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German Pages 234 [296] Year 2021
Angelika Fricke studierte Slavische und Klassische Philologie und ist Lehrbeauftragte am Institut für Klassische Sprachen und Literaturen (Marburg). Manuel Reith studierte Geographie und Klassische Philologie und ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Klassische Sprachen und Literaturen (Marburg).
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40641-8
Angelika Fricke · Manuel Reith (Hg.)
Im vorliegenden Band wird in 23 Beiträgen die gegenwärtige Situation der Klassischen Philologie in den Blick genommen. Dabei sind die Befürchtungen, Erwartungen und Hoffnungen sehr unterschiedlich, welche die Autorinnen und Autoren aus der Sicht außeruniversitärer Arbeitsbereiche wie Bibliothekswesen oder Auswärtiger Dienst, Nachbarfächern wie Medizingeschichte und Jura sowie des eigenen Faches an anderen europäischen Standorten, etwa Rom oder Riga, an eins der sogenannten Kleinen Fächer herantragen.
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert
Angelika Fricke und Manuel Reith (Hg.) unter Mitwirkung von Gregor Vogt-Spira
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert
Angelika Fricke und Manuel Reith (Hg.) unter Mitwirkung von Gregor Vogt-Spira
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert
Angelika Fricke und Manuel Reith (Hg.) unter Mitwirkung von Gregor Vogt-Spira
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Umschlagsabbildung: © Archäologisches Seminar Philipps-Universität Marburg Foto Martina Klein Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27474-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-27475-8
Inhaltsverzeichnis Grußwort der Präsidentin der Philipps-Universität Marburg Vorwort der Herausgeber
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Einleitung: Inwiefern können Latein und Griechisch den Bedürfnissen des frühen 21. Jahrhunderts Rechnung tragen? Einige Überlegungen Gregor Vogt-Spira
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1. Inwiefern können Latein und Griechisch den Bedürfnissen der aktuellen Gegenwart Rechnung tragen? Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert Melanie Möller
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Als Philologe im Auswärtigen Dienst Dirk Lölke
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Über die Aktualität antiker Tugenden Andreas Ritzenhoff
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Welche Möglichkeiten bietet die automatisierte Verarbeitung von Umgangssprache? Ansätze für eine kontextspezifische Textanalyse mithilfe von Natural Language Processing (NLP) Korbinian Spann
47
Latein und Griechisch an Bibliotheken – das Beispiel der Bayerischen Staatsbibliothek Klaus Kempf & Philipp Weiß
55
Latein- und Griechischunterricht als hortus conclusus? Maria Lucia Sancassano
71
Latin Reloaded. The Language of the Romans in the Netflix Show Barbarians (2020) Alessandro Balistrieri
85
2. Erwartungen und Anforderungen der Nachbarfächer an Latein und Griechisch Erwartungen und Anforderungen der Philosophie an Latein und Griechisch Alexander Becker
103
Christliche Theologie und lateinische und griechische Philologie Wolf-Friedrich Schäufele
113
Vom Kampf der Mediziner mit den „alten“ Sprachen Irmtraut Sahmland & Gerhard Aumüller
125
Erwartungen und Anforderungen der Pharmaziegeschichte an die lateinische und griechische Philologie Christoph Friedrich
143
Erwartungen und Anforderungen an Latein und Griechisch aus der Perspektive der Rechtswissenschaften und des Römischen Rechts Constantin Willems
151
Altorientalistik und Klassische Philologie Nils P. Heeßel
159
Von Zwergen, Riesen, Bienen, Spinnen und humanoiden Robotern: Überlegungen zum Verhältnis von Alt- und Neuphilologie an Universität und Schule Sonja Fielitz & Maike Gotthardt
163
Potentiale und Leistungsfähigkeit der Klassischen Philologie – Stichworte für einen romanistischen Wunschzettel Ulrich Winter
181
3. Die Debatte um die Alten Sprachen im internationalen Vergleich Classics Education in Scotland – A Sketch Douglas Cairns
195
Griechisch und Latein im heutigen Frankreich: Welche Perspektiven hat das Studium? Hélène Casanova-Robin
213
Italian Job – Decline and (Hopefully) Recovery of the Study of Latin in Italy Francesca Romana Berno
225
Die Alten Sprachen in Österreich – der Siegeszug des Neulatein Florian Schaffenrath
237
Latin for Polish Teenagers – A Case of Małgorzata Musierowicz Elżbieta Wesołowska
247
Die klassischen Sprachen in der Gegenwart: eine lettische Erfahrung Ilze Rūmniece
257
Alte Sprachen an der Tartuer Universität: vom Anfang bis heute Janika Päll
265
Classics in St. Petersburg Olga V. Budaragina & Elena L. Ermolaeva Zu den Autorinnen und Autoren
277 287
Grußwort der Präsidentin der Philipps-Universität Marburg Seit einigen Jahren rückt verstärkt der Wert der Kleinen Fächer für die Innovationskraft der Universitäten ins Blickfeld. Sie sind nicht nur fester Bestandteil des Fächerkanons, sondern eröffnen in Forschungs- und Lehrverbünden mit größeren Fächern neuartige Perspektiven, sind dabei hervorragend national und international vernetzt und prägen damit das universitäre Profil. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie die Hochschulrektorenkonferenz haben deshalb unter dem Motto „Kleine Fächer – große Potenziale“ im Wintersemester 2019/20 die Projektinitiative „Kleine Fächer-Wochen“ an den deutschen Hochschulen ausgeschrieben, an denen sich die Philipps-Universität mit dem Thema „‚Die weite Welt vor Ort‘. Der Beitrag der Kleinen Fächer zur Internationalisierung der PhilippsUniversität Marburg“ beteiligt hat. Die Philipps-Universität verfügt über eine große Zahl Kleiner Fächer (30 nach der aktuellen Kartierung der Mainzer Arbeitsstelle ‚Kleine Fächer‘) und hat sich ausdrücklich zum Ziel gesetzt, die derzeit vorhandene Vielfalt der Kleinen Fächer langfristig zu erhalten. Dazu gehören auch die alten Sprachen, die seit den Anfängen vor fast 500 Jahren fester Bestandteil der Marburger Universität sind. Der hier vorgelegte Band zeigt exemplarisch, dass sie weit über die akademische Welt hinaus nach wie vor Interesse finden und auf die unterschiedlichsten Herausforderungen der Gegenwart antworten. Er macht darüber hinaus deutlich, wie intensiv sie zugleich innerhalb der Philipps-Universität vernetzt sind – die Liste mit weiteren Partnerfächern ließe sich mühelos verlängern. Und nicht zuletzt wird erkennbar, dass sie nicht nur in einem engen internationalen Austausch stehen, sondern dass die griechisch-römische Antike auch bei Partnerinnen und Partnern aus vielen anderen Sprach- und Kulturräumen Bezugspunkt und Gegenstand der Auseinandersetzung ist. Ich wünsche eine anregende Lektüre! Prof. Dr. Katharina Krause Präsidentin der Philipps-Universität Marburg
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Vorwort der Herausgeber Als vor einhundert Jahren der Klassische Philologe Ulrich von WilamowitzMoellendorff, Professor an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität, emeritiert wurde und Werner Jaeger seine Nachfolge auf diesem einflussreichen Lehrstuhl antrat, sah die Welt (der Klassischen Philologen) noch bedeutend anders aus: Es war schwerlich vorstellbar, dass eine deutsche Universität ohne eine Professur auskam, die nicht der Erschließung und Erforschung der Schriften der griechisch-römischen Antike gewidmet war. Doch schon damals beklagte Wilamowitz, der als „der größte Altertumswissenschaftler der Moderne“1 gilt und für eine Neuausrichtung der Klassischen Philologie in ihrer ganzen Breite steht, gegen die Altertumswissenschaften gewendete Tendenzen im preußischen Schulsystem. 2 Diese bildungstheoretische Debatte setzte Jaeger fort und wurde selbst zur Leitfigur des sogenannten Dritten Humanismus.3 Hundert Jahre später sieht sich die Klassische Philologie in einer vergleichbaren Situation, indes scheint ihre Akzeptanz und Selbstverständlichkeit seitens der Gesellschaft erschüttert und die (hochschul-)politischen Reaktionen fallen immer drastischer aus. Ein aktuelles Beispiel dafür stellt die geplante und dann wieder verworfene Schließung des traditionsreichen Instituts für Altertumskunde in Halle dar. Eindrücklich schildert Michael Sommer in seinem Angriff mit der Abrissbirne übertitelten Artikel die akute Gefährdung der sogenannten Kleinen Fächer – zu ihnen zählen mittlerweile auch Latinistik und Gräzistik –, die eben „nicht mit der Quantität“ als einem vermeintlichen und scheinbaren „Indikator für Qualität“ aufwarten können.4 1
William M. Calder III, s. v. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, in: Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon, hg. von Peter Kuhlmann und Helmuth Schneider, [DNP, Suppl. 6], Stuttgart/Weimar 2012, Sp. 1312–1317. 2 Vgl. dazu im Überblick Luciano Canfora, Wilamowitz und die Schulreform: Das ‚Griechische Lesebuch‘, in: Wilamowitz nach 50 Jahren, hg. von William M. Calder III, Hellmut Flashar und Theodor Lindken, Darmstadt 1985, 632–648. 3 William M. Calder III, s. v. Jaeger, Werner, in: Geschichte der Altertumswissenschaften (wie Anm. 1), Sp. 617–621. 4 Michael Sommer, Angriff mit der Abrissbirne, F.A.Z. vom 2. Juni 2021, 9.
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Welche Wertschätzung demgegenüber solche Kleinen Fächer an der Philipps-Universität Marburg genießen, ließ sich einmal mehr angesichts der Vielzahl an Veranstaltungen im Rahmen der Kleine Fächer-Wochen im Wintersemester 2019/20 erkennen. Zu ihnen gehörte auch das Forum der klassischen Philologie, ein Studientag, dem der vorliegende Band seine Entstehung verdankt. Einige der folgenden Beiträge wurden dort als Impulsreferate vorgetragen – und haben ihren ursprünglichen Duktus beibehalten −, andere sind erweitert, manche erst später für die geplante Publikation geschrieben worden. In der Gliederung dieses Bandes spiegelt sich die thematische Dreiteilung des Studientages wider: So haben sich die Autorinnen und Autoren mit den „Bedürfnissen der Gegenwart“, den „Erwartungen und Anforderungen der Nachbarfächer“ und schließlich der „Debatte um die Alten Sprachen“ in einem Ländervergleich auseinandergesetzt und sich dabei aus der Perspektive ihrer unterschiedlichen Professionen, Fächer und Herkunftsländer an der Diskussion beteiligt. In ihren Feststellungen, Reflexionen und Wünschen werden die alten Sprachen auf ganz unterschiedliche Weise in den Blick genommen, zugleich geben sich gemeinsame Leitfragen, Kritik und Hoffnungen zu erkennen. Im Mittelpunkt steht zwar immer wieder die Frage nach dem Nutzen von Latein und Griechisch: Wozu müssen wir die Sprachen noch erlernen, wenn es doch Übersetzungen gibt oder eine ‚modernere‘ Terminologie die althergebrachte ersetzt? Worin liegt der ‚Mehrwert‘ der Alten Sprachen? Benötigt eine Neue Philologie die ‚Vorgeschichte‘? Die Antworten aber fallen je nach Blickwinkel der Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlich aus: Steht bei den einen das Sprachenlernen aus kulturtechnischer Sicht im Vordergrund, so richten andere ihr Augenmerk auf die literarische Seite der Alten Sprachen. Gleichwohl ist allen gemeinsam, dass die intensive Auseinandersetzung mit Latein und Griechisch einen – fachlichen oder lebensweltlichen – Nutzen hat. Dass allerdings dieser Nutzen längst nur noch von wenigen erkannt wird, zeigt sich unter anderem im Nachlassen solider Sprachkenntnisse, das nicht nur von philologischer Seite beklagt wird, sondern auch von fast allen Vertreterinnen und Vertretern der Nachbarfächer, in denen Kenntnisse in
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Latein und/oder Griechisch nicht mehr Studienvoraussetzung sind, die aber auf die Arbeit mit Originaltexten nicht verzichten wollen. Ganz gleich, ob Latein oder Griechisch kulturelle und ideelle Voraussetzung oder „Wissensspeicher“ sind – in diesen Sprachen und Literaturen steckt ein Teil des Wissens und der Wissenschaftsgeschichte, der verlorenzugehen droht. Der Versuch, Literatur und Kultur der Antike im Interesse eines zeitlich effizienten und ‚attraktiver‘ erscheinenden Studiums von der jeweiligen Sprache zu entkoppeln, birgt die Gefahr eines ‚Etikettenschwindels‘, vor dem in diesem Band länderübergreifend gewarnt wird. Doch all dieser Skepsis stehen auch Hoffnungen und Ideen für eine Klassische Philologie des 21. Jahrhunderts gegenüber: Einer ihrer Aspekte ist zunächst die Erweiterung des Forschungsgegenstands über die Grenzen der ‚klassischen‘ Texte hinaus, sei es, dass auch Schriften außerhalb des tradierten antiken Kanons in den Blick genommen werden, sei es, dass der umfangreichen und oft noch zu erschließenden lateinischen und griechischen Literatur der Frühen Neuzeit ein fester Platz im Fach eingeräumt wird. Des Weiteren zeigen sich Forschungspotentiale in Form gemeinsamer Projekte, die sich sowohl mit anderen Philologien als auch mit einer Reihe von ‚Nachbarfächern‘ realisieren lassen. Zudem wird augenfällig, dass das Wiederaufleben einer ‚toten‘ Sprache nach einer Epoche ihrer ideologischen Ächtung vom kulturellen Selbstverständnis einer Nation oder Generation zeugen kann, wie es besonders die Beiträge aus den ehemaligen ‚Ostblock-Staaten‘ verdeutlichen. Schließlich bietet der Schatz der antiken Sprachen und Literaturen auch in der heutigen Zeit eine Bezugsgröße für die Kunst, die in ihren sich weiterentwickelnden Ausdrucksmöglichkeiten einen alten Gegenstand durch Imitation, Abstraktion und kritische Auseinandersetzung zu einem neuen Gut mit eigenem künstlerischen Wert wandelt, wie etwa der Beitrag zur Serie Barbarians zeigt. So vielgestaltig das Thema „Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert“ ist, so facettenreich fallen auch die Beiträge dieses Bandes aus. Wichtig war es uns daher, sie nicht in ein zu starres formales Korsett zu zwängen. Hieraus erklärt sich, dass einige Autorinnen und Autoren von einer subjektiven Erfahrung in eher feuilletonistischem Ton berichten, andere sich hingegen objektiv und mit dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit ihrem Gegenstand
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zuwenden. Bewusst haben wir auch auf eine Vorgabe zum sprachlichen Umgang mit Geschlechtern verzichtet. Die Fertigstellung des Bandes hat sich aufgrund der noch anhaltenden COVID-19-Pandemie immer wieder verzögert, und umso dankbarer sind wir nun dafür, dass wir diesen Band vorlegen können, der seine Leserinnen und Leser dazu einladen soll, den Wert der alten Sprachen und der mit ihnen verbundenen Literatur weiter zu reflektieren. Wir danken herzlich allen, die durch die Überarbeitung und Bereitstellung ihrer Vorträge oder durch die – in einem eher engen Zeitrahmen erbetenen – Zusendungen eigens verfasster Beiträge diesen Band haben entstehen lassen. Unser besonderer Dank gilt Herrn Professor Gregor Vogt-Spira, der mit großem Wohlwollen und wertvoller Unterstützung die Umsetzung dieses Buchprojekts gefördert hat. Weiterhin sind wir Herrn Robert Jones für die Durchsicht der englischen Beiträge und Herrn Niklas Evens für seine tatkräftige Hilfe bei der Erstellung der Druckvorlage zu Dank verpflichtet. Der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, insbesondere Herrn Dr. Jan-Pieter Forßmann, Herrn Dr. Jens Seeling und Frau Lea Eggers, danken wir schließlich für die unkomplizierte Zusammenarbeit.
Angelika Fricke
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Manuel Reith
Einleitung Inwiefern können Latein und Griechisch den Bedürfnissen des frühen 21. Jahrhunderts Rechnung tragen? Einige Überlegungen Gregor Vogt-Spira
1 Veränderungen im Bildungswesen werden in der Regel damit begründet, den Bedürfnissen der Gegenwart müsse besser Rechnung getragen werden. Wie auch immer solche Bedürfnisse im Einzelnen bestimmt werden, Latein und Griechisch scheinen dabei eher auf die Seite der Tradition zu gehören, gegen deren Beharrungskraft sich die Reformen richten. Indes ist das nicht immer der Fall gewesen. Im letzten halben Jahrtausend standen Latein und Griechisch vielfach auf Seiten der Modernität und galten als Träger von Innovation. Es seien nur einige Beispiele in Erinnerung gerufen: Der Renaissance-Humanismus verstand den Rückbezug auf die Antike als Aufbruch und verbreitete sich mit dieser Auffassung phasenverschoben über ganz Europa; im 16. Jahrhundert ging man soweit zu behaupten, wer nicht genügend Latein könne, sei in der Muttersprache ein Fremder. 5
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J. C. Scaliger, Poetices libri septem, unter Mitwirkung von M. Fuhrmann hrsg., übers., eingel. und erl. von L. Deitz und G. Vogt-Spira, V 1, Bd. 4, Stuttgart/Bad Cannstatt 1998, 42.
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Bis ins 18. Jahrhundert hinein findet sich die Ansicht, die verschiedenen europäischen Nationen verdankten ihren kulturellen Stand dem Studium der großen antiken Schriftsteller: Wer noch nicht so weit entwickelt sei und aufschließen wolle, müsse sich daher gleichfalls an die Autoren des Altertums halten.6 Die Bildungsreformen des 19. Jahrhunderts schließlich weisen Latein und Griechisch eine Schlüsselrolle zu und verleihen ihnen eine derart dominante Stellung, dass Widerspruch nicht ausbleiben konnte! In der Tat zieht die programmatische Aufwertung der alten Sprachen immer auch Einsprüche und Gegenbewegungen nach sich, für die die konkrete Praxis des Unterrichts oft genug evidente Gründe liefert. Doch unbeschadet all dieser Gegenbewegungen hat die Kenntnis zumindest des Lateinischen in den europäischen Ländern durch die gesamte Neuzeit hindurch eine außerordentliche Stabilität. Man kann geradezu von einer kulturellen Klammer sprechen: einem „Kommunikationsraum, der sich gegenüber anderen Kommunikationsräumen gerade dadurch abgrenzte, daß Latein die gemeinsam in allen Ländern verwandte Sprache war.“ 7 Dies liefert eine Tiefenstruktur, die in Europa bis heute wirksam ist. Gleichwohl, selbst wenn in den europäischen Ländern infolge der Expansion des Bildungswesens rein quantitativ derzeit wohl mehr Menschen zumindest Latein lernen oder gelernt haben als je zuvor, bleibt die Frage aktuell, warum man die alten Sprachen und nicht stattdessen lieber Naturwissenschaften, Ökonomie oder moderne Fremdsprachen lernen solle − scheint in diesen Fällen doch auf der Hand zu liegen, dass Bedürfnissen der Gegenwart Rechnung getragen wird. Man kann jene Frage von daher allerdings auch umformulieren: Da offensichtlich für viele Epochen der europäischen Geschichte die Einschätzung galt, dass die alten Sprachen in besonderem Maße den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechen, bleibt also zu prüfen: Inwiefern können Latein und Griechisch den Bedürfnissen des frühen 21. Jahrhunderts Rechnung tragen? Dass Latein und Griechisch nicht nur im Erlernen einer veralteten und nicht mehr gesprochenen Sprache bestehen, ihnen vielmehr ein ‚Mehrwert‘ Frédéric le Grand, De la littérature allemande, in: Ders., Œuvres, ed. J. D. E. Preuss, Berlin 1846–1857, Bd. 7, 149. 7 Jürgen Leonhardt, Latein. Geschichte einer Weltsprache, München 22009, 146. 6
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zukomme, ist eine weitverbreitete Überzeugung. Als Beispiel sei eine Bemerkung des Ethnologen Claude Lévi-Strauss angeführt: Diejenigen, die den Unterricht der klassischen Sprachen kritisieren, wären im Recht, würden sie sich nicht in ihren Vorwürfen täuschen: Beschränkte sich das Erlernen des Griechischen und Lateinischen tatsächlich auf den ephemeren Erwerb der Rudimente toter Sprachen, würde es nicht viel nützen. Doch – und das wissen die Gymnasiallehrer sehr gut – durch die Sprache und die Texte hindurch erschließt sich dem Schüler eine intellektuelle Methode, nämlich die der Ethnographie, die ich gern die Technik der Verfremdung nennen möchte.8
Mag es sich bei der speziellen Benennung jenes Mehrwerts auch um die Perspektive eines Ethnologen handeln, gehört es doch zu den besonders auffälligen Charakteristika insbesondere des Latein, dass es mit einer Fülle von Funktionen verbunden wird, die über den konkreten kulturellen Kontext der Antike hinausführen: Seien es Alteritätserfahrung, intellektuelle Methoden, Einsicht in Sprachstrukturen oder ganz einfach kognitives Training – das Spektrum der Zuschreibungen ist bemerkenswert weit und divers. Es liegt nahe, darin einen der Gründe für die Langzeitwirkung zu sehen. Denn eine solch außerordentliche Kontinuität ist nachgerade erstaunlich. Sie beruht wesentlich darauf, dass sich Latein von festen nationalen, territorialen oder imperialen Zuordnungen abgelöst und Unabhängigkeit von einer lebenden Sprachgemeinschaft gewonnen hat. 9 Unvermeidliche Begleiterscheinung solch langdauernder Geltung indes ist ein immer wiederkehrender Zwang zur Rechtfertigung. Von daher hat sich im Laufe der Zeit eine Fülle von Legitimationsstrategien entwickelt, die mit dem Aufschwung des Griechischen vom Ende des 18. Jahrhunderts an beide alte Sprachen umfassen und jeweils in bestimmten historischen und kulturellen Kontexten stehen. Claude Lévi-Strauss, Anthropologie structurale deux, Paris 1973, 320; deutsche Übersetzung nach: Ders., Strukturale Anthropologie II, Frankfurt a. M. 1975, 305– 306 (modifiziert). 9 Vgl. Leonhardt (wie Anm. 3), 91. Wilfried Stroh hat Latein deshalb als „erfolgreichste Sprache der Welt“ bezeichnet, s. Wilfried Stroh, Latein ist tot, es lebe Latein. Kleine Geschichte einer großen Sprache, Berlin 2007, 15. 8
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Besonders intensiv ist dieser Begründungsdiskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieben worden – eine Folge der einschneidenden Traditionsbrüche jenes Saeculum. In den letzten Jahrzehnten sind mit der unterschwellig verbreiteten Überzeugung, man stehe durch Globalisierung und technischen Fortschritt inmitten tiefgreifender Veränderungen, die sich zudem mit hoher Geschwindigkeit vollzögen, alte Bildungsgewissheiten umfassend ins Wanken geraten; andererseits ist gerade für die griechisch-römische Welt eine Allpräsenz in visuellen Medien zu beobachten, vor allem im angelsächsischen Raum, die sie auf einer ganz anderen Ebene so populär macht wie kaum je. Ziel des hier vorgelegten Buches ist es nicht, den Legitimationsdiskurs protreptisch fortzusetzen, vielmehr geht es um eine möglichst perspektivenreiche Bestandsaufnahme unter der Leitfrage, wie sich Latein und Griechisch zu Herausforderungen und Bedürfnissen der Gegenwart verhalten. Dabei werden in drei Abteilungen – paradigmatisch und ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – unterschiedliche Sichtweisen und Erfahrungen zusammengeführt: Zum einen kommen Vertreter aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen zu Wort. Zum zweiten werden die alten Sprachen aus dem Blickwinkel einer Reihe eng verbundener Nachbarwissenschaften betrachtet, die ihre Erwartungen und Anforderungen an Latein und Griechisch skizzieren. Zum dritten schließlich wird der Blick über die Grenzen hinaus darauf gelenkt, welchen Platz und welches Profil die alten Sprachen in verschiedenen europäischen Ländern haben. Ein solcher grenzüberschreitender Vergleich ist wenig entwickelt: Ist die Klassische Philologie in Hinblick auf die Forschung eine einzige, zudem international eng vernetzte Wissenschaft, führt die Notwendigkeit, ihre jeweilige Stellung im institutionellen Gefüge in nationalen Kontexten zu behaupten, dagegen zu einer länderspezifischen Fokussierung mit der Folge einer bemerkenswerten Abgeschlossenheit der entsprechenden Diskurse. Indes ist ein Austausch erhellend und kann sowohl die Rekurrenz von Topoi und Problemlagen erweisen wie auf Differenzierungen und andere Gesichtspunkte aufmerksam machen.
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2 Den Blick über die Grenzen zu lenken empfiehlt sich nicht zuletzt von daher, als die griechisch-römische Antike zu den Schlüsselfaktoren gehört, die das heutige Europa geprägt haben: Jüngst ist geradezu von einem „genetischen Code des Okzident“ gesprochen worden – eine Formel, die vielfach aufgegriffen wurde.10 Unter den ungezählten Verbindungslinien sei exemplarisch nur auf die Erfindung der Demokratie in Athen oder auf das Römische Recht verwiesen, oder auch auf Konzepte, die heute universale Gültigkeit beanspruchen wie etwa jenes der Menschenwürde (dignitas hominis), die sich der antiken Kultur verdanken. Indes, wozu bedarf es der Kenntnis dieser Zusammenhänge? Der Kulturanthropologe und Philologe Maurizio Bettini hat die Gegenfrage gestellt, wie es ohne die Kenntnis der Antike bestellt wäre: Was würde geschehen, wenn man die griechischen und lateinischen Klassiker nicht mehr lesen würde und infolgedessen der Fluss des kulturellen Gedächtnisses, das uns mit dem antiken Griechenland oder mit Rom verbindet, unterbrochen wäre? 11 Damit würde, wie Bettini zeigt, auch der Faden zerschnitten, der uns vermittels dieser Texte mit all jenen verknüpft, die in den vergangenen Jahrhunderten aus diesem Fluss für ihre eigene kulturelle Tätigkeit geschöpft haben: Würde man nicht mehr die Ilias, die Aeneis oder andere Klassiker von ähnlicher Bedeutung lesen, würden wir nicht nur den Kontakt zur antiken Welt verlieren, sondern auch den Kontakt zu allen, die danach kamen, zu all jenen gedanklichen Schöpfungen, die sich aus der Auseinandersetzung mit der Antike gespeist haben. Verlören wir Vergil, verlören wir – und dies ist mutatis mutandis auf die anderen europäischen Kulturen übertragbar – unausweichlich auch Dante und damit wiederum diejenigen, die sich mit Dante auseinandersetzen: eine bis in die Gegenwart fortreichende Kette. Bettini bezeichnet dies als radikalen Wechsel der kulturellen Enzyklopädie, der in gewissem Sinne wie ein Wechsel des Alphabets sei! Nicola Gardini, Viva il latino. Storie e bellezza di una lingua inutile, Milano 2016, in einem Interview zu diesem Buch vom 29.7.2016 (https://www.illibraio.it/studio-del-latino-376867/ letzter Abruf am 5.4.2021). 11 Maurizio Bettini, A che servono i Greci e i Romani, Torino 2017, 49–50. 10
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Entscheidend ist dabei also, dass es nicht nur um die Antike als solche geht, vielmehr ebenso um die vielfältigen Verflechtungen und Verknüpfungen, die Europa im Laufe seiner Geschichte geprägt haben und die bis in die Gegenwart reichen. Gleichwohl bleibt, ungeachtet eines breiten Konsenses über die Tatsache der Antikerezeption, die Frage bestehen, welcher Stellenwert ihr innerhalb der verschiedenen europäischen Nationalkulturen beizumessen ist. Oder um unsere Leitfrage aufzunehmen: Inwiefern entspricht die Kenntnis des Griechischen und Lateinischen im Hinblick auf diese kulturellen Zusammenhänge einem Bedürfnis der Gegenwart? Auf diese Frage werden hier nicht aus der Sicht der Klassischen Philologie Antworten gesucht, vielmehr wird die Perspektive umgedreht, indem Vertreter einer Vielzahl von Nachbardisziplinen gefragt werden, welche Erwartungen und Anforderungen sie gegenüber Latein und Griechisch haben. Dass es solche Erwartungen überhaupt gibt, liegt daran, dass die alten Sprachen durch ihre Gegenstände hochgradig vernetzt sind: Sie sind Scharnierfächer par excellence, die weit über die philologischen Disziplinen oder die Geschichtswissenshaft hinaus geradezu im Kreuzungspunkt zahlreicher Fächer der modernen Universität stehen.12 Aus diesem großen Gebiet sei an dieser Stelle nur ein einziger Punkt herausgegriffen: die lateinische Literatur nach dem Ende des Imperium Romanum, insbesondere das sogenannte Neulatein. Nach einer bekannten Hochrechnung ist die Menge der nachantiken lateinischen Texte in grober Schätzung mindestens zehntausendmal so umfangreich wie die Textmasse, die aus der römischen Antike überliefert ist. Davon sind zwar ein erheblicher Teil Archivalien und Gebrauchstexte – Folge der zentralen Stellung des Lateinischen als Kommunikationsmittel bis weit ins 18. Jahrhundert hinein –, doch steht daneben auch eine große Zahl literarischer Texte im engeren Sinne: In jedem europäischen Land ist im 16. Jahrhundert die Produktion in
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Angeregt wurde die Fragestellung durch ein Experiment in Stanford, von dem der Komparatist Hans Ulrich Gumbrecht einmal berichtet hat: Dort seien verschiedene Fächer der Humanities aufgefordert worden, ihre Erwartungen gegenüber Nachbarfächern zu formulieren, was einen Schub zu interdisziplinärer Zusammenarbeit auslöste, der zugleich wieder als Stimulus auf die einzelnen Fächer zurückgestrahlt habe.
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lateinischer Sprache umfangreicher als die nationalsprachliche, in manchen gilt dies auch noch länger; besonders weit reicht die lateinische Tradition etwa in Polen und in Ungarn.13 Entscheidend ist dabei jedoch nicht die lateinische Literaturproduktion als solche, sondern der Umstand, dass sie parallel zur jeweiligen volksprachlichen Literatur steht und mit dieser in Wechselwirkung tritt: Erst die volksund die lateinischsprachige Literatur gemeinsam bilden das Korpus der jeweiligen Nationalliteratur, sei es der italienischen, französischen, englischen oder deutschen. Die lateinischsprachige Literatur ist also übergreifend Bestandteil der jeweiligen nationalen Literatur und Kultur: Nicht selten schreiben die Autoren der frühen Neuzeit in beiden Registern, und nicht wenige Schlüsselwerke der frühneuzeitlichen Philosophie oder Kunstgeschichte sind auf Latein verfasst. Dabei gibt es noch mancherlei Entdeckungen zu machen: Sind die Kanonisierungsprozesse der Neuzeit auch einseitig auf die volkssprachlichen Literaturen ausgerichtet, ändert dies doch nichts an der engen Zugehörigkeit des Latein zu den jeweiligen Nationalkulturen. Man könnte fast sagen, die Präsenz des Lateinischen ist ein Indikator, wie weit die kulturelle Erinnerung eines Landes zurückreicht und wie ausgeprägt sie ist. Hier tut sich ein breites Feld der Zusammenarbeit zwischen Klassischer Philologie, Neuphilologien und weiteren Disziplinen der frühen Neuzeit auf. In diesem Zusammenhang sei besonders auf den Länderreport Österreich in diesem Band und auf die dortigen innovativen Ansätze verwiesen.
3 Der Blick über die Grenzen führt auf eine weitere Beobachtung: Die Fülle von Funktionen, mit denen die alten Sprachen topisch verbunden werden und die jenseits ihres eigentlichen Gegenstands der Antike liegen, begegnet mit einer gewissen Regelmäßigkeit in vielen verschiedenen Ländern und ist nicht an eine bestimmte Nationalkultur gebunden. Doch auch wenn die Argumente in der Regel einleuchtend erscheinen, ist die Zweckfrage damit
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Vgl. Leonhardt (wie Anm. 3), 2–5 und 221.
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noch nicht wirklich beantwortet. Denn auch die Leitziele selbst sind im Umbruch. Daher bleibt also zu klären, welcher Rang im Ensemble der Bildungsziele und Unterrichtsfächer überhaupt Werten wie dem besseren Verständnis der eigenen Sprache, der Erleichterung beim Lernen anderer Sprachen oder der Förderung kognitiver Standards zukommen soll. Es scheint, als handelte es sich im Vergleich zu konkreten praktischen Anforderungsprofilen dabei um nachrangige, allenfalls durch idealisierende Bildungskonzepte begründete Bedürfnisse. Der Blick täuscht: Die Mediengeschichte zeigt, dass Lesen und Schreiben kulturelle Schlüsseltechnologien sind. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat den Entwicklungsschub herausgearbeitet, der durch die Einführung der Schrift und den Übergang von Mündlichkeit zu Schriftlichkeit ausgelöst worden ist, und die unhintergehbaren Langzeitwirkungen aufgezeigt, die die mediale Evolution bewirkt hat. Nun ist unbestritten, dass die mit dem Ausgang des letzten Jahrhunderts einsetzende Digitalisierung einen enormen quantitativen Zuwachs der Leseund Schreibtätigkeit nach sich gezogen hat: Schrift durchzieht heute den Alltag selbst von Menschen, die diesem Medium ferner stehen, in ungeahntem Ausmaß. Die unerhörte Steigerung der unmittelbaren Verfügbarkeit von Information durch das Internet sowie die Zunahme der Kommunikationstätigkeit, die die digitalen Medien nach sich ziehen und die durch die sozialen Netzwerke eine weitere Intensivierung erfährt, wären in der herkömmlichen Schreibtechnologie nicht denkbar gewesen. Mit solcher quantitativen Steigerung wandeln sich auch die konzeptionellen Rahmenbedingungen von Schriftlichkeit: Sie verändert sich qualitativ. Nicht zuletzt haben die gewohnten Absicherungs- und Gewährleistungsinstanzen keine Gültigkeit mehr; die weltweite Debatte der zurückliegenden Jahre um fake-news hat einen Vorgeschmack gegeben. All dies stellt den Umgang mit Schrift als Träger von Informationen, von Botschaften, Absichten und Konzepten vor ungeahnte Herausforderungen. Von daher ist die praktische Handhabung schriftlich vermittelter Sprache mehr denn je eine Schlüsselanforderung, sowohl in individueller wie in gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Denn der technische Fortschritt ist eine Herausforderung, die sich nicht auf die rein technologische Seite einer Optimierung des Mediums begrenzen lässt, vielmehr verändert er komplementär auch das Nutzerprofil:
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Er steigert die Anforderung an die Fähigkeit, Aussagen zu analysieren, komplexe Sachverhalte zu entschlüsseln und Informationen mit einem sicheren und selbständigen Urteilsvermögen zu begegnen. Die Bildungsinstitutionen haben auf diese Veränderungen noch keine schlüssige Antwort gefunden; Gewißheit herrscht allenfalls darüber, dass es sich um einen längerfristigen Prozess handelt. Vor einiger Zeit hat der Politikwissenschaftler Hans N. Weiler, lange Jahre Direktor des Internationalen Instituts für Bildungsforschung der UNESCO in Paris, ein flammendes Plädoyer dafür gehalten, dass die Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien eine nachhaltige Veränderung im Konzept wie in der Praxis von Bildung unumgänglich mache. 14 Die „Aufgabe von außerordentlicher und geradezu historischer Bedeutung“ bestehe darin, „Menschen mit den analytischen, kritischen und normativen Fähigkeiten auszustatten, die sie für den souveränen und eigenverantwortlichen Umgang mit dieser neuen Welt der grenzenlosen Information benötigen“; denn: „Im Unterschied zu der wohlgeordneten, vorsortierten und mit bewertenden Etiketten ausgestatteten Wissenswelt der klassischen Bildungstradition zeichnet sich die an relativem Einfluss auf die Entwicklung von Menschen immer weiter zunehmende kybernetische Wissenswelt durch eine eklatante Abwesenheit von Ordnung, Struktur und Bewertung aus.“ 15 Da wissenschaftlich gesichertes Wissen prima facie den gleichen Rang wie Ammenmärchen und völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen beanspruche, sei die im kybernetischen Raum verfügbare Information „in einem fundamentalen Sinne fragwürdig.“ Die pointierten Überlegungen machen deutlich, in welchem Maß das Training eines sorgfältigen und genauen Lesens von hoher Aktualität ist; eine Reihe von Beiträgen in der ersten Abteilung dieses Bandes hebt genau dies mit praktischen Beispielen hervor. Nun weist die Beschreibung der analytischen kognitiven Fähigkeiten, deren Förderung den alten Sprachen, insbesondere dem Lateinischen in den instrumental funktionalen Hans N. Weiler, Bildung im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, in: Bildung? Bildung! 26 Thesen zur Bildung als Herausforderung im 21. Jahrhundert, hg. von A. Schlüter und P. Strohschneider, Berlin 2009, 93–100, hier 94. 15 Weiler (wie Anm. 10), 96. Ebd. auch das nachfolgende Zitat. 14
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Argumentationen zugeschrieben wird, eine bemerkenswerte Überschneidung mit dem Anforderungsprofil auf, das Weiler entwickelt. Dies ist durchaus kein Zufall; denn der Umgang mit Schrift und Schriftlichkeit ist kein von außen an das Latein herangetragener Gegenstand, sondern bildet einen wesentlichen Teil seiner eigenen Geschichte. Über viele Jahrhunderte hinweg steht Latein für die Vermittlung und Einübung von Schriftlichkeitsnormen: Die Frühe Neuzeit etwa ist voll von einschlägigen Debatten, in denen es sowohl im Prosa- wie im Dichtungsbereich genau um diese Fragen geht. Bezugspunkt und Voraussetzung sind dabei die entsprechenden Normierungsprozesse, die in der römischen Klassik stattgefunden haben. Die exemplarische Rolle, die heute der lateinischen Grammatik zugeschrieben wird, ist insofern also nur ein später und begrenzter Nachläufer jener alten Aufgabenzuweisung an das Latein, Standards einer elaborierten Schriftlichkeit im Verfassen und Entschlüsseln von Texten zu vermitteln.
4 Zu Beginn dieses Millenniums wurde europaweit eine Debatte um die Benennung ‚altes Europa‘ geführt: Zunächst pejorativ gemeint und mit der Konnotation des Veralteten, Rückständigen und Unzeitgemäßen verbunden, verwandelte sich im Verlauf der Diskussion der Schimpf- in einen Ehrentitel, indem die Herabsetzung in eine Auszeichnung uminterpretiert wurde. 16 In dieser semantischen Spanne ist etwas fruchtbar gemacht, das tatsächlich konstitutiv mit Europa zu tun hat: Nicht nur, dass Europa einfach über eine weit zurückreichende Geschichte verfügt, vielmehr bildet das Alte in seiner fast dreitausendjährigen Schriftkultur auch einen maßgeblichen Gegenstand der
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Auslöser war der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld, der im Zuge europäisch-amerikanischer Meinungsverschiedenheiten im Jahre 2003 vom ‚alten Europa‘ gesprochen hatte. Damit sollte die Vorstellung von Altersschwäche evoziert werden; den implizit mitgedachten Gegensatz bildete ein junges, dynamisches, somit zukunftsorientiertes Amerika. Indes nahm die Debatte den bemerkenswerten Verlauf, dass Rumsfeld die offensive Note seiner Äußerung nachträglich zu korrigieren suchte: Er habe ‚alt‘ nicht als Beleidigung, sondern als Liebkosung gemeint!
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Reflexion, in der das Epitheton ‚alt‘ auf einer Skala von negativer und positiver Akzentuierung zwischen ‚veraltet, überholt‘ einerseits und ‚alt‘ als autoritätsgebietendem, verpflichtendem Bezugspunkt andererseits oszilliert. Dies allein indes wäre noch nicht außergewöhnlich; entscheidend ist vielmehr, dass im Laufe der europäischen Geschichte immer wieder der Schritt getan worden ist, das Alte als Orientierungspunkt für die Gegenwart, als Norm oder sogar als Ideal zu setzen und zu aktualisieren: Altes also als Zukunftsoption fruchtbar zu machen. Wenn Altes normativ wird und ihm ein exemplarischer Stellenwert beigemessen wird, erlangt es eine Funktion, die wir uns angewöhnt haben, als klassisch zu bezeichnen. In der Tat zeichnet sich Europa dadurch aus, dass es nachgerade über eine Folge von Klassiken verfügt. Dabei ist insbesondere die griechisch-römische Antike immer wieder in dieser Weise als Zukunftsoption funktionalisiert worden und diente, wie eingangs festgestellt, vielfach als Vehikel zur Modernisierung. Bei einer Serie von europäischen Hochschulforen in dem deutschitalienischen Zentrum für den europäischen Dialog „Villa Vigoni“ wurde als eine der Hauptaufgaben, die Bildungsinstitutionen zu leisten hätten, die Orientierung auf die Zukunft bis hin zur Antizipation dessen, was komme, herausgestellt.17 Im Vordergrund standen dabei qualitative Merkmale wie Problemlösungsfähigkeit, Kritikfähigkeit, Selbständigkeit, auch Bildung bis hin zu Persönlichkeitsbildung und Urteilsvermögen; das erinnert nicht von ungefähr an die Schulung des iudicium, die jahrhundertelang ein zentraler Wert war, der durch die Praxis der griechisch-lateinischen Schriftkultur vermittelt wurde! Wenn man auf diesem Hintergrund zusammenfassend die Stellung der alten Sprachen zu bestimmen sucht, bleiben zwei grundsätzlich verschiedene Perspektiven zu unterscheiden. Individuell gesehen sind Latein und Griechisch keinesfalls der einzige Weg, um Herausforderungen wie den skizzierten zu begegnen; einen solchen Königsweg gibt es ohnehin nicht. Allerdings gilt im Gegenzug: Wer die alten Sprachen lernt, ist für vieles gut gerüstet. Gesellschaftlich-kulturell hingegen ist eine ausreichende Präsenz des Wissens
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Vgl. Gregor Vogt-Spira, Challenges of Global Competition in Tertiary Education (EUT Edizioni Università di Trieste), Trieste 2011.
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um die Antike und um die vielfachen Kontinuitäten für das kulturelle Gedächtnis einer Kulturnation unerlässlich. Jede civitas, seien es eine griechische Polis der Antike oder der moderne Nationalstaat, sucht Wissen über die Vergangenheit zu gewinnen und zu formen, da sich Identität nie aus purer Gegenwart, sondern aus Interpretation der Vergangenheit speist. Von dieser macht in den verschiedenen europäischen Ländern die griechisch-lateinische Kultur einen der bedeutenden und prägenden Stränge aus. Dass Griechisch und Latein allerdings eine solch außerordentliche Ausstrahlung haben, rührt zuletzt daraus, dass sie herausragende Schlüsselwerke hervorgebracht haben, die zu jeder Zeit anders und neu gelesen worden sind. Von der Freude an den Formungsmöglichkeiten der alten Sprachen zeugt noch der außergewöhnliche Erfolg des Lateins der Römer in der Netflix-Serie The Barbarians, von der in diesem Band berichtet wird. 18
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Zu den hier vorgestellten Überlegungen ausführlicher Gregor Vogt-Spira, Latin: Back to the Future? Some Reflections on Latin and Literacy in the Digital Age, Symbolae Philologorum Posnaniensium Graecae et Latinae 29 (2019), 157–171 [auch digital zugänglich unter: https://www.ceeol.com/search/journal-detail?id=1450].
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1. Inwiefern können Latein und Griechisch den Bedürfnissen der aktuellen Gegenwart Rechnung tragen?
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert Melanie Möller
„Des Kaisers alte Kleider“1 – hinter diesem verwegenen Titel verbirgt sich eine aktuelle Studie des Berliner Makrosoziologen Jürgen Gerhards, die sich mit „Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen“ befasst. Zu den wenig überraschenden Ergebnissen der statistischen Untersuchung gehört die Erkenntnis, dass es wenig sinnvoll sei, wenn die Schüler heute noch Latein lernten. Die wichtigste Funktion des Erwerbs einer Fremdsprache bestehe schließlich darin, sich mit anderen Menschen verständigen zu können. Das werde gerade im Kontext von Globalisierungsprozessen immer dringlicher, und hier gewönnen als „modern“ apostrophierte Sprachen wie Englisch, Französisch und Spanisch an Bedeutung (von den in vergleichbaren Attacken gerne herbeizitierten ‚global player languages‘ wie Chinesisch war hier ausnahmsweise einmal nicht die Rede). In märchenhaft kühner Zuspitzung wird Lateinlernen sogar als Zeitverschwendung bewertet, insofern die Lernzeit eine begrenzte Ressource sei – es greift die Mär von der „toten Sprache“, die nicht mehr gesprochen werde, wodurch die primäre Funktion des Fremdsprachenerwerbs wegfalle. Sodann werden die dem Lateinlernen zugemessenen „Sekundärfunktionen“ mit den altbackenen Klischees vom Tisch gewischt: Es gehört mittlerweile zum Standardrepertoire der fragwürdigen Hypothesen aus Hirn- und Bildungsforschung und eben jetzt auch der Makrosoziologie, dass das Erlernen dieser „toten Sprache“ weder das logische Denken fördere noch positive Effekte auf den Erwerb moderner Fremdsprachen verzeichne. Bemerkenswerter ist indes die Hauptthese der Studie, der zufolge der bloße Schein ausreiche, um Latein weiter in den Bildungssalons zu halten. 1
Jürgen Gerhards, Tim Sawert und Ulrich Kohler, Des Kaisers alte Kleider: Fiktion und Wirklichkeit des Nutzens von Lateinkenntnissen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 71.2 (2019), 309–326.
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Dabei beruft man sich auf das in der Soziologie populäre „Thomas-Theorem“2, dem zufolge Situationen dann als real gelten, wenn Menschen sie als solche interpretieren: Mit Latein (und Altgriechisch) erfolgreicher zu sein gehöre zu solchen gesellschaftlichen Konstruktionen von Wirklichkeit. Das belegten beide Teile der Studie: die Befragung von Eltern vor der Sprachwahl ihrer Sprösslinge in den Schulen sowie fingierte Bewerbungen an Firmen (dort seien AltsprachlerInnen beziehungsweise konkret Lateiner bevorzugt worden). Diese Studie fußt auf einer ganzen Menge mangelhafter Prämissen, darunter die zu geringe Zahl an Probanden und fragwürdige Belege. Tatsächlich haben die sozialen Hypothesen zumal mit der gelebten Wirklichkeit vieler Klassischer PhilologInnen wenig gemein, dürfte sich doch die Mehrheit für das Erlernen und gar Studieren des Lateinischen und Griechischen aufgrund der Begeisterung für ebendiese Sprachen und Literaturen entschieden haben. Chancen auf einen sozialen Aufstieg haben sie sich davon weiß Gott nicht versprochen – eher im Gegenteil. Seit ich denken kann, haftet zumal dem Lateinischen das Stigma des Sinnlosen an, das dann immer mal wieder von vergleichbaren Studien wie der aktuellen flankiert wird (mit diesem überholten ,Eliteʻ- oder, schlimmer noch, Konservatismus-Vorwurf). Man muss schon ziemlich hart im Nehmen sein und ,opferbereitʻ, wenn man ,esʻ trotz dieser Vorurteile wagt; der Respekt vor dieser Einsatzbereitschaft ohne messbares Gewinnversprechen ist unter SchülerInnen und vor allem Studierenden aktuell wieder deutlich zu spüren. Wer wagt, gewinnt jedoch auch hier: Beachtlich sind die gesellschaftlich überaus relevanten, vergangenheitsbewährten wie zukunftsträchtigen Vorzüge, die mit dem Erlernen der Alten Sprachen verbunden sind. Einige wurden schon häufiger genannt und verlieren dadurch doch nichts an ihrer Gültigkeit. Zunächst trifft auf die Beschäftigung mit den Alten Sprachen in besonderer Weise alles zu, was von jeder literatur-, kunst- und musikwissenschaftlichen Analyse zu erwarten ist: Sie schulen das Denken und Fühlen, vermehren das Wissen, beflügeln die Phantasie und lehren das Deuten, die ,kulturelle Kompetenzʻ schlechthin. Denn auch der scheinbar so praktische Teil der Welt besteht schließlich in 2
William I. Thomas und Dorothy S. Thomas, The Child in America: Behavior Problems and Programs, New York 1928.
