. Hierzu könnte die Vision Ludwigs des Deutschen gehören, dem sein Vater Ludwig der Fromme erschienen ist, damit er von den jenseitigen Qualen erlöst werde. Der Sohn ordnet in seinem gesamten Reich Gebete für den Vater an. Dessen Schuld bestand vor allem darin, dass er sich nicht der haeresis Nicolaitarum widersetzt hatte, die im Reich Raum gegriffen hatte, und damit die monita Gabrielis archangeli unbeachtet gelassen hatte, die ihm Einhard überbracht hatte. Vgl. Annales Fuldenses ad a. 874, ed. FRIEDRICH KURZE, Hannover 1891 (MGH SS rer. Germ. [7]), S. 82 = FSGA 7: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Teil 3. Hrsg. von REINHOLD RAU, Darmstadt 1960 u. ö., S. 92–95. Zur Erscheinung des Erzengels vgl. Einhard: Translatio et miracula ss. Marcellini et Petri, ed. GEORG WAITZ. In: MGH SS 15, Teil 1, Hannover 1887, S. 238–264, hier II, 13, S. 252f. Einen engen Visionsbegriff legt PETER DINZELBACHER: Vision und Visionsliteratur im Mittelalter, Stuttgart 1981 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 23), seiner Darstellung zugrunde. Vgl. seine Definitionen S. 29–56. Für den mittelalterlichen Sprachgebrauch konstatiert er jedoch, dass „visio und somnium von der Mehrzahl der Autoren fast austauschbar gebraucht“ werden, was sich daraus erklärt, dass für Bibel und Kirchenväter „Traum und Vision sowohl vom Sprachlichen her, wie auch von der Funktion häufig nicht unterschieden sind“ (S. 48). Vgl. auch JACQUES LE GOFF: Les rêves dans la culture et la psychologie collective de l’Occident médiéval. In: Ders.: Pour un autre Moyen Age. Temps, travail et culture en Occident, Paris 1977, S. 299–306 (zuerst in: Scolies 1 [1971], S. 123–130), hier S. 304 Anm. 24: „Le Moyen Age distingue mal entre rêve et vision“. Zur Traumtheorie in dem hier behandelten Zeitraum vgl. STEVEN F. KRUGER: Dreaming in the Middle Ages, Cambridge 1992 (Cambridge Studies in Medieval Literature 14), S. 57– 82 (mit Schwerpunkt auf dem 12. Jahrhundert).

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Handlung befinden muss. Zeitlich höre ich weit vor Dante auf, nämlich im 12. Jahrhundert. Damit bleiben die großen politischen Reformträume des späten Mittelalters unbehandelt, wie etwa der Traum des Johannes (Hans) von Hermansgrün, der Karl den Großen, Otto den Großen, und Friedrich II. (!) Barbarossa vor einer Magdeburger Reichsversammlung auftreten und eine Reform des Reiches fordern lässt.7 Hermansgrün steht mit diesem Reformtraum in der Tradition von Ciceros Somnium Scipionis. Aber warum der an sich wenig bedeutende Hermansgrün diesen Traum hat und vorträgt, dazu können die folgenden Überlegungen vielleicht etwas beitragen. Drei sich überschneidende Themenfelder werde ich vorstellen: 1. Vision als Lösung einer Krise – zuerst umstritten, dann vergessen. 2. Vision als grundsätzliche Zeitkritik und als Mittel der Bindung eines Herrschers. 3. Der träumende Herrscher – ein Traum vom Herrscher. Hier wird es um Vision als Mittel historiographischer Sinnkonstruktion und als Ausdruck von Krisenbewusstsein gehen.8

7

8

Jetzt maßgebliche Edition in: Quellen zur Reichsreform im Spätmittelalter, ausgewählt und übersetzt von LORENZ WEINRICH, Darmstadt 2001 (FSGA 39), S. 380–411; zur Situation des Träumenden, der seinen Traum nach einem langen politischen Abendgespräch und in einem tieferen Schlaf als sonst hat, vgl. ebd., S. 384f.; dazu auch die Schlussbemerkung zum Aufwachen: Continuo visio evanuit; ego somno solutus sum (S. 410). Zur Interpretation und zur Person Hermansgrüns vgl. HERMANN WIESFLECKER: Der Traum des Hans von Hermansgrün, eine Reformschrift aus dem Lager des Königs Maximilian I. In: Festschrift Karl Eder zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. von HELMUT J. MEZLER-ANDELBERG, Innsbruck 1959, S. 13–32; Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 5: Reichstag von Worms 1495, Bd. 1: Akten, Urkunden und Korrespondenzen, bearbeitet von HEINZ ANGERMEIER, Göttingen 1981 (Deutsche Reichstagsakten. Mittlere Reihe 5), hier Teil 1, S. 27–29; CLAUDIA MÄRTL: Zum „Traum“ des Hans von Hermansgrün. In: Zeitschrift für Historische Forschung 14 (1987), S. 257–264; Dies.: Der Reformgedanke in den Reformschriften des 15. Jahrhunderts. In: Reform von Kirche und Reich zur Zeit der Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449). Hrsg. von IVAN HLAVÁČEK / ALEXANDER PATSCHOVSKY, Konstanz 1996, S. 91–108, passim; HANS-MARTIN MAURER: Eberhard im Bart auf dem Reichstag in Worms von 1495. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 59 (2000), S. 11–28, hier S. 22f. Nicht berücksichtigt sind Träume, die den Aufstieg (oder Niedergang) eines Reiches oder einer Dynastie verkünden. Hier handelt es sich jeweils um ein vaticinium ex eventu und um die Deutung eines bestehenden Zustandes. Vgl. COLETTE BEAUNE: Le rêve du roi fondateur dans l’histoire de France. In: Genèse de l’état moderne en Méditerranée. Approches historique et anthropologique des pratiques et de représentations, Rom 1993 (Collection de l’Ecole française de Rome 168), S. 27–44, hier S. 27 f.

200

1.

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Vision als Lösung einer Krise – zuerst umstritten, dann vergessen

Meine erste Geschichte führt in den ersten Kreuzzug.9 In Antiochia war das Kreuzheer in eine Krise geraten. Mit äußerster Kraftanstrengung hatte es im Juni 1098 die Stadt erobern können, doch konnte die Zitadelle sich halten. Bald darauf sahen sich die Kreuzfahrer von einem muslimischen Entsatzheer, das inzwischen angekommen war, eingeschlossen. Teile des Kreuzheeres hatten zudem quasi Fahnenflucht begangen. In Antiochia herrschten Hunger, Verzweiflung und bittere Kontroverse zwischen dem Normannen Bohemund und dem Südfranzosen Raimund von St-Gilles. Durch Bohemunds List hatte man Antiochia erobern können, doch Raimund galt als der wichtigste Anführer des aus mehreren Kontingenten zusammengesetzten Heeres. Aus Not und Zwietracht heraus wurde ein Wunder inszeniert: das Auffinden der Hl. Lanze, mit der man Christus am Kreuz die Seite geöffnet hatte.10 Glücklicher Finder war ein „armer Bauer“ (pauper rusticus) aus dem Heer Raimunds namens Peter Bartholomäus, doch selbst der zur Heeresabteilung Raimunds gehörende Kreuzzugslegat Bischof Ademar von Le Puy stand der Geschichte skeptisch gegenüber. Peter Bartholomäus behauptete, der hl. Andreas sei ihm schon vor der Eroberung der Stadt durch die Kreuzfahrer mehrfach erschienen, habe ihm mitgeteilt, in der Kathedrale von Antiochia sei die Lanze vergraben, und habe ihn sogar in die noch von den Muslimen besetzte Stadt entführt, um ihm den Platz zu zeigen, an dem die Lanze verborgen sei. Erst die Krise, in der das Kreuzheer sich nun befand, habe ihm den Mut gegeben, seine Vision 9 Generell zur Rolle von Visionen und Träumen in der Geschichte der Kreuzzüge RUDOLF HIESTAND: Der Kreuzzug – ein Traum? In: Traum und Träumen. Inhalt, Darstellung, Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von dems., Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 24), S. 153–185; im Hinblick auf den Ersten Kreuzzug vgl. JONATHAN RILEY-SMITH: The First Crusade and the Idea of Crusading, London 1986, passim (siehe Register s. v. ‚visions‘). 10 Vgl. WOLFGANG GIESE: Die lancea Domini von Antiochia (1098 / 99). In: Fälschungen im Mittelalter, Teil 5: Fingierte Briefe, Frömmigkeit und Fälschung, Realienfälschungen, Hannover 1988 (MGH Schriften 33 / 5), S. 485–504. Für ihre Echtheit eintretend, erzählt die Geschichte vom Auffinden der Heiligen Lanze und des nachfolgenden Sieges der Kreuzfahrer Raymund von Aguilers: Le „Liber“ de Raymond d’Aguilers, ed. JOHN HUGH HILL / LAURITA L. HILL, Paris 1969 (Documents relatifs à l’histoire des croisades 9), hier c. 10, S. 68–83. Eine komplexe Interpretation des Berichtes gibt jetzt BEATE SCHUSTER: Die Stimme des falschen „pauper“. Der Kreuzzugsbericht des Raimund von Aguilers und die Armenfrage. In: Armut im Mittelalter. Hrsg. von OTTO GERHARD OEXLE, Ostfildern 2004 (Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 58), S. 79–126. Zu den Vorgängen bei Antiochia und den Spannungen im Kreuzheer vgl. HANS EBERHARD MAYER: Geschichte der Kreuzzüge, 10., völlig überarb. und erw. Aufl., Stuttgart 2005, S. 71–75; RILEY-SMITH (Anm. 9), S. 95–98, 105–107, 117–118; ausführlich zu den militärischen und politischen Ereignissen auf dem Ersten Kreuzzug JOHN FRANCE: Victory in the East. A military history of the First Crusade, Cambridge 1994, zur Auffindung der Hl. Lanze S. 278 f.

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zu offenbaren. Der Heilige ist geschickt gewählt. Andreas ist der Bruder des hl. Petrus, und diesem war die Kathedrale geweiht, denn Antiochia war der erste Bischofssitz des Petrus gewesen, bevor er nach Rom ging. Bei einer Grabung fand man die Lanze, Peter Bartholomäus holte sie selbst aus der Grube. Der psychologische Erfolg war ungeheuer. Mit der Lanze als Feldzeichen machten die Kreuzfahrer einen Ausfall und schlugen am 28. Juni das Entsatzheer vernichtend, die Zitadelle ergab sich. Das Kreuzheer war gerettet, doch der Streit innerhalb des Heeres ging weiter. Er verschärfte sich durch den Tod Ademars, des päpstlichen Legaten, am 1. August 1098. Der ungläubige Ademar musste nun aber büßen. Peter Bartholomäus hatte eine neue Vision. Wieder seien ihm Christus und der hl. Andreas erschienen, diesmal zusammen mit Ademar. Ademar klagte, für seinen Unglauben Höllenstrafen erlitten zu haben. Doch nun sei er gerettet. Und er beauftragte Peter, Bohemund mitzuteilen, er wolle in der Kathedrale von Antiochia begraben werden, nicht in Jerusalem, wie es ursprünglich geplant war.11 Mit Berufungen auf Visionen, die durch die Hl. Lanze bewiesen schienen, hat Peter Bartholomäus im Folgenden wiederholt den Weitermarsch des Heeres nach Jerusalem gefordert. Darüber wollte er mit Christus selbst während einer Vision ein langes Gespräch geführt haben.12 Erneut wurden Vision und Echtheit der Hl. Lanze bestritten. Peter erklärte sich zum Wahrheitsbeweis durch Feuerprobe bereit. Mit der Lanze in der Hand wollte er über glühendes Eisen gehen. Die Probe fand am 8. April 1099 statt: am Karfreitag, an dem Tag, an dem die Lanze ihren Charakter als Reliquie erhalten hatte. Peter Bartholomäus starb einige Tage später. Was hatte das Gottesurteil nun bewiesen? Nichts, denn die Anhänger der Lanze behaupteten, Peter sei an den Verletzungen gestorben, die ihm die über seinen Erfolg jubelnden Massen unbedacht zugefügt hätten.13 Andere meinten, er sei seinen Verbrennungen erlegen.14 Die Hl. Lanze von Antiochia 11 Raymund von Aguilers: Liber c. 11, ed. HILL (Anm. 10), S. 84 f. 12 Raymund von Aguilers: Liber c. 18, ed. HILL (Anm. 10), S. 112–116. 13 Vgl. die Schilderung des Gottesurteils bei Raymund von Aguilers: Liber c. 18, ed. HILL (Anm. 10), S. 120–123, Peters Tod, ebd., S. 128 f. 14 Fulcher von Chartres: Historia Hierosolymitana (1095–1127) I, 18 (ed. HEINRICH HAGENMEYER, Heidelberg 1913, S. 235–241) erzählt die Geschichte über die Hl. Lanze von ihrem Auffinden bis zu dem Gottesurteil, das ihre Unechtheit erweist; die Nachrichten über die Hl. Lanze aus der Zeit nach dem Gottesurteil dort S. 241f. Anm. 14. Fulchers Erzählung bezeugt eine Art von Visionenkrieg zwischen den einzelnen Gruppen der Kreuzfahrer. Antiochias Eroberung ist gelungen, nachdem Christus dreimal einem Muslim in der Stadt erschienen ist und ihn aufgefordert hat, den Kreuzfahrern die Tore der Stadt zu öffnen (I, 17; S. 231f.). Den Sieg über das muslimische Entsatzheer verheißt Christus durch eine Vision einem Kleriker, der „aus Furcht vor dem Tode“ fliehen will, und verspricht, bei dem bevorstehenden Kampf mit den Christen zu sein (I, 20; S. 245f.). Vgl. auch die Berichterstattung über die Hl. Lanze in den anonymen Gesta cc. 25 und 28, die das Gottesurteil ganz auslassen: Anonymi Gesta Francorum et aliorum Hierosolymitanorum, ed. HEINRICH HAGENMEYER, Heidelberg 1890, S. 341–345 und S. 362–367. HAGENMEYER hat seine Editionen mit einem ausführlichen Kommentar versehen. Zu Fulcher vgl. VERENA EPP:

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verschwindet bald nach der Eroberung von Jerusalem am 15. Juli 1099 aus der Geschichte. Man kann die Geschichten von der Hl. Lanze in die Kontroverse zwischen Raimund und Bohemund, der den alleinigen Besitzanspruch auf Antiochia gegen den durch Peters Visionen begünstigten Raimund schließlich durchsetzte, einbauen. Das Wunder wäre politisch manipuliert und instrumentalisiert. Der Druck, der mit den weiteren Visionen und Lanzenwundern ausgeübt wurde, richtete sich jedoch gegen die gesamte Führungsgruppe des Kreuzheeres und spiegelt eine zunehmende Differenz zwischen dieser und den ‚einfachen‘ Kreuzfahrern. Diese wollten nach Jerusalem, zum Hl. Grab. Die Herren strebten nach Herrschaft, zumindest nach Geld. Sie scheuten deshalb weiteres Risiko, denn die Ereignisse von Antiochia hatten deutlich gemacht, wie schwierig das Unternehmen geworden war. Deshalb bestimmte das weitere Geschehen des Kreuzzugs ein Konflikt zwischen den untereinander zerstrittenen Führern und der Masse der Kreuzfahrer. Diese hatten das Finassieren ihrer Anführer satt, wo jeder darauf achtete, dass der andere sich keinen Vorteil vor seinen Standesgenossen verschaffte, und damit den Weitermarsch des Heeres hintertrieb. Die einfachen Kreuzfahrer drängten auf den Aufbruch nach Jerusalem, zu dessen Rückeroberung sie vor mehr als zwei Jahren ihre Heimat verlassen hatten. Die Geschichte um die Hl. Lanze ist natürlich auch eine Geschichte mittelalterlicher Kritik an Reliquien, deren Echtheit nicht in jedem Fall ohne weiteres hingenommen wurde. Doch gerade hier wird sie zu einer Erzählung über die Mittel, mit denen ein solcher Echtheitsbeweis geführt wurde. Denn Reliquien fanden sich nicht von selbst, ihre wunderbare Auffindung an bisher unbekanntem Ort, oft in einer Vision offenbart, galt als Beleg für ihre Echtheit. Diejenigen unter den Kreuzfahrern, die an der Echtheit der Hl. Lanze zweifelten, stellten vor allen Dingen die Vision Peters in Frage. Es ist bezeichnend, dass einer dieser Zweifler, der päpstliche Legat Ademar, in einer weiteren Vision sein Fehlurteil und sein Fehlverhalten zugeben musste. Das ganze religiöse Instrumentarium war aufgeboten, damit die Echtheit der Hl. Lanze offenbart werde: die Erscheinung des Apostel Andreas, das Erscheinen des Zweiflers Ademar, die visionären Gespräche Peters mit Christus und das beglaubigende Wirken Gottes bei dem Gottesurteil, dem sich Peter Bartholomäus unterzog. Und doch blieben Zweifel, die offenkundig so stark waren, dass die derart beglaubigte Reliquie aus der Geschichte verschwindet. Visionen konnten eben nicht von vornherein mit Anerkennung rechnen, wenn sie dergestalt in eine komplexe politische Situation eingebaut waren, wie es im Heer der untereinander rivalisierenden Kreuzfahrer der Fall war. Und sollte die Vision aus politischen Motiven von Parteigängern Raimunds von St-Gilles manipuliert worden sein, so zeigte es sich doch bald, dass sie ein Eigenleben entfaltete, das sich nicht mehr konFulcher von Chartres. Studien zur Geschichtsschreibung des ersten Kreuzzuges, Düsseldorf 1990 (Studia humaniora 15), S. 67–71.

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trollieren ließ. Denn der visionäre Peter Bartholomäus zwang die Kreuzfahrerfürsten zum Weitermarsch nach Jerusalem. Raimund von St-Gilles hat sich an die Spitze dieser Bewegung gesetzt. Am 13. Januar verließ er die Gegend von Antiochia mit einem religiösen Gestus: barfuss wie ein Pilger an der Spitze des Heeres. Andere Fürsten schlossen sich ihm an, erst spät Gottfried von Bouillon, der künftige erste Herrscher des Königreichs Jerusalem. Bohemund blieb in Antiochia.15 Die Vision des unbedeutenden Peter Bartholomäus hat die Fürsten zum Aufbruch gezwungen. Die Vision erweist sich als ein Mittel der kleinen Leute, den Mächtigen ihren Willen zeitweise aufzuzwingen. Die Mächtigen jedenfalls hatten keine Visionen, zumindest auf dem Kreuzzug. Mächtig blieben sie trotz alledem. Viermal war der hl. Andreas dem Peter Bartholomäus erschienen und hatte ihn aufgefordert, die Fürsten über den Ort zu informieren, an dem die Hl. Lanze im Boden lag. Dreimal hatte Peter das unterlassen, seine paupertas hat ihn davor zurückschrecken lassen, sich der magnitudo der Mächtigen zu nähern.16 Mit welchem Einsatz ein solch politischer Visionär spielte, zeigt Peters Tod nach dem Gottesurteil. Als die Kreuzfahrer dann Jerusalem eroberten, hatte der ungläubige Ademar von Le Puy seinen letzten Auftritt. Vielen sei er erschienen, heißt es, als erster habe er die Mauern Jerusalems erstiegen und Ritter und Volk aufgefordert, es ihm gleich zu tun.17 Obwohl in der Kathedrale von Antiochia begraben, in der man die Hl. Lanze gefunden hatte, war Ademar doch nach Jerusalem gelangt.

2.

Vision als grundsätzliche Zeitkritik und als Mittel der Bindung eines Herrschers

Die Forschung sieht das (ostfränkisch-)deutsche Königtum des 10. und 11. Jahrhunderts durch eine schubweise erfolgte Verstärkung der königlichen Machtstellung geprägt. Der König habe zunehmend seine Autorität, nicht das Zusammenwirken mit den Großen herausgestellt. Ottos des Großen Regierung signalisiert einen solchen Einschnitt, dann die Heinrichs II. und die Heinrichs III., des 1056 verstorbenen zweiten salischen Herrschers.18 Unter dem Salier wird dieser Wandel in der Erzählung von einem Traum, von einer Vision auf den Punkt gebracht.19 15 16 17 18

Vgl. MAYER (Anm. 10), S. 75–76; FRANCE (Anm. 10), S. 310–324. Raymund von Aguilers: Liber c. 10, ed. HILL (Anm. 10), S. 70. Raymund von Aguilers: Liber c. 18, ed. HILL (Anm. 10), S. 151. Vgl. zu diesen Zusammenhängen GERD ALTHOFF: Amicitiae et Pacta. Bündnis, Einung, Politik und Gebetsgedenken im beginnenden 10. Jahrhundert, Hannover 1992 (MGH Schriften 37), S. 91–96 (zu Otto dem Großen); STEFAN WEINFURTER: Ordnungskonfigurationen im Konflikt. Das Beispiel Kaiser Heinrichs III. In: Mediaevalia Augiensia. Forschungen zur Geschichte des Mittelalters. Hrsg. von JÜRGEN PETERSOHN, Stuttgart 2001 (Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 54), S. 79–100, hier bes. S. 90–100, S. 91–92 zur

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Ein vornehmer und reicher Italiener hatte sie während einer Siesta, als er sich auf dem Weg zu Heinrich III. befand. Im Traum sah er den Herrscher auf seinem Thron sitzen und mit den Großen des Reiches die Haupt- und Staatsaktionen behandeln, vor allem Finanzfragen. Da trat ein Armer vor den Herrscher, bat um Gehör. Der Kaiser aber hatte keine Zeit, der Arme solle warten. Ein zweiter kam, und erhielt dieselbe abweisende Antwort, ebenso ein dritter. Darüber führt der dritte Arme Klage vor Gott. Sofort ertönt vom Himmel eine Stimme: Schafft mir diesen Herrscher weg und lasst ihn unter Strafen lernen, auf welche Weise die Armen überhaupt in der Lage sind, sein Urteil abzuwarten. Was er gegeben hat, soll er selbst empfangen, was Aufschub bedeutet, soll er lernen.20

Sofort wurde der Kaiser aus der Beratung gerissen. Unser Italiener aber wurde wach. Großer Lärm war entstanden, es herrschte eine ihm unbegreifliche Aufregung. Er fragte einen aus seiner Begleitung, der deutsch konnte, was denn geschehen sei. Er erhielt die Antwort, soeben sei die Nachricht eingetroffen, der Kaiser, Heinrich III., sei gestorben. Aufgezeichnet hat die Geschichte der Regensburger Mönch Otloh von St. Emmeram in einem Buch über visionäre Berichte. Er hat sie in Regensburg kurz nach dem Tod Heinrichs erfahren. Die Moral von der Geschichte liefert Otloh bereits vor seiner Erzählung: Es gebe keine größere Schuld für einen König oder einen anderen Fürsten, als die Klage der Armen zu missachten. Aber inzwischen sei es üblich geworden, die Armen zu vertrösten.21 Folgen lässt er der Vision die Schlussfolgerung: Daher ist Gott anzuflehen, dass er sich unser erbarme, indem er uns solche Herrscher gibt, die sich und die ihnen Untergebenen – ob arm, ob reich – richtig leiten können.22

Als Ideal erscheint also noch das Verhalten von Heinrichs III. Vater Konrad II., der auch während der Staatsgeschäfte Zeit für die Armen und Bedrängten hatte. Selbst seinen Zug zur Krönung hatte Konrad dazu unterbrochen, wie es in seinen Gesta be-

19 20

21 22

unten herangezogenen Vision Otlohs. In seinen Arbeiten zu Spielregeln der Politik, Ritual und Kommunikation hat GERD ALTHOFF diese Problematik immer wieder aufgegriffen; vgl. etwa GERD ALTHOFF: Otto III. und Heinrich II. in Konflikten. In: Otto III. – Heinrich II. Eine Wende? Hrsg. von BERND SCHNEIDMÜLLER / STEFAN WEINFURTER, Stuttgart 1997 (Mittelalter-Forschungen 1), S. 77–94. Grundsätzlich BERND SCHNEIDMÜLLER: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter. In: Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw. Hrsg. von PAUL-JOACHIM HEINIG u. a., Berlin 2000 (Historische Forschungen 67), S. 53–87. Otloh von St. Emmeram: Liber visionum, ed. PAUL GERHARD SCHMIDT, Weimar 1989 (MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters 13), Visio 15, S. 86–88. Otloh von St. Emmeram: Liber visionum (Anm. 19), S. 87, Z. 29–S. 88, Z. 3; vgl. auch die Übersetzung bei STEFAN WEINFURTER: Das Jahrhundert der Salier (1024–1125), Ostfildern 2004, S. 105; modifiziert Ders.: Ordnungskonfigurationen (Anm. 18), S. 91. Otloh von St. Emmeram: Liber visionum (Anm. 19), S. 86, Z. 15–20. Otloh von St. Emmeram: Liber visionum (Anm. 19), S. 88, Z. 19–22.

Politische Träume und Visionen im Mittelalter

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schrieben wird.23 Verfasst sind diese Gesta als eine Art Fürstenspiegel für Heinrich III. Otloh hatte eine grundlegende Veränderung des herrscherlichen Verhaltens notiert. Er übt grundsätzliche Zeitkritik und bedient sich dazu der Wiedergabe einer Vision. Dass unter Heinrich III. eine Wendung zum Schlechteren eingetreten sei, haben auch andere Zeitgenossen vermerkt. Die Schuld daran gaben sie der Politik des Königs, der den lokalen adeligen Kräften immer weniger Raum ließ: Zu dieser Zeit murrten sowohl die Großen des Reiches wie die Geringeren mehr und mehr gegen den Kaiser und klagten, er falle schon längst von der anfänglichen Haltung der Gerechtigkeit, Friedensliebe, Frömmigkeit, Gottesfurcht und vielfältigen Tugenden, in der er täglich hätte Fortschritte machen sollen, allmählich mehr und mehr ab zu Gewinnsucht und einer gewissen Sorglosigkeit und werde bald viel schlechter sein, als er war.

Diese nüchterne Bilanz zieht der Chronist Hermann von Reichenau zum Jahre 1053, nachdem er von der Absetzung Herzog Konrads von Bayern durch den Kaiser berichtet hat.24 Der Herrscher erscheint nicht mehr als der Garant von Frieden und Gerechtigkeit, sondern als eine Art von eigennützigem Tyrannen. Diese Kritik traf einen Herrscher, dessen Kaiserkrönung man 1046 begeistert begrüßt hatte als Beginn einer neuen Zeit, als Beginn einer Epoche des Friedens. Wir machen einen zeitlichen und räumlichen Sprung in das anglonormannische England unter König Heinrich I. (1100–1135), dem dritten Sohn und zweiten Nachfolger Wilhelms des Eroberers. In dem chronikalischen Werk des Johannes von Worcester wird eine Serie von Albträumen dieses Herrschers erzählt, in einer Oxforder Handschrift der Chronik sind die Szenen illustriert.25 Heinrich träumt als erstes, er werde von Bauern bedrängt, die von ihm die Rückzahlung einer Schuld verlangen; 23 Wipo: Gesta Chuonradi, Die Werke Wipos. Hrsg. von HARRY BRESSLAU, 3. Aufl., Hannover 1915 (MGH SS rer. Germ. [61]), hier c. 5, S. 26 = FSGA 11: Quellen des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der Hamburgischen Kirche und des Reiches. Hrsg. von WERNER TRILLMICH / RUDOLF BUCHNER, Darmstadt 1961 u. ö., S. 554 / 555. (Übersetzung WERNER TRILLMICH). 24 Hermann von Reichenau: Chronicon ad a. 1053, ed. GEORG HEINRICH PERTZ. In: MGH SS 5, Hannover 1844, S. 67–133, hier S. 132, Z. 32–37 = FSGA 11 (Anm. 23), S. 702 / 703. (Übersetzung RUDOLF BUCHNER). 25 Grundlegend CLAUDE CAROZZI: Die drei Stände gegen den König: Mythos, Traum, Bild. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hrsg. von AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI / GIORGIO STABILE, Stuttgart, Zürich 1989, S. 149–160. Dort sind auch die Miniaturen, in denen die Träume Heinrichs illustriert werden, abgebildet: S. 159 Abb. 1 (die ersten beiden Träume des Königs, außerhalb des Textes der beobachtende Arzt Grimbald), S. 200f. Farbabb. 28 und 29. CAROZZI übersetzt S. 149f. die Visionen sowie die Geschichte von Heinrichs Überfahrt von der Normandie nach England aus der Edition von JOHN REGINALD HOMER WEAVER: The Chronicle of John of Worcester 1118–1140 being the Continuation of the ‚Chronicon ex Chronicis’ of Florence of Worcester, Oxford 1908 (Anecdota Oxoniensia. Mediaeval and Modern Series 13), S. 32–34; jetzt maßgebliche Edition: The Chronicle of John of Worcester, vol. 3: The Annals from 1067 to 1140 with the Gloucester interpolations and the continuation to 1141, edited and translated by PATRICK MCGURK, Oxford 1998, S. 198–203.

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welcher Schuld weiß der Berichterstatter nicht. Der König springt aus seinem Bett, greift zu den Waffen, um die Bauern zu verjagen, aber er verschreckt nur seine Leibwache, sie ergreift die Flucht. Der Berichterstatter macht sich über Heinrich lustig. Statt Schrecken zu verbreiten, werde er „selber im Schlaf von Bauern geschreckt“. Er empfiehlt dem Herrscher, wieder ins Bett zu gehen. Dort erwartet diesen ein weiterer Traum, eine neue Vision. Diesmal bedrohen ihn Ritter an Leib und Leben. Der König schreit um Hilfe, wird davon wach und schlägt mit dem Schwert um sich. Natürlich trifft er niemanden. Im dritten Traum erscheinen Erzbischöfe und hohe Geistliche. Sähe man genauer hin, würde man erkennen können, wie sie die königliche Barmherzigkeit anflehen wegen der Plünderung des Kirchenguts. Aber da sie seinen Anblick schrecklich finden und da es so aussieht, als wende er seine Augen drohend von ihnen ab, scheinen sie ihn mit den Spitzen ihrer Stäbe anzustacheln.

Die Geistlichen sind erschienen, um zu bitten. Doch sie fühlen sich von dem hartherzigen König bedroht, und dieser von ihnen. Vom Erwachen des Königs ist anders als bei den vorangegangenen Träumen nicht mehr die Rede. Die Vision des Königs erweist sich nicht als irreal, wie die beiden anderen, als der erwachte König sich in einem leeren Schlafzimmer befand. Und schließlich hat diese Vision einen Zeugen: „Grimbald, sehr bewandert in der medizinischen Kunst“. Ihm erzählt Heinrich am nächsten Morgen den Traum und Grimbald belehrte den König durch die Deutung des Traumes und verpflichtete ihn, seine Schuld durch Almosen wiedergutzumachen, so wie es einst Nabuchodonosor auf den Rat Daniels tat.

Der englische König hat so seinen Daniel gefunden, doch wie dieser die Träume des Königs deutete, verschweigt der Berichterstatter. Nach den Illustrationen hat Grimbald auch die ersten beiden Visionen des Königs beobachtet. Er ist jeweils am Rande des Textes abgebildet, eine Beischrift erläutert seine Rolle.26 Die drei Gruppen, die der König im Traum sieht und von denen er sich bedroht fühlt, sind die drei Stände, wie sie seit dem Ende des neunten Jahrhunderts in der englischen Literatur und seit der Jahrtausendwende auf dem Kontinent begegnen: Bauern, Krieger und Geistliche.27 26 Heinricus mira rex hec per somnia uidit que medicus Grimbald uigilando per omnia spectat, ed. MCGURK (Anm. 25), S. 198 u. 200. 27 Vgl. grundsätzlich OTTO GERHARD OEXLE: Die funktionale Dreiteilung der „Gesellschaft“ bei Adalbero von Laon. Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im früheren Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 12, Berlin, New York 1978, S. 1–54; Ders.: Tria genera hominum. Zur Geschichte eines Deutungsschemas der sozialen Wirklichkeit in Antike und Mittelalter. In: Institutionen, Kultur und Gesellschaft im Mittelalter. Festschrift für Josef Fleckenstein zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. von LUTZ FENSKE / WERNER RÖSENER / THOMAS ZOTZ, Sigmaringen 1984, S. 483–500; Ders.: Deutungsschemata der sozialen Wirklichkeit im frühen und hohen Mittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte des Wissens. In: Mentalitäten im Mittelalter. Methodische und inhalt-

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Die vierte Abbildung in der Chronik hat keinen Traum des Königs zum Gegenstand, sondern ein reales Geschehen, das den Träumen sowohl in der Erzählung als auch in der Illustrationsreihe unmittelbar folgt. Jetzt werden die Schlussfolgerungen aus den Träumen gezogen.28 Denn am Tag nach der Deutung des letzten Traums durch Grimbald kehrt Heinrich mit dem Schiff von der Normandie nach England zurück. Ein Sturm kommt auf, doch „Jesus schlief“. Der Wortlaut der Schilderung lehnt sich an die neutestamentliche Geschichte vom Sturm auf dem See Genezareth an. Heinrich ist in höchster Gefahr und bedarf höchster Hilfe, die ihm aber nicht ohne eigenes Verdienst zuteil werden wird: Der König, seinen nahen Tod befürchtend, beschloss, damit der König der Könige aufwache und ihm und den Seinen zu Hilfe komme, für die Dauer von sieben Jahren in England kein Danegeld mehr zu verlangen.

Sofort legt sich der Sturm. Heinrich reduziert die finanziellen Belastungen, die ihm seitens der Kirche als Raub des Kirchengutes angelastet worden waren. Als sie dem König erschienen waren, hatten sowohl die Bauern als auch die Geistlichen eine Pergamentrolle dabei, in der ihre Belastungen aufgezeichnet waren. 1130/31 war Heinrich von der Normandie nach England zurückgekehrt, in diese Zeit gehört also seine Aufhebung des Danegelds, eine Grundsteuer, die er bisher fast jedes Jahr erhoben hatte. 1133 hat Heinrich England wieder verlassen, 1135 ist er in der Normandie gestorben. In der Sturmerzählung lenkt Johannes das Augenmerk auf Heinrichs Nachfolger Stephan. Dieser hatte zunächst das Danegeld generell aufgehoben, es dann aber wieder eingefordert und damit nach Ansicht des Johannes einen Eid gebrochen. „Die Gewinnsucht ist es, welche bewirkt, dass die Könige so häufig die Gesetze umstoßen“, kommentiert Johannes und kleidet seine Sentenz in Verse, die über die Zustände in der Zeit Stephans klagen.29 Der Traum Heinrichs bewirkt nicht nur eine Umkehr des Herrschers, der erkennt, dass seine Maßnahmen Unrecht waren. Die Aussetzung des Danegelds war Rückkehr zu der von Gott gesetzten Ordnung. Unter König Stephan schien sich das zu einer endgültigen Regelung auszuweiten, bis Stephan sie selbst außer Kraft setzte. Er lenkte damit zu einem Zustand zurück, den Heinrich aufgrund seiner Träume und der Ereignisse auf der folgenden Überfahrt nach England beendet hatte. Der Traum Heinrichs hätte auch den Nachfolger binden müssen, deshalb wird er so ausführlich erzählt. Inliche Probleme. Hrsg. von FRANTIŠEK GRAUS, Sigmaringen 1987 (Vorträge und Forschungen. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte 35), S. 65–117; GEORGES DUBY: Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus, übers. von GRETE OSTERWALD, Frankfurt 1981, dort S. 416f. weitere Beispiele aus der anglonormannischen Literatur der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts. 28 The Chronicle of John of Worcester, ed. MCGURK (Anm. 25), S. 202 / 203; deutsche Übersetzung bei CAROZZI (Anm. 25), S. 150. 29 The Chronicle of John of Worcester, ed. MCGURK (Anm. 25), S. 202 / 203; deutsche Übersetzung bei CAROZZI (Anm. 25), S. 150.

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dem die Deutung der drei Träume mit der alttestamentlichen Traumdeutung Daniels, die Rettung aus Seenot mit dem Wunder Jesu, der den Sturm auf dem See Genezareth stillte, verglichen wird, ist die Verbindlichkeit der von Heinrich getroffenen Maßnahmen betont. Ein König, der sich auf einem Politikfeld von göttlicher Eingebung leiten lässt, auch wenn er den Inhalt der Botschaft selbst nicht erkennt und eines Daniel bedarf, der sie für ihn auslegt, ein solcher König legt seine Nachfolger unwiderruflich auf die gleiche Politik fest, wollen sie sich nicht versündigen. Der träumende König fesselt den Nachfolger.

3.

Der träumende Herrscher – ein Traum vom Herrscher

Doch ist es so selbstverständlich, dass ein Herrscher träumt und in einer Vision Anweisungen für seine Politik erhält? Die Geschichte über die Visionen Heinrichs I. von England mag dafür sprechen, doch sie ist in ein Verständnis von einem sakralen Königtum eingeordnet, wie es die Parallele zum Stillen des Sturmes auf dem See Genezareth herausstellt. Beispiele aus der deutschen Geschichte des zehnten und beginnenden elften Jahrhunderts können verdeutlichen, dass hinter den Schilderungen eines träumenden Herrschers der Traum von einem Herrscher steht, der von Gott geleitet wird. Und es scheint so, als ob dieser Traum mit einem spezifischen Krisenbewusstsein des berichtenden Historiographen in Verbindung zu bringen ist. Der von himmlischer Vision und Traum geleitete Herrscher ist offenkundig nicht das Ideal. Ottos des Großen Charakterisierung durch Widukind von Corvey lässt das erkennen. Otto verkörpert für Widukind den idealen Herrscher, er entwirft von ihm ein Charakterbild, das auf Einhards Schilderung Karls des Großen beruht. Karl, so schreibt Einhard, habe im Sommer nach dem Mittagessen zwei bis drei Stunden geruht.30 Nachts sei er vier- oder fünfmal aufgestanden. Auch Widukind geht auf die Schlafgewohnheiten seines Helden ein: „Im Schlafen [war er] mäßig, während des Schlafes redete er immer, so daß es den Anschein hatte, als ob er stets wache.“31 Otto der Große hat also laut geträumt. Aber nicht der träumende, sondern der wachende König ist Widukinds Ideal. Otto handelt nicht auf himmlische Weisung, sondern versichert sich in kritischen Situationen des himmlischen Beistandes, indem er betet und fastet. Den Erfolg schreibt er sich nicht selbst zu, sondern dem göttlichen Wirken, wofür er Dank

30 Einhard: Vita Karoli magni, ed. OSWALD HOLDER-EGGER, Hannover 1911 (MGH SS rer. Germ. [25]), hier c. 24, S. 29 = FSGA 5: Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Teil 1. Hrsg. von REINHOLD RAU, Darmstadt 1955 u. ö., S. 196 / 197. 31 Widukind von Corvey: Res gestae Saxonicae, ed. HANS-EBERHARD LOHMANN / PAUL HIRSCH, Hannover 1935 (MGH SS rer. Germ. [60]), hier II, 36, S. 96 = FSGA 8: Quellen zur Geschichte der sächsischen Kaiserzeit. Hrsg. von ALBERT BAUER / REINHOLD RAU, Darmstadt 21977, S. 119.

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schuldet.32 Wenn ich recht sehe, spielen in den großen biographisch orientierten Werken der Zeit, sofern sie den König betreffen, Traum und Vision keine Rolle. Einhard lässt Karl den Großen nicht träumen, ebenso wenig Wipo seinen Helden Konrad II. oder Otto von Freising den Staufer Friedrich Barbarossa. Widukinds scheinbar ständig wacher Otto der Große erscheint jedoch eine Generation später in der Chronik des Merseburger Bischofs Thietmar als Herrscher, der durch Traum und Vision von Gott geleitet wird. Beides, Traum und Vision, spielen bei Thietmar ohnehin eine größere Rolle. Wenn er nun auch Otto den Großen träumen und Visionen haben lässt, ist das besonders auffällig. Denn Thietmar kennt das Werk Widukinds, wo davon keine Rede ist. Zwei Bischofserhebungen unter Otto dem Großen verknüpft Thietmar mit Vision und Traum des Herrschers: Die Erhebung Geros zum Kölner Erzbischof 969/970 und die Nachfolge im Bistum Regensburg 940. Für Regensburg erhält Otto im Traum die Weisung, dem ersten, dem er am nächsten Morgen begegnen werde, das Bistum zu übertragen.33 Am nächsten Tag begibt sich Otto zum Kloster St. Emmeram, ein altersgrauer Pförtner und ehrwürdiger Pater öffnet ihm das Tor. Otto fragt diesen, was er ihm geben werde, wenn er das Bischofsamt erhalte. „Meine Schuhe“, lautet die Antwort. Im Dom erzählt Otto dann den zur Bischofswahl versammelten Geistlichen von seinem Traum und der morgendlichen Begegnung und erhebt danach „auf Empfehlung der Geistlichkeit und des ganzen Volkes“ den Klosterpförtner Gunter zum Bischof.

32 Fasten wird dem Heer vor der Lechfeldschlacht befohlen, vgl. Widukind: Res gestae Saxonicae III, 44, ed. LOHMANN / HIRSCH (Anm. 31), S. 124, Z. 8 = FSGA 8 (Anm. 31), S. 152, Z. 17. Nach dem Sieg ordnet Otto der Große Dankgottesdienste an, vgl. Widukind III, 49, S. 128f. = FSGA 8, S. 158 / 159. Die zeitgenössische Liturgie beschwört Gott als Siegspender, wie das Pontificale Romano-Germanicum zeigt: Le Pontifical Romano-Germanique du dixième siècle. Hrsg. von CYRILLE VOGEL / REINHARD ELZE, 3 Bde., Rom 1963–1972 (Studi e testi 226, 227, 269). Vgl. hier die Gebete in dem Ordo für die Königskrönung: Ordo 72, 11 und 17 (VOGEL / ELZE 1, S. 250f. u. 255). Nachdrücklich die Oratio pro exercitu, Ordo 245 (VOGEL / ELZE 2, S. 380): Das Heer soll, wenn es gesiegt hat, das „nicht seinen Kräften zuschreiben, sondern soll dem eigentlichen Sieger Christus, deinem Sohn, Dank für den Triumph sagen“ ([…] et, cum tuo angelo duce, victor extiterit, non suis tribuat viribus, sed ipsi victori Christo filio tuo gratias referat de triumpho). Vgl. HAGEN KELLER: Machabaeorum pugnae. Zum Stellenwert eines biblischen Vorbilds in Widukinds Deutung der ottonischen Königsherrschaft. In: Iconologia Sacra. Mythos, Bildkunst und Dichtung in der Religions- und Sozialgeschichte Alteuropas. Festschrift für Karl Hauck zum 75. Geburtstag. Hrsg. von HAGEN KELLER / NIKOLAUS STAUBACH, Berlin, New York 1994 (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 23), S. 417–437. 33 Thietmar von Merseburg: Chronik, ed. ROBERT HOLTZMANN, Berlin 1935 (MGH SS rer. Germ. N. S. 9), hier II, 26, S. 70 = FSGA 9: Thietmar von Merseburg, Chronik. Hrsg. von WERNER TRILLMICH, Darmstadt 1957 u. ö., S. 62 / 63.

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Dramatisch verläuft Geros Erhebung zum Erzbischof von Köln.34 Gero hat selbst in einer Vision erlebt, wie ihn der hl. Petrus und Ambrosius mit dem heiligen Öl salben. Im oberitalienischen Pavia hatte er während einer Messe diese Vision, deshalb die Nennung des Ambrosius, Petrus hingegen ist der Patron der Kölner Kirche. Gero erzählt niemandem von seiner Vision, aber er weiß, Gott hat ihn für das Bischofsamt bestimmt. Doch Otto der Große sperrt sich gegen den Kölner Wunsch, Gero solle neuer Erzbischof werden. Nun greift Gott über eine Vision ein: Dem Kaiser aber erschien am hl. Auferstehungstage des Herrn [Ostern] ein Engel mit bloßem Schwert, als er gerade im Schmucke der Krone zur Kirche gehen wollte, und sprach: „Wenn du heute Geros Wahl nicht vollziehst, wirst du dieses Haus nicht heil verlassen!“ Da sagte der Caesar erbleichend: „Ruft Herrn Gero!“, und als der sogleich kam, vertraute er ihm mit dem Stabe das Hirtenamt an und erbat in Demut seine Verzeihung.

Am höchsten christlichen Festtag hat Otto diese Vision. Er ist bei vollem Bewusstsein, und er ist gewissermaßen in seinem Herrscheramt besonders gegenüber Gott geöffnet, denn er geht unter der Krone, worauf er sich wie gewohnt durch die religiöse Übung des Fastens vorbereitet hat. Mit dem Schwert macht ihn der Engel darauf aufmerksam, dass er sich nun auch entsprechend seiner religiös und kirchlich begründeten Würde zu verhalten hat. Thietmar will in Otto dem Großen einen von Gott geleiteten Herrscher vorstellen. Deshalb habe er das Ganze erzählt, bemerkt er ausdrücklich: Diese beiden Bischofsgeschichten habe ich erzählt, damit du, lieber Leser, wissest, wie oft die Gnade des Himmels dem Kaiser enthüllte, was nach seinem Willen auf Erden geschehen sollte.35

Der Herrscher ist ein Werkzeug Gottes, der ihm – falls nötig – seinen Willen in Vision und Traum mitteilt. Das gilt aber nur für den gesalbten Herrscher, denn die Salbung hat dem König eine besondere Nähe zu Gott verliehen. Thietmar teilt nämlich die Kritik daran, dass Ottos Vater Heinrich I., der Begründer des ottonischen Königtums, die Königssalbung abgelehnt habe. Heinrich hatte das mit Demut begründet. Thietmar übernimmt jedoch aus der Lebensbeschreibung Bischof Ulrichs von Augsburg die

34 Thietmar: Chronik II, 24, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 68 = FSGA 9 (Anm. 33), S. 60 / 61. Thietmars Bericht bezieht sich auf das Osterfest des Jahres 970, Otto der Große befand sich zu dieser Zeit in Ravenna. Vgl. HEINZ FINGER: Gehütete Hirten – Die Kölner Erzbischöfe des Mittelalters unter himmlischer Führung. Ein Beitrag zu Visionsschilderungen und sogenannten „Jenseitsbotschaften“ in erzählenden Geschichtsquellen. In: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 205 (2002), S. 17–34, hier S. 23f. Kritisch gegenüber Thietmars Erzählung von einer anfänglichen Ablehnung Geros durch den Kaiser ist JOSEF FLECKENSTEIN: Die Hofkapelle der deutschen Könige, 2. Teil: Die Hofkapelle im Rahmen der ottonisch-salischen Reichskirche, Stuttgart 1966 (Schriften der MGH 16 / 2), S. 42 Anm. 165; für den vorliegenden Zusammenhang ist das jedoch unerheblich. 35 Thietmar: Chronik II, 27, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 73 = FSGA 9 (Anm. 33), S. 64 / 65.

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Erzählung einer Vision, die Ulrich hatte. Ulrich waren die Bistumspatronin Afra und der hl. Petrus erschienen. Petrus, so die 992 entstandene Vita des Augsburger Bischofs, zeigte ihm zwei sehr herrschaftliche Schwerter, eines mit Knauf und das andere ohne Knauf, und sprach so zu ihm: „Sag König Heinrich, das Schwert ohne Knauf bezeichnet den König, der ohne bischöfliche Weihe die Reichsgewalt innehat, das mit Knauf aber den, der mit göttlicher Weihe die Reichsgewalt innehat.“36

Thietmar schwächt die Kritik etwas ab, denn bei ihm zeigt die hl. Afra die beiden Schwerter und die Bewertung überlässt er „Gottes verborgenem Urteil“.37 Er selbst fürchtet jedoch einleitend, Heinrich habe mit der Ablehnung der Salbung eine Sünde begangen. Für ihn war jedenfalls Grundsätzliches angesprochen. Denn nur der gesalbte König sollte seiner Auffassung nach an einer Bischofserhebung mitwirken dürfen.38 Konsequenterweise schickt Gott dem ungesalbten Heinrich auch keine Träume und Visionen. Auch Ottos des Großen Sohn und Nachfolger Otto II. werden diese verweigert.39 Denn Otto II. hatte in Thietmars Augen schwere Schuld auf sich geladen. Er hatte 981 das Bistum Merseburg auflösen lassen, dessen Errichtung Otto der Große nach seinem Sieg auf dem Lechfeld 955 dem Tagesheiligen, dem hl. Laurentius, gelobt hatte.40 Ottos II. Niederlage gegen die Sarazenen in Süditalien, den großen Slawenaufstand von 983, der die Erfolge der ottonischen Missions- und Ausdehnungspolitik östlich der Elbe zunichte machte, seinen frühen Tod im gleichen Jahr führte man um die erste Jahrtausendwende auf dieses Vergehen gegen das väterliche Gelübde und den hl. Laurentius zurück.

36 Gerhard von Augsburg: Vita Sancti Uodalrici. Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich, lateinisch – deutsch. Mit der Kanonisationsurkunde von 993. Einleitung, kritische Edition und Übersetzung besorgt von WALTER BERSCHIN / ANGELIKA HÄSE, Heidelberg 1993 (Editiones Heidelbergenses 24), hier I, 3, S. 108 / 109. 37 Thietmar: Chronik I, 8, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 14, Z. 9f. = FSGA 9 (Anm. 33), S. 12 / 13. 38 Thietmar: Chronik I, 8, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 14, Z. 3: Attamen in hoc equidem peccasse vereor = FSGA 9 (Anm. 33), S. 13: „Trotzdem fürchte ich, hierin eine Sünde sehen zu müssen.“ Zu dem Zusammenhang zwischen Königssalbung und königlichen Rechten bei der Bischofserhebung vgl. Chronik I, 26, ed. HOLTZMANN, S. 34 = FSGA 9, S. 30 / 31. 39 Frau KERSTIN SCHULMEYER-AHL (Frankfurt a. M.) danke ich für Gespräche zu Thietmar. Inzwischen erschienen ist ihre Monographie: KERSTIN SCHULMEYER-AHL: Der Anfang vom Ende der Ottonen. Konstitutionsbedingungen historiographischer Nachrichten in der Chronik Thietmars von Merseburg, Berlin, New York 2009 (Millenium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 26). 40 DIETRICH CLAUDE: Geschichte des Erzbistums Magdeburg bis in das 12. Jahrhundert, Teil 1: Die Geschichte der Erzbischöfe bis auf Ruotger (1124), Köln 1972 (Mitteldeutsche Forschungen 67 / I), passim; ERNST-DIETER HEHL: Merseburg – eine Bistumsgründung unter Vorbehalt. Gelübde, Kirchenrecht und politischer Spielraum im 10. Jahrhundert. In: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 96–119.

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In Visionen wird Ottos II. Vergehen angeprangert. Brun von Querfurt erzählt eine solche in seiner Vita Adalberts von Prag, der 997 als Missionar bei den Prusen den Märtyrertod gefunden hatte.41 In einer nächtlichen Vision sah Adalbert den Kaiser auf goldenem Thron sitzen, die Füße auf einem silbernen Schemel. Bischöfe und Große sind um ihn versammelt: Da trat mit schönem Antlitz wie von Feuer ein unbekannter Jüngling ein, gekleidet mit schneeweißem Gewand, eine purpurne Stola gürtete seine Brust. Er […] nahm mit Entrüstung den silbernen Schemel und ging mit abgewandtem Blick zur Tür.

Adalbert eilt ihm nach und ruft: „Bitte, mein Herr, begeh nicht solche Schandtat; gib den Schemel zurück! Wer du auch bist, der solches wagt, ich beschwöre dich: Mach den König nicht vor dem Volk zuschanden!“ Diese große goldene Gestalt war die des mächtigen Laurentius, wie Gott später den Bischof erkennen ließ. Er sagte: „Nein, wenn er meine Schande nicht beseitigt, werde ich noch Schlimmeres tun; nach der Wegnahme des Schemels werde ich ihn vom Thron stürzen.“

Obwohl Otto II. von dieser Vision erfährt, unternimmt er nichts, um das aufgelöste Bistum wiederherzustellen. Und nun nehmen die Dinge ihren Lauf. Nach dem Tod Ottos II. erscheint Laurentius – wie Thietmar, seit 1009 Bischof des 1004 wiederhergestellten Bistums Merseburg, berichtet – dessen Witwe Theophanu, die für ihren kleinen Sohn Otto III. die Regentschaft führt. Laurentius ist am rechten Arm verstümmelt und gibt dem verstorbenen Kaiser, der das dem Heiligen geweihte Bistum Merseburg aufgelöst hat, die Schuld daran. Theophanu kann selbst nichts für die Wiederherstellung des Bistums tun. Doch – so Thietmar – legte sie ihrem frommen Sohne ans Herz, für die ewige Ruhe der Seele seines Vaters beim Jüngsten Gericht zu sorgen durch Erneuerung des Bistums.42

Otto III. leitet in seiner selbständigen Regierung die ersten Schritte dazu ein. An sein Ziel kommt er nicht, er stirbt zu jung. Erst unter Heinrich II. wird 1004 Merseburg wiederhergestellt. Aber Ottos III. Politik ist durch eine Vision mit konkreter Zielsetzung geprägt und vorherbestimmt. Umso auffälliger ist es, dass in Thietmars Chronik zwar von Visionen des Herrschers die Rede ist, dem die Wiedererrichtung seines Bistums zu verdanken ist, dass aber nichts über den Inhalt der Visionen Heinrichs verlautet. Einmal hat Heinrich auf eine Vision, die einem Bauern auf dem Felde vom Himmel durch eine Taube mitgeteilt worden war und die dieser dem Herrscher meldete, nicht gehört, dafür musste er büßen. Worum es sich handelt, sagt Thietmar nicht. 43 41 Zum Folgenden Brun von Querfurt: Sancti Adalberti Pragensis episcopi et martyris vita altera, Redactio brevior, ed. JADWIGA KARWASINSKA, Warschau 1969 (Monumenta Poloniae Historica N. S. 4 / 2), hier c. 12, S. 52, Z. 22 – S. 53, Z. 2 = FSGA 23: Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte. Adalbert von Prag und Otto von Bamberg. Unter Mitarbeit von JERZY STRZELCZYK hrsg. von LORENZ WEINRICH, Darmstadt 2005, S. 82 / 83–84 / 85. 42 Thietmar: Chronik IV, 10, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 142 = FSGA 9 (Anm. 33), S. 124 / 125. 43 Thietmar: Chronik VII, 15, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 416 = FSGA 9 (Anm. 33), S. 368 / 370.

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1013 ist Heinrich für längere Zeit schwer erkrankt, dabei „wurde ihm durch eine Vision vielerlei enthüllt“.44 Wiederum erfahren wir nicht, worum es geht. Klar ist jedoch, dass Heinrich an der Gnade von Visionen teilhat, genauso wie Otto der Große und das Gespann Theophanu/Otto III. Den Inhalt der Visionen, die diesen zuteil wurden, teilt Thietmar mit, bei Heinrich II. verschweigt er das. Vermutlich ist diese Erzählweise aus der besonderen Situation des Historiographen Thietmar zu erklären.45 Er schreibt zu Lebzeiten Heinrichs II., dem er sich wegen der Wiederherstellung Merseburgs tief verpflichtet fühlt, und stirbt überdies vor Heinrich. Vor allem aber schreibt er in der Kenntnis, dass die Herrschaft der Ottonen mit Heinrich II. enden wird, denn Heinrich kann keine Kinder zeugen, was er selbst 1007 bei der Gründung des Bistums Bamberg öffentlich bekannt machte.46 Nach Heinrichs Tod musste es aber ungewiss sein, ob in ausreichendem Maß für das Seelenheil des mit ihm erloschenen Herrscherhauses gebetet werden konnte. Die konkreten Visionen Ottos des Großen, Theophanus und des von ihr ‚abhängigen’ Ottos III. belegen, dass diese Herrscher alles getan haben, um für die richtige Ordnung der Kirche ihres Reiches zu sorgen, die unentbehrliche Voraussetzung für die Kontinuität und das Funktionieren der Bitten für das Seelenheil war. Die Kirchen des Reiches standen in Dankesschuld gegenüber den Herrschern, die sich in ihrem Verhalten ihnen gegenüber von den Weisungen Gottes hatten leiten lassen. Unter Heinrich II. war dieser Prozess in Merseburg zum Abschluss gekommen und in der von Thietmar herausgestellten Förderung des Bistums Worms sichtbar.47 Und stellt man Vorstellungen von einem mit der Jahrtausendwende verbundenen Ende der Welt in Rechnung, so befand sich die Kirche dank dieser mustergültigen Herrschaft in guter Ordnung und die Welt war damit auf ihr mögliches Ende vorbereitet. In dieser Situation reichte es aus zu zeigen, dass der aktuelle Herrscher Heinrich II. einer von Gott geschickten Vision würdig war und sich ihr nicht verschloss. Das konkrete politische Handeln des Herrschers an die Kette einer konkreten Vision zu legen, war überflüssig. Der träumende Herrscher, um zu einem Fazit zu kommen, ist letztlich der Traum des Berichterstatters vom König als idealem Herrscher, der Traum von einem Herrscher, der – angeleitet durch Gott – das Reich in Ordnung hält, speziell aber die Kirche, ohne deren richtige Ordnung der Weg zum Seelenheil nicht möglich ist. Der träumende Herrscher ist so gesehen die spezifische Erscheinungsform eines sakral verstandenen König44 Thietmar: Chronik VI, 91, ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 382 = FSGA 9 (Anm. 33), S. 338 / 339. 45 Zu dieser grundsätzlich und mit weiter Perspektive SCHULMEYER-AHL (Anm. 39), bes. S. 35ff., 372 f. 46 Vgl. STEFAN WEINFURTER: Heinrich II. (1002–1024). Herrscher am Ende der Zeiten, Regensburg 1999, S. 259–261. 47 Vgl. die Verseinleitungen zum fünften (des ersten, das sich mit Heinrich als König befasst) und zum sechsten Buch der Chronik. Hier wird Heinrichs Fürsorge für Worms und Merseburg hervorgehoben; ed. HOLTZMANN (Anm. 33), S. 220, S. 272 / 274 = FSGA 9 (Anm. 33), S. 192 / 193– 194 / 195, S. 240 / 241–242 / 243.

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tums.48 Als dieses seit der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts in eine Krise gerät, verschwindet der träumende Herrscher zunächst aus der Geschichte; im 14. Jahrhundert wird er – wie Karl IV. – mit individuell zu verstehenden Träumen wiederkehren.49 In der Epoche, die ich vorgestellt habe, träumen Herrscher, die mächtig genug sind, die Politik zu gestalten. Für die Zeit unmittelbar zuvor, aus dem zerfallenden Karolingerreich, ist jedoch der Traum eines Königs überliefert, der nicht mehr über solche Gestaltungsfähigkeit verfügt. Es ist eine Vision Karls III., der vor seinem Sturz 887 als letzter nochmals das gesamte Reich unter einer einzigen Herrschaft vereinigt hatte. In seiner Jenseitswanderung sieht Karl seine Vorfahren, und er sieht die Bischöfe und Großen der fränkischen Teilreiche, die nicht für die Einheit gesorgt, sondern die Mitglieder des karolingischen Hauses gegeneinander aufgehetzt haben. Es ist die Vision vom Zerbrechen karolingischer Einheit und das Beschwören, die ideelle Einheit des Frankenreiches nicht aufzugeben. Auch hier ist der Traum des Königs ein Traum vom König, doch es ist ein Traum ohne Zukunft. Vermutlich um 890 (oder 900), also nach Karls III. Tod, ist dieser Text entstanden.50 ***

48 Vgl. zusammenfassend FRANZ-REINER ERKENS: Herrschersakralität im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Investiturstreit, Stuttgart 2006, bes. die Abschnitte VI. und VII. 49 Vgl. PETER DINZELBACHER: Der Traum Kaiser Karls IV. In: Träume im Mittelalter (Anm. 25), S. 161–170. 50 Überliefert bei Hariulf: Chronique de l’abbaye de Saint-Riquier (Ve siècle – 1104), ed. FERDINAND LOT, Paris 1894, III, 21, S. 144–148; Wilhelm von Malmesbury: Gesta regum Anglorum. The History of the English Kings, edited and translated by ROGER AUBREY BASKERVILLE MYNORS, completed by RODNEY M. THOMSON / MICHAEL WINTERBOTTOM, Bd. 1, Oxford 1998, II, 111, S. 162–169. Vgl. zusammenfassend zur Datierung und Lokalisierung WILHELM WATTENBACH / WILHELM LEVISON: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger. Heft 5: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem sächsischen Hause. Das Westfränkische Reich, bearbeitet von HEINZ LÖWE, Weimar 1973, S. 527 f. Zur Interpretation LEVISON: Politik in Jenseitsvisionen (Anm. 3), S. 243–245; URSULA PENNDORF: Das Problem der „Reichseinheitsidee“ nach der Teilung von Verdun (843). Untersuchungen zu den späten Karolingern, München 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung 20), S. 122–140; CAROZZI (Anm. 4), S. 359–368; THILO OFFERGELD: Reges pueri. Das Königtum Minderjähriger im frühen Mittelalter, Hannover 2001 (MGH Schriften 50), S. 500–505. Anders ist die Vision Karls des Großen strukturiert, die sich gegen die Usurpierung von Kirchengut durch den Herrscher wendet. Denn ihr rätselhafter Inhalt wird vor Karl von Einhard gedeutet; vgl. Visio Caroli magni. In: Bibliotheca rerum Germanicarum. Hrsg. von PHILIPP JAFFÉ, Bd. 4: Monumenta Carolina, Berlin 1867, S. 701–704. Vgl. WILHELM WATTENBACH / WILHELM LEVISON: Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger. Heft 6: Die Karolinger vom Vertrag von Verdun bis zum Herrschaftsantritt der Herrscher aus dem sächsischen Hause. Das Ostfränkische Reich, bearbeitet von HEINZ LÖWE, Weimar 1990, S. 723.

Politische Träume und Visionen im Mittelalter

215

Ich schließe mit einigen allgemeinen Bemerkungen. Albert der Große war der Meinung, ein Traum sage mehr über den Träumenden aus als über das Geträumte.51 Albert denkt dabei an individuelle Träume, die von dem Träumenden selbst erzählt werden. In meinen Beispielen fassen wir jedoch nicht den Träumenden selbst, sondern den, der über das Geträumte berichtet. In den politischen Träumen wird die Weltsicht des Berichterstatters sichtbar, die aus allgemeinen Überzeugungen seiner Zeit zusammengesetzt ist. Zugang zu dem Individuum des Berichterstatters bieten seine Erzählungen politischer Träume nicht oder nur eingeschränkt. Erzählt werden Träume von einer richtigen Ordnung der Welt. Das sind Träume, die ein jeder haben kann, und die den Bedrängten, Schutz- und Machtlosen, den pauperes, den Frauen und der Kirche besonders nahe liegen. Um das mit einem Beleg aus neuester Literatur zu verdeutlichen: Eine der eindrücklichsten Szenen in den Erinnerungen von Joachim Fest ist das Gespräch seiner Eltern, in dem die Mutter den Vater bittet, um der Existenz der Familie willen sich der NSDAP anzunähern und entgegen seiner Überzeugung in die Partei einzutreten, denn die Verstellung, die „Unwahrheit sei immer das Mittel der kleinen Leute gegen die Mächtigen gewesen“. Die Antwort des Vaters: „Wir sind keine kleinen Leute!“52 Die Waffe der kleinen Leute innerhalb der großen Politik scheint für die Zeit und die Beispiele, die ich vorgestellt habe, der Traum, die Traumerzählung gewesen zu sein. Verstellung war noch nicht gefordert; dass es aber nicht ungefährlich war, mit Träumen politische Vorgänge beeinflussen zu wollen, zeigt der Fall des Peter Bartholomäus, mit dem ich begonnen habe.

51 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von NOTGER SLENCZKA, S. 133–160. 52 JOACHIM FEST: Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, Reinbek 2006, S. 71.

Teil III: Perspektiven

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Wolfram Schmitt

WOLFRAM SCHMITT

Vision, Halluzination und Melancholie. Historische und aktuelle Perspektiven

Halluzinationen und Visionen sind zu allen Zeiten und in allen Kulturen häufig auftretende und beschriebene Ereignisse, denen stets etwas Abnormes, keineswegs aber immer etwas Krankhaftes anhaftet. Sie wurden immer schon von den Träumen und Traumbildern grundsätzlich abgegrenzt, die an den Schlafzustand gebunden sind.1 Halluzinationen sind Sinnestäuschungen, und auch Visionen sind Sinnestäuschungen, letzteres zumindest aus heutiger psychopathologischer Sicht.2 Aus der Perspektive der christlichen Kirchen und der Religionen allgemein aber sind Visionen kein Betrug der Sinne, sondern sinnenhafte Wahrnehmungen einer übernatürlichen Realität, transzendentale Erfahrungen des Göttlichen und Heiligen, das in Erscheinung tritt und leibhaftig wahrnehmbar wird.3 Die Vision ist dergestalt die Schau eines sich offenbarenden Numinosen, das sich als Erscheinung enthüllt. Betrachtet man wiederum die Halluzination, so ist sie als ‚Sinneswahrnehmung ohne entsprechenden Sinnesreiz‘, wie sie gemeinhin definiert wird, sicherlich zu kurzschlüssig beschrieben. Auch in Halluzinationen wird etwas offenbar, nämlich Aspekte einer inneren seelischen Welt, die unter bestimmten Bedingungen projektiv als Teil der äußeren Realität erscheint. Im Unterschied zur psychiatrisch verstandenen Halluzination ist die religiös betrachtete Vision keine Manifestation der innerseelischen Bereiche, sondern der göttlichen oder dämonischen Sphäre. Das Übernatürliche erscheint und lässt sich spirituell wahrnehmen. Freilich ist im medizinischen Diskurs auch die Vision eine wahrgenommene Projektion

1

2

3

Zur alten Traumlehre vgl. Traum und Träumen. Inhalt. Darstellung. Funktionen einer Lebenserfahrung in Mittelalter und Renaissance. Hrsg. von RUDOLF HIESTAND, Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 24). Vgl. KARL JASPERS: Allgemeine Psychopathologie, Berlin, Heidelberg 91973, S. 55–67; KURT SCHNEIDER: Klinische Psychopathologie, Stuttgart 91971, S. 97–100; MANFRED SPITZER: Halluzinationen. Ein Beitrag zur allgemeinen und klinischen Psychopathologie, Berlin, Heidelberg 1988 (Monographien aus dem Gesamtgebiete der Psychiatrie 51); MANFRED SPITZER: Halluzinationen. In: Handwörterbuch der Psychiatrie. Hrsg. von RAYMOND BATTEGAY u. a., 2., überarb. Aufl., Stuttgart 21992, S. 232–237. Zur kirchlichen Sicht vgl. PETER DINZELBACHER: Visionen. In: Enzyklopädie Medizingeschichte. Hrsg. von WERNER E. GERABEK / BERNHARD D. HAAGE / GUNDOLF KEIL / WOLFGANG WEGNER, Berlin, New York 2005, S. 1447 f.

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von Innerseelischem, insofern es geglaubte religiöse Inhalte umfasst und sich in religiösen Bildern manifestiert. Im religiösen Diskurs wurden in unserem Kulturkreis bis weit ins 19. Jahrhundert hinein halluzinatorische Erlebnisse als visionär wahrgenommene übernatürliche Ereignisse gesehen, auch wenn es sich um krankheitsbedingte Halluzinationen handelte. Bis in die Gegenwart hält sich ein religiöser Begriff der Vision für göttlich-heilige oder dämonische Inhalte, der eine eigenständige Realität wahrgenommener religiöser Offenbarungen postuliert. Auf der anderen Seite sind schon in der Medizin der griechischen Antike, im Corpus Hippocraticum des 3. Jahrhunderts v. Chr., Trugwahrnehmungen beschrieben und bei Galen im 2. Jahrhundert n. Chr. erstmals genauer erörtert worden. Stets sind im medizinischen Diskurs Sinnestäuschungen als leib-seelische, psychosomatische Phänomene aufgefasst worden. Die Phänomene der religiösen Visionen, seien es in der Antike das Auftreten der Götter, in der christlichen Ära die Erscheinungen Gottes und seiner Heiligen oder der Dämonen, wurden in das medizinische Modell der Sinnestäuschungen einbezogen. Damit war aber nicht ohne weiteres eine Pathologisierung der Visionen gegeben. Visionen sind in dieser historischen medizinischen Sicht wie die Halluzinationen Wahrnehmungsmöglichkeiten des Menschen unter besonderen Bedingungen, die krankhafter Natur sein können, aber auch bei nicht kranken Menschen in besonderen Situationen oder in spezifischen psychischen Verfassungen auftreten. In dem alten, universalen Krankheits- und TemperamententypologieKonzept der Melancholie, das sich vom Corpus Hippocraticum bis ins 19. Jahrhundert nur wenig verändert durchgehalten hat, sind Halluzinationen und Visionen in ihren krankhaften und nicht-krankhaften Aspekten als wesenhaft zur Melancholie gehörig umfasst. Unbeschadet ihrer Einbeziehung in das medizinische Erklärungsmodell war für die Phänomene der Visionen bis ins 19. Jahrhundert hinein in erster Linie die Theologie zuständig. Nur in konkreten Einzelfällen wurden in der Frühen Neuzeit Ärzte zur Einschätzung von Visionen herangezogen, wenn es um die Frage nach ihrem übernatürlichen oder natürlichen Ursprung ging. Im Aufklärungszeitalter werden im Zeichen der Vernunft Halluzinationen und Visionen gleichermaßen zunehmend pathologisiert und z. B. im grundlegenden Magazin zur Erfahrungsseelenkunde von KARL PHILIPP MORITZ4 gegen Ende des 18. Jahrhunderts als Symptome von so genannter ‚erhitzter Einbildungskraft‘ verstanden. Die erste differenziertere und zukunftsweisende Beschreibung der Trugwahrnehmungen durch JEAN ETIENNE DOMINIQUE ESQUIROL in seiner Abhandlung Des maladies mentales (1838)5 bedeutete für längere Zeit die Festschreibung der krankhaften Begründung auch des Bereichs der Visionen.6 4 5 6

KARL PHILIPP MORITZ: Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungs-Seelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, 10 Bde. (1783–1793), Neudruck Nördlingen 1986. JEAN ETIENNE DOMINIQUE ESQUIROL: Des maladies mentales, considerées sous les rapports médical, hygiènique et médico-legal, 3 Bde., Paris 1838. Vgl. SABINE KYORA: Art. ‚Halluzination‘. In: Literatur und Medizin. Ein Lexikon. Hrsg. von BETTINA VON JAGOW / FLORIAN STEGER, Göttingen 2005, Sp. 320–324.

Vision, Halluzination und Melancholie

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Im gegenwärtigen psychopathologischen Diskurs ist ebenfalls wenig Raum für eine gesonderte Betrachtung der Visionen als Phänomene kategorial anderer Art als die Halluzinationen. Eine Beschränkung der Grundlagen des Halluzinierens auf ausgesprochen pathologische Verfassungen findet sich jedoch nicht mehr. Nach gegenwärtigem Verständnis kommen Sinnestäuschungen hauptsächlich bei psychischen Störungen und Krankheiten, aber auch bei Gesunden in besonderen Situationen, Belastungen und seelischen Lagen vor. So können Sinnestäuschungen auftreten u. a. bei organischen Störungen des Gehirns, etwa bei Drogen- oder Alkoholintoxikationen, bei Erkrankungen des Gehirns wie Epilepsien oder Hirntumoren, bei schizophrenen und affektiven Störungen, also Depressionen und Manien, sowie bei dissoziativen Störungen, den früheren hysterischen Neurosen, und Borderline-Persönlichkeitsstörungen, nicht zuletzt auch als Nebenwirkungen von Medikamenten. Zu Sinnestäuschungen kann es aber auch in Situationen von Isolation, sensorischer Deprivation, Hunger, Durst und schwerer Erschöpfung kommen, ebenso auch in Ekstase und Trance, in mystisch-religiösen und meditativen Versenkungszuständen. Sinnestäuschungen und halluzinatorische Zustände sind zweifellos eine leibseelische Grundmöglichkeit des Menschen, es sind Urerfahrungen, die zur anthropologischen Matrix gehören.7 Nach Art und Häufigkeit stehen diese Zustände im Zusammenhang mit unterschiedlichen kulturellen und historischen Bedingungen. Auch die Einschätzung als normal, abnorm oder krankhaft ist kultur- und zeitabhängig. Das Auftreten von Sinnestäuschungen im weitesten Sinne hängt vom Bewusstseinszustand, von Bewusstseinserweiterung oder -einengung, der affektiven Verfassung und dem Wachheitsgrad ab. Die Grenzen von Sinnestäuschungen zu den mehr im inneren Vorstellungsraum lokalisierten Wahrnehmungen, vor allem den eidetischen, imaginativen und tagtraumartigen optischen Produktionen, sind nicht immer sicher zu ziehen. Zustände gesteigerter Wahrnehmungs- und Vorstellungsfähigkeit bzw. -tätigkeit und der gesamte Bereich von Imagination und Fantasie mit ihren Verbindungen zur künstlerisch-dichterischen Inspiration und Kreativität wären ebenfalls in die Betrachtung einzubeziehen. Von der Inspiration zur Halluzination führt durchaus ein Weg in Abhängigkeit von seelischen, zerebralen und situativen Bedingungen, und die alte Rede von der Nähe zwischen Genie und Wahnsinn besteht nicht ohne Grund. Sie ist historisch gesehen auch ein zentrales Lehrstück der klassischen Melancholielehre.

7

Zum anthropologisch-psychiatrischen Verständnis der Halluzinationen vgl. WOLFGANG BLANKENBURG: Phänomenologisch-psychiatrische Aspekte von Wahn und Halluzination. In: Halluzination und Wahn. Hrsg. von HANS MICHAEL OLBRICH, Heidelberg u. a. 1987, S. 77–101; ERWIN STRAUS: Die Ästhesiologie und ihre Bedeutung für das Verständnis der Halluzinationen. In: Die Wahnwelten (Endogene Psychosen). Hrsg. von ERWIN STRAUS / JÜRG ZUTT, Frankfurt a. M. 1963, S. 115–147.

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Ein physiopsychologisches Modell des Neurophysiologen ROLAND FISCHER kann diese Zusammenhänge recht gut verdeutlichen.8 Er nimmt ein ‚WahrnehmungsHalluzinations-Meditations-Kontinuum‘ an, das vom Bewusstseinszustand, d. h. vom zentralnervösen Erregungsniveau abhängt, der so genannten ‚general arousal reaction‘ oder allgemeinen Weckreaktion. Dieser Zustand wird durch Sinnesreize, biochemische Vorgänge (z. B. bei bestimmten Krankheiten) oder durch Drogen ausgelöst und verändert. Stufenweise Steigerung oder Dämpfung des zentralnervösen Erregungsniveaus ist mit jeweils verschiedenen Zuständen veränderten Bewusstseins gekoppelt. Ein normaler Grad zentralnervöser Erregung mit geringen Schwankungen ist die biologische Grundlage des normalen Bewusstseins. Zunehmende zentrale Erregung, die ergotrope Phase, führt über die Stufen Sensitivität, Kreativität, Angst, akute schizophrene und katatone Zustände bis zu mystisch-ekstatischen Erlebnissen. Diesem Erregungskontinuum entspricht auf der sensorischen Seite eine Zunahme abnormer Wahrnehmungserlebnisse, Sinnestäuschungen und Halluzinationen. Andererseits entsprechen einer zunehmenden zentralnervösen Dämpfung, der trophotropen Phase, außergewöhnliche Versenkungs-, Meditations- und Trancezustände. Ergotroper (hyperarousal) und trophotroper (hypoarousal) Zustand können umkippen und in den jeweils anderen Erregungszustand übergehen. So können Halluzinationen auch in Versenkungs- und Trancezuständen auftreten. Das moderne psychiatrisch-psychopathologische Modell einer anthropologischen, leib-seelischen einheitlichen Begründung von Halluzinationen und Visionen und ihrer Ansiedlung auf einem Gesundheits-Krankheitskontinuum setzt in dieser Hinsicht im Grunde das alte Melancholie-Konzept fort, das Sinnestäuschungen einschließlich der Visionen ebenfalls in einem Kontinuum von nicht-krankhaften zu krankhaften Phänomenen in die Symptomatologie der Melancholie integrierte. Die Melancholie (melancholia) war ein umfassendes, bereits im Corpus Hippocraticum beschriebenes Krankheitsmodell, das im Rahmen der antiken Vier-Säfte-Lehre ein Überwiegen der „schwarzen Galle“ (melanchole) über die drei anderen Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe Galle) zur Grundlage des melancholischen Temperaments machte, das bei stärkerem Überwiegen der schwarzen Galle in die Krankheit Melancholie übergehen konnte.9 8

9

ROLAND FISCHER: A Cartography of the Ecstatic and Meditative States. The experimental and experiental features of perception-hallucination continuum are considered. In: Science 174 (1971), S. 897–904. Vgl. LEO NAVRATIL: Schizophrene Dichter, Frankfurt a. M. 1994, S. 55–59. Zur Entwicklung der Melancholielehre vgl. HELLMUT FLASHAR: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966; RAYMOND KLIBANSKY / ERWIN PANOFSKY / FRITZ SAXL: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übersetzt von CHRISTA BUSCHENDORF, Frankfurt a. M. 2 1990; MICHAEL SCHMIDT-DEGENHARD: Melancholie und Depression. Zur Problemgeschichte der depressiven Erkrankungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1983; HUBERTUS TELLENBACH: Problemgeschichte Melancholie, Endogenität, Typologie, Pathogenese, Klinik, Berlin u. a. 3 1976; WOLFRAM SCHMITT: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie. In: Melancholie in Literatur und Kunst. Hrsg. von DIETRICH VON ENGELHARDT / HORST-JÜRGEN GERIGK / GUIDO

Vision, Halluzination und Melancholie

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Diese ist nach Hippokrates gekennzeichnet durch Mutlosigkeit, Benommenheit, Schlaf- und Appetitlosigkeit, Furcht und Traurigkeit, auch Anfälle von Zorn und Unbehagen. Die „schwarze Galle“ macht tiefsinnig und schwermütig. „Anhaltende Angstzustände und Depressionen sind Zeichen der Melancholie“, schreibt Hippokrates.10 Im 4. Jahrhundert v. Chr. erweiterte sich der Melancholie-Begriff und nahm auch die Bedeutung von ‚Wahnsinn‘ an. Ebenso wurde der platonische Mania-Begriff um diese Zeit integriert, damit wurden die Dimensionen des höchsten geistigen Aufschwungs und der ekstatischen Verfassung in die Bandbreite der Melancholie aufgenommen. In den pseudo-aristotelischen Problemata des 4. Jahrhunderts v. Chr. wird die erweiterte Melancholie-Vorstellung für Jahrhunderte festgeschrieben.11 Danach führt eine vorübergehende und qualitative Veränderung des schwarzen Saftes zur Entstehung der ‚melancholischen Krankheit‘, und zwar zur Melancholie im Sinne der depressiven Verfassung, wenn die schwarze Galle kalt ist. Erhitzt sich der schwarze Saft jedoch, so resultieren Tollkühnheit und Raserei, also eine manische Stimmungsauslenkung. In der Krankheit Melancholie ist also früh auch die manische Dimension einbeschlossen. Parallel gab es in der Antike dann auch die Manie (mania) als eigene Krankheit, und erst im 1. Jahrhundert n. Chr. wurde die Bipolarität von Melancholie und Manie herausgearbeitet, vor allem durch Aretäus von Kappadokien. Wenn ein konstitutionelles und quantitatives Überwiegen des melancholischen Saftes über die anderen Säfte vorliegt, wird der Mensch zu einem Melancholiker von Natur aus, er hat das melancholische Temperament als Normabweichung. Übergänge zur Melancholie als Krankheit sind hier durchaus fließend. Der Melancholiker als Temperamentstypus kann in unserem heutigen Sinne depressiv strukturierte, aber auch hyperthyme Persönlichkeiten hervorbringen. Die Melancholie ist also auch auf der Ebene des Persönlichkeitstypus auf das bipolare Spektrum verteilt. Zum melancholischen Typus gehören bevorzugt begabte, oft geniale Menschen, Philosophen, Künstler und Dichter. Zu der vielfältigen, teils krankhaften, teils persönlichkeitstypologisch fundierten Symptomatologie der Melancholie zählte die alte Medizin nun auch – neben dem Wahn – die Halluzinationen. Schon bei Hippokrates sind Sinnestäuschungen Symptome der Melancholie: Der Melancholiker „ängstigt sich, sieht Schreckbilder, hat furchterregende Träume, und sieht zuweilen bereits Gestorbene“.12 Auch in der Spätantike werden Visionen und Halluzinationen als Melancholie-Symptome häufig genannt.13 Die Einbeziehung der Halluzinationen in die Melancholie findet sich später ausgeprägter im Mittelalter, wo der Traktat De melancholia des Constantinus Africanus (11. Jahr-

10 11 12 13

PRESSLER / WOLFRAM SCHMITT, Hürtgenwald 1990 (Schriften zur Psychopathologie, Kunst und Literatur 1), S. 14–28. Hippokrates: Aphorismata VI, 23; vgl. KLIBANSKY u. a. (Anm. 9), S. 54. Vgl. KLIBANSKY u. a. (Anm. 9), S. 55–92. Vgl. RENATE WITTERN: Die psychische Erkrankung in der Antike. In: Fundamenta Psychiatrica 1 (1987), S. 93–100, hier S. 97. KLIBANSKY u. a. (Anm. 9), S. 100.

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hundert) die antike und arabische Melancholie-Lehre für weitere Jahrhunderte exemplarisch fortschrieb. In der Sicht der alten Viersäfte-Komplexion steigt auch hier die melancholia vorzugsweise zum Gehirn, verwirrt den Verstand und verhindert, das Gewohnte zu verstehen: Wie die Sonne ihr Licht verliert, wenn Nebel oder Dunst sich vorschieben, so wird der Geist des Kranken, wenn der Dunst der schwarzen Galle zu ihm emporsteigt, überschüttet und verwirrt.14

Constantinus kommt dann zu einer detaillierten Beschreibung der Symptome der Melancholie: Die allgemeinen Symptome aller Art sind dauernde, wie Niedergeschlagenheit, Angst vor an sich nicht zu fürchtenden Dingen, Grübeln über unwichtige Dinge, Wahrnehmungen von nicht vorhandenen schrecklichen Erscheinungen, Sensation unwirklicher Art … Andere hören Pferdegetrappel, das Sausen eines Sturmes, das Dröhnen erschrecklicher Stimmen, das Tag und Nacht nicht aufhört. Andere glauben überall üble Gerüche zu spüren; andere verlieren ihren Geschmack und vermögen keine Speisen zu kosten. Wieder andere glauben, sie seien aus Ton; andere haben gestörte Vorstellungen und wirre Denkakte. Wieder andere glauben, dem Himmel entfliehen zu müssen, damit er nicht auf sie stürze, oder sie fürchten, Gott werde ermüden, das Himmelsgewölbe zu halten, so daß die Menschen zerschmettert würden.15

Auch die Verbindung von Halluzinationen mit Wahnideen in der Melancholie wird hier gesehen. Im späteren Mittelalter wurden für die Symptome der Melancholie über die Wirkungen der schwarzen Galle hinaus die drei Seelenvermögen in den drei Hirnventrikeln zuständig gemacht (imaginatio, ratio und memoria) und die Sinnestäuschungen als Funktionsstörung der imaginatio, der Einbildungskraft, verstanden. So sei bei denjenigen Melancholikern, die keinen Kopf zu haben glauben oder schwarze Männer halluzinieren, die imaginatio verändert.16 Ebenso seien es krankhafte Störungen der imaginatio in der Melancholie, wenn jemand mit Engeln zu sprechen glaubt oder wenn eine Frau behauptete, der Teufel liege jede Nacht bei ihr.17 Die medizinische Melancholia-Lehre stand im Mittelalter im übrigen stets in enger Beziehung zur Acedia-Lehre der Kirche, die jene ‚Mönchskrankheit‘ bezeichnet, die als Apathie, geistige Trägheit und Lähmung, Müßiggang, Selbsthass und Verzweiflung am Seelenheil zu den sieben Todsünden zählte und der Einwirkung des Teufels entspringen sollte, der ja als der Prototyp des Melancholikers galt. Wie die melancholia kann auch die acedia jeden geistig Tätigen ergreifen. Sie ist die Variante einer christ14 Constantinus Africanus: De accidentibus melancolie et eius diffinitione. In: Constantinus Africanus: Opera, Bd. I, Basel 1536, S. 280 ff.; HEINRICH SCHIPPERGES: Melancholia. In: Enzyklopädie Medizingeschichte (Anm. 3), S. 964–967, hier S. 965; HEINRICH SCHIPPERGES: Melancolia als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen. In: Studium Generale 20 (1967), S. 723– 736. 15 Constantinus Africanus (Anm. 14), S. 280ff.; SCHIPPERGES: Melancholia (Anm. 14), S. 966. 16 Vgl. KLIBANSKY u. a. (Anm. 9), S. 159. 17 Vgl. KLIBANSKY u. a. (Anm. 9), S. 161.

Vision, Halluzination und Melancholie

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lichen Melancholie. Auch Wahnvorstellungen und eine ungezügelte Fantasie, die auch halluzinatorische Formen annehmen kann, gehören wie zur melancholia auch zum Bild der acedia. Nach der Acedia-Lehre konnten die melancholischen Halluzinationen und Visionen denn auch als unmittelbare Einflüsterungen des Teufels erscheinen. In der Melancholie-Lehre der Renaissance wird die nicht-krankhafte, positive Seite der Melancholie weiter ausgebaut, vor allem in der Akzentuierung der Melancholie als Bedingung des schöpferischen Tuns, als positive geistige Kraft, als Voraussetzung der Genialität. Die tiefsinnige Kontemplation wie auch die poetisch-seherische Ekstase gehören dazu; der Depression steht auch der Enthusiasmus als mögliche Seelenlage innerhalb der Melancholie gegenüber. Die Polarität gehört zum Wesen der Melancholie. In dieser erweiterten bipolaren Sicht der Melancholie sind Halluzinationen nicht nur krankhafte Ausgestaltungen der schwarzen Galle, vermittels der imaginatio, der Einbildungskraft, sondern ebenso auch polar entgegengesetzte, eher dem manischen Pol entsprechende Visionen aus einer ekstatischen, enthusiastischen, für die Offenbarungen des Göttlichen bereiten seelischen Verfassung. Dieser Pol der ‚visionären‘ Sinnestäuschungen liegt eher auf der nicht-krankhaften Seite der Melancholie. Das FISCHERsche Wahrnehmungs-Halluzinations-Meditations-Kontinuum erinnert durchaus an die Halluzinationsgenese zwischen einem krankhaften und nicht-krankhaften Pol, ebenso die Zuordnung von Trance-, Meditations-, Verzückungs- und Entrückungszuständen, von ekstatisch-enthusiastischen Verfassungen mit Halluzinationen zu diesem nicht-krankhaften Pol.18 Die eher bipolare Struktur der Renaissance-Melancholie wird auch humoralpathologisch über die bereits antike Bipolarität von kalter und heißer schwarzer Galle hinaus begründet: Die ‚schwarze Melancholie‘ als depressiver Pol wird nun – im Anschluss an die Melancholielehre Avicennas (10./11. Jahrhundert) – zum Erscheinungsbild der verbrannten schwarzen Galle (melancholia adusta), die ‚rote Melancholie‘ als maniformer Pol zur Phänomenologie der verbrannten roten (oder gelben) Galle.19 Die schwarze wie die rote Galle können zu spezifischen Formen von Halluzinationen und Visionen und auch zu verschiedenen Arten von ‚Wahnsinn‘ führen. So sagte der Humanist Philipp Melanchthon (1497–1560) über die Melancholie aus der roten Galle: Wenn aber die Melancholie aus der roten Galle stammt oder mit viel roter Galle versetzt ist, so entstehen schreckliche Rasereien und Manien; solcher Art war der Wahnsinn des Herakles und des Ajax.20

Ein weiterer medizinisch-philosophischer Traditionsstrang der Melancholie-Lehre, der sich von den pseudo-aristotelischen Problemata herleitet, erreicht in Renaissance und Humanismus einen eigenen Höhepunkt: der enge Zusammenhang von Melancholie und körperlicher Liebe. Die Liebeskrankheit, der amor hereos oder die melancholia heroi18 FISCHER (Anm. 8), S. 898. 19 Vgl. dazu den Beitrag von YVES HERSANT: Rote Melancholie. In: Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Hrsg. von JEAN CLAIR, Ostfildern-Ruit 2005, S. 110–117. 20 KLIBANSKY u. a. (Anm. 9), S. 155.