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nichts anderem als in der Kunst, Zeichen zu entschlüsseln. Textdeutung ist Welt- und Selbstdeutung, kurzum: Die Beschäftigung mit Literatur ist eine höchst sinnvolle und zutiefst sinnliche Angelegenheit. Dann befördern die Alten Sprachen – sicher nicht ausschließlich, aber doch in besonderer Weise – durchaus die Fähigkeit zu mikroskopischem Lesen, genauem Text- und Grammatikverständnis, zu jenen Techniken also, von denen auch der Erwerb anderer Sprachen profitiert. Der Zustand des ,Todesʻ, der Umstand also, dass sie nicht mehr täglich gesprochen werden (was ohnehin nie uneingeschränkt gegolten hat), wird dabei zum unschlagbaren Vorteil, zum Wahrer einer sicheren Distanz, die verhindert, dass man sich zu eilfertig mit einem vagen Verständnis (dem sogenannten Hörverstehen) zufrieden geben kann, wie es bei gesprochenen Sprachen oft der Fall ist, schon aus alltagspragmatischen Gründen. Auch in dieser Distanz liegt eine besondere Eignung von ,totenʻ Sprachen begründet, uns eine lebensweltliche Schlüsseltechnik zu vermitteln: wie wir uns nämlich aus unserer unvermeidlichen Distanz zu den Menschen und Gegenständen – uns selbst eingeschlossen – in der Welt einrichten können. Die antike Literatur hält uns schon aus sprachlich-grammatikalischen Gründen zunächst auf Abstand; um ihn zu verringern, müssen wir Widerstände und Umwege in den Kauf nehmen, wir müssen lernen, ganz genau hinzuschauen. Die Schönheit der Sprache und der Texte, ihre gedankliche und stilistische Präzision offenbart allerdings erst der Blick in die Originalsprachen, ist es doch eine Binsenwahrheit, dass jede Übertragung immer auch eine Vereinfachung darstellt. Auch sollte es sich in Zeiten, in denen sich die Auffassung verbreitet, man könne eine andere Kultur überhaupt nur dann begreifen (beschreiben oder darstellen), wenn man ihr angehöre, selbstverständlich sein, dass der Sprache eine Schlüsselfunktion im Prozess der Annäherung respektive Akkulturation zukommt. Wenn es denn überhaupt so etwas wie eine ‚kulturell‘ begründete europäische Identität gibt, dann bietet die antike Literatur in ihrer gewaltigen historischen Dimension (die Rezeption einbezogen) als unser „nächstes Fremdes“3 deren zentralen Baustein, und auch die Weltliteratur besteht zu einem beträchtlichen Teil 3
Uvo Hölscher, Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, München 1994; vgl. dazu Jonas Grethlein, Die Antike, das nächste Fremde, Merkur, Heft 824, Januar 2018, 22–35.
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aus der – expliziten oder impliziten, fragmentierenden, kritischen, radikalen, verfremdenden – Auseinandersetzung mit den Texten der Antike. Die Aktualität der Antike ist mithin ein wesentliches Merkmal der Gegenwartskultur. Und selbstverständlich hält die antike Literatur auch ein reichhaltiges Angebot an differenzierten Antworten auf zeitlose Fragen und aktuelle Probleme parat. Mit dieser Auflistung möglicher, oder sagen wir: wahrscheinlicher ,Kompetenzen‘ wären wir endgültig bei der Kosten-Nutzen-Rechnung angelangt. Sie trifft ins Herz aller aktuellen Legitimationsdebatten um den Sinn der Geisteswissenschaften, in denen sich die Frage nach der Relevanz der Alten Sprachen geradezu gespiegelt findet. Der Nutzen von Wissenschaft ist als Thema ein Dauerbrenner, und die Politik forciert das, indem sie dazu animiert, „den Wert und die Legitimität der Wissenschaft nur noch an ihren Antworten auf jene Fragen zu messen, die ihr aus der Politik gestellt werden. Oder aus der Gesellschaft und Wirtschaft“, wie etwa der neue Gesellschaftsvertrag verlangt, „der von der Wissenschaft die ‚kontinuierliche und umfassende Berücksichtigung externer Ansprüche von Partizipation‘ fordert“; dabei zielt „Vertrauen in die Wissenschaft […] nicht nur [auf] die Überzeugung, dass früher oder später das gewünschte Nützliche herauskommt, wenn man nur genug Geld investiert“.4 Wie das im Falle der Naturwissenschaften, speziell der Medizin beziehungsweise Virologie, funktioniert, kann man an den Mechanismen, die die corona-Krise ausgelöst hat (und die sie ausgelöst haben!), deutlicher studieren, als einem lieb ist. Auf die Forderungen von Ergebnissen und Lösungen lassen sich nach Meinung einiger KritikerInnen aber auch die Geisteswissenschaften viel zu sehr ein (indem sie sich etwa auf Drittmittelprojekte oder die heißen Versprechen der Digital Humanities stürzten, anstatt sich diese einfach nur als nützliche Instrumente dienstbar zu machen). Hans Ulrich Gumbrecht zufolge trügen sie damit im Eiltempo zu ihrer Selbstabschaffung bei.5 Mit Blick auf die Classics denke man in diesem
Gerald Wagner, Lieferdienst für Innovationen, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Online), 01. 11. 2019 (letzter Zugriff: 27.3.2021). 5 Hans Ulrich Gumbrecht, Wer würde denn die Geisteswissenschaften vermissen?, Neue Züricher Zeitung (Online), 29.10.2019 (letzter Zugriff: 27.3.2021) 4
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Kontext aber vor allem an den streitbaren Beitrag des in Edinburgh lehrenden Philologen Justin Stover:6 „There is no Case for the Humanities“. Stover setzt sich mit seinem provozierenden Text an die Spitze einer Gruppe von GeisteswissenschaftlerInnen, die sich gegen alle Nützlichkeitsdebatten wendet, und schlägt eine ganz andere, überraschende Richtung ein: Er bestätigt die Nutzlosigkeit nicht nur von Geisteswissenschaften überhaupt, sondern besonders der Classics. Mehr noch: Er rät allen dringend davon ab, zur Verteidigung anzusetzen, indem er an die prinzipielle Zweckfreiheit der Geisteswissenschaften erinnert. Angebrachter sei die möglichst geräuschlose Beschäftigung mit Geisteswissenschaften, die ihre gesellschaftliche Nebensächlichkeit akzeptieren. Stover vertraut fest darauf, dass sich das Überleben der Geisteswissenschaften und in deren Zentrum (oder an deren Rändern) das der Classics von selbst regele. Dabei verkennt er nicht nur den Ernst der Lage, sondern auch die Dynamiken gesellschaftlichen Wandels, der ja auch seine schönen, oder sagen wir: nützlichen Seiten hat. Soweit er ihre Öffnung, ihre Hinwendung zur Gemeinschaft und zum Leben bewirkt, dürften die an den Universitäten angesiedelten Geisteswissenschaften von diesem Wandel nur profitieren. So können sie, die Classics, (weiterhin!) maßgeblich daran mitwirken, die Universitäten zu intellektuellen Orten zu machen, indem sie der Gesellschaft nicht nur epistemische Scheinwelten vor Augen stellen, sondern sie die Fähigkeit lehren, in verschiedenen Optionen zu denken, sowie ihr die Bereitschaft vermitteln, Komplexität zu entschlüsseln oder überhaupt nur hinzunehmen, ja, sie auszuhalten. Will man mit Hans Ulrich Gumbrecht auf der einen, mit Andreas Kablitz7 auf der anderen Seite in NZZ und FAZ der Meinung sein, dass die Vorzüge der Geisteswissenschaften (und ihre Zukunftsfähigkeit) darin bestünden, ästhetische Erfahrung zu ermöglichen und kritisches Urteil zu schulen, so wären die Gegenstände der klassischen Literaturen wesentliche Bestandteile und Voraussetzung solcher Fertigkeiten. Diese lassen sich allerdings nicht in rein quantitative ökonomische Korsetts
Justin Stover, There is no Case for the Humanities, American Affairs, Volume 1, Nr. 4, Winter 2017, 210-24. Deutsche Version: Warum es keine guten Gründe zur Verteidigung der Geisteswissenschaften gibt, Merkur, Heft 828, Mai 2018, 25-39. 7 Andreas Kablitz, Apokalyptiker und Alimentierte, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Online), 09. 11. 2019. 6
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zwängen, wie sie derzeit in Mode sind – das dürfte sich langfristig rächen, auch wirtschaftlich. Um nämlich abschließend zur Studie von Gerhards und seinem Team und der Frage der sozialen Distinktion zurückzukehren: Ich glaube, umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Welt der alten Sprachen, Literaturen und Kulturen kann sogar dazu dienen, herkunftsbedingte Nachteile auszugleichen. Kinder aus bildungsferneren Schichten können über diese Sprache(n) ihre Lücken leichter und unauffälliger, auch gründlicher schließen – sie können überhaupt vielleicht nicht am besten, aber doch sehr gut auf diesem Wege den Umgang mit Sprache umfassend lernen, falls sie hier von ihrer Umgebung her benachteiligt wären. Kürzlich hat Arbogast Schmitt in einem Gespräch daran erinnert, dass schon Wilhelm von Humboldt sich vorwerfen lassen musste, er habe mit den humanistischen Gymnasien „Bauernschulen“ gegründet. Latein (und Ähnliches gilt für Griechisch) könnte also tatsächlich ein Karriere-Schlüssel sein – aber eben nicht aufgrund falsch verstandener sozialer Vorannahmen, sondern als Folge einer guten Ausbildung im zukunftsorientierten und zugkräftigen Sinne, wie ich ihn hier zu rekapitulieren versucht habe. Diesen Schlüssel kann jeder und jede in die Hand nehmen, um ihn in eines der vielen möglichen Schlösser zu stecken (sofern er oder sie eine weiterführende Schule mit entsprechendem Angebot besucht, versteht sich). Damit will ich nicht sagen, dass andere Sprachen nicht auch hilfreich sind; vielmehr bin ich der Auffassung, dass man möglichst viele, alte und neue, ,toteʻ und ,lebendigeʻ Sprachen lernen sollte – Latein (und Altgriechisch) dürfen bei der Auswahl aber gerne weit vorne rangieren.
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Als Philologe im Auswärtigen Dienst Dirk Lölke Es gibt unter den deutschen Diplomaten auch klassische Philologen, nicht sehr viele, aber die Tür steht offen: Wer sich für den deutschen höheren Auswärtigen Dienst bewirbt, muss ein wissenschaftliches Hochschulstudium abgeschlossen haben. Die bunte Mischung der Fakultäten in unserem Dienst ist mir immer als großer Vorteil erschienen, selbst wenn Juristen oder Politologen darin einen größeren Anteil ausmachen. Nun mag es herzlich uninteressant erscheinen, sich über einen so seltenen Ausnahmefall Gedanken zu machen, aber für das Selbstverständnis des Faches könnte es aufschlussreich sein zu überlegen, was das Studium dieser ältesten Geisteswissenschaft für einen solchen Beruf mit sich bringt. Es ist hier nicht der Platz, mein Berufsleben nachzuzeichnen, stattdessen in Kürze eine vielleicht wenig überraschende Erkenntnis: Auf keinem Posten im Auswärtigen Amt lassen sich Kenntnisse aus dem Studium der Griechischen und Lateinischen Philologie für das Lehramt an Gymnasien anwenden. Ich habe einmal die Kulturabteilung der Botschaft Rom geleitet, aber dies war ein Sonder- und Einzelfall. Die Aussicht, nach einem sechsjährigen Hochschulstudium sein Griechisch und Latein getrost vergessen zu können, mag auf den ersten Blick enttäuschend wirken. Man tut aber gut daran, von vornherein weitestgehende Ernüchterung walten zu lassen und Anzeichen von Stolz und Eigensinn aus dem Philologie-Studium (an die ich mich aus den achtziger Jahren in Tübingen noch erinnere) wenigstens vor anderen zu verbergen. Tunlichst verbietet sich der junge Philologe im Auswärtigen Dienst sofort und für immer erstens das Zitieren und zweitens − noch wichtiger − vor allem das Korrigieren zitierender Kollegen; eine Sammlung der im öffentlichen Dienst noch umlaufenden lateinischen Zitate wäre eine schöne Grundlage für eine Untersuchung über das Missverständnis altsprachlicher Bildung als Distinktionsgewinn.
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Und nun kommen wir zum Positiven: Was haben der Dienstherr, ohne dass er es vielleicht ahnte, und ich dann doch von diesem Studium gehabt? Ich nenne drei Dinge.
1. Das sprachliche Gewissen Die Sprache ist das Werkzeug des Diplomaten. In ihr drückt er aus, was er sagen oder verschweigen will. Je feiner das sprachliche Gewand ist, das er dem Gedanken umlegt, je genauer der Zusammenhang mit den eigenen Absichten, desto erfolgreicher wird er sein. Ein reflektiertes und distanziertes Verhältnis zur Sprache und zum eigenen Sprachgebrauch ist ein erster großer Gewinn eines Philologie-Studiums. Andersherum wird ein unmittelbares, ungeprüftes Verhältnis zum eigenen Sprechen im Diplomatenberuf geradezu gefährlich. Die manchmal karikierte künstliche Vorsicht der Diplomatensprache hat ihre Berechtigung darin, dass auf diesem Feld jeder Missgriff schwer wiegt. Je genauer Diplomaten und Diplomatinnen rhetorisch vorgebildet sind, desto eher vermeiden sie „Missverständnisse“, die in der Außenpolitik unter Umständen jahrelang vorgehalten werden. Es ist überhaupt auffällig, wie weitgehend der Berufsalltag im Auswärtigen Dienst mit Sprache zu tun hat, mit dem Umarbeiten und Abstimmen von Texten oder der Entwicklung von „Sprachregelungen“. Die Hoffnung, dass Verstand und rechter Sinn mit wenig Kunst sich selber vortragen, sollte man zumindest in diesem Beruf aufgeben. Auch die Position der Verhandlungspartner kommt übrigens in erster Linie durch sprachliche Äußerungen zu Tage und muss sprachlich analysiert werden. Ausweichende, unklare Redeweise, Ironie, anschwellender Jargon, alles wird zu Hinweisen auf die Haltung der Gegenseite und muss so genau wie möglich erfasst werden. Hier hört ein Philologe zumindest bewusster hin als andere. Seine Stärke ist, dass er im Studium gelernt hat, Wörter ernst zu nehmen, Texte bis hinunter zum einzelnen Buchstaben zu analysieren und über Verständnisschwierigkeiten nicht hinwegzugehen.
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Dabei ist die Sprache der Verwaltung und der Politik für den ,am Altertum Erzogenenʻ durchaus nicht immer erfreulich. Im Gegenteil wartet sie mit einem sehr hohen Anteil an Jargon, Anglizismen und Banalitäten auf. Der klassische Philologe, der während des Studiums tagtäglich engsten Umgang mit ausgezeichneten Texten gehabt hat, bewahrt, selbst wenn er dem normativen Anspruch nicht immer gerecht werden kann, das Gefühl dafür auf, was man sagen kann oder was man so eben nicht sagen sollte. Genauer als andere lesen und hören, sprechen und schreiben zu können, ist der Hauptvorzug, den wir vor vielen haben. Spätestens an dieser Stelle ist Protest von Juristen zu erwarten, aber lesen Sie einmal deren neuere Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, in denen Regelungsdichte und ein unkontrollierbarer Vollständigkeitswahn zu einer verhängnisvollen sprachlichen Dornenhecke zusammenwachsen. Die Juristen brauchen das altsprachliche Gymnasium am dringendsten.
2. Der unabhängige Standpunkt Ich bin überzeugt, dass mein Studium des Griechischen und Lateinischen als des „nächsten Fremden“ in Europa mir einen Standpunkt erlaubte, von dem aus ich mit einer bleibenden Distanz auf das eigene Tun im Arbeitsalltag blicken konnte. Dieses Studium war geeignet, grundsätzlichen Widerstand gegen den Zwang des Gegebenen, Mehrheitsmeinungen oder das gerade Zeitgemäße zu ermöglichen. Uvo Hölscher redet in seinem immer lesenswerten „Selbstgespräch“ (Die Chance des Unbehagens, Göttingen 1965) von „kritischer Phantasie“, die durch den Umgang mit den alten Sprachen gefördert werde; zumindest aber garantiert das Fach einen gesunden Abstand zu allem, was gerade angesagt ist, der auch im Getriebe des Geschäfts nicht ganz untergeht. Zu einem solchen unabhängigen Standpunkt zählt auch die Überzeugung, dass unsere historischen Einsichten beschränkt sind wie die der Menschen vor uns, dass historische Entwicklungen weiterlaufen müssen und dass unsere Unternehmungen nicht zwangsläufig auf einen idealen Endpunkt zusteuern. Auch die Gegenseite könnte Recht haben oder behalten. An
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Vorgaben und Zwängen ist im Berufsleben kein Mangel, ein professioneller diplomatischer Dienst arbeitet aber besser mit einem gewissen Maß innerer Freiheit seiner Mitglieder.
3. Die europäische Bildung Der Beruf des Diplomaten ist geprägt vom Umziehen von einem Kontinent zum andern, die Gefahr der Entwurzelung ist groß. Die Notwendigkeit, sich in ganz neue Arbeitsfelder und Themen rasch einzuarbeiten und darin immer wieder möglichst bald als Experte zu erscheinen, und der Zwang, viele Menschen schnell kennenzulernen und sich wieder von ihnen verabschieden zu können, führen schon einmal zu Orientierungskrisen. Mir hat es deswegen immer geholfen, wenigstens subjektiv das Bewusstsein zu haben, unserem Kulturkreis im Studium einmal auf den Grund gegangen zu sein und auf ein haltbares Gepäck zurückgreifen zu können. Dies sind Einsichten, die an weit entfernten Plätzen und in schwierigen Momenten Bedeutung bekommen. Es gibt über dieses subjektive Bildungsbewusstsein hinaus noch einen wichtigeren Punkt: Wir halten die Zukunft und das Schicksal Europas und die Rolle, die es in der Welt spielen soll, zurecht für eine Hauptaufgabe der deutschen Außenpolitik. Lassen wir einmal die Frage nach der weltweiten Geltung von Werten beiseite: Woher sollen die Gemeinsamkeit und der Zusammenhalt Europas kommen, wenn nicht durch breite Kenntnis der Erzählungen unserer gemeinsamen Vergangenheit? Unsere Erinnerung kann dabei nicht erst bei den Römischen Verträgen 1957 ansetzen und auch nicht 1789. Sie muss auch die Kulturen umfassen, auf die sich schon die Revolutionäre von 1789 bezogen haben, und auch den Mythos und die Dichtung einbeziehen. Die Geschichten des Odysseus sollte deswegen jedes europäische Kind kennen, die Argumente Antigones und Kreons jede Oberschülerin durchdacht haben. Die Selbstvergewisserung Europas wird ohne dieses gemeinsame Wissen nicht wachsen und ohne Sprachkenntnisse nicht lebendig werden.
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Zwischen Großmächten, die alles unter dem Himmel harmonisch oder missionarisch versammeln wollen, müssen wir zunächst eine einseitige, sagen wir ruhig: eurozentrische Entscheidung für uns, für unser Europa treffen. Europäische Bildung ist dann die Grundlage für gelassene Weltläufigkeit. Und damit sind wir doch wieder bei der Außenpolitik gelandet. Für ein Studium der Klassischen Philologie in der Absicht, den Beruf außerhalb ihrer zu suchen, hieße das: möglichst anspruchsvoll studieren, Methoden lernen, Stilübungen machen, Auslandsstudium, Nachbarfakultäten besuchen und die anderen „Dialekte des Indogermanischen“ nicht vernachlässigen. Es ist ein Wagnis, ein solches Berufsleben auf das Studium der Klassischen Philologie zu bauen. Ich würde es heute wieder tun. Der Verfasser vertritt seine eigene Meinung und ist unter [email protected] zu erreichen.
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Über die Aktualität antiker Tugenden Andreas Ritzenhoff
Sehr geehrter Herr Prof. Vogt-Spira, sehr geehrte Damen und Herren, ich gebe zu, ich war nie besonders gut in Latein und solange ich zur Schule ging, habe ich Griechisch und Latein nicht sonderlich gemocht. Das Blatt drehte sich schnell, als ich nach der Schule im Ausland Medizin studierte: nicht nur beim Studium der Anatomie und Krankheitslehre, sondern auch beim Erlernen von Englisch, Französisch und Spanisch erwies sich Latein doch als gute Grundlage und echter Beschleuniger des Lernprozesses. Fast unbemerkt hatte sich aber auch in meinem Bewusstsein festgesetzt, dass unsere Vorfahren nicht nur simple Höhlenmenschen waren, die sich häufig die Köpfe eingeschlagen haben. Vielmehr gab es weise Personen, die sich intensiv mit den fundamentalen Fragen des menschlichen Lebens beschäftigt und Antworten gegeben haben, die auch heute noch gültig sind. „The world is a mess“ sagte kürzlich die ehemalige amerikanische Außenministerin Madeleine Albright, als sie in Berlin für ihre Lebensleistung geehrt wurde. Wir brauchen eine neue Orientierung in Europa und im gesamten Westen. Lassen wir Aristoteles zu Wort kommen: Der Mensch verlangt naturhaft nach Glückseligkeit als dem letzten Ziel menschlichen Lebens − Glückseligkeit als das hinter allem menschlichen Streben stehende finale Ziel. Einen Hauch von Glückseligkeit erfährt der Mensch, wenn er zu seiner Bestimmung findet. Ich bin Unternehmer und trage Verantwortung für rund 650 Mitarbeiter. In der Führung versuchen wir Räume zu schaffen, in denen unsere Mitarbeiter sich selbst erleben und ein wenig entdecken können, worauf es mit ihnen hinaussoll. In der globalen Wirtschaft lassen wir heute
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einen in mancher Hinsicht menschenverachtenden Raubtierkapitalismus zu, der von Gier und Dollarzeichen in den Augen getrieben wird. Gäbe es mehr Business leader, die das Wissen der Alten in sich trügen, es würde der Welt guttun. Auch in der Politik geht es um mehr, als Machterhalt oder Wirtschaftswachstum zu erreichen, um mehr als Expansion oder Verwaltung des Besitzstandes. Nicht nur in seinem berühmten Höhlengleichnis fordert Platon, dass Staatsmänner höhere Einsichten haben sollten. Es sollten solche sein, die sich aus den Fesseln in der Höhle befreit haben, die Höhle verlassen und die Sonne und die Welt geschaut haben. Der Philosophenkönig, von dem Platon spricht, hat eben das Ganze der menschlichen Natur im Blickfeld. Für mein Leben ist ein stückweit Aristoteles prägend. Nicht, dass ich viel von ihm gelesen hätte. Prägend ist er eher indirekt, durch den Einfluss, den er knapp 1500 Jahre nach seinem Tod auf das Werk des heiligen Thomas von Aquin hatte. Dieser, 1225 in Aquino geboren, einem kleinen Ort zwischen Rom und Neapel, trat schon in jungen Jahren dem Bettelorden der Dominikaner bei. Trotz päpstlichen Verbotes beschäftigte er sich intensiv mit den Schriften des Aristoteles und ist in seinen 50 Lebensjahren zu dem großen Lehrer der noch ungeteilten Kirche geworden. Thomas von Aquin hat das Christentum durch Aristoteles aus einer eher jenseitigen Ausrichtung in die volle Bejahung des irdischen Daseins geführt. Ich fand Zugang zu ihm durch den 1997 verstorbenen Münsteraner Philosophieprofessor Josef Pieper, der sein Leben der Darstellung, Betrachtung und Interpretation des Werkes des heiligen Thomas gewidmet hat. Thomas beschäftigt sich unter vielem mit den Tugenden: Die vier Kardinaltugenden Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Maß sind die Angeln, in denen das Tor zum Leben schwingt. Darunter ist nicht Bravheit oder Ordentlichkeit zu verstehen. Tugend meint ganz allgemein „die seinsmässige Erhöhung der menschlichen Person. Der tugendhaftere Mensch ist so, dass er, aus innerster Wesensneigung, durch sein Tun das Gute verwirklicht.“ 1 So ist bei
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Josef Pieper, Lesebuch, München 1981, 21; ebd. auch die folgenden Zitate.
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Pieper über die Klugheit zu lesen: „Der Mensch kann nur dann richtig sein, wenn er sich den Blick für die Wirklichkeit nicht trüben lässt durch das Ja oder Nein des Willens; er macht, umgekehrt, sein Beschließen und Tun abhängig von der ihm zu Gesicht kommenden Realität. Er ist dadurch klug, dass er gewillt ist, die Wahrheit zu tun.“ Ein eklatantes Beispiel von durch den Willen getrübtem Blick bildeten wohl Neville Chamberlain und Eduard Daladier, als sie in der Nacht zum 30. September 1938 mit Hitler das Münchner Abkommen unterzeichneten. Deutsche Diplomaten hatten beide Staatschefs informiert, dass Hitler expansive Pläne im Osten hatte und sich nicht an die Vereinbarungen halten werde. Sie ließen die Wahrheit nicht zu, weil sie sie nicht zulassen wollten. Durch den Willen getrübte Wahrnehmung! Sie wollten als Kriegsverhinderer gefeiert werden. Nicht lange nach der Vertragsunterzeichnung brach der Zweite Weltkrieg aus. Etwas Vergleichbares erleben wir heute: Die Volksrepublik China plant bis zu ihrem hundertsten Geburtstag am 1. Oktober 2049, also in 30 Jahren, die Weltherrschaft zu erlangen. Der Angriff gegen den Westen erfolgt auf vier Ebenen: Wirtschaftlich: Sie treibt durch staatlich subventionierte Dumpingpreise westliche Firmen aus dem Markt und in die Insolvenz oder kauft sie mit staatlichen Mitteln. Militärisch: China betreibt eine Aufrüstung, als sei es bereits im Krieg. Geopolitisch: Man baut die Seidenstraße, baut und kauft weltweit logistische Infrastruktur wie Schiffshäfen, Flughäfen, Schienennetze, Stromund Wasserversorgungssysteme usw., um Abhängigkeiten zu schaffen und politischen Einfluss in den jeweiligen Ländern zu erreichen. Gesellschaftspolitisch: Der chinesische Präsident Xi Jinping hasst universelle Menschenrechte, Demokratie und Pressefreiheit. Das social credit system, mit dem er seine Bürger vollständig überwacht, will er weltweit einführen.
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Mehr als eine Million Uiguren lässt er auf menschenunwürdige Weise in Umerziehungs- und Konzentrationslagern aufs Übelste misshandeln. Verharmlosend bezeichnet man diese Camps als Schulen. Ziel ist es, die Uiguren vollständig zu unterdrücken und ihre Kultur zu zerstören. Theo Sommer, der langjährige Herausgeber der Zeit, vergleicht Xi Jinping mit Adolf Hitler. Obwohl es deutlich sichtbar ist, dass China sich nicht an vereinbarte Regeln hält und unser Wirtschaftssystem regelrecht zerstört, lässt unsere politische Führung es gewähren. DAX-Manager leugnen, Kenntnis über die Verletzung der Menschenrechte zu haben, und Siemens kooperiert bei der Erstellung von Überwachungssoftware in der Uigurenprovinz Xingjang. Wir müssen die Augen öffnen und dürfen nicht weiter eine Diktatur stark machen, die den Menschen als Gegenleistung für wirtschaftlichen Fortschritt die Privatsphäre nimmt und freies Denken brutal unterdrückt. Schauen wir auf die Tugend der Tapferkeit: Ich zitiere erneut Josef Pieper: „Der Mensch, der klug und gerecht ist, weiß, dass es zur Verwirklichung des Guten in dieser Welt des Einsatzes der Person bedarf. Er ist in der Tapferkeit bereit, um der Wahrheit und Gerechtigkeit willen Nachteile und Verwundungen in Kauf zu nehmen.“ Kürzlich fragte ich einen bekannten hochrangigen Politiker, ob das, was der chinesische Präsident Xi Jinping im Schilde führe, in der Politik nicht bekannt sei. Er antwortete, bekannt sei es schon, aber nur wenige trauen sich, ihren Mund aufzumachen. Ein Berliner Parlamentsjournalist erzählte mir, dass eine Vielzahl von Bundestagsabgeordneten versteckt unter der Tischplatte zum Applaus klopfte, damit man nicht sehen kann, dass sie es sind, die applaudieren. Tapferkeit bedeutet eben die Bereitschaft, um der Wahrheit und der eigenen Überzeugung willen auch persönliche Nachteile in Kauf zu nehmen. Ich glaube, wir brauchen es geradezu, dass die Weisheiten, die bereits Sokrates, Platon und Aristoteles diskutiert haben, in die heutige Diskussion zurückfinden. Welch einen Schatz haben uns die großen Denker des Altertums hinterlassen. Sie bieten Hilfe, die Welt aus der aktuellen Unordnung wieder herauszuführen. Deshalb haben wir alle und natürlich ganz besonders Sie, die Altphilologen, die wichtige Aufgabe, unsere Werte zurück in die Mitte der
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gesellschaftlichen Diskussion zu bringen. Sie können einem ganzen Kontinent, mehr noch, dem gesamten Westen die Kraft geben, einen neuen Aufbruch in eine neue Blütezeit zu schaffen. Der Verlust von Werten in einer Gesellschaft kann zu ihrem Niedergang führen. Sprache ist der Schlüssel zur Kultur eines Volkes. Auch wenn die alten Griechen und Römer nicht mehr existieren, so ist Latein und Altgriechisch doch der Zugang zu ihrer Weisheit und Philosophie. Einen Wunsch würde ich den Altphilologen gerne mit auf den Weg geben: dass sie den Latein- und Griechisch-Unterricht so zu gestalten mögen, dass Schüler nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern begeistert und staunend Griechisch und Latein lernen, um an dem Wissen und der Weisheit der alten Schriften teilzuhaben.
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Welche Möglichkeiten bietet die automatisierte Verarbeitung von Umgangssprache? Ansätze für eine kontextspezifische Textanalyse mithilfe von Natural Language Processing (NLP) Korbinian Spann 1. Einführung und Problemstellung Im Kontext der Digitalisierung und der technologischen Innovationen stellt sich die Frage, inwiefern das Studium von Latein und Griechisch als Handwerkszeug und Fertigkeit für die Zukunft seine Berechtigung behält. Die These dieses Beitrags ist, dass auch die automatisierte Analyse von Texten mithilfe künstlicher Intelligenz nicht völlig auf das Studium von Sprachen wie beispielsweise Latein und die Beschäftigung mit der zugehörigen Grammatik verzichten kann. Der Umgang und die Analyse von Texten muss weiterhin grundlegend erlernt und verstanden werden, um Software für die Analyse von Sprache programmieren zu können. Das folgende Beispiel soll im Detail belegen, welche Voraussetzungen und Hürden für eine automatisierte Auswertung zu überwinden sind. Die Erstellung von umgangssprachlichen Texten hat in den letzten Jahren durch digitale Plattformen stark zugenommen. Der Austausch in Messengern, im Bereich Social Media, in Blogs und Foren betrifft alle Themen des öffentlichen Lebens.1 1
https://www.enterprisetimes.co.uk/2020/05/28/yotpo-releases-report-on-usergenerated-content/ (letzter Abruf am 5.4.2021).
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Mit der zunehmenden Menge an Information zu den verschiedensten Lebensbereichen wächst die Notwendigkeit, die Texte zugänglich zu machen und sie nach Begriffen zu durchsuchen. Worüber sprechen Personen wie häufig in diesen Texten, welche Worte verwenden sie und welche Tonalität ist vorherrschend? Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn der Text automatisiert analysiert wird. Die manuelle Aufarbeitung ist in der Regel sehr zeitaufwendig und deshalb nicht zielführend, da jeder Leser eigene Maßstäbe an den Text anlegt. Umgangssprachlicher Text gehört zur Kategorie der unstrukturierten Daten und ist nur begrenzt lesbar für Maschinen. Um große Textbestände für die Analyse zugänglich zu machen, muss eine automatisierte Softwarelösung gefunden werden. Für die automatisierte Verarbeitung von Umgangssprache bietet künstliche Intelligenz verschiedene Werkzeuge. Grundsätzlich lassen sich in großen Datenmengen Muster erkennen und analysieren. In der Bildanalyse wird künstliche Intelligenz bereits erfolgreich eingesetzt, um Formen und Inhalte zu erkennen. Für die Erkennung von Mustern in umgangssprachlichen Texten wurde künstliche Intelligenz bislang aber nur begrenzt verwendet, da verschiedene Sprachen, unterschiedliche Kontexte und Schreibfehler hohe Barrieren für den Einsatz darstellen. „Natural Language Processing“(NLP), 2 also die Verarbeitung von Umgangssprache mit den Mitteln der künstlichen Intelligenz, hat deshalb für die englische Sprache bislang die höchste Verbreitung. Die Verarbeitung von Texten enthält grundlegend zwei Herausforderungen: die Erkennung der wesentlichen Schlüsselbegriffe in ihrem Kontext und die Analyse der Tonalität. Je besser sich in einzelnen Sätzen und Textabschnitten die Begriffe und die Tonalität erkennen lassen, desto präziser kann dieser Text zusammengefasst werden. Die Qualität der Ergebnisse wird dabei in zwei Dimensionen, „Precision“ und „Recall“, unterschieden. Damit werden zum einen die Qualität der Ergebnisse und zum anderen ihre Vollständigkeit bezeichnet. Das Ziel für die
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https://www.bigdata-insider.de/was-ist-natural-language-processing-a-590102/ (letzter Abruf am 5.4.2021).
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Verarbeitung des umgangssprachlichen Texts ist eine hohe Vorhersagequalität und eine möglichst umfassende Vollständigkeit der Ergebnisse.
2. Von den Texten zu den Erkenntnissen Um die Verarbeitung von Umgangssprache mithilfe künstlicher Intelligenz durchzuführen, ist ein mehrstufiger Prozess notwendig. Am Ende werden die einzelnen Texte in einer Übersicht und einem Dashboard zusammengefasst. Dort sollen übergreifend über alle Texte die wichtigsten Themen und die Tonalität für eine quantitative Auswertung visualisiert werden. Damit wird auf einen Blick deutlich, worüber die Autoren schreiben und ob die Stimmung in diesem Zusammenhang mehrheitlich positiv oder negativ ist. Der Prozess beginnt mit der Auswahl der richtigen Texte für die Analyse. Im Vergleich zu publizierten Texten ist die Wahl der umgangssprachlichen Texte schwieriger, da sie aus verschiedenen Quellen stammen und häufig eine geringe Qualität haben, was die Grammatik und die Rechtschreibung angeht. Zuerst ist eine ausreichende Menge an Texten in einer Sprache notwendig, um die Analyse erfolgreich zu beginnen. Beispielsweise können dazu Bewertungen auf Amazon herangezogen werden, die bereits millionenfach zur Verfügung stehen.3 Zweitens müssen die Texte in der Regel bereinigt werden, um maschinenlesbar zu werden. Dazu gehört die Formatierung in ein maschinenlesbares Format wie UTF-8 und die Vereinheitlichung des Formats. Drittens werden aus den bereinigten Daten sogenannte Trainingssets erstellt, also ein kleiner Ausschnitt aus allen Texten, der manuell annotiert wird und die richtigen Labels erhält. Dafür muss eine möglichst große Anzahl an Texten jeweils richtig klassifiziert werden, das heißt, es müssen ihnen die richtigen Schlüsselworte und die Tonalität zugeordnet werden. Je mehr Faktoren im Text richtig definiert werden sollen, desto größer muss das Trainingsset sein. Erst dann kann die Software automatisch 3
http://jmcauley.ucsd.edu/data/amazon/ (letzter Abruf am 5.4.2021).
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die Texte nach Schlüsselworten und Tonalität auf Basis der richtigen Ergebnisse analysieren. In jedem Fall müssen ausreichend annotierte Texte oder genauer korrekt ausgezeichnete Worte und Sätze für eine automatisierte Analyse bereitstehen, da sonst die Software keine zuverlässigen Ergebnisse liefern kann. Ursache dafür ist, dass die künstliche Intelligenz für die Analyse trainiert werden muss. Die Software „lernt“ vergleichbar mit einem Schulkind, welche Begriffe den Kontext am besten beschreiben und was negativ oder positiv bedeutet. Im Allgemeinen kann die Software nur die Ergebnisse der umgangssprachlichen Texte richtig analysieren, die auch ein Mensch analysieren könnte. Viertens erfolgt die Messung der Ergebnisse, die jeweils auf Vollständigkeit und Vorhersagequalität geprüft werden. Sie wird sowohl durch manuelle Stichproben als auch automatisiert durchgeführt. Zusammenfassend ist der Weg von den umgangssprachlichen Texten zu den Ergebnissen ein mehrstufiger Prozess, der auch manuelle Arbeit enthält. Den Unterschied in der Analyse machen weniger die Algorithmen, die in der Regel öffentlich verfügbar sind, als vielmehr die Aufbereitung der Daten und die Abfolge der einzelnen Prozessschritte. Der Mehrwert der automatisierten Analyse zeigt sich nicht bei der erstmaligen Konfiguration, sondern wenn der Prozess mit hoher Ergebnisqualität mit großen Textmengen wiederholt durchgeführt werden kann.
3. Ein praktisches Beispiel aus der Versicherungswirtschaft Als Beispiel für die automatisierte Analyse von Umgangssprache ziehen wir das Kooperationsprojekt der Ludwig-Maximilians-Universität München und Insaas4 für deutsche KFZ-Versicherungen heran.5 Während in englischer
Die Kooperation erfolgte 2020 zwischen dem Institut für Statistik (https:// www.statistik.uni-muenchen.de/institut/index.html) und der Insaas GmbH (https://insaas.ai/). 5 Die Ergebnisse dieses Projekts sind in Applied Marketing Analytics, Henry Stewart Publications, Vol. 6, Nr. 3 (2021) veröffentlicht worden. 4
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Sprache bereits Analysen auf diese Weise erstellt werden, sind in europäischen Sprachen und vor allem auf Deutsch nur wenige praktische Beispiele verfügbar. Für das Kooperationsprojekt wurde mit Hilfe modernster Methoden aus dem Bereich des Natural Language Processing eine Software erstellt, um nicht nur automatisch die Schlüsselbegriffe und Tonalität zu erkennen, sondern sie auch übergeordneten Themen zuzuordnen. Die Grundlage hierfür bildete ein umfassender Web-Crawl verschiedenster öffentlich verfügbarer Datenquellen zum Thema KFZ-Versicherung, wie beispielsweise Foren, Blogs oder App Stores. Dort haben Konsumenten zum Thema KFZ-Versicherungen ihre positiven und negativen Erfahrungen geteilt. Insgesamt wurden mehr als dreihunderttausend Texte erhoben, von denen mehr als fünfundzwanzigtausend für eine detaillierte Analyse verwendet wurden. Aus dieser Datenbasis wurden Ansätze aus einem Unterbereich der künstlichen Intelligenz, das sogenannte „Transfer Learning“, genutzt, um die Modelle zu trainieren, die Texte mit hoher Ergebnisqualität in Kategorien klassifizieren können. Das Herzstück der Pipeline bildet dabei das sogenannte BERT (Bidirectional Encoder Representations from Transformers) Modell, das im Jahr 2019 von Google-Forschern vorgestellt wurde und seitdem den Ausgangspunkt für viele NLP-Modelle darstellt.6 Um eine große Anzahl verschiedener Aspekte darzustellen, werden alle Schlüsselbegriffe in ihrer Tonalität auf acht verschiedene Kategorien reduziert. In diesem Fall sind das verschiedene Produkt- und Service-Kategorien, um die Qualität einer KFZ-Versicherung darzustellen. Der daraus resultierende Customer Centricity Graph zeigt auf intuitive Art und Weise die öffentliche Meinung über das Unternehmen. Je weiter außen ein Punkt im Spinnennetz abgebildet ist, desto besser ist die Meinung der Konsumenten.
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https://towardsdatascience.com/bert-explained-state-of-the-art-language-modelfor-nlp-f8b21a9b6270 (letzter Abruf am 5.4.2021).
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Abbildung: ein Beispiel für die Auswertung von Konsumentenstimmen für KFZ-Versicherungen. Abschließend stellt sich die Frage der praktischen Anwendbarkeit der Ergebnisse. Die hier vorgestellte Aggregation und Visualisierung von Daten gibt Entscheidungsträgern die Möglichkeit, schnell und übersichtlich einen Eindruck über den Inhalt der öffentlichen Kundenstimmen zu bekommen sowie Veränderungen über die Zeit und im Vergleich zur Konkurrenz zu kontrollieren. Aufwendige manuelle Arbeit wie das Studieren von Foren und Blogs sowie die Bewertung tausender Texte entfällt durch den Einsatz von Methoden des maschinellen Lernens zu einem großen Teil und erlaubt eine stärkere Fokussierung auf die Umsetzung von Verbesserungen in Versicherungsunternehmen. Die automatisierte Auswertung von Umgangssprache hat also einen konkreten Nutzen.
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4. Zusammenfassung Die automatisierte Verarbeitung von Umgangssprache bietet neue Möglichkeiten für die Analyse von Stimmung und Themen in großen Textbeständen, die manuell nur schwer oder nicht zu verarbeiten sind. Zwar ist es bislang nur begrenzt möglich, Zusammenfassungen von Büchern vollständig zu automatisieren, aber die quantitative Analyse von Umgangssprache ist mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und Natural Language Processing sehr wohl möglich. Damit lassen sich automatisierte Vorhersagen von Stimmungen und Themen in Texten sowie Trendanalysen mit einer Treffsicherheit von mehr als 85 % in diesem Fall für den Referenzdatensatz durchführen (Precision). Da die Konfiguration der automatisierten Analysen aber sehr aufwendig ist, liegt das größte Potential in der Analyse von Textmustern in umfangreichen und heterogenen Textbeständen. Die künstliche Intelligenz lässt sich darüber hinaus ständig weiter trainieren und die Ergebnisse verbessern. Es ist zu erwarten, dass die Möglichkeiten der automatisierten Verarbeitung von Sprachen wie Deutsch sich in den nächsten Jahren weiter deutlich verbessern werden, da mehr annotierte Daten für verschiedene Themen und Branchen zur Verfügung stehen werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen nicht nur Programmierer und Infrastruktur, sondern auch Experten mit sprachwissenschaftlichen Kenntnissen zur Verfügung stehen.
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Latein und Griechisch an Bibliotheken – das Beispiel der Bayerischen Staatsbibliothek Klaus Kempf & Philipp Weiß … Die Berliner Bibliothek wollte die Theognisausgaben des 16 und 17 Jh. nicht herausrücken. Eine Anzahl sehr nöthiger Bücher hatte ich mir von der Leipziger Bibliothek ausgebeten durch Roschers Vermittlung. Roscher aber schrieb mir, daß seine Gewissenhaftigkeit nicht zuließe, Bücher, die auf seinen Namen geschrieben wären, aus der Hand zu geben. Welche Gewissenhaftigkeit zu tadeln mir nicht einfällt, nur kam sie mir unbequem genug. … Friedrich Nietzsche an Carl von Gersdorff (Naumburg, 7. April 1866)
Der 22-jährige Altphilologe Friedrich Nietzsche, der gerade im heimischen Naumburg an seiner Dissertation schrieb, spricht in der zitierten Briefnotiz 1 zwei Herausforderungen für wissenschaftliche Bibliotheken an, die einen grundsätzlichen Zielkonflikt implizieren: Einerseits haben Bibliotheken die Aufgabe, kulturelles Erbe umfassend zu sammeln und zu bewahren, andererseits wird von ihnen erwartet, forschungsnah und serviceorientiert auf die Bedürfnisse ihrer Klientel zu reagieren. Im konkreten Fall stellten die angefragten Bibliotheken in Berlin und Leipzig ihre konservatorischen Belange über das Informationsbedürfnis des Nutzers, womit sie bei Friedrich Nietzsche immerhin auf verständnisvolle Kenntnisnahme trafen.
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Zitiert nach Nietzsche Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. I,2: Nietzsches Briefe: 1864–1869, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1975, 121.
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Seit Nietzsches Zeit – und nicht zuletzt auch als Folge seiner radikalen Kritik am Klassizismus und einer am Historismus orientierten Geisteswissenschaft2 – hat sich der Stellenwert der Altertumswissenschaften in der deutschen Universitäts- und Forschungslandschaft verändert. Doch gerade in Hinblick auf die klassisch-philologischen Fächer, wo sensible Überlieferungsträger wie Papyri, Codices oder historische Drucke von besonderer Relevanz sind, bleibt die angesprochene Dichotomie von Bewahren und Vermitteln als vermeintlich widersprüchliche Aufgaben für wissenschaftliche Bibliotheken bestehen – auch in einem umfassenderen Sinn, der die Aspekte des Sammelns, Erschließens und Informierens einbezieht. Insbesondere für Bibliotheken mit bedeutenden Altbeständen stellt sich daher die Frage, wie sich beide Aufgaben in der bibliothekarischen Praxis vereinen lassen. Der vorliegende Beitrag, der eine knappe Bestandsaufnahme zur Rolle des Griechischen und Lateinischen an wissenschaftlichen Bibliotheken skizziert, stellt diese Frage in den Zusammenhang der umfassenden Digitalisierungsinitiativen, die seit den 1990er Jahren die wissenschaftliche Informationsversorgung, aber auch die Forschungspraxis in den Altertumswissenschaften grundlegend verändert haben. 3 Die Möglichkeiten der digitalen Vermittlung erlauben es Bibliotheken heute, unabhängig von lokalen Gegebenheiten und unter Erfüllung der konservatorischen Anforderungen breite Informationsangebote gerade auch für die Altertumswissenschaften zu entwickeln. Dies soll im Folgenden an drei zentralen Arbeitsbereichen der Bayerischen Staatsbibliothek demonstriert werden. Vorauszuschicken ist, dass griechische und lateinische Sprachkenntnisse bei der postgradualen Ausbildung des bibliothekarischen Fachpersonals heute kaum mehr eine Rolle spielen. Im Zuge der Berufsbilddebatte, die zu
Vgl. etwa Volker Riedel, Nietzsches Klassizismuskritik, die Reaktion der ‚Zunft‘ und die ‚Winckelmann-Renaissance‘ im 20. Jahrhundert, Nietzscheforschung 24 (2017), 245–274, hier 246f. 3 Einen aktuellen Überblick über Methoden der Digital Humanities in der Klassischen Philologie mit weiteren Literaturhinweisen bietet der Sammelband Digital classical philology: ancient Greek and Latin in the Digital Revolution, hg. von Monica Berti, Berlin/Boston 2019 (Age of Access? Grundfragen der Informationsgesellschaft, Bd. 10). 2
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einer zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung des Bibliothekarberufs geführt hat, wurden verpflichtende Lateinkenntnisse für wissenschaftliche Bibliothekarinnen und Bibliothekare nicht mehr für allgemein notwendig erachtet.4 Zwar können Bibliotheken bei der Auswahl zum Referendariat beziehungsweise Volontariat je nach fachlichem Bedarf noch heute spezifische Sprachkenntnisse beziehungsweise Studienqualifikationen verlangen; die Zeiten, in denen insbesondere das Lateinische als lingua franca auch des „Bibliothekarstands“ gelten konnte, sind allerdings seit längerer Zeit vorbei.5 Auch an „Brückenbauern“, die die Bereiche Bibliothek und Altertumswissenschaften in ihrer Berufspraxis verbinden, fehlt es weitgehend.6 Das Fachreferat als institutioneller Kontaktpunkt zwischen Wissenschaft und Bibliothek wird seit einigen Jahrzehnten regelmäßig in seiner Bedeutung relativiert und hinterfragt.7 Gerade in Hinblick auf die Relevanz der Vgl. zur Berufsbilddebatte etwa die Beiträge in Bibliothekare zwischen Verwaltung und Wissenschaft. 200 Jahre Berufsbilddebatte, hg. von Irmgard Siebert und Thorsten Lemanski, Frankfurt a. M. 2014. 5 Vgl. dagegen zur Situation am Beginn des 19. Jahrhunderts: Friedrich Adolf Ebert, Die Bildung des Bibliothekars, Leipzig 1820, 10: „Die Tauglichkeit zur Erfüllung der besonderen und eigenthümlichen Pflichten seines Berufs gründet sich bei dem Bibliothekar, wie in jedem andern Fache, auf gründliche Vorkenntnisse, und er unterscheidet sich nur darinn von Gelehrten anderer Fächer, dass diese Vorkenntnisse zugleich möglichst umfassend und mannichfaltig seyn müssen. Gründliches Studium der griechischen und lateinischen Sprache darf kein Gelehrter verabsäumen; der Bibliothekar aber muss zugleich die französische, italienische und englische Sprache vollkommen verstehen […].“ 6 Hingewiesen sei nur auf zwei Beispiele aus dem Münchener Umfeld: Rudolf Pfeiffer, einer der bedeutendsten Gräzisten des 20. Jahrhunderts, war vor seiner wissenschaftlichen Laufbahn fast zehn Jahre lang an der Münchener Universitätsbibliothek tätig; vgl. Winfried Bühler, Nachruf Rudolf Pfeiffer, Gnomon 52.4 (1980), 402–410, hier 403. Unter den Bibliothekaren der Bayerischen Staatsbibliothek findet sich eine Reihe von Persönlichkeiten, die neben ihrer bibliothekarischen Arbeit im engeren Sinne substantielle Beiträge zur altertumswissenschaftlichen Forschung geliefert haben (Karl Felix von Halm, Wilhelm Meyer u. a.). 7 Vgl. Marcus Schröter und Eric W. Steinhauer, Philologie und Bibliothek – Philologie oder Bibliothek? Das Verhältnis von Fachstudium und Bibliothek als Herausforderung in beruflicher Praxis und bibliothekarischer Ausbildung, in: Philologie und Bibliothek: Festschrift für Hans-Jürgen Schubert zum 65. Geburtstag, hg. von Bernd Lorenz, Wiesbaden 2005, 151–178. Mit einem kritisch-konstruktiven Vorschlag dazu zuletzt David Tréfás, Das Fachreferat: vom Universalgelehrten zur Schwarmintelligenz, Bibliotheksdienst 52.12 (2018), 864–874. 4
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alten Sprachen sind schließlich auch die Profilunterschiede im wissenschaftlichen Bibliothekssystem zu berücksichtigen: Während insbesondere für viele Universitätsbibliotheken die altphilologischen „Kleinen Fächer“ 8 nur mehr einen Bruchteil des Adressatenkreises ausmachen, haben Griechisch und Latein beispielsweise für Staats- und Forschungsbibliotheken mit umfangreichem Altbestand beziehungsweise für Bibliotheken mit überregionalen altertumswissenschaftlichen Informationsangeboten auch heute eine hohe Relevanz.
1. Handschriften, Alte Drucke und Nachlässe Seit ihrer Gründung durch Albrecht V. im Jahr 1558 sammelt die Bayerische Staatsbibliothek wertvolle Handschriften und Drucke. Schon die Bibliotheken der Humanisten Hartmann Schedel (1440–1514, über die Bibliothek Johann Jakob Fuggers in die Bestände der späteren Bayerischen Staatsbibliothek gelangt) und Johann Albrecht Widmannstetter (1506–1557), die den Grundbestand der herzoglichen Sammlung bildeten, enthielten zahlreiche altphilologisch relevante Titel. Mit der Übernahme der Bibliotheksbestände aus dem aufgelösten Münchener Jesuitenkolleg 1773 und der Mannheimer Hofbibliothek 1803/1804 wurde die Sammlung in allen zeitgenössischen Wissensgebieten erweitert. Schließlich kamen im Zuge der Säkularisation umfangreiche Handschriftenbestände aus den bayerischen Klöstern (St. Emmeram in Regensburg, Polling, Tegernsee und andere) in die Münchener Bibliothek, die die Sammlung der Bayerische Staatsbibliothek heute zu einer der bedeutendsten und reichhaltigsten der Welt machen.9 8 Vgl.
die Broschüre Kleine Fächer an den deutschen Universitäten interdisziplinär und international, hg. von der Hochschulrektorenkonferenz, Rheinbreitbach 2012. 9 Vgl. Otto Hartig, Die Gründung der Münchener Hofbibliothek durch Albrecht V. und Johann Jakob Fugger, in: Beiträge zur Geschichte der Bayerischen Staatsbibliothek, hg. von Rupert Hacker, München 2000, (Schriftenreihe Bayerische Staatsbibliothek, Bd. 1), 13–52, sowie Die Anfänge der Münchener Hofbibliothek unter Herzog Albrecht V., hg. von Alois Schmid, München 2009, (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Bd. 37) und Die Hofbibliothek zu München unter den Herzögen Wilhelm V. und Maximilian I., hg. von Alois Schmid, München 2015, (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft 43).
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Der Bestand von abendländischen Handschriften aus der Zeit vom 6. bis zum 20. Jahrhundert wird kontinuierlich ausgebaut, etwa durch antiquarische Ankäufe oder Auktionsbeteiligungen. Er umfasst gegenwärtig rund 37 000 Codices, darunter ca. 17 000 lateinische und 650 griechische Handschriften. Hinzu kommen mehr als 3200 mittelalterliche, von ihren Trägerbänden abgelöste Fragmente sowie ca. 700 vorwiegend griechische Papyri. Für die Bewahrung dieses schriftlichen Kulturguts durch präventive Konservierung und Restaurierung ist das Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung (IBR) verantwortlich, das sich neben den praktischen Aspekten auch um die anwendungsorientierte Forschung und die Ausbildung von Restauratorinnen und Restauratoren kümmert. An der Erschließung und Vermittlung der Inhalte arbeitet in der Abteilung Handschriften und Alte Drucke Fachpersonal mit altphilologischem Hintergrund: Seit den 1970er Jahren werden die Codices der Bayerischen Staatsbibliothek in einem von sechs DFG-geförderten Handschriftenzentren nach modernsten wissenschaftlichen Kriterien erschlossen. Diese Arbeit leistet einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung auch der Klassischen Philologie: Die Identifikation der Texte sowie die zeitliche, geographische und kulturgeschichtliche Einordnung der Überlieferungsträger ist für weitere editorische Arbeiten und Forschungen von Bedeutung. Gelegentlich gelingen auch spektakuläre Neufunde antiker Texte, wie etwa im Jahr 2012 an der Bayerischen Staatsbibliothek die Entdeckung von 29 bis dahin unbekannten Psalmenhomilien des Kirchenvaters Origines. 10 In den Bereich der Vermittlung fällt auch die Initiative für ein neugestaltetes Handschriftenportal, das die Plattform Manuscripta Mediaevalia ablösen und den Forschenden einen zentralen Zugriff auf Erschließungsdaten und Digitalisate der mittelalterlichen und neuzeitlichen Buchhandschriften in deutschen Sammlungen bieten wird. 11 Die Bayerische 10
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Vgl. Origenes XIII. The New Homilies on the Psalms. A Critical Edition of Codex Monacensis Graecus 314, hg. von Lorenzo Perrone in Zusammenarbeit mit Marina Molin Pradel, Emanuela Prinzivalli und Antonio Cacciari, (Die griechischen christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte), Berlin/München/Boston 2015. Vgl. zum Handschriftenportal im Kontext der Digitalisierung mittelalterlicher Handschriften Claudia Fabian, Der Masterplan: Digitalisierung mittelalterlicher
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Staatsbibliothek beteiligt sich konzeptionell an der Entwicklung dieser innovativen virtuellen Arbeitsumgebung für die Handschriftenforschung. In den Aufgabenbereich der Abteilung Handschriften und Alte Drucke fallen außerdem zwei Projekte, die ebenfalls der Grundlagenforschung in der Klassischen Philologie (inklusive Mittel- und Neulatein) dienen, in diesem Fall mit Fokus auf den gedruckten Werken der Frühen Neuzeit. Seit 1969 wurden – zunächst gefördert durch die DFG, seit 1999 in Eigenleistung – alle im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts im Rahmen des Projekts VD 16 verzeichnet und sowohl als gedrucktes Verzeichnis wie auch als Datenbank recherchierbar gemacht. 12 Dieses Projekt ist Teil einer retrospektiven deutschen Nationalbibliothek (Sammlung Deutscher Drucke), die – unter inhaltlicher Beteiligung der Bayerischen Staatsbibliothek auch im Rahmen der Teilprojekte VD 17 und VD 18 – einen umfassenden Titelkatalog von Druckwerken aus diesem Publikationsbereich zur Verfügung stellt. Ebenfalls in den Kontext der Sammlung Deutscher Drucke gehört der Inkunabelkatalog der Bayerischen Staatsbibliothek (BSB-Ink), der den Erscheinungszeitraum 1450 bis 1500 abdeckt. Sowohl bei den Inkunabeln als auch bei den Alten Drucken kommen in Anbetracht des Anteils der lateinischsprachigen Publikationen für die Erstellung aussagekräftiger und zuverlässiger Metadaten nicht nur buchwissenschaftliche und historische, sondern auch vertiefte philologische Kenntnisse zum Einsatz. Schließlich gehört zum Verantwortungsbereich der Abteilung Handschriften und Alte Drucke auch die Sammlung, wissenschaftliche Erschließung und Vermittlung von Nachlässen.13 Ein nicht unbeträchtlicher Teil des hier betreuten Materials stammt von Klassischen Philologen vor allem aus dem 19.-21. Jahrhundert (derzeit 58 von 1.100 Nachlässen). Unter Handschriften, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 63(3) (2016), 113–122, hier 120f. 12 Vgl. Claudia Fabian, Anreicherung, Ausbau und internationale Vernetzung: Zur Fortführung des Verzeichnisses der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 57(6) (2010), 321–332. 13 Vgl. Claudia Fabian und Cornelia Jahn, Nachlässe – aktuelle Fragen und Herausforderungen: Bericht über die 3. Arbeitstagung der deutschen Literaturarchive (KOOP-LITERA Deutschland 2012), Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 59(5) (2012), 258–261.
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den Nachlassgebern finden sich so berühmte Namen wie Richard Heinze, Uvo Hölscher, Friedrich Klingner, Rudolf Pfeiffer, Wolfgang Schadewaldt oder Bruno Snell. Hinzu kommen zahlreiche Nachlässe aus anderen altertumswissenschaftlichen Disziplinen (zum Beispiel Ägyptologie, Alte Geschichte, Byzantinistik, Mittellatein).
2. Digitalisierung Eng mit den angesprochenen Aspekten des Sammelns, Bewahrens und Vermittelns von Altbeständen hängen die Initiativen der Bayerischen Staatsbibliothek im Bereich der Digitalisierung zusammen.14 Die Zeiten, in denen Philologen etwa für textkritische Untersuchungen langwierige Bibliotheksreisen unternehmen mussten, gehören mittlerweile weitgehend der Vergangenheit an. Die Bayerische Staatsbibliothek hat sowohl im Bereich der Herstellung als auch bei der Präsentation und Langzeitarchivierung digitaler Reproduktionen von Handschriften und Alten Drucken eine jahrzehntelange Expertise. Neben der im Münchener Digitalisierungszentrum (MDZ) seit 1997 betriebenen Produktion von Digitalisaten vornehmlich aus eigenen, urheberrechtsfreien (Sonder-)Beständen, digitalisierte die Bayerische Staatsbibliothek im Rahmen des Projekts Google Book Search und auf der Basis einer sogenannten Public Private Partnership seit 2007 bis zum heutigen Tag rund 2,5 Millionen Titel.15 Davon sind nicht wenige in lateinischer Sprache
Die Herausforderungen der Digitalisierung im Kontext bibliothekarischen Bestandsaufbaus beschreibt Klaus Kempf, Sammlung ade? Bestandsaufbau im digitalen Zeitalter, in: Bibliotheken: Innovation aus Tradition. Rolf Griebel zum 65. Geburtstag, hg. von Klaus Ceynowa und Martin Hermann, Berlin/München/Boston 2014, 371–408. 15 Neben Monographien und Zeitschriftenbänden beziehungsweise Jahrbüchern sind hier auch ca. 1 Million Zeitungsausgaben enthalten. Rund 130.000 Titel sind der eigenen Produktion zuzurechnen. Die restlichen ca. 2,4 Millionen wurden in Zusammenarbeit mit Google erzeugt. 14
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abgefasst.16 Im Rahmen des Google-Projekts wurden insbesondere die Veröffentlichungen ab dem 17. Jahrhundert digitalisiert (aktuell weitergeführt mit den Erscheinungsjahren bis 1895). Die Metadaten dieser Digitalisate werden in deutsche wie europäische bibliothekarische Projekte und konkret in die jeweiligen Portale und Plattformen eingebracht. Die Nutzungszahlen der im Google-Projekt digitalisierten und bereitgestellten Titel, die über den OPACplus der Bayerischen Staatsbibliothek, aber auch über die Website des MDZ („Digitale Sammlungen“) sowie über Google Books selbst aufgerufen werden können, sprechen eine eindeutige Sprache in Hinblick auf die Relevanz des Lateinischen im digitalen Raum: Mit 6 bis 10,5 % liegen die Titel in lateinischer Sprache demnach konstant auf Platz zwei in der Gunst der Nutzer – hinter Titeln in deutscher Sprache. Damit übertreffen sie in der OnlineNutzung derzeit die englischen und französischen Titel. 17 Seit 1997 konnten in über 30 – meist DFG-geförderten – Retrodigitalisierungsprojekten vom Münchener Digitalisierungszentrum wertvolle Stücke aus dem Handschriftenbestand der Bayerischen Staatsbibliothek mit altertumswissenschaftlicher Relevanz digitalisiert und frei im Netz bereitgestellt werden. Die Digitalisierung erfolgt in enger Abstimmung mit dem Institut für Bestandserhaltung und Restaurierung (IBR), um den konservatorischen Herausforderungen bei der Überführung dieses Kulturguts in die digitale Welt gerecht zu werden. Auch die Digitalisierung der Titel des VD 16 (VD 16 digital) sowie der Inkunabelsammlung der Bayerischen Staatsbibliothek wurde vom Münchener Digitalisierungszentrum besorgt. In einer Zeit, in der sich die Möglichkeiten und Methoden der Digital Humanities dynamisch entwickeln, ist es mit dem bloßen Ins-Netz-Stellen von Digitalisaten, von digitalen Kopien also, allerdings nicht mehr getan. Ziel der digitalisierenden Einrichtungen muss es sein, über eine entsprechende OCR-Software auch qualitativ hochwertige Volltexte anzubieten.18 Um die Auffindbarkeit der Digitalisate und ihre Vernetzung zu anderen
16 Vgl. zusammenfassend Wilhelm Hilpert, 10 Jahre Partnerschaft mit Google. Auswir-
kungen und Spuren an der Bayerischen Staatsbibliothek, in: Bibliotheken: Innovation aus Tradition (wie Anm. 14), 258–266. 17 Die genannten Zahlenwerte stammen aus Auswertungen von Google selbst. 18 In diesem Zusammenhang ergeben sich neue Herausforderungen nicht nur für die
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Nachweisinstrumenten zu gewährleisten, ist außerdem ein hoher Aufwand im Bereich der Metadatenpflege zu leisten. 19 Methoden der automatischen Texterkennung, wie sie etwa im Rahmen der Google-Kooperation Anwendung finden, werden künftig auch die automatische Anreicherung von Katalogdaten mit Sprachangaben ermöglichen. Eine Sprachermittlung auf Seitenund Absatzebene ist auf diese Weise ebenfalls umsetzbar: Zukünftig wird es demnach möglich sein, Volltextabfragen auf bestimmte Sprachen einzugrenzen. Für Projekte aus dem Bereich Text and Data Mining bieten die digitalen Volltexte schon heute wertvolles Datenmaterial. Bei der Online-Präsentation fehlte es anfangs an international maßgeblichen Standards, um unabhängig vom jeweiligen Anbieter Digitalisate unter vergleichbaren Bedingungen nutzen zu können. Dies hatte in der Praxis zur Folge, dass etwa Editionswissenschaftler Digitalisate von verschiedenen Bibliotheken meist über deren eigene Präsentationsoberflächen mit jeweils eigenen Funktionalitäten aufrufen mussten. Um Forschungsumgebungen unabhängig von lokalen Präsentationsoberflächen zu schaffen, liegt seit
Spezialabteilungen für Digitalisierung, sondern auch für Altbestandsbibliothekare; vgl. Claudia Fabian, Der Altbestand in 50 Jahren. Ein Versuch zur Zukunft des schriftlichen Kulturerbes, Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 66.3 (2019), 130-136, hier 134: „Für die Altbestandsbibliothekare bedeutet das, dass sie 2068 primär für die digitale Präsenz zuständig sein werden. Gerade die technisch unterstützte Bearbeitung bisher unerschlossener oder nicht adäquat erschlossener (analoger) Massenbestände wird sie vor Herausforderungen stellen. Auch den digitalen Content gilt es konstant zu pflegen, zu erweitern, zu betreuen, zu migrieren, um Interaktion und Vernetzung zu erlauben. Die modernen Tools, die heute schon entstehen, von OCR über automatisierte Bilderkennung, digitale Karten und verschiedene Visualisierungssysteme, werden im Routinegeschäft anzuwenden, vor allem aber konstant zu erweitern sein, um die Daten des Altbestands in ihrer Relevanz für die Gegenwart, für die aktuelle Forschung zu verschiedenen Themen zu gestalten und zu präsentieren.“ 19 Zum äußerst komplexen Thema der Datenpflege im weiteren Sinne und im Kontext der „digitalen Bibliothek“ sowie ihrer Bedeutung für die „digitalen Dienste“ der Bayerischen Staatsbibliothek vgl. ausführlich Klaus Kempf, Data Curation oder (Retro-)Digitalisierung ist mehr als die Produktion von Daten. Vortrag auf dem 104. Deutschen Bibliothekarstag in Nürnberg 2015, o-bib. Das offene Bibliotheksjournal 2.4 (2015), 268–278 (online unter: https://www.o-bib.de/issue/view/ 2015H4; letzter Abruf am 22. Juli 2020).
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2011 das International Image Interoperability Framework (IIIF) als länderübergreifender Standard vor, das mittlerweile auch in der Bayerischen Staatsbibliothek Anwendung findet und an dessen weiterer Entwicklung und Durchsetzung diese aktiv mitwirkt. 20 IIIF vereinheitlicht dabei sowohl die Ausgabe der Images (Format, Ausgabegröße und Zoomstufen, Ausschnitte, Farbtiefe und Rotation) als auch der zugehörigen Metadaten. Über Schnittstellen lassen sich die Digitalisate in verschiedenen IIIF-konformen Viewern und Forschungsplattformen – etwa über die vom Münchener Digitalisierungszentrum angebotene Präsentationssoftware Mirador – aufrufen.21 Schließlich impliziert die ständig wachsende Zahl an Retrodigitalisierung die Verpflichtung, den digitalen Zugriff im Rahmen der Langzeitarchivierung dauerhaft sicherzustellen. Gemeinsam mit dem Leibniz-Rechenzentrum (LRZ) als strategisch-technischem Partner für das gesamte Digitalisierungsgeschehen wurden dazu Workflows konzipiert und etabliert, die neben den Retrodigitalisaten auch andere fachlich relevante digitale Inhalte (urheberrechtlich geschützte periodische und nichtperiodische Open-Access-Publikationen, Amtsdruckschriften, thematische, institutionelle und ereignisbezogene Websites, aber auch audiovisuelle Materialien) umfassen. Eine leistungsfähige und nachhaltige Langzeitarchivierung entspricht dabei dem Selbstverständnis einer Gedächtnisinstitution, die neben dem Bereitstellen und Vermitteln elektronischer Inhalte auch deren digitale Bewahrung als Aufgabe ernst nimmt.
20 Die digitalisierten mittelalterlichen Handschriften und Inkunabeln entsprechen be-
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reits diesem Standard. Eine Ausweitung auf alle mittlerweile 2,5 Millionen Digitalisate der Bayerischen Staatsbibliothek ist in Arbeit und für Ende 2020 geplant. Zur IIIF-Thematik und zu ihrer Anwendung in der Bayerischen Staatsbibliothek vgl. Ralf Eichinger, IIIF development at the BSB. Ein Vortrag im März 2016 auf der LDCX Conference (Stanford University Libraries) (online unter: https:// www.digitale-sammlungen.de/content/dokumente/20160317-IIIF_at_BSBRalf_Eichinger.pdf; letzter Abruf am 22.7.2020).
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3. Forschungsnahe Dienstleistungen: Der Fachinformationsdienst Altertumswissenschaften – Propylaeum Schon bei der Digitalisierung wurde deutlich, dass die Entwicklung bibliothekarischer Services heute nicht mehr nur auf lokale Anforderungen fokussiert sein kann, sondern auch die überregionale Perspektive berücksichtigen sollte. Was die fachbezogene Versorgung mit wissenschaftlicher Spezialliteratur betrifft, so war dies in gewisser Hinsicht schon im analogen Zeitalter der Fall: Da an keinem Bibliotheksstandort wissenschaftliche Fachliteratur für sämtliche vertretenen Disziplinen in der geforderten Breite erworben und vorgehalten werden kann, förderte die DFG seit 1949 mit den Sondersammelgebieten (SSG) ein international einzigartiges System von fachbezogenen Kompetenzzentren, die mit einem umfassenden Sammelauftrag wissenschaftliche Spezialliteratur zu den einzelnen Fachbereichen erwarben und über Fernleihe in ganz Deutschland zur Verfügung stellten. Die Altertumswissenschaften bildeten im Rahmen dieser „Verteilten nationalen Forschungsbibliothek“ einen Kernbereich an der Bayerischen Staatsbibliothek, die bis 2016 insgesamt drei dafür einschlägige Fachbereiche betreute: „Vorund Frühgeschichte“ (SSG 6.11), „Кlassische Altertumswissenschaft einschl. Alte Geschichte, Mittel- und Neulateinische Philologie“ (SSG 6.12) und „Вyzanz” (SSG 6.15). 2016 wurde das System der Sondersammelgebiete von der DFG in das Förderprogramm „Fachinformationsdienste für die Wissenschaft“ transformiert.22 Hintergrund war unter anderem das Bestreben, den Anforderungen einer lokal unabhängigen digitalen Informationsversorgung künftig besser gerecht zu werden und das bibliothekarische Angebot durch geeignete forschungsnahe Dienstleistungen zu ergänzen. Seit 2016 betreut die Bayerische Staatsbibliothek daher in Kooperation mit der Universitätsbibliothek Heidelberg den Fachinformationsdienst Altertumswissenschaften – Propylaeum, der mittlerweile acht altertumswissenschaftliche Fachbereiche adressiert:
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Vgl. zusammenfassend dazu Dorothea Sommer, Fachinformationsdienste an der Bayerischen Staatsbibliothek: Ergebnisse des Transformationsprozesses und Ausblick, ABI Technik 39.4 (2019), 271–281.
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Ägyptologie, Alte Geschichte, Alter Orient, Byzantinistik, Klassische Archäologie, Klassische Philologie, Mittel- und Neulateinische Philologie sowie Vorund Frühgeschichte. Der Fachinformationsdienst mit seinem Portal Propylaeum (www.propylaeum.de) versteht sich als zentrale Anlaufstelle für Altertumswissenschaftler bei der Recherche nach Fachliteratur und -information. Durchaus in Kontinuität zu den Sondersammelgebieten werden an den beiden Standorten München und Heidelberg nach wie vor altertumswissenschaftliche Fachpublikationen in großem Umfang und mit Blick auf den wissenschaftlichen Spezialbedarf erworben, erschlossen und bereitgestellt. 23 Darüber hinaus entwickelt der FID spezialisierte Rechercheangebote, die Orientierung bei der Suche nach Informationsressourcen geben. Auf der Basis moderner Suchmaschinentechnologie ermöglicht PropylaeumSEARCH die kombinierte Abfrage von aktuell ca. 56 Millionen Datensätzen aus über 30 fachspezifischen Datenquellen (Bibliothekskataloge, Fachbibliographien, digitale Sammlungen und andere). Im Zuge der FID-Förderung war es zudem möglich, die Gnomon Bibliographische Datenbank (GBD), eine der etablierten Fachbibliographien im Bereich der Klassischen Altertumswissenschaften, in den langfristigen Betrieb zu überführen: Neben der Entwicklung einer neuen benutzerfreundlichen Rechercheoberfläche stand dabei die Migration des Datenbestands von derzeit über 600 000 Datensätzen in die Infrastruktur des Bibliotheksverbunds Bayern im Zentrum, womit die Verfügbarkeit der Daten und der Weiterbetrieb der GBD für die Zukunft sichergestellt sind. Die Rechercheangebote von Propylaeum werden ergänzt durch weitere spezialisierte Services wie etwa den KIRKE Webguide Altertumswissenschaften, eine Rechercheplattform für fachrelevante Internetressourcen, die zum Teil auch langfristig archiviert werden, Spezialbibliographien oder die Rezensionsplattform recensio.antiquitatis, die den freien Zugriff auf derzeit über 4000 altertumswissenschaftliche Fachrezensionen ermöglicht.
23
Vgl. Maria Effinger, FID Altertumswissenschaften, H-Soz-Kult 20.09.2016 (online unter: www.hsozkult.de/debate/id/diskussionen-3879; letzter Abruf am 22.7.2020).
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Neben der Recherche bilden die Publikationsangebote von Propylaeum EPublishing einen Schwerpunkt des FID. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler können Monographien und Aufsätze dabei entweder als Erstpublikation („Goldener Weg“) oder als Zweitveröffentlichung („Grüner Weg“) im Open Access veröffentlichen. Derzeit sind neben den Einzelbeiträgen in Propylaeum-DOK 40 Zeitschriften (über Propylaeum-eJournals) und über 240 EBooks (über Propylaeum-eBooks) weltweit frei verfügbar. Propylaeum bietet außerdem die Voraussetzungen zur Publikation von Forschungsdaten und digitalen Editionen. Die fachnahen Informationsangebote von Propylaeum umfassen neben den Recherche- und Publikationsservices auch weitere Bereiche wie Themenportale, E-Learning-Tools und aktuelle Fachinformationen über Blog, Facebook und Twitter. Neuerwerbungsdienste und Wunschbuchservices informieren über den Bestand und gewährleisten eine zielgruppenspezifische und bedarfsorientierte Weiterentwicklung des Angebots. Über die FID-Lizenzen sind umfangreiche Datenbanken und E-Book-Pakete standortunabhängig für den Nutzerkreis des FID verfügbar. Alle Entwicklungen werden von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet und kontinuierlich an die Anforderungen der Fachgemeinschaft angepasst. Latinistik und Gräzistik spielen als Kernbereiche altertumswissenschaftlicher Forschung dabei eine wichtige Rolle, wobei die Herausforderung darin besteht, dass der Fachinformationsdienst im Rahmen seiner Kooperationen mit Fachgesellschaften und im persönlichen Kontakt mit den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern über Forschungstrends und Entwicklungen in der altertumswissenschaftlichen Methodik auf dem Laufenden bleibt und gegebenenfalls auch eigene Impulse gibt. Perspektivisch kann sich der Fachinformationsdienst Altertumswissenschaften an der Schnittstelle zwischen Infrastruktureinrichtung und Fachwissenschaft demnach auch als Forum und Impulsgeber für die digitale Transformation altertumswissenschaftlicher Forschung etablieren. 24
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Ein Beispiel für solche Initiativen wäre etwa der Workshop zum Thema „Digitales Edieren in der Klassischen Philologie“, der im September 2019 an der Bayerischen Staatsbibliothek durchgeführt wurde. Dazu Philipp Weiß, Tagungsbericht:
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4. Fazit Die eingangs angesprochene Doppelaufgabe von Bibliotheken, kulturelles Erbe einerseits als Gedächtnisinstitutionen zu sammeln und zu bewahren, dieses Erbe andererseits aber auch an ihre Nutzerinnen und Nutzer zu vermitteln, stellt sich im Zusammenspiel mit philologisch arbeitenden Disziplinen mit besonderer Dringlichkeit. Gerade Philologen sind bei ihrer wissenschaftlichen Arbeit auf die Verfügbarkeit von Texten und Überlieferungsträgern angewiesen; der Ort ihrer Forschung ist, pointiert ausgedrückt, die Bibliothek. Nahezu alle Bereiche altertumswissenschaftlicher und philologischer Arbeit haben in diesem Zusammenhang in den letzten Jahrzehnten von der Digitalisierung profitiert, etwa was die digitale Bereitstellung und Verzeichnung von historischem beziehungsweise literarischem Quellenmaterial betrifft. In Hinblick auf die Bedeutung der griechischen und lateinischen Sprache im Kontext bibliothekarischer Angebote wäre demnach zu differenzieren: Zum einen sehen sich insbesondere Bibliotheken mit bedeutenden Altbeständen vor die Aufgabe gestellt, ihre Materialien standort- und disziplinunabhängig nach aktuellen Maßstäben digital zugänglich zu machen. Diese Aufgabe impliziert auch Aspekte wie Langzeitarchivierung sowie Metadatenerstellung und -management, wobei insbesondere im Kontext der Erschließung originalsprachliche Kompetenzen nach wie vor unabdingbar sind. Digitalisierung ist dabei auch als Beitrag zur nachhaltigen Bewahrung des kulturellen Erbes anzusehen. Der andere Aspekt betrifft die Vermittlung der bereitgestellten Inhalte speziell an den altertumswissenschaftlichen Adressatenkreis: Auch hier sehen sich insbesondere diejenigen Bibliotheken, die über entsprechend relevante Forschungsmaterialien verfügen, in der Pflicht, den Anforderungen der digitalen Transformation zu genügen. Dies ist allerdings nicht nur in Hinblick auf historische Altbestände, sondern auch auf aktuelle Forschungsliteratur und Fachinformation von Relevanz. Bibliotheken mit einem überregionalen Informationsauftrag, wie er sich etwa im Rahmen Digitales Edieren in der Klassischen Philologie, 25.09.2019 – 27.09.2019 München, H-Soz-Kult 06.01.2020 (online unter: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8576; letzter Abruf am 22.7.2020).
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eines Fachinformationsdienstes ergibt, stellen heute vielfältige digitale Services bereit, um ihrem Kundenkreis optimale Voraussetzungen für die Forschung zu bieten. Für die Altertumswissenschaften, in der Überlieferungsträger wie Papyri, Codices und Alte Drucke ebenso wie aktuelle Forschungsliteratur eine Rolle spielen, ergibt sich demnach ein enges Zusammenspiel von beispielsweise Retrodigitalisierungsinitiativen und forschungsnahen Dienstleistungen bei der Bereitstellung von Fachinformation. Beide Aufgabenbereiche können nur dann zielgruppenorientiert erfüllt werden, wenn Formen des institutionellen Austauschs mit der Wissenschaft etabliert und gepflegt werden, um die Bibliothek als sammelnde und bewahrende Einrichtung im Kontakt mit ihren Nutzerinnen und Nutzern zu halten.
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Latein- und Griechischunterricht als hortus conclusus?* Maria Lucia Sancassano „Siamo fuori dalla vita, in un mondo sotterraneo“, behauptet der Freund des Ich-Erzählers in dem Roman Due di due des italienischen Schriftstellers Andrea De Carlo in Bezug auf das renommierte Mailänder Gymnasium, wo sich der Anfang der Geschichte abspielt: Dort seien Lehrkräfte und Lernende „jenseits des Lebens, in einer Unterwelt“. 1 Der Satz bezieht sich zwar auf den Latein- und Griechischunterricht aus den achtziger Jahren, aber die Beschreibung könnte leider in vielen Fällen immer noch gelten. Wie kann man derartigen Stereotypen entgegenwirken? In meinem Impuls-Referat werde ich mich mit dieser Frage befassen, um gemeinsam mit Ihnen über einige mögliche (Aus-)Wege nachzudenken, wobei die folgenden drei Themen diskutiert werden: 1. 2. 3.
Stereotypen: Latein und Griechisch als „tote Sprachen“; die Herausforderung: Latein und Griechisch an der Europäischen Schule Frankfurt; Ausblicke: Strategie der „Latein-Resonanz“.
Im Voraus bitte ich um Entschuldigung, wenn ich bei der Diskussion von meiner persönlichen Erfahrung zuerst als Lehrerin an einem humanistischen Gymnasium in Italien, dann an der Europäischen Schule in Frankfurt ausgehen werde. * Herrn Thomas Busch meinen herzlichen Dank für seine kostbare Hilfe. 1 Andrea De Carlo, Due di due, Milano 2010 (1989), 58. Der Ich-Erzähler fügt hinzu: „In realtà era impossibile trovare nei nostri libri di testo o nei programmi un solo riflesso contemporaneo. Materie come lingue straniere e geografia non c’erano più, abbandonate per dedicare ancora più spazio all’esplorazione delle interiora di lingue morte, ‘fondamento della cultura italiana e di grande utilità per lo sviluppo della logica’, come dicevano i professori.“
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1. Stereotypen: Latein und Griechisch als „tote Sprachen“ Zwar wird die Notte nazionale del Liceo Classico seit 2012 überall in Italien gefeiert, um die Aufmerksamkeit auf das humanistische Gymnasium zu lenken, aber in meinem Herkunftsland ist die allgemeine Anerkennung der ,klassischenʻ Bildung noch sehr präsent. 2 „Dass Latein nicht nützlich ist“, habe ich erst an der Europäischen Schule in Frankfurt wirklich begriffen.3 Frankfurt war also der Ort, an dem ich zum ersten Mal den sehr eindeutigen Satz gehört habe: „Latein ist eine tote Sprache.“ Damit begann die wahre Herausforderung.
Die Notte nazionale del Liceo Classico ist eine auf die Tragweite der klassischen Ausbildung in der gegenwärtigen Gesellschaft fokussierte Veranstaltung, die an den humanistischen Gymnasien Italiens jährlich stattfindet. Diese Notte ist mehr als ein „Tag der offenen Tür“: Die Schulen stellen sich den Bürgern*innen der unmittelbaren Umgebung als kreative Begegnungsorte vor, wo die Schüler*innen ihre Aktivitäten – Lesungen, Theaterstücke, Filme, Konzerte – präsentieren, um eine öffentliche Diskussion anzuregen. Die Idee dazu beruht auf dem Vorschlag eines Lehrers aus Acireale, Rocco Schembra, im Jahr 2012 und fand sogleich ein lebhaftes Echo quer durch das Land. Die Debatte, die damit eingeleitet wurde, lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf die mit dem Verschwinden des „Liceo Classico“ verbundenen Risiken für das kulturelle und demokratische Zusammenleben. In diesen Rahmen stellen sich Nicola Gardini, Viva il latino. Storie e bellezze di una lingua inutile, Milano 2016 und Andrea Marcolongo, La lingua geniale. 9 ragioni per amare il greco, Bari/Roma 2016, die in der Auseinandersetzung mit der Aktualität der klassischen Bildung einen entscheidenden Beitrag leisteten. 3 „Die Europäischen Schulen sind offizielle Schulen, die gemeinsam von den Regierungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie den Europäischen Gemeinschaften gegründet wurden. Sie genießen die Rechte und Pflichten einer öffentlich-rechtlichen Bildungseinrichtung in den jeweiligen Sitzländern. Die Zielsetzung der Europäischen Schulen liegt in der Erteilung eines mehrsprachigen und multikulturellen Unterrichts für alle Kinder des Kindergartens, Primar- und Sekundarbereichs. Zurzeit gibt es dreizehn dieser Europäischen Schulen [...] in sechs Ländern [...], an denen rund 27.650 Schüler/in[nen] eingeschrieben sind“ (Büro des Generalsekretärs der Europäischen Schulen, https://www.eursc.eu/ de/European-Schools/missions, letzter Abruf am 28.8. 2020). 2
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2. Die Herausforderung: Latein und Griechisch an der Europäischen Schule Frankfurt An unserer Sekundarschule in Frankfurt, die im Schuljahr 2019/2020 von 809 auf vier Sprachsektionen verteilten Schülern*innen besucht wird, wird Altgriechisch nur zehn griechischen Kindern von griechischen Lehrkräften angeboten; Latein lernen zurzeit insgesamt 115 Schüler*innen, und zwar nur zwei oder maximal vier Jahre lang. Diese Zahl ist in diesem Schuljahr höher als früher, obwohl insbesondere in der deutschen Sektion die Anzahl der Latein-Lernenden in den letzten Jahren dramatisch gesunken ist. Man kann das Fach Latein ab dem siebten (S2) bis zum zwölften Schuljahr (S7) belegen, wobei es sich um ein Wahlfach handelt, das nach dem achten (S3) und dem zehnten Schuljahr (S5) abgewählt werden kann. Am Ende des zehnten Schuljahres (S5) findet das Examen Latinum statt. Die meisten unserer Schüler*innen in Frankfurt schließen mit dieser Prüfung ihren Lateinunterricht ab, doch besteht die Möglichkeit, noch bis zum zwölften Jahr, das heißt bis zum Baccalauréat, in Latein unterrichtet zu werden. In Brüssel zum Beispiel wird diese Möglichkeit oft wahrgenommen. In Frankfurt dagegen können wir uns glücklich schätzen, wenn eine Gruppe bis zum zehnten Schuljahr dabeibleibt. Warum? Hauptsächlich wegen der Stundenüberschneidungen mit dem Fach Wirtschaft, gerade dem Fach also, das typischerweise in der Bankenstadt Frankfurt von den Eltern, die vielfach in der Branche arbeiten, als elementar eingestuft wird. Wir geben uns nicht der Illusion hin, dass wir einen Kampf gegen den Glauben „Latein unnütz, Wirtschaft nützlich“ gewinnen können, aber wir arbeiten noch daran, wobei es unser nächstes Ziel ist, einen Jahrgang bis zum Baccalauréat (S7) zu bringen. Diejenigen unter Ihnen, die an einer deutschen Schule unterrichten, sind vielleicht weniger schockiert als ich damals, vor fünf Jahren, als ich in diese europäische Schulwelt eintrat; höchstwahrscheinlich haben Sie schon vielfältige Antworten auf meine naiven Fragen parat, aber wir sollten nicht bei den soziologischen oder zeitgeistgebundenen Erklärungen des Phänomens stehen bleiben, wie auch andere Beiträge dieses Bandes deutlich machen. Wir müssen handeln. Ein intensiver Dialog mit der akademischen Welt ist meiner Meinung nach heutzutage entscheidend, um gezielt die bestehende
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Kluft zwischen Universität und Schule – genauer zwischen den Seminaren für Klassische Philologie und den Fachgruppen für Latein und Griechisch an den Gymnasien Europas – wenigstens dort überbrücken zu können, wo die antihumanistischen Stereotypen entstehen: in der opinio communis. Denn wir müssen gemeinsam handeln. Jetzt. In den Klassenräumen und außerhalb, um neue Wege in die faszinierende Welt der Antike zu finden. Wir brauchen eine Art Omnibus, der weit weg von elitärem Gedankengut oder veralteten Unterrichtsmethoden die antike Welt als erreichbares Ziel einer zugänglichen Reise entdecken lässt, einer Reise als meth-odos, als Methode, die die Jugendlichen zum Differenzieren, Nachdenken, bewussten Entscheiden führen kann. Wir brauchen eine neue Über-setzung. Aber wie?
3. Ausblicke: Strategie der ,Latein-Resonanzʻ Vielleicht glaube ich, dass paradoxerweise der europäische Schul-Kontext, der die möglichen Degenerationen eines auf Nützlichkeit und quantitative Effizienz orientierten Schulsystems als Vorreiter in all ihrer Gefährlichkeit zeigt, gerade ein therapeutisches Mittel bieten kann, um das Problem des Desinteresses gegenüber Latein und Griechisch aktiv anzugehen. Trotz oder vielleicht dank der negativen Erfahrungen sind im neuen Latein-Syllabus des europäischen Systems einige Aspekte enthalten, die man weiter entwickeln könnte, um eine ansprechende Aktualisierung des Latein- und Griechischunterrichts zu erreichen. Dazu möchte ich einige Punkte aus dem Lateinischen Lehrplan der Europäischen Schule erörtern, um den spezifischen Ansatz dieser Ausbildung zu verdeutlichen.4 Von den allgemeinen akademischen und pädagogischen Lernzielen ausgehend, beruht die Lateinausbildung auf der Entwicklung sogenannter Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen: 5
4 Schola Europaea, Büro des Generalsekretärs, Referat für Pädagogische Entwicklung,
Latein Lehrplan – S2–S7, genehmigt durch den Gemischten Pädagogischen Ausschuss am 13. und 14. Februar 2014 in Brüssel, AZ: 2014-01-D-35-de-3 (um auf dieses Dokument zu verweisen, wird im Folgenden nur das Aktenzeichen angegeben). 5 Generaldirektion Bildung und Kultur, Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen
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1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
muttersprachliche Kompetenz; fremdsprachliche Kompetenz; mathematische Kompetenz und grundlegende naturwissenschaftlichtechnische Kompetenz; Computerkompetenz; Lernkompetenz („Lernen lernen“); soziale Kompetenz und Bürgerkompetenz; Eigeninitiative und unternehmerische Kompetenz; Kulturbewusstsein und kulturelle Ausdrucksfähigkeit.
Bei der praktischen Umsetzung solcher Ziele im Lateinunterricht geht es auf der einen Seite um die sprachliche Reflexion, auf der anderen um die Sensibilisierung für die Vielfalt der europäischen Kultur. Einerseits werden die Lernenden aufgefordert, „das Wirken ihrer eigenen Muttersprache von Grund auf zu erfassen“,6 um sie bewusster zu beherrschen, wobei auch der Erwerb anderer moderner Sprachen durch den stetigen lexikalischen und syntaktischen Vergleich mit dem Lateinischen methodisch erleichtert wird. Andererseits bildet die Auseinandersetzung mit der Welt des Römischen Reiches den Ausgangspunkt eines komplexeren Umweges, der auf das Verständnis des heutigen Europas in der gegenwärtigen Welt zielt: „Der Umweg über die Antike erlaubt nämlich, die Gegenwart in Perspektive zu setzen, zu relativieren und sich von der Tyrannei des Jetzt zu befreien.“ 7 Darüber hinaus wird die fächerübergreifende Natur des Lateinunterrichtes pragmatisch betont: Denn die Schulung des kritischen Geistes wird wesentlich dadurch gefördert, dass Kenntnisse und Fertigkeiten, die im Lateinunterricht entwickelt werden, auf andere Fächer übertragen werden. In diesem Sinne steht das Latein-Lernen an der Europäischen Schule als „Zeichen für die Bereitschaft, selbständig und unabhängig von Mode und Konfor-
– Ein Europäischer Referenzrahmen, Europäische Gemeinschaften 2007; vgl. Anhang zur Empfehlung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.12.2016 zu Schlüsselkompetenzen für lebensbegleitendes Lernen, in: Amtsblatt der Europäischen Union Nr. L 394. 6 2014-01-D-35-de-3 (wie Anm. 4), 2. 7 2014-01-D-35-de-3 (wie Anm. 4), 3.
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mismus einen eigenen Weg zu gehen, und für eine Absage an den kurzsichtigen Utilitarismus in der Bildung.“8 In einen solchen ideologischen Rahmen fügen sich die im Syllabus beschriebenen Kompetenzen und die daraus entwickelten sogenannten Leistungsdeskriptoren, die 2018 für die Bewertung der Lernleistung in Kraft gesetzt wurden.9 Auf diese Kompetenzen und Leistungsdeskriptoren möchte ich noch kurz eingehen, um die „Strategie der Latein-Resonanz“ durch einige konkrete Beispiele abschließend darzustellen. Der Latein Lehrplan S2–S7 verweist auf die folgenden fünf Kompetenzen, die sich wiederum auf die oben genannten Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen beziehen: a. b. c. d. e.
Lesen und Verstehen; Sprachenlernen; Kulturbewusstsein; Schreiben; Hören/Sprechen.
Wie erwähnt, entfalten sich diese Kompetenzen hauptsächlich in zwei sich ergänzenden Inhaltsbereichen, die jeweils die sprachlich-methodologische und die kulturelle Ebene des Latein-Lernens betreffen. In einem solchen Zusammenhang spielen die unterschiedlichen linguistischen Erfahrungen der Lernenden eine zentrale Rolle: Anhand ihrer eigenen Spracherfahrung sollen sie dazu ermutigt werden, an der Unterrichtsgestaltung aktiv teilzunehmen, wobei Fehler zu machen ein wichtiger Bestandteil dieses Lernprozesses ist. Die Sprache Latein wirkt also im Unterricht als Kulturgut im doppelten Sinne: Die Beobachtung der sprachlichen und (oft multi-)kulturellen Welt, die der Lateinunterricht den Kursteilnehmer*innen ermöglicht, schafft einen gleichzeitigen Blick auf die Antike und auf aktuelle Begebenheiten, der einem
8
2014-01-D-35-de-3 (wie Anm. 4), 3.
9 Schola Europaea, Büro des Generalsekretärs, Referat für Pädagogische Entwicklung,
Leistungsdeskriptoren – Latein – S2–S7, genehmigt durch den Gemischten Pädagogischen Ausschuss per Schriftlichem Verfahren PE 2018/31 am 13. Juli 2018, AZ: 2018-05-D-20-de-2 (um auf dieses Dokument zu verweisen, wird im Folgenden nur das Aktenzeichen angegeben).
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besseren Verständnis der Gegenwart dienen soll. Der Bezug auf die Wirklichkeit in ihren vielfältigen Dimensionen ist das übergeordnete Kriterium der im Syllabus dargestellten Lernziele und Inhalte der Lateinausbildung, die in drei Stufen konzipiert wird. Die erste Lernstufe umfasst das siebte und achte Schuljahr (S2 und S3): Am Ende dieser ersten Phase, in der die Teilnehmer*innen gelernt haben, einen Text verständlich vorzutragen, sollen sie einen grundlegenden Wortschatz kennen, mit dessen Hilfe sie sich systematisch über die Wortstämme einen Arbeitswortschatz aneignen können (Schlüsselkompetenzen 1 und 2); sich des Wortschatzes in ihrem Lateinbuch und im Internet angebotener Wörterverzeichnisse bedienen können (Schlüsselkompetenz 4); Grundlagen der Morphologie und einige grammatische Strukturen durch Anschauung feststehender Begriffe kennen (Schlüsselkompetenzen 1 und 5); grundlegende Ähnlichkeiten zwischen dem Lateinischen und der Muttersprache sowie anderer Sprachen kennenlernen (Schlüsselkompetenzen 1 und 2); sich grundlegende Sprachlernstrategien vergegenwärtigen und die für sie individuell besten bevorzugen (cf. Schlüsselkompetenz 5); grundlegende Kenntnisse über den mit dem Lateinischen verbundenen Kulturraum erwerben, von der Antike bis zur Gegenwart, und mit direktem Bezug zu den Fragen der heutigen Zeit (cf. Schlüsselkompetenzen 6 und 8); Grundkenntnisse über die Phasen und Daten der römischen Geschichte erwerben.10
Das neunte und zehnte Schuljahr (S4 und S5) bilden die zweite Lernstufe. Am Ende dieser Phase, die mit dem Examen Latinum abschließen kann, sollen die Lernenden die Aussprache recht gut beherrschen, sowie die gängigsten Abkürzungen kennen, so dass sie einen Text verständlich und mit Ausdruck vortragen können; einen erweiterten Wortschatz kennen, mit dessen Hilfe sie sich systematisch weitere Wortfelder erarbeiten können (cf. Schlüsselkompetenzen 1 und 2); sich selbstständig eines Wörterbuchs 10
2014-01-D-35-de-3 (wie Anm. 4), 8.
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und im Internet angebotener Wörterverzeichnisse bedienen können (Schlüsselkompetenzen 4); erweiterte Kenntnisse der Morphologie und hauptsächlicher grammatischer Strukturen erworben haben (Schlüsselkompetenzen 1 und 5); Ähnlichkeiten zwischen dem Lateinischen und der Muttersprache sowie anderen Sprachen bestimmen können (Schlüsselkompetenzen 1 und 2); über ihr eigenes Repertoire an Lernstrategien verfügen (Schlüsselkompetenz 5); Kenntnisse über den mit dem Lateinischen verbundenen Kulturraum erworben haben, von der Antike bis zur Gegenwart, und mit direktem Bezug zu den Fragen der heutigen Zeit (cf. Schlüsselkompetenzen 6 und 8); die Phasen und zentrale Daten der römischen Geschichte kennen.11
Die dritte Lernstufe, das elfte und zwölfte Schuljahr (S6 und S7), endet mit dem Europäischen Abitur12 im Fach Latein. Die Lernenden sollen dann einen Text verständlich und ausdrucksvoll, u. U. auch rhythmisch angemessen vortragen können; einen fundierten Wortschatz kennen, mit dessen Hilfe sie nicht nur unbekannte Wörter in ihre bekannte Wortfamilie einordnen können, sondern auch einen Text interpretieren können (cf. Schlüsselkompetenzen 1 und 2); sich umsichtig und verständig eines Wörterbuchs und im Internet angebotener Wörterverzeichnisse bedienen können (Schlüsselkompetenzen 4); systematische Kenntnisse der Morphologie und der grammatischen Strukturen erworben haben (Schlüsselkompetenzen 1 und 5); Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen den Sprachen bestimmen können (Schlüsselkompetenzen 1 und 2); ihr eigenes Repertoire an Lernstrategien autonom einsetzen (Schlüsselkompetenz 5); über gründliche Kenntnisse der Kernkonzepte des mit dem Lateinischen verbundenen Kul-
11 12
2014-01-D-35-de-3 (wie Anm. 4), 9. Schola Europaea, Büro des Generalsekretärs, Referat für Pädagogische Entwicklung, Europäisches Abitur/LATEIN – Die neue Struktur des schriftlichen Abiturs – Ergänzung zum Latein Lehrplan – S2–S7, genehmigt durch den Gemischten Pädagogischen Ausschuss am 13. und 14. Februar 2014 in Brüssel, AZ: 2016-01-D-19fr/en/de-3.