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ca, wie Melanchthon sie nannte, ist eine Manifestation der Melancholie in ihrer Verbindung von Lust und Trauer.21 Galt doch der Melancholiker von jeher als disponiert zu gesteigerter Sexualität und Lüsternheit. In der Liebeskrankheit treten die ‚schwarze‘ wie die ‚rote Melancholie‘ in Erscheinung. Aus der Verbindung von Melancholie, einschließlich der acedia, mit Sexualität resultierte ein eigener Bereich halluzinatorischer Symptomatik. Die theologische Sicht auf die Melancholie und die Liebeskrankheit führte dazu, dass auch in der besonderen Sphäre der Liebesmelancholie mit dem Wirken des Satans gerechnet wurde, was sich auch in der Erscheinungsweise und Bewertung der Halluzinationen innerhalb dieses Themenkreises niederschlug. So sahen nach dem berühmten Arzt des 16. Jahrhunderts, Ambroise Paré, die melancholisch Kranken überall „Teufel, Schlangen, Spukschlösser, Gräber und Leichen und Ähnliches mehr.“22 Das Phänomen der Hexe steht ebenfalls im Kontext der Melancholie in ihrem Zusammenhang mit Sexualität und Teufelseinmischung. Die Verbindung von Melancholie und Hexenwesen wurde im 16. und 17. Jahrhundert von medizinischer Seite anerkannt; der Arzt Jakob Weyer (1515–1588) erkannte in den als Hexen verfolgten Frauen psychisch Kranke mit einem melancholischen Teufelswahn.23 Ihre Flugund Teufelshalluzinationen wurden der melancholischen Symptomatologie zugeordnet, gleichwohl brannten die Scheiterhaufen weiter. Für das Barockzeitalter fasst die umfangreiche Schrift über die Melancholie von Robert Burton The Anatomy of Melancholy („Anatomie der Melancholie“), erstmals erschienen 1621, das gesamte Wissen und auch die Bedeutung von Imagination und Halluzinationen für die Melancholie zusammen.24 Er führt Ekstase- und Trancezustände in der Melancholie und die darin auftretenden Halluzinationen auf die intensive Wirkung der Imagination, der Einbildungskraft beim Melancholiker zurück. Oftmals erzählen diese Menschen, wenn sie wieder zu Bewußtsein kommen, seltsame Geschichten über Himmel und Hölle und andere Gesichte […]. Die ständigen Erscheinungen bei Beda und Gregor und die Offenbarung der heiligen Birgitta führt Caesar Vaninus […] ebenso wie alle Geschichten vom Hexensabbat, Besenreiten, Verzaubern und Verwünschen auf die Kraft überschäumender Imagination und auf teuflisches Blendwerk zurück. Ganz ähnliche Phänomene lassen sich aber auch im wachen Zustand beobachten, denn wie viele Chimären, Narreteien und goldene Berge begegnen uns hier, welche Luftschlösser werden errichtet.25

21 HERSANT (Anm. 19), S. 113 f. 22 HERSANT (Anm. 19), S. 114. 23 WERNER LEIBBRAND / ANNEMARIE WETTLEY: Der Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie, Freiburg, München 1961, S. 203–206. 24 Robert Burton: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten. Aus dem Englischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von ULRICH HORSTMANN, Zürich, München 1988. 25 Burton (Anm. 24), S. 199 f.

Vision, Halluzination und Melancholie

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Auf einer „verdorbenen, überreizten und hitzigen Imagination“ beruhen die phantastischen Visionen und Erscheinungen bei Melancholikern und Kranken, die sich in ihrem Wahn für Könige, Adlige, Hähne, Bären, Affen, Eulen halten und sich schwer oder leicht, durchsichtig, groß oder klein, empfindungslos oder tot fühlen.26

An anderer Stelle sagt er, viele Melancholiker können sich aus Angst vor Kobolden und Dämonen nicht allein im Dunklen aufhalten, vermuten überall Teufelsspuk und Hexerei, bilden sich tausend Chimären und Hirngespinste ein, an deren Realität sie nicht zweifeln, und reden mit schwarzen Männern, Geistern, Kobolden.27

Die halluzinatorischen und visionären Erlebnisse in den verschiedenen Spektren der Melancholie bzw. der acedia kamen in Mittelalter und Neuzeit in der Kunst und auch in der Dichtung häufig zur Darstellung. Zahlreich sind die künstlerischen Darstellungen von Hexen in der typisch melancholischen Körperhaltung mit ihren Teufelshalluzinationen. Ein anderer großer Darstellungsbereich sind die Heiligen, Mönche und Einsiedler mit ihren Visionen, bei denen oft der melancholische Hintergrund von den Künstlern evoziert wird. Besonders eindrucksvoll lassen sich die fantastischen Ausgestaltungen der melancholischen Halluzinationen oder Visionen an den Darstellungen der Versuchung des heiligen Antonius betrachten, auf die wir abschließend einen Blick werfen wollen. Der Heilige Antonius, der als Begründer des Mönchstums gilt, lebte um 300 n. Chr. als Eremit in der ägyptischen Wüste.28 Nach der Legende ließ der Teufel ihn durch seine Dämonen quälen, weil er sich über seine Frömmigkeit ärgerte. Als diese Angriffe erfolglos blieben, erschien ihm der Teufel persönlich in Gestalt einer nackten jungen Frau, um ihn zu verführen, er konnte der Versuchung jedoch standhalten. Damit wurde er zum Vorbild im Widerstand gegen die Wollust. Ein Hieronymus Bosch zugeschriebenes Bild (nach 1490) stellt diese Episode der Versuchung des heiligen Antonius dar (Abb. 1).29 Der Maler konzentriert sich hier ganz auf die Darstellung der melancholischen Seelenverfassung des Heiligen. Die gebeugte Haltung und das gesenkte Haupt zeigen die traditionelle Typik des Melancholikers, ebenso das Sitzen auf dem Felsen, denn der Melancholiker ist dem Element Erde verbunden. Die halluzinierten Dämonengestalten sind ebenso der Erde verhaftet oder entstiegen und erweisen sich als unterirdische Wesen. Antonius ist trotz all des gespenstischen Treibens um ihn herum völlig einsam und isoliert, teilnahmslos in seine Gedanken versunken. Auch die Spukgestalten sind alle 26 Burton (Anm. 24), S. 201. 27 Burton (Anm. 24), S. 311 f. 28 HEINRICH TREBBIN: Sankt Antonius – Geschichte, Kult und Kunst, Frankfurt a. M. 1994; DANIEL HELL: Die Sprache der Seele verstehen. Die Wüstenväter als Therapeuten, Freiburg 2002. Vgl. neuerdings: Schrecken und Lust. Die Versuchung des heiligen Antonius von Hieronymus Bosch bis Max Ernst. Hrsg. von MICHAEL PHILIPP, München 2008. 29 CATHARINA HASENCLEVER: Acedia. In: Melancholie (Anm. 19), S. 64.

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Abbildung 1: Hieronymus Bosch: Die Versuchung des Heiligen Antonius (nach 1490). The Temptation of St. Anthony, after 1490. Oil on oak, transferred to composition board, 26 × 19.4 cm. National Gallery of Canada, Ottawa; Gift of Mrs. Victor Lynch-Staunton, 1983, in memory of her husband. Photo © NGC. La tentation de saint Antoine, après 1490. Huile sur chêne, reportée sur panneau de fibres, 26 × 19.4 cm. Musée des beaux-arts du Canada, Ottawa. Don de Mme Victor Lynch-Staunton, 1983, à la mémoire de son mari. Photo © MBAC.

für sich, es besteht kein Kontakt zur Zentralfigur, ebenso lockt die nackte Schöne im Wasser vergeblich. Eine Burg im Hintergrund belagern die Dämonen ebenfalls offenbar ohne Erfolg. Hier ist die Atmosphäre der Melancholie ins Bild gebannt, die durch die dunkle, erdbraune Farbigkeit, die allgemeine Düsterheit noch verstärkt wird. Die halluzinatorische melancholische Szenerie ist wie erstarrt, hier verharrt der Geist der ‚schwarzen Melancholie‘ oder der Acedia. Martin Schongauers Der Heilige Antonius, von Dämonen gepeinigt (um 1470– 1473) zeigt, wie Antonius von den Dämonen in die Lüfte empor getragen wird (Abb. 2).30

30 NICOLAS AYMONE: Acedia. In: Melancholie (Anm. 19), S. 66 f.

Vision, Halluzination und Melancholie

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Abbildung 2: Martin Schongauer: Der Heilige Antonius, von Dämonen gepeinigt (um 1470/73), © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin, Inv. Nr. AM 60-1976.

Sein Gesicht wirkt gleichgültig gegenüber den ihn berührenden, ihn bedrängenden und packenden Untieren. Der Gesichtsausdruck ist abwesend, der Heilige scheint in Gedanken ganz woanders zu sein. Der leere Gesichtsausdruck ist typisch für das Gesicht der Melancholie und der acedia, in der der Mensch sich in sich selber zurückzieht. Der Körper wirkt schlaff, kraftlos, entsprechend der melancholischen Adynamie. Der linke Fuß ist nach außen verdreht; die Verdrehung oder Verkrampfung von Gliedmaßen gehörte zum Inventar der Körpererscheinung des Melancholikers. Im Zusammenhang mit solchen melancholischen Ausdruckszeichen geben sich die bizarren Wesen als Halluzinationen oder Visionen des Melancholikers zu erkennen. Lucas Cranach d. Ä. gestaltete seine Versuchung des Heiligen Antonius (1506) ebenfalls als Auffahrt in die Lüfte im Schwarm der Dämonen, worin Gesicht und Körper des Heiligen fast verschwinden (Abb. 3).31 31 AYMONE (Anm. 30), S. 66 f.

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Abbildung 3: Lucas Cranach d. Ä.: Versuchung des Heiligen Antonius (1506), © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin, Inv. Nr. B-120.

Bäume, Felsen, die Erde kennzeichnen den melancholischen Ort als Ausformungen des melancholischen Elements Erde. Wieder weisen der teilnahmslose Gesichtsausdruck und der kraftlose Körper die melancholische Ausdruckshaltung, die melancholische Erstarrung aus. Die Dämonen manifestieren sich so als Ausgeburten der imaginatio aus dem Geist der schwarzen Galle und damit als zum melancholischen Bereich gehörige Halluzinationen. Der von einem anonymen oberrheinischen Meister um 1520 ins Bild gesetzte Heilige Antonius, von Dämonen gepeinigt zeigt den Heiligen vor einem schwarzen Himmel schwebend über einer wüstenartigen Erde in Höhe eines Baumes, also wieder in einem melancholischen Raum (Abb. 4).32

32 AYMONE (Anm. 30), S. 68 f.

Vision, Halluzination und Melancholie

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Abbildung 4: Anonymer oberrheinischer Maler: Heiliger Antonius, von Dämonen gepeinigt, Wallraf-Richartz-Museum, Köln, Inv. Nr. 367, © Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_125250.

Die grotesken Wesen sind rot und gelb, der Mantel des Heiligen ist ebenfalls von roter Farbe, während sein Hemd im Sinne der ‚schwarzen Melancholie‘ schwarz ist. Die rote (und gelbe) Farbe lässt an die ‚rote Melancholie‘ denken, jenen maniform-ekstatischen Pol der Melancholie, aus dem sich auch Halluzinationen herausgestalten können. Dazu passt der Gesichtsausdruck des Heiligen, der eher ekstatisch-entrückt als melancholisch erstarrt oder in sich versunken erscheint. Der verdrehte und verkrampfte Fuß des Antonius gehört zu den Zeichen des Melancholikers wie im Bild Schongauers. Die Versuchung des Heiligen Antonius von Jacques Callot aus dem Jahre 1635 entfaltet ein geschichtlich-kriegerisches barockes Szenario, eine Phantasmagorie von komplexen szenischen Halluzinationen (Abb. 5).33

33 Vgl. HARTMUT KRAFT: Das Antonius-Prinzip, Grunderfahrung aller Menschen. In: Deutsches Ärzteblatt (März 2006), S. 137; Lo spirito del Lago – Die Versuchung des Hl. Antonius 2003. Hrsg. von HARTMUT KRAFT, Köln 2004; Gustave Flaubert: Die Versuchung des Heiligen Antonius. Aus dem Französischen von BARBARA und ROBERT PICHT. Mit einer Bilddokumentation und einem Nachwort von MICHEL FOUCAULT, Frankfurt a. M. 1996, S. 192 f.

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Abbildung 5: Jacques Callot: La Tentation de saint Antoine, Nancy, Gravure à l’eau-forte rehaussée au burin, 5e état, 1635, Inv. 2006.0.1245, © Musée Lorrain, Nancy / photo: Patrice Buren.

Ganze Heerscharen von gespenstischen Gestalten, ein barockes Welttheater, sind als Versuchung gegen den Heiligen angetreten. Rechts unten im Bild zerren die Dämonen in der Einsiedlergrotte an dem sich nur mühsam aufrecht haltenden Heiligen. Die Szenerie mit Felsen und ruinösen Bauwerken ist ausgesprochen melancholisch. Callots Kupferstich wurde zur entscheidenden Anregung für Gustave Flauberts Die Versuchung des heiligen Antonius,34 ein fantastisches literarisches Werk, erschienen 1874, in dem Gestalten des antiken Mythos und des frühen Christentums als verwirrende und verführerische Halluzinationen auftreten. Callots Kupferstich hatte Flaubert erworben und sich an die Wand gehängt. Der melancholische Eindruck entsprach den Vorstellungen des Melancholikers Flaubert: Ich mag dieses Werk sehr gern. Seit langem wünschte ich es mir. Das traurig Groteske hat einen unerhörten Reiz für mich; es entspricht den innersten Bedürfnissen meiner possenhaft bitteren Natur. Es reizt mich nicht zum Lachen, es verlockt mich zu langem Träumen.35

34 Flaubert (Anm. 33). 35 Flaubert (Anm. 33), Anhang zur Ausgabe, S. 255.

Vision, Halluzination und Melancholie

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Abbildung 6: Otto Dix: Die Versuchung des Heiligen Antonius (1944), © Otto-Dix-Archiv, Inv. Nr.: L 1944/2.

In der Versuchung des Heiligen Antonius von Otto Dix (1944) wird im Widerspruch der Farben dunkelblau und rotgelb wiederum die bipolare Spannung zwischen der ‚schwarzen‘ und ‚roten Melancholie‘ sichtbar (Abb. 6).36 Die Düsternis des Ortes der Visionen und der felsige Untergrund bezeichnen den locus melancholicus. Den halluzinatorischen Erscheinungen in ihrer massiven sexuellen Attraktion scheint der Heilige fast zu erliegen. Sowohl sein nach hinten gebeugter Kopf mit den nach oben verdrehten Augen als auch die verkrampfte rechte Hand zeigen die ekstatisch-melancholische Haltung. Im Bild Die Versuchung des Heiligen Antonius von Max Ernst (1945) liegt der Heilige in einer düsteren Seen-Felsenlandschaft vom melancholischen Typus, nach rückwärts verdreht, verkrampft sind Hände und Gesicht, die Augen nach oben gerollt, über einem Abgrund in der Haltung des ekstatischen Melancholikers.37 Der rote Mantel des Heiligen betont die Sphäre der ‚roten Melancholie‘. Die halluzinierten fratzenhaften Wesen greifen ihn überall an, sie scheinen ihn auszulachen. Das Bild stellt offenbar Halluzinationen im taktilen, optischen und akustischen Bereich dar. Abschließend kann man statt einer Zusammenfassung feststellen, dass die historische Melancholie-Lehre unter anderem eine Theorie der Sinnestäuschungen in der Weise einer anthropologischen Fundierung begründete, die wir heute, trotz weitaus besseren 36 HÉLÈNE TRESPEUCH: Acedia. In: Melancholie (Anm. 19), S. 68 u. 70. 37 NORBERT WOLF: The World of the Saints, München u. a. 2005, S. 18 f., die Abbildung auf S. 19.

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Wissens im Detail, als Ganzes so nicht mehr haben. Die aus der schwarzen und roten Melancholie hervorgehende Symptomatologie der Halluzinationen und Visionen wurde in der Kunst und in der Dichtung umfassend rezipiert. Die breite Rezeption in der Dichtung kann ich hier nur andeuten. Es sei darauf hingewiesen, dass zwei der größten dichterischen Gestalten der Weltliteratur, Cervantes’ Don Quijote und Goethes Faust, als Melancholiker gezeichnet sind, für deren Entwicklung Halluzinationen jeweils konstitutiv sind. Don Quijote kämpft, im melancholischen Wahn befangen,38 gegen eine halluzinatorisch veränderte Welt, die Windmühlen werden zu angreifenden Rittern. Faust, in seinem Wesen ein Melancholiker von hohen Graden, der durch alle Tiefen der Depression geht,39 erfährt den vom Teufel entfachten Sinnentrug nicht nur im halluzinatorischen Theater der Hexen-Walpurgisnacht und der klassischen Walpurgisnacht. Die wesenhafte Verbindung zwischen Melancholie, Halluzination und Vision war ein wirkungsmächtiges Lehrstück der alten Heilkunde, das bis in die Gegenwart nicht nur in Kunst und Dichtung zu greifen ist, sondern auch im modernen psychiatrischen Diskurs in der Frage der Stimmungsgebundenheit von Halluzinationen im Bereich von Depression und Manie immer noch aktuell ist.

38 Vgl. WOLFRAM SCHMITT: Die Darstellung der Geisteskrankheit in der Barockliteratur. In: Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Hrsg. von UDO BENZENHÖFER / WILHELM KÜHLMANN, Tübingen 1992 (Frühe Neuzeit 10), S. 270–282, hier S. 280 f. 39 Vgl. WOLFRAM SCHMITT: Melancholie und Suizid als literarisches Thema in der Goethezeit – Fiktion und Realität. In: Licht der Natur. Medizin in Fachliteratur und Dichtung. Festschrift für Gundolf Keil zum 60. Geburtstag. Hrsg. von JOSEF DOMES u. a., Göppingen 1994 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 585), S. 399–420, hier S. 405 f.

MATTHIAS VOLLET

Ist das Leben Traum? Vier Personen auf der Suche nach der Wirklichkeit: Don Quijote, Sancho Pansa, René Descartes und Segismundo Príncipe de Polonia 1.

Einleitung: Die Prekarität der Wirklichkeit angesichts der Kraft des Traumes

Das Erlebnis des Traumes, der Traum als uns begegnendes Phänomen, das uns verstört, weil es als andere Welt, als Komplement oder Konkurrent zur Welt unseres Wachens auftritt, ist seit jeher Objekt von Versuchen der Erklärung und Deutung, wie ja auch dieser Band insgesamt vorführt. Der Traum ist hierbei zumeist als Teilphänomen der Gesamtwirklichkeit begriffen. Er lässt sich auf dem Hintergrund der Wirklichkeit, in die er eingebettet ist, als etwas Eigenes deuten, und seinerseits stellt er Deutungsressourcen für die Wirklichkeit ‚außerhalb‘ bereit. Jedoch kann der Traum des Schlafenden, der nach dem Erwachen deutbar ist, nicht allein als wirklichkeitseingebettetes Problem, als Objekt einer spezifischen Darstellung und Hermeneutik, sondern darüber hinaus als Indikator oder, schärfer noch, als Katalysator eines größeren Problems herangezogen werden, sich als Spur einer größeren Unsicherheit entpuppen, nämlich der Unsicherheit unserer Existenz und der sie umrahmenden Wirklichkeit insgesamt. Die schiere Existenz von Träumen, in all ihrer Überzeugungskraft und irritierenden Potenz, kann an der Realität unserer Wachwelt zweifeln machen – umso mehr, als jeder schon die Erfahrung gemacht haben wird, dass er im Aufwachen aus einem Traum nicht zu unterscheiden wusste, welcher Wirklichkeit er oder sie zugehört. Die solcherart sich aufdrängende Prekarität unserer Wirklichkeit ist seit jeher Anlass philosophischer Reflexion – sowohl in der Philosophie selbst als auch in der Literatur: Das Problem, ob wir träumen oder wachen, ob unser erlebtes Leben Traum ist oder wache Wirklichkeit, blickt auf eine lange Tradition in der Geschichte der Philosophie und der Literatur zurück. Seit Platon (z. B. Theaitetos) wird das Problem philosophisch behandelt,1 seit den Geschichten von 1001 Nacht literarisch ausgestaltet.2 Im

1

Platon: Theaitetos 158a–c; zur philosophischen Geschichte des Problems: PETRA GEHRING: Traum und Wirklichkeit. Zur Geschichte einer Unterscheidung, Frankfurt a. M., New York 2008; zu Platon ebd., S. 18–23. Ebenso wichtig: STEFAN NIESSEN: Traum und Realität. Ihre neuzeitliche Trennung, Würzburg 1993.

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Folgenden sollen zwei Vertreter der Reflexion dieses Problems vorgestellt werden, die zur selben Zeit sehr Unterschiedliches zu diesem Thema geschrieben haben. René Descartes (1596–1650) stellt in seinem Zweifelsprozess durch den Traum als Phänomen die gesamte Wirklichkeit in Frage, gewinnt dann durch die Klärung der Frage der Existenz des Ich – im cogito – eine erste Sicherung: Wir sind und sind dessen gewiss, indem wir (im weitesten Sinne) denken, d. h. geistig tätig sind. Danach stellt er die Frage nach der Existenz der extramentalen Wirklichkeit und findet schließlich Sicherheit durch deren Gründung auf Gott. Innerhalb dieser so abgesicherten Gesamtwirklichkeit ist es dann die Kohärenz des klar und deutlich Erfassten, die uns das Unterscheidungskriterium von Traum- und Wacherlebnissen an die Hand gibt. Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) (dem auch der Titel dieses Beitrags geschuldet ist) wirft, im Gewand eines Dramas, die Frage auf, ob das Leben Traum sei – wobei das Leben dann nicht nur die extramentale Wirklichkeit meint, sondern ebenso auch die Wirklichkeit, die wir selbst sind. Er wird die Frage damit beantworten (und zugleich zerstören), dass unser ganzes Leben nur Traum ist, aus dem wir erwachen, wenn wir in die Ewigkeit eingehen, auf welche unser ganzes Leben ausgerichtet ist. Unsere Existenz gründet sich nicht auf unsere geistigen Vollzüge, sondern wird allein durch unser Handeln geprägt, in dem wir uns bewähren und das für uns steht, wenn wir aus diesem Traum erwachen. Bei beiden Autoren liegt also kein Versuch der Traumdeutung vor, sondern im Aufgreifen der Traumerfahrung das Problem, Traum und Leben bzw. Traum und Wirklichkeit gültig zu unterscheiden, eine Lösung zu finden für die Frage, ob wir träumen oder leben, ob die Wirklichkeit, in der wir uns finden, wirklich ist. Zur Einstimmung auf die Problematik und ihre unterschiedlichen Lösungen möge ein kurzes Beispiel aus der Literatur dienen, welches Problematik und Lösung gewissermaßen avant la lettre persifliert: Paradigmatisch für eine Existenz, die Traum oder hier besser Wahn und Leben, Innenwelt und Außenwelt unentwirrbar miteinander verwoben hat, ist der durch die Lektüre von Ritterromanen verwirrte Alonso Quijano, der sich selbst Don Quijote de la Mancha nennt. Gegen Ende des ersten Bandes des Hauptwerks Miguel de Cervantes’3 wird Don Quijote, nachdem ihn Freunde (u. a. der Pfarrer und der Barbier seines Dorfes) verkleidet im Schlaf überfallen und gefesselt haben, eine ihn verteidigungsunfähig machende Verzauberung vorgegaukelt, um ihn in einem Käfig eingesperrt nach Hause zu bringen. Don Quijote glaubt fest an diese Verzauberung. Um ihn von seinem Wahn zu befreien, versucht sein Diener Sancho, die Realität der Situation zu beweisen, indem er Don Quijote auf seine Leiblichkeit ver2

3

Kurzer Abriss in: Art. ‚Bauer, der träumende‘. In: Stoffe der Weltliteratur. Hrsg. von ELISABETH FRENZEL, 10., überarbeitete und erweiterte Auflage unter Mitarbeit von SYBILLE GRAMMETBAUER, Stuttgart 2005, S. 98–103. Miguel de Cervantes Saavedra: El ingenioso hidalgo Don Quijote de la Mancha. Edición de LUIS ANDRÉS MURILLO, Madrid 1989, t. 1, cap. 46–52, S. 554–605. Deutsche Übersetzung: Miguel de Cervantes Saavedra: Der sinnreiche Junker Don Quijote von der Mancha. Übers. von LUDWIG BRAUNFELS, durchgesehen von ADOLF SPEMANN, München 71991, S. 484 ff.

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weist; das fortgesetzte Funktionieren des Ausscheidungsdranges sei das sicherste Zeichen für die Realität des momentan Erlebten, da seiner Meinung nach nur Verzauberte nichts mehr zu sich nehmen und dementsprechend ausscheiden. Don Quijote aber kann seine aktuelle Situation lückenlos in die Logik seines Wahns eingliedern, glaubt fest an seine Verzauberung und hat deswegen auch ein ruhiges Gewissen, was sein Handeln bzw. Nicht-Handeln in der Situation angeht: nämlich keinen Bedrängten zu helfen: [Sancho Pansa:] „Ich sage Euch, ich bin von der Redlichkeit und Wahrheitsliebe meines gnädigen Herrn ganz überzeugt; und so, weil es für unsre Geschichte wichtig ist, frag ich Euch und sag es mit aller Ehrerbietung, ob, seit Euer Gnaden eingekäfigt ist und nach Eurer Meinung in diesem Käfig als ein Verzauberter weilt, ob vielleicht Euch Lust und Wunsch gekommen ist, was Großes oder Kleines zu verrichten, wie man zu sagen pflegt?“ – „Ich verstehe nicht, was das heißen soll, Großes verrichten, Sancho; drücke dich deutlicher aus, wenn du willst, daß ich dir glatt antworten soll.“ – „Ist’s möglich?“ rief Sancho, „Großes und Kleines verrichten, das versteht Euer Gnaden nicht? Ei, schon die erst entwöhnten Kinder werden in der Schule damit auferzogen! Ich meine, ob Euch Lust gekommen ist, zu tun, was man nicht unterlassen kann?“ – „Nun, nun versteh ich dich, Sancho. Freilich, oftmals schon, und jetzt eben habe ich sotane Lust; erlöse mich aus dieser Verlegenheit, denn es ist wahrlich nicht alles sauber im Unterstübchen.“ – „Aha!“ sagte Sancho, „jetzt hab ich Euch gefangen. Das eben war mir lieb zu hören, so lieb als Seele und Seligkeit. Kommt mal her, gnädiger Herr! Könnt Ihr leugnen, was man gemeiniglich unter uns zu sagen pflegt, wenn es einem übel ist: ‚Ich weiß nicht, was dem da fehlt; er ißt nicht, er trinkt nicht, er schläft nicht, und auf alle Fragen antwortet er verkehrt; es sieht geradeso aus, als wäre er verzaubert?‘ Daraus nun wird jeder annehmen, daß Leute, die nicht essen und nicht trinken und nicht schlafen und die bewußten natürlichen Dinge nicht verrichten, daß selbige Leute verzaubert sind, nicht aber die Leute, die den Drang verspüren, den Euer Gnaden verspürt; und Ihr trinket, wenn man’s Euch verabreicht, und Ihr esset, wenn Ihr was habt, und antwortet auf jegliches, wenn man Euch fragt.“ – „Ganz richtig ist, was du sagest, Sancho“, entgegnete Don Quijote. „Allein ich habe dir schon bemerkt, es gibt gar verschiedene Arten von Verzauberungen. Auch ist es möglich, daß mit der Zeit die eine Art sich in die andre verwandelt hat und daß es jetzt bei Verzauberten bräuchlich ist, alles zu tun, was ich tue, wenn sie es auch früherhin nicht getan haben, so daß man also gegen den Brauch der verschiedenen Zeiten keine Gründe geltend machen und auch keine Folgerungen daraus ziehen kann. Ich weiß und bin des festen Glaubens, daß ich verzaubert bin, und das genügt mir zur Beruhigung meines Gewissens; ja, ich würde mir ein großes Gewissen daraus machen, wenn ich glaubte, nicht verzaubert zu sein, und es geschehen ließe, daß ich müßig und feig in diesem Käfig sitze und so viele bedrängte und in Nöten befangene Leute um die Hilfe betröge, so ich selbigen gewähren könnte, welche gerade zu dieser Zeit und Stunde ohne Zweifel meines Beistandes und Schirmes aufs dringendste und aufs äußerste bedürfen.“4

Die paradigmatische Lage des Don Quijote, hier nur auf die Spitze getrieben, lässt das Problem der Wirklichkeit unserer Wirklichkeit hervortreten: Was versichert uns der Wirklichkeit dessen, was wir erleben? Was versichert uns der Existenz unserer Außenwelt? Auf dem Spiele stehen die Wahrheit unserer Wahrnehmungen, Gedanken und Urteile und die moralische Qualität unseres Handelns. Und: Woher kommt eigentlich die Frage, und wie lässt sie sich stellen und gar beantworten? 4

Cervantes (Anm. 3), cap. 48f., S. 505f. (span. Ausgabe: t. 1, S. 574–576).

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Im Folgenden sollen, wie bereits angekündigt, zwei Figuren der frühen Neuzeit vorgestellt werden, die diesem Problem in besonderer Weise zugetan sind: In der Figur des „desengaño“ (Ent-Täuschung) zeigt sich das Problem u. a. in der spanischen Literatur, auf spezifische Weise in Calderóns La vida es sueño. Darüber hinaus und zur gleichen Zeit wird das Problem in der Philosophie erwogen, nämlich bei Descartes, der seine hier in Frage kommenden Werke Discours de la méthode und Meditationes de prima philosophia zur gleichen Zeit (nur ganz wenige Jahre später, wenn überhaupt) wie Calderón schreibt: Wir bewegen uns zwischen 1636, dem Jahr des Erscheinens von La vida es sueño, 1637, dem Jahr des Erscheinens des Discours, und 1641, dem Jahr des Erscheinens der Meditationes. Es wird sich zeigen, dass beide Autoren sich, obwohl eine Kenntnis des jeweils anderen Textes nicht oder kaum vorstellbar ist, in der Sache und z. T. in den Begrifflichkeiten und Beispielen so direkt und doch mittelbar miteinander auseinandersetzen, dass uns fast eine direkte Diskussion vor Augen steht und der Eine des Anderen Kritiker zu sein scheint. Im Don Quijote werden, wie zu sehen war, zwei Grundhaltungen zu unserem Problem vorgezeichnet: a) die ‚ontologische‘ Behandlung des Problems: Man versucht, sich der Realität als ontologischer Basis des Erlebten zu versichern, d. h. letzten Endes dessen Wahrheit. In der Buffo-Variante geschieht dies in Sancho Pansas Verweis auf die basale Leiblichkeit, die als unmittelbar erlebte ein unschlagbares Argument abgibt. b) die (im weitesten Sinne) ‚moralphilosophische‘ Behandlung des Problems: Das Wesentliche der Realität ist nicht ihr ontologischer Status, sie ist nicht durch eine ontologische Betrachtung als eine eindeutige aufzuweisen, sondern unser moralisches Verhältnis zu ihr: Don Quijote – der zunächst auch als Cartesianer durchgehen könnte, weil er Leiblichkeit als Argument nicht anerkennt, der aber doch keiner ist, weil er gegen alle Evidenz, die die Buffo-Figur Sancho angibt und dadurch zugleich diskreditiert, auf der Verzauberung beharrt – ist sein gutes Gewissen wichtig, das er haben kann, weil er als Verzauberter nicht seinem ritterlichen Auftrag gemäß handeln kann. Er hinterfragt also seine Situation nicht, sondern zieht aus ihr Schlüsse für seinen moralischen Status, auf den er in seiner Situation zurückgeworfen wird. Ähnlich werden auch die Lösungen von Descartes und Calderón divergieren: Descartes sucht im Durchgang durch den selbst und methodisch herbeigeführten Zweifel eine ontologisch valide, unerschütterliche Begründung für die Wirklichkeit des Ich und der Welt und findet sie im Ausgang vom cogito in den Gottesbeweisen sowie daraus folgend in der Kohärenz der solchermaßen abgestützten Erlebnisse bzw. Erkenntnisse. Dieser Weg vollzieht sich in Stufen des Zweifels wie auch in Stufen der Gewissheitsgründung. Zu Beginn der Handlung des calderónschen Dramas stehen ebenfalls Zweifel an der Wirklichkeit, die ebenso methodisch herbeigeführt sind, jedoch, in der ratio des Dramas, von einer anderen Person; in allen Handlungssträngen findet sich die Frage, ob die Situation, die Wirklichkeit, in der man ist, wirklich diese ist, wofür man sie hält.

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Bei beiden steht am Ende eine Einsicht über den Status der Wirklichkeit, in der wir leben: Für Descartes existiert die extramentale Außenwelt so, wie sie uns klar und deutlich vor Augen steht; für Calderón hat unsere gesamte Wirklichkeit, einschließlich unserer Person, keine eigene Selbständigkeit, sondern ist insgesamt nur ein Traum, aus dem es ein Erwachen erst im Jenseits gibt. Diese Prekarität des Subjekts lässt in Ermangelung einer unangreifbaren Seinsgrundlage das Entscheidende die Bewährung im Handeln sein, in welchem das Subjekt sich erst ausprägt und welches allein wir ‚mitnehmen‘ können; das Traumproblem findet so eine moralphilosophische Auflösung.5

2.

Descartes

Bei René Descartes (1596–1650) tritt das Traumargument im Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences (1637) im Zuge des Zweifels auf; zu zweifeln beginnt er planmäßig (nachdem er festgestellt hat, dass eine Schulgelehrsamkeit voller Zweifelhaftem steckt), um ein festes Fundament zu suchen, auf dem er seine Erkenntnisse aufbauen kann.6 Im zweiten Abschnitt des Discours stellt Descartes die Regeln seiner Methode dar, die in Anlehnung an die mathematischen Methoden entstanden sind; an erster Stelle steht dabei die Regel der Evidenz, nach der nur als wahr anzuerkennen ist, was evident,

5 6

So ist Calderón ein literarischer Botschafter des moralphilosophischen Hintergrunds des Don Quijote, Descartes hingegen gewissermaßen ein Sancho Pansa in rationalistischem Gewand. René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences. Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Französisch – Deutsch. Übers. u. hrsg. von LÜDER GÄBE, Hamburg (Meiner) 1960, Erster Teil, S. 16 / 17: „Et j’avais toujours un extrême désir d’apprendre à distinguer le vrai d’avec le faux, pour voir clair en mes actions, et marcher avec assurance en cette vie.“ („Und ich hatte immer großes Verlangen, Wahres von Falschem unterscheiden zu lernen, um in meinen Handlungen klar zu sehen und in diesem Leben sicher zu gehen.“) = Discours de la méthode pour bien conduire sa raison, et chercher la vérité dans les sciences. In: [René Descartes:] Œuvres de Descartes. Éd. CHARLES ADAM et PAUL TANNERY, 11 tomes (13 vol.), Paris 1969, 1996 [im Folgenden: AT], t. 1, S. 10. Descartes: Discours, Dritter Teil, S. 46 / 47: „Tout mon dessein ne tendait qu’à m’assurer, et à rejeter la terre mouvante et le sable, pour trouver le roc ou l’argile.“ („Ich wollte mir […] nur Sicherheit verschaffen und lose Erde und Sand beiseitewerfen, um Fels oder Ton zu finden.“) [AT 1, S. 29]. Im Folgenden wird eine gedrängte und ineinander verschränkte Darstellung des Traumarguments in Discours und Meditationes skizziert; für Näheres sowie die Differenzen zwischen den beiden Schriften von Descartes s. GEORGES D. J. MOYAL: La critique cartésienne de la raison. Folie, rêve et liberté dans les Méditations, Montréal, Paris 1997 (Bellarmin, Vrin : Collection Analytiques 9); NIESSEN (Anm. 1), S. 159–198; GEHRING (Anm. 1), S. 59–68, 78–83.

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d. h. klar und deutlich aufgefasst wird.7 Bei dieser Suche nach der Wahrheit ist alles abzulehnen, was auch nur im geringsten Maße als zweifelhaft erscheint. Im folgenden vierten Teil des Discours destruiert Descartes unsere Alltagsgewissheiten in zwei Stufen: Zunächst ist alles auszuklammern, was uns durch die Sinne bekannt ist, da diese bekanntlich täuschen können. Auf dieser Stufe tritt in den Meditationes (1641) bereits das Traumargument auf: Es ist nicht nur so, dass die Sinne uns täuschen können über die Außenwelt, auch das für sicherer gehaltene Bewusstsein der eigenen körperlichen Lage und Tätigkeit kann falsch sein, da wir solches auch in Träumen erfahren.8 Sodann werden im Discours auch die im Zuge von Beweisen stattfindenden mathematischen Raisonnements ausgeschlossen, da man sich auch bei diesen täuschen kann; in den Meditationes ist dieser Gedankengang verschärft zum genius malignus-Argument: Ein boshafter Täuschergeist könnte mir alles vorspiegeln, was ich für wahr halte. Zuletzt heißt es, dass dieselben „pensées“, die im Wachzustand vorkommen, auch im Schlaf bzw. Traum vorkommen können.9 Auch der Höhepunkt des Zweifels in den Meditationes wird so ausgedrückt: Ich will glauben, Himmel, Luft, Erde, Farben, Gestalten, Töne und alle Außendinge seien nichts als das täuschende Spiel von Träumen, durch die er [scil. der genius malignus, M.V.] meiner Leichtgläubigkeit Fallen stellt; mich selbst will ich so ansehen, als hätte ich keine

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Descartes: Discours (Anm. 6), Zweiter Teil, S. 30 / 31: „Le premier [scil. précepte, M.V.] était de ne recevoir jamais aucune chose pour vraie, que je ne la connusse évidemment être telle: c’est-àdire, d’éviter soigneusement la précipitation et la prévention; et de ne comprendre rien de plus en mes jugements, que ce qui se présenterait si clairement et si distinctement à mon esprit, que je n’eusse aucune occasion de le mettre en doute.“ („Die erste besagte, niemals eine Sache als wahr anzuerkennen, von der ich nicht evidentermaßen erkenne, daß sie wahr ist: d. h. Übereilung und Vorurteile sorgfältig zu vermeiden und über nichts zu urteilen, was sich meinem Denken nicht so klar und deutlich darstellte, daß ich keinen Anlaß hätte, daran zu zweifeln.“) [AT 1, S. 18]. René Descartes: Meditationes de prima philosophia in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstrantur: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Lateinisch und deutsch. Auf Grund der Ausgabe von ARTUR BUCHENAU neu hrsg. von LÜDER GÄBE, durchges. von HANS GÜNTER ZEKL, Hamburg 1977 (Philosophische Bibliothek 250a), I, § 5, S. 34 / 35: Quae dum cogito attentius, tam plane video numquam certis indiciis vigiliam a somno posse distingui. („Denke ich einmal aufmerksamer hierüber nach, so sehe ich ganz klar, daß Wachsein und Träumen niemals durch sichere Kennzeichen unterschieden werden können.“) [AT 7, S. 19]. Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 52 / 53: „Et enfin, considérant que toutes les mêmes pensées, que nous avons étant éveillés, nous peuvent aussi venir, quand nous dormons, sans qu’il y en ait aucune, pour lors, qui soit vraie, je me résolus de feindre que toutes les choses qui m’étaient jamais entrées en l’esprit, n’étaient non plus vraies que les illusions de mes songes.“ („Endlich erwog ich, daß uns genau die gleichen Vorstellungen, die wir im Wachen haben, auch im Schlafe kommen können, ohne daß in diesem Falle eine davon wahr wäre, und entschloß mich daher zu der Fiktion, daß nichts, was mir jemals in den Kopf gekommen, wahrer wäre als die Trugbilder meiner Träume.“) [AT 1, S. 32].

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Hände, keine Augen, kein Fleisch, kein Blut, überhaupt keine Sinne, sondern glaubte nur fälschlich das alles zu besitzen.10

Hier ist auf eine zentrale Vorentscheidung hinzuweisen: Träume haben hier für Descartes den Status von Illusionen,11 sie sind geeignet, auch die Gewissheit der Wacherlebnisse zu unterminieren; sie haben keinerlei heuristischen Wert. Als Argument erscheinen sie zunächst bei der Suche nach Gewissheit. Sie sind möglicherweise geschickt von einem Täuschergeist. Descartes beendet die erste Meditation, indem er auf eine gewisse Trägheit hinweist, die uns in unseren Träumen gefangen hält und die nun zu bekämpfen er sich aufgemacht hat: Wie ein Gefangener, der etwa im Traume eine eingebildete Freiheit genoß, wenn er später zu argwöhnen beginnt, daß er nur schlafe, sich fürchtet, aufzuwachen, und sich den schmeichlerischen Vorspiegelungen träge hingibt, so sinke ich von selbst in die alten Meinungen zurück und fürchte mich zu ermuntern, um nicht das mühselige Wachsein, das auf die behagliche Ruhe folgt, statt im Lichte in der undurchdringlichen Finsternis der gerade zur Sprache gebrachten Schwierigkeiten zubringen zu müssen.12

Die Gefangenschaft im finsteren Traum ist trügerisch und überbequem und dadurch gefährlich; die Wahrheit bedarf des mühseligen Ausbruchs aus dieser Gefangenschaft hinaus ans Licht. Man ist versucht, hier im Vorgriff an die Hauptperson des calderónschen Dramas zu denken. Der Fortgang der Überlegung ist bekannt: Im Akt des Denkens sieht Descartes seine Existenz notwendigerweise gesichert: Er, der denkt, muss als Denkender auch sein, „je pense, donc je suis“.13 Darin ist für die Frage der eigenen Existenz (als res cogitans) das Traumproblem aufgehoben, da auch das vom Täuschergott geschickte Träumen, die darin betätigte Einbildungskraft ein Vollzug ist, ein Sich-Täuschen, in dem die Existenz des Vollziehenden unmittelbar aufscheint.14 10 Descartes: Meditationes (Anm. 8), I, § 12, S. 40 / 41: Putabo caelum, aerem, terram, colores, figuras, sonos cunctaque externa nihil aliud esse quam ludificationes somniorum, quibus insidias credulitati meae tetendit: considerabo me ipsum tamquam manus non habentem, non oculos, non carnem, non sanguinem, non aliquem sensum, sed haec omnia me habere falso opinantem. [AT 7, S. 22f.]. Zum philosophiehistorischen Hintergrund des Traum-Arguments s. den Kommentar ETIENNE GILSONs in: René Descartes: Discours de la méthode. Texte et commentaire par ÉTIENNE GILSON, Paris 61987, S. 291f. 11 Darauf verweist auch GEHRING (Anm. 1), S. 62 f.; ebenso NIESSEN (Anm. 1), S. 148 f., kritisch S. 185. 12 Descartes: Meditationes (Anm. 8), I, § 12, S. 40 / 41: Nec aliter quam captivus, qui forte imaginaria libertate fruebatur in somnis, cum postea suspicari incipit se dormire, timet excitari, blandisque illusionibus lente connivet: sic sponte relabor in veteres opiniones vereorque expergisci, ne placidae quieti laboriosa vigilia succedens non in aliqua luce, sed inter inextricabiles iam motarum difficultatum tenebras in posterum sit degenda. [AT 4, S. 23]. 13 Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 52 / 53: „Ich denke, also bin ich.“ [AT 1, S. 32]. 14 Descartes: Meditationes (Anm. 8), II, § 3, § 9; III, § 9. Zum Träumen als cogitatio s. NIESSEN (Anm. 1), S. 174.

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Was ist mit dem cogito hierfür gewonnen? Die Gewissheit der Existenz des denkenden Ich, mitsamt seinen Bewusstseinsvollzügen – aber eben nur, insofern sie Bewusstseinsvollzüge sind. Ob ihren Inhalten, also auch der extramentalen Außenwelt, vom Bewusstsein unabhängige Existenz und Wahrheit zukommen, ist eine noch offene Frage,15 und keine geringe. Denn der Täuschergott mag uns uns selbst nicht vorspiegeln können, wohl aber uns eine von unserem Geiste unabhängige Wahrheit und Existenz der Gegenstände unseres Bewusstseins – dieses wäre die Situation des ‚ontologischen Traumes‘. Um es nochmals festzuhalten: Alle Ideen, d. h. Bewusstseinsinhalte sind auch als geträumte doch wirklich in meinem Bewusstsein da;16 das Problem ist die unabhängige Existenz ihrer Inhalte. Zur Auflösung dieses Zweifels, zum Erweis, dass wir nicht träumen, sondern wachen, d. h. eine unseren Bewussteinsinhalten entsprechende Realität existiert, ist also ein Beweisgang vonnöten, der über das cogito hinausgeht, welches ja nur die Existenz meines Bewusstseins belegt – und dieses Bewusstsein könnte ja seine sämtlichen Inhalte träumen, d. h. über ihre Existenz im Irrtum sein, so klar und deutlich diese auch eingesehen sein mögen. Um ferner sicher zu sein, dass die „pensées“ im Traum falsch sind und unsere Wirklichkeit nicht gefährden, obwohl sie doch lebhaft und ausdrucksstark sind,17 wird ein stärkerer Grund benötigt, dafür bedarf es der Einsicht, dass, da Täuschen ein Akt der Unvollkommenheit ist, der vollkommene Gott aber mich nicht täuschen wird.18 Die Auflösung erfolgt bei Descartes durch seine Gottesbeweise, die hier nicht dargestellt werden sollen; es ist der gütige und niemals trügerische Gott, der mich der Außenwelt und der Passendheit meiner Gedanken versichert.19 Nur durch die Gottesbeweise lässt sich eine „certitude métaphysique“ über die Existenz der Dinge außer mir gewinnen, die über eine „assurance morale“ hinausgeht: denn das perfekte Wesen garantiert, dass alles, was in uns ist, von ihm kommt und wirklich 15 16 17 18 19

Descartes: Meditationes (Anm. 8), III, § 3f. Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 58 [AT 1, S. 35]; Meditationes (Anm. 8), II, § 5. Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 62 [AT 1, S. 38]. Descartes: Meditationes (Anm. 8), IV, § 2. Descartes: Meditationes (Anm. 8), III, § 38, S. 94 / 95: Totaque vis argumenti in eo est, quod agnoscam fieri non posse, ut existam talis naturae qualis sum, nempe ideam Dei in me habens, nisi revera Deus etiam existeret, Deus, inquam, ille idem, cuius idea in me est, hoc est habens omnes illas perfectiones, quas ego non comprehendere, sed quocumque modo attingere cogitatione possum, et nullis plane defectibus obnoxius. Ex quibus satis patet illum fallacem esse non posse; omnem enim fraudem et deceptionem a defectu aliquo pendere lumine naturali manifestum est. („Die ganze Kraft dieses Beweises liegt in der Erkenntnis, daß ich selbst mit der Natur, die mir eigentümlich ist, – nämlich im Besitze einer Vorstellung Gottes – unmöglich existieren könnte, wenn nicht auch Gott wirklich existierte, derselbe Gott, sage ich, dessen Vorstellung in mir ist, d. h. der alle die Vollkommenheiten besitzt, die ich zwar nicht begreifen, aber doch gewissermaßen mit den Gedanken berühren kann, und der durchaus für Schwächen unempfänglich ist. Woraus zur Genüge erhellt, daß er kein Betrüger sein kann, denn daß aller Trug und alle Täuschung auf irgendeiner Schwäche beruht, das macht das natürliche Licht augenscheinlich.“) [AT 4, S. 51–52].

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existiert.20 Gott gibt Existenz und damit auch Existenz- und Wahrheitssicherheit des als evident Eingesehenen. Damit aber gilt Folgendes:21 Traumgedanken dürfen uns nicht an der Wahrheit von Wachgedanken zweifeln lassen, wenn diese evident, d. h. klar und deutlich sind. D. h. die Evidenzregel mit ihrer Stützung durch Gott macht letzten Endes die genaue Bestimmung, ob wir träumen oder nicht, obsolet; denn auch im Traum können wir wahre Gedanken haben.22 Aber auch der Irrtum im Traum darf uns nicht generell gegen ihn einnehmen, denn wir irren auch im Wachen. Der Grund des Irrtums in meinen Urteilen aber liegt in meiner Unvollkommenheit, meiner gewissermaßen so zu nennenden „Teilhabe am Nichts“23 – die irrenden Urteile beruhen, genauer gesagt, auf der Inkongruenz von endlichem Verstand und unendlichem Willen.24 Es ist also – für diesen Schritt des Gedankenganges – letztendlich nicht der Traum das Problem, sondern unsere ‚Irrtumsfähigkeit‘. Die Lösung liegt in der gottgestützten Evidenzregel25 mit der Folge für das Traumproblem: Enfin, soit que nous veillions, soit que nous dormions, nous ne nous devons jamais laisser persuader qu’à l’évidence de notre raison. Denn schließlich dürfen wir uns, ob wir nun schlafen oder wachen, immer nur von der Evidenz unserer Vernunft überzeugen lassen.26

Mit Hilfe des Evidenzkriteriums kann aber auch ein neuer Anlauf zur Lösung der – immer noch und nun sogar verschärft offenen – Unterscheidung von Wachen und Träumen insgesamt, jenseits einzelner Inhalte des Denkens, unternommen werden. Woran erkennen wir die Evidenz bzw. die Unklarheit eines Bewusstseinsinhaltes? An seiner Verknüpfung mit den anderen „pensées“ im Gedächtnis und mit anderen Wahrnehmungen, so die Antwort Descartes’ in Meditationes VI, § 24. Und so ist es die Konnexion mit den anderen Bewusstseinsinhalten, die lückenlose, geordnete Schlüssigkeit, die für das Wachsein Zeugnis gibt: Jetzt nämlich merke ich, daß zwischen beiden [scil. Wachen und Träumen, M.V.] der sehr große Unterschied ist, daß meine Träume sich niemals mit allen übrigen Erlebnissen durch das Gedächtnis so verbinden, wie das, was mir im Wachen begegnet. […] Begegnet mir […] 20 Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 62 / 63 [AT 1, S. 38]; Meditationes (Anm. 8), V, § 13. Zur Rolle der Gottesbeweise s. NIESSEN (Anm. 1), S. 188 f. 21 Für das Folgende Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 62 / 63f. 22 Siehe auch Descartes: Meditationes (Anm. 8), V, §§ 15, 16. 23 Descartes: Meditationes (Anm. 8), IV, § 4. 24 Descartes: Meditationes (Anm. 8), IV, §§ 8, 9, 12, 15. 25 Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 64 / 65: „La raison […] nous dicte […] que toutes nos idées ou notions doivent avoir quelque fondement de vérité; car il ne serait pas possible que Dieu, qui est tout parfait et tout véritable, les eût mises en nous sans cela.“ („Die Vernunft sagt uns […], daß alle unsere Vorstellungen oder Begriffe irgendeine Grundlage in der Wahrheit haben müssen. Denn es wäre nicht möglich, daß Gott, der höchst vollkommen und höchst wahrhaftig ist, sie uns ohne eine solche Grundlage eingepflanzt hätte.“) [AT 1, S. 40]. 26 Descartes: Discours (Anm. 6), Vierter Teil, S. 64 / 65 [AT 1, S. 40].

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etwas, wovon ich deutlich bemerke, woher, wo und wann es kommt, und vermag ich seine Wahrnehmung ohne jede Unterbrechung mit dem gesamten übrigen Leben zu verknüpfen, so bin ich ganz gewiß, daß es mir nicht im Traum, sondern im Wachen begegnet ist.27

Die Deutlichkeit der Verknüpfung, basierend auf der durch den guten Gott garantierten Existenz und Erkennbarkeit der Außenwelt, garantiert die Unterscheidbarkeit von Traum und Wachwirklichkeit. Zum Abschluss der Meditationen kommt Descartes das Traumargument geradezu „lächerlich“ (risu dignae)28 vor, da er den Traum nun mit guten Gründen vom Wachzustand unterscheiden kann: Deswegen ist er letzten Endes als undeutlich zu bemerken und abzuscheiden, also unschädlich gemacht. Als Ergebnis haben wir die gegen das Traumargument gesicherte gewisse Existenz der Außenwelt, die so ist, wie wir sie klar und deutlich begreifen. Das Leben ist kein Traum, und wir können beides unterscheiden.

3.

Calderón

Etwa 1635 verfasst Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) sein Drama La vida es sueño (zwischen 1633 und 1636 das Auto sacramental El gran teatro del mundo, von dem noch die Rede sein wird), 1636 wird es publiziert.29 Unwesentlich vor dem Dis27 Descartes: Meditationes (Anm. 8), VI, § 24, S. 160 / 161: Nunc enim adverto permagnum inter utrumque esse discrimen in eo, quod numquam insomnia cum reliquis omnibus actionibus vitae a memoria coniungantur, ut ea, quae vigilanti occurrunt; […] Cum vero eae res occurrunt, quas distincte unde, ubi et quando mihi adveniant adverto, earumque perceptionem absque ulla interruptione cum tota reliqua vita connecto, plane certus sum, non in somnis, sed vigilanti occurrere. [AT 4, S. 89–90]. Siehe auch GEHRING (Anm. 1), S. 66f. ; NIESSEN (Anm. 1), S. 190–193. 28 Descartes: Meditationes (Anm. 8), VI, § 24, S. 160 / 161 [AT 4, S. 89]. Siehe auch GEHRING (Anm. 1), S. 68. 29 Pedro Calderón de la Barca: La vida es sueño. Drama y auto sacramental. Edición, introducción y notas de JOSÉ MARÍA VALVERDE, Madrid 1981; Pedro Calderón de la Barca: Das Leben ist ein Traum. Nachdichtung und Nachwort von EUGEN GÜRSTER, Stuttgart 1955 [fortan im Text zitiert als VS mit Akt- und Versangabe sowie Seitenzahl der deutschen Nachdichtung; also: jornada I, verso 670; dt. S. 22 als: VS I, 670; 22]. Zur Datierung siehe die Einleitung der spanischen Ausgabe, dort auch einige Bemerkungen zum Vergleich Calderón – Descartes. Weiterführende Literatur: JACINTO RIVERA DE ROSALES: Sueño y Realidad. La ontología poética de Calderón de la Barca, Hildesheim, Zürich, New York 1998 (Europaea Memoria, Reihe I: Studien 7), bes. S. 9– 108; ANTONIO REGALADO: Calderón. Los orígenes de la modernidad en la España del Siglo de Oro, 2 Bde., Barcelona 1995 (Destino: Ensayos 22, 23), bes. Bd. 1, S. 595–631, 397–426, 453– 494, Bd. 2, S. 249–284 (v. a. zum Auto sacramental); GEHRING (Anm. 1), S. 79–80, behandelt Calderón nur im Vorübergehen; NIESSEN (Anm. 1), S. 209–213; MICHELE FEDERICO SCIACCA: Verdad y sueño de ‘La vida es sueño’ de Calderón de la Barca. In: Calderón y la crítica: Historia y antología. Hrsg. von MANUEL DURÁN / ROBERTO GONZÁLEZ ECHEVARRÍA, 2 Bde., Madrid 1976, Bd. 2, S. 541–562; FRANCISCO AYALA: Porque no sepas que sé. In: Calderón y la crítica. Historia y antología. Hrsg. von MANUEL DURÁN / ROBERTO GONZÁLEZ ECHEVARRÍA, 2 Bde., Madrid 1976, Bd. 2, S. 647–666; JOAQUÍN CASALDUERO: Sentido y forma de ‘La vida es sueño’. In: Calderón y

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cours geschrieben, behandelt es auf den ersten Blick das gleiche Thema: Die Spannung zwischen Leben und Traum. Während Descartes jedoch wahr und falsch unterscheiden wollte, die metaphysische Wahrheit und die klare Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Traum suchte und in der gottgestützten Evidenzregel sowie dem Maßstab der Verknüpfung fand, ferner der Traum als Argument und Denkfigur erscheint und letztlich abgeschieden wird, ist der calderónsche Ansatz, wie man schon am Titel La vida es sueño/Das Leben ist Traum sieht, ein anderer. Hier ist der Traum (besonders deutlich schon dadurch, dass er uns in einem Drama vorgespielt wird) eine Existentialsituation, die sich im Laufe des Geschehens immer deutlicher herausschält. Es ist nicht ein Traum, den ein Subjekt hat und durch den es in seiner Subjekthaftigkeit sogar noch bestärkt werden könnte wie bei Descartes, sondern ein Traum ohne von ihm unterschiedenes Subjekt, ein ontologischer Gesamtzustand, der sich erst in einer anderen Welt auflöst. Im Folgenden soll das Stück nicht more philologico untersucht werden, sondern sein philosophischer Gehalt im Bezug auf die gestellte Frage herausgehoben werden. Dies bringt mit sich, dass die literarische Qualität ebenso unterbelichtet bleiben muss wie das andere philosophische Thema, das der Willensfreiheit (ganz zu schweigen von den Facetten der Handlung, in die es eingebettet ist: Hier wird nur einer der vielen Handlungsstränge verfolgt).30 Soweit es für diesen Gedankengang nötig ist, sei der hier interessierende Handlungsstrang des Stücks zusammengefasst: In der Vorgeschichte werden die entscheidenden Weichen gestellt: Das Stück spielt in einem imaginären Polen; der König hat einen Sohn und zwei Töchter (letzterer Kinder spielen in dem Stück eine wichtige Rolle, bleiben für unseren Zweck aber unerheblich); der Sohn, Basilio, folgt ihm auf dem Thron nach und ist in der Handlung des Dramas selbst im Greisenalter angelangt. Basilio ist Witwer, seine Frau starb bei der Geburt des einzigen Kindes, eines Sohnes mit Namen Segismundo. Im Vorfeld der Geburt plagten die werdende Mutter Albträume (die einzigen ‚normalen‘ Träume, von denen im Drama die Rede ist), in denen sie ihre Niederkunft mit einem „menschengleichen Scheusal“ sah, das ihr in der Geburt den Tod geben sollte. Bei der Geburt kam es zu einer Sonnenfinsternis, die selbstverständlich ebenfalls als schlechtes Vorzeichen galt. Der König vertraute auf seine astronomischen Studien und Kenntnisse und stellte dem Sohn ein Horoskop, in dem vorhergesagt wurde, dass dieser ein Gewaltherrscher würde und auch den Vater unterjochen sollte. Diesen Ergebnissen seines Studiums glaubte der Vater und ließ für den Sohn in einem unzugänglichen Wald (der zudem mit einem Zutrittsverbot belegt wurde) einen Turm errichten, in dem Segisla crítica: Historia y antología. Hrsg. von MANUEL DURÁN / ROBERTO GONZÁLEZ ECHEVARRÍA, 2 Bde., Madrid 1976, Bd. 2, S. 667–693. 30 Insbesondere kann hier nicht auf die Rolle der weiblichen Hauptperson des Dramas, Rosaura, für die Konversion Segismundos eingegangen werden. Diese betonen z. B. SCIACCA (Anm. 29), S. 552, 556, und AYALA (Anm. 29), S. 659, und RIVERA DE ROSALES (Anm. 29), S. 77 f.

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mundo eingesperrt wurde und nur von einem Erzieher betreut heranwuchs. Bei Einsetzen der Handlung ist Segismundo erwachsen, der Vater in einem Alter, das ihn an die Weitergabe der Herrschaft denken lässt. Den Vater ergreift nun schlechtes Gewissen, befördert durch sein Alter, die zu regelnde Thronfolge und deren weitere familiären Nebenbedingungen, welche hier nicht wichtig sind; er fasst den Plan, Segismundo zu betäuben und in den Palast bringen zu lassen, wo er, wenn er aufwacht, über seine Situation als Thronfolger wahrheitsgemäß unterrichtet wird. Wird er nun, so der Plan, sich als guter Herrscher erweisen, so ist der dann manifeste Fehler des Vaters zugleich wieder gutgemacht; erweist er sich, wie es die Sterne vorhersagen, als Gewaltherrscher, so hat der Vater alles richtig gemacht; der Sohn soll dann wieder betäubt und in den Turm zurückgeschafft werden. Beim Aufwachen soll ihm dann eingeredet werden, er habe alles nur im Traum erlebt. Tatsächlich wird der Sohn in den Palast gebracht, und nach seinem Erwachen erweist er sich als gewalttätig und unbeherrscht (er begeht einen Mord an einem Diener, Mordversuche an seinem Erzieher, einen Vergewaltigungsversuch). Gemäß Plan wird der Sohn wieder im Schlaf zurück in den Turm gebracht, wo er beim Erwachen seinen Erzieher vorfindet, der ihm nahebringt, dass er nur geträumt habe, dass es aber auch in Träumen darauf ankomme, gut zu handeln. Nun hat sich mittlerweile in Polen die Kunde vom gefangenen Thronfolger verbreitet, es erhebt sich ein Aufstand, in dessen Verlauf Segismundo befreit wird und die Entscheidungsschlacht gegen seinen Vater gewinnt. Da er nun aber nicht mehr unterscheiden kann, ob er dieses träumt oder doch wachend erlebt, entschließt er sich, diese Frage als unentscheidbar zu betrachten, vielmehr im Sinne der obigen Maxime gut zu handeln und seine Herrschaft nur als Leihgut zu betrachten, als Traum, aus dem er wieder erwachen wird – und tatsächlich stellt er sich im Zuge der Kampfhandlungen und danach als zum gerechten Herrscher Gereifter heraus. Die Figur des im Schlaf in einen Königspalast Getragenen, der dort für einen Tag wie ein König behandelt wird und in der nächste Nacht wieder in seinen ursprünglichen Lebenszusammenhang zurückgebracht wird, woraufhin er das Erlebte als Traum begreift, hat ihren festen Platz in der Literaturgeschichte seit den Geschichten von 1001 Nacht. Bei diesen Geschichten und Dramen ist es jedoch typischerweise so, dass im Grunde nichts auf dem Spiel steht; weder findet eine vergleichbare Charakterwandlung statt, noch ist die Realität selbst thematisch. Im Stück Calderóns, durchwirkt von der christlich-barocken Auffassung von der Flüchtigkeit der irdischen Existenz, ist jedoch die Realität selbst thematisch: Im Titel Das Leben ist Traum findet eine Kennzeichnung des Lebens insgesamt als traumartig statt. Um dem Ende dieses Beitrags etwas vorzugreifen: Diese Denkfigur steht nicht für eine auf der Basis wohlgestützter Einsichten ins Eindeutige aufzulösende metaphysische Problematik wie bei Descartes, sondern für eine Grunderfahrung der Unauflösbarkeit, die gerade die bisherigen Einsichten umstürzen lässt in einer Ent-Täuschung betreffs einer vermeintlich möglichen Ein-Deutigkeit. Die Situation der Unsicherheit und des Zweifels wird nicht, wie bei Descartes, auf der Grundlage der Evidenz des cogito und Gottes gelöst, sondern sie

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wird als Ent-Täuschung über die vermeintliche Realität des (vermeintlich) wach Erlebten auf die Spitze getrieben – der hyperbolische Zweifel Calderóns tendiert hier nicht zu einer Auflösung in dieser, sondern in einer anderen Welt. Der Situation der Unsicherheit wird eine Bedeutung nicht für das Subjekt des Erkennens, sondern für das moralische Subjekt des Handelns im Hinblick auf eine andere Welt abgewonnen, die diesem eine neue Art der Sicherheit gibt: Allein im Handeln (und nicht im Erkennen) wird das Subjekt konstituiert; der Mensch wird erst und nur wirklich durch seine Taten, die er im Gesamtzusammenhang des Traumes vollbringt. Im Stück wird dies vorgeführt als die von Calderón wohl vorbereitete und doch heftige Umsturzbewegung eines Charakters zu einer neuen Grundeinstellung der Wirklichkeit, oder besser seinem Leben gegenüber. Der Denk- bzw. Handlungsweg des je in Frage stehenden Subjektes ist also nicht als ein in Denkschritten nachzuvollziehender (wie bei Descartes) dargestellt, sondern soll nur das Ergebnis, das in der Umwendung bisheriger Scheingewissheiten besteht, in einer im Wortsinne nicht nachzuvollziehenden Handlung plausibel machen. Wie findet diese Wende statt? Wie ist dieser Umsturz des Charakters zu erklären? Und was ist letzten Endes ihre Bedeutung? Wenden wir uns nochmals dem Stück zu. In seinem ersten Monolog ist Segismundo mit Fellen bekleidet vor seinem Kerker zu sehen, in welchem er seit seiner Geburt gefangen ist;31 er klagt die Himmel an für sein unfreies Leben; die Verse „Denn des Menschen ärgste Sünde/ist, daß er ins Leben kam“32 zeigen die Verzweiflung desjenigen, der nach der Schuld sucht, die ihn in diese Situation brachte, und seinen Platz in der Realität (insbesondere in bzw. gegenüber der Natur) und seine Identität nicht bestimmen kann: Es zeigt sich eine Identitätsproblematik, die sich durch das ganze Stück zieht (VS II, 1236f.; 37) – und sich ja auch schon bei Descartes zeigte, der nach dem Erreichen des cogito fragt, wer das denn sei, der da denke.33 Segismundo, für den diese Schuld des Ins-Leben-Tretens ja gewissermaßen zutrifft, steht unschwer erkennbar für den Menschen überhaupt. In den ersten, vor dem und im Turmgefängnis spielenden Szenen wird der wilde, ungezügelte Charakter Segismundos in verschiedenen Szenen deutlich gemacht; somit hat der Zuschauer bei dem schon angesprochenen, im Palast stattfindenden Monolog Basilios die Person vor Augen, um die es geht, und hat sich ein Bild ihrer Situation und ihres Charakters machen können. Der König befiehlt nun Clotaldo, dem Erzieher Segismundos, diesen zu

31 In der Literatur werden immer wieder Parallelen zu Platons Höhlengleichnis gezogen: z. B. REGALADO (Anm. 29), Bd. 2, S. 259 f. 32 VS (Anm. 29), I, 111f.; 8: „Pues el delito mayor / del hombre es haber nacido.“ 33 Descartes: Meditationes (Anm. 8), II, § 4, S. 44 / 45, AT 4, S. 25; RIVERA DE ROSALES (Anm. 29), S. 10, weist darauf hin, dass das Selbstbewusstsein der reinen res cogitans hier nicht reicht für die Erfüllung der Suche nach personaler Identität.

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betäuben und ins Schloss bringen zu lassen;34 die Erläuterung seines Planes schließt er ab mit den an den Erzieher gerichteten Worten:35 Ahora preguntarás,

Du wirst jetzt mich fragen wollen,

que para aquesta experiencia,

Warum ich zu dem Versuche

¿qué importó haberle traído

Ihn auf solche Weise schlafend

dormido desta manera?

Zu mir schaffen ließ? So will ich

Y quiero satisfacerte

Mit der Antwort dir Bescheid tun. –

dándote a todo respuesta.

Wenn er heute als mein Sohn lebt

Si él supiera que es mi hijo

Und bereits am andern Tage

hoy, y mañana se viera

Sich in Not und Haft verbannt sieht,

segunda vez reducido

Wird er, wild wie sein Gemüt ist,

a su prisión y miseria,

Der Verzweiflung unterliegen;

cierto es de su condición

Denn erkennt er, wer er ist,

que desesperara en ella;

Welcher Trost kann dann ihm helfen?

porque sabiendo quién es,

Darum will ich, falls er scheitert,

¿qué consuelo habrá que tenga?

Eine Türe offenhalten,

Y así he querido dejar

Um zu sagen: Nur ein Traumbild

abierta al daño esta puerta

War dies alles, was er schaute.

del decir que fue soñado

Damit prüf ich zweierlei:

cuanto vio. Con esto llegan

Einmal seine Sinnesart;

a examinarse dos cosas:

Denn er wird im Wachen handeln,

su condición la primera,

Wie es ihm sein Denken einflößt.

pues él despierto procede

Zweitens bleibt ein Trost für ihn:

en cuanto imagina y piensa;

Wenn er sich zuerst als Herrscher

y el consuelo la segunda,

Und darauf zur Haft verdammt sieht,

pues aunque ahora se vea

Kann er glauben, daß er träumte,

obedecido, y después

Und er glaubt es dann mit Recht:

a sus prisiones se vuelva,

Weil in dieser Welt, Clotald,

podrá entender que soñó,

Alle, die da leben, träumen. (34)

y hará bien cuando lo entienda, porque en el mundo, Clotaldo, todos los que viven sueñan. (1120–1149)

34 RIVERA DE ROSALES (Anm. 29), S. 12, weist Basilio hier die Rolle des cartesischen genius malignus zu. 35 Im Folgenden werden wichtige Begriffe im Fettdruck hervorgehoben.

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Hiermit ist, und zwar paradoxerweise und bezeichnenderweise durch den Mund des Vaters und in seiner ‚pragmatisch‘ gemeinten Versuchsanordnung, die metaphysische Grundaussage des Werkes ausgesprochen, die doch gerade auf das Handeln des Menschen so umstürzenden Charakter haben wird. Der Vater will seine ‚wissenschaftlich‘ erstellte Hypothese mit einem Versuch ‚falsifizieren‘, ohne doch zu realisieren, dass dies auf dem Hintergrund seiner eigenen Rede vom Leben als Traum aberwitzig ist. Im Fortgang erhält Clotaldo die Erlaubnis, Segismundo nach seinem Erwachen im Palast die Wahrheit zu sagen. Segismundo selbst wähnt sich nach seinem Erwachen im Palast in einem Traum, beschließt aber, diese Frage auf sich beruhen zu lassen: Decir que sueño es engaño

Fiel ein Traumgesicht mich an?

bien sé que despierto estoy.

Doch ich wache, bin gesund!

¿Yo Segismundo no soy?

Heiße ich nicht Sigismund?

Dadme, cielos, desengaño.

Himmel, löset meinen Wahn!

Decidme qué pudo ser

Sagt mir, welche fremde Kraft

esto que a mi fantasía

Hält die Sinne mir umwunden,

sucedió mientras dormía,

Daß man mich, vom Schlaf gebunden,

que aquí me he llegado a ver.

Hier an diesen Ort entrafft!

Pero sea lo que fuere,

Aber sei es, was es sei –

¿quién me mete en discurrir?

Soll ich mich damit befassen?

dejarme quiero servir,

Ich will mich bedienen lassen:

y venga lo que viniere!

Komme, was da mag, herbei!

(Criado:) ¡Qué melancólico está! (1236–1248)

(Diener:) Wie voll Trübsinn steht er dort! (37)

Die Bitte an die Himmel um Ent-Täuschung, die unmittelbar damit und somit mit dem Grundproblem des Dramas zusammenhängende Suche nach der Antwort, wer er ist, das diskursive Denken über seine Situation hat Segismundo hier noch aufgeschoben. Die Anzeige der Melancholie durch den Diener weist auf den ersten Beginn der Reflexion hin, die aber noch abgebrochen wird durch den sich Platz verschaffenden Herrschertrieb. Dass bei dem umfassend philosophisch gebildeten Calderón die Verwendung dieser Schlüsselbegriffe nicht zufällig geschieht, sondern wohl gesetzt ist, erweist sich auch im folgenden Redeabschnitt. Clotaldo klärt Segismundo auf, wer er ‚wirklich‘ ist, um die Konfusion und die Zweifel des Verstandes zu beseitigen: Con la grande confusión

Da des neuen Standes Wesen

que el nuevo estado te da,

Dich in große Wirrnis reißt,

mil dudas padecerá

Sucht dein aufgerührter Geist

el discurso y la razón,

Tausend Zweifel aufzulösen.

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pero ya librarte quiero

Wenn es heute möglich ist,

de todas (si puede ser)

Geb ich völlig Antwort dir.

porque has, señor, de saber

Wisse darum gleich von mir,

que eres príncipe heredero

Daß du Polens Erbprinz bist. (37 f.)

de Polonia. […] (1268–1276)

Der diskursive Verstand gerät ob der unklaren Situation in Zweifel, Clotaldo versucht sie durch eine Identitätsaussage zu beheben. Offensichtlich sagt Clotaldo einerseits nichts als die Wahrheit, ist Segismundo doch wirklich Erbprinz von Polen; zugleich steht diese Aussage aber im Gegensatz zur bisherigen Selbsterfahrung Segismundos und ist ihre mögliche Entwertung bereits ins Auge gefasst. Von Seiten der objektiven wie der subjektiven Gültigkeit ist diese Aussage also letztlich wenig geeignet, den Zustand der Konfusion und des Zweifels zu beheben; eine Identität qua sozialer Rolle ist nicht allein durch ihre Zuschreibung schon gesichert und erfüllt, wie auch im Zusammenhang mit Calderóns Großem Welttheater noch zu sehen sein wird. Nach dieser Identitätsbestimmung nennt Clotaldo Segismundo den Grund für seine Einkerkerung. Segismundo droht daraufhin, Clotaldo zu ermorden, dieser ermahnt ihn, alles könne auch nur ein Traum sein; Segismundo fehlt noch das Wissen um die Traumhaftigkeit des Daseins.36 Segismundo wird insgesamt dreimal solcherart gewarnt (VS II, 1530; 45 durch Basilio, VS II, 1679; 49 durch Clotaldo); der ständige Hauptvorwurf ist „soberbia“, Hochmut.37 In den folgenden Szenen tut Segismundo alles, um die schlechten Prognosen wahr werden zu lassen. Die Hinweise auf die mögliche Traumsituation kontert er mit dem Verweis auf seine Wachheit und seine Sinneswahrnehmung. Das – inhaltlich noch leere – Ich-Bewusstsein oder vielmehr die Evidenz der eigenen schieren Existenz und die Sinneswahrnehmung dienen also auf erster Stufe zur Selbstvergewisserung; die von Descartes auf erster Stufe invalidierte trügerische Gewissheit der Sinne wird hier also in eins mit dem (avant la lettre) cartesischen fundamentum inconcussum in Verbindung mit einem erfahrungsgestützten Kohärenzbewusstsein des Gedächtnisses zur Basis einer (trügerischen) Selbst- und Weltvergewisserung gebracht. Diese dient ihm als erster Prüfstein für die Realität des Erlebten; doch gerät er zunehmend in Verwirrung. Hat er sich in seinem ersten Monolog noch als Mensch dargestellt, der der Freiheit beraubt ist, also der Eigenschaft, die den Menschen zum Menschen macht, und sich so noch unter die Ebene der Tiere versetzt gesehen,38 so sieht er sich jetzt als Mi36 VS (Anm. 29), II, 1317–1319; 39: „Ay de ti, / qué soberbia vas mostrando / sin saber que estás soñando!“ („O wehe dir, / Der du prahlend überschäumest, / Und vergissest, daß du träumest!“) Das Erwachen aus dem Schlaf innerhalb des Stückes präfiguriert – kaum muss es eigens erwähnt werden – das Erwachen aus der irdischen Existenz in der jenseitigen; die Reaktion auf das jeweilige Erwachen im Stück präfiguriert die möglichen Ausgänge auch des dortigen Erwachens. 37 Eine der Todsünden, die folgerichtig Segismundos moralische Existenz bedroht. 38 VS (Anm. 29), I, 103–172; 7–9.

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Ist das Leben Traum?

schung von Mensch und Tier und reagiert mit unerhörtem, rasendem Trotz. Die Ermahnungen verhallen nicht nur ungehört, sondern führen zu einem Mord und einer versuchten Vergewaltigung, schließlich zu einem weiteren Mordversuch an Clotaldo. Sein Vater ermahnt ihn: B.: que seas humilde y blando,

B.: Sei auf Demut mehr bedacht;

porque quizá estás soñando,

Denn vielleicht, obschon erwacht,

aunque ves que estás despierto.

Träumest du am hellen Tag.

S.: ¿Que quizá soñando estoy

S.: Hält ein Traumgebild mich hin,

aunque despierto me veo?

Da ich wachend mich berühre?

No sueño, pues toco y creo

Nein, ich träume nicht – ich spüre,

lo que he sido y lo que soy.

Was ich war und wer ich bin.

Y aunque ahora te arrepientas,

Mag dich jetzt auch Reue plagen,

poco remedio tendrás:

Nimmer bringt dir das Gewinn;

sé quien soy, y no podrás

Denn ich weiß jetzt, wer ich bin,

aunque suspires y sientas,

Und du wirst trotz deiner Klagen

quitarme el haber nacido

Mir den Anspruch niemals rauben,

de esta corona heredero;

Erbe deines Throns zu sein.

y si me viste primero

Konntest du in Kerkerpein

a las prisiones rendido,

Lange Zeit mich sicher glauben,

fue porque ignoré quién era;

So geschah es, weil ich mir

pero ya informado estoy

Selber ganz entfremdet war. –

de quién soy, y sé que soy

Wer ich bin, weiß ich jetzt klar: 39

un compuesto de hombre y fiera. (1529–1547)

Halb ein Mensch nur, halb ein Tier! (45)

[…]

[…]

Cl.: De los acentos de esta voz llamado,

Cl.: Da plötzlich laute Stimmen ich vernommen,

a decirte que seas

Bin ich hierhergekommen

más apacible, si reinar deseas:

Und sage: dämme deine Wildheit ein;

y no por verte ya de todos dueño,

Denn willst du Herrscher über alle sein,

seas cruel, porque quizá es un sueño.

Sei grausam nicht; dich täuscht vielleicht ein Traum.

S.: A rabia me provocas,

S: Ich halte meine Wut nicht mehr im Zaum,

cuando la luz del desengaño tocas.

Wenn man mein Sein mit solchem Wort bedroht.

Veré, dándote muerte,

Drum geb ich dir den Tod,

si es sueño o si verdad. (1675–1683)

Um zu versuchen, wo die Wahrheit ist. (49)

39 Vgl. VS (Anm. 29), I, 211f.; 10: „Soy un hombre de las fieras / y una fiera de los hombres.“ („Das bei Menschen als ein Tier / und als Mensch bei Tieren gilt.“)

252

Matthias Vollet

Segismundo befindet sich mittlerweile auf halbem Wege zwischen Tier und Mensch, er ist in vielerlei Beziehung noch außer sich. Der (versuchte) Mord wird hier zur äußersten Wirklichkeitsprobe im Kontext des sinnlich Wahrnehmbaren.40 Schließlich spricht Basilio in Reaktion auf die Untaten Segismundos das Urteil: Er kündigt ihm an, dass er in einen Schlaf zurückversetzt werden, in welchem ihm das eben erlebte irdische Gute als Traum erscheinen würde.41 Das Experiment hat einen der möglichen Ausgänge genommen; gemessen an dem Erwünschten ist es gescheitert. Die Frage der Identität ist für Segismundo schmerzhaft ungeklärt, ja hat geradewegs ins Desaster geführt; die an Segismundos Rationalität gerichteten Ermahnungen haben nicht gefruchtet, sondern ihn in seiner Orientierungslosigkeit weiter provoziert. Der der Höhle entstiegene Mensch ist in Calderóns Inszenierung halb noch Tier, gerade weil er noch nach einem festen Halt in der Welt sucht. Zum Ende des zweiten Aktes, als Segismundo, im Turm zurück, in den ihn seine „soberbia“ gebracht hat, aus seiner Betäubung erwacht, findet der Umsturz der Weltauffassung statt. Noch träumend, kündigt er seinen Auftritt als rächender Prinz auf dem großen Welttheater an (VS II, 2074; 60). Just nach der Anrufung der großen Weltbühne aber erwacht er, zurück in seinem Gefängnis, aus seinem Traum – der Auftritt ist gewissermaßen ausgeträumt (oder vielmehr: Jetzt geht der richtige Auftritt auf der Weltbühne los), und die vorläufige Abrechnung steht in der wiedergekehrten Gefangenschaft vor seinen Augen. S.: Mas ¡ay de mí! ¿dónde estoy? (2078)

S.: Weh, wo bin ich, was geschah?

[…]

[…]

¿Soy yo por ventura? ¿soy

Bin ich nur aus Zufall da?

el que preso y aherrojado

Bin ichs selber, den die Ketten

llego a verme en tal estado?

Bändigen durch harten Zaum?

¿No sois mi sepulcro vos,

Hilf mir, Gott, um mich zu retten.

torre? Si. ¡Válgame Dios,

Wie viel sah ich dort im Traum?

qué de cosas he soñado!

Cl.: Wie es mir mein Amt gebeut,

Cl.: A mí me toca llegar

Will ich jetzt den Abschluß machen.

a hacer la deshecha ahora. –

S.: [sic!] Kam die Stunde, aufzuwachen?

¿Es ya de despertar hora?

Cl.: Zu erwachen sei bereit. (60f.)

S.: Sí, hora es ya de despertar. (2082–2091)

40 REGALADO (Anm. 29), Bd. 1, S. 601, sieht in diesem Versuch auch einen „apetito de realidad“. 41 VS (Anm. 29), II, 1720–1723; 50: „Pues antes que lo veas, / volverás a dormir adonde creas / que cuanto te ha pasado, / como fue bien del mundo, fue soñado.“ („Du wirst zuvor in Schlaf zurückversenkt, / Und was dir auch geschah an Glanz und Pracht, / Versinkt in Traumesnacht.“) In dem, was aus der Sicht des Wachen als Schlaf erscheint, wird erst die wahrhaftig traumhafte Qualität der Wachexistenz deutlich.

Ist das Leben Traum?

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Es folgt im Erwachen aus dem im Stück künstlich herbeigeführten Schlaf auch das ‚eigentliche‘ Erwachen, das wiederum in der Einsicht in die Traumhaftigkeit des Lebens besteht. Segismundo sieht sich wieder in der ihm schon bekannten Situation im Turm. Er fragt sich, ob er wacht oder träumt; Clotaldo sagt ihm, dass es Zeit sei, aufzuwachen, und in einer längeren Sequenz wird ein Gespräch geführt, das für den Zuschauer, aber wohl auch für Clotaldo doppelbödig ist und in dem Clotaldo sich von Segismundo seinen Traum vom Königtum für einen Tag schildern lässt. Er erinnert sich jedoch, alles im Palast greifbar und sicher („palpable y cierto“, VS II, 2103; 61) und (so bei späterer Gelegenheit) klar und deutlich („clara y distintamente“, VS II, 2350; 68) – und das heißt: in sich kohärent – erlebt zu haben, so dass er, da er sich jetzt als wach empfindet und die Szenen im Palast als Traum aufzufassen sich genötigt sieht, keine Maßstäbe mehr hat, welche der beiden Situationen real ist. Bis ins Wörtliche hinein wird hier neben der vermeintlichen Sicherheit der Sinneswahrnehmungen also das cartesische Grundkriterium der Evidenz beiseite gesetzt.42 Diskursiver Verstand, Kriterien des sinnlich Greifbaren, Sicheren sowie des rational Klaren und Distinkten verlieren ihre Gültigkeit. Calderón tritt so, avant la lettre, Descartes mit seinen eigenen Begriffen entgegen. Der Blick wird nun jedoch noch auf etwas anderes gelenkt: Hinzu tritt nämlich der von seinem Erzieher ins Spiel gebrachte Gedanke, dass auch das gute Tun in Träumen nicht verborgen bleibt (den er sich später zu eigen macht: „aun en sueños/no se pierde el hacer bien“ [„Nicht bleibt verborgen, was man Gutes tut in Träumen“] VS II, 2146f.; 62).43 42 VS (Anm. 29), II, 2097–2107; 61: „Cl.: […] / nunca has despertado? S.: No, / ni aun ahora he despertado, / que según, Clotaldo, entiendo, / todavía estoy durmiendo. / Y no estoy muy engañado; / porque si ha sido soñado, / lo que vi palpable y cierto, / lo que veo será incierto; / y no es mucho que rendido, / pues veo estando dormido, / que sueñe estando despierto.“ („Cl.: […] / ohne aufzuwachen? S.: Nein, / Glaub nicht, daß ich schon erwachte; / Denn wenn ich es recht betrachte, / Hüllt mich Schlaf noch immer ein. / Doch mein Irrtum ist nur klein: / Wenn mir da ein Traum nur lachte, / Wo mir alles greifbar war, / Dann ist, was ich sehe, Schein. / Ich ergebe mich darein: / Denn im Schlafe wird mir klar, / Daß mein Wachen Traum nur war.“). Die in diesem Zusammenhang sehr sprechende Stelle findet sich im dritten Akt, nachdem Segismundo schon eingesehen hat, dass das Leben Traum ist und durch die Revolution auf die Probe gestellt wird; er blickt zurück auf seine erste Zeit als Herrscher: VS (Anm. 29), III, 2348–2352; 68: „S.: Ya / otra vez vi aquesto mesmo / tan clara y distintamente / como ahora lo estoy viendo, / y fue sueño.“ („S.: Schon einmal sah ich dasselbe, / Klar und ganz genauso deutlich, / Wie ich jetzt dies alles schaue. / Doch ein Traum war’s.“). 43 VS (Anm. 29), II, 2140–2147; 62: „Como habíamos hablado, / de aquella águila, dormido, / tu sueño imperios han sido, / mas en sueños fuera bien / entonces, honrar a quien / te crió en tantos empeños, / Segismundo, que aun en sueños / no se pierde el hacer bien.“ („Dich ergriff des Adlers Bild, / Und du sahst, vom Schlaf umfangen, / Königsmacht im Traumgefild. / Doch man sollte, schlafgeborgen, / Den zu ehren nicht versäumen, / Der uns aufzog unter Sorgen, / Sigismund – nicht bleibt verborgen, / Was man Gutes tut in Träumen.“).

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Matthias Vollet

Hiermit ist man auf die Grundsituation des Gran teatro del mundo44 verwiesen. Zur selben Zeit wie La vida es sueno hat Calderón El gran teatro del mundo geschrieben; hier wird eine Querverbindung der beiden Stücke manifest (dort ist die Welt eine „representación“, eine Theateraufführung, hier ein Traum), die sonst nur implizit, aber durchgehend zu beobachten ist. Die Inszenierung ist hier Teil des Dramas, dort macht sie das Drama selbst aus (zu dem allerdings noch eine Rahmenhandlung gehört). Der gemeinsame Nenner: Die Realität, in der der Mensch lebt (und die der Mensch z. T. ist), besteht nicht für sich selbst, sondern in Bezug auf etwas anderes; sie hat Verweischarakter, und dieser Verweischarakter ist im Handeln mit Leben zu erfüllen. Nur im Handeln, indem er die ihm aufgegebene Rolle mit Leben erfüllt, wird der Mensch fassbar. In beiden Fällen sind die Handelnden auf der Suche nach ihrer Identität im Rahmen der ihnen von außen unverfügbar auferlegten Rollen. Ihre Subjekthaftigkeit besteht nicht in einem Erkennen, sondern in einem Handeln, das sie als zurechnungsfähige Personen erst entstehen lässt. Es gibt kein Subjekt, das zusätzlich zu seinem Subjektsein träumt, sondern im subjektlosen Traumgeschehen treten die Einzelnen nur durch ihr Tun hervor. Im Großen Welttheater gilt für die Akteure das stets soufflierte Grundgesetz: „obrar bien, que Dios es Dios“ – „Gut handeln, denn Gott ist Gott“ (Verse 438; 488; 667; 736, usf.). Ebenso wurde Segismundo das Grundgesetz, dass das Leben nur Traum sei und es allein auf das Gut-Handeln ankomme, mehrfach souffliert – zunächst ohne Erfolg, doch nunmehr, nach der Überwindung der Zwischenstufen von Mensch und Tier, hat Segismundo die Ebene des moralischen Subjekts erreicht. Im Großen Welttheater sagt die Welt zur Weisheit („discreción“) bei deren Tod, wenn es darum geht, vom „Teatro de las ficciones“ zum „Teatro de las verdades“ (1387f.) überzuwechseln: „Die guten Werke kann ich dir nicht nehmen/Die allein kann man aus der Welt mitnehmen“ („No te puedo quitar las buenas obras,/estas solas del mundo se han sacado“, 1374). So ist auch hier das Gut-Handeln die adäquate Haltung zur als Traum empfundenen Welt;45 allein dieses hat übergreifenden Realitätsgehalt, wie Segismundo im dritten Akt auf die Frage Clotaldos selbst sagt: Cl.: ¿Qué dices?