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turraums verfügen, von der Antike bis zur Gegenwart, und mit direktem Bezug zu den Fragen der heutigen Zeit, einem Bezug, der u. a. durch die Werke im Pensum hergestellt wird (cf. Schlüsselkompetenzen 6 und 8); vertiefte Kenntnisse einzelner Perioden der römischen Geschichte kennen, die mit den im Unterricht bearbeiteten Werken in Zusammenhang stehen.13
Unter den Leistungsdeskriptoren, auf denen die hauptsächlich formative Bewertung eines solchen spiralartigen Lernprozesses basiert, fallen diejenigen besonders auf, die gerade die Lernkompetenz und die Eigeninitiative der Lernenden zur Geltung bringen. Dabei wird die eigentliche Übersetzungstätigkeit als Resultat der aktiven Anwendung von Sprachlernstrategien betrachtet, die wiederum von der Nutzung digitaler Medien profitieren. Im Rahmen der Kompetenz Lesen und Verstehen wird in allen Lernstufen der Fähigkeit, „eine ganze Palette von Hilfsmitteln zur Recherche zu gebrauchen, sowohl digitale Hilfsmittel als auch Bücher“, eine große Bedeutung beigemessen.14 Entsprechend geht es in der dritten Lernstufe um die Fertigkeit, „kritisch die zugänglichen Ressourcen und Quellen zur Antike zu hinterfragen und die angemessensten für eigene Projekte auszuwählen.“ 15 Zu allen Leistungsdeskriptoren gehört damit die Fähigkeit, autonom zu recherchieren und stufenweise komplexere Projekte zu erarbeiten, wobei insbesondere die Kompetenz Sprachenlernen den idealen Kontext dafür bildet. In diesem Bereich sind die Lernenden am Ende der ersten Stufe in der Lage, „grundlegende Strategien für das Sprachenlernen zu kennen und anzuwenden; Kenntnisse aus der Muttersprache und bisherigem Fremdsprachenerwerb auf das Lateinlernen zu übertragen, und umgekehrt“. 16 In der zweiten Lernstufe sind sie imstande, „effiziente Strategien für das Sprachenlernen auszuwählen, um eigenes Sprachlernen autonom zu organisieren“. 17 In der dritten Lernstufe sind sie fähig, „die Beziehungen zwischen Latein und
2014-01-D-35-de-3 (wie Anm. 4), 9. 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 2. 15 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 2. 16 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 2. 17 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 2. 13 14
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anderen, lebenden Sprachen zu vertiefen“. 18 Ein ähnlicher methodologischer Ansatz kennzeichnet die Leistungsdeskriptoren der Kompetenz Kulturbewusstsein in allen Lernstufen, wobei der Akzent auf dem Vergleich zwischen Antike und Gegenwart liegt. In der ersten Lernstufe sind die Lernenden unter anderem in der Lage, „sich einem kulturellen Verständnis des antiken Erbes zu öffnen; sich einige Grundkonzepte und -ideen anzueignen, die ihnen beim Verständnis der Gegenwart helfen können.“ 19 In der zweiten Stufe sind sie imstande, „das antike Erbe in Perspektive zu setzen und zu hinterfragen, wie verschiedene Epochen den Rückgriff auf die Antike eingesetzt haben“. 20 In der dritten Lernstufe sind sie fähig, „Texte mit Rückgriff auf explizite und implizite literarische, philosophische, kulturelle und historische Aspekte zu kommentieren, das antike Erbe in seinen verschiedenen Dimensionen in präziser Weise differenziert darzustellen, klassische Kultur für das Verständnis der zeitgenössischen Welt zu nutzen“.21 Die Leistungsdeskriptoren der anderen Kompetenzen, Schreiben und Hören/Sprechen, entsprechen traditionelleren didaktischen Mustern, wobei die dritte Lernstufe auf die Fähigkeit zielt, „eine persönliche und strukturierte Argumentation zu entwickeln, die sich auf die Kenntnis der Werke des Pensums stützt“.22 Im Rahmen der Kompetenzen Schreiben und Hören/Sprechen sind die angestrebten Organisations- und Kommunikationsfertigkeiten besonders auffallend, aber im Vordergrund steht grundsätzlich das Ziel, kritisches Denken und bewusstes Handeln durch die ‚Beobachten-Verstehen-Behalten-Anwenden-Methode‘ zu fördern. Von solchen Kompetenzen und Leistungsdeskriptoren gehen wir an der Europäischen Schule bei der Gestaltung des Lateinunterrichts aus. Vor allem versuchen wir, aus der konkreten, schwierigen Lage das Beste zu machen. Dieses Beste ist bei uns in erster Linie die Didaktik, die durch systematische Unterrichtsbesuche seitens der Direktion und der Inspektoren aus Brüssel angeregt wird. Natürlich ist es sehr zeitintensiv für uns Lehrkräfte, ständig 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 2. 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 3. 20 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 3. 21 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 3. 22 2018-05-D-20-de-2 (wie Anm. 9), 4. 18 19
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mit Formularen, Projekten, internen und externen Evaluierungen zu arbeiten, und es lenkt manchmal die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die äußere Form. Aber auf der anderen Seite sind diese Formulare so konzipiert, dass wir systematisch über das eigene Unterrichten nachdenken müssen. Wenn sich dieser Prozess positiv entfaltet, wird die Lehrkraft angeleitet, innovative Strategien anzuwenden, die die Schüler*innen weit über „das Lernen durchs Lehren“ hinaus als aktive Wissensvermittler ins Zentrum des Unterrichts stellen. Im Grunde geht es vor allem – wo und wenn möglich – um interaktive Unterrichtsmodelle, die im Einklang mit den didaktischen Grundsätzen des Syllabus von Methoden wie Cooperative and Peer Learning und Flipped Classroom ausgehen. Darüber hinaus konzentriert sich unsere Tätigkeit außerhalb der Klassenräume auf vielfältige Werbekampagnen, um dem ‚alternativen‘ Wahlfach Latein einen Resonanzraum zu schaffen. Dabei spielt der Subjects’ Market, der einmal im Jahr im Januar stattfindet, eine wichtige Rolle. In unserem Schulsystem wirkt diese Veranstaltung als ein Schauplatz für die Angebote der unterschiedlichen Wahlfächer und der damit verbundenen Aktivitäten. Seit 2018 wird der Subjects’ Market von den Latein-Lernenden selbst mitgestaltet, die im Unterricht interaktive Sprachspiele, Sketche auf Latein und Computeranimationen entwerfen, um sie den jüngeren Mitschüler*innen an diesem Tag vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit wurde der Fotowettbewerb Latin in the air, an dem alle Schüler*innen der Europäischen Schule Frankfurt in diesem Schuljahr teilnehmen durften, offiziell bekanntgegeben und gestartet. Unter der Leitung der Latein-Lernenden hatten alle Teilnehmer*innen die Aufgabe, nach lateinischen Wörtern in ihrer unmittelbaren Umwelt zu suchen und sie zu fotografieren. Auf die Fotoausstellung, die in der Haupthalle der Schule eine Woche lang zu besichtigen war, folgte die Stimmabgabe seitens aller interessierten Schüler*innen, die ihr Lieblingsbild wählen und sich so gleichzeitig mit dem Wahlvorgang vertraut machen konnten. Um so viel Anklang wie möglich zu erhalten, wurde sowohl die Ausstellung der Bilder als auch die Wahl der besten unter ihnen während der Respect Week, in deren Zentrum die Themen Respekt und Regeln standen, organisiert: 45 Lateinbilder wurden von 89 Teilnehmer*innen eingereicht, 175 Schüler*innen
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aus verschiedenen Jahrgängen gaben ihre Stimme ab. Für uns Lateinlehrkräfte war das schon ein Erfolg, auch in Anbetracht der Unterstützung, die wir von Kolleg*innen anderer Fächer vor allem in der Wahlphase erhielten. Ein weiteres Mittel unserer Strategie der „Latein-Resonanz“ ist die interdisziplinäre Planung von Projekten verschiedener Art, zum Beispiel zur Entstehung der naturwissenschaftlichen Sprache, zu Zeichentrickanimationen von antiken Mythen, zu Cicero-Reiseleitungen am Limes oder zu den Ludi Latini. Zu solchen Zwecken ist die Zusammenarbeit quer durch die Fächer und Sprachen von wesentlicher Bedeutung; sie ist natürlich sehr kompliziert, aber sie ist gleichzeitig das Ziel und der Weg unseres schulischen Alltags. Weniger mühsam und heiß begehrt ist ein anderes gemeinsames Projekt, das Scholae Europaeae Iter, das alle zwei Jahre für den neunten und zehnten Jahrgang (S4 und S5) von der koordinierenden Lehrkraft mit der gesamten Fachgruppe geplant und durchgeführt wird: Die ,lateinische Reiseʻ nach Italien. In Rom oder Pompeij wird der hortus conclusus des Lateinunterrichts zum einladenden Platz, wo sich die Wörter in unvergessliche Erlebnisse verwandeln. Dort haben wir Lateinlehrkräfte der vier Sprachsektionen wahrhaftig ein leichteres Spiel. Um es zusammenzufassen: Durch mannigfaltige Schulaktivitäten versuchen wir insbesondere eine Grundidee zu verbreiten: Die Auseinandersetzung mit der lateinischen Sprache erleichtert das Lernen aller anderen Sprachen, wobei die multilinguale Dimension, in der sich unsere Schüler*innen bewegen, direkt angesprochen wird. Die Anregungen der grammatischen Reflexion, die das Latein-Lernen mit sich bringt, wirken sich produktiv auf ein bewussteres Sprachenlernen aus, in dem gerade die Verbindung zwischen den verschiedenen Sprachen durch die Vermittlung des Lateinischen augenscheinlich werden kann. Darüber hinaus zielt unsere gesamte Tätigkeit auf die Vermittlung eines grundlegenden Konzeptes: Latein als Fach zu wählen heißt, den Mut zu haben, sich mit der Komplexität der heutigen Fragen methodisch auseinanderzusetzen. Die Analyse der strengen, aber zugleich anpassungsfähigen lateinischen Syntax bietet eine Art Musteransatz an, den man als Hauptansatz zum problem solving schlechthin in den unterschiedlichsten Lebenssituationen mit Erfolg verwenden kann. Denn es handelt sich dabei nicht um ein salonfähiges demonstratives Wissen, sondern
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vielmehr um eine innere Bereitschaft, den Umweg über die Antike als einen Lernprozess zu verstehen, der den kritischen Geist trainiert und stärkt. In diesem Sinne erweist sich die Wahl des Faches Latein an der Europäischen Schule als eine bewusste Stellungnahme gegen jedes modische Stereotyp oder einen oberflächlichen Utilitarismus. Eine solche mutige Entscheidung pro Latina lingua seitens der Schüler*innen verlangt die volle Energie und das kreative Engagement der Lehrkräfte, die wiederum die Herausforderung nicht verpassen dürfen, die Werte der humanitas in einer auf Profit und Nützlichkeit fokussierten Welt zu vertreten und weiterzugeben. Nur auf diese Weise – durch Besonnenheit, Elan und Leidenschaft – kann der hortus conclusus des Latein- und Griechischunterrichts an Schulen und Universitäten zum forum einer anderen, offeneren und bewussteren Gesellschaft werden. Eine Utopie? Vielleicht, aber eine um die es sich lohnt, pragmatisch in der realen Welt zu kämpfen.
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“Latin Reloaded”: The Language of the Romans in the Netflix Show Barbarians (2020) Alessandro Balistrieri Latin for the 21st century At the beginning of November 2019, not far from Budapest, Hungary, the filming of the first season of the German-produced Netflix original series Barbarians came to an end. On the 25th day of the same month, the University of Marburg held a stimulating conference on the role of Latin and ancient Greek in the 21st century. Linking these two unrelated events is the fact that some of the dialogues in the show are spoken in Classical Latin, as Barbarians is set in 9 AD, five years before the death of Augustus, Rome’s first Emperor. In the introduction to his 2018 book 21 Lessons for the 21st Century, Israeli historian Yuval Noah Harari wrote that “in a world deluged by irrelevant information, clarity is power”. This statement, in its sheer obviousness, conveys much truth in my view. Computerized information streams as a continuous data flow. Such an unprecedented invasion of words, names, ideas, figures, and theories is likely to trigger over-stimulation which reduces readers’ attention threshold by a significant extent. Thus, the receiving of excessively frequent and random information operates like a blanket of white noise against much of our mental space − ideally dedicated to study or reflection −, switching off personal self-distancing, which is so useful for processing and understanding data correctly. Permanent exposure to informative overload can put both creative reflection and critical thinking in jeopardy, paving the way for hyper-selective recollection reactions. In this scenario of mental congestion, which seems nonetheless to witness the epoch-making task of a revolution in intelligence (both human and artificial), what kind of role could the learning and practising of classical languages, and Latin in particular, play? I agree with the hypothesis that learning Latin can be an effective antidote to the mental overload syndrome,
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especially – although not exclusively − during one’s formative years. Such a tough endeavour indeed demands personal discipline, but the rewards it might give are also relevant. The very example handed down to us by Latin literature points the way to a strict, economic accuracy in forming ideas and the words for them – or better a kind of mental ecology: the chiselled outcome of straightforward thinking, stripped of all frills. Being able to communicate clearly and coherently allows us to be understood by a larger number of interlocutors, and broadens their own horizon, ultimately helping them tell facts from gossip, at least on a structural basis. Rhetoric, the art of gaining consensus and influencing people through speech acts, has not substantially changed since ancient times. Today it has only adapted to the rhetoric of anti-rhetoric. Taking up the reins of eloquence was of great importance once – as it is today. Words turn into acts – words are acts in themselves. This explains why the mastering of public speaking (contemporary rhetoric) paraphernalia is a key topic in so many business fields. Speeches are statements conceived to ignite public reaction in the very same way as facts. In our everyday experience facts mostly lie behind information, being, to a great extent, a nexus of handed-out sentences in search of deciphering and verification while we trawl through words. Knowledge of such “new old” rhetoric − very much in the sense of the ideas analysed by Ch. Perelman and L. Olbrechts-Tyteca in their 1958 Traité de l’argumentation. La nouvelle rhétorique − reveals the underlying typological structures of various kinds of discourse, allowing us to establish fact-based verification criteria. This requires, at the same time, a strict discipline of emotion, insight, and concentration, training a sharp memory and rigour in comparing and measuring concepts. I am firmly convinced that in the current conjuncture the historical study and practice of the classical languages might lead the way to a better ecology of thought and mark a healthy self-distancing from the excesses of instant communication by teaching clarity once again.
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A revival of Latin studies As many scholars have pointed out over time, one of the most striking features of Latin is its odd, paradoxical lifespan. Its amazing permanence throughout the ages can be ascribed to the sheer success of Roman conquests, but also, the uncommonly durable communicative power and steadiness of Latin might have played its part in it. Latin was spoken by the man in the street, and at the same time had been promoted to the Empyrean of world literature by poets, historians, rhetoricians, and philosophers. Evidently, the ancient language of Rome does not carry anymore the full set of historical requirements by which a living language is usually defined − socially organized groups of speakers using their language in specific and diversified forms, uninterrupted learning tradition, and, in most cases, land lived in by linguistic communities. One of these points is still alive and in operation: the teaching of Latin. For most people, nonetheless, Latin is just an exotic code or simply an out-of-time catalogue of frozen formulas. And yet, it is far from being dead − or undead; it still has not fossilized into a mere specimen. Latin’s historical density has proven to be too high to let it crumble away. As is widely known, after the collapse of the Pars Occidentis Latin gradually reduced the scope and reach of its functions. It survived indeed as a core language, a sort of linguistic heartland, the greatest common factor of words and expressions providing the set of tools suitable for highly educated “international” communication. This situation in the Western territories of the former Roman Empire was an essential prerequisite for the formation of a de facto cultural community. Latin used to be the idiom of international elites: the clergy of the Roman Catholic Church, members of public administrations (Latin was official language in Hungary until 1844), universities, and so forth. By and large, it is now mostly a language of choice for all those who cultivate its literary study, and for the “happy few” who still write and speak it, for the sake of one’s own cultural education and personal refinement. These key functions have been only partially obliterated, but never really superseded.
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Nowadays interest in the language of the Romans is clearly regaining foothold in international academia – remarkable thereon is the ongoing Eulalia Project − and among dedicated online communities all over Europe and America. On closer inspection, the area of those interested in Latin education has now become broader than ever, while the teaching of Latin, especially in high schools, has generally weakened. However, absurd as it may sound, it would be neither impossible nor pointless to think of bringing it up to the same level at which a contemporary language is taught − I think, for instance, of the staunch positions held thereon by Prof. T. Tunberg and Prof. W. Stroh, both active Latin speakers. To achieve such a result, it is essential to adopt a complementary point of view to the retrospective one of historical science, namely, directing the vectors of teaching in two apparently opposite directions. In other words, considering and practising Latin as a living language. From a linguistic point of view Latin indeed was − and, we can fearlessly say, to a certain extent still is − a language like any other, before it crystallised into what is, for many, a funny stocklist of proverbs and historical anecdotes such as the Caesarian Iacta ālea est, or just an extremely well-preserved fossil. In fact, only a lasting practice of Latin cleanses it of the dross of its own history. Latin was a living language: a collective mental experience endowed with both syntagmatic and paradigmatic structures, unbounded and openended, evolving between discreetness and infinity. My collaboration with Gaumont-Germany and Netflix consisted mostly in trying to add vibrancy to Classical Latin in a show that brings us back to a single event that would have major consequences in defining the course of European history − precisely, Barbarians.
Barbarians’ Latin Barbarians recounts in a highly fictionalised way the “psychological causes” of the famous massacre of the Teutoburg forest, or, as Roman historians labelled it, Clādēs Vāriāna (“Disaster of Vārus”, thus named after the Roman legate), in which three Roman legions − then a force of roughly 15000, plus the auxiliary troops and civilians in town − were slaughtered almost to the
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last man by a coalition of Germanic tribes led by an ambitious Cheruscan chieftain whom we know today only by his Latinised name Arminius – whose role was played by the Viennese actor Laurence Rupp. The scene is set in 9 AD, as the Romans tried to complete the conquest of the most recent periphery of their Empire: the so-called Magna Germānia, a territory ranging from northern Netherlands to Germany east of the Rhine to the river Elbe. The deadly ambush in the wilderness of the Teutoburg forest has often been considered as a watershed in European history, as the Roman Empire no longer attempted any systematic territorial annexations east of the Rhine ever after. Maybe even more significantly, this bloody event occurred at the height of the gestational period of the Augustan imperial state’s ideological identity, which reflected the first Roman Emperor’s political agenda and domination system so beautifully illustrated by Prof. Paul Zanker in his book Augustus und die Macht der Bilder (1987). Augustus tried to instil in the minds of the Romans the idea of a definitive return to the golden age culminating in his own saeculum, which would perpetuate itself through the family dynasty he founded. So, as Rome went on acting as an imperial power, it also began to think of itself mythically, within an ideal dimension that would let the Empire’s geopolitical goal be pursued also by means of meta-historical narratives. A similar fate befell the Latin language as well, in its glorious meta-historical in-heavening. The outstanding stability of the severe, yet cleverly adaptive Roman rule seems to have been reflected in the monuments of Latin language itself, offering a strong illusion of unchanged persistence through centuries, to the point that illustrious Latinate medieval scholars, like Dante, thought that Latin was nothing but a rational “conlang”. The Roman dominance policy after Augustus provided the defeated and new elites with the means to collaborate with Rome through Latin. By and large, though, according to the results of considerable academic research, Romans never pushed the subdued populations into adopting Latin. The Empire was indeed a multilingual space, although it became soon, in its Western regions, a Latin-speaking political arena. As a matter of fact, Latin won un-
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precedented prestige among non-Roman leading groups within the European part of the Empire, and its success went so far as to completely replace many local languages, such as Gaulish or Dacian. Language, it is well worth remembering, has always been an extraordinary means for implementing power. Latin had spread wherever Roman legions, merchants, functionaries, and settlers set foot, and would eventually reverberate in all dialects and culture languages of Europe. To spark an impossible debate, if the European Union should choose an official language that reflected and laid bare its roots, that could be none other than Latin, which was bound to infect the “tribes of Europe” forever. Analogous in some way to what must have been the linguistic situation of Latin in the Pars Occidentis, we have the example of Arabic – by the way, an “imperial language” as well. On the one hand, there is a standard variety of Arabic for inter-Arab communication known as MSA (Modern Standard Arabic), based on its older, more prestigious linguistic stages, alongside the many local dialects, from Moroccan to Iraqi variety, on the other. Anyway, establishing with absolute precision what was the difference between “Classical Standard Latin” and local vernaculars is something that irretrievably exceeds historical record. Were we asked to formulate hypotheses in this regard, we could solely rely on speculation.
Kinematic Latin The Latin dialogues of Barbarians represented a golden opportunity for operating a sort of Latin-based game theory. Rethinking data is always a risky but fascinating operation, particularly if concerning the sciences of antiquity. My contribution to the series consisted both in translating from German into Latin part of the screenplay dialogue − around 12 % of the total script −, as well as in coaching the actors who had to use it in front of the camera. Hence, my work method was based on a set of criteria directly generated by
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the maximum possible alignment to the requirements of the screenplay itself, namely: a. b. c.
d. e.
Selection of suitable Latin material per character, down to the register levels, above all lexical and syntactic, of course excluding Latin anachronisms as much as possible. Production of a series of variants offering multiple Latin solutions, already imagining the possible rhythm and prosody of the translated material. Labor līmae to the best result in the light of aesthetic criteria, mainly for the sake of euphony and “phonosymbolism”, but also keeping in mind “calculated effects”, such as, to name the most trivial, avoid anything ridiculous. Twofold checking process of both intra-textual − Latin level only − and inter-textual consistency, i.e., with reference to the script “text-zero”. Final composition and subsequent recording of audio files for the actors to practice their lines, so to speak, in vivo. Both while recording the files and coaching the actors, in accordance with major philological evidence, I chose to use the “restored” pronunciation of Latin (restitūta).
Consequently, this entire poietic and rhetorical path had to culminate, to be credible, in an “alchemical wedding” between my ēlocūtio inuenta − for the inuentio was, strictly speaking, that of the scriptwriters − and the actio translāta of the actors. In fact, the coaching activity proved to be key for the actors to correctly understand and pronounce this “living” Latin.1 The translation, to which I had of course already dedicated myself before flying to the television studios outside Budapest to attend coaching activities, showed some peculiarities compared to those one usually encounters when dealing with Latin. In short, I had to cope with the following challenges:
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would like to renew my esteem and friendship to Dr. István Czeti, brilliant young Latinist from Budapest, whose advice and cooperation during the coaching activity proved to be invaluable.
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a) Translating the contemporary into the ancient. It is much more common to translate from an ancient language into a modern one, as, obviously, genuinely modern content is undocumented in antiquity, either because it did not semantically exist, or, if it did, it was conceived and expressed rather differently. I came across a couple of such expressions, for instance the “to be proud of someone” idiom type. Latin probably knew and employed expressions of similar meaning, but from an ontogenetic and etymological standpoint, the bare semantics seems utterly modern, as its logic (intensional) comprehension is. Classical Latin, especially in its high register, would have probably preferred to adhere to a plain fact rather than to consider and express the underlying emotions. “Excessive self-esteem” was negatively considered in the ancient cultural discourse, nor would it have been by any means pronounced while uttering a compliment. A solution came to me by applying the principle of recursiveness, i.e., by generating a new semantic string based on existing material and formation rules applicable to similar semantic and syntactic structures: “Rome is proud of you” thus became Rōma altē dē tē gestit: “Rome rejoices deeply (or highly) about you”. On the other hand, we have more embarrassing problems when translating into plausible Latin something that was certainly said and pronounced in every possible way but that has remained undocumented. One example out of many: tactical military orders, none of which have been handed down with certainty, except by later authors of the early byzantine age. Some commands are reasonably reconstructed, but of most we have no trace, so we need to ʻinvent’ them again, that is to ʻresurrect’ plausibility.
b) Adherence vs Creativity This kind of occurrence demanded a broader reflection about the paradoxical balance between historical-reconstructive adherence and literary creativity. The primary focus of such a reflection hinged on acceptable neoformation patterns in Classical Latin semantics. In other words, lexical or
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syntactic twists could replace existing terms and idioms that were less expressive or too formulaic, as well as, on the contrary, adequately convey unheard-of ideas, thus filling either the absence of actual references or meaning gaps, which were often probably not quite absent, but rather configured more deeply in the semantic cosmos of Classical Latin. Such procedure was aimed at potentially unveiling hidden meanings with a creative use of the language, which could be aesthetically justified without aspiring to be giving any indisputable results.
c) Classical, Vulgar and ʻMilitary’ Latin I have also duly attempted to modulate the necessary relationship, characterized in this epoch by a high level of normativity, between the Classical and the so-called ʻVulgar Latin’ (here sermo cotīdiānus). By ʻClassical Latin’ I mean here mainly, but not exclusively, a historical-linguistic category: the phase in the development of Latin between the third quarter of the 1 st century BC to the death of Trajan (roughly W. S. Teuffel’s “goldene und silberne Zeitalter” of Roman literature). Latin speakers in Barbarians are mostly Roman soldiers. Within the dialectic between speech registers of Latin, I paid extra care to those phenomena that were peculiar to the varieties of sermo mīlitāris and sermo castrensis. In the early 1st century CE, this was a specific contribution of Italic Latin-speakers stationed at the frontier zones in permanent settlements. The best-known linguistic aptitude of Roman soldiers was characterized by creative wittiness.
d) Defamiliarization Effect The intentional inclusion of slight inaccuracies and slang expressions as well as invented (by sober derivation) Latin terms in the vivid language of these soldiers lends a margin of ʻalienating authenticity’, or ʻdefamiliarization’. Some example of this attempt will be given below, so as to convey the naturalness of the slang-twisted re-shaping of technolect. All languages, though regular and rational as for their productivity, also behave unpredictably.
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While carrying out this task I tried to pay the utmost attention to establishing an acceptable balance between the two foci of mirroring dramaturgical needs of the script on one side, and pursuing verisimilitude with Latin on the other, within the framework of plausible reconstruction. I acted in full awareness of the totally speculative nature of such an attempt, which was merely aimed at suggesting that Classical Latin must have sounded through its ʻfirst life’ much richer and more vibrant than anything, albeit greatly adequate, we can possibly picture two thousand years later. It was therefore the recognition of a factual gap that allowed me to cautiously produce – relying as much as possible on documented material − expressions or single words that do not appear as such anywhere through Latin corpora. A consistent tradition of translating modern literary works into Latin exists – even Harry Potter’s saga has its own Latin version, after all, thanks to Peter Needham’s delightful translation – and this is not the first time it has been used on screen. In fact, general international audiences may be quite familiar with Mel Gibson’s blockbuster The Passion of the Christ, marked, however, by the highly questionable choice to let the Romans speak with the much later ecclesiastical pronunciation of Latin. However, there are also more meritorious and refined attempts, although certainly imperfect, such as the Polish short film Imperator (2013, entirely in Latin) by Konrad Łęcki or, earlier and better, Federico Fellini’s Satyricon (1972), where Latin bears unexpected features under the learned supervision of the revered Latinist Luca Canali, in line with the director’s own dreamy poetics. Fellini himself labelled his movie a “science-fiction essay on the past”. With Barbarians, what has been attempted perhaps for the first time is to systematically render the different registers of Latin, often mixed in the speech-code of the same character, both in word choice, morphosyntax, and pronunciation. In other words, I have tried, among other things, to sketch a minimal essay of Latin sociolinguistics, while keeping in mind its suitability for the entertainment industry. Having been granted the greatest possible freedom in juggling my work as well as making my stylistic decisions, I
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focused a great deal on achieving an alienation or, otherwise said, defamiliarization effect in my translation work. I strived for this result by re-arranging standard Latin forms into unheard schemes and by organizing newly minted word configurations, as well as by reshaping the traditional Latin semantics of certain terms. The first question that crossed my mind was indeed not “which Latin?” (it certainly ought to be Classical Latin), but: “whose Latin?”. A soldiers’ Latin, no doubt about that. More precisely, our speakers were legionaries and auxiliary troops. The Roman legionaries, mostly Italic, left many epigraphic documents all near and beyond the Roman līmes. Furthermore, Italic military personnel serving in the Roman legions would play a pivotal role in the very formation of many varieties of ʻEuropean’ Latin (one may think of ʻDacian Latin’). For their Latin I turned predominantly to the military epigraphy of the first century CE and to the corpus of Pompeian graffiti. Also, as far as links with Roman literature are concerned, I resorted to the whole set of Plautine comedies, a bit of Livy − set aside his conviction for patauīnitas by Pollio − and Petronius, always taken with a pinch of salt due to the quaestio vexatissima of his Satyricon’s chronological collocation, without forgetting the parodistic intent of that unique menippēa. I also browsed again through the much later Martial and Tacitus, as well as Velleius, who served under Tiberius in Germānia a few years before Vārus was appointed as a legate there. Legionaries were at that time Roman citizens, mainly recruited from Northern Italy. Among them, the main character is the Centurion Metellus, a character of clear Italic ancestry. He speaks a rather rustic variety of Latin, often rude and crude, despite his soldierly admiration of martial valour, not devoid of religious piety. Metellus’ speech is sprinkled with unruly expressions. It is worth mentioning the even online debated *Futue tē as a quasi-Romance adverbial form derived from a fixed verbal voice employed as an invariable expletive (hercle or the like would have sounded too mild in that context), and *fastīdia (lit.: “*disgusts”), a neuter plural I chose as a concrete metonymy for “disgusting food”, such as the grub Metellus finds in his bowl – which indeed he does not eat.
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As soldiers preferably speak their own jargon, I allowed myself the insertion of some solecisms, and a great deal of creativity. Moreover, multilingualism (bi- or trilingualism in most cases, set aside diglossia) was commonplace then as now, and the use of Koine Greek was widespread in ancient Roman world. So, I even inserted in the ʻlegionary language kit’ an obscene Greek verb, re-coined as a loan, namely bīnet, the verbal voice bīnet from an undocumented bīneo (< βινεῖν “to have rough intercourse”). To quote another example, a Roman legionary says at one point in uolnerāriō (implied: tabernāculō), meaning “in the field hospital”. He ought to say correctly in ualētūdināriō, therefore his word choice appears improper and ambiguous, if erroneous. In fact, in uolnerāriō could mean “in the (tent of) the wounded”, as well as “in the surgeon’s”. The field hospital in the Roman army was an innovation brought by the Augustan military reform since very few years before 9 AD. It is therefore reasonable to think that the legionary in question should have recently learned that new term of the lexicon concerning life in the castra, but the very novelty could have led the men to distort its pronunciation in a slang manner to give it an irreverent sobriquet, in line with the Roman soldiers’ witty use of Latin. To sum up, I played on new word formation, loans, register variation, jokes and puns, up to the pronunciation of words poorly learned or twisted through the soldiers’ slang, flavoured in ancient times by the iocōsitas, the tendency of military men to play allusively with words. So, in the very lines of each Latin-speaking character emerges a specific style, given that my primary concern was about rendering as many Latin varieties as possible.
Spoken Latin Another issue of considerable importance was about the pronunciation of Classical Latin. How could I teach the actors to speak in a convincing fashion, so that Latin, along with their performance, did not sound fake or non-authentic?
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The pronunciation of Latin in Barbarians is very diverse. By and large, whenever in the mouth of legionaries, Latin sports a rather Italian-like rhythmic metric, so typical of a ʻcontrolling language’, according to the CCI Index. Italian does not retain vowel length as an ʻ-emic’ feature, while of course Classical Latin did, most likely with specific vocalic openness degrees, later inherited by the Romance languages to detriment of the previous Latin chronemic phonological system. Many actors in Barbarians were in fact Italians, so it was not easy for them to utter unstressed syllables, both in pretonic and post-tonic position, as long ones. Even so, it can be noticed that it was easier for Vārus (the Sicilian Gaetano Aronica) to realise a long syllable in pretonic position – just listen to his excellent pronunciation of mōrālis, favoured by the emphatic acting context. Otherwise, it was more natural for Metellus (the Roman Valerio Morigi) to do so in post-tonic position − take for instance his perfect long ā in ūnā or his long ō in lēgātō. The phonetic spill-over of the language contact phenomena was also taken into account. Coming back for a moment to bīneo, the choice to retain the bilabial occlusive sound [b] over the expected Koine Greek bilabial approximant [β] was determined by my preference for a ʻGaulish accent’ for the speaking legionary. The XVIII Legion, one of the three that would be annihilated in the Teutoburg forest, had probably been quartered in the vicinity of Argentorātae, near present-day Strasbourg, surrounded by a Gaulish-speaking area, whose accents could have influenced the Latin pronunciation of that Greek voice, since Gaulish would presumably have uttered a b- instead of a v- or a β-sound. In general, I decided to ignore such phenomena as syncope in post-tonic syllables, fall of -s and -m endings in the nominal inflection system (especially in the Italic area, both endings were seemingly fading out at that time) or synaloephe, so frequent to be met in spontaneous speech. I resolved to focus slightly more on words and syntax than on phonological full adequacy. By doing so, I wanted the rhythm of speech to make spoken Latin not too bookish, yet consistent enough with orthography, to make it better intelligible for the general audience.
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In order to elicit in the listeners of my reconstructed Latin the above-mentioned paradoxical ʻdefamiliarization effect’, I tried to establish a network of indirect references, to trigger a sort of ʻlateral authenticity’ side-effect in the well-read audience. Firstly, I tried to build an underlying interplay between various registers of Latin spoken by different characters, and within the same character, to create occasional switching of formality degrees as well. Such are some shifts between the use of everyday speech and of archaistic residual forms as idiosyncratically asymmetrical use of language − e.g., the centurion using the 3rd person plural, perfect indicative ending in -ēre, which is rare and poetic, instead of the unmarked -ērunt. Such textual dialectics can code a paradigmatic subtext, where contrasting communicative or sociolinguistic variants activate hidden semiophors of Latinate understanding, that give the cultivated audience a sense of either listening to an ancient and venerated culture language, or to ordinary communication, albeit expressively connoted. To add authenticity, as a hint to the urban high-class social codes, some classical literary quotations are embedded in Vārus’ speeches, mostly from Lucretius, Caesar, and Livy. I chose to include a Lucretius quote − the second hemistich from Dē rērum nātūrā I, 328 in the line (Quō pactō) nātūra gerit rēs – for a cultural reason deeply rooted in the Roman elite of the time. As Prof. P. Zanker pointed out in his afore-mentioned book, the late republican and early Julio-Claudian ruling class’ lifestyle was radically split between public and private spheres, to the point of verging on a sort of moral double standard. It is therefore no wonder that Vārus, as a Roman lawman and a follower of the official Stoic doctrine, and at the same time member of a noble family graced by Caesar after his pater familiās’ suicide at Philippi, could privately indulge in the suspicious doctrines of Epicurus. This hypocrisy was meant to be a distinctive feature of Vārus’ social condition. On the other hand, I chose Livy as a ʻVarian source’ because he was a sympathizer of the old republican order, like Vārus’ father was, a supporter of Pompey from the city of Cremona in the X Venetia region. Vārus’ provincial background transpires from some ʻvulgar’ choices in his Latin – e.g., when pronouncing an indirect speech with the verb in the indicative mood instead
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of subjunctive. His style is otherwise formal and learned, marked by specific terms of the Roman legal-religious or military lexicon − e.g.: the future imperative fertō, the idioms rītē facere, prō explōrātō habēre, etc., all of it in agreement with his own procedural relentlessness. In a scene, the Centurion Metellus also gives a quotation of Augustus (in Greek originally, from Plutarch’s Moralia): “Prōditiōnem amō, sed prōditōrem nōn laudō”, reportedly also by Richard III referring to the Duke of Buckingham’ betrayal. Unlike Vārus’ occult quotations, this is explicit, content-oriented and reported as such, instead of signifying the worldly allusion to a prestigious literary model. Vārus’ assistant is the Greek slave Pelagios. Thanks to him, I can also have a quick word about the role, mostly hidden, played by the Koine Greek in the series. Pelagios is in the service of Vārus as a special secretary and interpreter of the Cheruscan dialect of North-Western Proto-Germanic − represented through present-day Hochdeutsch in the series, both because the ancient language of the Cherusci is completely unknown, and to present the Germanic text as unmarked − as opposed to Latin. Pelagios naturally speaks Latin − although Vārus must have had a more than good command of Koine Greek, both as a scion of an ancient and noble Roman family, and even more so in view of his tenure in Iūdaea, where Greek served as vehicular language. From a syntactic point of view, Pelagios is an interesting speaker. His use of language reflects an attitude of disdainful prudence. I let him almost invariably use indirect speech while interpreting. He utters the bare infinitive clause, the verbum dīcendī in the third person singular being always unexpressed – apart from the necessary uttering of negat in one case −, to keep his own distance from the barbarians. Furthermore, Pelagios, while conversing with Vārus in front of the Cheruscan nobleman Segestes – historically, Arminius’ hostile father-in-law − complements Vārus’s contemptuous statement on Segestes’ accent with a sentence in which two Latinised Greek loans stand out. Those are the derogatory term moecha and the verb poētārī, both to be commonly met with throughout Latin literature. As for the Greekish pronunciation of Latin, it is well-illustrated by Pelagios’ prosodic patterns, in that he ʻplays’ Latin with ancient Greek’s typical pitch accent.
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Conclusions Whether or not the success of Barbarians’ Latin has represented a case of ʻheterogony of ends’, the brave decision made by the screenwriters and the production board’s wise approval, to let the Romans speak Latin, cannot be praised enough. This collaboration has been an enlightening opportunity for me to better situate Latin and its history in current contexts, and in the meantime, to make a small contribution to its spreading, therein combining, whenever possible, aesthetics and philology. I intended my translation as an attempt to build a multidimensional text, aimed at prompting a feeling of linguistic vitality in the audience as they listen to a language that reshapes itself by using seemingly living linguistic material. To do so, I decided to respectfully strip Latin of many of its eternityflavoured literary forms − also very present in my writing as a register –, so undoing the ʻdead language effect’. From a philological standpoint, ancient language materials must of course be considered similarly to data in mathematics; an uncontested panorama, the starting point of required solutions or speculations, strictly functional to the correct framing of one or more previously defined problems. When it comes to Latin, this could lead to an ‘arithmetical school approach’ – the ʻallor-nothing’ type −, which can sterilise the creative lymph of a language so abundantly documented and, as said earlier, too often incorrectly defined as a dead language. Latin’s multiple heritage is so relevant that one could say that its offspring have preserved it to this day in a state of ʻembedded activity’. Every retrospective approach proves to be tricky as well. In-depth study and the utmost care are essential requirements to deal with the ancient world. I believe that Latin has still a lot to teach us, and that it must be given the place it deserves in our global world.
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2. Erwartungen und Anforderungen der Nachbarfächer an Latein und Griechisch
Erwartungen und Anforderungen der Philosophie an Latein und Griechisch Alexander Becker 1. Klassische Philologie und Philosophie sind heute akademische Disziplinen unter vielen. Sie haben ihre eigenen Institutionen, ihre eigenen Studiengänge, ihre eigenen ‚Fachkulturen‘. Man ist nicht daran gehindert, aber auch nicht wirklich eingeladen, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen; das eifrige Bemühen um ‚Interdisziplinarität‘ ist eher eine Bestätigung dieses ‚Zustands der getrennten Fächer‘ als seine Überwindung. Die Frage, was die Philosophie von der klassischen Philologie erwartet, stellt sich zunächst und sinnvollerweise in diesem Rahmen. Sie trifft auf eine Philosophie, die es sich in ihrer institutionellen Sicherheit als universitäre Spezialdisziplin eingerichtet hat und sich heute oft in historisch-exegetische und systematische Arbeit teilt (wobei beide Bereiche im deutschen Sprachraum sich noch deutlich öfter personell und thematisch überlappen als in der angelsächsischen Welt). Die systematische Arbeit, die zumeist Priorität genießt (das sei es doch, weswegen man Philosophie betreibe!), bearbeitet einen Katalog von tradierten Fragen und Problemen, der nicht fixiert ist, aber erstaunliche Zähigkeit aufweist, mit dem Ziel, Antworten zu finden – oder, wenn einem das Antwortgeben schon allzu vermessen erscheint, doch wenigstens mit dem Ziel, die Differenzierung der möglichen Antworten ein wenig voranzutreiben, das Feld der theoretischen Optionen ein wenig genauer zu erkunden. Faktisch ist diese Philosophie zweisprachig (Deutsch und Englisch). Sprache gilt als Ausdrucksmittel, das sich an den Standards von Klarheit und Präzision zu bemessen hat, denn es sollte möglichst transparent auf den Inhalt sein – also auf die verhandelten Thesen und die argumentative Struktur, in die diese eingebettet sind, weshalb auch die
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Übersetzung als grundsätzlich unproblematisch gilt. Arbeitsmaterial und vorrangiges Produkt sind Texte, an die derselbe Anspruch gestellt wird: möglichst nicht den Blick auf den Inhalt zu versperren. Eine mit dieser Verfassung (selbst-)zufriedene Philosophie hat vielleicht nur eine einzige Erwartung an die klassische Philologie: Sie möge bitte die ‚klassischen Texte‘, diejenigen Texte, die Antworten auf die ‚großen systematischen Fragen‘ bereithalten – Antworten, die es ‚auch heute noch lohne, zur Kenntnis zu nehmen‘–, in möglichst gut verständlichen Übersetzungen bereitstellen und bei gelegentlichen Nachfragen zur Bedeutung einzelner Worte kompetente Auskunft geben.
2. Ein wenig anders gestalten sich die Erwartungen an die klassische Philologie, wenn man in der gegenwärtigen Verfassung der Philosophie auch mancherlei Mängel sieht. Ein erster solcher Mangel betrifft die Sprachkompetenz. Von einer Übersetzung zu erwarten, sie möge ‚gut verständlich‘ sein, ist natürlich legitim – aber doch recht naiv, denn dahinter steht das grundsätzliche Problem, dass die geforderte ‚Verständlichkeit‘ sich an gegenwärtigen Maßstäben orientiert (beispielsweise an dem, was heute als ‚allgemeinverständliche Terminologie‘ gilt). Gefragt wird somit faktisch nach einer angleichenden Interpretation. Glücklicherweise gibt es immer wieder Studierende, die ein Gespür für die Schwierigkeiten und Aufgaben entwickeln, die sich bei der Übersetzung antiker Texte stellen, und die deshalb nach Latein- und Griechischkursen fragen, um den Übersetzungsprozess selbst wenigstens nachvollziehen zu können. Eine erste simple Erwartung aus der Perspektive einer Philosophie heraus, die sich ihrer Mängel bewusst ist, lautet daher: Es muss an der Universität einen Ort geben, an dem das Interesse an den Originalsprachen einiger der wichtigsten Texte der Philosophie befriedigt wird – einen Ort, an dem man Latein und Griechisch lernen kann. Da außerdem Latein und Griechisch keine lebendigen Sprachen mehr sind, da der Maßstab des Sprachenlernens hier nicht die flüssige Alltagskommunikation sein kann, da beide
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obendrein in Formenlehre und Syntax komplizierter sind als das Englische, der nicht selten einzigen halbwegs vertrauten Fremdsprache – aus all diesen Gründen ist der Latein- und Griechischunterricht nicht nur ein Unterricht in einer bestimmten Sprache, sondern auch ein Unterricht in Sprache überhaupt. Wer das Glück hatte, Latein als erste Fremdsprache zu lernen, der hat beim späteren Erlernen anderer Fremdsprachen erleben können, wie das Muster des Lateinischen das Erfassen anderer Sprachen erleichtert. Die klassische Philologie kann also, über ihr konkretes Sprachangebot hinaus, zur Reflexion über Sprache überhaupt einladen. Klassische Philologie ist – notgedrungen, da ihre Sprachen (mehr oder weniger) ‚tot‘ sind – vor allem Beschäftigung mit Texten. Sie tut dies in zwei grundsätzlichen Hinsichten. Zum einen beschäftigt sie sich mit der Konstitution dessen, was wir als Text vor uns haben. Vielleicht liegen die großen Fortschritte in der Textkonstitution beziehungsweise der Textkritik hinter uns. Doch der textkritische Apparat einer Aristoteles-Ausgabe bleibt eine immerwährende Aufforderung, sich wenigstens ein klein wenig damit zu beschäftigen, wie das, was als Text präsentiert wird, aus der Überlieferung abgeleitet wurde. Zum anderen ist die klassische Philologie mit der intertextuellen und kulturellen Einbettung ihrer Texte befasst. Beides sind Dinge, die die Philosophie – von glücklichen Ausnahmen abgesehen – nicht leisten kann, die sie aber braucht. Letztere stellt ihre Texte gerne in den fiktiven Zusammenhang eines ‚philosophischen Diskurses‘, den es so nicht gegeben hat. Was in diesen Texten als Terminologie erscheint, war oft genug nicht Produkt eines abgegrenzten Fachzirkels, sondern ist im Austausch mit einer vielfältigen Sprachpraxis entstanden; hinter den Texten stehen ehemals selbstverständliche Hintergrundannahmen über Weltbilder und Werte, die implizit bleiben, für die wir aber nicht kurzerhand unsere eigenen einsetzen können. Bei den antiken philosophischen Texten können wir außerdem nicht von einer akademisch-wissenschaftlichen Praxis der Textproduktion ausgehen, so wie es diejenige ist, in der heute die allermeisten philosophischen Texte stehen. Die Arten des philosophischen Schreibens in der Antike sind vielfältig, sie reichen vom Gedicht bis zum Gebet. Philosophie neigt dazu, solche Kontextualisierungen ihrer Texte zu vergessen. Dies kann ebenfalls als ein Mangel gesehen werden – nicht zuletzt aus der Perspektive solcher philosophischen
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Theorien heraus, für die Bedeutung grundsätzlich und auf vielfältigen Ebenen im Gebrauch besteht. Somit braucht die Philosophie die Altphilologie als eine textzentrierte Kulturwissenschaft. Philologie ist ferner nicht nur ein Zugriff auf Texte, der von bestimmten Fragen geleitet wird, sie ist auch eine besondere Praxis des Lesens von Texten. Auch in der Philosophie lernt man eine bestimmte Art des Lesens: Man lernt, die Sätze, aus denen ein Text besteht, auf ihren Inhalt abzuklopfen, zu erkennen, ob, welche und wie viele Gedanken geäußert werden, ob neue Formulierungen neue Inhalte bringen oder nicht, ob zwischen den Gedanken Begründungszusammenhänge bestehen und von welcher Art und Qualität diese Zusammenhänge sind. Das ist ein Blick auf Texte, der – so sinnvoll und berechtigt er ohne Zweifel ist – dazu verführt, vieles an Texten zu vernachlässigen und zu überlesen. Demgegenüber erscheint das philologische Lesen als eines mit ‚gleichschwebender Aufmerksamkeit‘: Es gibt dort keine vernachlässigbaren Füllworte, nichts, was man als stilistische oder bloß rhetorische Nuance abtun könnte, keine bloßen Ausschmückungen; auch die grammatische Konstruktion ist nicht etwas, das lediglich der Verpackung eines Inhalts dient und das man, wie die Verpackung einer gekauften Ware, ohne Einbuße wegwerfen kann. Die Einübung in das philologische Lesen ist somit mindestens eine wertvolle Ergänzung der philosophischen Lesepraxis, die man, wenn man sie einmal trainiert hat, auch auf andere Texte des philosophischen Korpus anwenden kann. Sicherlich ist die klassische Philologie nicht der einzige Ort, an dem man eine solche Art des Lesens lernen und üben kann; aber es gibt vielleicht keine andere Disziplin, die sie so sehr entfaltet und kultiviert hat. Und warum sollte man die Gelegenheit, inhaltlich relevante Texte zu lesen, nicht auch zum Anlass nehmen, ihre sprachliche Verfasstheit gründlich zu erkunden? Die Altphilologie als Ort der Pflege eines genauen Textumgangs – so könnte man eine weitere Erwartung der Philosophie an die Philologie formulieren. Auch wenn die Philosophie, die an deutschsprachigen Universitäten gelehrt wird, immer noch auf einen kleinen Kanon beschränkt ist, der sich aus der europäischen Geschichte und der insbesondere angelsächsischen Gegenwart speist, mehren sich ernsthafte Bemühungen, diese Horizontbeschränkung in diachroner wie in synchroner Hinsicht zu
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überwinden. Die philosophische Qualität eines Nagarjuna und überhaupt der ostasiatischen Philosophie wird mehr und mehr zur Kenntnis genommen, die Deutsche Zeitschrift für Philosophie startete 2013 eine Reihe Briefe über Philosophie weltweit. Diese Entwicklung kann den Status von Latein und Griechisch nicht unberührt lassen. In einer globalisierten Zeit gibt es keinen selbstverständlichen Sprachenkanon mehr, dessen Fraglosigkeit sich aus einem als Norm gesetzten Bildungs- und Kulturbegriff speist. Vor zweihundert Jahren, vor hundert Jahren, sogar nach der Katastrophe von Nationalsozialismus und zweitem Weltkrieg war das noch anders: Kultur war die europäische Kultur; wer gebildet sein wollte, musste diese Kultur kennen; und um sie zu kennen, musste man Cicero und Homer, Ovid und Platon kennen. Heute sollte der Bildungshorizont mit ebensolcher Selbstverständlichkeit Russland, Indien, China, Korea oder Japan einschließen – von unseren mittelosteuropäischen Nachbarn, der iberisch-iberoamerikanischen Welt und dem Nahen Osten ganz zu schweigen. Die ohnehin nicht überwältigende Bereitschaft zum Spracherwerb muss sich unter all diesen Möglichkeiten aufteilen und entscheiden (und es ist nachvollziehbar, wenn jemand sich in dieser Lage auf das Englische als vermeintlich universalen Schlüssel konzentriert). Diese Veränderung dürfte nicht rückgängig zu machen sein, und sie sollte es auch nicht, denn sie bietet eine enorme Bereicherung. Doch muss man sie nicht als Bedrohung für die ‚alten‘ Sprachen betrachten. Erstens, die beiden größten Beiträge der Antike zur Philosophie, Platon und Aristoteles, haben ihre Ausnahmestellung ja nicht umsonst: Wir verdanken ihnen philosophische Konzeptionen, begriffliche Klärungen und methodologische Einsichten, die Möglichkeiten des menschlichen Denkens überhaupt entfalten und erkunden und somit in Taipei oder Tokio auf ebenso großes Interesse stoßen wie in Oxford oder Paris. Zweitens ergibt sich gerade aus dieser globalisierten Perspektive ein Grund, sich mit Latein und Griechisch zu beschäftigen. Denn diese Sprachen und die Texte, die in ihnen verfasst sind, sind uns nicht nur nahe. Sie sind uns auch fremd. ‚Globalisierte Perspektive‘ heißt am Ende leider oft genug, überall dasselbe finden zu wollen und daher auch zu finden. Die Benutzung von Übersetzungen, meistens in Englische, verstärkt auf sprachlicher Ebene den Eindruck, dass alles doch ‚irgendwie dasselbe‘ ist.