Cl.: Was sagst du?

S.: Que estoy soñando, y que quiero

S.: Daß ich träume und begehre,

obrar bien, pues no se pierde

Recht zu handeln; nicht verliert sich

obrar bien, aun entre sueños. (2398–2401)

Was man Gutes tut in Träumen. (69)

Das Gut-Handeln verliert sich nicht, es hat Bestand für das wirkliche Erwachen in der anderen Welt, am Ende des Traumes bzw. des Welttheaterstückes, das wir in Bezug 44 Pedro Calderón de la Barca: El gran teatro del mundo. Das große Welttheater. Spanisch / Deutsch. Übers. u. hrsg. von GERHARD POPPENBERG, Stuttgart 1988. 45 CASALDUERO (Anm. 29), S. 689: „La jornada III nos conduce precisamente de la vivencia intelectual a la moral“.

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Ist das Leben Traum?

auf das Jenseits erleben.46 Den Abschluss des zweiten Aktes bildet der große „desengaño“ (Ent-Täuschungs-)Monolog Segismundos:47 Es verdad, pues: reprimamos

Wahr ist es; es gilt zu zäumen

esta fiera condición, esta furia, esta ambición,

Meines Mutes jähes Beben, Meiner Ehrsucht wildes Streben,

por si alguna vez soñamos.

Wenn wir wieder einmal träumen;

Y si haremos, pues estamos

Und dies werden wir; wir leben

en mundo tan singular,

In so fremden Lebensräumen,

que el vivir sólo es soñar;

Wo das Leben Traum nur heißt.

y la experiencia me enseña,

Was mir selbst geschah, beweist,

que el hombre que vive, sueña

Daß wir unser Sein nur träumen,

lo que es, hasta despertar.

Bis man uns dem Schlaf entreißt.

Sueña el rey que es rey, y vive

König sei er, träumt der König,

con este engaño mandando,

Und, befangen in dem Wahn,

disponiendo y gobernando;

Herrscht er stolz und ordnet an.

y este aplauso, que recibe

Beifall wird ihm untertänig:

prestado, en el viento escribe

Ihn verweht des Windes Bahn,

y en cenizas le convierte

Und im Tod vergeht er doch,

la muerte (¡desdicha fuerte!):

Wird der Asche gleich gemacht.

que hay quien intente reinar

Wer will da regieren noch,

viendo que ha de despertar

Sieht er, daß er erst erwacht,

en el sueño de la muerte! (2148–2167)

Wenn er schläft in Todesnacht?

[…]

[…]

y en el mundo, en conclusión,

Kurz, in diesem Erdenleben

todos sueñan lo que son,

Träumen alle nur ihr Sein,

aunque ninguno lo entiende.

Sehen wir es gleich nicht ein.

Yo sueño que estoy aquí,

Ich, in Kerkerhaft gebückt,

de estas prisiones cargado;

Träume, daß die Fessel drückt,

y soñé que en otro estado

Daß ein glücklicheres Los

más lisonjero me vi.

Früher einmal mich beglückt.

¿Qué es la vida? Un frenesí.

Was ist Leben? Irrwahn bloß!

¿Qué es la vida? Una ilusión,

Was ist Leben? Eitler Schaum,

una sombra, una ficción,

Truggebild, ein Schatten kaum,

y el mayor bien es pequeño;

Und das größte Glück ist klein;

que toda la vida es sueño,

Denn ein Traum ist alles Sein,

y los sueños, sueños son. (2175–2187)

und die Träume selbst sind Traum. (62f.)

46 Zur „realidad originaria de la acción“ siehe RIVERA DE ROSALES (Anm. 29), S. 96–108. 47 Zum calderonischen „desengaño“ siehe z. B. RIVERA DE ROSALES (Anm. 29), S. 86 f.

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Matthias Vollet

Statt eines methodischen Zweifels, der in Richtung einer unerschütterlichen Gewissheit verlassen wird, haben wir hier eine wahrhaft hyperbolische Traumauffassung: Sogar die Träume, die selbst üblicherweise integraler Bestandteil der einen Wirklichkeit sind, verlieren ihren innerweltlichen Verweischarakter und gehen in der allgemeinen Traumhaftigkeit, d. h. der ontologischen Verwiesenheit der Welt auf eine andere, höhere Realität, die dem Gut-Handeln seine Bedeutung gibt, gleichsam unter (bzw. auf). Der Zweifel findet keine Ent-Scheidung, sondern einen Überstieg in eine andere, in der Sicht Calderóns auf die jenseitige Welt verwiesene Ebene, in der das Verstehen versagt („aunque ninguno lo entiende“/„Sehen wir es gleich nicht ein“). Dient bei Descartes Gott zur Sicherung der Gewissheit dieser Welt, so wird sie bei Calderón geradewegs durch ihn aufgelöst. Nach dem Umsturz der Weltanschauung, dem „desengaño“, kommt es im dritten Akt zur Probe im Handeln: Der politische Umsturz gibt Segismundo Gelegenheit, seine neue Grundeinstellung der Bewährung auszusetzen, und er besteht die Probe. Im Sieg erweist er sich als milde und vergibt seinem Vater und seinem Erzieher; die neue Herrscherwürde nimmt er als nur traumhaft an. Otra vez (¿qué es esto, cielos?),

Noch einmal (was ist dies, Himmel!)

¿queréis que sueñe grandezas,

Wollt ihr, daß ich Größe träume,

que ha de deshacer el tiempo? (2307–2309)

Die die Zeit ins Nichts zerstäubt?

[…]

[…]

¿Otra vez queréis que toque

Noch einmal soll ich Enttäuschung

el desengaño, o el riesgo

Oder die Gefahr bestehen,

a que el humano poder

Der der Mensch von Anbeginn an

nace humilde y vive atento?

Angstvoll preisgegeben ist?

Pues no ha de ser, no ha de ser;

Nein, das soll nicht, soll nicht sein,

miradme otra vez sujeto

Noch einmal dem Schicksal fronen;

a mi fortuna; y pues sé

Denn ich weiß: Traum ist das Leben –

que toda esta vida es sueño,

Darum geht, ihr leeren Schatten,

idos, sombras, que fingís

Da ihr meinen toten Sinnen

hoy a mis sentidos muertos

Heute Leib und Stimme vortäuscht:

cuerpo y voz, siendo verdad

Ihr entbehrt ja Leib und Stimme.

que ni tenéis voz ni cuerpo (2314–2325) […]

[…]

Ya os conozco, ya os conozco,

Ja, ich kenne, kenne euch,

y sé que os pasa lo mesmo

Euch ergeht es wie den andern,

con cualquiera que se duerme.

Welche schlafen; doch ich will nicht,

Para mí no hay fingimientos,

Daß Erdichtungen mich täuschen.

que, desengañado ya,

Ich, von meinem Wahn befreit,

sé bien que la vida es sueño. (2338–2343)

Weiß: das Leben ist ein Traum. (67)

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Ist das Leben Traum?

Der Wahn der eindeutigen Realität ist gewichen. Diese Welt ist für Calderón allein dazu da, die Bühne für die Bewährung der Akteure zu bilden. Sie ist nur Traumtheater, das umfangen ist von einer höheren Wirklichkeit, die der niederen Sinn gibt, sie aber nicht in eine selbstgegründete Wirklichkeit entlässt. Diese Welt kann nur bezogen auf die andere gelesen werden:

4.

acudamos a lo eterno,

Laßt uns Ewiges erwägen,

que es la fama vividora

Und dann kann ein Ruhm uns dauern,

donde ni duermen las dichas,

Wo das Glück nicht schlafen geht

ni las grandezas reposan. (2982–2985)

Und die Größe nimmer ausruht. (84)

Der Weg aus der Täuschung

Wie in Discours und Meditationes ein über Stationen führender Denkweg (mit performativen Konnotationen), so wird in La vida es sueño ein über Stationen führender, dramatisch inszenierter Handlungsweg hin zu einer das Denkbare übersteigenden Einsicht dargeboten, die auf eine identische Ausgangslage verweist: In beiden Fällen scheinbar künstlich herbeigeführt (hier als Gedankenexperiment, dort als doppelt inszeniertes Handlungsexperiment), aber als existentiell zu verstehen, befindet sich der Mensch als im Experiment stehender in einer Situation der Unklarheit, und zwar sowohl darüber, was er ist, als auch darüber, was die Wirklichkeit als sein Seinsort ist – ja, ob die, ob unsere Wirklichkeit überhaupt im emphatischen Sinne ist. Aus der Situation der Täuschung suchen Descartes und Calderón verschiedene Auswege. Descartes sucht ein fundamentum inconcussum von Realität überhaupt und findet es im Vollzug des cogito; aus ihm heraus scheint ihm auch die Existenz Gottes auf als desjenigen, der die Realität der Außenwelt verbürgt. In der Kohärenz der durch Gott verbürgten Evidenzien ist dann auch die Wachwirklichkeit gegen die Welt des Traumes verbürgt. Bei Calderón besteht die Ent-Täuschung nicht in einer Aufhebung eines Zwiespaltes hin zu einer frisch gewonnenen kriteriengestützten Eindeutigkeit der kohärenten Außenwelt, sondern in der Aufhebung der Täuschung der Eindeutigkeit der Welt.48 Die Erkenntnisvollzüge, die bei Descartes zur Stützung der Wirklichkeit dienen (Klarheit und Evidenz), reichen hier nicht aus; die Situation, in der Segismundo sich sieht, ist so inkohärent und labyrinthisch,49 dass er die Überzeugung gewinnt, dass das Leben Traum ist. Das cartesische Kriterium wendet sich hier gewissermaßen gegen seinen Zweck, denn dass ein Traum klar und distinkt sein kann, invalidiert für Segismundo die 48 RIVERA DE ROSALES (Anm. 29), S. 48, spricht von einem „desengaño metódico“. 49 Als Labyrinth („confuso laberinto“) wird durch Rosaura bereits in der ersten Szene der Ort des Dramas bezeichnet: VS (Anm. 29), I, 6; 5.

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Klarheit und Deutlichkeit im Ganzen. Die Kohärenz der Taten und des Erinnerten ist hier auch kein Kriterium, da sie – immer in der ratio von La vida es sueño – die Traum-Wirklichkeit-Grenze überschreitet. In der doppelten Inszenierung des Dramas ist zwar der Traum auch fingiert, aber diese Fiktion wird einerseits immer wieder selbst überboten durch die übersteigende Botschaft der Traumhaftigkeit des ganzen Daseins, wohinein der Zuschauer durch die suggestive Inszenierung eingeschlossen wird. Dass die Welt nicht nur nicht ist (oder nicht ganz das ist), was sie scheint, ja nicht nur nicht ist, sondern dass die Welt als Ganze gewissermaßen aufgehoben ist in einem Traum, aus dem zu erwachen hier prinzipiell nicht möglich ist, weil er den Seinsstatus des Menschen ausmacht, macht sie zu einem Verweis auf etwas Anderes, dem man nur handelnd begegnen kann, nämlich Gott. Auf die Weise eines Dramas entwirft Calderón eine philosophische Weltanschauung; er inszeniert als existentielles Drama eine existentielle Zumutung an die Zuschauer, die diese nur auf die Weise des Dramas auf- und annehmen können: Man kann nur handelnd sich bewähren, da eine Erkenntnis unmöglich ist und nur handelnd etwas entsteht, das dann einem Einzelnen zurechenbar ist als eine Personalität über alle Traum- oder Realitätsebenen hinweg (diese Einsicht wiederum wird von Calderón performativ evoziert). Das Problem der Uneindeutigkeit der Welt wird also nicht im Diesseits (mithilfe des Jenseits) für dieses Diesseits in einer eindeutigen Wahrheit gelöst, sondern wird als falsch gestellt aufgelöst in Richtung einer Bedeutungshaftigkeit, die in dieser Realität nicht aufgeht. Diese wird verwirklicht im guten Handeln, denn dieses ist die tragende Verweisbrücke.50 Bei Calderón findet kein Raisonnement mit einem rationalistischen Ausgang wie bei Descartes statt, sondern ein Anfangsraisonnement, das sich als solches aufgibt, weil es seine Verlorenheit erkennt und sich in die Undurchschaubarkeit und den Verweischarakter der Welt (als Aufführung, als Traum) fügt. Dieser Traum hat kein vom ihm unterscheidbares Subjekt mehr, ebenso wenig wie die Rollen im Großen Welttheater. Er ist Geschehen, das im ‚Erwachen‘ auf eine andere Ebene übertritt. Real ist allein die Ewigkeit, in deren Angesicht die Wirklichkeit der Träumenden (und Spielenden) erst Bedeutung und dadurch geliehene Wirklichkeit erhält.

50 REGALADO (Anm. 29), Bd. 1, S. 400, betrachtet dies von der Seite des Schauspielers her: „El actor calderoniano conjuga dramáticamente el principio cartesiano cogito ergo sum en el sentido de cogito me cogitare: el representante se representa a sí mismo en el acto de representar.“

RAINER GOLDT

Die unsichtbare Stadt Kitež: Ein russischer Traum klandestinen Heils Viele Menschen glauben in ihrem Unverstand an den Traum. Aus einer altrussischen Handschrift1

Schon die Vita der ersten, 1071 kanonisierten russischen Heiligen Boris und Gleb schildert einen Traum. Boris, dem älteren der beiden Märtyrer, die sich 1015 den von ihrem Bruder Svjatopolk ausgesandten Mördern widerstandslos ergeben, um das Land vor einem Bruderkrieg zu bewahren, wird in der Nacht vor der Bluttat sein bevorstehender Tod geweissagt: „Es war ein gedankenschwerer Schlaf voll tiefen und bedrückenden Kummers; er träumte, daß er dem Leiden überantwortet und es ihm auferlegt sei zu dulden […].“2 Mit den Worten des Psalms 22,17 „Ja, Hunde umringen mich“ erwartet er anderntags die Häscher. Die Vitenikone eines unbekannten Meisters der Moskauer Schule aus der Mitte des 14. Jahrhunderts gestaltet in einer der Bildszenen diesen Traum: Ein schwarzer Hund beugt sich drohend über den Schlafenden.3 Berühmter noch ist das „trübe Traumbild“, dessen Fürst Svjatoslav im altrussischen Nationalepos „Lied von der Heerfahrt Igors“ (Slovo o polku Igoreve, ca. 1185–1187) ansichtig wird und das ihm vom Schlachtentod seiner beiden „Falken“ Igor und Vsevolod im Kampf gegen das turksprachige Nomadenvolk der Kyptschaken (russ. meist Polowzer) kündet: „Gegen Abend“ […] „lag ich auf bloßen Brettern, und man deckte eine schwarze Decke über mich; bläulichen Wein schöpfte man mir, darin Gift war. Und aus den leeren Köchern heidnischer Polowzer schüttete jemand schwere Zahlperlen mir auf die Brust und tat zärtlich mit 1

2

3

Slovar’ russkogo jazyka XI–XVII vv. Vyp. 26, Moskva 2002, S. 144. Vollständig lautet die Mahnung in der Fassung einer Handschrift aus dem Jahre 1649: „Mnogie čelovecy, nerazum’em, verujut v son, i v vstreč’ju, i v polaz, i v ptičej graj“ („Viele Menschen glauben in ihrem Unverstand an den Traum, ein Treffen, die Reihenfolge der Besucher [polaz] und an den Ruf der Vögel“). Der schwer zu übersetzende Terminus „polaz“ bezeichnet im Altrussischen den Aberglauben, Zeitpunkt und Reihenfolge von Besuchern an bestimmten Feiertagen besäßen prophetische Bedeutung. Die Erzählung vom Leiden der beiden heiligen Märtyrer Boris und Gleb und ihre Lobpreisung. In: O Bojan, du Nachtigall der alten Zeit. Sieben Jahrhunderte altrussischer Literatur. Hrsg. von HELMUT GRASSHOFF / KLAUS MÜLLER / GOTTFRIED STURM, Berlin (Ost) 41982, S. 86–105, hier S. 91 (Übersetzung von KLAUS MÜLLER). Boris und Gleb mit Szenen aus deren Leben. 2. Hälfte des 14. Jahrhunderts. Staatl. Tret’jakovGalerie, Moskau. Vgl. ALFREDO TRADIGO: Ikonen. Meisterwerke der Ostkirche, Berlin 2005 (Bildlexikon der Kunst 9), S. 345.

260

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mir. Aber oben auf meiner goldgedeckten Halle fehlte das Firstholz. Und die ganze Nacht seit Abend krächzten rauchgraue Raben […].“4

Ansonsten begegnen Traumdarstellungen in der altrussischen Literatur eher selten. Der Grund dafür mag in der Sorge angesichts heidnischer Wahrsagerei begründet sein, die sich häufig an Träume knüpfte: „Wahrlich, die Prophezeiung hat sich für uns erfüllt, als die Christen heidnischen Frevel, judäische Lüge und […] Weissagung aus Träumen erlernten“, warnt im 14. Jahrhundert der altrussische Sittenspiegel Smaragd (Izmaragd), später wesentliche Quelle des bis weit in die Neuzeit hinein maßgeblichen Hausbuches Domostroj.5 Die aus dem europäischen Mittelalter bekannte Verurteilung der Traumgläubigkeit als superstitio galt in besonderem Maße für Russland; Traumorakel spielten in heidnischen Kulten bekanntlich auch bei den Slaven eine bedeutende Rolle und wurden dementsprechend von der Kirche bekämpft. Der 1518 als Übersetzer vom Berg Athos nach Russland entsandte griechische Mönch Maksim Grek (ca. 1470– 1556), Bekannter und Bewunderer Savonarolas, sah sich angesichts des uferlosen moskowitischen Aberglaubens gar zu einer eigenen Mahnschrift genötigt, in welcher er „Traumgespinste“ als Einflüsterungen des Teufels geißelte.6 Das ambivalente mittelalterliche Verhältnis zum Traum spiegelt sich in der Lexik wider. Das Russische kennt für den Traum mehrere Bezeichnungen, deren semantische Felder in ihrer historischen Wandlung wieder einmal die Bedeutung der Begriffsgeschichte für die Geistesgeschichte unter Beweis stellen: mečta (im Altrussischen das „Wahn- oder Trugbild“, volkssprachlich „Gesicht, Gespenst, Sinnestäuschung durch höhere Gewalt“; im Neurussischen eher positiv konnotiert als „Wunschtraum“) bzw. greza („Wahn, Phantasie“; „Faseln“; im Neurussischen auch neutral „Traum, [meist unerfüllbarer] Wunschtraum“ → grezit’ – „im Schlaf reden“). Doch nicht jeder Traum beruht auf Sinnesverwirrung oder gar dem Wirken Satans. Von solchen Trugbildern zu unterscheiden sind seit jeher die somnia, Träume als „Gegenstand des Denkens“, in der Erzählliteratur geschieden von Visionen oder Erschei-

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Das Igor-Lied. Eine Heldendichtung. Der altrussische Text mit der Übertragung von Rainer Maria Rilke und der neurussischen Prosafassung von DMITRIJ S. LICHATSCHOW, Leipzig 1960, S. 40 f. „Poistine na nas proročestvo ispolnilos’, kogda christiane naučilis’ košunstvu jazyčeskomu, lži iudejskoj […] i gadaniju po snam.“ Slovo svjatogo Ioanna Zlatoustogo o christianstve. In: Domostroj. Hrsg. von VADIM KOLESOV / V. ROŽDESTVENSKAJA, S. Peterburg 1994, S. 299 f. (Literaturnye pamjatniki). Bei der Passage handelt es sich um eine Predigt des in der Ostkirche besonders verehrten Johannes Chrysostomos (russ. Ioann Zlatoust). „Naprasno ty, o zlejšij gubitel’ i vrag duš čelovečeskich, izobretatel’ vsjakogo bezzakonija, neprestanno smuščaeš’ menja nočnymi mečtanijami – to skorbnymi, to opjat’ radostnymi! Ili dumaeš’ imi prel’stit’ dušu moju i zastavit’ ee vnimat’ im, kak-by spravedlivym?“ Slovo VII. O prelesti sonnych mečtanij. In: [Maksim Grek:] Sočinenija Prepodobnogo Maksima Greka v russkom perevode. Čast’ pervaja. Nravoučitel’nye sočinenija, Svjato-Troickaja Sergieva Lavra 1910, S. 97.

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nungen.7 Auch Philosophie und Staatslehre greifen auf sie zurück, man denke nur an Ciceros Somnium Scipionis. Dieser Bedeutung entspricht im Russischen son (in der Doppelbedeutung von ‚Schlaf‘ und ‚Traum‘, wobei veščij son den weissagenden Traum wie etwa in der Josefserzählung bezeichnet). Davon abgeleitet verweist snovidenie als den somnia semantisch eng verwandtes Phänomen auf eine Prophezeiung oder auch Vision. Wenn nun der Dichter und Maler Maksimilian Vološin (1877–1932) mitten im Bürgerkrieg des Jahres 1919 die unsichtbare Stadt Kitež als „unerfüllbaren Traum“ (neosuščestvimyj son) eines geistigen und gerade deshalb wahren Russlands anruft,8 so klingt darin zugleich ein utopisches Moment an: Die der Überlieferung zufolge einst vor dem Mongolensturm durch Gottes Gnade auf den Grund des Svetlojar-Sees versunkene Stadt versinnbildlicht die viel beschworene ‚russische Idee‘ zu Zeiten ihrer vielleicht tiefsten Krise. Dazu gehört auch die Vorstellung, dass sich Stadt und Kloster am Tage der Wiederkunft Christi unversehrt aus den Fluten erheben werden. Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass eschatologische Stimmungen wie im 17. oder frühen 20. Jahrhundert zugleich immer auch Blütezeiten des Kitež-Mythos bezeichneten. So verdichtete sich für die russische Diaspora nach der Oktoberrevolution 1917 das untergegangene Russland im Bild Kitežs: „Für ihre unermesslichen Qualen//Sehne ich mich danach, die Rus’ errettet zu sehen“,9 heißt es in Elena Dvoržickajas Gedicht Die Stadt Kitež (Grad Kitež). Seltsamerweise besitzt das sagenumwobene Kitež konkrete topographische Koordinaten – der Svetlojar-See befindet sich in den jenseits der Wolga gelegenen Waldgebieten nordöstlich von Nižnij Novgorod. Somit ist er zugleich eine ostslavische Spielart individueller Inkubations- resp. Einweihungsträume, wie sie schon im Alten Testament Erwähnung finden (etwa 1. Sam 3,1–15): Vor allem zu Zeiten der Sommersonnenwende pilgern seit jeher Gläubige in der Hoffnung auf Teilhabe am Mysterium des Glockengeläuts, des Anblicks oder sogar Zutritts zum wahren Reich an das Seeufer. Der Untersuchung dieser beiden Facetten des möglicherweise bis in vorchristliche Zeit zurückreichenden Stoffs, nämlich seines utopischen Kerns als ‚Traum Russlands‘ und als Ort des Traums klandestinen Heils, ist vorliegende Untersuchung gewidmet. Die Grenzen sind fließend, ist doch mutatis mutandis auch der kollektive Traum „nichts anderes als eine Selbstabbildung des psychischen Lebensprozesses“, wie C. G. Jung schreibt: 7

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Vgl. JEAN-CLAUDE SCHMITT: Bildhaftes Denken. Die Darstellung biblischer Träume in mittelalterlichen Handschriften. In: Träume im Mittelalter. Ikonologische Studien. Hrsg. von AGOSTINO PARAVICINI BAGLIANI / GIORGIO STABILE, Stuttgart, Zürich 1989, S. 9–40, hier S. 10. MAKSIMILIAN VOLOŠIN: Kitež. In: Ders.: Sobranie sočinenij, T. I: Stichotvorenija i poėmy 1899– 1926, Moskva 2003, S. 279–281, hier S. 281. „Za bezmernye muki ee // Čaju Rus’ uvidat’ ja spasennoj“ (ELENA DVORŽICKAJA: Grad Kitež. In: Dies.: Grad Kitež, [San Francisco] 1950, S. 2). In der Prosa der Emigration findet sich dieses Motiv vor allem im Werk Ivan Šmelevs.

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Die Träume enthalten Bilder und gedankliche Zusammenhänge, die wir nicht mit bewußter Absicht erzeugen. Sie entstehen spontan, ohne unser Zutun, und stellen somit eine der Willkürlichkeit entzogene, psychische Tätigkeit dar. Der Traum ist daher eigentlich ein höchst objektives, sozusagen ein Naturprodukt der Psyche, weshalb man von ihm zum mindesten Hinweise und Anspielungen auf gewisse Grundtendenzen des seelischen Prozesses erwarten darf.10

Die Ausstrahlungskraft des in keiner einzigen mittelalterlichen Originalhandschrift belegten Stoffes ist eines der erstaunlichsten Phänomene der russischen Geistesgeschichte. „It would appear that no educated speaker of Russian can have escaped some contact with the legend of the ‚unvisible City of Kitež‘“,11 schreibt mit dem amerikanischen Historiker EDWARD L. KEENAN einer der bedeutendsten Kenner des russischen Mittelalters. Der russische Philosoph Nikolaj Berdjaev, nach seiner erzwungenen Emigration 1922 Wegbereiter des französischen Existentialismus, erklärte Kitež gar zum Archetypus der unentwegt nach metaphysischer Wahrheit strebenden russischen Seele.12 In der Tat begründet dieser Legendenkomplex, obwohl oder weil auf überlieferungsgeschichtlich dunklen Gründen ruhend, einen Nationalmythos, der seit der Spätromantik vor allem in Krisen- und Umbruchszeiten Künstler verschiedenster Stilrichtungen faszinierte: Das Wort Kitež existiert in der russischen kulturologischen Lexik als Symbol des Lichts, als Verkörperung eines nationalen Schönheitsideals, das dem menschlichen Blick unzugänglich bleibt und entweder für immer der Vergangenheit verhaftet oder aber jenseits der trivialen weltlichen Realität beheimatet ist.13

10 Carl Gustav Jung: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewussten. Sechste, revidierte Auflage Zürich / Stuttgart 1963, S. 18. 11 EDWARD L. KEENAN: An Iranian Culture Term on the Upper Volga: *Kantha-, Kitež, Kidekša, and Kitaj-gorod. In: Folia Slavica 2 / 1–3 (1978), S. 154–178, hier S. 158. 12 „V Rossii, v duše narodnoj est’ kakoe-to beskonečnoe iskanie, iskanie nevidimogo Kiteža, nezrimogo doma.“ NIKOLAJ BERDJAEV: Sud’ba Rossii. Opyt po psichologii vojny i nacional’nosti. In: Ders.: Filosofija svobody, Char’kov / Moskva 2002, S. 263–474, hier S. 280. 13 „Slovo Kitež prisutstvuet v otečestvennoj kul’turologičeskoj leksike kak nekij simvol sveta, voploščenie nacional’nogo ideala krasoty, nedostupnoj čelovečeskomu vzoru, to li navsegda ostavšejsja v prošlom, to li prebyvajuščej po tu storonu ploskoj zemnoj real’nosti.“ L[EV] ROZENBERG: Obraz grada Kiteža v russkoj kul’ture: K voprosu o formirovanii i osmyslenii nacional’noj simvoliki. In: Rossija i sovremennyj mir 3 (1993), S. 169–183, hier S. 169. Die besondere Bedeutung der Schönheit als religiös-philosophischer (und keineswegs ästhetischer) Kategorie im russisch-orthodox geprägten Denken braucht an dieser Stelle nicht eigens betont zu werden. Berühmt ist die in Dostoevskijs Roman Der Idiot (1868 / 69) dem Titelhelden Fürst Myškin zugeschriebene, aber nie direkt von ihm selbst vorgebrachte programmatische Äußerung „Schönheit wird die Welt erretten“ („Mir spaset krasota“). Vgl. vor allem das Gespräch mit dem tuberkulosekranken Ippolit im 3. Teil, Kap. 5 (F[EDOR] DOSTOJEWSKIJ: Der Idiot. Zweiter Band, Hamburg 1958 [Gesammelte Werke VIII], S. 69–71).

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Die eminente Bedeutung des Stoffes für die nationale Identitätsbildung ist sogar wissenschaftsgeschichtlich nachweisbar: So nahm 1981 der Nestor der russischen Mediävistik des 20. Jahrhunderts, DMITRIJ LICHAČEV, zwei zentrale Handschriften aus dem Umfeld der Kitež-Legende in die autoritative Quellensammlung Schriftdenkmäler der Literatur des alten Russlands. 13. Jahrhundert (Pamjatniki literatury drevnej Rusi. XIII vek) auf, obwohl keine der Handschriften vor dem 18. Jahrhundert nachweisbar ist. LICHAČEV begründete diesen ungewöhnlichen Schritt damit, dass sich bei der Schilderung von Tod und Untergang Jurij Vsevolodivičs und Kitežs „Überlieferungen niederschlugen, die ihren Ursprung zu Zeiten von Batus Feldzug nehmen“.14 Der historische Hintergrund des Kitež-Stoffes und seiner Quellen können an dieser Stelle nur in groben Zügen skizziert werden.15 Nach der Unterwerfung der Wolgabulgaren 1236 rüstete der mongolische Heerführer Batu Khan, Enkel Dshingis Khans, zu jenem Feldzug gegen Europa, der 1240 das Kiever Russland, die Kievskaja Rus’, unterwerfen und auf Generationen tributpflichtig machen sollte. Im Februar 1238 nimmt Batu nach kurzer Belagerung Vladimir ein und tötet die gesamte Familie des abwesenden Großfürsten Jurij (= Georgij) Vsevolodovič (1188–1238). In der nachfolgenden Schlacht am Sit’ wird Jurijs Heer völlig vernichtet, er selbst fällt im Kampf. Weitere Städte im Umkreis werden verwüstet, u. a. das nördlich von Nižnij Novgorod gelegene Gorodec mit seinem von Großfürst Andrej Bogoljubskij (ca. 1111–1174, ermordet) gestifteten Kloster. Im 16. Jahrhundert wird in der Jona-Einsiedelei bei Gorodec die für das Jahr 1164 beurkundete Klostergründung erstmals im hagiographischen Sinne dem seinerzeit noch gar nicht geborenen Jurij Vsevolodovič zugeschrieben. Zwischen 1609 14 „Pri pervoj časti, povestvujuščej o knjaze Georgii Vsevolodoviče, ubienii ego Batyem i razorenii Kiteža, otrazilis’ predanija, voschodjaščie ko vremenam Batyeva našestvija.“ Pamjatniki literatury drevnej rusi. XIII vek. Hrsg. von DMITRIJ LICHAČEV, Moskva 1981, S. 561. Lichačevs Textgestalt beruht auf der historisch-kritischen Erstpublikation durch V[ASILIJ] KOMAROVIČ: Kitežskaja legenda. Opyt izučenija mestnych legend. Trudy otdela drevnej literatury, Moskva, Leningrad 1936, S. 158–173. 15 Die bis heute grundlegende Studie zur Überlieferungsgeschichte, der auch der nachfolgende Überblick in weiten Teilen verpflichtet ist, bietet immer noch KOMAROVIČ (Anm. 14). VASILIJ LEONIDOVIČ KOMAROVIČ (1894–1942) stammte selbst aus der weiteren Umgegend des SvetlojarSees, nämlich aus Voskresensk im damaligen Gouvernement Nižnij Novgorod, wo er am 1. Januar 1894 in der Familie eines Arztes geboren wurde. Vgl. zu seiner Biographie Slovar’ russkogo jazyka XI–XVII vv. Spravočnyj vypusk, Moskva 2001, S. 124 f. DMITRIJ LICHAČEV (1906–1999) setzt KOMAROVIČs Hungertod während der Blockade Leningrads in seinen leider nur auszugsweise übersetzten und registerlosen Lebenserinnerungen ein ergreifendes Denkmal (D[MITRIJ] LICHAČEV: Izbrannoe. Vospominanija, S. Peterburg 2000, S. 461 f., 466 f., 491–493). LICHAČEV publizierte später Auszüge aus KOMAROVIČs letzten, bereits auf dem Sterbebett verfassten Studien: „[…] niemand hätte geglaubt, dass dieses Kapitel von einem Sterbenden verfasst wurde, der kaum die Kraft besaß, einen Bleistift in Händen zu halten, von einem Hungers Sterbenden! Aber er spürte den Tod: Jede Anmerkung trägt ein Datum! Er zählte die Tage. Und er sah Gott: Seine Anmerkungen tragen nicht nur die Daten, sondern auch die christlichen Feiertage“ (S. 493).

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und 1613 entsteht eine neue Fassung einer Jurijs Schicksal gewidmeten hagiographischen Chronik der Bluttat (Lětopisec ob ubienii), eine rasch Verbreitung findende gewagte Kompilation, die den wahrscheinlich erst nach dem Feldzug der Goldenen Horde gegen das Großfürstentum Moskau 1408 entstandenen Svetlojar-Stoff erstmals mit dem Schicksal des Großfürsten von Vladimir verknüpfte. Damit nicht genug gab die Chronik diesen – genealogisch unzutreffend, aber lokalpolitisch geschickt – als Urahn des Moskauer Zaren der Jahre 1606–1610, Vasilij Šujskij (1552–1612), aus.16 Als Nachfahre des Suzdaler und Gorodecer Fürsten Vasilij Kirdjapa war Šujskij eine der schillerndsten Persönlichkeiten der nach dem Erlöschen der Rurikiden-Dynastie im Jahre 1598 angebrochenen sog. ‚Zeit der Wirren‘ (Smuta) gewesen, ehe er in polnischer Kerkerhaft umkam. Die Mystifikation trug Früchte – 1645 wurde Jurij Vsevolodovič durch die Russisch-Orthodoxe Kirche als Märtyrer kanonisiert. Danach wird die Chronik einer neuerlichen hagiographischen Bearbeitung unterzogen und gelangt in dieser Form in den 1839 von der Altgläubigengemeinde Gorodec zusammengestellten Uvarov-Kodex, eine der wichtigsten Quellen für die spätere Popularisierung des Stoffes. Konnte dieser Strang der Mythenbildung durch KOMAROVIČ schon 1936 überzeugend nachgewiesen werden, so besteht ein bis heute kontrovers diskutiertes toponymisches Problem. Sowohl mündliche als auch schriftliche Überlieferungen erwähnten zwei Städte, Groß-(Velikij) und Klein-(Malyj) Kitež. Als letzteres machte KOMAROVIČ die unweit des Svetlojar-Sees gelegene Stadt Gorodec aus, seiner Auffassung nach eine Gründung des bei Suzdal’ gelegenen vorchristlichen Kidekša (Kideš), die beide 1237/38 von der Goldenen Horde erobert und zerstört worden waren; Gorodec verwaiste 1408 nach einer erneuten Verwüstung durch Khan Edigej vorübergehend sogar völlig. Am Ende des 15. Jahrhunderts verliert das Fürstentum Suzdal’-Novgorod seine Unabhängigkeit und die alte Verbindung von Kidekš und Gorodec geht im Bewusstsein der Bevölkerung verloren; der alte Name Kidekš könnte damit allmählich auf Gorodec übertragen worden sein.17 Eine quellenkritische Einschätzung der Überlieferungssituation gestaltet sich demnach ausgesprochen unsicher. Neben der genannten Chronik der Bluttat existieren drei Handschriftenkomplexe, die den Kitež-Mythos begründen. Zentrale Bedeutung kommt dabei dem nach altrussischer Zeitrechnung angeblich unmittelbar nach dem Feldzug 16 Das Buch, Chronik genannt (Kniga glagolemaja lětopisec) wird diese Genealogie in entgegengesetzter Richtung vervollständigen, indem es Fürst Jurij als unmittelbaren Nachfahren des heiligen Vladimir bezeichnet, der 988 als Großfürst von Kiev das Christentum als Staatsreligion ausrief. – Zu Persönlichkeit und Überlieferungsgeschichte Jurij Vladimirovičs vgl. zuletzt Put’ k gradu Kitežu. Knjaz’ Georgij Vladimirovič v istorii, žitijach, legendach. Hrsg. von ALEKSEJ SIRENOV, S. Peterburg 2003. 17 Kritisch zur Auffassung KOMAROVIČs vgl. KEENAN (Anm. 11), S. 159–165, der Gorodec als Groß-Kitež vermutet und auf Grund sprachhistorischer Befunde mehrere Thesen zur Herkunft des Namens erwägt, die bis zum Moskauer Kitaj-gorod reichen (S. 171).

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Batus abgefassten Buch, Chronik genannt. Verfasst am 5. Tag des Septembers im Jahre 6646 (Kniga glagolemaja lětopisec. Pisan v lěto 6646 sentjabrja v 5 den’) zu, das erstmals nach der Handschrift des Sammlers und Heimatforschers STEPAN MELEDIN 1862 in den „Beilagen“ zur vierten Ausgabe der Lieder aus der Sammlung Petr V. Kireevskijs von PETR BESSONOV (1828–1898) veröffentlicht wurde18 und in zahlreichen Abschriften nachgewiesen ist.19 Schon BESSONOV bemerkte den kompilatorischen Charakter des Textes, der die kriegerischen Ereignisse sowie den Untergang von Klein- und Groß-Kitež schildert und dabei auf die Chronik der Bluttat zurückgreift. In biblischer Tradition wird der Einfall der Goldenen Horde als Strafgericht Gottes gedeutet: „Durch Gottes Fügung überzog unserer Sünden wegen der ruch- und gottlose Zar Batyj [Batu, RG] die Rus’ mit Krieg“.20 Neu gegenüber der Chronik der Bluttat und konstitutiv für den Mythos ist die wundersame Rettung Kitežs. Zwar enthält die Handschrift noch keine Visions- oder Traumschilderung, verweist aber bereits auf das Wiedererstehen Kitežs am Jüngsten Tage: „Unsichtbar wird Kitež bleiben bis zum Tage der Wiederkehr Christi.“21 Eine Reihe auffälliger Interpolationen – die Herrschaft des Antichrist, die radikale Absage an irdische Macht, Zitate aus der Offenbarung des Johannes und vor allem das wieder18 Pesni, sobrannye P. V. Kireevskim. Priloženie k 4-mu vypusku. Č.1, Vyp. IV, Moskva 1862, S. CXVIII–CXX. KIREEVSKIJ führt die Schreibungen Kidiš, Kidaš und Kitiž an. Der Heimatforscher STEPAN MELEDIN (1786–1865) hatte knapp 20 Jahre zuvor in der von dem renommierten slavophilen Historiker MICHAIL POGODIN herausgegebenen Monatsschrift Moskvitjanin erstmals auf die Existenz der Kitež-Legende hingewiesen und dabei sowohl mündliche als auch schriftliche Quellen zu Rate gezogen. Er nennt Kitež ein unterirdisches „heiliges Kloster“ („svjataja obitel’“); vgl. STEPAN MELEDIN: Kitež na ozere Svetlojar. In: Moskvitjanin [1843], č. 6, Nr. 12, S. 507–511, hier S. 510. Liest man MELEDINs Text, der die örtlichen Erzählungen keineswegs unkritisch referiert, indem er etwa die Initiationsstufen als mitunter abhängig von den Gaben an die örtlichen Einsiedler beschreibt, so wird wieder einmal deutlich, wie häufig sich auch in der Provinz aufklärerisches Gedankengut – MELEDIN stiftete unter großen persönlichen Opfern die erste öffentliche Bibliothek seiner Heimatstadt Semenov – und slavophiles Mythenstudium überlagerten. Von Anfang an kamen Zweifel an der Authentizität der Handschriften auf, die zunächst nicht etwa von der akademischen Philologie, sondern der offiziellen orthodoxen Kirche vorgebracht wurden, sicherlich auch, um der zunehmenden Anziehungskraft der Legende über Altgläubigenkreise hinaus zu begegnen. Auch spätere Autoren wie NIKOLAJ AŠUKIN oder der Priester und religiöse Schriftsteller SERGEJ DURYLIN gingen von der Fälschungsthese aus, hielten aber am religiösen Kern der Erzählung fest. Vgl. hierzu N[INA] SAVUŠKINA: Legenda o grade Kiteže v starych i novych zapisjach. In: Russkaja narodnaja proza, Leningrad 1972 (Russkij fol’klor XIII), S. 58– 76, hier S. 59 f. 19 Vgl. dazu die Übersicht bei KOMAROVIČ (Anm. 14), S. 24 f. 20 Im altrussischen Original: Popusčeniem božiim grěch radi našich priide na Rus’ voevati nečestivyj i bezbožnyj car’ Batyj (Kniga glagolemaja lětopisec. KOMAROVIČ [Anm. 14], S. 164 resp. Pamjatniki [Anm. 14], S. 216). 21 Im altrussischen Original: I ne vidim budet Bolšij Kitez’ daže i do prišestvija Christova. (Kniga glagolemaja lětopisec. KOMAROVIČ [Anm. 14], S. 165 resp. Pamjatniki [Anm. 14], S. 218).

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kehrende Thema der Flucht (begstvo) – weisen auf eine Autorschaft Altgläubiger, konkret: der radikalen priesterlosen Gemeinschaft der Begunen hin (wörtlich übersetzt „Läufer“, im Russischen beguny oder stranniki). Unabhängig von diesem Überlieferungskomplex entstand eine mündlich tradierte Svetlojar-Legende, die zunächst den Tatareneinfall Edigejs im Jahre 1408 zur Grundlage hatte. In den 80er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts wird diese sog. Zauzol’sker Erzählung (Zauzol’skaja povest’) mit der Überlieferung einer „verborgenen Stadt“ von eben diesen Begunen zusammen mit der Chronik der Bluttat zum Buch, Chronik genannt kompiliert. Die Analyse der Quellen, die dem utopischen Themenkreis des irdischen Paradieses entstammen, stützt diese Annahme. Dies gilt zuvörderst für die Erzählung über die verborgene Stadt Kitež (Povest’ i vzyskanie o grade sokrovennom kiteže). Angeblich 1251 verfasst und ebenfalls 1862 durch PETR BESSONOV erstmals publiziert, überträgt diese apokryphe Legende das Sujet der Paradiesesvision auf Kitež. Die drastische Zeitpolemik stützt die Vermutung einer Bearbeitung durch Altgläubigenkreise: Und diese Stadt wurde unsichtbar und behütet durch die Hand Gottes […]. Unsichtbar wurde die Stadt durch das Gebet und das Flehen derjenigen, die würdig und gerecht vor Ihm auf die Knie fallen, die nicht Leid noch Kummer durch das Tier des Antichrist erfahren. Allein um uns trauern sie Tag und Nacht, um unseren und unseres ganzen Moskauer Staates Abfall vom rechten Glauben, denn in ihm herrscht der Antichrist und all seine Predigten sind falsch und unrein. 22

Der nach Kitež Fliehende (im Original: běža, erneuter Verweis auf die Begunen) gleicht dem Gerechten, der „sich vor der Hure Babylon, dieser dunklen Welt voller Verworfenheit rettet, wie es der heilige Johannes in seinem Buch der Offenbarung über die letzten Zeiten geschrieben hat.“23 Zahlreiche Verweise auf die Bibel und die Kirchenväter belegen, dass es sich hier auch um ein Dokument der Selbstlegitimation handelt: Kitež, Arche der Gerechten, wird zum Symbol altgläubiger Marginalität erhoben. Nach dem Schisma (raskol) der orthodoxen Kirche 1666/67 und dem Märtyrertod ihres geistlichen Oberhaupts Avvakum 1682 dem Anathema anheim gefallen und gesellschaftlich stigmatisiert, hatten sich die rasch in verschiedene Gruppierungen zerfallenden Gegner der Nikonschen Reformen in unzugängliche Waldgebiete wie den 22 Im altrussischen Original: I sej grad Bolšij Kitež’ nevidim byst’ i pokroven rukoju božieju […] i nevidim byst’ po ich moleniju i prošeniju, iže dostojně i pravedně tomu pripadajuščich, iže ne uzrit skorbi i pečali ot zvěrja antichrista. Tokmo o nas pečalujut den’ i nošč’, o otstuplenii našem, vsego gosudar’stva moskovskogo, jako antichrist car’stvuet v nem i vsja zapovědi ego skvernaja i nečistyja. (Povest’ i vzyskanie o grade sokrovennom Kiteže. In: KOMAROVIČ [Anm. 14], S. 171 resp. Pamjatniki [Anm. 14], S. 224). 23 Im altrussischen Original: Běža bo toj podoben semu duchovno beža ot bludnicy vavilonskija temnyja i skvernyja mira sego, jako že svjatyj Ioann Bogoslov vo Otkrovenii, knigi svoeja, napisa o poslědnem vremeni. (In: KOMAROVIČ [Anm. 14], S. 168 resp. Pamjatniki [Anm. 14], S. 220).

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Svetlojar-See zurückgezogen und kultivierten ein sich in epidemischen Selbstverbrennungen entladendes eschatologisches Denken. Das Verschwinden aus einer als zutiefst sündhaft erachteten Welt prägte ihr Selbstbewusstsein, das zugleich Endzeitbewusstsein war. Diese Spaltung der russischen Gesellschaft Ende des 17. Jahrhundert fällt in eine geistesgeschichtlich entscheidende Wende, die in Europa mit markanten Neuorientierungen verbunden ist: historischer Bibelkritik, moderner Naturwissenschaft und säkularem Naturrecht. Mit den Altgläubigen ist derjenige Teil der russischen Bevölkerung benannt, der sich diesen Elementen der Moderne am radikalsten entzieht. Die zweite Quelle bricht als Paradiesesvision mit dem apokalyptischen und zeithistorischen Kontext. Das angeblich 1702 verfasste Sendschreiben eines Sohnes an den Vater aus einem verborgenen Kloster (Poslanie k otcu ot syna iz onago sokrovennago monastyrja), das der Schriftsteller und Erforscher der Altgläubigen Pavel Mel’nikovPečerskij erstmals 1864 veröffentlichte,24 gibt sich als Brief eines Sohnes an seine Eltern und seine Frau aus und berichtet, dass er nicht gestorben sei: Ich lebe in einem irdischen Reich, mit heiligen Vätern an einem ruhigen Orte. Wahrlich, meine Eltern, es ist ein irdisches Reich. Hier sind Einkehr, Stille, Fröhlichkeit und geistige, nicht körperliche Freude. Hier sind die heiligen Väter […] und von ihren Lippen steigt ein unablässiges Gebet zu Gott, dem Herrn, empor wie wohlriechender Weihrauch.25

Kitež wird hier erstmals im Sinne des altgläubigen, gleichfalls aus dem Umkreis der Begunen stammenden Belovod’e-Stoffes als apokryphe Paradiesesvision im Sinne eines Himmlischen Jerusalem gedeutet.26 Der explizite zweifache Hinweis auf das 24 Hier zitiert und übersetzt nach dem Text in: Pavel Mel’nikov [Andrej Pečerskij]: Očerki popovščiny. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Izdanie vtoroe. T. VII, S. Peterburg 1909, S. 3– 375, hier im Fußnotentext S. 26 f. – Mel’nikov-Pečerskij (1818–1883) war als Sonderbeauftragter des Innenministeriums ursprünglich mit der Kontrolle und Eindämmung des Altgläubigenwesens beauftragt gewesen und wurde schließlich zu einem ihrer kundigsten Chronisten. 25 Im altrussischen Original: Az živu v zemnom carstvii, s otcy svjatymi, v městě pokojně. Poistině, roditeli moi, carstvo zemnoe. I pokoj, i tišina, i vesel’e, i radost’ duchovnaja, a ne tělesnaja. Sii bo svjatii otcy […] i ot ust ich neprestannaja molitva k otcu nebesnomu, jako fimiam blagouchannyj (Poslanie k otcu ot syna iz onago sokrovennago monastyrja. In: Mel’nikov [Anm. 24], S. 26 f.). 26 Das Land der „Weißen Wässer“, wohl den „Gewässern weiß wie Milch“ der Apokryphen nachempfunden, soll sich im Osten, am Ende der Welt, befunden haben und Heimstätte verfolgter Christen aller Länder gewesen sein. Eine weltliche Macht existiert nicht, das Gesetz Gottes regelt das friedliche Leben in dem mit Fruchtbarkeit gesegneten Landstrich, der noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts russische Siedler zum Aufbruch gen Osten, u. a. in die Grenzgebiete Tibets und Chinas, zu bewegen vermochte. Vgl. EMANUEL SARKISYANZ: Russland und der Messianismus des Orients. Sendungsbewusstsein und politischer Chiliasmus des Ostens, Tübingen 1955, S. 60; LÉONID HELLER / MICHEL NIQUEUX: Geschichte der Utopie in Russland. Aus dem Französischen von ANNE HARTMANN. Hrsg. von MICHAEL HAGEMEISTER, Bietigheim-Bissingen 2003, S. 45 f. Zur Beziehung Kitež – Jerusalem unter besonderer Berücksichtigung von Vladimir Bel’skijs Opernlibretto für Rimskij-Korsakovs Legende von der unsichtbaren Stadt Kitež und der Jungfrau

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„irdische Reich“ (zemnoe carstvie) rückt das Sendschreiben in den Kontext des Schrifttums über ein Paradies auf Erden,27 wobei sicherlich auch die palamitischen Debatten jener Zeit zu berücksichtigen sind, die über den Berg Athos nach Russland eindrangen. Hinsichtlich des Paradieses ging es um die Frage, ob es noch auf Erden existiere, Gottes Werke also unverweslich (netlěnnye) seien, oder ob es nach der Sintflut nur noch als Objekt der Schau spirituell Auserwählter zugänglich sei.28 Anhand altrussischer Bearbeitungen der Apokryphen lassen sich Auswirkungen des Disputs beobachten, die sowohl für die Traumproblematik als auch das Kitež-Thema von Interesse sind. So fällt in einer erstmals 1930 von VJAČESLAV RŽIGA publizierten altrussischen Version des Apokryphs über Makarios von Rom, die lediglich in einer Abschrift vom Ende des 17. Jahrhunderts nachweisbar ist, der Paradiesesbesuch zweier Novgoroder Mönche ins Auge, der in früheren Bearbeitungen fehlte und an die Schilderung im Sendschreiben eines Sohnes an den Vater (Anm. 24) erinnert. Der Erzähler lässt die schlafenden (spjaščich) Mönche wieder in ihrer Novgoroder Klosterzelle erwachen, aus der sie angeblich vor langer Zeit aufgebrochen waren, um jenen Ort zu finden, an dem „der Himmel die Erde berühre“ (gdě stolk[nulos’] nebo z zemleju) – das Paradies: Und durch den Willen Gottes kamen in dieser Nacht die Engel Gottes in die Hütte des Makarios, nahmen die beiden Mönche, und es trugen die Engel die schlafenden Mönche in das große Novgorod in ihr Kloster […]. Und die Mönche erzählten alles, wo sie gewesen waren und

Fevronija vgl. zuletzt MICHAIL V. PAŠČENKO: „Kitež“, ili russkij „Parsifal“: genezis simvola. In: Voprosy literatury 2008 (2), S. 145–182, hier S. 165–170. 27 Zu diesem Thema liegt eine recht umfängliche Forschungsliteratur vor. Vgl. z. B. EVGENIJ TRUBECKOJ: „Inoe carstvo“ i ego iskateli v russkoj narodnoj skazke. In: Russkaja mysl’ 1923, Kn. I–II, S. 220–261 [auszugsweiser Nachdruck in Literaturnaja učeba 1990 (2), S. 100–117]; des weiteren URSZULA WÓJCICKA: Idea raju w piśmiennictwie staroruskim. In: Słowiane wschodni. Duchowość – mentalność – kultura. Kraków 1997, S. 25–30; VLADIMIR MIL’KOV: Cerkovnye, narodnye i antičnye predstavlenija ob inom mire v ich otnošenii k apokrifičeskomu obrazu raja. In: Drevnjaja Rus’. Peresečenie tradicij. Hrsg. von V. V. MIL’KOV / G. V. AKSENOVA / G. S. BARANKOVA u. a., Moskva 1997, S. 250–280. 28 MARCELLO GARZANITI: Das Bild der Welt und die Suche nach dem irdischen Paradies in der Rus’. In: Virtuelle Räume. Raumwahrnehmung und Raumvorstellung im Mittelalter. Akten des 10. Symposiums des Mediävistenverbandes, Krems, 24.–26. März 2003. Hrsg. von ELISABETH VAVRA, Berlin 2005, S. 357–371, hier S. 370 f., deutet die Auseinandersetzung, die sich z. B. zwischen dem Erzbischof von Novgorod Vasilij Kalika und dem Bischof von Tver’ Fedor entspann, als Richtungskampf „zwischen einer wörtlichen und einer spirituellen Auslegung der Heiligen Schriften. Im Lichte der geistigen Schriftenauslegung erhielt die Literatur über die Suche nach dem irdischen Paradies eine neue Bedeutung. Die Suche nach dem Paradies kann so leicht zu einer Metapher der mönchischen Erfahrung werden, sowohl der zenobitischen Erfahrung als auch der eremitischen. Diese Vergeistigung des christlichen Lebens, die sich immer mehr mit der hesychastischen Mystik identifiziert und von einer stark eschatologischen Ausrichtung begleitet ist, lenkte vom Wissen über die äußere Welt ab.“

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wie sie durch Gottes Willen in jener Nacht schlafend aus der Einsiedelei von Makarios von Rom zwanzig Meilen vom Paradies Gott hierher gebracht habe.29

In früheren Variationen hatte Makarios den Aufenthalt im Paradies ausgeschlossen, da kein Mensch, im Fleische und aus der Sünde geboren, diesen Ort zu Lebzeiten erreichen könne. Somit kreuzen sich in der Überlieferungsgeschichte des Kitež-Stoffes zwei geistesgeschichtliche Linien, die jeweils auf ihre Weise einen Aspekt des Traum-Themas repräsentieren: Kitež als irdisches Paradies, als ‚Traum Russlands‘ im Sinne Vološins und Berdjaevs einerseits und als Arkanum eingeweihter, spirituell begnadeter Auserwählter andererseits. Diesen beiden Motivsträngen liegt ein gemeinsamer, spezifisch russischer eschatologischer Kontext zu Grunde, diente doch die Gegend um den Svetlojar-See den Begunen seit den 80/90er Jahren des 18. Jahrhunderts als Rückzugsgebiet. Diese Sekte gehörte zu den radikalen priesterlosen Altgläubigengemeinschaften, deren Angehörige vor allem in den ausgedehnten Waldgebieten Nordrusslands und jenseits der Wolga lebten. Sie verweigerten Pässe und Geld, da sie die staatlichen Embleme als Siegel des Antichrist betrachteten: Das Gesetz betrachtet sie als Landstreicher […]. Sie meiden alle sesshaften Menschen, die in ihren Augen Häretiker und Diener des Antichristen sind […]. Wird einer von ihnen ergriffen, so gibt er sich als jemand aus, der „keine Erinnerung an die Herkunft“ hat […]. Das Leben der Stranniki erlaubt keine Ehe. Zeugen sie Kinder, […] so versuchen sie, sich ihrer auf jede erdenkliche Weise zu entledigen.30

Die eschatologischen Erwartungen der Altgläubigen waren durch die petrinischen Reformen nochmals beflügelt worden. Mel’nikov-Pečerskij erwähnt konkrete Voraussagen für das Jahr 1669, da der Schrift zufolge die Herrschaft des Antichrist, der nach dem Schisma zur Herrschaft gelangt war, nicht länger als zweieinhalb Jahre währen sollte. Die Gemeindemitglieder versammelten sich deshalb in ihren Refugien und nahmen voneinander Abschied; viele fasteten sich zu Tode. Auch berichtet er von Altgläu29 Im altrussischen Original: I božiim povelěniem v toj nošči angeli Gospodni prišed v chižicu Makarievu, i vzjaša dvu monachov, ponesoša angeli spjaščich monachov v velikoj Nov’’grad v ich manastyr’ […] I monasi raskazaša vse, gde est’ byli i kako božiim povelěniem v siju nošč’ spjaščich iz Makarievoj pustyni Rimljanina ot raju za dvadesjat’ poprišč’ sjudy Bog prines. Pověst’ o dvoju monachach v’ Nov’’grad. In: V[JAČESLAV] RŽIGA: Novaja versija legendy o zemnom rae. In: Byzantinoslavica. Sborník pro studium byzantsko-slovanských vztahů (1930). Ročník II, S. 374–385, hier S. 383. – Zum Apokryph über Makarios von Rom in der altrussischen Literaturgeschichte vgl. MARINA ALEKSEEVNA SALMINA: Apokrif o Makarii Rimskom. In: Slovar’ knižnikov i knižnosti drevnej Rusi. Vyp. I (XI – pervaja polovina XIV v.). Hrsg. von DMITRIJ LICHAČEV, Leningrad 1987, S. 41–43. 30 „Zakon presledoval ich kak brodjag […] Oni čuždajutsja vsech osedlych žitelej: te v glazach ich ėretiki, slugi antichristovy […] Esli ego schvatyvajut, on nazyvaetsja ‚nepomnjaščim rodstva’ […] Stranničeskaja žizn’ ne dopuskaet braka. Esli stranniki priživajut detej […] – to izbavljajutsja ot nich vsemi sposobami.“ VASILIJ V. ANDREEV: Raskol i ego značenie v narodnoj russkoj istorii. Istoričeskij očerk, Moskva 1870 [Photomechanischer Nachdruck Osnabrück 1965, S. 175 f.].

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bigen des Gebietes Nižnij Novogorod, die sich in Leichengewänder gehüllt in bestimmten Nächten unter Gesängen und Gebeten in ihre vorbereiteten Särge legten.31 Als nächstes barg die Jahreswende 1691/92 Gefahren, fiel sie doch mit dem Jahr 7200 byzantinischer Zeitrechnung zusammen. Zuvor hatte die Umstellung von der alexandrinischen zur byzantinischen Zeitrechnung ohnehin kalendarische Endzeitspekulationen befördert, die sich aber rasch auch auf Interpretationen des julianischen Kalenders ausdehnten. Als Peter der Große 1699 von seiner Auslandsreise zurückkehrte und sein Reformwerk u. a. mit der Kalenderreform zum 1. Januar 1700 begann, musste er geradezu als Inkarnation des Antichrist erscheinen: Dem apokalyptischen, die Zahl des ‚Großen Tiers‘ aus der Offenbarung des Johannes enthaltenden Jahr 1666 wurden die Lebensjahre Jesu Christi hinzugezählt, das Ende aller Tage auf die Wiederkehr des unheilvollen Kräften dienenden Zaren bestimmt. Handschriftlich verbreitete Endzeitvisionen traten neben gedruckte, mitunter gefälschte Schriften der Kirchenväter über das Nahen des Antichrist und fanden weite Verbreitung in einer Gesellschaft, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine bis dahin ungekannte Ausdehnung privater Schriftkultur erfuhr:32 „Wir wollen leiden“, sagen die Altgläubigen […]. Sie vereinen sich in ihren Hütten, in ihren Siedlungen und zünden sie an. Oder sie verschwinden in den Wäldern. Sie sind öffentlich verflucht samt ihrem heiligen Haupt. Was brauchen sie Priester? Sie warten auf das Unfaßbare. In ihnen redet der Geist von Erlösung, der gänzlichen Umwandlung der Welt.33

Besitzt nun der Topos des Wassers eine eigenständige Bedeutung, ist er vielleicht sogar konstitutiv für die Traum- und Visionsthematik? Auch die Poetik des Traumes erschafft sich ja ihre eigenen Landschaften und Räume, wobei Wasser, namentlich Seen eine besondere Rolle spielen: Le lac, l’etang, l’eau dormante, par la beauté d’un monde reflété, éveillent tout naturellement notre imagination cosmique. Un rêveur, près d’eux, reçoit une bien simple leçon pour imaginer le monde, pour doubler le monde réel par un monde imaginé […]. Les reflets invitent ainsi tout rêveur de l’eau dormante à l’idéalisation.34

31 Vgl. Mel’nikov (Anm. 24), S. 17–19. 32 Vgl. GABRIELE SCHEIDEGGER: Endzeit. Russland am Ende des 17. Jahrhunderts, Bern, Berlin u. a. 1999 (Slavica Helvetica 63), S. 32–35. 33 REINHOLD SCHNEIDER: Das Kreuz im Osten. In: Ders.: Erbe und Freiheit, Köln, Olten 1955, S. 187–234, hier S. 217. Obwohl die Selbstverbrennungen unter den Altgläubigen durchaus umstritten waren, gehen Historiker von bis zu 20 000 Opfern aus. Vgl. DMITRIJ IVANOVIČ SAPOŽNIKOV: Samosožženie v russkom raskole (so vtoroj poloviny XVII veka do konca XVIII). Istoričeskij očerk po archivnym dokumentam, Moskva 1891 [Reprint Westmead, Farnborough, Hants. 1971]; des weiteren SCHEIDEGGER (Anm. 32), S. 41–43; HELLER / NIQUEUX (Anm. 26), S. 37, nennen die Altgläubigengemeinschaften „Brutstätten aller Arten von volkstümlichen, konservativen oder radikalen Utopien“. 34 GASTON BACHELARD: La poétique de la rêverie. Quatrième édition, Paris 1968, S. 170 f.

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Als „Prinzip des Undifferenzierten und Virtuellen, Basis jeder kosmischen Erscheinung“ gehört das Wasser zu den archetypischen Bildern, symbolisiert es doch „die Ursubstanz, aus der alle Formen entspringen und in die sie zurückkehren, durch Rückbildung oder Kataklysmus“.35 Auf den ersten Blick erscheint Kitež gerade durch seinen Bezug zur Flutsymbolik als russische Variation des von Platon überlieferten Atlantis-Stoffs, wie er später im bretonischen Ys oder im germanischen Vineta begegnet, das zudem wie Kitež von Zeit zu Zeit sein Glockenläuten vom Meeresgrund herauf erklingen lässt. Im Unterschied zu all diesen Orten versank Kitež jedoch nicht zur Strafe, sondern zur Errettung seiner Bewohner, die auch keineswegs verweichlichte Sybariten waren. Das Moment der Strafe bezieht sich umgekehrt auf die von der Flut Verschonten, die den als göttliche Mahnung gesandten heidnischen Heerscharen zum Opfer fielen. Kitež ist somit Refugium antediluvianischen Daseins, das unter bestimmten Voraussetzungen aktualisiert werden kann.36 Gerade diese Affinität zum in Russland seit jeher populären Motiv des verborgenen Reichs ließ den Kitež-Stoff geradezu prädestiniert für eine Allegorie der Altgläubigenexistenz erscheinen; ihr hat er seine Verschriftlichung und anschließende literarische Karriere im eigentlichen Sinne zu verdanken.

35 MIRCEA ELIADE: Die Religionen und das Heilige. Elemente einer Religionsgeschichte, Salzburg 1954, S. 217. 36 Die aus der Sintflut der Genesis oder der in Ovids Metamorphosen eingegangenen DeukalionSage überlieferte Errettung eines Einzelnen stellt ein allenfalls vages strukturelles Bindeglied dar. Dem Kitež-Stoff fehlt zudem ein entscheidendes Moment der Sintflut, nämlich die Ätiologie einer neuen Ordnung im Sinne JAN ASSMANNs: Der Mensch erscheint in der Sintflut als „problematisches Geschöpf, das die ursprüngliche Schöpfungswelt aus dem Gleichgewicht gebracht und die notwendige Korrektur entweder nur verursacht oder geradezu verschuldet hat. Diese Nachbesserung bestand in einer fast vollständigen Vernichtung der Menschen und der Einführung einer neuen Weltordnung, die künftige derartige Konflikte für immer verhindern sollte. Der Sinn des Mythos besteht in der Ätiologie dieser neuen Ordnung.“ (JAN ASSMANN: Urkatastrophen und Urverschuldungen. In: Sintflut und Gedächtnis. Erinnern und Vergessen des Ursprungs. Hrsg. von MARTIN MULSOW / JAN ASSMANN, München 2006, S. 13–21, hier S. 13.) Kitež realisiert umgekehrt die Ätiologie der alten Ordnung, ist doch die neue Schöpfung die verurteilenswerte – das antichristliche Reich Batus oder, in der späteren Umdeutung durch die Altgläubigen, der Moskauer Zaren. Die meisten antiken Sintflutsagen entbehren im Übrigen einer Theodizee nach dem Muster der aitiologischen Sagen (Natursagen). „Es fehlt nämlich sehr oft die typische Beschränkung der Überlebenden auf einen auserwählten Einzelnen, ein Paar oder wenigstens eine einzelne Sippe, ein Punkt, in dem sich die Fluterzählungen der Griechen und Römer auch von den orientalischen Parallelsagen unterscheiden.“ (GIAN ANDREA CADUFF: Antike Sintflutsagen, Göttingen 1986 [Hypomnemata. Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben 82], S. 211.) Interessant immerhin, dass auch im Europa des 18. Jahrhunderts die Sintflut als „intensiv problematisierte Grenze“ (HELMUT ZEDELMAIER: Sintflut als Anfang der Geschichte. In: MULSOW / ASSMANN [wie oben], S. 253–261, hier S. 255) im Zeichen einer Neubewertung stand.

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Angesichts der Tatsache, dass Kitež auch in einem Hügel am Rande des Sees geborgen vermutet wurde oder sogar – unsichtbar – an dessen Ufer stehen soll, scheinen Zuschreibungen wie die des Svetlojar-Sees als „Taufbecken“ (kupel’) Russlands späteren Ursprungs zu sein.37 Primärmythologem bleibt die Unsichtbarkeit, nicht die Flutthematik. Erst Traum resp. Vision eröffnen dem Gerechten den Zugang zu dieser Welt. Als Archisem der Kitež-Legenden erweist sich das Motiv des Verbergens, das in der russischen Kulturgeschichte eine bis heute nicht gewürdigte Bedeutung besitzt – von den eingangs erwähnten ersten russischen Märtyrern, Boris und Gleb zur libereja, der sagenumwobenen verschwundenen Bibliothek Ivans III., bis hin zu verborgenen Zaren, der Aufgabe Moskaus und seiner „Selbstverbrennung“ 1812 (wie von Lev Tolstoj in Krieg und Frieden gedeutet) oder dem Weiterleben Aleksandrs I. als Starze Fedor Kuz’mič. Kitež spiegelt zudem die Haltung der Altgläubigen wider, die statt des Konfessionskriegs den Rückzug aus der Gesellschaft und soziale Unsichtbarkeit vorzogen. Insofern eröffnen Wasser und Traum die Möglichkeit eines Heraustretens aus der strukturierten Zeit der Geschichtlichkeit: „Die Wasser reinigen und erneuern, weil sie die ‚Geschichte‘ auslöschen und – wenigstens für einen Augenblick – die ursprüngliche Unversehrtheit wiederherstellen.“38 Vor allem Mel’nikovs weit ausgreifender Altgläubigenroman In den Wäldern (V lesach)39 deutete die Legende, der vor allem das 2. Kapitel des IV. Teils gewidmet ist, in diesem Sinne. Er gestaltet den Initiationsraum See im typisch synkretistischen Verfah37 Zur Lage der Stadt (in manchen Erzählungen auch nur das Kloster, vgl. SAVUŠKINA [Anm. 18], S. 74) vgl. u. a. KOMAROVIČ (Anm. 14), S. 6f., der von einer Altgläubigen des Jahres 1925 mit dieser Version berichtet, aber schon MELEDIN (Anm. 18), S. 507, schilderte 1843 die einhellige Überzeugung, die weitgehend einem Kloster gleichende Stadt befinde sich unter dem einzigen Hügel, der an den See grenze. Die von ihm aus mündlichen Überlieferungen angegebenen Jahreszahlen, sogar die ungefähren Maße der ehemaligen Residenz Kitež, decken sich im Übrigen recht genau mit den Angaben der Handschriften. Sergej Durylin gibt 1916 angebliche Erzählungen Einheimischer wieder, die das Badeverbot begründen: „Das Wasser [des Sees, RG] ist rein, buchstäblich wie in einem Taufbecken, in dem man die Säuglinge tauft: Wie sollen wir mit unseren Körpern, unseren zahllosen Sünden in eine solche Reinheit eindringen?“ Hier zitiert nach der Neuausgabe S[ERGEJ] N. DURYLIN: Skazanie o nevidimom grade-Kiteže. In: Ders.: Rus’prikrovennaja, o. O. [Moskva] 2000, S. 57. In solchen Zuschreibungen sind unschwer christianisierte Universalmythen zu erkennen, „Funktionen der Reinigung und der Neuschaffung zugleich.“ (MIRCEA ELIADE: Ewige Bilder und Sinnbilder. Vom unvergänglichen menschlichen Seelenraum, Olten, Freiburg i. Br. 1958, S. 190). Zum Kitež-Thema bei DURYLIN (1886–1954) vgl. T[AT’JANA] REZVYCH: „Iščuščij Grada“: neoplatoničeskie motivy v rabotach S. N. Durylina 1910-ch godov. In: ANNA REZNIČENKO (Hrsg.): S. N. Durylin i ego vremja. Kniga 1: Issledovanija, Moskva 2010, S. 282–298. 38 ELIADE (Anm. 35), S. 225. 39 Die Publikation erfolgte zunächst 1871–1874 in der Zeitschrift Russkij vestnik, 1875 als Buchfassung, die schon kurze Zeit später in der Reihe Romanmagazin des Auslandes von L. V.D. OELSNITZ als „nach dem Original“ bearbeitete Fassung in deutscher Übersetzung erschien (In den Wäldern. Russischer Volksroman aus dem Leben der Altgläubigen, Berlin 1878).

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ren der Moderne als sowohl heidnisches wie christliches Mysterium, vermittelt allerdings nicht durch die homogene Instanz des auktorialen Erzählers, sondern das polyphone Stimmengewirr mitunter durchaus zweifelhafter ‚Eingeweihter‘, die er in diesem Kapitel zu Wort kommen lässt. Dieses Verfahrens der Desavouierung des KitežMythos durch einen unreliable narrator, der zugleich als handelnde Figur auftritt, hatte sich Mel’nikov schon zuvor in seiner Erzählung Griša (Griša, 1861) bedient. Die fromme Kaufmannswitwe Evpraksija Gusjatnikova nimmt den dreizehnjährigen Streuner Griša auf, der nach dem Tod seines dem Trunk ergebenen Vaters verwaist war. Ein Begune namens Ardalion – der Namenspatron war bekanntlich römischer Schauspieler gewesen40 – schlägt den Jungen durch seinen Habitus als „Faster und Schweiger“ (postnik i mol’čal’nik) in seinen Bann. Ardalion schwärmt von Kitež, das der Junge nur durch absoluten Gehorsam und „Amputation des Willens“ (otsečenie voli) erreichen könne. Auf seine Weisung hin bestiehlt Griša die Witwe, die diesen Vertrauensbruch nicht überlebt. Die zur Legitimation eines banalen Verbrechens missbrauchte Vision Kitežs als eines Paradieses auf Erden weist gleichsam auf die utopischen Entwürfe des 20. Jahrhunderts voraus. Diesen Befund gilt es zu unterstreichen: Die neomythologische Verklärung Kitežs erfolgt keineswegs durch die frühen Chronisten und Autoren wie Meledin und Mel’nikov, sondern erst im Symbolismus. Für die Episodenhandlung seines Romans In den Wäldern am Svetlojar-See nun übernimmt Mel’nikov Elemente der verschiedenen Handschriften zum Kitež-Komplex, legt Details handelnden Personen in den Mund und verknüpft den Stoff mit christlichen Technologien des Selbst (Buße, Fasten, Weltentsagung, Schweigen als Voraussetzung mystischer Initiation). Das Mysterium des Glockenklangs ist jetzt weniger erfahrene Gnade denn hermetisches Arkanum. Dazu erweitert Mel’nikov die Paradiesesthematik und fügt den russischen Paradiesesvogel Alkonost hinzu, auf den übrigens auch in der erwähnten Erzählung von zwei Mönchen in Novgorod (Pověst’ o dvoju monachach v’ Nov’’grad) angespielt wird.41 Breiten Raum nehmen schon von KOMAROVIČ nachgewiesene vorchristliche, in die mündliche Legendentradition eingegangene Elemente ein, die natürlich in den Texten der Altgläubigen getilgt waren. Kalendarisch bedeutet dies die Konzentration auf die Sommersonnenwende und den mit ihr verbundenen Kult des Gottes Kupala, in dem sich in dieser Nacht Feuer und Wasser vereinigen. In den Bereich der vorchristlichen Mythologie gehören darüber hinaus die volksetymologische Herleitung des Seenamens Svetlojar von [Svetlyj] Jarylo, einem ostslavischen

40 Der Name ist im Russischen ausgesprochen selten und wird deshalb beinahe als Nomen appellativum wahrgenommen. F. M. Dostoevskij verleiht wohl deshalb in seinem Roman Der Idiot (1868 / 69) dem verschlagenen Sekretär des Generals Epančin, Gavrila Ivolgin, den Vatersnamen „Ardalionovič“, der ihn als Verstellungskünstler identifiziert. 41 Vgl. Pověst’ o dvoju monachach (Anm. 29), S. 383. Russ. „Alkonost“ geht etymologisch auf die Nymphe Alkyone zurück.

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Fruchtbarkeitsgott, der einstmals mit „Mutter-feuchte-Erde“ (Mat’ Syra Zemlja)42 den Menschen zeugte, und die Anspielungen auf chthonische Riten: das Ohr auf die Erde legen, das Hineinlauschen in den Leib der Mutter Erde. Es fehlt das eschatologische Motiv des Jüngsten Gerichts: Der Mythos wird zum Element individueller, hermetischer Initiation. Folgender Textauszug macht die kompilatorische Technik Mel’nikovs deutlich. Kursiv ausgezeichnet sind dabei Entlehnungen aus der Handschrift Pověst’ i vzyskanie o grade sokrovennom Kiteže (Erzählung von der verborgenen Stadt Kitež), fett Zitate aus Poslanie syna (Sendschreiben des Sohnes), unterstrichen in den Altgläubigenhandschriften nicht enthaltene Motive aus vorchristlichen Überlieferungen oder der altrussischen apokryphen Paradiesliteratur: „Am wichtigsten ist der Glaubenseifer“, begann der Greis zu sprechen. […] „Verharret in Schweigen, Orthodoxe: was auch immer ihr hören solltet, was auch immer ihr erblicken solltet, hütet es in euren Herzen und tut niemandem davon kund. Beginnt das heilige Ufer Svetlojars den Glaubenseifrigen zu schaukeln wie einen Säugling in der Wiege, so möge er im Geiste ein Gebet zu Jesus Christus43 sprechen und mit keinem Worte, mit keinem Seufzer Zeugnis ablegen. … Und wenn die Stunde anbricht, da die Seligen in Kitež die Morgenmesse zu singen anheben, werdet ihr den Klang der silbernen Glocken vernehmen. Ein voller, ergötzlicher Klang – auch nach einer Ewigkeit wird er dir nicht verleidet sein… Du aber liege still und stumm und denke an nichts Weltliches … […] Liege voller Glaubenseifer am Boden und rühre keinen Finger, höre auf zu atmen … Dann wirst du im See gleich einem Spiegel die ganze unsichtbare Stadt zu Gesicht bekommen: Kirchen, Klöster und Stadtmauern, fürstliche Paläste und Bojarenhäuser mit hohen Zinnen und Häuser aller Schichten … Auf den Straßen wirst du den Paradiesvogel Alkonost und wundersame Einhörner wandeln sehen, und an den Stadttoren stehen Löwen und zahme Drachen anstelle der Wachen …“44 42 „Die ‚Mutter-feuchte-Erde‘, ‚Mütterchen Russland‘ […] waren in der russischen Volksdichtung, in Sprichwörtern und Gebeten wie auch in der Vers- und Erzählkunst Russlands rekurrent und hatten – ergänzt durch die weiblich imaginierte Stadt (‚Mütterchen Moskau‘) und den großen weiblichen Fluss (‚Mütterchen Wolga‘) – wesentlichen Anteil nicht nur am russischen Weltbild, sondern auch am Selbstverständnis der russischen Menschen, und zwar unabhängig davon, ob sie der ungebildeten Bevölkerungsmehrheit angehörten oder der schmalen Schicht der Intelligenz.“ (FELIX PHILIPP INGOLD: Russische Wege. Geschichte – Kultur – Weltbild, München 2007, S. 60; zum Motiv der „Mutter-feuchte-Erde“ allgemein S. 59–68). 43 Im Original bei Mel’nikov in der Orthographie der Altgläubigen; auch um die Schreibung des Namens Jesu Christi war ja ein erbitterter Streit ausgebrochen. Im Übrigen ist die gesamte Ansprache des Greises mit Archaismen und volkssprachlichen Elementen durchsetzt. 44 „Pervoe delo – userdie, – stal govorit’ starik […] I v bezmovii prebyvajte, pravoslavnye: čto by kto ni uslyšal, čto by kto ni uvidel – slagaj v serdce svoem, nikomu ne povežd’. Stanet userdnogo svjatyj bereg Svetlogo Jara kačat’, aki mladenca v zybke, tvori myslenno molitvu Isusovu i ni slovom, ni vozdychaniem ne mogi o tom bližnim povedat’ … I egda priidet čas blažennym utrenju vo grade Kiteže peti, ulyšite zvon serebrjanych kolokolov… Gustoj zvon, malinovyj – vek slušaj, ne naslušaeš’sja … A leži nedvižno i bezmolvno, ničto že zemnoe v sebe ne pomyšljaja … Leži so userdiem, dvinut’ perstom ne mogi, dychan’e v sebe uderži … I togda v ozere, rovno v zercale, uzriš’ ves’ nevidimyj grad; cerkvi, monastyri i gradskie steny, knjažeskie palaty i bojarskie choromy s vysokimi teremami i doma raznych činov ljudej … A po ulicam, uvidiš’, Alko-

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Interessant in Hinsicht auf die Traumthematik ist vor allem das Schaukeln des Ufers, das der Vision vorausgeht und den Adepten in eine Art Trance versetzt, wie überhaupt viele der von Mel’nikov geschilderten Anweisungen auffallend an autosuggestive Meditationstechniken erinnern. Es ist hier nicht der Ort, die erstaunliche Karriere des Kitež-Stoffs in Literatur und Malerei, von Nesterovs sphärischen Visionen bis hin zu Glazunovs Trivialmythen, im Einzelnen zu verfolgen, zumal vor allem für die literarische Stoffgeschichte eine Reihe wertvoller Studien vorliegt.45 Die Faszination Svetlojar lockte so verschiedene Autoren wie Prišvin, Korolenko, Klyčkov, Merežkovskij und Zinaida Gippius an die Ufer des entlegenen, landschaftlich wenig bemerkenswerten Waldsees. Und doch kulminiert die neomythologische Überlieferungsgeschichte des Kitež-Stoffs nicht in einem literarischen Werk, sondern in Nikolaj Rimskij-Korsakovs 1899–1904 entstandener und 1907 in St. Petersburg uraufgeführter Oper Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitež und der Jungfrau Fevronija (Legenda o nevidimom grade Kiteže i deve Fevronii). In Zusammenarbeit mit seinem Librettisten Vladimir Bel’skij ergänzte Rimskij-Korsakov den Kitež-Stoff um eine Liebesintrige, die er der Legende der als Heilige verehrten Fevronija von Murom entlehnte.46 Kitež ist bei Bel’skij und Rimskij-Korsakov die nast rajskaja ptica chodit i divnye edinorogi [edinorogi; ksl. / altruss. inъrokъ, inorokъ, so auch im russ. Physiologus; volksspr. indrik, Volksetymologie „Indien“, in der altrussischen Literatur Mythologem des Paradieses, RG]), a u gradskich vorot l’vy i ručnye drakony zamesto straži stojat.“ (Pavel Mel’nikov: V lesach. V dvuch knigach. Kniga vtoraja, [Moskva] 1958, S. 303). 45 Vgl. hierzu grundlegend SVETLANA ŠEŠUNOVA: Grad Kitež v russkoj literature: paradoksy i tendencii. In: Izvestija RAN. Serija literatury I jazyka 2005 (7–8), S. 12–23; Dies.: Legenda o grade Kiteže v kontekste simvolizma i postsimvolizma. In: Postsimvolizm kak javlenie kul’tury. Vyp. 4. Materialy meždunarodnoj konferencii. Hrsg. von I. A. ESAULOV, Moskva 2003, S. 57–63. – Zu einzelnen Autoren u. a. KATHARINE HODGSON: Kitezh and the Commune: Recurrent Themes in the Work of Ol’ga Berggol’ts. In: The Slavonic and East European Review 74 (1996), Nr. 1, S. 3– 18; UTE SCHOLZ: Zum Mythos der versunkenen Stadt Kitež in M. Prišvins Reiseskizzenzyklus U sten grada nevidimogo (Svetloe ozero). In: Anzeiger für slavische Philologie XXVIII / XXIX (2001), S. 113–128; O[L’GA] RUBINČIK: „Tam za ostrovom, za sadom…“ Tema Kiteža u Anny Achmatovoj. In: Anna Achmatova: Ėpocha – sud’ba – tvorčestvo. Krymskij Achmatovskij naučnyj sbornik. Hrsg. von V. P. KAZARIN, Vyp. 3 (2005), S. 46–66. 46 Vgl. hierzu u. a. L[IDIJA] KERŠNER: „Skazanie o nevidimom grade Kiteže i deve Fevronii“ Nikolaja Andreeviča Rimskogo-Korsakova, Moskva 1963, S. 11. Das weit über 1100 Jahre alte Murom liegt gut 150 Kilometer südwestlich von Nižnij Novgorod an der Oka, die dort in die Wolga mündet. Die seit dem 16. Jahrhundert schriftlich fixierte und in Russland weit verbreitete Erzählung von Petr und Fevronija (Povest’ o Petre i Fevronii) brachte eine eigene Ikonentradition hervor (vgl. S[TANISLAV] MASLENICYN: Murom, Moskva 1971, S. 13–15, Ill. 41–47). Die Legende berichtet, dass Petr (bis zu seiner Mönchsweihe Fürst David Jur’evič) einen Drachen erschlug, der seine Frau heimsuchte, dieser ihn aber vor seinem Tod mit seinem giftigen Blut bespritzte, das einen entstellenden Aussatz bewirkte. Nach vielen Jahren findet ein Bote des Fürsten die heilkundige Tochter eines Waldimkers (bortnik) Fevronija, die ihm Genesung um den Preis der Heirat mit ihr verspricht. Auf Grund ihrer niederen Herkunft verachtet, wird Fevronija mit ihrem Mann, der

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Heimstätte der von Batu Gemeuchelten einschließlich Großfürst Jurij Vsevolodovič. Fevronija, die dem bereits in der Kitež-Legende figurierenden Verräter Griška Kuterma großherzig verzeiht, muss ihrer irdischen Existenz entsagen, um Zutritt zum Reich des Geliebten zu erhalten. Folgerichtig bleiben die noch von Mel’nikov hervorgehobenen chthonischen Elemente auf wenige Volksszenen und Fevronija beschränkt. Auch das der Vision vorausgehende In-den-Schlaf-Wiegen durch das heilige Ufer (d. h. letztlich Mutter Erde) weicht christlicher Epiphanie. Deutlich wird dies im ersten Bild des dritten Akts, als Kitež unsichtbar wird: Knabe. Die Augen sind trüb, wie von einem Schleier bedeckt. Fürst Jurij. Wie wenn Weihrauch vom Himmel sich auf uns herab senkt. […] Fürst Jurij. Gott, der Herr, breitet über Kitež seinen schützenden Mantel. Frauen. Und der Nebel wird dichter … Wo sind wir, wo sind wir, Schwestern? Fürst Jurij, Frauen. Woher diese Freude, woher diese Helle? Kommt so der Tod, die Auferstehung? Knabe. Jubelt, Leute, singt Gottes Ruhm! Mit dem wunderbaren Geläut spricht er vom Himmel herab zu uns. Fürst Jurij, Pojarok. Mit dem wunderbaren Geläut spricht Gott, der Herr, vom Himmel herab zu uns. (Alles ist in goldenen Nebel gehüllt).47

Das Schlusstableau (Vierter Akt, Zweites Bild) steht dann vollends im Banne der Paradiesesvision (Regieanweisung: „Strahlendes, blau-weißes Licht von allen Seiten, als ob es keine Schatten gäbe“). Die Vögel Alkonost und Sirin verkünden die Aufhebung der Zeit, den erfüllten Augenblick: Alkonost. Die Türen des Paradieses … Sirin. … haben sich geöffnet. Alkonost. Die Zeit endete … Sirin. … der ewige Augenblick begann.48 sich nicht von ihr lossagen will, aus Murom vertrieben. Eine Gesandtschaft der rasch in heillosen Fehden versunkenen Stadt bewegt die beiden zur Rückkehr, wo sie fortan als weises Herrscherpaar regieren und im Alter in ein Kloster eintreten. 47 NIKOLAI RIMSKY-KORSAKOV: Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch. Oper in sechs Bildern. Produktion der Bregenzer Festspiele 1995, [Beibuch] o. O. 1997, S. 154 f. Übersetzung ins Deutsche von SIGRID NEEF. 48 RIMSKY-KORSAKOV (Anm. 47), S. 204 f. Wie sehr die Schilderung des Eintritts in die Stadt der Visionsliteratur und darüber hinaus archetypischen Vorstellungen verpflichtet ist, zeigt die Bedingung aller Erlösung: Fevronija muss in den Tod einwilligen, um der Wonne des Wiedersehens mit dem Geliebten teilhaftig zu werden. Solche Traumvisionen an der Schwelle von Leben und Tod schildert auch C. G. Jung aus eigener Erfahrung nach einem lebensbedrohlichen Herzinfarkt des Jahres 1944: „Als ich mich den Stufen zum Eingang in den Felsen näherte, geschah mir etwas Seltsames: ich hatte das Gefühl, als ob alles Bisherige von mir abgestreift würde. Alles, was ich meinte, was ich wünschte oder dachte, die ganze Phantasmagorie irdischen Daseins fiel von mir ab […]. Noch etwas anderes beschäftigte mich: ich hatte, während ich mich dem Tempel näherte,

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Es ist aufschlussreich zu beobachten, wie Rimskij-Korsakovs Oper nun ihrerseits in der Literatur des 20. Jahrhunderts zum Gründungsmythos wird. Ein stoffgeschichtlicher Solitär ist Achmatovas Rezeption des Kitež-Stoffes. Betrachtete die Dichtergeneration des Silbernen Zeitalters Mel’nikovs Text quasi als Original, so fügt Anna Achmatova nun eine dritte Palimpsestebene hinzu, indem sie Rimskij-Korsakovs Variation zum Ausgangspunkt nimmt. In einer Phase existentieller Krise unter den Schicksalsschlägen des Stalinismus – ihr erster Mann, der Dichter Nikolaj Gumilev, war 1921 von den Bol’ševiki erschossen worden, ihr gemeinsamer Sohn Lev befand sich seit 1938 in Lagerhaft – identifiziert sich Anna Achmatova 1940 mit dem Schicksal der in ihrer Jugend auf der Petersburger Bühne bewunderten Fevronija, die durch Treue und unbeirrt erlittene Verleumdung über den Tod triumphiert. Im sechsten und letzten Kapitel des Poems Putem vseja zemli ist Kitež in einem ursprünglichen Sinne Zufluchtsort der Gerechten, zu der Rimskijs kitežanka nun schon wie selbstverständlich gehört. Aus derselben Schaffensphase 1940 stammt das mit vielfältigen autobiographischen Chiffren durchwobene Gedicht „Ich brachte den lockenköpfigen Sohn zu Bett“ (Uložila synočka kudrjavogo).49 Die Lexik, etwa die Verwendung des altrussischen krin für „Lilie“, bezeugt die demonstrative Intertextualität. Der Traumzustand selbst wird auch bei Achmatova durch den Kontakt zum Wasser hergestellt: Ich brachte den lockenköpfigen Sohn zu Bett Und ging an die Wasser des Sees. Lieder sang ich und war fröhlich, schöpfte Wasser und lausche: Es war mir, als vernähme ich eine vertraute Stimme, ein Glockenläuten aus der blauen Tiefe der Wellen, So läutete man bei uns in der Stadt Kitež […] Sowie ich das letzte Wort vernommen hatte, wollte mir das Bewußtsein schwinden. Ich blickte mich um – und das Haus stand in Flammen.50

die Gewißheit, daß ich in einen erhellten Raum kommen und alle diejenigen Menschen antreffen würde, zu denen ich in Wirklichkeit gehöre.“ (Carl Gustav Jung: Erinnerungen Träume Gedanken. Aufgezeichnet und herausgegeben von ANIELA JAFFÉ. Mit 26 Tafeln, Zürich, Stuttgart 1963, S. 294 f.). 49 Vgl. hierzu ausführlich RUBINČIK (Anm. 45). 50 „Uložila synočka kudrjavogo / I pošla na ozero po vodu, / Pesni pela, byla veselaja, / Začerpnula vody i slušaju: / Mne znakomyj golos prislyšalsja, / Kolokol’nyj zvon // iz-pod sinich voln, / Tak u nas zvonili v grade Kiteže […] / Kak poslednee slovo uslyšala, / Sveta ja pred soboju ne vzvidela, / Ogljanulas’, a dom v ogne gorit.“ (ANNA ACHMATOVA: Uložila synočka kudrjavogo. In: Dies.: Stichotvorenija i poėmy, Leningrad 1977 [Biblioteka poėta], S. 289 f.).