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Natürlich ist das nicht so; wer die Augen öffnet, wird Fremdheitserfahrungen machen. Doch dieses ‚Augen öffnen‘ muss man lernen, und man muss es insbesondere anhand von Sprachen und Texten lernen. Besonders leicht kann man es dort lernen, wo man es mit etwas zu tun hat, das man doch schon irgendwie zu kennen meint: Ist uns nicht die philosophische Terminologie des Lateinischen und Griechischen durch die Fremdworte, durch die englischen oder französischen Ableitungen längst bekannt? Sie ist es – und sie ist es nicht, und das lernt man, sobald man diese Terminologie in ihrem eigenen sprachlichen und textuellen Kontext studiert und versucht, sie kontextangemessen zu übersetzen. Die Philologie als Übersetzungswissenschaft – dies wäre eine weitere Erwartung der Philosophie an die klassische Philologie, und sie verbindet sich mit dem Punkt der ‚gleichschwebenden Aufmerksamkeit‘: Altphilologie also als Ort, das vermeintlich Vertraute fremd werden zu lassen und dieses Fremde wieder zurückzuübersetzen.
3. Eingangs bemerkte ich nebenbei, dass im gegenwärtigen Zustand getrennter Fächer die oft beschworene und geförderte Interdisziplinarität die Trennung eher befördert als zu überwinden hilft. Ich möchte mit ein paar Gedanken zu diesem Thema schließen. Wenn die Erwartungen, die ich gerade genannt habe, sinnvoll sein sollen, dann muss mindestens eine Kooperation möglich sein: Denn mein Ausgangspunkt war ja, dass die Philosophie aufgrund ihrer disziplinären Grenzen bestimmte Mängel aufweist. Diese Mängel bemessen sich an den eigenen Zielen der Philosophie, die sie besser erreichen kann, wenn sie mit der klassischen Philologie zusammenarbeitet. Läuft das Zugeständnis dieser Möglichkeit und die Hoffnung auf ihre Realisierung nicht meinen Zweifeln an interdisziplinärer Arbeit zuwider? Die Schwierigkeiten mit der Interdisziplinarität rühren, sehr abstrakt gesprochen, daher, dass man Dinge, die getrennt sind, im Zustand ihres Getrenntseins wieder zu verbinden versucht. Konkret wirkt sich das darin aus, dass bei der Zusammenarbeit die Rücksichten auf die je eigenen Fachkulturen
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nicht schwächer werden. Der Zweifel richtet sich also darauf, dass die Zusammenführung der Disziplinen oft eine äußerliche ist. Wie könnte demgegenüber eine ‚innere‘ Kooperation aussehen? Gute Chancen sollten sich ergeben, wenn die Interdisziplinarität aus einem gemeinsamen Gegenstand oder einer gemeinsamen Frage- oder Aufgabenstellung entsteht, auf die sich alle Beteiligten ohne Ambiguitäten einigen können. Geeignete Beispiele für konkrete gemeinsame Gegenstände gibt es durchaus – man denke an eine archäologische Grabungsstätte, die heutzutage von verschiedensten Natur- und Geisteswissenschaften zugleich und gemeinsam erforscht wird. Setzt man allerdings ‚den gleichen Text‘ ein, den sich Philologie und Philosophie vornehmen, verflüchtigt sich die Konkretheit des gemeinsamen Gegenstands, wenn man bedenkt, dass schon die Art, ‚denselben‘ Text zu lesen, sich deutlich unterscheiden kann. Texte haben andere Identitätskriterien als antike Städte. Worin könnte eine gemeinsame Aufgabenstellung bestehen? Vor hundert, vielleicht auch noch vor fünfzig Jahren hätte hier vielleicht ein wohlklingendes Wort wie ‚humanistischer Bildungsauftrag‘ einspringen können, aber die Gleichsetzung von ‚humanistisch‘ = ‚klassisch-antik‘ = ‚allgemeinmenschlich‘ hat ihre Selbstverständlichkeit verloren. Allerdings muss man das Prädikat ‚klassisch‘, das die ‚klassische Philologie‘ immer noch in ihrem Namen trägt, nicht im Sinne der lange Zeit üblichen Überlagerung von Tradition und Wert verstehen. Man kann darunter auch eine Wertkategorie verstehen, die den Texten einen ihre Entstehungsbedingungen transzendierenden Geltungsanspruch zuweist.1 – In diesem Sinne habe ich oben auf Platon und Aristoteles verwiesen, aber auch die literarische Tradition der griechischen und lateinischen Antike hat hier genug zu bieten. „Ihre Entstehungsbedingungen transzendieren“ – ist das nicht aber die systematische Fragestellung der Philosophie, die Texte ohne Rücksicht auf Verluste dekontextualisiert (und sie dabei faktisch in den eigenen Kontext hineinsetzt)?
1
Ich greife hier eine Überlegung auf, die ich bei Harald Patzer kennenlernen durfte. Er hat sie beispielsweise – noch während seiner Zeit als Marburger Privatdozent – 1948 in „Der Humanismus als Methodenproblem der klassischen Philologie“, Studium Generale 1, 84–92, veröffentlicht.
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Ein Beispiel mag illustrieren und belegen, dass ein solcher Schluss voreilig ist. In der Platon-Interpretation der letzten Jahrzehnte gewann eine Art, Platon zu lesen, mehr und mehr Beachtung, die Platons Texte als literarisch durchgestaltete Produkte ernstnimmt (und es waren und sind vor allem klassische Philologen wie Ernst Heitsch und Norbert Blößner, die diese Tendenz vorangetrieben haben). Diese neue Art, Platon zu lesen, besagt unter anderem, dass man eine einzelne Äußerung immer im Zusammenhang von Kontext und Situation interpretieren sollte, in die der Autor Platon sie gestellt hat. Der philosophische Umgang mit Platons Texten war (und ist großenteils immer noch) ein anderer: Da man doch an einer Theorie interessiert ist, die Platon sicherlich hatte (die er aber leider nie so niedergeschrieben hat), muss man mühselig Äußerungen aus verschiedenen Stellen platonischer Dialoge zusammenstellen und prüfen, ob und welcher zusammenhängende Theoriebau sich daraus ergibt. Was sonst, wenn nicht eine Theorie, könnte das systematische Interesse der Philosophie befriedigen? Und darf man sich dabei nicht insofern auf der sicheren Seite wähnen, als Platon – als Philosophenkollege, der er doch war – eine Theorie gehabt haben muss? Die konsequente literarische Kontextualisierung aller Äußerungen konterkariert dieses Interesse – ja, wenn nicht nur keine Äußerung in Platons Dialogen für eine These Platons steht (so wenig man dem Autor eines Dramas schließlich eine Äußerung seiner Bühnenfiguren als eigene Meinung unterschieben darf), wenn obendrein jede dieser Äußerungen nur in dem bestimmten Kontext Geltung hat, in den Platon sie gestellt hat – wie sollte man Platon dann überhaupt so etwas wie eine philosophische Position entnehmen? Kurzum, die philologische Lektüre scheint der philosophischen die Geschäftsgrundlage zu entziehen, so dass nachvollziehbar ist, wenn letztere erstere vielleicht mit einer knappen Anerkennung bedenkt, ansonsten aber weitermacht wie vorher auch. Doch ist ein solches Nebeneinander glücklicherweise nicht die einzige Option. Die philologische Lektüre kann nicht ignorieren, dass sie selbst von Personen des 20. oder 21. Jahrhunderts betrieben wird – dass der von Platon geschaffene Kontext der Äußerungen durch seine gegenwärtigen Leser ohnehin bereits überschritten ist. Die philologische Lektüre muss sich daher dem Problem der Kontexttranszendierung stellen. Umgekehrt kann sich die philosophische
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Lektüre daran erinnern, dass ihre vermeintliche Geschäftsgrundlage – dass Philosophie die Form einer Theorie hat, die von Person zu Person, von Epoche zu Epoche beliebig transportierbar ist – in ihrem eigenen Bereich keineswegs ‚alternativlos‘ ist, dass gerade der literarische Zugang zu Platon eine andere Art systematischen Philosophierens eröffnet. Die vermeintlich philologisch-historisierende Lektüre macht Platon also zu einem Klassiker anderer Art. Klassik als etwas, das den antiken Texten immer wieder neu abzugewinnen ist – auf eine solche, durchaus paradox intendierte Formel könnte man eine gemeinsame Aufgabenstellung für Philologie und Philosophie bringen.
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Christliche Theologie und griechische und lateinische Philologie Wolf-Friedrich Schäufele
1. Die christlichen Theologien an deutschen Universitäten Die christliche Theologie gehört von Anfang an zu den Kernfächern der abendländischen Universitäten. Auch nachdem die Theologie in der Frühen Neuzeit ihre Funktion als Leitwissenschaft eingebüßt und sich infolge der Reformation in eine Mehrzahl konfessioneller Varietäten differenziert hatte, behauptete die Theologische Fakultät weiter ihren Rang als erste und vornehmste der vier klassischen Fakultäten. Heute (2021) gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 19 evangelisch-theologische Fakultäten beziehungsweise Fachbereiche an staatlichen Universitäten und 3 evangelische Kirchliche Hochschulen sowie 18 katholisch-theologische Fakultäten beziehungsweise Fachbereiche an staatlichen oder kirchlichen Hochschulen, an denen angehende Pfarrerinnen und Pfarrer, Priester, Pastoralreferentinnen und -referenten und Religionslehrerinnen und -lehrer ausgebildet werden. Dazu kommen 34 Institute für Evangelische Theologie und 33 Institute für Katholische Theologie ohne Fakultätsrang an staatlichen Hochschulen, die vor allem Aufgaben der Lehrerbildung wahrnehmen. Diese Einrichtungen und mit ihnen die wissenschaftliche Theologie haben eine rechtliche Sonderstellung. Der Bestand der theologischen Fakultäten an staatlichen Universitäten beruht auf dem Reichskonkordat mit dem Heiligen Stuhl von 1933 und auf Staatskirchenverträgen der deutschen Länder mit den evangelischen Landeskirchen und ist zudem in etlichen Landesverfassungen festgeschrieben. Der konfessionelle Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach an staatlichen Schulen ist im Grundgesetz verankert.
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Der Betrieb der theologischen Fakultäten ist wie der schulische Religionsunterricht eine „gemeinsame Angelegenheit“ (res mixta) der Länder und der Religionsgemeinschaften. Diese Konstruktion ist eine Folge der besonderen Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften, die mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919 erfolgte und vom Grundgesetz übernommen wurde.1 Die Trennung von Staat und Kirche wurde in Deutschland nicht im Sinne eines Laizismus durchgeführt, sondern lässt Raum für eine vertrauensvolle Kooperation. Indem der weltanschaulich neutrale Staat die gesellschaftlich notwendigen und wünschenswerten Aufgaben der Weltanschauungspflege und Werteerziehung nicht selbst wahrnimmt, sondern an die Religionsgemeinschaften delegiert, kann er seine eigene Neutralität wahren und auf die Entwicklung zivilreligiöser Surrogate, wie sie vor allem aus der politischen Rhetorik der USA bekannt sind, verzichten. Dabei sind sowohl das Pfarramts- als auch das Lehramtsstudium – auch dem ausdrücklichen Willen der Kirchen entsprechend – wissenschaftliche Studiengänge und verfolgen nicht primär religiöse oder berufspraktische Ziele, auch wenn in den letzten Jahren namentlich in der Lehramtsausbildung der Praxisanteil auch im Theologiestudium erhöht wurde. Die berufspraktische Ausbildung erfolgt aber weiterhin überwiegend in der zweiten Ausbildungsphase. Die Studierendenzahlen haben sich gegenüber dem Höchststand in den 1980er Jahren auf deutlich niedrigerem Niveau stabilisiert. Im Wintersemester 2017/18 waren insgesamt rund 21.600 Studierende der christlichen Theologien eingeschrieben, entsprechend einem Anteil von 0,76 Prozent an allen Studierenden.2 Nach aktuellen Prognosen reichen die derzeitigen Studierendenzahlen nicht aus, um kurz- und mittelfristig den Ersatzbedarf beim pastoralen Personal der Kirchen zu decken; entsprechend günstig stellen sich heute die Berufsaussichten dar.
1 Zum Folgenden vgl. Jörg Winter, Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland. 2
Eine Einführung mit kirchenrechtlichen Exkursen, Köln ²2008. Leon Igel, Theologiestudium: „Immer muss man sich rechtfertigen“, in: FAZ-Blogseminar, 4. Oktober 2019, https://blogs.faz.net/blogseminar/theologiestudiumimmer-muss-man-sich-rechtfertigen (letzter Abruf am 24.8.2020).
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Über ihre unmittelbare, staatskirchenrechtlich begründete Aufgabe der Pfarrer- und Lehrerausbildung hinaus nehmen die christlichen Theologien nach wie vor eine grundlegende Funktion im Konzert der universitären Wissenschaften wahr. Angesichts der historischen Bedeutung des Christentums für die abendländische Geistes-, Kultur- und Mentalitätsgeschichte profiliert sich christliche Theologie zunehmend als hermeneutische Kulturwissenschaft und ist in ihren verschiedenen Teildisziplinen jeweils zusammen mit deren außertheologischen Referenzwissenschaften in trans- und interdisziplinären Forschungsverbünden engagiert. In der universitären Lehre steuert sie Exportmodule zu zahlreichen, vor allem geisteswissenschaftlichen Studiengängen bei.
2. Christentum und Antike Das Christentum ist im hellenistisch geprägten Osten des Imperium Romanum der Kaiserzeit entstanden. Es hat seine erste formative Phase ganz überwiegend innerhalb der Reichsgrenzen und im Kontext der hellenistisch-römischen Kultur der Spätantike erlebt. Innerhalb von vier Jahrhunderten wurde das Christentum von einer beargwöhnten jüdischen Sekte zur Staatsreligion des römischen Weltreichs und hat die römische und byzantinische Kultur nachhaltig geprägt. Die ältere literarische Überlieferung des Christentums liegt überwiegend in griechischer und lateinischer Sprache vor. Die westliche Christenheit des Patriarchats von Rom hat das Lateinische auch über das Ende der römischen Staatlichkeit hinaus und auch nach der flächendeckenden Missionierung germanischer und slawischer Völker als Sprache von Liturgie und Theologie, aber auch der Wissenschaft überhaupt festgehalten. Es waren kirchliche Institutionen, die sich im Mittelalter der Tradierung und Weiterentwicklung des literarischen und wissenschaftlichen Erbes der Antike widmeten. Die überlieferte griechische, vor allem aber die lateinische Literatur des Altertums ist uns überwiegend dank der Kopistentätigkeit der Klöster und ihrer Skriptorien erhalten geblieben. Die Pflege von Wissenschaft und Bildung oblag in Westeuropa bis ins späte Mittelalter den Kloster- und Kathedralschulen, und auch die Universitäten blieben zunächst
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personell und finanziell mit kirchlichen Einrichtungen verflochten. Im kirchlich geprägten Wissenschaftsbetrieb des Mittelalters wirkten pagane und christliche antike Traditionen und neue monastische und scholastische Geistigkeit zusammen und brachten eine eigene neue Literatur in lateinischer Sprache hervor. Als Volkssprache erloschen, blieb das Lateinische im kirchlichen und wissenschaftlichen Leben lebendig und entwickelte sich zum Mittellateinischen und später zum Neulateinischen fort. Als Liturgiesprache wurde das Lateinische im Bereich der protestantischen Kirchen erst im 16. Jahrhundert von den Volkssprachen abgelöst, in der römisch-katholischen Kirche sogar erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts; nach wie vor ist es Amtssprache im Vatikan. Als Sprache der theologischen Wissenschaft und des akademischen Unterrichts hat sich das Lateinische auch im Protestantismus noch bis ins 18. Jahrhundert behauptet. Das Christentum ist also nicht nur, neben seinen Wurzeln im Frühjudentum, ganz wesentlich ein Produkt der hellenistisch-römischen Kultur der Antike. Es hat im Westen die antike Kultur über den Untergang des Imperium Romanum hinaus perpetuiert und weiterentwickelt und der lateinischen Sprache und Literatur über mehr als ein Jahrtausend hinweg einen Nährboden und Heimatraum geboten. Christliche Theologie als Wissenschaft vom Christentum kann daher nur in enger Zusammenarbeit mit den klassischen Philologien (und Altertumswissenschaften überhaupt) betrieben werden, ebenso wie die griechische und lateinische Literaturwissenschaft einen nicht unerheblichen Teil ihrer Textgrundlage dem Christentum verdankt. Die besondere Bedeutung der Antike, ihrer Kultur und Sprache für das Christentum beruht nun aber nicht allein auf der kontingenten historischen Tatsache von dessen Ursprung in der römischen Kaiserzeit. Denn das Christentum ist seiner religionsphänomenologischen Eigenart nach auch substantiell bleibend auf diese Ursprungssituation bezogen. Als eine geschichtliche Religion bezieht es sich nicht abstrakt auf überzeitliche, ewige Wahrheiten, sondern auf ein in der konkreten geschichtlichen Wirklichkeit erfolgtes Offenbarungsereignis – hier das Leben, Sterben und Auferstehen des Jesus von Nazareth. Die Überzeugung vom Handeln Gottes in der Geschichte, die das Christentum in dieser Weise nur mit dem Judentum teilt, für welches der
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Exodus aus Ägypten eine ähnliche Bedeutung hat, verleiht der konkreten historischen Offenbarungssituation eine besondere religiöse Würde. In christlicher Perspektive ist das historische Auftreten Jesu von Nazareth das entscheidende Heilsereignis, und deshalb kann auch von dessen näheren Umständen und Kontexten nicht abgesehen werden. So erklärt sich das auf den ersten Blick befremdliche Faktum, dass Pontius Pilatus, ein wenig bekannter römischer Karrierebeamter von zweifelhafter Integrität, im Apostolischen Glaubensbekenntnis erwähnt wird. Teilweise wurde die religiöse Dignität der historischen Erscheinung Jesu von Nazareth später auch auf den zeitgeschichtlichen Kontext insgesamt übertragen. So entstand im 4. Jahrhundert unter dem Eindruck der Konstantinischen Wende eine regelrechte Reichstheologie, die einen besonderen providentiellen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen Christi und der Herrschaft des Augustus behauptete – Vergils 4. Ekloge wurde jetzt auch gerne auf Christus gedeutet – und im christlichen Römerreich das Ziel der Heilsgeschichte erkennen wollte. Das Christentum der Vormoderne hat die grundlegende Bezogenheit auf das historische Datum des Christusereignisses auch in historische Selbstlegitimierungsstrategien ausgemünzt, die ich unter dem Namen des „historischen Legitimationsgestus“3 zusammenfasse. Danach wird der idealisierten Anfangszeit, der Zeit der Urkirche Christi und der Apostel, normativer Charakter zugemessen, sie wird zum universalen Maßstab für rechtes christliches Glauben und Leben und für rechte kirchliche Praxis erhoben. Im Lauf des 2. Jahrhunderts etablierte das großkirchliche Christentum, das sich selbst als „katholisch“ bezeichnete, in der Abgrenzung vom christlichen Gnostizismus drei Normen der Rechtgläubigkeit, die allesamt letztlich historisch konfiguriert waren. Dies waren der biblische Kanon, zu dem neben den Schriften des Alten Testaments nun auch jene urchristlichen Schriften gezählt wurden, die als Werke von Aposteln oder Apostelschülern galten, die Glaubensregel, die in unterschiedlichen, erst später zu ausführlichen Bekenntnissen ausgebauten Formulierungen den Kernbestand der vermeintlich ältesten apostolischen Verkündigung zusammenfasste, und das Lehramt 3
Wolf-Friedrich Schäufele, „Defecit Ecclesia“. Studien zur Verfallsidee in der Kirchengeschichtsanschauung des Mittelalters (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 213), Mainz 2006, 37–42.
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der in unmittelbarer personaler Sukzession der Apostel stehenden Bischöfe, zu deren Nachweis bald Bischofslisten (re-)konstruiert wurden. Die normative Bedeutung der Übereinstimmung mit der Urkirche im Sinne des historischen Legitimationsgestus hat wesentlich dazu beigetragen, dass der Bezug des Christentums auf die römische Kaiserzeit als seine formative Periode nicht eine bloße antiquarische Reminiszenz, sondern ein essentielles Element seines Selbstverständnisses war. Dies gilt in gebrochener Form sogar noch in der Moderne, wo trotz der Infragestellung des Offenbarungsglaubens seit der Aufklärung der Bezug des Christentums auf die Bibel und damit auf ein Ensemble von Urkunden der hebräischen und griechischen Literaturgeschichte – wenngleich in historischer Brechung – fortbesteht. Auch die bis heute fortdauernde Hochschätzung der patristischen Theologie in Gestalt der Schriften der griechischen und lateinischen Kirchenväter der ersten Jahrhunderte in der römisch-katholischen wie in der protestantischen Theologie verdankt sich der Logik des historischen Legitimationsgestus.
3. Christliche Theologie und klassische Philologie Von den fünf klassischen Teildisziplinen der Theologie – Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte, Systematische Theologie (Dogmatik und Ethik) und Praktische Theologie (Theorie der kirchlichen Praxis) – stehen drei von Hause aus in enger Arbeitsgemeinschaft mit der griechischen und lateinischen Philologie: die alttestamentliche, neutestamentliche und kirchengeschichtliche Wissenschaft. Die alttestamentliche Wissenschaft hat zu ihrem Gegenstand im Wesentlichen die hebräische Bibel. Ursprünglich war freilich nicht diese – der sogenannte „Tanakh“ –, sondern das griechische Alte Testament in der Übersetzung der Septuaginta die Bibel der Christenheit. Seit etwa 250 v. Chr. im ägyptischen Alexandria entstanden, war sie die heilige Schrift des Diasporajudentums gewesen, das sie nach ihrer Rezeption durch die Christen dann aber durch andere griechische Übersetzungen ersetzte. Nicht nur die griechische Sprachgestalt und die hellenisierende Bearbeitung, auch der
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erweiterte, die sogenannten Apokryphen oder deuterokanonischen Schriften einschließende Textbestand unterscheiden die Septuaginta von der hebräischen Bibel. Die maßgebliche Bibel der Westkirche, die lateinische Vulgata, basierte im Wesentlichen auf der Septuaginta. Allerdings griff Hieronymus, der Schöpfer der Vulgata, bei seiner Übersetzungstätigkeit auch schon auch auf den hebräischen Text des Alten Testaments zurück, und seit dem Humanismus und vollends im Protestantismus verlagerte sich das Interesse der alttestamentlichen Exegese auf die hebräische Bibel. Gleichwohl erfreut sich die Septuaginta in der alttestamentlichen Wissenschaft eines anhaltenden Interesses4 – nicht nur, weil sie einen gegenüber der erhaltenen hebräischen Überlieferung vielfach älteren Textbestand repräsentiert. Mit der Bearbeitung der koine-griechischen Septuaginta ergibt sich ein Überschneidungsbereich zwischen alttestamentlicher Wissenschaft und gräzistischer Literaturwissenschaft. Das Neue Testament ist – unbeschadet etwa anzunehmender aramäischer Vorstufen der mündlichen Tradition – als literarische Urkunde ursprünglich in koine-griechischer Sprache verfasst. Dabei handelt es sich um ein Ensemble altchristlicher Schriften, das seit dem 2. Jahrhundert zu einem literarischen Korpus zusammengewachsen ist und dem Alten Testament als zweiter Teil des christlichen Bibelkanons an die Seite gestellt wurde. Die neutestamentliche Wissenschaft kann, von ihren besonderen religiösen Erkenntnisinteressen abgesehen, geradezu als Teilgebiet der gräzistischen Literaturwissenschaft betrachtet werden. Die lateinische Christenheit des Westens hat die Bibel Alten wie Neuen Testaments in lateinischer Übersetzung – seit dem 8. Jahrhundert setzte sich die vor allem auf Hieronymus zurückgehende sogenannte Vulgata durch – gelesen. In der römisch-katholischen Kirche gilt diese seit dem Konzil von Trient (1545–1563) als „authentisch“, das heißt als göttlich inspiriert, 1979 wurde sie durch die revidierte „Nova Vulgata“ ersetzt. Die Vulgata als Dokument der jüngeren lateinischen Literaturgeschichte bildet ein Überschneidungsgebiet zwischen Theologie und Latinistik; allerdings spielt 4
Vgl. zum Beispiel Im Brennpunkt: Die Septuaginta. Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel, hg. von Heinz-Josef Fabry, Siegfried Kreuzer u. a., 3 Bde., Stuttgart 2001–2007.
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sie in der modernen Bibelwissenschaft eine eher geringe Rolle und findet heute vor allem in der Kirchengeschichte Interesse. 5 Die Quellen der kirchengeschichtlichen Wissenschaft sind, soweit das christliche Altertum und das Mittelalter in Betracht kommen, ganz überwiegend in Koine- und byzantinischem Griechisch und in Mittellatein verfasst. Auch die Kirchengeschichte der Reformations- und der Neuzeit hat es noch mit (neu-)lateinischen Quellen zu tun. Gründliche philologische wie literaturwissenschaftliche Kenntnisse aus dem Bereich der Gräzistik wie der Latinistik gehören hier zum elementaren Handwerkszeug der Theologie, ebenso wie umgekehrt die mittel- und neulateinische Philologie auf Erkenntnisse der Kirchengeschichte zurückgreift. Prinzipiell sind die Zeugnisse der älteren griechischen und lateinischen christlichen Literatur auch für die moderne Systematische Theologie noch von Interesse, jedenfalls soweit sie historisch arbeitet. Für die christliche Theologie gilt ähnlich wie für die Philosophie und die Mathematik, dass frühere Wissensbestände eigentlich nicht veralten oder obsolet werden, so dass von ihrer Kenntnis und Vermittlung nicht prinzipiell abgesehen werden kann. Allerdings ist in der Systematischen Theologie in der Praxis von Forschung und Lehre mittlerweile die Arbeit mit Übersetzungen üblich geworden, und der Gebrauch der traditionellen lateinischen Termini ist deutlich zurückgegangen.
4. Erfordernisse und Herausforderungen Die christlichen Theologien sind nach dem Gesagten in besonderer und unaufgebbarer Weise auf gräzistische und latinistische Expertise angewiesen. Für Studium und wissenschaftliche Arbeit sind philologische Kompetenzen im Lateinischen und Altgriechischen unabdingbar. Für das Studium der
5
Vgl. zum Beispiel Thomas Johannes Bauer, Von der Vetus Latina zur Nova Vulgata. Streiflichter zur Geschichte der lateinischen Bibel, in: Bibelübersetzungen in der Geschichte des Christentums, hg. von Andreas Müller und Katharina Heyden, Leipzig 2020, 17–56; Wolf-Friedrich Schäufele, „Nova propemodum translatio“: Luther and the Vulgate, Archiv für Reformationsgeschichte 110 (2019), 7–22.
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katholischen Theologie sind daher Latinum und Graecum, für das der evangelischen Theologie Latinum, Graecum und Hebraicum vorgeschrieben. Hatten die Studierenden diese altsprachlichen Kompetenzen ehedem mehrheitlich bereits am Gymnasium erworben, so bringt heute nur noch rund ein Drittel ein Latinum mit, Altgriechisch kann kaum noch vorausgesetzt werden. Das Grundstudium ist daher bei den meisten Studierenden stark durch das rasche Nachlernen der klassischen Sprachen bestimmt, das eine anspruchsvolle und herausfordernde Aufgabe darstellt. Hier liegt ein praktisch besonders wichtiges Betätigungsfeld für die Arbeitsgemeinschaft zwischen den christlichen Theologien und den klassischen Philologien. Während der Unterricht im Hebräischen traditionell von Lekturen an den theologischen Fakultäten beziehungsweise Fachbereichen selbst wahrgenommen wird, besuchen die Studierenden der Theologie zur Vorbereitung auf das Latinum und Graecum vielerorts die von den klassischen Philologien vorgehaltenen Sprachkurse. Auch dort, wo theologische Fakultäten beziehungsweise Fachbereiche die lateinischen und griechischen Sprachkurse in eigener Regie betreiben, sind es gewöhnlich Lektoren oder abgeordnete Lehrkräfte aus dem Bereich der klassischen Philologien, die diese Aufgaben wahrnehmen. In der Ausbildung von Theologiestudierenden im Griechischen gibt es derzeit Tendenzen, an die Stelle des klassischen Graecums mit seinem Ideal der Platon-Reife spezielle Kurse mit Schwerpunkt auf der Koine und dem Bibelgriechischen zu setzen und so eine frühere Verzahnung von Sprachstudium und biblisch-exegetischer Ausbildung zu erreichen. Ob die Einsparung der geringen Mühe der Umstellung vom attischen Griechisch der klassischen Periode auf die Koine den Verlust an Lesekompetenzen bei der älteren philosophischen, historischen und schöngeistigen Überlieferung aufwiegt, kann bezweifelt werden. Unbeschadet der Frage nach dem Zuschnitt des Sprachunterrichts sind die christlichen Theologien in ihrer Forschung wie im Unterricht allerdings gerade im Bereich des Koine-Griechischen und ebenso des Mittellateinischen auf die Unterstützung und besondere Kompetenz der klassischen Philologien angewiesen. Dabei handelt es sich freilich um Teilgebiete der Gräzistik und der Latinistik, die dort herkömmlicherweise nicht im Zentrum des
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Interesses von Forschung und Lehre stehen und insofern in wissenschaftspolitischen Verteilungskämpfen eine prekäre Stellung haben. Insbesondere die Tendenzen zur Einsparung von Professuren und Ressourcen in der mittel- und neulateinischen Philologie beobachten die christlichen Theologien mit Sorge. Angesichts der aktuellen und zunehmenden Nachwuchsprobleme beim pastoralen Personal gewinnen schon jetzt alternative Zugangswege zum Pfarramt an Bedeutung, die teilweise Abstriche bei den altsprachlichen Kompetenzen machen. Das gilt etwa für die Weiterbildungsstudiengänge zum Master of Theology beziehungsweise Divinity für Studierende mit einem ersten berufsqualifizierenden Studienabschluss in einem anderen Studienfach. Seit 2007 besteht ein derartiger Studiengang am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg, seit 2013 in Heidelberg, ab dem Wintersemester 2020/21 bieten auch weitere evangelisch-theologische Fakultäten solche Studiengänge an. Dabei werden Lateinkenntnisse nicht mehr verlangt,6 lediglich im Griechischen und Hebräischen werden die klassischen Sprachprüfungen, mitunter aber auch nur sogenannte „funktionale Sprachkenntnisse“, die den Umgang mit Grammatik und Wörterbuch ermöglichen, gefordert. Für das grundständige Pfarramtsstudium halten Kirchen und Universitäten dagegen einstweilen an den hergebrachten Sprachanforderungen im Lateinischen und Griechischen fest. Allerdings wird man damit rechnen müssen, dass mit zunehmendem Nachwuchsmangel Rufe nach einer ‚Entwissenschaftlichung‘ und ‚Verfachhochschulung‘ des Theologiestudiums laut werden, die auch auf Kosten der altsprachlichen Kompetenzen gehen dürften. Demgegenüber gilt es festzuhalten, was Martin Luther 1524 den Ratsherren der deutschen Städte in ihrer Eigenschaft als Schulträger ins Stammbuch schrieb:
6
Rahmenordnung des Evangelisch-Theologischen Fakultätentages vom November 2018: http://evtheol.fakultaetentag.de/PDF/Rahmenstudienordnung%20Master%20of%20Theological%20Studies.pdf (letzter Abruf am 24.8.2020).
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Wir wollen uns das gesagt sein lassen: Ohne die Sprachen werden wir das Evangelium kaum bewahren können. Die Sprachen sind die Scheiden, in denen dieses Messer des Geistes steckt. Sie sind der Schrein, in den man dieses Kleinod legt. Sie sind das Gefäß, in dem man diesen Trank aufbewahrt. Sie sind die Kammer, in der diese Speise lagert. […] Würden wir das übersehen und – was Gott verhüten möge – die Sprachen aufgeben, würden wir nicht nur das Evangelium verlieren, sondern es würde soweit kommen, dass wir weder lateinisch noch deutsch richtig reden oder schreiben könnten.7
7 Martin Luther, An die Ratsherren aller Städte im deutschen Land, dass sie christliche
Schulen errichten und unterhalten sollen (1524), in: Martin Luther, Deutsch-Deutsche Studienausgabe. Bd. 3: Christ und Welt, hg. von Hellmut Zschoch, Leipzig 2016, 357–405, hier 379, Z. 23–33.
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Vom Kampf der Mediziner mit den „alten“ Sprachen Irmtraut Sahmland & Gerhard Aumüller Anamnese Ausschnitt aus einem der von Studierenden der Medizin gefürchteten Anatomie-Testate während des Präparierkurses an der menschlichen Leiche. Der Prüfer: „Welches Organ ist das hier in der Mitte des Oberbauchs und welche Bedeutung hat es?“ Studentin: „Das ist der Pankreas beziehungsweise die Bauchspeicheldrüse, sie sekretiert Verdauungsenzyme und außerdem Hormone, und wenn die fehlen, bekommt man eine Diabetes.“ Prüfer: „Es heißt ‚das Pankreas‘, und ‚sezernieren‘ und ‚der Diabetes‘; Sie hatten doch einen Terminologie-Kurs im ersten Semester, was haben Sie denn da gelernt?“ Studentin: „Ich hatte kein Latein auf der Schule, deshalb habe ich kaum etwas behalten, weil wir immer wieder Vokabeln, Deklinationen und Endungen üben mussten. Ich habe ein Praktikum auf der Chirurgie in einem englischen Krankenhaus gemacht, die Medizinstudenten hatten es dort viel einfacher, die haben ‚hamstring muscles‘ gesagt und nicht ‚ischiocrurale Muskulatur‘, oder ‚lesser curvature of the stomach‘ und mussten nicht erst ‚Curvatura minor ventriculi‘ lernen.“ Natürlich ist dieses fiktive Gespräch überspitzt, aber es weist die Probleme auf, die der fehlerhafte Gebrauch des Lateinischen und Griechischen in der Medizin mit sich bringt und der keineswegs auf die Medizinstudenten beschränkt ist, sondern auch viele ausgebildete Ärztinnen und Ärzte betrifft. Die folgenden Erfahrungsberichte und Überlegungen stellen die persönliche Sicht der Verfasser, Medizinhistorikerin beziehungsweise emeritierter Anatom, dar und können nicht verallgemeinert werden. Ganz bewusst wurde hier der übliche medizinische Untersuchungsgang als Gliederungsschema
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gewählt, um auf die Wurzeln der medizinischen Kommunikation im Griechischen und Lateinischen zu verweisen, die nun durch neue Entwicklungen wie die massive Zunahme englischer Fachausdrücke und insbesondere auch deren Abkürzungen überwuchert werden.
Das Erlernen der Fachsprache im Kursus der Medizinischen Terminologie Die Grundlagen zu den rund 170.000 medizinischen Fachbegriffen werden den Studierenden der Medizin im ersten Semester im sogenannten Kursus der Medizinischen Terminologie vermittelt. Die Teilnahme von Medizinern und Zahnmedizinern wird an den meisten Fakultäten differenziert, insbesondere wegen der Vorkenntnisse im Lateinischen. War bis Anfang der sechziger Jahre das Große Latinum noch Voraussetzung für die Zulassung zum Medizin-Studium, so nimmt in den letzten fünfzig Jahren die Zahl derer zunehmend ab, die Grundkenntnisse im Lateinischen ausweisen. Ein wesentlicher Bestandteil des Kurses ist dabei die Vermittlung der weitaus überwiegenden lateinischen Nomenklatur anatomischer Bezeichnungen, oft in einem gewissen Konkurrenzverhältnis zu den gleichzeitigen anatomischen Einführungsvorlesungen beziehungsweise Praktika („Präparierkurs“ an der Leiche). Beim Vergleich der Skripten der Terminologie-Kurse verschiedener Universitäten fällt der erhebliche Unterschied im Anteil der Latein-Grundkenntnisse (Grammatik, zumeist nur Deklinationen, Prä- und Suffixe, Vokabeln) und der Umfang an griechischen Vokabeln (durchweg nur in lateinischer Umschrift) einerseits auf und andererseits der Einschluss englischer Terminologie, gelegentlich auch in der Version lateinischer-deutscher-englischer Begriffe.
Klinischer Sprachgebrauch Die Problematik des Kurses der Medizinischen Terminologie (der sich wegen des vielen Vokabel-Lernens bei den Studierenden keiner großen Beliebtheit erfreut) wird besonders im klinischen Sprachgebrauch deutlich. Bedingt
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durch den ständigen Zeitdruck und das Erfordernis kurzer eindeutiger Informationsübermittlung überwiegen hier zwischen ärztlichem und nichtärztlichem Personal sehr häufig Abkürzungen, englische Bezeichnungen und (oft hybride) Neologismen. Sind Kurzbezeichnungen wie „KHK“ (koronare Herzkrankheit) noch einigermaßen verständlich, wird es bei fachspezifischen Abkürzungen wie „RR“, das heißt Blutdruckmessung nach Riva-Rocci, schon schwierig. Sprach man früher beispielsweise vom „Morbus Werlhof“ (Blutungsneigung durch verminderte Blutplättchenzahl), so ist die aktuelle Bezeichnung „idiopathische thrombozytopenische Purpura“, und natürlich wird dieses Wortungetüm mit ITP abgekürzt. In einem Extrembeispiel für eine Hybridbildung wird das Eponym, in diesem Fall der Name des Entdeckers des Ausführungsgangs der Bauchspeicheldrüse, Johann Georg Wirsung (1589–1643), verwendet, um eine operative Verbindung mit dem Jejunum (der lateinischen Bezeichnung des oberen Dünndarmabschnitts, Leerdarm) zu kennzeichnen: „Jejuno-Wirsungostomie“. Wobei „stomie“ dem griechischen Begriff „Anastomose“ für die Verbindung zwischen zwei Gefäßen entlehnt ist. Die Beispiele ließen sich mühelos erweitern.
Diagnose Der Versuch einer deutenden, doch möglichst wertfreien Bestandsaufnahme gestaltet sich nicht einfach. Folgende Überlegungen mögen jedoch ein Beitrag sein, um die Diagnose zu sichern und daraus einen Therapievorschlag zu entwickeln. Die Wissenschaftssprache war mindestens bis ins 17. Jahrhundert hinein Latein. Das historisch gewachsene Wissen und Denken war in dieser Sprache aufgehoben. Die Ausbildung einer medizinischen Fachsprache erfolgte wie selbstverständlich im Bezugsfeld dieser alten Sprachen. Dabei kam dem Anatomen Andreas Vesal (1514–1564) eine große Bedeutung zu, indem er sie unter Verzicht auf andere sprachliche Einflüsse wie das Hebräische oder Arabische dezidiert auf die Basis des Griechischen und Lateinischen zu stellen suchte. Folgerichtig wurde dieses Instrument sprachlicher und schriftsprachlicher Verständigung weiterentwickelt, indem neue Bezeichnungen
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für neue anatomische Entdeckungen, Erkenntnisse und Sachverhalte aus diesen Sprachen (Altgriechisch, Latein und Mittellatein) rekrutiert wurden, zumal letzteres nach wie vor die Wissenschaftssprache darstellte, so dass Ärzte und Medizinstudenten sich in einer ihnen sehr geläufigen Sprache bewegten. Selbst im 19. Jahrhundert, als diese sprachliche Tradition längst zugunsten der Landessprachen aufgebrochen war, als zugleich aber die nun naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin einen enormen Wissensprogress erzielte und eine Menge neuer Bezeichnungen gebraucht wurde, hielt man daran fest, die gewachsene Fachsprache fortzuschreiben.1 Es sei nur erinnert an einige sehr wichtige Errungenschaften dieser Zeit, die Anästhesie (Ausschalten der Wahrnehmung bei chirurgischen Eingriffen), die Antisepsis (Maßnahmen gegen Keime („Fäulnis“) / Desinfektion) und wenig später die Asepsis (Keimfreiheit). Aber auch Krankheitsbegriffe wie Tuberkulose (wörtlich: eine durch kleine höckerförmige [im Mikroskop] Erreger hervorgerufene Erkrankung) wurden geprägt und orientierten sich an der fachsprachlichen Tradition. Das in den 1920er Jahren entwickelte Verfahren der „Blutwäsche“ zur künstlichen Reinigung des Blutes von harnpflichtigen Substanzen bei Niereninsuffizienz wurde als Hämodialyse bezeichnet. Mit der Entdeckung der körpereigenen Botenstoffe wurden diese als Hormone (anstacheln) benannt, und es bildete sich das Fachgebiet der Endokrinologie aus. In allen Bereichen, so zeigen diese wenigen Beispiele, fühlte man sich bei Wortneuschöpfungen dem sprachlichen Fundament verbunden, und so stand ein leistungsfähiges, gleichzeitig immer komplexer werdendes Instrumentarium der sicheren Kommunikation in der Medizin zur Verfügung, das nun aber der Einführung und der Einübung bedurfte, da es – jenseits des enorm zunehmenden Umfangs – längst zu einem fremden System geworden war. So waren bereits seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts Lexika und Lehrbücher für medizinische Terminologie entstanden. 2 In der Approba-
Vgl. Axel Hinrich Murken, Lehrbuch der Medizinischen Terminologie. Grundlagen der ärztlichen Fachsprache, 4. Aufl., Stuttgart 2003, 16. 2 Vgl. Murken (wie Anm. 1), 8–10 (Vorwort zur 3. Aufl. 1994). 1
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tionsordnung von 1970 wurde für die Studierenden der Human- und Zahnmedizin ein verpflichtender Kurs für Medizinische Terminologie verankert3 und in den seitdem erfolgten Novellen fortgeschrieben. 4 Seit den letzten Jahrzehnten ist eine deutlich zunehmende Entfremdung von dieser Sprach- und Wissenstradition zu beobachten. In der heutigen Schulwelt mit ihren modularisierten Kursen geht es auch um zielgerichtete Optimierung: Für ein Medizinstudium benötigt man angesichts des Numerus clausus einen möglichst tollen Abi-Durchschnitt, der am besten bei 1,0 oder gar darunter (!) liegen sollte, um ohne Wartezeit einen Studienplatz zu erlangen.5 Mit Blick auf ein Medizinstudium empfiehlt es sich zudem, die naturwissenschaftlichen Fächer, insbesondere Biologie und Chemie, in den Abschlussklassen als Leistungskurse zu belegen; Sprachen zu kultivieren, kann sich im Hinblick auf Auslandsaufenthalte als günstig erweisen. – Aber wozu braucht man ‚alte‘, ‚tote‘ Sprachen? An der Hochschule angekommen, treffen die Medizinstudierenden auf ein völlig überladenes Studium, das ihnen am Ende eines Semesters nicht selten 5–7 Klausuren abverlangt. Für zahlreiche Studierende, die aus anderen Kulturkreisen stammen, stellt die Aneignung des Deutschen noch eine erhebliche zusätzliche Herausforderung dar. Um dieses Pensum – möglichst in der Regelstudienzeit – zu bewältigen, ist vor allem eine zeitökonomische Optimierung erforderlich. Da bleiben keine Ressourcen mehr übrig, um über den gesetzten Rahmen hinaus an Veranstaltungen des eigenen Fachbereichs teilzunehmen, geschweige denn die anderer Fachbereiche zu besuchen und so über den engeren Bereich des eigenen Faches hinauszugelangen. Im Zuge der Internationalisierung und Globalisierung machen die Studierenden zudem die Erfahrung, dass sie es zunehmend mit englischsprachigen Vgl. Murken (wie Anm. 1), 9. In der ab 2020/2021 gültigen neuen Approbationsordnung für Zahnmedizin wird diese Anforderung dahingehend noch verschärft, dass – wie in der Humanmedizin – unabhängig vom Nachweis erworbener Lateinkenntnisse der Kurs für alle verpflichtend ist. 5 Die Vergabe eines gewissen Kontingents an Studienplätzen durch Auswahlgespräche, bei denen andere Kriterien als die erzielten Abiturnoten zählen, ist organisatorisch sehr aufwändig und findet nur an wenigen Standorten statt. 3 4
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Lehrmaterialien zu tun haben; hinzu kommt die sich verstärkende Tendenz, für Konferenzen und Kongresse Englisch vorzugeben und gar den universitären Unterricht in Englisch abzuhalten. Unter diesen multifaktoriellen Voraussetzungen wird der Kursus für medizinische Terminologie auf einen Vokabelkurs reduziert – in dem vermeintlichen Vorverständnis, dass hier Termini (Nomina) mit einzelnen Sachverhalten korrespondieren, indem sie sie bezeichnen, diese Vokabeln aber mehr nicht zu bieten haben oder gegebenenfalls weitere Zusammenhänge völlig ohne Belang sind. Das Erlernen und sich-vertraut-Machen mit der Fachsprache wird angepasst an den Studienalltag, in dem ein anhaltend hohes Maß an Daten und Fakten zu bewältigen und aufzunehmen ist – was sicher oftmals auch recht losgelöst von einem tieferen Verständnis geschieht. Diese zeitökonomische Optimierung äußert sich zum Beispiel in einer gewissen Ungeduld, wenn exemplarisch Erläuterungen zu weiteren Hintergründen angeboten werden, oder durch Nachfragen, welche Teile des Skriptes denn nun vorzugsweise klausurrelevant sind und wie man sie am besten – und das heißt oft am zeiteffektivsten – lernen solle. Von einer sehr reservierten, ja ablehnenden Haltung gegenüber einem Kurs, der die Grundlagen einer Hilfswissenschaft zu vermitteln hat, zeugen immer wieder Stimmen, die meinen, diese Veranstaltung sei von randständiger Bedeutung und beanspruche unnötig viel Zeit, oder die sie platterdings für gänzlich verzichtbar erklären, denn die Vokabeln lerne man doch so nebenbei. Schon mit einem leicht mahnenden Unterton formuliert Murken: „Eine so lange tradierte Fachsprache, wie sie die medizinische Terminologie darstellt, sollte man niemals zur trockenen Übereinkunft werden lassen, deren Vokabeln man bloß auswendig lernt. Die Begriffe sind an die Kulturgeschichte zweier großer Sprachen gebunden, die die abendländische Kultur erst aus der Taufe hoben.“6 Neben der semantischen Ebene der unmittelbaren Bedeutung und Bezeichnung eines Begriffs, einer „Vokabel“, die das Bezeichnete sprachlich präzise fassen und von anderen bezeichneten Sachverhalten abgrenzt, beinhaltet die medizinische Fachsprache zugleich eine weitere Dimension von
6
Murken (wie Anm. 1), 26.