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Das Seeufer kann als Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit gedeutet werden; es erscheint dem lyrischen Ich danach ja auch nur, als vernehme es aus der Tiefe das Glockengeläut Kitežs (prislyšalsja). In die Welt der Erinnerung versetzt, erfährt das lyrische Ich Trost in Trauer und Sehnsucht nach den Abwesenden. Mit dem letzten Wort zerstiebt das Glück der Trance, die furchtbare Wirklichkeit offenbart sich in der verheerenden Gewalt des dem Wasser entgegengesetzten Elements Feuer, das jenes Haus verzehrt, in dem das lyrische Ich den Sohn zum Schlafe gebettet hatte – Russland. In Zeiten des Mangels ist auch das Surrogat willkommen. Die Mythendekonstruktion der Aufklärung erklärte einst sogar den gewaltigen Homer zur Fiktion, um dann an einem unscheinbaren Hauslehrer namens James Macpherson zu scheitern. Seine dilettantische Maskerade glaubte man mit einem Machtwort ex cathedra herunterreißen zu können – nur war plötzlich kaum jemand mehr an einer solchen Desillusionierung interessiert. Die Rezeptionsgeschichte des Ossian ist ein beredtes Zeugnis von der zeitlosen Faszination der Fälschung. Von der Aufklärung wider Willen befördert, fand die grassierende Mythensehnsucht des späten 18. Jahrhunderts in Macpherson ihren genialen Magier, dessen Publikum den von Kennern rasch durchschauten Betrug schlicht ignorierte. Und in der Tat: Wie viele Kunstwerke verdanken sich nicht der Inspiration durch Mystifikationen? Nicht einmal die seit dem 19. Jahrhundert so verheerende Konjunktur politischer Mythen, Konstrukten zum höheren Nutzen des Staates, wie sie schon Platon erwog, tat ihrer Verführungskraft Abbruch. Der Kitež-Stoff zeigt alle Elemente synkretistischer Mythenbildung der Moderne. Historisch auf Ereignisse des Mittelalters zurückgreifend, gehen seine vermeintlich vorchristlichen Schichten wohl eher auf neopagane Einflüsse des 19. Jahrhunderts zurück. Rezeptionsästhetisch entsprach er in zweierlei Hinsicht kulturellen Erwartungshaltungen. Zum einen fügt er sich in das russische Kulturem des Verbergens, das sich als christliches Urbild im orthodoxen Fest Mariä Schutz und Fürbitte (russ. pokrov = das Verhüllen, Verbergen in Anlehnung an das Marienwunder von Konstantinopel) manifestiert. Dieses Urbild erschien auch den Altgläubigen als geeignete Allegorie ihrer eigenen Existenz: Wie Kitež vor seinen Angreifern versank, so flohen sie aus der russischen Gesellschaft ihrer Zeit, wählten im Zweifelsfall lieber den Tod durch Fasten oder Selbstverbrennung als den Konfessionskrieg. Für Kunst und Literatur spielte daneben die zutiefst romantische Idee der Sinnsuche im Untergang eine zunehmend faszinierende Rolle, die in den kulturellen Krisenzeiten der letzten beiden Jahrhundertwenden – Oktoberrevolution, innere wie äußere Emigration und schließlich Stalinismus – in immer neuen Palimpsesten aktualisiert wurde. Auf diese Weise wurde der Kitež-Stoff zum gegenmodernen Mythos der die eschatologischen Erwartungen des 17. Jahrhunderts konservierte und in Rimskij-Korsakovs ‚wagnerianischster‘ Oper zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Glanzpunkt erfuhr. Der eigentliche Traumgehalt des Kitež-Stoffes erschließt sich am besten anhand der von FLORENCE DUMORA-MABILLE in die literarische Traumforschung eingeführten

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methodischen Differenzierung von phänomenologischen, hermeneutischen und genetischen Paradigmata.51 Die eher spärlichen phänomenologischen Traumelemente des Kitež-Stoffes entstammen wahrscheinlich der apokryphen Visionsliteratur. Dafür sprechen neben strukturellen Parallelen auch Indizien wie das noch von Meledin erwähnte, später verloren gegangene Detail des himmlischen Brotes, das ein zufällig nach Kitež gelangter Hirte aus der Stadt entwendete, das aber dieses Frevels wegen augenblicklich verdarb. Das Brotmotiv verweist auf eine in Russland seit dem 12. Jahrhundert weit verbreitete, griechischen Quellen entlehnte Legende, in der ein Mönch namens Agapios auf einem Schiff einschläft und im Paradies erwacht, wo ihm Elias ein heiliges Brot für seine Rückkehr in die Welt aushändigt.52 Als russischer Traum klandestinen Heils verdient der Kitež-Stoff wegen seiner hermeneutischen Komplexität das Interesse einer kulturgeschichtlich operierenden Traumforschung. Seit dem 18. Jahrhundert evoziert er immer wieder aufs Neue die von Gadamer beschriebene Verschmelzung der Horizonte von Text und Leser, hier von Traumreich und einem Träumer, dem die Legende als Projektionsfolie ewiger Annäherung dient: „Auf dem Grund der Seele läutet unter den Fluten Kitež/Unser unerfüllbarer Traum“ heißt es bei Maksimilian Vološin.53 Wo sich das ästhetische Bewusstsein solcher mythischer Bilder bemächtigt, stellt sich die auch von der Religion so schwer zu beantwortende Frage nach der Existenz nicht mehr. Das Problem der Existenz wird in der ästhetischen Wahrnehmung überwunden. Deren Bilder „bekennen sich der empirisch-realen Wirklichkeit der Dinge gegenüber als ‚Schein‘: aber dieser Schein hat seine eigene Wahrheit, weil er seine eigene Gesetzlichkeit besitzt“.54 Nur so ist es erklärlich, wie etwa Boris Širjaev 1954 den letzten Teil seiner Erinnerungen an seine Haftzeit im berüchtigten sowjetischen Straflager SLON, dem ehemaligen Soloveckij-Kloster im Weißen Meer, mit dem Titel „Auf dem Pfad nach Kitež“ überschreiben kann.

51 Im Original lauten die Unterscheidungsebenen: 1. l’expérience du rêver (registre phénoménologique); 2. l’interpretation du rêve (registre herméneutique) und 3. la confection du rêve (registre génétique). FLORENCE DUMORA-MABILLE: Faire l’histoire du rêve. In: Songe et songeurs (XIIIe– XVIIIe siècle). Hrsg. von NATHALIE DAUVOIS / JEAN-PHILIPPE GROSPERRIN, Saint-Nicolas (Québec) 2003, S. 15–32, hier S. 18 f. 52 Skazanie otca našego Agapija. Vgl. hierzu LEONID HELLER / MICHEL NIQUEUX (Anm. 26), S. 24 f. – Erst in der Moderne werden aus diesen Paradiesesträumen jene Alpträume, die die Epoche der Antiutopien einleiten – F. M. Dostoevskijs Traum eines lächerlichen Menschen oder, weniger bekannt, Nikolaj D. Fedorovs Novelle Atavismus, in der der Träumer in einer ‚Gemeinschaft der Vernünftigen‘ erwacht, die bereits alle Züge eines totalitären Staates trägt. 53 „Na dne duši gudit podvodnyj Kitež / Naš neosuščestvimyj son“. (VOLOŠIN [Anm. 8], S. 281). 54 ERNST CASSIRER: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken, Darmstadt 1964, S. 311.

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Rainer Goldt

Auch hier gilt George Steiners Wort: Mythen [werden] zu Denkmälern, und Denkmäler lassen neue Mythen entstehen. Mythologien, Glaubensbekenntnisse, Bilder der Welt dringen in Sprache oder Marmor ein; die inneren Bewegungen der Seele, das, was Dante den moto spirital nannte, werden in den Formen der Kunst verwirklicht. Doch im Akt der Verwirklichung wird die Mythologie verändert oder neu geschaffen.55

55 GEORGE STEINER: Tolstoj oder Dostojewskij. Analyse des abendländischen Romans. Aus dem Englischen von JUTTA und THEODOR KNUST, München, Zürich 1990, S. 213.

ALFRED KROVOZA

Traum und Gesellschaft

1.

Einleitung

Wird das Traumverständnis einer bestimmten Epoche fokussiert, mag es aus Gründen, die in der Kontrastbildung als Mittel der Erkenntnis liegen, nützlich sein, dieses Verständnis anderer historischer Epochen oder sogar abweichender Kulturen exemplarisch vorzustellen. Dieses Verfahren ist gerade im Hinblick auf den Traum ergiebig, ist doch das Traumverständnis einer Epoche oder einer Kultur in besonderer Weise charakteristisch für ihr jeweiliges Selbstverständnis. Gleichzeitig scheint es keine Kultur gegeben zu haben, die sich nicht mit dem Traum auseinander gesetzt hätte. Dabei bietet es sich an, ein Zeitfenster nach rückwärts in die griechisch-römische Antike zu öffnen und eines, vom Standort des Mittelalters aus gesehen, vorwärts in die Moderne, wobei letzteres den Blick auf das Verhältnis von Traum und Gesellschaft freigeben soll. Für den Gesellschaftswissenschaftler, der sich mit Psychoanalyse und Traum beschäftigt hat, ist die zweite Perspektivierung natürlich nahe liegend. Dabei ist bei einem Blick in die Moderne eine thematische Schwerpunktbildung jedoch unumgänglich, gibt es doch in dieser Epoche derart zahlreiche Traumdiskurse und -verständnisweisen, dass ihre Behandlung in einem unbeschränkten Rahmen gänzlich unmöglich wäre. Die Psychoanalyse als Referenztheorie zu wählen, wenn man für den Traumdiskurs ein Zeitfenster in die Moderne öffnen will, ist einerseits sachlich geboten, andererseits mit größten Schwierigkeiten im Hinblick auf das Verhältnis von Traum und Gesellschaft behaftet. Sachlich geboten ist es, weil Sigmund Freuds Traumverständnis wie seine Theorie insgesamt zum nicht mehr tilgbaren kulturellen Inventar unserer Zeit gehört, und zwar ganz unabhängig davon, wie kontrovers sie nach wie vor in der wissenschaftlichen Diskussion behandelt wird oder wie man selber zu ihr steht. Im Guten wie im Schlechten ist sie nach wie vor eine, wenn nicht die zentrale moderne Referenz in Sachen Traum. Freud wusste schon, was er tat, als er, nicht gänzlich frei von Megalomanie, auf den Innentitel der 1. Auflage der Traumdeutung die Jahreszahl 1900 setzen ließ, obwohl das Werk bereits 1899 gedruckt und ausgeliefert wurde – ein Jahrhundertwerk also, kein Bestseller, aber mit Sicherheit ein Longseller. Was nun die Schwierigkeiten der Bestimmung des Verhältnisses von Traum und Gesellschaft auf dem Boden der Psychoanalyse angeht, so wird von ihnen im Laufe meiner Ausführungen noch häufig die Rede sein. Ist doch der Traum auf den ersten

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Alfred Krovoza

Blick im psychoanalytischen Verständnis ein höchst individuelles, ja gänzlich privates Phänomen – jedenfalls die Deutung des je einzelnen Traums, wie universell das Phänomen als solches auch immer sein mag. Hinzu kommt, dass Freud selber seine gesellschaftswissenschaftlichen Ambitionen, die in einer Reihe größerer Schriften ihren Ausdruck gefunden haben, niemals expressis verbis mit dem Traum in Verbindung gebracht hat. Das gilt natürlich auch umgekehrt: Auch die Gesellschaftswissenschaften haben kaum einmal dem Traum Beachtung geschenkt. Dabei existieren Traumdokumente, die hier einen verblüffend engen Zusammenhang zeigen. 1966 erschien in München unter dem Titel Das Dritte Reich des Traums eine Sammlung von Traumerzählungen, die die Chronistin CHARLOTTE BERADT in den Jahren 1933 bis 1939 – 1939 war das Jahr ihrer Emigration – in Deutschland gesammelt und dann kommentiert hatte. Es sind vor allem Träume von Menschen, die in dieser Zeit aus so genannten rassischen und politischen Gründen bedroht waren, Opfern, jedenfalls späteren Opfern, sowie von Mitläufern des NS-Regimes. „Nutznießer des Regimes oder begeisterte Jasager“, wie die Chronistin sagt, waren ihr naturgemäß „schwer zugänglich“.1 Deren Träume wären vermutlich ohnehin nicht aufschlussreich gewesen. BERADT ließ Menschen ihrer alltäglichen Umgebung ihre Träume erzählen. Ein Arzt war ihr wichtigster Helfer, der seine Patienten, wohl ohne Aufsehen zu erregen, nach ihren Träumen fragen konnte. Die Anzahl von über 300 Träumen gab der Sammlung einen gewissen repräsentativen Charakter. Die Einleitungspassage dieser Sammlung präsentiert einen „Modelltraum“, wie die Chronistin ihn nennt.2 Er sollte Zögernde zur Preisgabe von Träumen anhalten. Die Sammlung enthält bereits selber sehr weitgehende Reflexionen zum Verhältnis von Traum und Gesellschaft, deren Einfügung in eine systematische Darstellung noch aussteht. Der Hinweis auf die Sammlung dient an dieser Stelle dazu, schnell Plausibilität für die Relevanz des Themas herzustellen, wird doch, wie gesagt, diese Verbindung kaum je ernsthaft ins Auge gefasst.

1

CHARLOTTE BERADT: Das Dritte Reich des Traums. Mit einem Nachwort von REINHART KOSELFrankfurt a. M. 1994 (Erstveröffentlichung München 1966), S. 10. BERADT (Anm. 1), S. 7: „Goebbels kommt in meine Fabrik. Er läßt die Belegschaft in zwei Reihen, rechts und links, antreten. Dazwischen muß ich stehen und den Arm zum Hitlergruß heben. Es kostete mich eine halbe Stunde, den Arm, millimeterweise, hochzubekommen. Goebbels sieht meinen Anstrengungen wie einem Schauspiel zu, ohne Beifalls-, ohne Mißfallensäußerung. Aber als ich den Arm endlich oben habe, sagt er fünf Worte: ‚Ich wünsche Ihren Gruß nicht‘, dreht sich um und geht zur Tür. So stehe ich in meinem eigenen Betrieb, zwischen meinen eigenen Leuten, am Pranger, mit gehobenem Arm. Ich bin körperlich dazu nur imstande, indem ich meine Augen auf seinen Klumpfuß hefte, während er hinaushinkt. Bis ich aufwache, stehe ich so.“

LECK,

2

Traum und Gesellschaft

2.

283

Ein Blick auf die Schriften Freuds zur Gesellschaft und Suche nach Schleichwegen in der Verbindung von Traum und Gesellschaft

Wenn man die Frage beantworten soll, worin die Bedeutung Freuds für die Gesellschaftswissenschaften liegt und was nach wie vor in dieser Hinsicht seine Aktualität ausmacht, gibt es eine sehr naheliegende Antwort, hat doch Freud selber sich in einigen ‚großen‘ Schriften und fast lebenslang mit gesellschaftlichen Phänomenen von grundlegender Bedeutung beschäftigt, die sich während der Zeit, die seit ihrer Publikation vergangen ist, keineswegs erledigt haben. Ja, die große Moses-Studie, ein Spätwerk, das lange Zeit als apokryph galt, und von dem der professionelle Psychoanalytiker tunlichst die Finger zu lassen hatte, ist erst neuerdings als seine AntisemitismusTheorie herausgestellt worden3 und findet unter Religionswissenschaftlern zunehmend Interesse.4 Darüber hinaus hat Freud in diesen Schriften an soziologischem Material und in sozialpsychologischer Erkenntnisabsicht zentrale Konzeptualisierungen vorgenommen. So geht das Konzept des ‚Ich-Ideals‘ auf seine Massenpsychologie (1921) zurück, das Freud dann kurze Zeit später (1923) als das bekannte ‚Über-Ich‘ im Rahmen seines zweiten Personenmodells systematisieren wird. Und – Gott sei Dank! – hat er seine als solche formulierte wissenschaftstheoretische Position, dass es nämlich nur zwei tatsächliche Wissenschaften gebe, Naturwissenschaften und Psychologie, in diesen Schriften nicht beachtet.5 Über diese Schriften Freuds möchte ich einen knappen Überblick geben, aber gleich vorausschicken, dass die Traumdeutung und seine sonstigen Schriften zum Traum nicht dazu gehören. Aber gerade diese sollen im dann Folgenden im Hinblick auf die Möglichkeiten der Gesellschaftsanalyse untersucht werden. Diesen Überblick verbinde ich aber mit der Hoffnung, dass sich der eine oder andere ‚Schleichweg‘ von ihnen zu Traum und Traumanalyse ergibt.

3 4 5

Vgl. YOSEF HAYIM YERUSHALMI: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992; RICHARD J. BERNSTEIN: Freud und das Vermächtnis des Moses, Berlin, Wien 2003. Vgl. JAN ASSMANN: Moses, der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Wien 1998. Diese Position wird in der Soziologie Reduktionismus genannt, und Adorno hat ihr Folgendes ins Stammbuch geschrieben: „Wer die Soziologie mit Freud als angewandte Psychologie dächte, verfiele, trotz aller aufklärerischen Intention, der Ideologie. Denn die Gesellschaft ist keine von Menschen unmittelbar, sondern die Beziehungen zwischen diesen haben sich verselbständigt, treten allen Einzelnen übermächtig entgegen und dulden die psychologischen Regungen kaum eben als Störungen des Getriebes, die womöglich integriert werden. Wer die Psychologie eines Konzernherrn für die Betriebssoziologie fruchtbar machen wollte, geriete offensichtlich in Unsinn.“ (Theodor W. Adorno: Postscriptum [1966]. In: Soziologische Schriften I, Gesammelte Schriften 8, hrsg. von ROLF TIEDEMANN, Frankfurt a. M. 2003, S. 86–92, hier S. 89).

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Alfred Krovoza

Schon 1908 hat Freud in Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität die These vertreten, dass wir in unseren Neurosen an den gesellschaftlichen Bedingungen unserer Existenz leiden, ohne dass dies dem einzelnen Neurotiker durchsichtig sein könnte. Diese These wird er auf dem jeweils erreichten behandlungstechnischen, neurosentheoretischen und metapsychologischen Niveau immer wieder formulieren. Die Neurose entsteht in Betätigung einer ‚normalen‘, nichtpathologischen Funktionsweise des psychischen Apparats durch seine zivilisatorische Überforderung mit sozialen Verhaltensansprüchen. Auf dieser Funktionsweise beruhen auch andere, durchaus nichtpathologische psychische Phänomene wie etwa der Traum. Traum und neurotisches Symptom sind, psychologisch betrachtet, Struktur- und Funktionsäquivalente. Hier ergibt sich – wir werden das später noch sehen – ein erster Schleichweg in der Verbindung von Traum und Gesellschaft. In Totem und Tabu (1912/13) entlarvt Freud in einer Sekundäranalyse ethnologischer Befunde seiner Zeit bestimmte Institutionen und Normensysteme so genannter primitiver Gesellschaften als verwandt mit neurotischen Symptomatiken, wenn nicht sogar aus derselben psychischen Quelle stammend. In den magischen Beeinflussungspraktiken dieser Zivilisationsstufe erkennt Freud die Herrschaft der „Ideenassoziation“6 nach den Prinzipien von Ähnlichkeit und Kontiguität, oder, wie er es in der Traumdeutung nannte, ‚Verschiebung‘. Mit anderen Worten: Diese Praktiken sind Ergebnisse primärprozesshaften Denkens wie der Traum. Ich werde darauf zurückkommen. Abschließend sieht sich Freud gedrängt, im Gewande eines Ursprungsmythos, des Urvatermordes, die Befreiung zur menschlichen Kultur und den Schwur der Brüderhorde, dass sich diese Tat niemals wiederholen dürfe, als ihren Beginn darzustellen – ein ‚wissenschaftlicher Mythus‘, wie er diese Konstruktion selber kennzeichnet. Es handelt sich um den gattungsgeschichtlichen Einsatzpunkt und die elementaren Voraussetzungen menschlicher Gesellung, die er deshalb so stark dramatisiert, weil er der Meinung war, dass die Herstellung und Absicherung dieser Voraussetzungen in der je einzelnen Lebensgeschichte angesichts der menschlichen Triebnatur und vor allem der Dialektik der Triebwandlung – vgl. unten die Ausführungen zum Unbehagen in der Kultur – nur unter höchstem Aufwand und höchsten Opfern gelinge – und letzten Endes doch immer nur unvollkommen. Insofern ist seine Vorstellung von der in der individuellen Entwicklung (Ontogenese) im Zeitraffer zu wiederholenden Gattungsgeschichte (Phylogenese) nicht nur ein Tribut an eine sehr verbreitete wissenschaftliche Argumentationsfigur des 19. Jahrhunderts. Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 ist schon deswegen eine fast atemberaubende Schrift, weil Freud hier aufs Genaueste die Arbeits- und Wirkungsweise des faschistischen Demagogen antizipiert, der in Deutschland erst Jahre später auf den 6

Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1912–13). In: Ders.: Studienausgabe IX: Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Hrsg. von ALEXANDER MITSCHERLICH / ANGELA RICHARDS / JAMES STRACHEY, Frankfurt a. M. 1974, S. 287–444, hier S. 371.

Traum und Gesellschaft

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Höhepunkt seiner Wirksamkeit gelangt ist. Adorno hat dies in Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda7 bewundernd hervorgehoben, allerdings hinzugefügt, dass der Faschismus als politisches Herrschaftssystem auf diesem Weg nicht abschließend erklärt werden könne. Das Entscheidende an dieser Schrift ist jedoch, dass es sich gar nicht um eine Massenpsychologie im Sinne Le Bons handelt.8 Die Massen, die Le Bon im Auge hatte, sind für Freud bereits Zerfalls- und Desintegrationsprodukte jener ‚Massen‘, denen sein Interesse gilt, nämlich, wie seine Paradigmen ‚Heer‘ und ‚Kirche‘ zeigen, gesellschaftliche Institutionen schlechthin. Letztinstanzlich versucht er, die libidinöse Struktur menschlicher Gesellung zu erklären. Die Beschränkung dieses Ansatzes liegt allerdings darin, dass Freud hierarchisch strukturierte und geführte ‚Massen‘ vor Augen stehen. Es wäre ohne Zweifel eine reizvolle Aufgabe, über die libidinöse Struktur von ‚demokratisch‘ strukturierten, egalitären, durch Rückkopplung lernenden ‚Massen‘, aber auch von bürokratischen Organisationstypen von ‚Massen‘ nachzudenken.9 Im Unbehagen in der Kultur von 1930 schließlich analysiert er die Dialektik der zivilisatorisch erzwungenen Triebwandlung. Die ‚kulturelle Sexualmoral‘ ist jetzt nur noch Chiffre für das Verhältnis von Kultur und menschlicher Triebnatur überhaupt, dessen Konsequenzen weit über die ‚moderne Nervosität‘ hinausgehen in Richtung auf eine allgemeine Aggressions- und Destruktionsneigung. Die Ahnung dieser Triebwandlung muss ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg motiviert haben, in Totem und Tabu eine phylogenetische Ergänzung des ontogenetischen Erwerbs von Triebhemmung in der menschlichen Frühzeit anzunehmen. Mit Erschrecken wird er dann allerdings das Ergebnis seiner Analyse dieser Dialektik registriert haben, dass nämlich die menschliche Kultur, so seine pessimistische Prognose, an ihren eigenen Stoffwechselprodukten in Gestalt von kontinuierlich sich steigernder Destruktivität zu Grunde zu gehen droht, mit anderen Worten: Kultur ist eine Einrichtung, die ihren Zweck gründlich verfehlt. Freuds Moses-Studie habe ich bereits erwähnt, die ebenfalls, wie im übrigen sämtliche religionspsychologischen Schriften, in diesem Zusammenhang ausführlicher zu 7 8

9

Theodor W. Adorno: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda. In: Ders.: Soziologische Schriften I (Anm. 5), S. 408–433. Die Massenpsychologie („Psychologie des Foules“) des französischen Arztes und Anthropologen Gustave Le Bon erschien 1895 (Gustave Le Bon: Psychologie der Massen. Mit einer Einführung von DR. HELMUT DINGELDEY, Stuttgart 1973). Sie geht auf Erfahrungen zurück, die Le Bon als Feldarzt der regulären französischen Truppen 1871 während der Niederschlagung der Pariser Kommune im von deutschen Truppen belagerten Paris machte. In Freuds vorgeschichtlicher Brüderhorde haben wir im Übrigen das Modell einer egalitären ‚Masse‘ vor uns, die nach Freud zwar im weiteren gezwungen scheint, die Vaterinstanz erneut zu etablieren, und die als „vaterlose Gesellschaft“ in PAUL FEDERNs Analyse der deutschen Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg durchaus positiv und zukunftsweisend konnotiert ist (Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft [1919]. In: Analytische Sozialpsychologie. Hrsg. von HELMUT DAHMER, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1980, Bd. 1, S. 65–87).

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behandeln wäre. Sie würden das bisher skizzierte Bild aber nicht wesentlich verändern.10

3.

Was ist und wie entsteht nach Freud ein Traum?

Die Traumdeutung (1900, eigentlich 1899), das so genannte Gründungsdokument der Psychoanalyse, ist bisher nicht nachhaltig im Hinblick auf ihre gesellschaftswissenschaftliche Relevanz geprüft worden. Sie ist einerseits theoretisch äußerst anspruchsvoll. So ist der inzwischen berühmte, vom Autor selber unveröffentlichte Entwurf einer [medizinischen] Psychologie von 189511 im einzelnen unverändert in das 7. Kapitel dieses Werkes eingegangen, wo er den Kern der Metapsychologie bildet. Durch diese Übernahme in die Traumdeutung ist allerdings sein systematischer Stellenwert verändert worden. Bei diesem Entwurf handelt es sich um eine neurowissenschaftliche Skizze, die heute eine unverhoffte Aktualität erlangt. Andererseits ist die Traumdeutung aber auch entschieden erfahrungsnah und auf Introspektion gegründet, wenn wir daran denken, dass ihre empirische Basis die Eigenanalyse, insbesondere die Analyse eigener Träume ihres Verfassers darstellt. Nun ist der Traum nach Auffassung des Autors der Traumdeutung ein höchst individuelles Phänomen. Der je einzelne geträumte und erzählte Traum kann nur unter Beiziehung der ‚freien Einfälle des Träumers‘ im Kontext der Dynamik eines psychoanalytischen Prozesses und auf dem Hintergrund einer individuellen Lebensgeschichte gedeutet werden. Diese Auffassung stärkt Freud noch gegen C. G. Jung, der so etwas wie einen kollektiven, gesellschaftlichen Bestand von Traumelementen, ja ein mit archaischen Wurzeln verbundenes System der Traumsymbolik glaubte gefunden zu haben, eine Auffassung, der Freud entschieden widersprach.12 Der Weg über eine überindividuelle Traumsymbolik ist im Übrigen, wenn überhaupt, der einzige, der in der Tradition vom Traum zum Kollektiv eingeschlagen wurde. Freud warnt davor, die „Arbeit der Traumübersetzung auf Symbolübersetzung einzuschränken [sic!] und die

10 An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass ich trotz der häufig nicht sehr ermutigenden nach Freudschen Versuche der Integration von Gesellschaftswissenschaften und Psychoanalyse der Überzeugung bin, die Psychoanalyse sei nach wie vor für die Gesellschaftswissenschaften eine unausgeschöpfte Theorien- und Methodenressource. Die folgenden Ausführungen können hoffentlich diese Überzeugung stützen. 11 Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Nachtragsband. Texte aus den Jahren 1885–1938. Hrsg. von ANGELA RICHARDS † unter Mitwirkung von ILSE GRUBRICH-SIMITIS, Frankfurt a. M. 1987, S. 373–486. 12 Die Diskussion der Traumsymbolik ist in späteren Auflagen – offenbar im Zuge der Auseinandersetzung mit C. G. Jung – eingefügt worden und erst in der Auflage von 1914 in einem selbständigen Abschnitt des 6. Kapitels zusammenhängend behandelt worden.

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Technik der Verwertung von Einfällen des Träumers aufzugeben.“13 Er will sie allenfalls als „Hilfsmittel“ akzeptieren und führt die „eigentümliche Plastizität des psychischen Materials“ ins Treffen, als dessen Folge der Träumer das eine Mal ein vermeintliches Symbol gar nicht symbolisch verwende, ein anderes Mal auf spezielles Erinnerungsmaterial als Sexualsymbol zurückgreife, das nicht allgemein so verwendet werde etc. Eine „individuelle Motivierung“ schlage nur zu häufig die „typisch gültige“ aus dem Felde, so dass letztere praktisch wertlos werde.14 Damit hatte Freud eine Verbindung von Gesellschaft und Traum resp. Traumdeutung zumindest auf den ersten Blick und auf diesem Wege unterbrochen. Auf ihm ist sie aber weiterhin gesucht worden, was schließlich die gesamte psychoanalytische Symboltheorie in die Sackgasse geführt hat, wie man bereits an ERNEST JONES’ Theorie der Symbolik von 1916 ablesen kann. Wenn wir an Freuds Theorie der Träume und Methode ihrer Deutung als einer potenziellen Ressource von Verständnis gesellschaftlicher Prozesse festhalten wollen, müssen wir uns offenbar einen anderen Weg suchen. Vorbereitend und zunächst nur indirekt möchte ich darauf hinweisen, dass Freud zufolge die Vorgänge, die bei der Traumbildung wirksam sind, die „größte Analogie […] mit den bei der hysterischen Symptombildung erkannten Vorgängen zeigen“15. Freud hatte, wie gesagt, die „moderne Nervosität“, d. h. die neurotischen Erkrankungen in Zusammenhang gebracht mit den in der ‚kulturellen Sexualmoral‘ zum Ausdruck kommenden Bedingungen unserer gesellschaftlichen Existenz. Er schließt aus der Analogie von Symptom und Traum, dass die psychischen Mechanismen, derer sich die Neurose bedient, nicht durch eine krankhafte Störung des Seelenlebens allererst hervorgebracht werden, „sondern in dem normalen Aufbau des seelischen Apparats bereitlieg[en]“16 – und in seiner Funktionsweise selbstverständlich. Schließlich ist der Traum kein pathologisches Phänomen – er gehört vielmehr zur conditio humana. Ähnliche Nachweise hat Freud im Übrigen für den Witz in Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905) und für Vergessen, Versprechen, Verschreiben, Irrtümer etc., d. h. die sogenannten Fehlleistungen, in Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) zu führen versucht. Daraus folgt: Fehlleistungen, Träume, neurotische Symptome haben einen verborgenen, wie Freud sagt, ‚unbewußten‘, Sinn. Sie sind also mittels einer besonderen Hermeneutik verstehbar. Das ist die Bedingung der Möglichkeit einer Therapie neurotischer Erkrankungen in der psychoanalytischen Kur, die sich ausschließlich sprachlicher Mittel bedient – der ‚Redekur‘, wie es eine der Patientinnen aus den Hysterie-Studien (1895) selber ausdrückte.

13 Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900). In: Ders.: Studienausgabe II. Hrsg. von ALEXANDER MITSCHERLICH / ANGELA RICHARDS / JAMES STRACHEY, Frankfurt a. M. 1972, S. 354. 14 Freud (Anm. 13), S. 347. 15 Freud (Anm. 13), S. 576. 16 Freud (Anm. 13), S. 576.

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Man könnte nun meinen, in Fehlleistung, Symptom und Traum das Ergebnis „inkorrekte[r] Vorgänge“17 vor sich zu haben, Defizienzen, Fehler oder Abweichungen. Dem ist nun aber, wie Freud sich zu zeigen bemüht, gerade nicht so. Vielmehr hat sich eine unbewusste Wunschregung mit einem verdrängten Gedanken verbunden. Sie drängt ihrerseits auf motorische Abfuhr und halluzinatorische (,szenische‘) Belebung eines primordialen Befriedigungserlebnisses. Diese Vorgänge sind, wie Freud es ausdrückt die „primären“ im „psychischen Apparat“, die von einer Hemmung befreiten „Arbeitsweisen des psychischen Apparats“.18 Sie haben ihre eigene Logik, die von der des Bewusstseins, d. h. der rational kontrollierten und objektivierten zu unterscheiden ist. Diese Logik des Primärprozesses hat Freud an der Traumentstehung systematisch und für diesen alles psychische Leben ausmachenden Prozess exemplarisch dargestellt. Seine berühmte Formel, der „Traum [sei] eine Wunscherfüllung“19 lautet präzisiert: Der Traum stellt einen Wunsch als erfüllt dar. Diese Darstellung nun ist das Entscheidende am Traum. Wie Freud ergänzt, hat „eine hoch komplizierte geistige Tätigkeit […] ihn aufgebaut“20. Er unterscheidet den latenten Traumgedanken vom manifesten Trauminhalt. Diesen latenten Traumgedanken löst der unbewusste Wunsch aus, der allen einzelnen Wunscherfüllungen, die der Traum darstellt, vorausliegt. Was der in letzter Instanz sei, darüber ist man sich alles andere als einig. Für unsere Zwecke mag es reichen, in ihm die Erinnerung an ein sexuell konnotiertes Befriedigungserlebnis der psychischen Frühzeit zu sehen, womit wir einerseits Freuds wesentlich drastischerer Vorstellung Rechnung tragen, dass dieser Wunsch ein Inzestwunsch sei, andererseits neuere, vielleicht differenziertere Vorstellungen darüber, was dieser archaische Wunsch sei, nicht ausschließen. Wie kommt es nun zu dieser Differenz? Der latente Traumgedanke ist nicht gesellschaftsfähig, tabuisiert und für den, dem er zu Bewusstsein käme, aufs Äußerste scham-, schuld- und angsterregend. Er muss, bevor er als manifester Trauminhalt dem Bewusstsein registrierbar werden kann, eine ‚Zensur‘, wie Freud es nennt, passieren, d. h. er muss verschlüsselt, unkenntlich gemacht werden. Die Rückgängigmachung dieser Verschlüsselung ist die Deutung des Traums. Die Verschlüsselung steht unter der Herrschaft der Logik des Primärprozesses. In ihm sind, wie Freud es nennt, die ‚Werkmeister des Unbewußten‘ an der Arbeit: Verdichtung, Verschiebung, Rücksicht auf Darstellbarkeit, d. i. vor allem Visualisierung, und sekundäre Bearbeitung. Hier

17 Freud (Anm. 13), S. 574. 18 Freud (Anm. 13), S. 574. Die Begriffe psychische ‚Arbeit‘ (s. auch Traumarbeit, Trauerarbeit) und psychischer ‚Apparat‘ sollten uns nicht zu sehr irritieren. Es handelt sich um Modellvorstellungen auf dem Hintergrund eines zeitgenössischen Wissenschaftsverständnisses (vgl. im übrigen WOLFGANG SALZMANN: Der Begriff der Arbeit in der Lehre von Freud, Diss. Hannover 1992). 19 Freud (Anm. 13), S. 141. 20 Freud (Anm. 13), S. 141.

Traum und Gesellschaft

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haben wir die, wie ich es zum Zwecke der Nutzbarkeit für die Analyse gesellschaftlicher Prozesse nenne, ‚operative Ebene‘ des Traumes bzw. der Traumdeutung vor uns. Ein Hinweis von Freud selber, wenn auch nicht sehr auffällig in Fußnoten platziert, weist uns in diese Richtung: Nachdem man so lange den Traum mit seinem manifesten Inhalt zusammenfallen ließ, muß man sich jetzt auch davor hüten, den Traum mit den latenten Traumgedanken zu verwech21 seln: Sie [die Analytiker, Verf.] suchen das Wesen des Traums in diesem latenten Inhalt und übersehen dabei den Unterschied zwischen latenten Traumgedanken und Traumarbeit. Der Traum ist im Grunde nichts anderes als eine besondere Form unseres Denkens, die durch die Bedingungen des Schlafzustandes ermöglicht wird. Die Traumarbeit ist es, die diese Form her22 stellt, und sie allein ist das Wesentliche am Traum, die Erklärung seiner Besonderheit.

Dies alles ist, wie gesagt, sehr verkürzt. Mir kommt es doch an dieser Stelle darauf an, plausibel zu machen, dass, wollen wir eine Verbindung von Traum und Gesellschaft herstellen, wir uns vielleicht nicht auf die inhaltlichen Ergebnisse der Traumdeutung im einzelnen – Beispiel Symboldeutung – konzentrieren sollten, sondern auf ihre operative Ebene, die ihr Zentrum im 6. Kapitel mit der Behandlung der Traumarbeit hat.23

4.

Ansätze einer Verbindung von Traum und Gesellschaft

Nun ist es nicht etwa so, dass nicht schon verschiedentlich zwischen Traumdeutung, bzw. Traum insgesamt, und Gesellschaft Beziehungen hergestellt worden wären. Als Brückenüberlegung gleichsam möchte ich in knapper Form einzelne dieser Initiativen vorstellen. 1955 hatte Adorno in Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie24 den letzten Stand der Vermittlung von Psychoanalyse und Gesellschaftswissenschaften formuliert – eine Vermittlung, die für die kritische Theorie charakteristisch ist. Vom Horkheimerschen Programm eines interdisziplinären Materialismus der Vorkriegszeit, der u. a. Psychoanalyse und Soziologie verbindet, war nicht mehr viel übrig geblieben: Beide müssten unabhängig voneinander und jede mit ihren spezifischen Erkenntnismitteln der 21 Freud (Anm. 13), S. 551f. Anm. 1. 22 Freud (Anm. 13), S. 486 Anm. 1 23 Ein objektives, über die individuelle intrapsychische Dynamik hinausweisendes Moment erkennen wir in der Strukturanalogie zwischen den Operationen der Traumarbeit und bestimmten rhetorischen Figuren (Metapher, Metonymie), die ihrerseits unterschiedliche Tendenzen sprachlicher Darstellung überhaupt beschreiben, wie die moderne Textlinguistik zu zeigen versucht hat (s. u.). Aber trotzdem führt von dieser Arbeitsweise des psychischen Apparats, vom Primärprozess aus zunächst kein direkter Weg zu Gesellschaftlichem. 24 Theodor W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie [1955]. In: Ders.: Soziologische Schriften I (Anm. 5), S. 42–85.

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Wahrheit auf die Spur zu kommen suchen. Die unabhängig voneinander erzielten Ergebnisse würden dann schon ein und dieselbe Wahrheit zum Ausdruck bringen. Adorno begründete dies mit dem objektiven Stand der Vergesellschaftung, der Ohnmacht des Individuums und der Präponderanz verselbständigter gesellschaftlicher Strukturen. In den Schriften der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hatte Adorno also die Gegenstandsbereiche und Erkenntnisweisen von Soziologie und Psychologie radikal getrennt. Später befriedigte ihn diese Verhältnisbestimmung nicht mehr, und er schickte ihr 1966 ein Postscriptum25 hinterher, das beide Gegenstandsbereiche und Erkenntniswege wieder enger aneinanderrückte. Und interessanterweise stellte er den Transfer zwischen den beiden Bereichen gerade im Hinblick auf das, was ich den operativen Modus der Traumbildung genannt habe, dar, um zu belegen, dass „nicht nur [die] abstrakte Einheit des Prinzips […] Gesellschaft und Individuum […] aneinander [bindet], sondern beides […] nie choris vor[kommt]“.26 „So gehen“, schreibt Adorno in der 8. und letzten These des Postscriptums, sich das Verhältnis von Traumsymbol und Gesellschaft gleichsam als kommunizierende Röhren vorstellend, „die wichtigsten, nämlich bedrohlichsten und darum verdrängten Momente der sozialen Realität in Psychologie, in das subjektive Unbewußte ein. Aber verwandelt in kollektive imagines, so wie Freud in den Vorlesungen am Zeppelin es demonstrierte.“27 Was hat es auf sich mit diesem Zeppelin? In der 35. der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, die die 1932 geschriebene Neue Folge der Vorlesungen abschließt, behandelt Freud den Einfluß […], den die fortschreitende Beherrschung der Naturkräfte auf die sozialen Beziehungen der Menschen übt, indem sie die neugewonnenen Machtmittel immer auch in den Dienst ihrer Aggression stellen und gegeneinander verwenden.

Er fährt dann fort: Ja, vielleicht zahlen wir mit der gegenwärtigen, an den Weltkrieg anschließenden Wirtschaftskrise auch nur den Preis für den letzten großartigen Sieg über die Natur, die Eroberung des Luftraums. Das klingt nicht sehr einleuchtend, aber wenigstens die ersten Glieder des Zusammenhangs sind klar zu erkennen. Die Politik Englands fußte auf der Sicherheit, die ihm das seine Küsten umspülende Meer verbürgte. Im Moment, da Blériot den Kanal im Aeroplan überflogen hatte, war diese schützende Isolierung durchbrochen, und in jener Nacht, als in Friedenszeiten und zu Übungszwecken ein deutscher Zeppelin über London kreiste, war wohl der Krieg gegen Deutschland beschlossene Sache.28

25 26 27 28

Adorno: Postscriptum (Anm. 5), S. 86–92. Adorno: Postscriptum (Anm. 5), S. 91. Adorno: Postscriptum (Anm. 5), S. 91f. Sigmund Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Neue Folge. In: Ders.: Studienausgabe I. Hrsg. von ALEXANDER MITSCHERLICH / ANGELA RICHARDS / JAMES STRACHEY, Frankfurt a. M. 1974, S. 604.

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„So wurde es mir“, fügt Freud in einer Fußnote ebendort hinzu, „im ersten Kriegsjahr von vertrauenswürdiger Seite mitgeteilt.“ Just in diesem Jahr wird in eine weitere Auflage der Traumdeutung der schon erwähnte Abschnitt über „Die Darstellung durch Symbole im Traume“ eingefügt. Dort finden wir die folgende Bemerkung: „Eine Anzahl von Symbolen ist so alt wie die Sprachbildung überhaupt, andere werden aber in der Gegenwart fortlaufend neu gebildet (z. B. das Luftschiff, der Zeppelin).“29 Der Ruf „The Zepps are coming“, der 1916 die Londoner Zivilbevölkerung aufforderte, Luftschutzräume aufzusuchen, bezeichnet die Anfänge des strategischen Luftkrieges, der sich im Zweiten Weltkrieg so verheerend entfalten sollte. „Ich wünschte, das Fliegen wäre nie erfunden worden“, soll Churchill, First Lord der Admiralität im Ersten Weltkrieg, gesagt haben: Noch war England wehrlos gegen die Angriffe aus der Luft. Es beherrschte die Meere und war doch seit den „Zepps“, wie verwundbar sie auch waren, keine sichere Insel mehr.30 Und Adorno leitet dann aus dem Gedanken einer primärprozesshaften Kommunikation von sozialer Realität und subjektivem Unbewussten fast so etwas wie ein Untersuchungsprogramm ab, das allerdings keine Folgen mehr hatte – Adorno schrieb diesen Text drei Jahre vor seinem Tod nieder –, und weist darauf hin, dass Walter Benjamin derartiges vorgeschwebt habe: Er [Freud, Verf.] reihte ihn [den Zeppelin, Verf.] unter jene archaischen Bilder ein, deren Entdeckung Jung von ihm übernahm, um sie aus der psychologischen Dynamik gänzlich herauszulösen und normativ zu wenden. Solche imagerie ist die gegenwärtige, Soziales verschlüsselnde Gestalt des Mythos: Benjamins Konzeption der dialektischen Bilder wollte sie theoretisch durchdringen. Mythen sind es im strengen Sinn. Denn die Verwandlung des Gesellschaftlichen in ein Inwendiges und scheinbar Zeitloses macht es unwahr. Die imagerie ist, wörtlich verstanden und akzeptiert, notwendiges falsches Bewußtsein. Die Schocks der Kunst, die solcher imagerie gelten, möchten nicht zuletzt jene Unwahrheit zur Explosion bringen. Andererseits sind die Mythen der Moderne soweit die Wahrheit, wie die Welt selber noch der Mythos, der alte Verblendungszusammenhang ist. Dies Wahrheitsmoment läßt sich wohl an manchen Träumen ablesen. Noch in den verzerrtesten weiß man zuweilen über Menschen, die man gut kennt, Wahreres, nämlich Negatives, Ideologiefreieres als unter den Kon31 trollen des wachen Zustandes. Sie sind wie in den Träumen, so ist die Welt.