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Bedeutung. Sie ist dadurch bedingt, dass die Termini im Kontext der Suche nach sprachlicher Fixierung neuer Erkenntnisse entstanden sind. Auf diese historischen Situationen verweisen die Begriffe zurück, und sie speichern damit eine Momentaufnahme in der Chronologie der geschichtlichen Entwicklung. Die wissenschaftsgeschichtliche Dimension der „Vokabeln“, in der womöglich längst überwundene Theorien und Praktiken aufbewahrt werden, geht unwiederbringlich verloren, wenn man diese Zusammenhänge nicht zur Kenntnis nimmt und nur sehr vordergründig fragt, was ein Fachterminus in unserer Sprache meint. Wird diese Ebene a priori nicht zugelassen, kann es dazu führen, dass er nicht wirklich verstanden werden kann. So muss zum Beispiel unverständlich bleiben, weshalb der sogenannte Grüne Star als Glaukom bezeichnet wird, der Fachterminus für den Grauen Star – Katarakt – aber nicht in analoger Weise und differenzierend die Farbe grau oder weiß enthält. Abgesehen von der großen zeitlichen Differenz beider Termini bezeichnet Katarakt die Art und Weise, wie man traditionell den Grauen Star operativ behandelt hat, nämlich, indem man die getrübte Linse in den unteren Bereich des Auges „hinabstürzen“ ließ. 7 Ein anderer Fachterminus, dessen ursprüngliche Bedeutung vordergründig verborgen bleibt, ist Hysterie. Erst mit der Information, dass ein hysterischer Zustand auf pathologische Vorgänge der Gebärmutter zurückgeführt wurde, wird verständlich, dass Hysterie – übrigens bis heute – weiblich konnotiert ist. Um ein drittes Beispiel zu nennen: Ein Choleriker, dem „die Galle überläuft“ – ein umgangssprachlich durchaus geläufiger Ausdruck –, verweist zurück auf die antike Temperamentenlehre als Erklärungshintergrund. Diese wenigen Beispiele veranschaulichen, dass zahlreichen „Vokabeln“ neben ihrer semantischen Funktion eine besondere Sinnhaftigkeit innewohnt und dass sie keineswegs beliebige sprachliche Zeichen sind.
7 Veranschaulicht
in einer Miniatur aus einem Manuskript von Salerno, Codex latinus Sloane, 12. Jh.: „albule oculorum sic exxucucuantur“; vgl. Heinz Schott, Die Chronik der Medizin, Dortmund 1993, 88.
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Gegen ein stures Vokabellernen bezieht auch Karenberg Stellung, obgleich sein Lehrbuch mit dem Titel Fachsprache Medizin im Schnellkurs8 fataler Weise die von Effizienz geleitete Erwartungshaltung der Medizinstudierenden zu bedienen scheint. Er argumentiert jedoch in eine andere, deutlich pragmatische Richtung: Die geschätzt etwa 200 000 Fachausdrücke ließen sich auf eine sehr überschaubare und relativ kleine Zahl von 300 bis 500 sich wiederholenden Elementen zurückführen. Es gehe also in der Aneignung der medizinischen Terminologie nicht in erster Linie um das Auswendiglernen von „Vokabeln“; sehr viel wichtiger sei „der Erwerb der Fähigkeit, viele Fachwörter mit Hilfe der in ihnen enthaltenen ‚Wortbestandteile‘ dem Sinn nach richtig zu erfassen.“9 Auf einer inhaltlichen Ebene durchaus pragmatisch war etwa bereits die Pariser Nomenklaturkommission 1955 vorgegangen, indem sie unter anderem festlegte, dass anatomische Strukturen mit topographisch engem Bezug ähnlich bezeichnet werden sollten (so zum Beispiel „Arteria femoralis“ – „Vena femoralis“) und dass auf Eponyme zugunsten von Termini mit einem präziseren Informationsgehalt verzichtet werden sollte (beispielsweise statt „Tuba Eustachii“: „Tuba auditiva“; statt „Tuba Fallopii“: „Tuba uterina“). Damit wurde das Potenzial der medizinischen Fachsprache hinsichtlich ihrer Primärfunktion optimiert – allerdings unter Preisgabe ihres historischen Gehalts, den die Eponyme repräsentierten, der aber angesichts dieser Verbesserungsmöglichkeiten der Fachsprache als nachrangig eingestuft wurde. Sowohl dieser Ansatz als auch ein Pragmatismus, der eine solide Einarbeitung in das Betriebssystem der Fachsprache (Terminologie) fordert, kommt letztlich der Effizienz zugute. Das Ziel ist der Erwerb der sicheren Beherrschung eines unverzichtbaren Hilfsmittels zur fachlichen Kommunikation in der Medizin, deren äußerste Präzision und absolute Zuverlässigkeit prinzipiell gewährleistet sein müssen.
Axel Karenberg, Fachsprache Medizin im Schnellkurs, 2. erw. Aufl., Stuttgart 2007; 5. überarb. Aufl., Stuttgart 2018. 9 Karenberg (wie Anm. 8), [1]. 8
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Gemessen an diesem Erfordernis – das gerade die ‚toten‘ Sprachen in besonderer Weise erfüllen – offenbart sich ein seltsames Ungefähr in den Lösungsangeboten für manche Klausurfrage zum Abschluss eines Kurses. Neben völlig abwegigen Antworten10 wurde etwa die „Endoskopie“ als „Darmspiegelung“ verstanden, was aber tatsächlich eine Enteroskopie wäre (und eine mögliche Form der übergeordneten Bezeichnung Endoskopie darstellt). Eine „Homöostase“ wurde als „Blutstau“ übersetzt, was allenfalls eine Hämostase wäre. Eine „Bronchiolitis“ ist eine Entzündung der kleinen Bronchialäste, aber bezeichnet keinen „Stein in den Bronchien“; eine Konkrementbildung hier würde als „Broncholith“ beziehungsweise „Broncholithiasis“ bezeichnet. Zeigen diese Beispiele, dass die Fachsprache nach einem absolvierten Kurs natürlich noch nicht perfekt beherrscht wird – und dieses ist auch nachzusehen –, so zeigen sie aber auch, dass es unverzichtbar ist, durch eine solide Einführung in das Betriebssystem ein Bewusstsein für das Präzisionspotenzial der medizinischen Fachsprache zu vermitteln. Wohin dieses Ungefähr im Umgang mit medizinischen Fachtermini infolge nicht ausreichender Sensibilisierung führen kann, zeigt das Beispiel des inzwischen als „Kuschel“-, „Sozial“- oder „Glückshormon“ bezeichneten Ocytocin. Dieser Begriff wurde weislich gewählt, sollte er doch nicht nur ein Hormon benennen, sondern zugleich auch dessen nach damaligem Erkenntnisstand dominante Wirkung angeben. Da das Hormon die Wehentätigkeit fördert, beschleunigt es die Geburt (ocy-: schnell, tocos: Geburt). Nun mag die Schreibweise: Oxytocin allenfalls noch angehen, da „oxy-„ ebenfalls „rasch, schnell“ bedeuten kann, doch wird dieses Adjektiv in der Fachsprache vorzugsweise in der Bedeutung „spitz, scharf“ oder „sauer“ verwendet; 11 von geradezu fahrlässiger Ignoranz zeugt allerdings die Schreibweise: Oxytoxin. 12 Dazu zählt etwa, „Hypophyse“ als eine „Unterfunktion im Wachstum“, „Peritonitis“ als eine „Entzündung einer herumlaufenden Spannung“ und einen „Subileus“ als einen „unteren Darmabschnitt“ zu deuten. 11 Vgl. Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch, 258. Aufl., Berlin/New York 1998, 1180– 1181. 12 Markwart Michler und Jost Benedum, Einführung in die Medizinische Fachsprache. Medizinische Terminologie für Mediziner und Zahnmediziner auf der Grundlage des Lateinischen und Griechischen, 2. korr. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1981, 73: „Oxytocin (oft fälschlicherweise mit oxy- = sauer und -toxin = Gift in Zusammenhang gebracht. Der 2. Wortbestandteil leitet sich jedoch richtig von tokos = 10
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Jenseits des benannten latenten Effizienzdrucks sind darüber hinaus Phänomene des rasanten Wandels in unserer Zeit geltend zu machen dafür, dass die Auseinandersetzung der Medizinstudierenden mit ihrer Fachsprache erschwert wird. Da ist das unaufhaltsame Vordringen der Anglizismen zu nennen. Zwar suchte die Gesellschaft für deutsche Sprache in Darmstadt noch vor wenigen Jahren hinsichtlich einer drohenden Überformung der deutschen Sprache zu beruhigen; für die Medizin sind diese Entwicklungen jedoch im Zuge der Globalisierung systemisch, und sie warten – sicher auch im Zuge fortschreitender Spezialisierung – mit einer Fülle von Abkürzungen auf, die wiederum effizient und in einer eingeschränkten Community fachlicher Spezialisten auch eindeutig sein können, aber dennoch irritierend wirken müssen. So ist für das Fachgebiet der Otorhinolaryngologie im Deutschen die Abkürzung HNO geläufig; im angloamerikanischen und damit internationalen Sprachgebrauch wird die Abkürzung ENT verwendet („ear-nose-throat-surgery“ – ein Kürzel, das übrigens im Unterschied zum deutschen die ursprüngliche Abfolge der Wortstämme beachtet). Die digitale Aufbereitung von Informationen verleitet zu deren nur sequentieller Wahrnehmung. So legt insbesondere der Pschyrembel traditionell sehr großen Wert darauf, etymologische Ableitungen und die einzelnen Wortbestandteile eines Fachterminus mitzuliefern – und hebt sich von anderen Lexika, etwa Roche, sehr positiv ab. Wird allerdings ein Begriff in der digital verfügbaren Version abgerufen, dann bleibt – im Unterschied zum Nachschlagen in der Papierausgabe – ausgeblendet, in welchem Umfeld er steht und wie er mit den ähnlichen Begriffen zusammenhängt. Selbst die neue deutsche Rechtschreibung zeitigt in Bezug auf die Fachsprache problematische Effekte, wenn sie nun etwa zulässt, dass das Wort Chirurg künftig auch Chi-rurg getrennt werden kann.13 Die sinnhafte Abfolge von Wortbestandteilen, nach der sich ein Begriff zuverlässig er-
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Geburt her. Besser, weil unmißverständlich, sollte die Form ‚Ocytocin‘ gewählt werden.)“. Vgl. Die neue deutsche Rechtschreibung, verfasst von Ursula Hermann, völlig neu bearb. und erw. von Lutz Götze, Gütersloh 1996, 279.
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schließen ließe, wird dadurch geradezu konterkariert und anderen Prinzipien, die hier nicht zu bewerten sind, geopfert. Neben diesen vielfältigen Auswirkungen des rasanten Wandels unserer Zeit auf die medizinische Fachsprache lassen sich auch völlig anders gelagerte Auffälligkeiten beobachten. Auch sie können wiederum als Diskrepanzen beschrieben werden. Ist einerseits der schnelle Rhythmus etwa von Veröffentlichungen aktueller Forschungsergebnisse, woran gemessen Lehrbücher womöglich bereits überholtes Wissen transportieren, eine ganz moderne und vor allem Internet-gestützte Erfahrung, so findet sich zugleich der Rückgriff auf alte historische Referenzen. Große Krankenhausunternehmen führen den Namen des Paracelsus oder den des Asklepios in ihrer Konzernbezeichnung, was offenbar im Sinne einer positiven Bezugnahme auf die geschichtliche Tradition verstanden werden soll. Tatsächlich bleiben diese Zitationen allerdings sehr oberflächlich: In den Internetauftritten sucht man – was doch eigentlich erwartet werden könnte – sowohl nähere inhaltliche Ausführungen als auch gar spezifische Erläuterungen zu dieser jeweils getroffenen Namens(aus)wahl vergeblich. Augenscheinlich gibt es keine irgendwie geartete tiefere Verpflichtung gegenüber dem Heilgott Asklepios14 (will man den Bezug nicht auf die Ausbreitung dieses Heilkultes in einem Netz von Asklepios-Heiligtümern im Mittelmeerraum projizieren) oder gegenüber Paracelsus (1493/1494–1541), der im 16. Jahrhundert als ein sehr eigenwilliger Geist gegen die historischen Autoritäten auftrat, dessen Denken sehr religiös verwurzelt war und der unter anderem eine chemiatrische Richtung in der Medizin begründete. 15 Auf phänomenologischer Ebene ähnlich mutet zunächst der bei aktuellen medizinischen / medizinethischen Themen schnelle, geradezu notorische, aber vorzugsweise emblematische Verweis der Medizinstudierenden auf den Hippokratischen (gerne auch: Hypokratischen [sic!]) Eid an. Auch hier liegt eher ein diffuses als präzises Verständnis über einen sehr alten Text vor,
Vgl. Ferdinand Peter Moog, Asklepios (lat. Aesculapius), Asklepioskult, in: Enzyklopädie Medizingeschichte, hg. von Werner E. Gerabek u. a., Berlin/New York 2005, 112–114. 15 Vgl. Udo Benzenhöfer, Paracelsus, in: Enzyklopädie Medizingeschichte (wie Anm. 14), 1101–1105. 14
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verbunden mit der Vorannahme, dass dort wichtige Grundsätze ärztlichen Handelns quasi ahistorisch und für alle Zeit gültig kodifiziert worden seien. Leven hat auf die Gefahren solcher falschen Zuschreibungen, neben denen des Traditionalismus und Präsentismus insbesondere des Essentialismus, hingewiesen. 16 Der sogenannte Hippokratische Eid, der sicher nicht von ihm selbst verfasst wurde, war tatsächlich eine deontologische Selbstverpflichtung einer Gruppe von Ärzten, die sich damit gegen damalige herrschende Praktiken positionierten. Der Eid werde seit langem so gut wie nicht mehr abgelegt, „denn er gilt offenbar als Symbol einer antiquierten Berufsauffassung, die in das Museum der Medizingeschichte gehört und mit den komplexen moralischen Herausforderungen und Konflikten der gegenwärtigen Praxis von Ärzten und Ärztinnen nicht Schritt halten kann.“ 17 Unbestritten ist, dass dieser Eid in einigen Teilen veraltet ist, in anderen an die gegenwärtigen Umstände angepasst werden müsste. 18 Umso bemerkenswerter erscheint der unter den Medizinstudierenden weit verbreitete Wunsch, einen Eid zu leisten, was derzeit an etwa der Hälfte der Fakultäten nach Absolvierung des Studiums im Rahmen eines Festaktes erfolge. 19 Augenscheinlich offenbart sich hier ein neuer Bedarf der Selbstversicherung über die Tugenden und Werte ärztlichen Handelns, das sich am Wohle des Patienten auszurichten hat, angesichts einer Ökonomisierung des Gesundheitswesens, deren Notwendigkeit keineswegs bestritten wird, die aber weitergehend in die Domaine genuiner ärztlicher Arbeit überzugreifen und sie zu beeinflussen droht. Eine eidliche Verpflichtung auf den Kern ärztlichen Handelns wäre eine Gegen- und Abwehrreaktion zu dessen Schutz. „Ein Eid dient der Verteidigung von einem professionellen Ethos gegen Erwartungen ökonomischer
Vgl. Karl-Heinz Leven, Antike „Medizinethik“. Der Arzt: ein „Diener der Kunst“, Deutsches Ärzteblatt 115.24 (2018), 470–472. 17 Jean-Pierre Wils und Ruth Baumann-Hölzle, Eid und Ethos. Auf dem Weg zu einem neuen Gelöbnis für Ärzte und Ärztinnen, (Ethik im Gesundheitswesen, Bd. 2), Baden-Baden 2018, 9–10. 18 Vgl. Wils/Baumann-Hölzle (wie Anm. 17), 10–11. 19 In der Regel sei dies die aktuelle Fassung des Genfer Gelöbnisses. Vgl. Wils/Baumann-Hölzle (wie Anm. 17), 10, unter Bezug auf einen Beitrag in Die Zeit vom 12. November 2015, 39–40. 16
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und politischer Natur, die den moralischen Standards eines Berufs widersprechen. Indem ein Eid auch tatsächlich geleistet wird, realisiert er die Selbstverpflichtung eines Mitgliedes der Berufsgruppe auf jene Standards. Weil ein Eid Teil einer organisatorisch verfassten Profession ist, genießt die Person, die unter Eid steht, den Schutz dieser Organisation beziehungsweise die Solidarität ihrer Mitglieder. Und die eidesstattlich verfasste Organisation stellt ein mächtiges Bollwerk gegen berufsfremde Übergriffe dar.“20 Die Rückbesinnung auf eine für obsolet gehaltene berufsständische Tradition, die bis auf den sogenannten Hippokratischen Eid zurückreicht, und deren aktive Wiederbelebung dient in Form und Inhalt der Sicherung und Neukonstituierung einer ärztlichen Community, die sich von ihr fremden Einflüssen bedrängt sieht.
Therapie Ein möglicher Therapieansatz könnte eine Kombination von Initiativen sein, die auf verschiedenen Ebenen greifen. Im Bereich der Schule wäre sicher jenseits der bildungspolitischen Länderhoheit eine Vereinheitlichung der Bildungsstandards zu wünschen. Hier sollten die klassischen Sprachen eine neue Chance erhalten, indem sie neue Inhalte mit aufnehmen, um das Image der ‚alten‘, ‚toten‘ Sprachen zu überwinden. Das jahrelang vorgebrachte Werbeargument, das Latein eigne sich insbesondere, um das logische Denken zu schulen, verfängt da nicht. Vielleicht ließe sich aber das Thema „Fachsprachen“ als ein Modul in den Unterricht integrieren, in dem auf den Sinn und Zweck und die historische Entwicklung solcher speziellen Wissenschaftssprachen eingegangen und damit zugleich auch ein stückweit die weitgehend verlorene geistesgeschichtliche Rahmung aufgefangen werden könnte. Eine solche Unterrichtseinheit könnte sich als
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Jean-Pierre Wils, Ärztliches Ethos. „Zeit für einen neuen Eid“, Deutsches Ärzteblatt 114.8 (2017), 170–173. Inzwischen hat die Arbeitsgruppe Stiftung Dialog Ethik einen Vorschlag zu einem neuen Eid für Ärzte und Ärztinnen erarbeitet, der weithin Zustimmung gefunden hat; abgedruckt in Wils, 172.
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ein Propädeutikum zur praktischen Vorbereitung auf ein Studium präsentieren und so die Attraktivität steigern. An den Universitäten wäre – hier können wir nur für das Medizinstudium sprechen – zu überdenken, ob ein derartig überladenes Lernpensum wirklich sinnvoll ist, um eine gute Basis für zukünftige gute Ärzte und Ärztinnen zu legen. Die anhaltende Spezialisierung mit ihren immer diffizileren und differenzierteren Inhalten – für die jeder dankbar ist, wenn er medizinische Hilfe benötigt – muss sich aber gleichwohl nicht zwingend auch in der Ausbildung der zukünftigen Mediziner abbilden. Brauchen wir Hochschulabsolventen, die sich mit hochspeziellen Sachverhalten auseinandergesetzt haben, die Krankheitsbilder gelernt haben, die in der Praxis nicht regelhaft vorkommen, sondern durchaus selten begegnen? Bezeichnenderweise wird aktuell gerade eine Lanze für die Allgemeinmedizin an den Universitäten gebrochen, da man merkt, dass es hier mittlerweile ein erhebliches Defizit gibt. Dieses Fach genoss bislang bei den Medizinstudierenden in der Konkurrenz zu anderen Fächern kein sehr hohes Ansehen, und dies soll revidiert werden, um die Regelversorgung in der Fläche sicherzustellen, wo Allgemeinarztpraxen keine Nachfolger mehr finden und schließen müssen. Natürlich sind auch hier die Zusammenhänge komplex und sollen keineswegs unangemessen vereinfacht werden. Aber ein solcher Korrekturansatz wäre auch in anderen Bereichen zu diskutieren, um neue Freiräume für selbstbestimmtes Lernen zu schaffen und um Zeit zu gewinnen für das, was einen zukünftigen Arzt jenseits des vorgegebenen Lernpensums eine sichere Fundierung für seine Berufspraxis erwerben lässt. Was den Kursus für medizinische Terminologie betrifft, so könnte dieser zukünftig wieder mehr auf an den Schulen geleistete Vorarbeiten zurückgreifen und das Image eines verzichtbaren Vokabelkurses überwinden. Diese Veranstaltung könnte ihrerseits Freiräume gewinnen, um sich den vielfältigen Einflussnahmen auf die Fachsprache zu stellen, sie zu thematisieren und kritisch zu reflektieren. Ziel sollte es sein, nicht die alte, reine Lehre zu verfechten, sondern den Kurs auf der Basis einer kritischen Auseinandersetzung auf den aktuellen Sprachgebrauch hin zu orientieren.
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Prognose Die vielfältigen und binnen kurzer Zeit rasant fortschreitenden Entwicklungen unserer Zeit werden anhalten. Die Spezialisierung, die der Komplexität des erlangten und beständig wachsenden Wissens geschuldet ist, wird ein sprachlich sicheres Terrain nur innerhalb einer jeweiligen Teil-Community ermöglichen.21 Der Einsatz von Akronymen und Abkürzungen als die am stärksten verdichtete Form der Neuschöpfung semantischer Zeichen wird sich ungebrochen fortsetzen. In einer globalisierten Welt mit vorherrschendem anglo-amerikanischen Sprachgebrauch in den Wissenschaften werden die Gepflogenheiten und Eigenheiten dieser Sprache weiter in die Fachsprache Einzug halten. Verstärkt auch im Gesundheitswesen Platz greifende Techniken mit ihren offensichtlichen Möglichkeiten, aber letztlich noch nicht absehbaren Konsequenzen wie die Digitalisierung stellen neue Herausforderungen dar, die auch das ärztliche Personal im Arbeitsalltag unmittelbar betreffen. Zwar werden hier – wie seinerzeit die Medizinischen Dokumentare – neue Berufe entstehen, doch werden etwa bei der bevorstehenden Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) die Kernkompetenz des Arztes und der Ärztin und das Arzt-Patienten-Verhältnis direkt tangiert sein. Entsprechend wird bereits gefordert, dieses Themenfeld müsse im Medizinstudium implementiert werden. Angesichts solcher erwartbaren Perspektiven wird die medizinische Fachsprache sich wandeln. Sie wird sich den Erfordernissen anpassen müssen, um weiterhin eine verlässliche und sichere Kommunikationsgrundlage zu sein. Die Fachsprache als beredte Zeugin und als Speicher der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte wird jedoch verloren gehen; diese Dimension wird sich nur noch den speziell Interessierten erschließen, die die Zeit finden, sich intensiver mit dieser Materie auseinanderzusetzen.
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So kann ein CTG einerseits eine Computertomographie meinen, im geburtshilflichen Kontext aber eine Cardiotocographie meinen.
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Epikrise In dem Bewusstsein des stetigen Wandels und dass, wer dies leugnen wollte, ein ewig Gestriger wäre, wurde hier vom Kampf der Mediziner mit den ‚alten‘ Sprachen berichtet. Es zeigte sich, dass dieser Kampf in seinen Bedingungen und Perspektiven in größeren Zusammenhängen steht, von denen hier einige kurz skizziert wurden. Unter dem Vorzeichen eines zunehmend mangelnden Vorverständnisses hinsichtlich der medizinischen Fachsprache einerseits sowie dem latenten Druck nach möglichster Effizienz bereits während des Medizinstudiums ist der 1970 in der Approbationsordnung etablierte Pflichtkurs der Medizinischen Terminologie zu einem vermeintlichen Vokabelkurs verkommen. Die Auswirkungen dieser Einschätzung ebenso wie das tatsächliche Potenzial der medizinischen Fachsprache wurden vorstehend skizziert. Lösungsansätze auf verschiedenen Ebenen könnten eine gewisse Verbesserung erreichen. Allerdings sind zahlreiche äußere Faktoren zu nennen, die die Rahmenstrukturen vorgeben, und sie können nicht ignoriert werden, denn in einer sich weiterentwickelnden Medizin kann ihre Fachsprache nicht statisch bleiben. Hier sind Anpassungsleistungen gefordert, um ihrer Primärfunktion weiterhin gerecht zu werden. Dabei werden unter den derzeitigen Voraussetzungen Verluste nicht vermeidbar sein, insbesondere, was die Fachsprache als Speicher der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte betrifft. Gleichzeitig werden in einer vorwärtsdrängenden Gegenwart Bedarfe formuliert, die – als obsolet erachtete Traditionen aktiv wiederaufnehmend – die Identität und Gemeinschaft der ärztlichen Community im Wissen um und im Willen zur Einhaltung deontologischer Grundsätze deutlich machen und stärken wollen. Dieses ist ein tiefgründiges und tiefgreifendes Anliegen, das auch als Abgrenzungsversuch gegen Über- und Eingriffe in die Bereiche der Kernkompetenz ärztlichen Handelns verstanden werden muss. Eine neue Wertschätzung der gewachsenen und traditionsreichen medizinischen Fachsprache, die nicht länger als Ansammlung lästig zu lernender Vokabeln missverstanden wird, könnte diesem Zweck zugeordnet werden und eine flankierend unterstützende Funktion einnehmen. Dazu bedarf es jedoch der nötigen Freiräume in einem Studium mit weniger überladenem Lernpensum, das
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die Bereitschaft zulässt und die Gelegenheiten bietet, um sowohl die Primärfunktion der Fachsprache als auch ihr Sekundärpotenzial umfassender würdigen zu können. Was also wären die Wünsche historisch interessierter Mediziner beziehungsweise. MedizinhistorikerInnen – von der Medizin insgesamt zu sprechen wäre unangemessen und vermutlich auch sehr disparat – an die klassische Philologie? Zunächst vielleicht eine Vereinheitlichung des absolut Notwendigen an Lateinkenntnissen, die in den Kursen der Medizinischen Terminologie vermittelt werden. Ein Gewinn für die (nicht geringe Zahl) kulturhistorisch interessierter Mediziner wäre sicher ein Sammelwerk von überschaubarer Größe mit griechischen und lateinischen Texten (Hippokrates, Galen, Plinius, Vesal) und parallelen deutschen Übersetzungen der wichtigsten Passagen klassischer Werke mit Bezug zum Arztberuf und der Tätigkeit der Ärzte, die etwas von der Klarheit und Prägnanz des Lateinischen und der Schönheit und Bildhaftigkeit des Griechischen vermitteln. Dabei sollten nicht philologische Feinheiten im Vordergrund stehen, sondern die anwendungsbezogene praktische Philosophie, die das Verhältnis von Patient und Arzt bestimmte. Allerdings: Wenn Latein und Griechisch immer weniger als Leistungsfächer in den Gymnasien gewählt werden, wenn der unter Personalmangel, Zeitdruck, Budget- und Leistungszwängen leidende klinische Alltag der Ärzte immer anstrengender wird und wenn die im Zuge der Globalisierung geforderte Kommunikation auf Englisch sich immer stärker durchsetzt, sind die Perspektiven für eine philologisch auch nur annähernd tragbare Latinität in der Medizin denkbar schlecht. Es ist vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, dass die Nomina Anatomica als nicht mehr zeitgemäß empfunden und durch die im Englischen übliche gemischte Nomenklatur ersetzt werden, weil anders eine schnelle und präzise Kommunikation in gemischtsprachigen Arzt-Patienten-Beziehungen nicht mehr möglich ist. Eine sichere Beherrschung des Lateinischen oder Kenntnisse der griechischen Literatur und Philosophie als Ausweis von Bildung fallen zunehmend der Verflachung durch Kurznachrichten in den ‚social networks‘ zum Opfer. Zurück bleiben Skepsis für die weitere Entwicklung und Trauer über den Verlust der ‚lingua franca‘ in einer großen Wissenschaftstradition.
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Ein letztes Beispiel mag dies verdeutlichen: Chefarzt zum Assistenten bei der Visite auf einer geriatrischen Station, auf einen sterbenden Patienten deutend: „Morebit!“ – Patient, mit letzter Kraft zum Chefarzt: „Morietur, ich war Lateinlehrer!“
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Erwartungen und Anforderungen der Pharmaziegeschichte an die lateinische und griechische Philologie Christoph Friedrich Die Pharmaziegeschichte ist eine Zweigdisziplin der Pharmazie, die mit geisteswissenschaftlichen Methoden Studien zur Geschichte der Arzneimittel, des Apothekerberufes, einschließlich Biographien von Apothekern, der Institutionen Apotheke und pharmazeutische Industrie, aber auch zur pharmazeutischen Kulturgeschichte durchführt. Der Untersuchungszeitraum der Pharmaziegeschichte reicht bis in die Anfänge der menschlichen Kultur zurück. Der bedeutende Medizinhistoriker Paul Diepgen schrieb einmal: „Solange es Leben auf der Welt gibt, gibt es Krankheiten.“ 1 Diesen Satz kann man fortsetzen, denn seit es Krankheiten gibt, bemühen sich Menschen, Mittel und Methoden gegen Krankheiten zu finden, zu denen vor allem Heilmittel zählen. Nachrichten über Heilmittel finden sich in schriftlichen Quellen aus den frühen Hochkulturen in Mesopotamien oder Ägypten, die bis in das zweite Jahrtausend vor Christus zurückreichen. Ein besonders großes Quellenkonvolut betrifft aber antike Texte in griechischer oder lateinischer Sprache. In Griechenland entstand die medizinische Wissenschaft mit dem Corpus Hippocraticum und wurde fortgeführt durch bedeutende Ärzte wie Dioskurides aus Anazarba (Mitte des 1. Jahrhunderts nach Christus) oder Galenos von Pergamon (129 – ca. 216 nach Christus). Zu den meisten dieser Werke liegen Übersetzungen vor, die aber zum Teil den modernen Anforderungen nicht mehr genügen, wie etwa die Übersetzung der Materia medica des Dioskurides von Julius Berendes (1837–1914),
1
Paul Diepgen, Geschichte der Medizin, Berlin 1949, Bd. 1, 11.
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einem Apotheker, der als einer der „Väter der Pharmaziegeschichte“ gilt. 2 Vor dem Hintergrund, dass die Masse der Studierenden der Pharmazie, inzwischen auch viele Doktoranden auf dem Gebiet der Pharmaziegeschichte, nur noch geringe Kenntnisse in den alten Sprachen besitzen – eventuell noch Latein, aber ganz selten Griechisch –, sind jedoch Übersetzungen von immenser Bedeutung. Hier gibt es vonseiten der Pharmaziegeschichte besondere Erwartungen an die Fachvertreter der Klassischen Sprachen, insbesondere an die Gräzistik, um neue und wissenschaftlich fundierte Übersetzungen zur Verfügung zu stellen. In dem vor über 50 Jahren gegründeten Institut für Geschichte der Pharmazie der Philipps-Universität Marburg spielen Untersuchungen zu antiken Quellen – vor allem lateinische, seltener auch griechische Texte – eine traditionsgemäß wichtige Rolle. Der Gründer des Institutes, Rudolf Schmitz (1918–1992), der neben dem Studium der Pharmazie auch geisteswissenschaftliche Studien betrieben hatte, führte in Marburg für seine Doktoranden, die Apotheker beziehungsweise Naturwissenschaftler (Chemiker oder Biologen) waren, ein Aufbaustudium zur Geschichte der Pharmazie ein, in dem die Doktoranden die Arbeitsweise des Historikers und des Philologen erlernten. Einige besonders philologisch interessierte Apotheker fertigten unter Leitung von Schmitz Dissertationen an, in denen sie Quellen zur antiken Heilkunde analysierten, wie beispielsweise Lutz Winkler, der sich mit Galens Schrift De Antidotis beschäftigte. Zweitbetreuer der Arbeit war der Marburger Philologe Karlhans Abel (1919–1998).3 1987 untersuchte Achim Keller in seiner Dissertation, die ebenfalls unter Leitung von Rudolf Schmitz entstand, Abtreibungsmittel in der Römischen Kaiserzeit. 4
Julius Berendes, Des Pedanios Dioskurides aus Anazarbos Arzneimittellehre in fünf Büchern, Stuttgart 1907; vgl. auch Maximilian Haars und Christoph Friedrich, Julius Berendes. Ein Vater der Pharmaziegeschichte, Pharmazeutische Zeitung 159 (2014), H. 27, 2164–2166. 3 Lutz Winkler, Galens Schrift ‚De Antidotis‘. Ein Beitrag zur Geschichte von Antidot und Theriak, [nat.- wiss. Diss.] Marburg 1980. 4 Achim Keller, Die Abortiva in der Römischen Kaiserzeit, Stuttgart 1988, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 46). 2
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Philologisch interessierte Doktoranden studierten neben dem Aufbaustudium zur Geschichte der Pharmazie noch zusätzlich mittelalterliches Latein in Marburg, das die Grundlage zur Bearbeitung von Quellen bildete, wie der Liber Servitoris des Abulkasis (936–1013)5 oder das Antidotarium Mesue,6 die Canones des Pseudo-Mesue7 sowie Schriften von Albertus Magnus 8 und von Saladin Ferro von Ascoli.9 Die Arbeit über die Canones des Pseudo-Mesue wurde nach Schmitz’ plötzlichem Tod unter der Betreuung von dessen Nachfolger Fritz Krafft, der von Hause aus Altphilologe ist, beendet. Unter Leitung von Peter Dilg, der als zweiter Hochschullehrer von 1972 bis 2003 am Institut wirkte, entstand eine Untersuchung zu einer Schrift des Pseudo-Serapion aus der Mitte des 13. Jahrhunderts mit einer deutschen Teilübersetzung nach der Druckfassung von 1531.10 Besondere Aufmerksamkeit in philologisch ausgerichteten Arbeiten von Pharmaziehistorikern erfordert stets die Entschlüsselung von Drogennamen
Marianne Engeser, Der „Liber Servitoris“ des Abulkasis (936–1013). Übersetzung, Kommentar und Nachdruck der Textfassung von 1471, Stuttgart 1986, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 37). 6 Ingrid Klimaschewski-Bock, Die „Distinctio sexta“ des Antidotarium Mesuë in der Druckfassung Venedig 1561 (Sirupe und Robub). Übersetzung, Kommentar und Nachdruck der Textfassung von 1561, Stuttgart 1987, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 40) und Ulrike Heuken, Der achte, neunte und zehnte Abschnitt des Antidotarium Mesue in der Druckfassung Venedig 1561 (Trochisci, Pulver, Suffuf, Pillen), Stuttgart 1990, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 58). 7 Sieglinde Lieberknecht, Die ‚Canones‘ des Pseudo-Mesue: Eine mittelalterliche Purgantien-Lehre. Übersetzung und Kommentar. Im Anhang die Versio antiqua in der Druckfassung von 1561, Stuttgart 1995, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 71). 8 Klaus Biewer, Die Arzneipflanzen in der Schrift „De vegetabilibus“ des Albertus Magnus, [nat.-wiss. Diss.]; Druck unter dem Titel: Albertus Magnus, De vegetabilibus Buch VI, Traktat 2. Lateinisch-deutsch. Übersetzung und Kommentar, Stuttgart 1992, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 62). 9 Rosemarie Dilg-Frank, Das ‚Consilium de peste‘ des Saladin Ferro von Ascoli. Kritische Textausgabe mit deutscher Übersetzung. Ein Beitrag zur Pestliteratur des ausgehenden Mittelalters, [nat.-wiss. Diss.] Marburg 1975. 10 Jochem Straberger-Schneider‚ Der ‚Liber aggregatus in medicinis simplicibus‘ des Pseudo-Serapion aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. Mit einer deutschen Teilübersetzung der Druckfassung von 1531, [nat.-wiss. Diss.] Marburg 1999. 5
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der Drogen der Tria regna, also den pflanzlichen, tierischen und mineralischen Arzneistoffen. Eine Herausforderung stellt dabei die Identifizierung von in antiken Texten erwähnten Pflanzen dar. Im Idealfall kann diese in einer Zusammenarbeit zwischen Philologen und Pharmaziehistorikern erfolgen. Dies erweist sich als besonders erfolgreich, wenn Doktoranden der Pharmaziegeschichte noch ein Studium der Gräzistik anschließen, wie jüngst Maximilian Haars, das ihn in die Lage versetzte, seine pharmazeutischen und mediko-botanischen Kenntnisse mit der Philologie zu verbinden. Diese Kenntnisse ermöglichten ihm nicht nur die Identifizierung vieler bei Galen vorkommender pflanzlicher Drogen, sondern zudem ein ganz neues Verständnis von dessen Arzneimitteltherapie. So konnte Haars nachweisen, dass Galens Begrifflichkeiten, die Primär- und Sekundärqualitäten, direkt aus empirischen Studien (Autopsie) der Heilmittel und Pflanzen in der Natur hervorgegangen sind. In der Medizin- und Pharmaziegeschichte galt lange Zeit die Klassifizierung Galens als theoretischer Überbau, die angeblich ohne Bezug zu den tatsächlichen Eigenschaften und Wirkungsspektren der Arzneidrogen entstanden war. Herr Haars wies nach, dass Galens Methode, die Drogen durch Elementarqualitäten einschließlich der Intensitäten zu klassifizieren, überprüfbaren Kriterien genügte und damit nicht, wie lange Zeit behauptet, auf reiner Spekulation beruhte. Galen war dabei um Empirie und Autopsie bemüht und Herr Haars konnte zeigen, dass die auf diesem Wege gewonnenen Angaben durchaus aus heutiger Sicht nachvollziehbar sind. 11
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Maximilian Haars, Die Elementarqualitä ten in der speziellen Pharmakologie Galens, in: Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Bd. XXVI, hg. von Jochen Althoff, Sabine Fö llinger und Georg Wö hrle, Trier 2016, 189–208; Maximilian Haars und Sabine Anagnostou, Did Galen of Pergamum (A.D. 129–ca. 216) know the powers of cardiac-glycoside-based drugs?, in: 42nd International Congress for the History of Pharmacy. Proceedings. The Exchange of Pharmaceutical Knowledge between East and West, hg. von Afife Mat, Halil Tekiner und Burcu Şen, Istanbul 2016, 191–198; Maximilian Haars, Die allgemeinen Wirkungspotenziale der einfachen Arzneimittel bei Galen. [...], Lettre d’informations médecine antique et médiévale 14 (2019), 168–170; ders., Galen as phytotomist – his study on the fruit of Citrus medica L., in: Poikile Physis. Biological Literature in Greek during the Roman Empire: Genres, Scopes, and Problems, hg. von Diego De Brasi und Francesco Fronterotta, [im Druck: erscheint in der Reihe Science, Technology, and Medicine in Ancient Cultures bei De Gruyter].
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Die Dissertation von Herrn Haars wurde in einer geradezu idealen Kooperation zwischen der Gräzistin Frau Prof. Dr. Sabine Föllinger vom Institut für Klassische Sprachen und Literaturen und der Pharmaziehistorikerin Frau Prof. Sabine Anagnostou vom Institut für Geschichte der Pharmazie betreut.12 Eine solche Kooperation – auch dies ist ein Wunsch an die Vertreter der alten Sprachen – sollte bei geeigneten Doktoranden eine Fortsetzung finden. Philologen und Wissenschaftshistoriker können aber auch gemeinsame Beiträge zur Identifizierung von Krankheitsnamen leisten, die in den antiken Quellen häufig umschrieben sind. Die Identifizierung erlaubt dann Einblicke in die tatsächlichen Indikationsgebiete. Auch hier gibt es Erwartungen an eine intensive Zusammenarbeit. Umgekehrt ist es möglich, dass an medizinischen, speziell auch pharmakologischen Texten interessierte Philologen in einem pharmazie- oder medizinhistorischen Institut solche Quellen bearbeiten und dabei von der Expertise der Pharmazeuten, Pharmaziehistoriker und Mediziner profitieren. Schließlich widmen sich Altphilologen auch der Transkription und Übersetzung neu entdeckter Handschriften, beispielsweise Galen-Fragmenten aus Byzanz, die unsere Kenntnisse über die jeweilige Materia medica und den Einsatz von Arzneimitteln erweitern können, zugleich aber auch dazu dienen, die Rezeption der Handschriften in späteren Kulturen zu analysieren.13 Es wäre wünschenswert, wenn das Institut für Klassische Sprachen und Literaturen interessierten Doktoranden der Pharmaziegeschichte die Möglichkeit geben könnte, ihre Kenntnisse in den alten Sprachen zu erweitern und zu ergänzen, sodass sie dann fähig sind, Quellen selbständig zu übersetzen und zu interpretieren. Neben der griechischen betrifft dies vor allem die lateinische Sprache, in der arzneikundliche Schriften bis ins 18. Jahrhundert abgefasst wurden, insbesondere amtliche Arzneibücher und Rezeptbücher, aber auch arzneikundliche Dissertationen. Maximilian Haars, Die allgemeinen Wirkungspotentiale der einfachen Arzneimittel bei Galen. Oreibasios, Collectiones medicae XV. Einleitung, Übersetzung und pharmazeutischer Kommentar. Mit einem Geleitwort von Sabine Anagnostou, Stuttgart 2018, (Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Bd. 116). 13 Stefan Alexandru, Critical Remarks on Codices in Which Galen Appears as a Member of the gens Claudia, Mnemosyne 74.4 (2021), 553–597. 12
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Die Untersuchung von Rezepten, wie sie jetzt in einem vom BMBF finanzierten Projekt des Marburger Institutes für Geschichte der Pharmazie gemeinsam mit Wissenschaftlern aus Aachen, Heidelberg und Münster durchgeführt wird, erfordert gleichfalls umfangreichere Einblicke in die lateinische und griechische Sprache zur Identifizierung der in den Rezepten vorkommenden Arzneistoffe, der Drogen und Hilfsstoffe, aber auch der Arbeitsanweisungen an den Apotheker.14 Auch hier ist die Unterstützung durch die Altsprachler erwünscht und essentiell. Im Rahmen des Projektes werden Rezepte vom ausgehenden 16. bis zum 20. Jahrhundert untersucht. Insbesondere die älteren Rezepte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts waren noch vielfach mit zahlreichen lateinischen Begriffen und Abkürzungen versehen, die in stärkerem Maße Kenntnisse der lateinischen Sprache erfordern. Die Entwicklung der Rezeptsprache ist ein Thema der Pharmaziegeschichte, dem sich vor allem Peter Dilg immer wieder in Untersuchungen und Vorträgen zugewandt hat.15 Sie ist aber zugleich auch ein Untersuchungsgegenstand, in dem sich Pharmaziehistoriker und Philologen auf Augenhöhe begegnen können. Insgesamt können wir feststellen, dass die Pharmaziehistoriker die Altphilologen dringend benötigen. Ihre Expertise, ihre speziellen Kenntnisse und
Kerstin Grothusheitkamp und Christoph Friedrich, Medical Prescriptions in History – Reflecting Pharmaceutical Practice and Social Infrastructure, Proceedings of the 44th ICHP, 5.–8.09.2019, Washington, DC, USA; vgl. auch https://www.sprache-der-rezepte.de (letzter Zugriff: 3.6.2020). 15 Peter Dilg, Apothekerlatein. Zur Entwicklung und Struktur der pharmazeutischen Fachsprache, in: Germania latina – Latinitas teutonica. Politik, Wissenschaft, humanistische Kultur vom späten Mittelalter bis in unsere Zeit, hg. von Eckhard Kessler und Heinrich C. Kuhn, München 2003, (Humanistische Bibliothek / Reihe I: Abhandlungen; Bd. 54), 933–950; ders., Das Rezept: Medium und Barriere in der Apotheker-Patienten-Kommunikation, in: Apotheke und Publikum. Die Vorträge der Pharmaziehistorischen Biennale in Karlsruhe vom 26. bis 28. April 2002, hg. von Christoph Friedrich und Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Stuttgart 2003, 119–134; Pharmazie und Sprache, in: Materialien zur Pharmaziegeschichte. Akten des 31. Kongresses für Geschichte der Pharmazie, hg. von Wolf-Dieter Müller-Jahncke, Anna Maria Carmona-Cornet und François Ledermann, Heidelberg, 3.–7. Mai 1993, Stuttgart 1995, (Heidelberger Schriften zur Pharmazie- und Naturwissenschaftsgeschichte, Beiheft 1), 13–31. 14
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Fertigkeiten, Texte zu erschließen, zu übersetzen und zu interpretieren, ermöglichen den Pharmaziehistorikern ein besseres Verständnis für die Entwicklung ihrer Wissenschaft, nicht nur in der Antike, sondern auch im Mittelalter, der Frühen Neuzeit, ja sogar bis zum 19. Jahrhundert. Eine Zusammenarbeit zwischen beiden Disziplinen ist essentiell, wenn solche Forschungsfragen auf dem Stand der modernen Wissenschaft untersucht werden sollen. Diese bietet sich gerade für eine kleine Universität wie die Marburger besonders an und sollte deshalb zwischen dem Institut für Klassische Sprachen und Literaturen und dem nur einmal in Deutschland vorhandenen Institut für Geschichte der Pharmazie noch intensiviert werden.
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Erwartungen und Anforderungen an Latein und Griechisch aus der Perspektive der Rechtswissenschaften und des Römischen Rechts Constantin Willems Latein-, und erst recht Altgriechischkenntnisse sind an den Universitäten im deutschen Sprachraum grundsätzlich nicht (mehr) Voraussetzung für ein Studium der Rechte. Anders ist dies in Deutschland nur in wenigen Sonderfällen, und auch nur zum Erwerb des Doktorgrades: An der juristischen Fakultät der Universität zu Köln werden von allen Doktorand/-innen Kenntnisse der lateinischen Sprache erwartet 1 und an der Universität Heidelberg ist für die Promotion in den Rechtswissenschaften sogar grundsätzlich das Latinum Voraussetzung, auch wenn hiervon eine Dispensmöglichkeit besteht.2 In Österreich ist etwa an der Universität Wien in der Studienrichtung Rechtswissenschaften noch innerhalb des Einführungsabschnitts eine Zusatzprüfung in Latein abzulegen, wenn nicht an einer höheren Schule Lateinunterricht im Umfang von mindestens zehn Wochenstunden erfolgreich abgeschlossen wurde;3 am gleichen Standort wirbt die Wirtschaftsuniversität Wien dagegen explizit damit, dass „Latein […] keine Voraussetzung für das Studium“ sei.4 Siehe https://jura.uni-koeln.de/forschung/promotion/promotionsordnung#c494 75 (letzter Abruf am 1.5.2020). 2 Siehe https://www.jura.uni-heidelberg.de/promotion.html (letzter Abruf am 1.5.2020). 3 Dazu Verena Tiziana Halbwachs, Aspekte der Juristenausbildung in Österreich, in: Juristenausbildung in Europa zwischen Tradition und Reform, hg. von Christian Baldus, Thomas Finkenauer und Thomas Rüfner, Tübingen 2008, 133–143, 140 Fn. 15 a. E.; ferner https://ssc-rechtswissenschaften.univie.ac.at/diplomstudium-doktoratsstudium-und-ec/studium/studienanfaengerinnen/lateinnachweis/ (letzter Abruf am 1.5.2020). 4 Siehe https://www.wu.ac.at/studium/bachelor/wirtschaftsrecht/ueberblick (letzter Abruf am 1.5.2020). 1
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Dieser grundsätzliche Verzicht auf das Erfordernis von Lateinkenntnissen ist zunächst misslich, weil im Lateinunterricht idealiter ein unschätzbar wertvolles Verständnis von Grammatik, Syntax und logischem Denken vermittelt wird. Dass dies auch weiterhin so sein möge, wäre mein erstes Postulat an diejenigen Vertreter der Alten Sprachen, die sich für die Lehrtätigkeit am Gymnasium qualifizieren. Darüber hinaus sind Lateinkenntnisse im Jurastudium jedenfalls insofern von Nutzen, als die Studierenden der Rechte immer wieder mit lateinischen Fachtermini konfrontiert werden,5 bei deren richtiger Aussprache, Schreibweise und nicht zuletzt Deklination Lateinkenntnisse natürlich hilfreich sind. Dies gilt etwa, wenn es darum geht, die weibliche Form des Vertreters ohne Vertretungsmacht (falsus procurator) oder den Singular der wesentlichen Vertragsbestandteile (essentialia negotii) zu bestimmen. Mangelnde Kenntnisse verratende Peinlichkeiten wie das „essentialium“6 (statt richtig essentiale) oder gar die „procuratora“7 (statt richtig procuratrix) könnten so vermieden werden. Drittens sind die Alten Sprachen und ist insbesondere Latein für moderne Jurist/-innen wichtig, weil unser heutiges Recht, jedenfalls der Bereich des Bürgerlichen Rechts, stark auf der Tradition des seit dem Mittelalter rezipierten römischen Rechts beruht.8 Das erfolgreiche Belegen „einer Lehrveranstaltung über die Grundlagen des Rechts (Rechtsgeschichte,
Vgl. etwa Klaus Adomeit und Susanne Hähnchen, Latein für Jurastudierende. Ein Einstieg in das Juristenlatein, 7. Aufl., München 2018; Nikolaus Benke und Franz Stefan Meissel, Juristenlatein. 2800 lateinische Fachausdrücke und Redewendungen der Juristensprache, 3. Aufl., Wien 2010. 6 So etwa in der Rechtsprechung Bundesgerichtshof, Urt. v. 14.11.2018 – VIII ZR 109/18, BeckRS 2018, 30856; in der Literatur Thomas Raff, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 14.09.2018 – V ZR 213/17, Deutsche Notar-Zeitschrift 2019, 189–194, 190. 7 So https://arbeitsrecht.jura.uni-leipzig.de/download/0/0/1889944924/0e5b090 35e4f8ae00ad817d1ac677d2bc1fa744b/fileadmin/arbeitsrecht.jura.unileipzig.de/uploads/dokumente/WiSe_2019-20/BGB_I/Hinweise_zur_Vorlesung/Gliederung_BGB_I.pdf (letzter Abruf am 1.5.2020). 8 Dazu etwa beispielhaft Thomas Rüfner, Von der lex Aquilia zu § 823 BGB – wie die Römer zum dritten Mal die Welt eroberten, Annales Carolini 2008, XXV–XXXIV. Generell etwa Max Kaser, Rolf Knütel und Sebastian Lohsse, Römisches Privatrecht, 22. Aufl., München 2021, insbes. 12–18. 5
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Rechtsphilosophie oder Rechtssoziologie)“9 ist immerhin heute noch Voraussetzung für die Anmeldung zum Staatsexamen, wenngleich die Rechtsgeschichte nur eine unter mehreren Alternativen ist. Viele Studierende können sich den Quellen des römischen Rechts freilich nur noch über Übersetzungen nähern; insofern ist es wichtig, dass philologisch und juristisch korrekte Übersetzungen der Rechtsquellen, insbesondere des Corpus Iuris Civilis und der Institutionen des Gaius,10 sorgsam angefertigt werden. Hier sind wir erfreulicherweise bereits gut aufgestellt. 11 Zugegebenermaßen haben die meisten angehenden Jurist/-innen an der Rechtsgeschichte lediglich ein überschaubares Interesse und für Feinheiten der lateinischen Sprache wie die oben aufgeführten nur selten ein Verständnis. Ebenso sei zugegeben, dass juristisches Arbeiten ohne Latein und Rechtsgeschichte in vielen Bereichen selbstredend ohne Einschränkungen
So § 9 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) JAG, des hessischen Juristenausbildungsgesetzes. Nach § 5a Abs. 2 S. 2 DRiG, des Deutschen Richtergesetzes, sind die „philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen“ Gegenstand des rechtswissenschaftlichen Studiums. 10 Dazu mit weiteren Nachweisen Bastian Zahn, Einführung in die Quellen des römischen Rechts, Juristische Ausbildung 2015, 448–458. 11 Aus dem deutschen Sprachraum sei hier für das Corpus Iuris Civilis auf das von Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch und Hans-Hermann Seiler begründete und inzwischen von Sebastian Lohsse und Thomas Rüfner fortgeführte Übersetzungsprojekt verwiesen. Bereits erschienen sind: Corpus Iuris Civilis – Die Institutionen. Text und Übersetzung, hg. von Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Sebastian Lohsse, Thomas Rüfner, 4. Aufl., Heidelberg 2013; Corpus Iuris Civilis II – Digesten 1-10, hg. von Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch und HansHermann Seiler, Heidelberg 1995; Corpus Iuris Civilis III – Digesten 11-20, hg. von Okko Behrends, Rolf Knütel, Berthold Kupisch und Hans-Hermann Seiler, Heidelberg 1999; Corpus Iuris Civilis IV – Digesten 21-27, hg. von Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Hans-Hermann Seiler und Okko Behrends, Heidelberg 2005; Corpus Iuris Civilis V – Digesten 28-34, hg. von Rolf Knütel, Berthold Kupisch, Thomas Rüfner und Hans-Hermann Seiler, Heidelberg 2012. Für das einzige nahezu vollständig überlieferte juristische Anfängerlehrbuch aus klassischer Zeit, die Gaius-Institutionen, vgl. Ulrich Manthe, Gaius Institutiones. Die Institutionen des Gaius, Darmstadt 2004. Daneben existieren Übersetzungen ins Englische, Italienische, Spanische und Französische. In Estland ist als Zusammenstellung wichtiger Rechtsquellen mit Übersetzung ins Estnische frisch erschienen: Hesi Siimets-Gross und Merike Ristikivi, Fontes Iuris Romani, Tartu 2019. 9
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möglich ist. Wer sich allerdings vertieft mit dem römischen Recht beschäftigen möchte, etwa im Rahmen einer Doktorarbeit, muss ebenso selbstverständlich Lateinkenntnisse haben, Kenntnisse im Altgriechischen sind nützlich. Rein mit Fremdübersetzungen kann kaum eine rechtshistorische Qualifikationsschrift mit einem Schwerpunkt außerhalb der neuesten Rechtsgeschichte seriös gefertigt werden. Hier zahlt es sich aus, wenn man bereits in der Schule altsprachlichen Unterricht genossen hat; alternativ sind die erfreulicherweise an den philologischen Fachbereichen und altsprachlichen Instituten angebotenen universitären Sprachkurse zu besuchen, deren Aufrechterhaltung, auch für „Fachfremde“, ein weiteres Postulat ist. Beim Arbeiten mit den für das römische Recht ergiebigen Quellen stößt man darüber hinaus auch in inhaltlicher Hinsicht immer wieder auf Berührungspunkte mit dem Tätigkeitsbereich klassischer Philolog/-innen. Dies gilt sowohl für die eben genannten genuinen Rechtsquellen als auch für literarische Quellen, aus denen rechtlich Relevantes abgeleitet werden kann. In den genuinen Rechtsquellen finden sich etwa wiederholt Zitate aus der griechischen Literatur.12 So berufen sich etwa in einem Passus, der sowohl in Kaiser Justinians mit Gesetzeskraft versehenem Anfängerlehrbuch, den Institutionen (I. 3.23.2), als auch in einem ursprünglich aus dem Ediktskommentar des römischen Juristen Julius Paulus stammenden, in Justinians Rechtskompilation, den Digesten, überlieferten Fragment (Paul. 33 ed. D. 18.1.1.1) tradiert ist, bezüglich der Problematik, ob der Tausch (permutatio) als Unterfall des Kaufs (emptio venditio) anzuerkennen sei,13 die
Dazu Anna Plisecka, The Use of Greek by Roman Jurists, in: Crossing Legal Cultures, hg. von Laura Beck Varela, Pablo Gutiérrez Vega und Alberto Spinosa, Frankfurt a. M. 2009, 59–74; Iohannes Bortolucci, Index verborum Graecorum quae in Institutionibus et Digestis occurrunt, Archivio giuridico Filippo Serafini 76 (1906), 353–398. 13 Dazu etwa Enrico Sciandrello, Studi sul contratto estimatorio e sulla permuta nel diritto romano, Trento 2011, 207–222; Peter Blaho, Abgrenzung zwischen Kauf und Tausch in der Dichtung des Homer, in: Kaufen nach römischem Recht. Antikes Erbe in den modernen Kaufrechtsordnungen, hg. von Éva Jakab und Wolfgang Ernst, Berlin 2008, 53–60; Okko Behrends, Der ungleiche Tausch zwischen Glaukos und Diomedes und die Kauf-Tausch-Kontroverse der römischen Rechtsschulen, Historische Anthropologie 10 (2002), 245–266. 12
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Vertreter der beiden großen römischen Juristenschulen14 jeweils auf Homers Ilias. Die Ansicht der Schule der Sabinianer wird auf ein wörtliches Zitat von Il. 7.472–475 gestützt: Schon das Heer der Achäer beschaffte sich Wein unter Einsatz verschiedener Gegenleistungen, die einen mit Erz beziehungsweise Eisen, die anderen mit Rindern, Häuten beziehungsweise Sklaven; hieraus wird gefolgert, dass Tausch und Kauf gleichwertig seien. Die Vertreter der Gegenauffassung, die Prokulianer, berufen sich ausweislich der Quellen ebenfalls auf Verse Homers (Il. 6.234–236): Hier geht es um den Tausch von Rüstungen aus Gold und Bronze zwischen Glaukos und Diomedes, der ob des groben Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung (einhundert für neun) Zeus’ Missfallen erregt; gefolgert wird, dass der Tausch eine besondere Vertragsart sei, die konsequent vom Kauf getrennt werden müsse. Wenn weiterhin im Institutionenfragment I. 4.18.5 sowie im ursprünglich aus dem Kommentar des Juristen Gaius zum Zwölftafelgesetz stammenden Digestenfragment Gai. 1 xii tab. D. 50.16.233.2 anlässlich der lex Cornelia de sicariis15 gefragt wird, was denn unter dem dort als Mordwerkzeug genannten telum zu verstehen sei – nur das, was mit dem Bogen abgeschossen wird, also Pfeile, oder auch alles andere, was geworfen wird –, erfolgt eine etymologische Argumentation; telum komme von griechisch βέλος, von βάλλεσθαι (werfen). Belegt wird dies über ein Zitat von Xenophon (an. 5.2.14): Geschosse (βέλη) sind demnach nicht nur Pfeile, sondern auch von Hand geworfene Steine. 16 Ein weiteres Digestenfragment, ursprünglich vom Juristen Callistratus aus seinen libri de cognitionibus,
Zu diesen mit weiteren Nachweisen Emanuele Stolfi, Die Juristenausbildung in der römischen Republik und im Prinzipat, in: Juristenausbildung in Europa zwischen Tradition und Reform, hg. von Christian Baldus, Thomas Finkenauer und Thomas Rüfner, Tübingen 2008, 9–29, 22–27. 15 Zu dieser etwa Duncan Cloud, Leges de sicariis: The first chapter of Sulla’s lex de sicariis, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung 126 (2009), 114–155. 16 Vgl. Philipp Scheibelreiter, Ein „großer Wurf“? Gaius trifft Demosthenes. Überlegungen zu D. 50,16,233,2 (Gai. 1 leg. 12 tab.), Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung 136 (2019), 1–46. 14
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Call. 3 cogn. D. 50.11.2, beinhaltet ein umfangreiches, wenn auch „zusammengestückeltes“,17 Zitat aus dem zweiten Buch von Platons Politeia,18 in dem es um die Spezialisierung und Arbeitsteilung im Wirtschaftsleben, namentlich die Aufteilung zwischen Produzenten (γεωργοί) und (Groß-)Händlern (ἔμποροι) geht.19 Während in den zuvor genannten Beispielen die Rechtsquellen auf literarische Quellen verweisen, haben andere literarische Zeugnisse unmittelbare Relevanz als Quellen über das römische Recht. Hierzu sollen zwei knappe Beispiele genügen. 20 So wird bei Horaz in sat. 1.9.74–78 die sogenannte in ius vocatio,21 das Ladungsverfahren im archaischen Zivilverfahren, dem Legisaktionenprozess, vorgeführt, namentlich das antestari als Erfordernis der Anrufung von Zeugen.22 Ferner wird in Martials Epigramm 12.32 extensiv mit mietrechtlicher Terminologie gearbeitet, 23 was von der praktischen Relevanz des römischen Rechts und dem Wissen um seine Institute, jedenfalls in gewissen Kreisen, zeugt: Deutlich wird die Bedeutung der Kalenden des Juli als allgemeiner „moving day“ in der Stadt Rom; 24 zudem
Dazu Sven Günther, (K)einer neuen Theorie wert? Neues zur Antiken Wirtschaftsgeschichte anhand Dig. 50,11,2 (Callist. 3 cognit.), Gymnasium. Zeitschrift für Kultur der Antike und Humanistische Bildung 124 (2017), 131–142, bes. 140–142. 18 Zum Platon-Fragment etwa Sabine Föllinger, Ökonomie bei Platon, Berlin 2016, 36– 38 und 143; sowie dies., Anthropologie und Ökonomie bei Platon, in: Was ist? Wirtschaftsphilosophische Erkundungen. Definitionen, Ansätze, Methoden, Erkenntnisse, Wirkungen, hg. von Wolf Dieter Enkelmann und Birger P. Priddat, Marburg 2015, 413–427, bes. 417 und 420. 19 Dazu Constantin Willems, Plato, Principle, and Pragmatism. Market Regulation in D. 50.11.2, in: Principle and Pragmatism in Roman Law, hg. von Benjamin Spagnolo und Joe Sampson, Oxford 2020, S. 129–142. 20 Zu den beiden folgenden Beispielen Constantin Willems, Recht unterhaltsam. Horaz, Martial und das römische Recht, Antike Welt 2020, 28–30. 21 Dazu knapp Thomas Rüfner, s. v. In ius vocatio, in: The Encyclopedia of Ancient History, hg. von Roger Shaler Bagnall, Hoboken N.J. 2012, 3436. 22 Zur historischen Bedeutung von antestari vgl. Dieter Flach, Das Zwölftafelgesetz, Darmstadt 2004, 17 und 173. 23 Dazu auch Constantin Willems, „Urbanes“ Mietrecht? Der römische Wohnungsmarkt zwischen Preismechanismus und Intervention, Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte – Romanistische Abteilung 136 (2019), 233–270, hier 250f. 24 So Bruce W. Frier, Landlords and Tenants in Imperial Rome, Princeton 1980, 38. 17
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klingt mit der retentio etwa das Vermieterpfandrecht an den vom Mieter in die Wohnung eingebrachten Gegenständen an, das wir auch aus den genuinen Rechtsquellen25 kennen. Was besagen nun die genannten Beispiele über die Erwartungen und Anforderungen, die seitens des römischen Rechts an die Latinistik und an die Gräzistik gestellt werden? Zunächst helfen uns natürlich fachkundige Übersetzungen der literarischen Quellen bei der Orientierung: Inwieweit ist eine Passage tatsächlich einschlägig? Und in welchem Kontext steht die Aussage? Philologische Interpretationen der Quellen erleichtern uns darüber hinaus deren Verständnis: Wie ordnet sich die jeweilige Passage in den Werkzusammenhang ein? Und gibt es Parallelen beziehungsweise Widersprüche zu anderen Autoren? Von unschätzbarem Wert sind nicht zuletzt die Offenheit für persönlichen Austausch und die Bereitschaft zu interdisziplinärem Gespräch, der kenntnisreiche Kommentar und die weiterführende Kritik aus der anderen Fachperspektive. Dass dies überall so gut funktionieren möge wie an der PhilippsUniversität Marburg und im Rahmen des hiesigen Marburger Centrums Antike Welt, kann man schwer als „Erwartung und Anforderung“ formulieren, aber vielleicht als Wunsch, verbunden mit einem herzlichen Dankeschön für den status quo.
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Zum Vermieterpfandrecht an den vom Mieter eingebrachten Sachen (invecta illata inducta) etwa Paul. 3 ed. D. 2.14.4pr. und Nerv. 1 membr. D. 20.2.4pr.; dazu etwa Paul J. du Plessis, The Interdictum de Migrando revisited, Revue Internationale des Droits de l’Antiquité 54 (2007), 219–244, bes. 228–233; Rolf Knütel, Aus den Anfängen des Vermieterpfandrechts, in: Festschrift für Walter Gerhardt, hg. von Eberhard Schilken u. a., Köln 2004, 457–472.
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Altorientalistik und Klassische Philologie Nils P. Heeßel Es ist sehr selten der Fall, dass ein seltenes Fach sich fragt, was denn andere Fächer eigentlich von ihm erwarten. So ein Korrektiv der Eigenwahrnehmung kann ernüchtern, manchmal vielleicht auch wehtun, aber auf jeden Fall führt die Kenntnis der Außenwahrnehmung – die sich oft genug nicht so vollständig mit der Eigenwahrnehmung deckt, dass man sich ausführlich belobt und gründlich bestätigt zufrieden zurücklehnen kann – zu einem besseren Verständnis der eigenen Position und ermöglicht so eine bewusste Schärfung des eigenen Profils. Ich bin daher voller Bewunderung für die Fachvertreter und Fachvertreterinnen der Gräzistik und Latinistik an unserer Universität, die sich dieser Außensicht ihres Faches stellen und habe die Einladung zu diesem ,Fachinput‘ sehr gerne angenommen. Zuerst einmal gilt es zu betonen, dass sich die klassische Philologie in den letzten 30 Jahren nach meinem Eindruck in eine sehr gute Richtung entwickelt hat, insbesondere was das Interesse an anderen Fachgebieten betrifft. Während früher Interdisziplinarität nicht so sehr im Zentrum des Faches stand, nehmen der fachübergreifende Austausch und der Außenblick auf die klassische Antike mittlerweile doch einen wichtigen Platz in der gräzistischen und latinistischen Fachwirklichkeit ein. Und dies finde ich hier in Marburg besonders bestätigt, bringt sich doch die klassische Philologie in dem interdisziplinär arbeitenden Marburger Centrum Antike Welt sehr aktiv ein. Welche „Erwartungen“ hat nun ein Altorientalist an die klassische Philologie, wo sieht er ihre besondere Leistungsfähigkeit, wo gibt es noch Potentiale? Hier habe ich eigentlich nur die eine Erwartung, dass sich die klassische Philologie weiterhin und vielleicht auch noch verstärkt um den Latein- und Griechischunterricht an deutschen Gymnasien bemüht. Die Zeit, in der zumindest Latein für gebildete Akademiker selbstverständlich war, ist lange vorbei; doch Sie brauchen keinen Altorientalisten, um das festzustellen. Was aber vielleicht nicht so präsent sein dürfte, ist, wie sehr wir philologischen
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Nachbardisziplinen von Latein und Griechisch in der Schule profitieren. Jedes Wintersemester kann ich erneut in der Einführung in die akkadische Sprache feststellen, welchen Unterschied es macht, ob Studierende im ersten Semester in der Schule Lateinunterricht hatten oder nicht. Die Grammatik auch außereuropäischer, nicht-indoeuropäischer Sprachen wird mit den lateinischen Begrifflichkeiten beschrieben. Die Kenntnis oder Unkenntnis dieser eigentlich im Deutschunterricht zu vermittelnden, tatsächlich aber nur im Lateinunterricht wirklich gelernten Grundlagen entscheidet oft über den Studienerfolg in den Philologien. Von daher ist es auch für die Nachbardisziplinen der klassischen Philologie wichtig, dass Latein und Griechisch weiterhin einen festen und am besten noch deutlich ausgebauten Platz beim Erwerb der Hochschulreife haben. Übrigens haben in der Altorientalistik Versuche, auf die lateinischen Grammatikbegriffe zu verzichten und die deutsche Begrifflichkeit zu verwenden, bei den Studierenden für weit größere Verwirrung gesorgt als die Forderung, die lateinischen Fachbegriffe bei der Grammatikanalyse zu gebrauchen. Weitere allgemeine „Erwartungen“ an die klassische Philologie habe ich nicht – aber durchaus zwei spezielle Wünsche: Zum einen würde ich mir wünschen, dass die Edition der Schriften von weniger bekannten Autoren, bei allem Interesse an der Ausdeutung wichtiger und wirkmächtiger Philosophen, nicht allzu sehr ins Hintertreffen gerät. Ich mag mich aus der Außenperspektive irren, aber ich nehme eine durchaus spürbare Privilegierung von großen philosophischen oder historiographischen Autoren wie Platon, Aristoteles, Cicero oder Thukydides wahr, während beispielsweise weniger bekannte Mediziner nicht so viel Aufmerksamkeit bekommen. Als fachfremder Nachbarwissenschaftler ist man in diesem Bereich oft auf zu alte Editionen oder Ausschnitte von Schriften in zusammengestellten Quellenbüchern angewiesen; welchen Unterschied es macht, ob man mit solchen Sekundärquellen arbeiten muss oder aber neuere Editionen der Originalquellen nutzen kann, habe ich selbst während meiner frühen Post-Doc-Phase erleben dürfen, als mir die damals neu erschienene Edition der Schriften des Arztes Diokles von Karystos erst ermöglichte, meine Fragestellungen und Ergebnisse schnell und sinnvoll an diesen Schriften zu überprüfen. In diesem Be-
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reich würde ich mich für eine stärkere Auffassung von der wissenschaftlichen Gleichwertigkeit klassischer Schriften beziehungsweise eine weniger starke implizite oder auch explizite Wertung der Quellen aussprechen. Mein zweiter Wunsch ist ein, wie ich auch von Kollegen und Kolleginnen weiß, in der Altorientalistik und Ägyptologie sehr verbreiteter und richtet sich nicht nur an die klassische Philologie, sondern genauso an die Alte Geschichte. Es geht darum, aufzuhören, alle welthistorischen Anfänge mit Griechenland und Rom zu verbinden, als seien hier sämtliche Wissenschaften, Recht und Geschichtsschreibung erstmals oder wenn schon nicht erstmals, dann jedenfalls wahrhaftig erfunden worden. Diese sehr ideologische Sichtweise des 18. Jahrhunderts ist nach der Erschließung der ägyptischen und altorientalischen Kulturen im 19. Jahrhundert unhaltbar geworden, geistert aber immer noch in manchen Köpfen herum. Mir ist durchaus klar, dass ich dabei bei vielen Fachkollegen der klassischen Fächer, insbesondere hier in Marburg, offene Türen einrenne. Dennoch muss ich feststellen, dass die Tendenz, Griechenland und Rom als den Maßstab für Wissenschaft oder Philosophie zu nehmen, nach wie vor durchaus verbreitet ist: Alles, was nicht altgriechischer Begrifflichkeit oder Denkungsart entspricht, wird als unwissenschaftlich abgewertet, ausgeschlossen und missachtet. Mir scheint diese deutlich eurozentrische Sichtweise oft auch aus einer Abwehrhaltung, einer gewissen Angst vor einem scheinbaren Bedeutungsverlust zu entspringen; dabei ist dies meines Erachtens gar nicht zu befürchten, denn die Besonderheiten der griechischen und römischen Denkungsart treten doch gerade vor der Matrix der vorhergehenden Kulturen erst so richtig deutlich hervor. Das Besondere der griechischen und römischen Philosophie und Wissenschaft verliert nichts, wenn man aufhört zu behaupten oder durch Verschweigen zu suggerieren, dass es aus dem Nichts entstanden sei. Hier würde ich mir wünschen, dass dies auch im universitären Unterricht den Studierenden stärker als bisher vermittelt wird.
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Von Zwergen, Riesen, Bienen, Spinnen und humanoiden Robotern Überlegungen zum Verhältnis von Alt- und Neuphilologie an Universität und Schule Sonja Fielitz & Maike Gotthardt In diesem Beitrag möchten wir einige Überlegungen anstellen, wie sich das Verhältnis von Altphilologie beziehungsweise dem Schulfach Latein, und Neuphilologie – hier der Anglistik beziehungsweise dem Schulfach Englisch – gegenwärtig beschreiben lässt. Bekanntlich ist es heutzutage keine Selbstverständlichkeit mehr, dass universitär gebildete Menschen in der westlichen Welt Latein können, und auch Universitätsprofessor*innen in den neueren Philologien verfügen nicht mehr erwartbar über Kenntnisse der Kulturen und Sprachen der griechischen und lateinischen Antike. Auch wenn für die Zulassung zu vielen Studiengängen mittlerweile kein Latinum mehr gefordert wird, sind (mehr oder weniger profunde) Lateinkenntnisse aus der Schule für geistes- und auch naturwissenschaftliche Studienfächer definitiv von Vorteil. Noch immer werden freilich Lehrer*innen an deutschen Schulen mit dem Vorurteil von Eltern konfrontiert, Latein sei doch eine ‚tote‘ Sprache, die für ihre Kinder zu nichts Nutze sei. Dagegen lässt sich freilich einwenden, dass die lateinische Sprache schon allein dadurch ‚weiterlebt‘, dass nicht nur Sprecher*innen von romanischen Sprachen, sondern auch des Deutschen und des Englischen sie täglich unbewusst anwenden: bei mehr als der Hälfte aller englischen Wörter handelt es sich um lateinische Lehnwörter. 1 1
Heute sind zirka 80 % des Bestandes des Oxford English Dictionary romanischer oder direkt lateinischer Herkunft, und unter den am häufigsten verwendeten Wörtern sind mehr als die Hälfte lateinischen Ursprungs.
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Des Weiteren entwickelt sich durch eine im Lateinunterricht permanent stattfindende Kommunikation über Kasus, Deklinationen, Konjugationen, Partizipialkonstruktionen und vieles mehr bei den Lerner*innen ein Bewusstsein von grammatischen Strukturen und Fachbegriffen, so dass Latein in der Schule das Erlernen der englischen Sprache signifikant erleichtert. An der Universität passiert es immer wieder in mündlichen Staatsexamensprüfungen der Anglistik, dass Studierende beispielsweise –ing-Formen nicht korrekt erkennen und benennen können. Die dann folgende Frage der Prüferin „Hatten Sie Latein?“ wird von diesen Kandidat*innen dann in 99 % der Fälle mit „nein“ beantwortet. Hätten sie Latein gehabt, wüssten sie Gerund („The art of speaking well is difficult“ = „ars bene dicendi difficilis est“), Gerundiv („I am to stay at home“ = „mihi domi manendum est“) und Partizip zu erkennen und auseinanderzuhalten, zumal mit dessen Markern von Vorzeitigkeit („Having set out for Egypt, Caesar neglegted Rome“ = „Caesar in Aegyptum profectus Romam neglexit“), Gleichzeitigkeit („Coming to Egypt Caesar neglegted Rome“ = „Caesar in Aegyptum veniens Romam neglexit“ ) und Nachzeitigkeit („Willing to see Cleopatra Caesar went to Egypt“ = „Caesar Cleopatram visurus in Aegyptum profectus est“). Das absolute Partizip („This done, we went home“) mag heute im Englischen nicht mehr sehr gebräuchlich sein, und die wenigsten Sprecher dürften wissen, dass es sich bei einer beliebten Konstruktion wie „I know her to be a polite lady“ um einen Accusativus cum infinitivo (AcI) handelt. Auch ist die lateinische Syntax, insbesondere die Hypotaxe, seit je her Vorbild für klassisch gebildete Brit*innen gewesen und prägt bis heute gehobene Konversation. Nicht nur auf der sprachlichen, sondern auch auf der inhaltlich-kulturellen Ebene kann Latein das Erlernen des Englischen maßgeblich befördern und zu lebendigen Gesprächen im Klassenzimmer führen. So bieten lateinische Lehrbuchtexte heutzutage aktuelle Themen an, wie zum Beispiel eine Art ‚Flüchtlingsdebatte‘, also eine Argumentation der Römer bezüglich der Griechen, in der (ähnlich wie in der aktuellen Flüchtlingsdebatte) Ängste vor der Zusammenführung von Kulturen und ein daraus potentiell resultierender Rassismus thematisiert werden. Wenn in einem Lehrbuch die Römer dafür plädieren, die griechische Philosophie und ihre Vertreter – welche sie im
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Übrigen als ‚Barbaren‘ bezeichnen – aus der Stadt fernzuhalten und zu vertreiben, da sie den römischen Geist verweichlichten und die römischen jungen Männer davon abhielten, ihre Körper zu trainieren, was deren Fähigkeiten als Soldaten zu mindern drohe, entstehen in einer Klasse schnell lebhafte Diskussionen, die die Übertragbarkeit der antiken Verhältnisse auf die Imperialismusdebatte (in der Großbritannien bekanntlich eine maßgebliche Rolle spielte) zu erkennen: Ex urbe pellere debemus illos philosophos Graecos, qui orationibus suis [...] mutabunt animos [...] Romanorum, [...] exstinguent civitatem nostram! [...] Aus der Stadt vertreiben müssen wir diese griechischen Philosophen, die mit ihren Reden das Denken der Römer verändern [und] unseren Staat auslöschen werden!2
Auch zeitlose Themen wie Liebe, Freundschaft und Eifersucht spielen im Lateinunterricht dadurch eine Rolle, dass in Schulbüchern Originaltexte von Ovid, Vergil, Seneca und vielen mehr auf ein sprachlich niedrigeres Niveau heruntergebrochen werden, ohne dass dabei der Inhalt verflacht würde. So werden im modernen Lateinunterricht beispielsweise die philosophischen Schulen und Lehrmeinungen der Stoa und des Epikureismus nicht nur inhaltlich erarbeitet, sondern auch kritisch beleuchtet und hinterfragt. In diesem Zusammenhang kommt oft die Frage auf, ob Aeneas Dido verlässt, weil er ein stoischer Held ist, das heißt, weil er sein fatum3 erkennt und einsieht, oder ob er die Stoa aus Feigheit missbraucht, um sich der Verantwortung zu entziehen, eine Beziehung, die für ihn an Reiz verloren hat, zu beenden. Es geht also um die Verantwortung des Einzelnen für sein eigenes Handeln im Gegensatz zur Abgabe dieser Verantwortung an andere, seien es Mitmenschen oder gar Götter. Bei diesen handelt es sich laut der Lehre Epikurs, Antrag Catos an den Senat – Auszug aus Lektionstext 29 des Schulbuchs Prima, welches in etlichen Bundesländern an Schulen eingesetzt wird. 3 Gemeint ist der Weg beziehungsweise die Bestimmung, der/die laut der Stoa jedem Menschen vorgegeben ist und den/die das Individuum lediglich erkennen und aus Einsicht befolgen muss, um Glückseligkeit zu erlangen. 2
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des Lehrmeisters der zweiten etablierten Philosophenschule der Antike, entweder um etwas Menschengemachtes oder bestenfalls um Phänomene, die mit den Geschehnissen auf der Welt nichts zu tun haben, da sie im Falle einer Existenz im Gegensatz zu den Menschen und ihren weltlichen Angelegenheiten viel zu vollkommen wären. Der Mensch, so Lukrez in seinem eng an die Lehre Epikurs angelehnten Werk De rerum natura, braucht die Götter, wenn er in der Welt Phänomene vorfindet, die er mit seiner ratio nicht zu erklären vermag – denn diesen Zustand hält er nicht aus –, oder aber dazu, um diesen die Verantwortung für Ungerechtigkeiten zuzuschieben, die ihm im Laufe seines Lebens widerfahren. Ob oder inwiefern man dem zustimmt, bedarf einer gründlichen Reflexion und Auseinandersetzung mit der eigenen Persönlichkeit, und dazu genügt es – heute wie in der klassischen Antike oder dem England des 17. Jahrhunderts (siehe unten) – nicht, die Ansichten der bekannten Schulen bedingungslos hinzunehmen. 4 In nuce gibt es also genügend Argumente für das Erlernen des Lateinischen in der heutigen Zeit, und für Englisch als lingua franca der modernen Welt sowieso. Im Folgenden wollen wir diese einleitenden Erkenntnisse in einen größeren kulturellen Zusammenhang stellen.
Sprachgeschichte Wie oben ausgeführt, lassen sich moderne Sprachen, besonders die der Romania, aber auch Englisch, schneller aneignen, wenn man Latein kann. Unter 4
Dieser ‚Nicht-Nutzung‘ des eigenen Verstandes beugt beispielsweise auch Aldous Huxleys Roman Brave New World vor (1932), der die Errichtung einer Dystopie beziehungsweise eines totalitären Regimes, die Einteilung von Menschen in Klassen von Alpha bis Epsilon und die daraus folgende Heranzüchtung von Embryonen mit gewünschten Eigenschaften behandelt. Ein Motiv, um aufzuzeigen, wie es diesem menschenunwürdigen System immer mehr gelingt, sich zu etablieren, ist das von Studierenden, die gedankenlos das mitschreiben, was ihnen ihr Professor im oben genannten ‚Untersuchungs- und Zuchtlabor‘ diktiert. Sie reflektieren dabei zu keinem Zeitpunkt die Konsequenzen ihres Handelns und sehen die Verantwortung für dieses in dem System, das ihnen ja vorgegeben wird und nach dem man sich zu richten hat – ganz so, wie man auch das stoische fatum zu erkennen und sein Leben danach auszurichten hat.
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den germanischen Sprachen hat das Englische aufgrund seiner besonderen Sprachgeschichte5 einen für Europa ungewöhnlichen Reichtum des Wortschatzes, der aus dem Lateinischen abgeleitet wurde. Die Sonderentwicklung des Englischen begann spätestens mit der normannischen Eroberung im Jahre 1066, und bis heute haben sich im Englischen stark von französischen Lehnwörtern geprägte Sachbereiche gehalten, wie Staatswesen, Verwaltung und Adel (state, office, country, money, crown, nobility), Rechtswesen (judge, justice, crime, verdict, advocate), die Sprache der Geistlichkeit (theology, religion, faith, abbey, mercy, pity, preach, service, clergy, parish, sermon), Militär- und Kriegswesen (army, navy, castle, fortress), Wissenschaft und Kunst (beauty, colour, image, university, college, library, romance), Speisen (sausage, mustard, orange)6, Mode (gown, cloak, costume) und Architektur (arch, tower, pillar, vault, porch, column, aisle, choir, chapel, cloister). Direktentlehnungen wie criterion, cosmos oder pathos wurden aus dem Griechischen übernommen. Generell sind bis heute die Bereiche der Botanik, Zoologie und Medizin im Englischen weitgehend von lateinischen Termini geprägt. Im Großbritannien des Jahres 2020 AD ist das klassische Erbe im täglichen Leben sozusagen ,invisiblyʻ präsent, wenn wir in London mit der Tube in der Circle Line und der Central Line unter anderem über den Oxford Circus fahren. Wir lesen den Spectator, fahren in Autos des Fabrikats Morris Minor, und im öffentlichen Raum stehen public conveniences zur Verfügung.7 Die Wappensprüche von Oxford und Cambridge bis Harry Potters Hogwarts sind bis heute in Latein gehalten, im Theater spricht man einen soliloquy, und man bewirbt sich mit seinem CV (curriculum vitae). Wohl kaum ein junger Mensch schaut nicht täglich mehrere videos oder lädt sich audio files aus dem Internet herunter.
Vgl. zum Folgenden: Ekkehard König und Volker Gast, Understanding EnglishGerman Contrasts, Berlin 2007. 6 Die meisten Tiere erfreuen sich während der Aufzucht (noch) angelsächsischer Namen wie ox, cow, sheep und swine, und werden mit französischen Bezeichnungen als beef, mutton, pork verspeist. 7 Also die Örtlichkeit, die Kaiser Vespasian mit dem berühmten „pecunia non olet“ mit einer Steuer belegte und die in Frankreich in Erinnerung an diese Steuer bis heute vespasiennes heißt. 5
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Humanismus Jahrhundertelang waren Wörter aus dem klassischen Erbe gewissermaßen aus ‚zweiter Hand‘, das heißt aus dem Französischen, ins Englische übernommen worden, bis man im 15./16. Jahrhundert im Zuge der intellektuellen Bewegung des Humanismus wieder direkt auf das Lateinische rekurrierte und dieses auch zu einem bewussten (Stil-)Mittel der sozialen Abgrenzung wurde. Die Epoche der Renaissance, für die sich seit den 1980er Jahren der Begriff ,Frühe Neuzeitʻ etabliert hat, wäre ohne das antike Erbe nicht denkbar. Seit dem Humanismus, der Wissensstoffe aus Italien nach England brachte und Latein und Griechisch für das Studium der Fachwissenschaften etablierte, hatte sich, von Oxford ausgehend, Latein als die Sprache der Gebildeten durchgesetzt. Mittellatein erschien den Neulatein schreibenden Gelehrten und Literaten als schwerfällig, und sie waren bestrebt, die Prinzipien der elegantia und Latinitas möglichst im Stile Ciceros an den Grammatikschulen (grammar schools) durchzusetzen. Erasmus von Rotterdam besuchte im beginnenden 16. Jahrhundert mehrfach London und Cambridge, wo er Griechisch lehrte, und pflegte internationale Kontakte mit Thomas More und John Skelton. Der Zufluss lateinischer Wörter in die englische Sprache in dieser Zeit manifestiert sich in auf Englisch abgefassten Urkunden, Gesetzen und anderen amtlichen Schriftstücken. Die zahlreichen Übersetzungen antiker Texte, die seit dem 15. Jahrhundert in England entstehen, unter anderem Arthur Goldings Übersetzung der Metamorphosen Ovids (1567), Thomas Norths Übertragung der Bioi Paralleloi Plutarchs (1579) sowie die vollständige Homer-Übersetzung von George Chapman (1598), brachten noch einmal neues Lehngut in die englische Sprache und damit insgesamt eine Vielzahl von Wörtern, die in den anderen germanischen Sprachen nicht annähernd erreicht wurde. Dieser Zufluss klassischen Lehnguts ins Englische fand freilich auch seine Kritiker wie Thomas Wilson in The Arte of Rhetorique (1553) oder Sir Philip Sidney, die vor der „strangeness“ und „obsurity“ dieser Wörter warnten. Bereits zu
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Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden die ersten Hard Word Dictionaries (das erste 1604, herausgegeben von Robert Cawdrey). 8 Neulatein erlebte eine Blütezeit in der Frühen Neuzeit in literarischen Werken wie der 1516 erschienenen Utopia des Thomas More (Morus), die 1551 ins Englische übersetzt wurde und namensgebend für eine ganze Gattung werden sollte. Vor allem im 17. Jahrhundert wurde Neulatein – im Zusammenhang mit der zunehmenden Bedeutung der Naturwissenschaften – die lexikalische Hauptquelle der modernen Wissenschaftssprachen, so in Francis Bacons Novum Organum (1620), William Harveys Exercitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus (1628) und gegen Ende des 17. Jahrhunderts Sir Isaac Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica (1687). Insgesamt hat also die Romanisierung und Latinisierung seines Wortschatzes das Englische zu einer der wortreichsten Sprachen werden lassen und seine semantische wie stilistische Ausdrucksfähigkeit verfeinert, was sich in den bedeutendsten literarischen Werken der englischen Literatur (dazu weiter unten) am deutlichsten widerspiegelt. Freilich besteht auch bis heute die Sprachhürde der hard words eben klassischer Provenienz als sprachsoziologisches Problem, das vielleicht George Bernhard Shaw in seinem Theaterstück Pygmalion (1913) am eindrücklichsten literarisch umgesetzt hat.
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Der vollständige Titel lautet: A table alphabeticall conteyning and teaching the true writing, and understanding of hard vsuall English wordes, borrowed from the Hebrew, Greeke, Latine, or French, &c. With the interpretation thereof by plaine English words, gathered for the benefit & helpe of ladies, gentlewomen, or any other unskilfull persons. Whereby they may the more easilie and better vnderstand many hard English wordes, vvhich they shall heare or read in scriptures, sermons, or elswhere, and also be made able to vse the same aptly themselues. Das Wörterbuch umfasste zirka 2500 Einträge in alphabetischer Reihenfolge.
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Literatur und Kultur I – Renaissance/Frühe Neuzeit Die beiden Epochen der britischen Literatur, in denen die klassischen Literaturen und Kulturen eine große Rolle spielten, waren die Frühe Neuzeit und der sogenannte Klassizismus, auf die wir im Folgenden in dem hier möglichen Rahmen und der gebotenen Kürze eingehen wollen. In der Frühen Neuzeit beziehen sich die bekanntesten Dramatiker und Dichter der Zeit, also William Shakespeare, Christopher Marlowe und Ben Jonson (und natürlich noch viele andere mehr) auf antike Texte. Shakespeare, dessen Werke beziehungsweise Werkauszüge bis heute auch zum Schulkanon gehören (wenn sie auch nicht mehr in allen Bundesländern abiturrelevant sind), wäre ohne Plutarchs Parallelleben und Ovids Metamorphosen vielleicht nicht gänzlich verloren gewesen, hätte aber beispielsweise seine Römerdramen Julius Caesar, Antony and Cleopatra, Coriolanus sowie Titus Andronicus und Timon of Athens möglicherweise nicht, oder zumindest in anderer Weise geschrieben, eben weil ihm die Vorlage, Plutarchs Parallelleben, gefehlt hätte. Shakespeares Versepos Venus and Adonis basiert natürlich, wie auch viele seiner Dramen (erwähnt werden sollen hier nur A Midsummer Night’s Dream und The Winter’s Tale) auf den Mythen aus Ovids Metamorphosen (die beispielsweise aktuell ein Schwerpunktthema im Lateinabitur in Bremen darstellen). Sein Zeitgenosse Ben Jonson, der einen akademischen Bildungshintergrund hatte, landete mit seinen Tragödien Sejanus His Fall (1603) und Catiline His Conspiracy (1611) nicht gerade Publikumshits, brachte aber historisch korrekt römische Geschichte auf die elisabethanisch-jakobäische Bühne. Sir Philip Sidney versuchte sich mit The Fairie Queene (1590) an der Gattung Epos (dann im 17. Jahrhundert, weit erfolgreicher, John Milton mit Paradise Lost 1667 und Paradise Regained 1671). Selbstredend bedienten sich auch unzählige weitere Autoren der Frühen Neuzeit antiker Stoffe.
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Literatur und Kultur II – Klassizismus Die Epoche des Klassizismus, für die sich auch die Bezeichnung Augustan Age durchgesetzt hat, ist ebenfalls ohne klassische Antike nicht denkbar. Erinnert sei hier nur an Henry Fielding, Dr. Samuel Johnson, Alexander Pope mit seinen Homer-Übersetzungen, Jonathan Swift (dazu weiter unten), Laurence Sterne, William Thackeray und Jane Austen. Bereits das 17. Jahrhundert sah maßgebliche Entwicklungen und Entdeckungen im Bereich der Naturwissenschaften, unter denen die von Sir Isaac Newton (1642–1726) die prominentesten sein dürften. Diese neuen Erkenntnisse nahmen ihren Anfang mit Sir Francis Bacon (1561–1626) und seiner induktiven Methode, die versuchte, „nature“ durch Beobachtung und Experiment zu erklären, und nicht mehr deduktiv aus bereits Bekanntem abzuleiten. „Observation“ und „experience“ lösten methodisch die Erforschung von „words“ (Rhetorik) und Urteilen über andere („judgements“) ab. In diesem Zusammenhang kam die philosophische Frage auf, ob sich die Alten (Ancients) oder die Neuen (Moderns) durch mehr Wissen auszeichnen, und diese Kontroverse fand in England als The Quarrel of the Ancients and Moderns 9 Eingang in die Literatur- und Kulturgeschichte. Bereits 1627 hatte George Hakewill die Autorität antiker Vorbilder in Frage gestellt, sein Plädoyer für die Modernen jedoch paradoxerweise noch mit Zitaten klassischer Autoren untermauert. Edward Reynolds riet in dieser Frage 1658 zu einer maßvollen Haltung, und weitere dreißig Jahre später warnte Thomas Pope Blount in seinem Essay Of the Ancients, and the Respect that is due unto them: That we should not too much enslave our selves in their Opinions (1691) davor, bekannten Lehrmeistern alles bedingungslos zu glauben. 10 Der dezidierteste
Vgl. Alfred O. Aldridge, Ancients and Moderns in the Eighteenth Century, in: Dictionary of the History of Ideas, hg. von Philip P. Wiener, New York 1973, I, 76–87. 10 Aufgrund ihrer naturwissenschaftlich-technischen Errungenschaften der Gegenwart waren die Modernen stolz und überzeugt von sich und setzten an die Stelle der bis dahin geltenden normativen Verbindlichkeit der Antike den Leitsatz der Unveränderlichkeit der menschlichen Anlagen im Verlaufe der Geschichte, was letztlich eine Gleichordnung von Antike und Moderne erlaube. Vgl. dazu Elke Wawers, Swift zwischen Tradition und Fortschritt. Studie zum ideengeschichtlichen Kontext von The Battle of the Books und A Tale of a Tub, Frankfurt a. M. 1989, 35. 9
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Vertreter der Ancients in England war Sir William Temple, ein höchst gebildeter und angesehener country gentleman ‚alter Schule‘. Mit seinem Essay upon the [sic] Ancient and Modern Learning (1690) leitete er die prominenteste Phase des Disputs zwischen Alten und Neuen ein, in die sich unter anderem auch Jonathan Swift (dazu weiter unten) einbrachte.
Von Zwergen und Riesen Ein berühmter Aphorismus im Zusammenhang mit der Querelle des Anciens et des Modernes, der das Verhältnis der jeweils aktuellen Wissenschaft und Kultur zu den Werten und Leistungen früherer Generationen zu bestimmen versucht, ist der von den Zwergen (der Moderne), die auf den Schultern von Riesen (der Antike) stehen und dadurch umso weiter in die Ferne sehen können. Die Zweideutigkeit des Aphorismus besteht darin, dass nicht nur die Zwerge, die hoch auf den Schultern der Riesen thronen, Erfolge erzielen können, sondern auch die Riesen unabdingbar sind, ohne die es die Höhe nicht gäbe, von der aus die Zwerge Ausschau in die Ferne halten könnten. 11 Aus der Sicht traditionsbewusster moderner Wissenschaftler erscheinen also Gelehrte der klassischen Antike als Riesen und sie selbst als Zwerge, die von den Pionierleistungen der Vergangenheit profitieren, auch wenn sie diesen größenmäßig unterlegen sind. Allerdings fügen eben umgekehrt die modernen Wissenschaftler dem bestehenden Wissensschatz der Alten ihren eigenen Beitrag noch hinzu und ermöglichen somit einen Erkenntnisfortschritt, sodass die Zwerge die Riesen letztlich (paradoxerweise) übertreffen können. Dadurch, dass sie oben stehen, wird dann auch schnell einmal unreflektiert zu ihnen aufgeschaut, wobei das Fundament aus dem Blickfeld geraten kann.
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Man könnte freilich die Frage stellen, wie die Zwerge auf die Schultern der Riesen befördert werden, und wie die Zwerge dort ihre Balance bewahren. Welche Folgen hätte es etwa, wenn die Riesen – durch Dritte verursacht – stolpern oder gar stürzen würden? Umberto Eco lässt in seinem Roman Der Name der Rose (1982) die Zentralfigur William von Baskerville im ersten Gespräch mit Bruder Nicolas das Riesen-Gleichnis vortragen. Am Ende des Romans wandelt William das Zitat ab zu „[Der wissenschaftliche Geist] muoz gelîchesame die leiter abewerfen, sô er an ir ufgestigen.“ Es ließe sich fragen, wer die Leiter angelegt hat.