Auf ein anderes Beispiel der Verbindung von Traum und Gesellschaft habe ich eingangs bereits hingewiesen. An CHARLOTTE BERADTs Dritte[s] Reich des Traums32 nun 29 Freud (Anm. 13), S. 347. 30 JOACHIM KÄPPNER: Der Zeppelin als Mordmaschine. In: Süddeutsche Zeitung vom 31.03. / 01.04.2007. Wir werden diese ‚Bildungen der Gegenwart‘ noch als das ‚aktuale Imaginäre‘ kennen lernen. Aber in das subjektive Unbewusste gelangen diese imagines doch auf dem Wege der primärprozesshaften Verarbeitung durch die ‚Werkmeister des Unbewußten‘! 31 Adorno (Anm. 5), S. 92. Im Hinblick auf das Ideologiethema, das in dieser Passage angeschlagen wird, ist, ohne dass das hier schon ausgeführt werden könnte, auf diesem in unseren Ausführungen skizzierten Weg auch ein präziseres Verständnis der Bildungs- und Arbeitsmechanismen von falschem Bewusstsein / Ideologie zu gewinnen. 32 BERADT (Anm. 1).

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hat der Historiker REINHART KOSELLECK weitreichende Reflexionen zur Legitimität von Träumen als historischen Quellen angeschlossen.33 Sie eigneten sich gerade dann hervorragend als historische Quellen, wenn Sprachlichkeit in der Erfassung und Wiedergabe einer durch Schrecken bestimmten sozialen Realität an ihre Grenzen gerate. Adorno hatte darauf hingewiesen, dass die „bedrohlichsten […] Momente der sozialen Realität in Psychologie, in das subjektive Unbewußte“34 eingehen. Mit KOSELLECK hat also ein einflussreicher Methodologe der Geschichtswissenschaft das Verhältnis von Traum und Gesellschaft als gegeben und essentiell akzeptiert. Ein weiteres und letztes Beispiel, das hier angeführt werden kann, sind Analysen von ELISABETH LENK.35 Die Autorin ist Literaturwissenschaftlerin und Schülerin Adornos. Hier finden sich viele nützliche Einzelbeobachtungen zum Verhältnis von Traum und Gesellschaft, aber die Grundtendenz eines binären Schematismus, der im Traum das aus der Gesellschaft Ausgeschlossene sieht, das gleichsam ihre Nacht- und Rückseite bildet, bleibt weit hinter dem zurück, was die Traumdeutung zu bieten hat, vor allem auch methodisch.

5.

Die Verbindung von Traum und Gesellschaft auf der operativen Ebene der Traumdeutung am Beispiel von Castoriadis

Was oben als die wesentlich im „Traumarbeits“-Kapitel niedergelegte ‚operative Ebene‘ der Traumdeutung und als bisher ungenutzte Möglichkeit des Verständnisses gesellschaftlicher Prozesse mit den Mitteln der Lehre Freuds bezeichnet worden ist, finden wir bei Cornelius Castoriadis angelegt. Er war sowjetkritischer Marxist, der allerdings Marx zunehmend in zentralen Punkten korrigierte, und darüber hinaus psychoanalytisch ausgebildet. Nach seiner militanten Phase in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in Frankreich, in der er die Zeitschrift Socialisme ou barbarie herausgegeben hatte und basisdemokratische Vorstellungen vertrat, ließ er sich zum Psychoanalytiker ausbilden. Unwillkürlich denkt man an Marx, der sich nach der Niederlage der 1848er Revolution in das British Museum zum langandauernden Studium der Ökonomie zurückgezogen hatte.

33 Vgl. REINHART KOSELLECK: Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich. In: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 278–299, sowie sein Nachwort zur Traumsammlung von BERADT in der Ausgabe von 1994. 34 Adorno (Anm. 5), S. 91. 35 ELISABETH LENK: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983.

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Was will Castoriadis sagen, wenn er Gesellschaft als eine „imaginäre Institution“36 bezeichnet? Gesellschaft beruht, so seine Ausgangsüberlegung, jenseits aller Funktionalität und Rationalität auf einem Symbolismus; sie existiert wesentlich als Prozess, Leistung, Kohärenz in der Sphäre des Symbolischen; sie ist ‚symbolische Ordnung‘, und zwar nicht nur Ordnung, wie die Strukturalisten meinen, die durch die differentiellen Abstände ihrer Symbole Bedeutung und damit Ordnung schafft, sondern vor allem dadurch, dass Reales symbolisiert wird. Dieser Symbolismus aber setzt Imagination, Einbildungskraft voraus als die „elementare und nicht weiter zurückführbare Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen“,37 etwas innerlich zu evozieren, entstehen zu lassen, was nicht, wenn man so will, vor Augen steht, genau also das, was wir im Traum erleben – vielleicht nicht nur ein Bild im Übrigen, sondern auch andere sensorische Qualitäten, einen Ton, einen Geschmack und sogar einen Schmerz, aber natürlich ist Visualisierung der dominierende Modus. Castoriadis verweist auf eine eindrucksvolle Stelle aus Hegels Jenenser Realphilosophie von 1805/06. Sie lautet: Er [der Geist, Verf.] selbst ist zuerst Anschauen; dies Selbst stellt er sich entgegen – nicht der Gegenstand, sondern sein Anschauen ist ihm Gegenstand […]. Dies Bild gehört ihm an, er ist im Besitz desselben, er ist Herr darüber; es ist in seinem Schatze aufbewahrt, in seiner Nacht – es ist bewußtlos, / d. h. ohne als Gegenstand vor die Vorstellung herausgestellt zu sein. Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert – reines Selbst, – in phantasmagorischen Vorstellungen ist es rings um Nacht, hier schießt dann ein blutig Kopf, – dort eine andere weiße Gestalt plötzlich hervor, und verschwinden ebenso – Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen. [Am nächsten Satz auf dem Rand vermerkt der Autor:] Selbstsetzen; innerliches Bewußtsein, Tun, Entzweien. [Und:] Macht, 38 aus dieser Nacht die Bilder hervorzuziehen, oder sie hinunterfallen zu lassen – [.]

Dabei hatte Castoriadis allerdings kein Allererstes, Primordiales im Sinne einer ursprungsphilosophischen Konstruktion vor Augen, sondern eine Fähigkeit, eine Kapazität, ein Vermögen, wie Kant es genannt hat, ein Vermögen, „etwas als Bild auftauchen zu lassen, das weder ist noch war“,39 noch vielleicht jemals sein wird, eine Leistung oder, wenn man so will, Funktion. Unschwer können wir hierin Kants, vor allem aber Fichtes ‚produktive Einbildungskraft‘ erkennen als die Fähigkeit, ‚Vorstellungen auch 36 Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Übersetzt von HORST BRÜHMANN, Frankfurt a. M. 1990 (frz. Original 1975). 37 Castoriadis (Anm. 36), S. 218. 38 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, neu hrsg. von ROLF-PETER HORSTMANN, Hamburg 1987 (Philosophische Bibliothek 333), S. 172 f. Interessant ist die Frage, warum Hegel später das endgültige System in der Phänomenologie des Geistes mit der Täuschung des Hier und Jetzt beginnen lässt, und nicht wie in diesem frühen Systementwurf die Philosophie des Geistes mit der ‚vorstellenden Einbildungskraft‘. Handelt es sich dabei um eine erkenntnistheoretische Verengung des Anfangs der Philosophie? 39 Castoriadis (Anm. 36), S. 218 Anm. 24.

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ohne Gegenwart des Objekts zu haben‘. Und keine Frage, auch der Traum, wie immer unwillkürlich hervorgerufen, ist ein Resultat dieses elementaren Vermögens, der sich in seiner Entstehung und seiner Bedeutung rekonstruieren lässt. Castoriadis unterscheidet nun dieses Vermögen als ‚das radikale Imaginäre‘, wie er es nennt, vom ‚aktualen Imaginären‘. Das ‚aktuale Imaginäre‘ sind die bestimmten und bestimmbaren Imaginationen, die einer besonderen Gesellschaftsformation zugrunde liegen und ihren Symbolismus gleichsam steuern. Das aktuale Imaginäre und das Symbolische haben ihre gemeinsame Wurzel im radikalen Imaginären. Nebenbei bemerkt, sieht Castoriadis als Marxist bzw. Theoretiker der Praxis gerade in diesem Zusammenhang die Bedingung der Möglichkeit der gesellschaftlichen Veränderbarkeit, der Alternative zum Bestehenden. Diese Alternative geht aus der Kritik des aktualen Imaginären hervor und transformiert es. Wäre Geschichte determiniert, wodurch auch immer (Evolution, Sachzwänge, Funktionsimperative etc.), und das Imaginäre nur visuelles Beiwerk, Begleiterscheinung und nicht Quelle des gesellschaftlichen Symbolismus, gäbe es zwar Veränderung, aber nicht als bewusstes Handeln, geschichtliche Tat. Diese wären dann allenfalls Nachvollzug. Jede Gesellschaft treffe aber eine ‚Wahl‘ in Bezug auf ihren Symbolismus. Diese Gedankengänge stehen natürlich bei Castoriadis im Zentrum. In unserem Zusammenhang muss ich sie nicht weiter verfolgen, sondern will die Einsatzstelle für die Operationen der Traumdeutung markieren. Sie liegt auf der Strecke zwischen dem ‚aktualen Imaginären‘ und dem gesellschaftlichen Symbolismus, der auch die gesellschaftlichen Praktiken umfasst. Castoriadis zufolge verrät die Behandlung des Menschen in der gesellschaftlichen Praxis und gerade auch in der Produktionspraxis des Fordismus, die er noch vor Augen hat, eine „Vorherrschaft des Imaginären“:40 Die Behandlung eines Menschen als Ding oder rein mechanisches System ist nicht weniger, sondern in höherem Maße imaginär, als wenn man ihn als Käuzchen betrachtet.41

40 Castoriadis (Anm. 36), S. 270 f. 41 Der volle Umfang der Passage lautet: „Die Behandlung eines Menschen als Ding oder rein mechanisches System ist nicht weniger, sondern in höherem Maße imaginär, als wenn man ihn als Käuzchen betrachtet. Denn nicht nur ist der Mensch einem Käuzchen unvergleichlich viel näher verwandt als einer Maschine; auch hat keine primitive Gesellschaft aus dergleichen Assimilationen der Menschen an etwas anderes jemals so radikale Konsequenzen gezogen wie die moderne Industrie mit ihrer Metapher des Automatenmenschen. Die archaischen Gesellschaften scheinen bei solchen Gleichsetzungen stets eine gewisse Doppeldeutigkeit zu bewahren; die moderne Gesellschaft setzt jene Metapher jedoch wortwörtlich in die Praxis um, und zwar auf die roheste Weise. Was die Art der geistigen Operationen und sogar die zugrundeliegenden psychischen Einstellungen angeht, besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen einem tayloristischen Ingenieur oder Industriepsychologen (der die einzelnen Handgriffe isoliert, Koeffizienten mißt, die Person in gänzlich künstliche ‚Faktoren‘ zerlegt und zu einem neuen Objekt zusammensetzt) und einem Fetischisten andererseits (dessen Genießen vom Anblick eines Stöckelschuhs abhängt oder der von einer Frau verlangt, eine Stehlampe nachzuahmen). Beidesmal ist jene eigentümliche

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Die moderne Gesellschaft mit ihrem Leitsystem der industriellen Produktion setze die Metapher des Automatenmenschen […] wortwörtlich in die Praxis um, und zwar auf die roheste Weise. Was die Art der geistigen Operationen und sogar die zugrundeliegenden psychischen Einstellungen angeht, besteht kein grundsätzlicher Unterschied zwischen einem tayloristischen Ingenieur oder Industriepsychologen (der die einzelnen Handgriffe isoliert, Koeffizienten mißt, die Person in gänzlich künstliche ‚Faktoren‘ zerlegt und zu einem neuen Objekt zusammensetzt) und einem Fetischisten andererseits (dessen Genießen vom Anblick eines Stöckelschuhs abhängt oder der von einer Frau verlangt, eine Stehlampe nachzuahmen).

Ebenso verhalte es sich mit der Bürokratie in der zeitgenössischen Gesellschaft: „Das bürokratische Universum ist durch und durch von Imaginärem bevölkert.“ Und er weist in diesem Falle auf die Veränderungen dieser „Imaginationen“ hin: das Phantasma der Organisation als gut geölter Maschine weicht dem Phantasma der Organi42 sation als sich selbst verbessernder und anwachsender Maschine.

Eine gewisse inkonsistente Terminologie sollte uns nicht zu sehr irritieren: Castoriadis spricht hier bedeutungsgleich von Metapher und Phantasma. Sie sind beide Elemente des ‚aktualen Imaginären‘. Er scheint den Begriff „Phantasma“ v. a. aber auf das Imaginäre des Einzelsubjekts zu beziehen. Weiter ist auch von einem Kern- oder Grundphantasma die Rede, dann wieder vom zentralen und vom peripheren Imaginären einer Kultur. Adorno hatte von ‚kollektiven imagines‘ gesprochen, und zum Wortschatz der Psychoanalyse gehört „Imago“, etwa Mutter- und Vaterimago, als ein „statisches Schema […], nach dem das Subjekt den anderen erfaßt“.43 Diese Inkonsistenz weist darauf hin, dass es noch keine ganz klaren Vorstellungen darüber gibt, wie die einzelnen Elemente des aktualen Imaginären entstehen, wie sie sich wandeln, wie sie steuernd und Bedeutung gebend auf den gesellschaftlichen Symbolismus einwirken und wie sie ihn verändern. Geschweige denn, dass es ins einzelne gehende Untersuchungen zu diesen Prozessen gäbe, die ich mir im Übrigen gut vorstellen könnte. Castoriadis zufolge haben wir in Marx’ Analyse des Warenfetischismus etwas Derartiges vorliegen. Wie entwickelt sich denn auf der Grundlage der Metapher des Automatenmenschen eine bestimmte materielle, in unserem Falle die industrielle Produktionspraxis? Wie wird denn aus dem Phantasma der gut geölten Maschine eine bestimmte bürokratische Organisationspraxis? Wie hängt es überhaupt zusammen mit den Sachzwängen, die die bürokratischen Subjekte selber zur Legitimation ihrer Verfahren ins Feld führen würden? Nur einmal spricht Castoriadis beiläufig davon, dass die SignifiGestalt des Imaginären am Werk, die das Subjekt mit einem Objekt identifiziert. Der Unterschied liegt nur darin, daß der Fetischist in einer Privatwelt lebt und sein Phantasma weiter keine Folgen hat, höchstens für den Partner, der sich dazu hergibt. Der kapitalistische Fetischismus des ‚effizienten‘ Handgriffs oder der Bewertung des Individuums durch Tests bestimmt dagegen das wirkliche Leben der gesellschaftlichen Welt.“ (Castoriadis [Anm. 36], S. 271). 42 Castoriadis (Anm. 36), S. 272. 43 JEAN LAPLANCHE / JEAN-BERTRAND PONTALIS: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973, S. 229.

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kanten des gesellschaftlichen Symbolismus „quasi-rationale Beziehungen miteinander eingehen“.44 Aber die Logik des sozialen Symbolismus sei nicht mit einer reinen Logik, nicht einmal mit einer Logik des klaren Diskurses gleichzusetzen, vielmehr träten in ihm „‚Verschiebungen‘ und ‚Verdichtungen‘“ auf, „in der Terminologie Freuds; bei Lacan heißt es ‚Metonymie‘ und ‚Metapher‘“, wie Castoriadis hinzufügt45 – also die ‚Werkmeister des Unbewußten‘, die Logik des Primärprozesses und damit die Logik des Traumes.46 Vielleicht gibt uns ja das, was ich die ‚operative Ebene‘ der Traumdeutung genannt habe, Hinweise auf die Zusammenhänge von Imaginärem und gesellschaftlichem Symbolismus und auf die Bewegungen dieses Symbolismus, ja unter Umständen bereits zumindest in Ansätzen ein Instrumentarium zu ihrer konkreten Untersuchung. Freilich wäre diese Gesellschaftsdeutung mit den Mitteln der Traumdeutung nicht mehr in eine individuelle Psychodynamik eingebunden, worauf Freud, wie wir gesehen haben, nachdrücklich bestand. Nun gehören die Beispiele, die Castoriadis für die aktual-imaginäre Steuerung gesellschaftlicher Praktiken anführt, inzwischen fast der Vergangenheit an. Sie stammen nämlich aus dem Geltungsbereich der industriellen Produktionsweise und der bürokratischen Organisationsform, jedenfalls in der Gestalt, in der sie ihm in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts vor Augen standen. Wie lohnend, aber auch dringlich die Untersuchung unseres zeitgenössischen ‚aktualen Imaginären‘ sein könnte, zeigt ein schon fast willkürlicher Blick auf gewisse Teilbereiche der Medizin, etwa die plastisch-ästhetische und rekonstruktive Chirurgie: Der Anteil der Männer, die einschlägige Eingriffe vornehmen lassen, wird immer größer. Das vordergründige Motiv sind natürlich Alterserscheinungen, Altersdiskriminierung und die Konkurrenz in der Arbeitswelt. Derart zweckrationale und letzten Endes partikuläre Motive erklären das Phänomen nicht hinreichend. Es ist, wie es in der Psychoanalyse heißt, überdeterminiert. Ein britischer Chirurg bemerkt dazu, dass Männer anders damit umgingen als Frauen: Sie sind nicht so emotional wie Frauen, was ihre Gesichter betrifft. Sie sehen es fast wie ein Auto, das kaputt ist und repariert werden muß. Sie sagen: „Ich muß meine Karosserie richten lassen.“47

44 Castoriadis (Anm. 36), S. 208. 45 Castoriadis (Anm. 36), S. 208 f. Anm. 13. 46 Dass die Gültigkeit der Operatoren des Traumes, v. a. Verdichtung und Verschiebung, über den Referenzrahmen einer individuellen Psychodynamik hinausreicht, scheint mir die rhetorisch-linguistische Wende Lacans anzudeuten, aber auch der Nachweis des Doppelcharakters der Sprache in der Polarität von Metaphorik und Metonymik durch Roman Jakobson, den russisch-amerikanischen Linguisten und Slawisten, den Mitbegründer der Prager Schule des Strukturalismus. 47 Adrian Richards zitiert bei WOLFGANG KOYDL: Mächtig gutes Aussehen. Londons Manager haben die plastische Chirurgie als Mittel für den Erfolg entdeckt. In: Süddeutsche Zeitung vom 16.11.2005.

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Wie kommt der Mensch dazu, als Metapher für sich selber und einen solchen Eingriff am eigenen Körper ein technisches Artefakt zu wählen, das er, zumindest als Gattungswesen, selber hergestellt hat, ein Automobil nämlich? Hier scheint ein Phantasma des aktualen Imaginären wie mit Händen greifbar und an der Oberfläche der gesellschaftlichen Praktiken ablesbar zu sein. Nun könnte man das noch als schrilles Begleitgeräusch abtun, das gesellschaftliche Tendenzen nicht im Ernst charakterisieren kann. Ernster wird das Problem dann etwa in der pränatalen Diagnostik, angesichts der Invitro-Fertilisation oder im Experiment mit und der Züchtung von Stammzellen. Welche Phantasmen steuern den Einsatz derartiger Technologien, ja welche haben überhaupt zu ihrer Entwicklung beigetragen oder sogar geführt? Es ist schwer vorstellbar, wie eine ethische Bewertung derartiger Praktiken ohne Aufklärung der motivierenden und Bedeutung gebenden unbewussten imagines und Phantasmen vorgenommen werden kann, aber gut vorstellbar, wie folgenlos sie ohne ihre Kenntnis bleiben wird. Der Traum der Traumdeutung – nicht nur der Freudschen im Übrigen –, nämlich die Entzifferung der Metamorphosen des Imaginären und ihrer Bedeutung für unsere Realität, ist nicht ausgeträumt, mag er in Bezug auf den individuellen Träumer von Neuround Kognitionswissenschaften sowie experimenteller Schlafforschung auch erheblich gestört werden. Die ‚Träume‘ einer Gesellschaft – es sind keine angenehmen, wie wir gesehen haben – entziehen sich den sciences.

Personen- und Werkregister

Abraham 67, 121 Abraham Ibn Esra 54, 60 Achille[u]s 27 Achmatova, Anna 275, 277 – Ich brachte den lockenköpfigen Sohn zu Bett 277 Adalbert von Prag 212 Adam 121 Ademar von Le Puy 200–203 Adorno, Theodor W. 283, 285, 289–292, 295 – Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda 285 – Postscriptum 283, 290 – Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie 289 Aelius Aristides 27, 28 – Hieroi logoi (Heilige Reden) 27, 28 Aeneas / Eneas 106, 181 Afra 211 Agamemnon 22, 27 Agapios 279 Aggadah 48, 52 Aischylos 27, 31, 42 – Choephoren 27 – Prometheus Vinctus 31 Albertus Magnus 14, 57, 111–117, 129, 135–138, 140–160, 215 – De somno et vigilia 57, 111, 112 – Libri tres 136, 137, 141–159 – Super sententias 112 Aleksandr I. 272 Algazel (al-Gazzali) 141 Alpharabius (al-Farabi) 141 Amalrich von Bene 61 Ambrosius von Mailand 210 Andreas 200–203

Annales Fuldenses 198 Anonymi Gesta Francorum et aliorum Hierosolymitanorum 201 Antica Smorfia 39 Antonios 76, 79 Antonius, Hl. 75, 76, 227–233 Antonius der Große 70 Apokalypse des Peter und Paulus 69 Apokryphe Akten 69 Apokryphe Evangelien 69 Apollo 34 Apophthegmata Patrum (Alphabetische Sammlung) 66, 70, 74, 77, 81, 84, 88 Apophthegmata Patrum (Systematische Sammlung) 73, 77, 79, 81, 88 Aretäus von Kappadokien 223 Ardalion 273 Aristoteles 30, 35, 46, 54–56, 104, 107–109, 112, 115–117, 137, 141–144, 152–154 – De generatione et corruptione 54 – De insomniis 56 – De somno et vigilia 112 – Meteorologica 54 – Parva Naturalia 136, 137, 141 Arsenios 73 Artemidor aus Daldis 13, 16, 21, 28, 33–43, 47, 78, 79, 120 – Oneirokritika 13, 33, 34, 39–42, 47, 78, 120 Asklepios 27, 28, 34 Athanasios von Alexandreia 75, 76, 85, 88 – Contra Gentes 76 – Vita des Antonios 75, 76, 85, 88 Attila / Atli 171–173 Atlamál 14, 171, 174 Atlakvíða 171, 173 Atli-Lied 173

300 Personen- und Werkregister Augustinus 14, 95–106, 109–111, 117, 129 – Confessiones (Bekenntnisse) 96–98, 100 – Contra Academicos 95 – De doctrina Christiana 103, 110 – De Genesi ad litteram (Genesis-Kommentar) 95, 96, 99–101, 103 – De libero arbitrio (Der freie Wille) 95, 102 – De trinitate 95, 96, 98, 100 – De vera religione 95 Averroes (Ibn Rushd) 112, 113, 126, 141, 157 Avicenna (Ibn Sînâ) 126, 127, 141, 142, 157, 225 Avvakum 266 Baldrs draumar 170 Baldur 170, 171 Bar Hedja 47 Basileios von Kaisarea 66, 67 – Enarratio in prophetam Isaiam 66 Basilio 245, 247, 248, 250, 252 Batu Khan 263 Bavli 49 Bel’skij, Vladimir 267, 275 Benjamin, Walter 10, 291 Beradt, Charlotte 282, 291, 292 – Das Dritte Reich des Traums 282, 291 Berakhot 47, 48, 50, 52, 56 Berdjaev, Nikolaj 262, 269 Bernger von Horheim 176, 180, 182 – Mir ist alle zît, als ich vliegende var 182 Bibel 45, 47, 48, 50, 62, 67, 72, 119, 140, 198, 266, 267 – Altes Testament 7, 8, 45, 54, 61, 69, 92, 101, 106, 107, 163, 193, 208, 261 – Genesis 61, 63, 101, 163, 271 – Exodus 50 – Numeri 50, 78 – Ruth 54 – 1. Könige 78 – 2. Könige 50 – Esther 45, 54 – Hiob 54, 61 – Jesaja 54

– Neues Testament 67, 69–71, 78, 81, 91, 96, 207 – Matthäus-Evangelium 70, 78, 91, 105 – Markus-Evangelium 70 – Lukas-Evangelium 71 – Apostelgeschichte 67, 69, 80 – 2. Korintherbrief 95 – Johannesoffenbarung 69 Bileam 50 Blériot 290 Boethius von Dacien 14, 109–112, 117 – De somniis 109–111 Bohemund von Antiochia 200–203 Bolli 163, 165 Boris, Hl. 259, 272 Bosch, Hieronymus 227, 228 Brun von Querfurt 212 – Sancti Adalberti Pragensis episcopi et martyris vita altera 212 Buch, Chronik genannt 264–266 Burton, Robert 226, 227 – The Anatomy of Melancholy 226, 227 Calderón de la Barca, Pedro 16, 236, 238, 239, 241, 244–247, 249, 250, 252–258 – El gran teatro del mundo (Großes Welttheater) 244, 250, 252, 254, 258 – La vida es sueño (Das Leben ist Traum) 16, 238, 244–246, 254, 257, 258 Callot, Jaques 231, 232 Cardanus, Hieronymus 24 Castoriadis, Cornelius 292–296 Cervantes, Miguel de 234, 236, 237 – Don Quijote 234–239 Chrétien de Troyes 181 – Lancelot 181 Chronik der Bluttat 264–266 Churchill, Winston 291 Cicero 26, 199, 261 – De Divinatione 26 – Somnium Scipionis 199, 261 Clotaldo 247–251, 253, 254 Codex Regius 163, 165, 170, 171 Constantinus Africanus 223, 224

Personen- und Werkregister 301 – De accidentibus melancolia et eius diffinitione 224 Cranach, Lucas d. Ä. 229, 230 Cuirithir 165 Daldianos s. Artemidor aus Daldis Daniel 61, 107, 137, 140, 193, 206, 208 Dante, Alighieri 137, 197, 199, 280 – Göttliche Komödie 137, 197 Descartes, René 16, 133, 134, 138, 235, 236, 238–247, 250, 253, 256–258 – Discours de la méthode 16, 238–243, 257 – Meditationes de prima philosophia 16, 133, 134, 238–244, 247, 257 Dialogus de contemplatione 84, 88 Dido 181 Dionysios Areopagita 68, 82 – De Coelesti Hierarchia 82 Dix, Otto 233 Domostroj 260 Dostojewskij, Fedor 262, 273, 279 – Der Idiot 262, 273 – Traum eines lächerlichen Menschen 279 Dschazîrî 119, 121, 124 Dshingis Khan 263 Dvoržickaja, Elena 261 Edda 161, 163, 165, 170, 171, 174 Einhard 198, 208, 209, 214 – Translatio et miracula ss. Marcellini et Petri 198 – Vita Karoli magni 208 Elias 279 Elisa 50 Ennius 27 – Annales 27 Epikureer 25, 30, 153 Ernst, Max 233 Erzählung über die verborgene Stadt Kitež 266, 274 Esquirol, Jean Etienne Dominique 220 – Des maladies mentales 220 Etienne Tempier von Paris 108, 109, 111, 117 Euripides 67

Eusebios von Kaisarea 67 – Historia Ecclesiastica 67 Evagrios Pontikos 66, 70, 79, 81, 82, 84, 88 – Ad monachos 84, 88 – Capitula xxxiii 81, 84, 88 – De malignis cogitationibus 79, 84, 88 – De oratione 84, 88 – Gnostikos 84, 88 – Praktike 70, 84, 88 Evodius 95 Eyjólf der Graue 166 Fachr ad-Dîn ar-Râzî 128 Fârâbî 126 Fedorov, Nikolaj 279 – Atavismus 279 Fest, Joachim 215 Fichte, Johann Gottlieb 291 Flaubert, Gustave 231, 232 Flavius Josephus 45, 47, 79 Folquet de Marseille 181 – En chantan m’aven a membrar 181 Foucault, Michel 29, 32, 36, 43 Freud, Sigmund 7, 9, 16, 17, 21, 29, 30, 32, 36, 40, 42, 43, 47, 48, 134, 135, 152, 281–292, 296, 297 – Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten 287 – Die ‚kulturelle‘ Sexualmoral und die moderne Nervosität 284 – Entwurf einer [medizinischen] Psychologie 286 – Hysterie-Studien 287 – Massenpsychologie 283, 284 – Moses-Studie 283, 285 – Totem und Tabu 284, 285 – Traumdeutung 7, 16, 29, 42, 134, 135, 281, 283, 284, 286, 287, 289, 291, 292, 296, 297 – Unbehagen in der Kultur 284, 285 – Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse 290 – Zur Psychopathologie des Alltagslebens 287 Friedrich I. (Barbarossa) 177, 199, 209 Friedrich II. 189 Friedrich von Hausen 175–177, 180–182

302 Personen- und Werkregister – In mînem troume ich sach 180 – Sî darf mich des zîhen niet 180, 181 Fulcher von Chartres 201, 202 – Historia Hierosolymitana 201 Gabriel 52, 55, 198 Galen (Galenos) 28, 34, 35, 79, 141, 220 – De dignotione ex insomniis 34 Georgios 75, 77, 78, 87, 89, 90 – Vita des Theodoros von Sykeon 75, 77, 78, 87, 89, 90 Gerhard von Augsburg 211 – Vita Sancti Uodalrici 211 Gero von Köln 209, 210 Geschichten von 1001 Nacht 235, 246 Gestr 164 Ghazâlî 128 Ginover 181 Gippius, Zinaida 275 Gísla saga Súrssonar 166 Gisli Súrsson 14, 161, 166–170, 173 Glaumvör 171–173 Glazunov, Il’ja 275 Gleb, Hl. 259, 272 Göndol 169 Goethe, Johann Wolfgang von 234 – Faust 234 Gottfried von Bouillon 203 Gratianus 137 – Concordia Discordantum Canonum 137 – Decretum Gratiani 137 Gregor I. 138 – Dialogi 138 Gregor von Nyssa 68, 79 Grek, Maxim 260 Grimbald 205–207 ‚Grönländischer Atlamá‘ 14, 171 Gudrun Ósvifrsdóttir 161–167, 171, 173 Gumilev, Nikolaj 277 Gunnar 14, 161, 171–174 Gunter von Regensburg 209 Hadîth 119–121, 123, 125, 127, 128 Hagen 171 Hariulf 214

– Chronique de l’abbaye de Saint-Riquier 214 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 293 – Jenenser Realphilosophie 293 – Phänomenologie des Geistes 293 Heinrich I., König von England 205–208 Heinrich I., ostfränk.-dt. König 210, 211 Heinrich II. 203, 212, 213 Heinrich III. 203–205 Heinrich VI. 189, 194 Heinrich von Morungen 15, 176, 180, 183, 184 – Ich waene, nieman lebe 186–188 – In sô hôher swebender wunne 188 – Leitlîche blicke 188 – Mir ist geschehen als einem kindelîne 183–185 – Owê, sol aber mir iemer mê 184, 185, 192 – Von den elben wirt entsehen vil manic man 188 – Wie sol vröidelôser tage 189 Heinrich von Veldeke 181 – Eneasroman 181 Heito 197, 198 Hekhalot-Literatur 50 – Hekhalot Zutarti 50 Helena 191 Henoch-Literatur 69 Herakles 31 Heraklit 23 Herger 176 Hermann von Reichenau 205 Hermann von Thüringen 183, 189 Herodes 91 Hippokrates 79, 223 – Aphorismata 223 – Corpus Hippocraticum 220, 222 Hiskia 50 Historia Monachorum in Aegypto 73, 74, 77, 85, 88 Högni 14, 171–174 Homer 22, 27, 278 – Epen 27 – Ilias 22 Hugo von St. Viktor 106 – Didascalicon de studio legendi 106

Personen- und Werkregister 303 Iamata 27 Ibn ‘Arabî 128 Ibn Chaldûn 117, 118, 125 – Muqaddima 118 Ibn Challikân 123 Ibn Rušd s. Averroes Ibn Sînâ s. Avicenna Ibn Sîrîn 53, 120, 126 Ibn Taimiyyas 128 Igor-Lied 259, 260 Ilia 27 Innozenz III. 195 Ioannes Klimakos 71, 73, 74, 76, 79, 81, 86, 89, 90 – Scala Paradisi 66, 71, 73, 74, 76, 79, 81, 86, 89, 90 Ioannes Moschos 73, 77, 78, 86, 89, 90 – Pratum Spirituale 66, 73, 77, 78, 86, 89, 90 Isaak Israelita 141 Ivan III. 272 Jakob 49, 61, 121, 140 Jehuda ben Shemu'el ha-Levi 55 – Sefer ha-Kusari 55 Jehuda der Fromme (Jehuda he-chasid) 59 – Sefer Chasidim (Buch der Frommen) 59, 60 Jesus Christus 70, 91, 207, 274 Jesus Sirach 92 Johannes, Hl. 266, 270 Johannes Chrysostomos 67, 76, 260 – In Acta apostolorum 67 Johannes von Salisbury 14, 104–108 – Policraticus 104–108 Johannes (Hans) von Hermansgrün 199 Johannes von Worcester 205, 207 – Chronicle 205, 207 Jones, Ernest 135, 287 – Theorie der Symbolik 287 Josef Albo 58 – Sefer ha-'Ikkarim (Buch der Grundlehren) 55, 58 Joseph (AT) 50, 61, 92, 101, 107, 119, 120, 137, 140, 163 Joseph (NT) 91, 105

Jung, Carl Gustav 261, 262, 276, 277, 286, 291 Jupiter 106 Kabbala 46, 60, 61 Kallinikios 74, 85, 89 – Vita des Hypatios 74, 85, 89 Kant, Immanuel 134, 293 – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht 134 Karl der Große 197, 199, 208, 209, 214 Karl III. 214 Karl IV. 214 Kindî 126 Kitež s. Erzählung über die verborgene Stadt Kitež ‚Kitežer Chronisten‘ 16 Kjartan Óláfsson 162, 163, 165, 166 Klytaimnestra 27 Klyčkov, Sergej 275 Kohelet 54 Kohelet-Kommentar 54 Konrad von Bayern 205 Konrad II. 204, 209 Koran 94, 118–121, 124–128 Korolenko, Vladimir 275 Kostbera 171 Krimhild 171 Krug, Wilhelm Traugott 134 Kürenberger 177 – Falkenlied 177 Kyrillos von Skythopolis 72–74, 76, 77, 80, 81, 86, 89, 90 – Vita des Euthymios 73, 74, 77, 80, 86, 89, 90 – Vita des Ioannes 72, 74, 76, 77, 80, 81, 86, 89, 90 – Vita des Kyriakos 86, 89, 90 Lacan, Jaques 296 Laxdœla Saga 14, 162, 163, 166, 173 Laurentius, Märtyrer 211, 212 Le Bon, Gustave 285 Legende von der Stadt Kitež 16 Leo Hebraeus s. Lewi ben Gershon

304 Personen- und Werkregister Leontios von Neapolis 81, 87, 89, 90 – Vita des Ioannes Eleimon 81, 87, 89, 90 – Vita des Symeon Salos 81, 87, 89, 90 Lewi ben Gershon (Leo Hebraeus) 57, 58 – Milchamot Adonai (Kämpfe Gottes) 57 Líadan 165 Lied von der Heerfahrt Igors s. Igorlied Lilit 52 Loki 171 Lucan 27 Ludwig der Deutsche 198 Ludwig der Fromme 198 Lukrez 25, 30 – De rerum natura 25, 30 Lunaria-Literatur 50 Macpherson, James 278 Maimonides s. Moses ben Maimon Marcus Aurelius 28 Maria 91 Markos Diakonos 70, 77, 87, 89, 90 – Vita des Porphyrius von Gaza 70, 77, 87, 89, 90 Martha, Mutter des Symeon Stylites d. J. 76 Marx, Karl 292, 294, 295 Massekhet Berakhot 48 Melanchthon, Philipp 225, 226 Mel’nikov Pečerskij, Pavel 16, 267, 269, 270, 272–277 – Erzählung von zwei Mönchen in Novgorod 268, 273 – Griša 273 – In den Wäldern 272, 273 Merežkovskij, Dimitij 275 Miriam 50 Mischna 49 Mohammed 14, 92, 118, 119, 122, 123, 125, 126, 128, 129 Montanos 67 Mordechais 45 Moritz, Karl Philipp 220 – Magazin zur Erfahrungsseelenkunde 220 Mose[s] 50, 67

Moses ben Maimon (Moshe ben Maimon; Abū Imrān Mūsā ibn Maimūn; Maimonides) 55–58, 63, 141 – More nevuchim (Führer der Unschlüssigen) 55–57 – Sefer Mishne Tora 56, 57 Moses de Leon 46 – Sefer ha-Sohar (Buch des Glanzes) 46 Nabuchodonosor (Nebukadnezar) Nabulusî 122 Narziss 183 Nauma 168, 169 Nebridius 95 Nesterov, Michail 275 Nausikaa 27 Nibelungenlied 170, 171

61, 193, 206

Oddr Snorrason 164 – Olaf-Vita 164 Odin 170, 171 Olaf Tryggvason 163 Origenes 66, 71 – Contra Celsum 66 Ossian 278 Otloh von St. Emmeram 204, 205 – Liber visionum 204 Otto I., der Große 199, 203, 208–211, 213 Otto II. 211, 212 Otto III. 204, 212, 213 Otto IV. 189, 195 Otto von Freising 209 Ovid 181, 271 – Heroides 181 – Metamorphosen 271, 297 Paré, Ambroise 226 Paris 181 Palladios 73, 74, 79, 85, 88 – Historia Lausiaca 66, 73, 74, 79, 85, 88 Passio Perpetuae 69 Paul, Jean 7 – Blicke in die Traumwelt 7 Paulus 67, 69, 80, 95, 96

Personen- und Werkregister 305 Penelope 27 Peter Bartholomäus 200–203, 215 Peter der Große 270 Petrus 67, 69, 201, 210, 211 Pharao 101, 120 Philipp von Schwaben 189, 194 Philo von Alexandrien 45 – De Somniis 45 Platon 29, 67, 68, 97, 177, 223, 235, 247, 271, 278 – Höhlengleichnis 247 – Theaitetos 235 Plotin 68 Prišvin, Michail 275 Prokopios von Gaza 67, 75 – Commentarii in Genesin 67 – Commentarii in Isaïam 67 Prometheus 31, 32 Properz 27 Prosa-Lancelot 181 Pseudo-Aristoteles 223, 225 – Problemata 223, 225 Pseudo-Hippokrates 28 – Peri diaites 28 Pseudo-Seneca 33 – Octavia 33 Quijano, Alonso (Don Quijote de la Mancha) 234–239 Rabbi Gershom ben Jehuda 51 Rabbi Jochanan 48, 62 Rabbi Me'ir 48 Rabbi Natan 48 Raimund von St-Gilles 200, 202, 203 Raymund von Aguilers 200, 201, 203 – Liber 200, 201, 203 Raschi (Akronym zu Salomo ben Jitzhaqi) 51, 60 Râzî 128 Reinmar der Alte 178, 179, 189 – Ein wîser man sol niht ze vil 179 – Swaz ich nu niuwer maere sage 178, 179 Rilke, Rainer Maria 260 Rimskij-Korsakov, Nikolaj 267, 275–278

– Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitež und der Jungfrau Fevronija 267, 275–278 Rosaura 245, 257 Sa’adja Gaon 52–54, 63 – Sefer Emunot we-De’ot (Buch der philosophischen Meinungen und Glaubenslehren) 54 Safî 122, 125, 128 Sagas 14, 160–163, 165–167, 170, 173, 174 Saga von Gisli Súrsson 14, 166 Salomo ben Jitzhaqi s. Raschi Sancho Pansa 235–239 Savonarola 260 Schongauer, Martin 228, 229, 231 Sefer ha-chajjim 60–63 Sefer ha-Razim (Buch der Geheimnisse) 49 Sefer Shimmush Tehillim 49 Segismundo 235, 245–247, 249, 250, 252–257 Septuaginta 45, 75, 78 Sendschreiben eines Sohnes an den Vater 267, 268, 274 Shakespeare, William 9 Shim’on ben Zemach Duran 58 – Magen Avot (Schild der Väter) 58 Shmu’el bar Jehuda ha-Levi Edels 52 Sibylle Phemonoe 33 Sigfrid / Sigurd 165, 171 Širjaev, Boris 279 Smaragd 260 Snorri Sturluson 171 Somnia Danielis (Somniale Danielis) 137, 162, 164, 169, 172, 173 Somnialia Joseph 137 Stephan von England 207 Sterndeuter / Hl. drei Könige 91, 125 Spervogel 176 Symeon Stylites d. J. 76 Synesios 26 Talmud 46–49, 56, 59, 60, 62 – Babylonischer Talmud 47, 51–53 – Jerusalemer Talmud 48, 49, 51, 62 Tertullian 68 – De anima 68

306 Personen- und Werkregister Theodoretos von Kyrrhos 71, 80, 81, 85, 89 – Philotheos Historia 80, 81, 85, 89 Theodoros von Sykeon 75 Theophanu 212, 213 Thietmar von Merseburg 209–213 – Chronik 209–213 Thomas von Aquin 57, 109, 135, 136, 138–140, 142 – Summa contra Gentiles 140 – Summa theologiae 136, 139 Thurkill, Bauer 138 – Visio Thurkilli 137, 138 Tieck, Ludwig 9 – Franz Sternbalds Wanderungen 9 Tolstoj, Lev 272 – Krieg und Frieden 272 Tora 50, 56, 57 Ulrich von Augsburg 210, 211 Ulrich von Gutenburg 176, 180, 182 Uvarov-Kodex 264 Vätersprüche s. Apophthegmata Patrum Vegtamr 170 Venus 186, 187 Vergil 27, 106 Vesteinn 166 Vincentius Burgundus 138 – De somno et vigilia 138 – Speculum quadruplex maius 138 Vinzenz von Beauvais 138, 139, 142 – Speculum maius 138 Visio Tnugdali 138 Vita der Martha 77, 80, 81, 86, 89, 90 Vita des Daniel Stylites 77, 79, 87, 89, 90 Vita des Pachomios 70, 75, 77, 80, 81, 85, 88

Vita des Symeon Stylites d. J. 73, 74, 76, 81, 86, 90 Vološin, Maksimilian 261, 269, 279 Walahfrid Strabo 197 – Visio Wettini 197 Walther von der Vogelweide 15, 175, 176, 179, 180, 183, 189, 191–195 – Dô der sumer komen was 191 – Ein meister las 193 – Ich bin nû sô rehte vrô 190, 191 – Ich hân gesehen in der werlte ein michel wunder (König Friedrichston) 194 – Ich saz ûf eime steine 194, 195 – Nement, frowe, disen cranz 192 – Owê, war sint verswunden alliu mîniu jâr 193 – Sumer unde winter beide sint 190 – Wiener Hofton 193 Wetti 197 Weyer, Jakob 226 Widukind von Corvey 208, 209 – Res gestae Saxonicae 208, 209 Wilhelm IX. von Aquitanien und Poitou 176 – Farai un vers de dreyt nien 176 Wilhelm der Eroberer 205 Wilhelm von Malmesbury 214 – Gesta regum Anglorum 214 Wipo 205, 209 – Gesta Chuonradi 204, 205 Wolfram von Eschenbach 176, 180, 181, 183 – Ein wîp mac wol erlouben mir 183 – Parzival 181, 183 Zauzol’sker Erzählung 266 Zeus 31