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Ohne hier auf die Geschichte der Entstehung und Rezeption dieses Gleichnisses eingehen zu können,12 muss die Erinnerung daran genügen, dass kein Geringerer als Sir Isaac Newton von sich sagte, “If I have seen further it is by standing on ye shoulders of giants”.13
Jonathan Swift, The Battle of the Books Weit weniger bekannt als das Gleichnis von den Zwergen und Riesen, aber für unser Erkenntnisinteresse mindestens ebenso ergiebig ist Jonathan Swifts (1667–1745) kurze Satire14 The Battel15 of the Books (1704), eine ebenso geistreich-gelehrte wie amüsante literarische Darstellung der Kontroverse von klassisch-antikem Erbe und zeitgenössischen Literaten. A Ful and True Account of the Battel16 Fought last Friday between the Ancient Vgl. Tobias Leuker, Zwerge auf den Schultern von Riesen: Zur Entstehung des berühmten Vergleichs, Mittellateinisches Jahrbuch 32 (1997), 71–76, und die (etwas wortreiche, nicht ganz stringent angelegte) Monographie von Robert K. Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, Frankfurt a. M. 1990; im Original: On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript (1965). Gemäß Merton taucht der Gedanke von den Zwergen auf den Schultern von Riesen nachgewiesenermaßen zum ersten Mal bei John of Salisbury in der schriftlichen Überlieferung auf (ebd., 43). Salisbury zitiert wiederum Bernhard von Chartres. 13 In einem Brief an Robert Hooke vom Februar 1676. Ab dem 19. Jahrhundert schrieb man diese Wendung ganz Newton zu; vgl. Merton (wie Anm. 12), 40. 14 Vgl. zu Swift und der Satire seiner Zeit als grundlegend: Wolfgang Weiß, Swift und die Satire des 18. Jahrhunderts, München 1992. Des Weiteren zu diesem Themenbereich: Johann N. Schmidt, Satire: Swift und Pope, Stuttgart 1977. Englischsprachig empfiehlt sich: Howard D. Weinbrot, Eighteenth-Century Satire. Essays on Text and Context from Dryden to Peter Pindar, Cambridge/New York 1988, und Irvin Ehrenpreis, Swift, the Man, His Works, and the Age, I: Mr. Swift and his Contemporaries, Cambridge (Mass.) 1962. 15 Im Folgenden wird die heute im Britischen Englisch übliche Schreibung Battle verwendet werden. 16 Vgl. zu The Battle of the Books: Wawers (wie Anm. 10) und Joseph M. Levine, The Battle of the Books. History and Literature in the Augustan Age, Ithaca/London 1991. Alle Zitate und Textverweise beziehen sich auf Hermann Josef Real, Jonathan Swift, The Battle of the Books. Eine historisch-kritische Ausgabe mit literarhistorischer Einleitung und Kommentar, Berlin/New York 1978. 12
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and the Modern Books in St. James’s Library wurde im Jahr 1704 zusammen mit A Tale of a Tub und A Discourse Concerning the Mechanical Operation of the Spirit in London bei dem vergleichsweise unbekannten Verleger John Nutt veröffentlicht. Sie beschreibt detail- und personenreich in einem allegorischen Geschehen, in dem Autoren durch ihre Bücher beziehungsweise Folianten repräsentiert werden, eine Bücherschlacht epischen Ausmaßes in der King’s Library in St James’s Palace in London 17. Die Modernen machen den Alten den höheren der zwei Gipfel des Musenbergs Parnass, den erstere seit Menschengedenken innehaben, streitig und erheben damit den Anspruch, die Alten als Autoritäten abzulösen. Sie sind nicht länger gewillt, sich als gehorsame Nachahmer auf den mos maiorum zu berufen und lehnen sich im Glauben an ihr Fortschrittsstreben gegen die Autorität der Vorfahren auf. Die Modernen schlagen den Alten vor, … either that the Ancients would please to remove themselves and their Effects down to the lower Summity, which the Moderns would graciously surrender to them, and advance in their Place. Or else, that the said Ancients will give leave to the Moderns to come with Shovels and Mattocks, and level the said Hill, as low as they shall think it convenient. (50–54)
Die Alten freilich lehnen dieses Ansinnen einer „colony, whom they had admitted out of their own Free Grace, to so near a Neighbourhood“ (56–57) entschieden ab und verweisen darauf, dass ihr Gipfel ein „entire Rock“ (65) sei, an dem die Werkzeuge der Modernen zerbrechen würden, ohne dass dieser Schaden leiden würde. Stattdessen sollten die Neuen doch ihren Gipfel erhöhen, was die Alten nicht nur gestatten, sondern wozu sie auch gerne
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Der zeitgeschichtliche Kontext ist der, dass der hoch angesehene William Temple kompromittiert worden war, als Dr. Richard Bentley, Bibliothekar in der königlichen Bibliothek in St James´s Palace, eine falsche Datierung der Werke Aesops nachweisen und zudem beweisen konnte, dass die Briefe des Phalaris, die Temple für echt erklärt hatte, eine Fälschung waren. Der junge Charles Boyle, 4th Earl of Orrery (1674–1731) und Jonathan Swift widmeten sich der Ehrenrettung Temples und traten auf seiner Seite in die Auseinandersetzung ein.
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beitragen würden. All dies lehnen die Modernen „with much Indignation“ (70) ab, und es kommt zu „a long and obstinate War“ (72). In Swifts Darstellung werden die Neuen als aggressiv und streitsüchtig beschrieben, wogegen die Alten sich als friedfertig erweisen (so lebt etwa Platon schon seit 800 Jahren unter den Theologen; 118–120).18 Als die Schlacht beginnt, formieren sich zunächst die Reihen mit ihren Heerführern, dann intervenieren – ganz den antiken Epen verpflichtet – die Götter, und in Einzelgefechten stehen sich dann unter anderem Aristoteles und Bacon gegenüber, wobei der Grieche nicht diesen, sondern Descartes mit seinem Pfeil durchbohrt (515–522). In einem weiteren Einzelgefecht treffen der elegante Vergil „in shining Armour, compleatly fitted to his Body“ (546) und Dryden aufeinander, und Letzterer verdankt sein Leben lediglich dem Großmut Vergils, weil Dryden diesen „Father“ nennt (565) und unter Bemühung einer langen Genealogie zu entwickeln versucht, dass sie doch fast verwandt seien. Pindar erschlägt in dieser Schlacht „Aphra“ (Behn), „the Amazon, light of foot“ (596– 97), und unter den Opfern befinden sich auch die beiden Hauptfeinde der antiqui, Richard Bentley und William Wotton. Als diese versuchen, die Waffenrüstungen der schlafenden Alten Äsop und Phalaris zu entwenden, überrascht sie der junge Charles Boyle und durchbohrt beide Räuber mit einem einzigen Wurf seiner Lanze. Letztlich gibt es keinen Sieger, denn ab dem letzten Drittel des Battle gibt der Herausgeber des Manuskripts vor, dieses sei an manchen Stellen lückenhaft, was mit „pauca desunt“; „desunt nonnulla“ oder „Ingens hiatus hic in MS“ markiert wird. Es bleibt dem Rezipienten überlassen, sich das Ende der Schlacht zu erschließen. The Battle of the Books endet mit „And now…. Desunt caetera”. Mitten in das Schlachtgetümmel („Things were at this Crisis“, 213) bettet Swift eine für unsere Überlegungen ebenfalls einschlägige Episode ein, nämlich eine Allegorie von Biene und Spinne. 19 Erstere (die die Alten Während auf der Seite der Alten nicht ein einziger Held besiegt oder ernsthaft verletzt wird, fallen zahlreiche Kämpfer auf Seiten der Modernen oder werden zumindest schwer verwundet. 19 Beide Tiere sind seit der Antike Metaphern für einen schöpferischen Prozess, und Swift betont weniger die Originalität ihres Produkts als vielmehr dessen Nutzen für die Menschheit. Die Biene schenkt den Menschen Honig und Wachs, macht diesen durch ihre Arbeit das Leben süß und hell. Die Produkte der Spinne sind 18
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repräsentiert) ist unabsichtlich durch ein zerbrochenes Fenster in die Bibliothek gelangt und im Netz einer Spinne (die die Modernen verkörpert) hängengeblieben. Da das Netz unter dem Gewicht der Biene sofort zerreißt, stürzt die Spinne empört aus ihrem Versteck hervor. Sie erscheint „swollen up to the first Magnitude, by the Destruction of infinite Numbers of Flies” (214–215) und verflucht „like a Mad-man“ (240) die Biene für ihre Ungeschicklichkeit und für die „Ruins and Dilapidations“ (239) ihres „Palace“ (216), der „all after the Modern way of Fortification“ (218–219) erbaut wurde und später noch als (abschottende) „Cittadel“ (227) bezeichnet wird. Die Spinne wirft der Biene unmissverständlich vor, sie habe noch anderes zu tun „but to Mend and Repair after your Arse“ (246) und mahnt sie, „you should have more Respect to a Person, whom all the world allows to be so much your Betters” (255–56). Die Biene sei nichts als eine Herumtreiberin, „a Vagabond without House or Home, without Stock or Inheritance“ (264– 265), die nur die Natur plündere. Sie, die Spinne, dagegen habe ihr Zuhause mit ihren eigenen Händen („Hands“, 272) errichtet und das Baumaterial aus sich selbst gewonnen („he Spins and Spits wholly from himself, and scorns to own any Obligation of Assistance from without“, 330). Die Biene antwortet, dass alles, was sie aus der Natur sammle, der Schönheit oder dem Duft der Blumen und Blüten in Feld und Garten keinen Schaden zufüge (278– 280). Das Zuhause der Spinne sei zwar mit „Labour and Method enough“ (282–83) und „a good plentiful Store of Dirt and Poison in your Breast“ (285) erbaut worden, aber es sei „too plain, the Materials are nought, and I hope, you will henceforth take Warning, and consider Duration and Matter, as well as Method and Art.“ (283–85). Die Episode schließt mit dem folgenden Fazit: So that, in short, the Question comes all to this; Whether is the nobler Being of the two, that which by a lazy Contemplation of four inches round; by an over-weening Pride, which, feeding and engendering on it self, turns all into Excrement and Venom; producing nothing at all
zwar völlig auf diese gestellt/eigenständig gefertigt, sind aber für andere vollkommen nutzlos. Zudem ist die Spinne eine natürliche Feindin der Biene, und seit dem Mythos von Arachne und Minerva im sechsten Buch von Ovids Metamorphosen galt sie als Symbol für Vermessenheit und Stolz.
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but Fly-bane and a Cobweb; Or That, which by an universal Range, with long search, much Study, true Judgment, and Distinction of Things, brings home Honey and Wax. (294–300)
Damit illustriert diese Allegorie das Thema des gesamten Battle (der nach diesem Intermezzo durch Aesop, der als erster das Schweigen bricht, fortgesetzt wird): Die Biene verhält sich wie die Alten, indem sie in einem langen und überlegten Prozess mit „Judgment“ Material aus der Natur sammelt und daraus ihre nützlichen Produkte Honig und Wachs erschafft. Die Spinne dagegen verhält sich wie die Modernen.20 Sie tötet Schwächere und spinnt dann ihr Netz von den Ausscheidungen, die aus ihrer Verdauung der Beutetiere resultieren. Dies wird in einem langen Kommentar des Aesop noch einmal verdeutlicht: „Erect your Schemes with as much Method and Skill as you please; yet, if the materials be nothing but Dirt, spun out of your own Entrails (the Guts of Modern Brains) the Edifice will conclude at last in a Cobweb.” (334–339). Die Alten dagegen halten sich an die Biene: … to pretend to Nothing of our won, beyond our Wings and our Voice, that is to say, our Flights and our Language … The Difference is that, instead of Dirt and Poison, we have rather chose [sic] to fill our Hives with Honey and Wax, thus furnishing Mankind with the two noblest of things, which are Sweetness and Light. (347–353)
Insgesamt illustriert The Battle of the Books eines der großen Themen Swifts, die er auch in anderen Werken wie A Tale of a Tub und Gulliver’s Travels (das bekanntermaßen auch mit Größenverhältnissen spielt) darstellte, nämlich die Anmaßung und Dummheit, seine eigene Zeit unreflektiert als überlegen anzusehen.21 20 21
Literaten wie auch Kritiker, die ebenfalls an der Schlacht beteiligt sind. Diese Botschaft lässt sich übertragen auf die aktuellen und hier als Beispiel dienenden bremischen Abiturthemen im Fach Englisch: ‚Australia‘, ‚Canada – A land of diversity‘, ‚African American Experiences‘. Diese befassen sich schwerpunktmäßig mit der Arroganz insbesondere von Kolonialisten beziehungsweise ‚nicht-indigenen‘ Völkern, welche die Sprache und Kultur der Ursprungsbevölkerung ihrer eigenen gegenüber als von Natur aus minderwertig erklären. Betrachtet man die
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Der euphorische Glaube an den naturwissenschaftlichen Fortschritt der Zeit sowie die Überlegenheit desselben gegenüber dem Ursprünglichen wird also in The Battle of the Books kritisch beleuchtet, weil Anspruch beziehungsweise Selbstdefinition und Leistung der Modernen auseinanderklaffen. Swifts Moderns sind aggressive, stolze, selbstgefällige und anmaßende Krieger. Ihre Taten sind für das Wohl der Menschheit eher belanglos, und die Waffen und Leistungen der Alten bleiben in seiner Darstellung den Modernen überlegen: Erstere sind es, die „sweetness and light“ bringen. Interessanterweise hat Jakob Balde mit seinem Werk Expeditio polemico-poetica (1664) eine neulateinische Version des Battle of the Books vorgelegt,22 so dass diese Allegorie in Schule und Universität in englischer wie auch lateinischer Sprache gelesen und diskutiert werden kann!
Geschichte der oben genannten Länder, so wiederholt sich das Phänomen eines Systems, in dem Kolonialisten nach Assimilation strebten und die indigenen Werte unter Heranziehung von drastischen, verbrecherischen, menschenunwürdigen Methoden sukzessive auszurotten beabsichtigten, anstatt ein Nebeneinander der Kulturen zu praktizieren. Zu den Praktiken der Kolonialisten zählten die Entfernung von Kindern aus ihren Familien, um sie in sogenannte ‚missions‘ oder ‚reserves‘ zu bringen, die unter staatlicher oder kirchlicher Trägerschaft standen. Dort war es ihnen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen, und man erzog sie dazu, zu beten und die Rituale der Kultur der Kolonialisten zu verinnerlichen. Das alles fand unter dem Deckmantel des „Schutzes“ („in the name of protection“) statt, da die Kolonialisten sich als ‚Beschützer‘ und ‚Retter‘ sahen, welche den Nachkommen der Ureinwohner zu einem ‚besseren‘ Leben und mehr Bildung verhalfen. 22 Vgl. Peter L. Schmidt, ‘The Battle of the Books‘ auf Neulatein: Jakob Baldes ‚Expeditio polemico-poetica‘, Der altsprachliche Unterricht 27.6 (1984), 37–48.
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Fazit Was bedeuten nun Zwerge und Riesen, Biene und Spinne im Hinblick auf das Verhältnis von Klassischer und Neuerer Philologie im 21. Jahrhundert? Bei Swift erscheinen die Modernen (in unserem Fall die Anglistik, beziehungsweise das Fach Englisch) nicht gerade in vorteilhaftem Licht, und Anglist*innen wären wohl „not amused“, mit einer Spinne assoziiert zu werden. Kontern könnten die Modernen in einer Schlacht der Medien im 21. Jahrhundert weniger mit der Biene Maja als vielmehr mit virtuellen Waffen bzeziehungsweise moderner Technologie amerikanischer Prägung (Google, Facebook, Twitter etc.), die freilich wiederum durch (alte!) Viren und Trojaner attackiert werden kann, wogegen wieder (moderne) Spam Filter und Firewalls entwickelt werden müssen. Zweikämpfe gegen die Alten wären denkbar von Gesellen wie Siedlern, Minions, Pokémons und nicht zuletzt humanoiden Robotern. Aufgrund ihrer wissenschaftspolitisch beförderten Macht wären letztere durchaus durchsetzungsfähig und schlagkräftig, aber die Frage mag doch erlaubt sein, ob letztlich immer von Menschen programmierte Roboter in einer Medienschlacht wirklich intellektuell adäquate moderne Gegner für alte Schwergewichte wie Hesiod, Homer, Aristoteles, Vergil, Horaz, Ovid oder Lukrez sein könnten. Um Missverständnissen vorzubeugen: wir wollen die modernen Medien keinesfalls grundsätzlich in Frage stellen, aber doch ein angemessenes Reflexionsniveau über deren Anwendung anregen. Wirken diese sich wirklich (wie Swifts Biene) uneingeschränkt zum Wohle der Menschheit aus und bringen nichts als „sweetness and light“? Natürlich muss es im Laufe der Zeit Veränderungen geben, aber es könnte heutzutage vielleicht nicht schaden, sich das Bild der modernen Zwerge auf den Schultern der alten Riesen in Erinnerung zu rufen (wenn man denn noch über klassische Bildung verfügt). Fruchtbringend erschiene es uns, wenn die Modernen, also in unserem Fall Anglist*innen und Englischlernende und – lehrende sich immer wieder neu mit den Schriften und der Kultur der Alten auseinandersetzten. Bei jeder Re-Lektüre (digital oder im Druck) können diese wieder neue Facetten und Erkenntnisse in uns Modernen generieren, da sich unser eigenes intellektuelles Wahrnehmungsvermögen in unserem kulturellen Umfeld kontinuierlich verändert. Auch wenn wir zugunsten der Modernen
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argumentieren können, dass mediale Fortschritte im Bereich der Digitalisierung erreicht wurden, sollten wir Modernen als Zwerge bescheiden bleiben und aus unserer sich immer wieder neu konfigurierenden Perspektive von den alten Riesen lernen und profitieren. 23 Halten wir es letztlich mit Heraklits panta rhei, Horaz’ aurea mediocritas und der modernen Einsicht, dass nur die Synthese beziehungsweise das blending neuer und alter Denkweisen und Handlungen erfolgversprechend und zukunftsweisend sein kann.
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Gemeinsame Projekte von Alt- und Neuphilologie in der Literaturwissenschaft ließen sich (abhängig von zeitlichen Freiräumen, wenn jenseits von endlosem postBologna Verwaltungssumpf auch wieder einmal Zeit für Forschung bliebe) etablieren in den Bereichen Satire, Drama, Lyrik (Bukolik) und Epos. Im Bereich der Sprache könnten die Kolleg*innen der Klassischen Philologie vielleicht auf das zu Beginn dieses Beitrags aufgeführte klassische Erbe in Grammatik und Wortschatz des Englischen verweisen.
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Potentiale und Leistungsfähigkeit der Klassischen Philologie Stichworte für einen romanistischen Wunschzettel Ulrich Winter
„Was erwarten Sie von der Klassischen Philologie, wo sehen Sie eine besondere Leistungsfähigkeit, wo sehen Sie noch Potentiale?“ – vor 70 und selbst noch vor 20 Jahren hätte diese Frage unter RomanistInnen Erstaunen hervorgerufen, heute regt sie zum Nachdenken an. Die Literaturgeschichte der Romania ohne das lateinische Mittelalter verstehen zu wollen, „das ist ebenso sinnvoll“, schrieb einst Ernst Robert Curtius, „wie wenn man eine Beschreibung des Rheins verspräche, aber nur das Stück von Mainz bis Köln lieferte“.172 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Bedeutung des älteren Fachs fürs jüngere, über das geteilte Flussbett der Herkunft hinaus, nicht mehr selbsterklärend. Heute blicken wir freilich nicht nur stromaufwärts zu den Quellen, sondern auch stromab ins Mündungsgebiet, wo Flüsse (um im Bild zu bleiben) in ein Meer der Interkulturalität und Interdisziplinarität fließen. Die Frage nach einem an die Adresse der Klassischen Philologie gerichteten Wunschzettel der Romanistik – und damit der Komparatistik –, möchte ich in zwei Schritten beantworten: zunächst aus der traditionalen Logik von Identität und Zugehörigkeit heraus und sodann, unter Einbezug der postkolonialen und kulturtheoretischen Wende, im Sinne einer Logik von Differenz und Vermittlung. 172
Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1948, 19.
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Identität und Zugehörigkeit Den traditionellen Beitrag klassisch-philologischer Bildung – und hier vor allem der lateinischen – fasst Johannes Müller-Lancé in seinem Lehr- und Arbeitsbuch Latein für Romanist*innen zusammen, das mittlerweile in der 3. Auflage erscheint. Der Mannheimer Sprachwissenschaftler behandelt in seinem Buch Geschichte, Phonetik, Morphologie, Wortbildung, Syntax, Wortschatz, Stilistik und Rhetorik des Lateinischen und hebt folgenden Nutzen für Romanistikstudierende hervor: Latein „[ist als] Zugang zur frühen Sprachgeschichte der romanischen Sprachen […] außerordentlich gut dokumentiert“ und prägt bis heute Bildungs- und Fachsprachen. „Kenntnisse der römischen [und griechischen, UW] Literatur, Rhetorik, Philosophie und Mythologie sind unumgänglich für das Verständnis eines Großteils der europäischen Literatur“ und „erleichtern das Zurechtfinden im Universitätswesen.“ Latein ist „Schlüssel zum Verständnis der modernen romanischen Orthographien“ und bietet „Quellen für die Neuschöpfungen von Wortschatz in den romanischen Sprachen. […] verwandter Wortschatz [kann dort] miteinander verknüpft und leichter memoriert werden.“ Die komplexe Grammatik und Terminologie des Lateinischen gilt sprachenübergreifend und dient somit als „tertium comparationis“ beziehungsweise „linguistisches Propädeutikum“ für die morphosyntaktische Analyse der Schulsprachen. Da niemandes Muttersprache, kann Latein als lingua franca eine „Brücke zwischen den Kulturen bilden“, mit deren Hilfe auch sozialbedingte bildungssprachliche Differenzen „effektiv ausgeglichen werden“ können. Insofern, so wäre zu ergänzen, hilft Latein gesellschaftlicher Heterogenität ab und fördert Inklusion. Lateinkenntnisse, so schließt Müller-Lancé, seien insgesamt „für romanistische Literaturwissenschaftler*innen sehr hilfreich […], für romanistische Sprachwissenschaftler*innen […] schlichtweg unverzichtbar.“ 173 Dass angefragte sprachwissenschaftliche KollegInnen diesen Katalog von der eigenen Forschungs- und Lehrpraxis her bestätigen können, mag weniger überraschen als die Tatsache, dass sich auch Studierende darin heute noch wiederfinden können, wie aus einer kleinen Befragung unter 173
Johannes Müller-Lancé, Latein für Romanist*innen. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen 32020, 13–15; kursiv i. O.
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Marburger Lehramtskandidat*innen hervorging, die Latein/Griechisch und eine romanische Sprache gewählt haben. 174 Studierende beider Fächer stuften etwa das Herstellen direkter Verbindungen vom Latein zum Altspanischen als ein „unvergessliches Bildungserlebnis“ ein. Die philologische Methode, wie sie die Latinistik lehrt und praktiziert, nehme Berührungsängste vor den komplexen Texten der Moderne; sie erlaube einen ersten, schnelleren Zugang, und sei es ,nurʻ durch die grammatikalische, rhetorische und stilistische Analyse. Die Befangenheit im Umgang mit zeitgenössischer Literatur, so wurde bestätigt, sei mitunter so hoch, dass alles, was hier Verlässlichkeit und klare Strukturen ermögliche, willkommen sei. Gleiches gelte für funktionale Latein- und Griechischkenntnisse. Eine Studierende gab an, das parallele Studium einer romanischen Sprache und des Latein ermögliche „Fremdheitserfahrung“: Das Spanisch-Studium mache die römische und griechische Kultur ,,lebendiger“, gleichzeitig lasse der Blick von heute erkennen, dass ihr eine Welt- und Wertvorstellung zugrunde liege, die sie von unserer Gegenwart nicht weniger unterscheide als manche außereuropäische Kulturen. Auf diesen letzten Aspekt: die Fremdheit des eigenen Ursprungs, komme ich weiter unten noch einmal zu sprechen. Johannes Müller-Lancé begründet den Niedergang des Latein, wie er sich symptomatisch am zunehmenden Wegfall als Studienvoraussetzung für romanistische BA-Studiengänge und sogar Lehramtsfächer zeigt, mit dem Bologna-Prozess, allgemeiner Zeitnot, neuen interdisziplinären Allianzen und einer gelegentlich auftauchenden „ebenso unbegründete[n] wie abgrundtiefe[n] Abneigung gegen die Sprache Latein“. 175 Folge des Abbaus von Latein als Studienvoraussetzung sei ein Zwei-Klassen-System unter den heranwachsenden Romanisten (mit Lateinkenntnissen / ohne Lateinkenntnisse).176 Nun spricht Müller-Lancé hier aber vor allem aus der Sicht des Sprachhistorikers. Für die Literatur- und Kulturwissenschaft hat die Frage nach der Bedeutung der griechisch-römischen Antike seit den 1940er Jahren hingegen zu methodischen und theoretischen Transformationsprozessen geführt, die sich bis heute fortsetzen. Ich spreche hier kurz drei zentrale und Für Auskünfte und Mithilfe bei dieser Befragung danke ich Christina Hoppe. Müller-Lancé (wie Anm. 2), 15. 176 Müller-Lancé (wie Anm. 2), 15–16. 174 175
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sehr bekannte Kulturvermittler zwischen Klassischer und moderner Philologie aus diesen Jahren an, alle drei übrigens Romanisten, die letzteren beiden mit Stationen in Marburg: Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (1949/1953/1960) Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946)
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Heinrich Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik war ursprünglich als Einführung für Studierende der Romanistik gedacht. Das 1960 erweiterte, nun zweibändige, Handbuch, eine „Grundlegung der Literaturwissenschaft“, wie es im Untertitel heißt, möchte der Verfasser verstanden wissen als „eine auf das Mittelalter und die Neuzeit hin geöffnete Darstellung der antiken Rhetorik“.177 Lausbergs Hauptfeind: die Genieästhetik des 19. Jahrhunderts, die sich allein an die Regeln der Natur halten zu können glaube. ,,Der Unterricht in der literarischen Rhetorik will als Gegengift verstanden sein, als Schutz gegen eine allzu schnelle Aktualisierung des Kontakts mit der Individualität des Kunstwerks und seinem individuellen Schöpfer.“ 178 Ernst Robert Curtius und Erich Auerbach haben es sich zur Aufgabe gemacht, „europäische Literatur“ aus der antik-christlichen Welt heraus als Wirklichkeit, Idee und als Forschungsgegenstand neu zu etablieren. Dies nicht zuletzt aus zeithistorischen Gründen: Nach dem Zivilisationsbruch des Dritten Reichs empfahl sich eine Rückbesinnung auf die Wurzeln des antik-christlichen Humanismus und das Modell vornationalistischer Epochen wie das Mittelalter. Insbesondere für Auerbach verkörpert die Romanistik umgekehrt die Chance, auf diese Weise zu einem transnationalen, pluralen Literaturbegriff jenseits des Nationalen (zurück) zu finden:
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Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik, 2 Bde., München 1960, 8. Lausberg (wie Anm. 6), 8.
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Von jeher [ist] die deutsche Romanistik in einer besonderen Lage. Sie stammt […] aus dem romantischen Historismus: das heißt aus der Bewegung, die […] den Gedanken von der geschichtlichen Entwicklung und vom jeweils individuellen Volksgeist, in dem sie wirkte, zur allumfassenden Leitidee der Philologie erhob. Durch den romantischen Historismus wurde eine auf der Mannigfaltigkeit der Volksidentitäten gegründete, und darum dialektische Vorstellung von der Gemeinsamkeit des Menschlichen geschaffen […]. Nun konnte nirgends die historische Vorstellung, mindestens für Europa, natürlicher wirksam werden als in der deutschen Romanistik. Denn ihr Gegenstand ist nicht der eigene Volksgeist; sie konnte nicht so leicht der Versuchung erliegen, sich patriotisch gefühlvoll in das Wesen des eigenen Volkes einzuspinnen. Ihr Gegenstand sind mehrere, trotz der gemeinsamen Romanität unter sich verschiedene Völker; noch verschiedner sind sie alle vom deutschen; aber doch durch das gemeinsame Substrat der antikischchristlichen Gesittung mit ihr verbunden. So ist das perspektivische und historische Bewußtsein vom Europäertum in den sprachlichen und literarischen Arbeiten der deutschen Romanistik seit ihren Anfängen lebendig.179
Trotz des gemeinsamen Ausgangspunktes in der Antike ist die Position von Curtius denkbar verschieden. Für ihn ist der Evolutionsprozess europäischer Literatur weitgehend abgeschlossen, Homer ist ihr „Gründerheros“ und „Goethe […] ihr letzter universaler Autor“. 180 Der Anspruch, die neuzeitliche Literatur aus dem Wissens- und Formenbestand der antiken Topik abzuleiten liegt, so gesehen, nah. In einem sehr materialistischen Verständnis und etwas zugespitzt formuliert könnte man sagen, dass Curtiusʼ epochemachendes Werk heute für die Romanistik zu dem geworden ist, was damals für ihn die Antike war: ein Steinbruch für motiv- und stoffgeschichtliche Untersuchungen. Der Ansatz, den Erich Auerbach in seinem Mimesis-Projekt verfolgt, ist ungleich produktiver geblieben. Seine bekannte These aus Mimesis Erich Auerbach, Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958, 9. 180 Curtius (wie Anm. 1), 25. 179
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lautet: Antike und Christentum – paradigmatisch beginnend mit der Odyssee und der Bibel – haben Stile des Wirklichkeitsbezugs ausgebildet, die identitätsstiftend für europäische Literaturen bis ins 20. Jahrhundert sind, nämlich einen überzeitlich verstandenen Realismus, der die antike Regel der Stiltrennung bricht und der irdischen Realität die Würde eines ernsthaften Themas zuspricht.181 Bei Auerbach kann die Literatur daher nicht, wie bei Curtius, mit einem letzten Helden beendet sein, sie muss in die eigene Generation reichen, zu Virginia Woolf und Marcel Proust. Und schriebe Auerbach heute, würde er sicherlich die Tradition des Realismus bei Ian McEwan oder dem ins Serielle gewendeten Tragödienschema von Netflix-Shows wiederfinden. Die Erfolgsbedingung von Auerbachs Ansatz liegt nicht nur in der transnationalen Ausrichtung, sondern auch in der gegenwartsbezogenen und transdisziplinären Perspektive. Für Curtius wie für Auerbach gilt aber: Die griechisch-römische Antike hat Paradigmen hervorgebracht, die bis in die Gegenwart bindend bleiben, zumindest solange ein Europa als wiedererkennbarer Kulturraum existiert. Der Klassischen Philologie kommt hier somit nicht nur die Rolle des Sachwalters gültiger Topoi und Poetiken zu, sie ist auch der Ort, an dem Verstehensbedingungen der Aktualität verhandelt werden. Die besondere Bedeutung, die dem für die romanischen Literaturen und Kulturen zukommt, versteht sich von selbst. Eine vermittelnde Position zwischen einerseits den traditionellen Bindungen der Romanistik an die Klassische Philologie und den daraus abzuleitenden Ansprüchen, die Curtius und Müller-Lancé formuliert haben, und andererseits dem gegenwartsbezogenen, dynamischen Zugang, den Auerbach als Forschungsparadigma entwirft, hat zuletzt Bernhard Teuber vorgeschlagen. Für den Münchener Romanisten liegt die „Besonderheit der Romanistik […] darin, dass ihre eigentlichen Gegenstände zwar die diversifizierten und dynamisierten Derivate des Lateinischen sind, nicht aber das ihnen voraufliegende, statische Zentrum der Latinität selbst“. Die Romanistik sei somit „weniger eine polyzentrische, sondern eine geradezu zentrumslose, eine azentrische Disziplin, da sie notwendigerweise immer jene Bereiche und Gegenstände erfasst, die sich von ihrem Zentrum schon entfernt und 181
Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946.
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abgewandt haben und die im Hinblick auf das verlassene Zentrum peripher sind […].“ Da aber Diversität ohne ihr Gegenteil, die Konvergenz, konzeptuell des Sinns entbehre, „wäre eine Verortung und Selbstdefinition des Faches ohne Rückblick auf das verlorene Zentrum, ohne Bewusstsein von einer möglichen Konvergenz an der Wurzel, ohne Erinnerung an die eindrucksvolle Geschichte der Dissemination wenig sinnvoll.“ Die Kartierung und Dokumentierung dieser Diversität, die Etablierung von unterschiedlichen „historische[n] Entwicklungsstufen […], linguistischen, […] literarischen und […] kultur- und medienwissenschaftlichen Betrachtungsweisen“ sei daher vornehmliche Aufgabe, ja Rechtfertigung der Romanistik. „Ansonsten blieben nur eine Sezession der Fachgebiete und eine Zersplitterung in zahllose Einzeldisziplinen, die gerade den angestammten Reichtum der Romanischen Philologie aufs Spiel setzen müssten […].“ Romanistik könne daher verstanden werden als jene Wissenschaft, die ihr „Substrat“, nämlich „Antike, Latinität oder auch Romanität“, negativ, von dessen „Avatare[n]“ her erfasse. 182 In Teubers Dialektik von Peripherie/Diversifizierung (Romanistik) und Zentrum/Konvergenz (Antike) klingt hörbar die hegelianische Denkbewegung nach, mit der schon Auerbach die Romanistik auf die Antike verpflichtet hatte (siehe Zitat oben). Neu ist hier unter anderem aber, dass der antiken Welt nun als stabilisierendem Bezugspunkt romanischer Diversität ein unverrückbarer Platz im Legitimitätsdiskurs der Romanistik zugewiesen wird. Der Klassischen Philologie, so die implizit formulierte These, käme es damit zu, ein Fundament für die romanistische Selbstbehauptung als Fach zu sein. Dies freilich um den Preis, dass in der geschlossenen Dialektik von Vielfalt und Einheit eines ausgeschlossen bleibt: Die Tatsache nämlich, dass es auch noch für die Klassische Philologie und die Romanistik, also für die Wurzel und den Baum, noch ein (zunächst) nicht-vermittelbares Anderes gibt. Denn nicht nur die Rede von Diversität bedarf des Gedankens der Konvergenz, um sinnvoll zu sein; auch der Gedanke eines Ursprungs braucht die Gegenvorstellung des Fremden und Anderen.
182 Bernhard Teuber, Diversität und Konvergenz an der Wurzel. Perspektiven der Ro-
manistik in Zeiten der Globalisierung, Romanische Studien 3 (2016), 539–557, hier 541–544.
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Differenz und Vermittlung Vielleicht hat die gegenwärtig wahrgenommene Entfernung der Romanistik von der Klassischen Philologie etwas mit dem gewandelten Selbstverständnis zunehmend kulturwissenschaftlich orientierter Philologien zu tun. Müller-Lancé pocht zwar zu Recht darauf, dass „Kenntnisse“ des klassischen Schrifttums und dessen Ideenwelt „unumgänglich für das Verständnis“ neuzeitlicher und moderner Literaturen seien (siehe Zitat oben), doch argumentiert er hier eben nicht aus einer aktuellen literatur- beziehungsweise wissenschaftlichen Perspektive heraus. Die Forderung nach „Kenntnissen“ der Stilmittel, Werke und Inhalte kann in Zeiten postkolonialer Kultur leicht nach einem positivistischen, statischen, bürgerlichen eurozentrischen und insgesamt etwas angestaubten Bildungsbegriff klingen. In einer Logik des Anderen, einer Logik von Differenz und Vermittlung stellt sich hingegen die Frage nach dem ,eigenen Fremdenʻ. Entscheidend ist dabei weniger die Feststellung, dass ,nichts Neues unter der Sonne geschiehtʻ, dass das, was ist und erkannt wird, immer schon gewusst, nur vergessen und bestenfalls heute anders wieder entdeckt wird. Vielmehr zielt die Umkehrfrage auf das Fremdgewordene selbst und damit auch auf das Fremdgebliebene. 1. In einem ersten Schritt kann die „antik-christliche Gesittung“ (siehe Zitat Auerbach oben) der heutigen Romanistik statt als ein vergessener Ursprung als ein fremdgewordenes Eigenes wiederangeeignet werden und so gerade in der gegenwärtigen, oft von Reduktion und Verarmung gekennzeichneten Diskurswelt bereichernd wirken. Ein Beispiel unter vielen wäre hier Paul Ricœurs Wiedergewinnung der aristotelischen Metapherntheorie. Der französische Philosoph führt die im 19. Jahrhundert zur „Botanik“ verkommene, nämlich von ihrer explorativen epistemologischen Kraft entkoppelte Metapher auf das Wissenssystem des Aristoteles unter der Leitfrage zurück, wie die Metapher wieder zu einem offenen kognitiven Erkenntnisinstrument gemacht werden kann.183
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Paul Ricœur, La métaphore vive, Paris 1975.
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2. In einem zweiten Schritt zielt die Logik des Anderen auf das dem antiken Denken immer schon fremd Gebliebene, auf das also, was durch dessen Vermittlung nicht auf uns kommen konnte. Die Klassische Philologie könnte zu einem präziseren Bild von jenem Anderen Europas beitragen, das sich etwa in der kulturell-religiösen Vielfalt des Mittelmeerraums oder der postkolonialen Welt immer schon gezeigt hat. Diese Logik der Differenz lässt sich auch auf das Narrativ von Ursprung, Identität und Kontinuität selbst beziehen, insofern es das Selbstverständnis des Faches betrifft. Die modernen, durch Poststrukturalismus, Postkolonialismus und Kulturtheorie geprägten Kulturwissenschaften denken sich selbst in der Logik des Anderen, der Differenz, als eine Sprache für das Andere, Fremde, das heißt in einem spezifischen Sinne als ,Fremd-Spracheʻ. Die Klassische Philologie kann auch hier zu Differenzierungsgewinnen und Fremdheitsgewinnen für die Gegenwart beitragen, gerade weil ihr ein eigenes Ursprungsnarrativ innewohnt: Das Andere der antik-christlichen Welt ist auch das Andere der Romanistik und der europäischen Literaturen. Hier ließe sich an die Ansätze komparativer interkultureller Philosophie denken, die der Philosoph Rolf Elberfeld entwickelt hat. Der Vergleich etwa zwischen der griechisch-antiken und einer buddhistischen Phänomenologie der Zeit kann die für selbstverständlich gehaltene erstere grundsätzlich in Frage stellen. 184 Noch näher an der Literaturwissenschaft ist Jens Schlieters ideengeschichtlicher Vergleich ästhetischer Handlungskonzepte in westlicher und östlicher Perspektive. In der westlichen Welt wird das Konzept von Handlung als intentionaler Situationsveränderung für nahezu unhintergehbar gehalten. Es findet sich bekanntlich in der aristotelischen Tragödientheorie, in der Philosophie des Rechts und noch im acte gratuit der Moderne (André Gide) und im handlungsverweigernden Absurden Theater eines Samuel Beckett. Das Handeln als ein Geschehenlassen aber wäre hier ein relativierender Gegenfokus. 185
Rolf Elberfeld, Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart/Bad Cannstatt 2002. 185 Jens Schlieter, Ästhetische Handlungen: Ost und West, in: Komparative Ästhetik. Kunst und ästhetische Erfahrung zwischen Asien und Europa, hg. von Rolf Elberfeld und Günter Wohlfart, Köln 2000, 319–337. 184
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Diese Perspektiven weisen nur scheinbar über die eingangs gestellte Leitfrage nach den Potentialen der Klassischen Philologie für die Romanistik hinaus; sie tun es nur, wenn man die Fächer in ihrem sehr traditionellen Sinne versteht. Interkulturalität als Dialog westlich-abendländischer mit nichtwestlichen Weltbildern und Weltanschauungen ist immer schon konstitutiver Bestandteil der romanischen Kulturen in Sprache und Literatur gewesen. Dieser Dialog beginnt mit dem friedvollen Zusammenleben der drei Kulturen auf der Iberischen Halbinsel, der Araber, Christen und Mauren. Und er setzt sich fort in den Eroberungs- und Missionsreisen der frühen Neuzeit, in der modernistischen Reflexion des Exotischen bei Victor Segalen 186 oder in Octavio Pazʼ lyrischer Bezugnahme auf die indigenen Ursprünge Mexikos in Form von Haikus.187 Sie bezieht das Eingeständnis mit ein, dass indigene Weltanschauungen in Lateinamerika nicht auf europäisch gebildete Denkschemata reduzierbar sind.188 Eine Klassische Philologie, die sich im Spiegel des Anderen reflektiert, schärft auch den Blick der Romanistik für deren Anderes. Das von der griechisch-römischen Antike geknüpfte und ausgeworfene Netz der Verweise und Schreibweisen, von der Topik bis zum Tragischen, Komischen und dem Auerbachschen Realismus, kann Geltung beanspruchen auch ohne den gleichzeitigen Anspruch, alleiniger – oder im Zweifelsfall überhaupt – Ursprung zu sein. Fragen (und Antworten) nach der Bedeutung ,derʻ Klassischen Philologie(n) für ,dieʻ Romanistik – die hier formulierten einbegriffen – tendieren dazu, jeweils eine der beiden (wenn nicht beide) Disziplinen als statisch zu setzen und die jeweils andere als dynamisch, sich verändernd. Selbstverständlich sind beide Pole in Bewegung und bedürfen daher einander als dynamische oder sollten sich einander als solche wünschen. Denn beide müssen sich immer wieder neu den Herausforderungen der Globalisierung stellen. Was heißt dies aber in der Praxis? Hier stellt sich vermutlich als eine der
Victor Segalen, Œuvres complètes, Paris 1995. Octavio Paz, Los signos en rotación y otros ensayos, Madrid 1971. 188 Arturo Arias, Indigenous Knowledges and Ecological Thought: Jak’alteko Maya Victor Montejo’s Fables, in: Hispanic Ecocriticism, hg. von J. M. Marrero Henríquez, Berlin [u.a.] 2019, 157–178. 186 187
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ersten Fragen die nach methodischen Anschließbarkeiten. Wie und an welchen Gelenkstellen passen Paradigmen einer kulturwissenschaftlich orientierten romanistisch-komparatistischen Literaturwissenschaft zu welchen Paradigmen der Klassischen Philologie? Der an der Philipps-Universität Marburg veranstaltete BA-Studiengang Europäische Literaturen kann hier als Experimentierfeld dienen, um Rezeptionsgeschichte und Motivgeschichte als kulturellen Transfer in einem Sinne zu praktizieren, der auch den Transfer zwischen den Disziplinen einschließt. Sprachgeschichtliches, kulturgeschichtliches, rhetorisch-poetisches und philosophisches Wissen, das sich systematisch auf Gegenwart anwenden lässt, kann dann statt Vermittlung von „Kenntnissen“ zur fachübergreifenden Inszenierung von Bildungserlebnissen und Erkenntnissen werden. Gemeinsame Propädeutika könnten hier vielleicht ein erster Schritt sein.
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3. Die Debatte um die Alten Sprachen im internationalen Vergleich
Classics Education in Scotland: A Sketch* Douglas Cairns 1. Latin for all Instruction in Latin in Scotland begins, as in other European countries, in schools associated with the church and its monastic foundations. In the twelfth century, a reorganization of the church during and after the reign of David I (1124–53) encompassed the foundation, in Scotland’s burghs, of new schools in which Latin formed a central element of the curriculum. The High School of Glasgow (founded as the choir school of Glasgow Cathedral in 1124), Edinburgh’s Royal High School (1128), and Stirling High School (1129), among others, trace their origins to this period. 1 In 1496, under James IV, an Education Act – believed to be the first in the world to mandate any form of compulsory education – decreed that all sons of barons and freeholders of substance should attend grammar schools from the age of eight or nine in order to acquire ‘perfite Latyne’. 2 A school in every parish had been *I
am very grateful to Professor Gregor Vogt-Spira for the invitation to speak at the Marburger Kleine Fächer Tagung, to Ronald Knox, Linda Knox, Lindsay Paterson, and Donncha O’Rourke for generous comments and corrections, and to Jennifer Shearer (Kirkcaldy High School) for letting me see the notes for the talk she gave on Classics in the contemporary Scottish curriculum at a meeting of the Edinburgh and South East Centre of the Classical Association of Scotland on 25 September 2019. This paper was written under lockdown conditions associated with the Covid-19 pandemic in May 2020; without access to libraries or even to my own office, documentation and bibliographic coverage are even more random than usual. 1 See chapters 1 and 2 (by Matthew Hammond and Kimm Curran) in Robert Anderson, Mark Freeman, and Lindsay Paterson (eds), The Edinburgh History of Education in Scotland, Edinburgh 2015; also Elizabeth Ewan, Schooling in the Towns 1400–1560, ibid., 42. 2 ‘It is statute and ordanit throw all the realme that all barronis and frehaldaris that
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an aspiration even before the Reformation (which, in Scotland, took place in 1560), but the 1560 First Book of Discipline (compiled by John Knox, among others), followed by Education Acts in 1616, 1633, 1646, and 1696, put that aspiration on a firmer footing.3 In lowland Scotland, at least, almost all parishes had a school by 1690. The education these schools provided could be intermittent, to accommodate the demands of agricultural labour, and might last no longer than four to five years, but Latin was central to the curriculum, and some schools also taught Greek. 4 Latin teaching allowed students (from the age of around fifteen or sixteen, sometimes earlier) to attend the universities, and teaching in Latin in schools would have been provided by masters who had at least some university experience.5 Three of Scotland’s ancient universities are pre-Reformation foundations: St Andrews (1413), Glasgow (1451), and King’s College, Aberdeen (1495). Two civic foundations followed in the sixteenth century: Edinburgh in 1583 and Marischal College, Aberdeen, in 1593. 6 The two Aberdeen colleges were finally amalgamated (after an earlier attempt in the seventeenth century had failed) in 1860. After the amalgamation of the Aberdeen colleges, Scotland had (officially at least) only four universities until the foundation of the University of Strathclyde in 1964.7 England overtook Scotland (in ar of substance put thair eldest sonnis and airis to the sculis fra thai be aucht or nyne yeiris of age, and till remane at the grammer sculis quhill thai be competentlie foundit and have perfite Latyne’ (Acts of the Parliament of Scotland, ii.238); see Ewan (n. 1), 41, 43; Stephen Mark Holmes, Education in the Century of Reformation, in Anderson, Freeman, and Paterson (n. 1), 58 3 John Durkan, Schools and Schooling 1, to 1696, in: Michael Lynch (ed.), The Oxford Companion to Scottish History, Oxford, 2001, 561–562. 4 Donald J. Withrington, Lists of Schoolmasters Teaching Latin, 1690, Scottish History Society Miscellany 10 (1965), 121–142; Robert D. Anderson, Scottish Education Since the Reformation, Dundee 1997, 6; Ewan (n. 1), 45–47, 50, 53; Holmes (n. 2), 60–65; Lindy Moore, Urban Schooling in Seventeenth- and Eighteenth-century Scotland, in Anderson, Freeman, and Paterson (n. 1), 83–86; Christopher R. Bischof, Schoolteachers and Professionalism, 1696–1906, ibid., 210. 5 See Anderson (n. 4), 18. 6 There was also a short-lived college at Fraserburgh, north of Aberdeen, founded in 1592: Holmes (n. 2), 71–72. 7 Strathclyde itself, however, goes back to an institution founded in 1796. University College, Dundee, which began its operations in 1883 and soon became a college of the University of St Andrews, though not an independent institution again until
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terms of the number of its universities, at least) with the foundation of its fifth, the federal Victoria University, in 1880 (after Durham in 1832 and UCL in 1836). An endowed chair of Humanity (Latin) was established by Sir John Scot of Scotstarvit at St Andrews in 1620. A chair of Humanity at Glasgow followed in 1682, and chairs of Humanity and Greek were formally established across the board in the years after 1700. 8 Originally, students in Scottish universities were taught all subjects by a single tutor (or ‘regent’, as they were called), but already by the mid-sixteenth century there had been attempts to introduce specialist instruction in Latin and Greek by teachers who were sometimes also identified as professors; regenting was not finally abolished in all universities until the early eighteenth century. 9 Initial reforms in that direction are associated with Andrew Melville (1545–1622), first as Principal of Glasgow from 1574–80 and then at St Andrews, as Principal of St Mary’s College from 1580 and Rector of the university, 1590–7. Melville promoted the teaching of Greek, and was himself a noted writer of Latin verse, at a time when Scotland’s place in European literary and intellectual culture is highlighted by the work of men such as George Buchanan (1506–82), Scotland’s foremost Humanist, educated at St Andrews and Paris, and Arthur Johnstone (c. 1579–1641), educated at Aberdeen and Heidelberg. 10 Buchanan’s facility in both Latin and Greek is attested (for example) in his Latin translations of Euripides’ Medea and Alcestis (published in 1544 and 1556, respectively). 11 The development of schools in every parish by the 1690s encompassed 1967, likewise represents an expansion of university level education. E.g. Greek in 1702 at St Andrews and in 1704 at Glasgow (A. L. Brown and Michael Moss, The University of Glasgow 1451–1996, Edinburgh 1996, 18–19); Greek and Humanity in 1708 at Edinburgh (Nicholas Philippson in: Robert D. Anderson, Michael Lynch, and Nicholas Philippson, The University of Edinburgh: An Illustrated History, Edinburgh 2003, 61). 9 See Anderson (n. 4), 12; Holmes (n. 2), 68, 70–74; Moore (n. 4), 101. 10 On Buchanan and Johnston, see Robert Crawford, Apollos of the North: Selected Poems of George Buchanan and Arthur Johnston, Edinburgh 2006; on Buchanan, see Philip Ford and Roger P. H. Green, George Buchanan: Poet and Dramatist, Swansea 2009. 11 See Jean-Frédéric Chevalier, George Buchanan and the Poetics of Borrowing in the Latin Translation of Euripides’s Medea, in Ford and Green (n. 11), 183–195. 8
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education for girls as well as for boys, and there were assisted places for the poor. The Reformers’ aim in 1560 and thereafter had been that all parishioners should be able to read Scripture for themselves, but there is debate about how long this took to achieve,12 and it is likely that reading knowledge was more widespread than the ability to write. 13 By the 1790s, according to one scholar, ‘Scotland may be said to have achieved – more likely, to have continued to achieve – the goal of a very substantially literate population.’ 14 By the same period, even though both absolute numbers and proportions as a percentage of a given age-group were small,15 more people attended university in Scotland than in England or in other European countries. 16 Participation, facilitated by bursaries, was by no means restricted to an elite. 17 A basic knowledge of Latin was enough to qualify one for university entrance, and such a knowledge was readily attainable via the network of parish schools (and their successors). For generations of Scots, these phenomena have proved a great source of pride, but also of a degree of self-congratulation. The stereotype of the ‘lad o’ pairts’, rising from lowly origins to success by virtue of the opportunities See Rab Houston, The Literacy Myth? Illiteracy in Scotland, 1630–1760, Past and Present 96 (1982) 81–102; id., Scottish Literacy and the Scottish Identity: Illiteracy and Society in Scotland and Northern England 1600–1800, Cambridge 1985 (second edn, 2002); Donald J. Withrington, Schooling, Literacy, and Society, in: Thomas M. Devine and Rosalind Mitchison (eds), People and Society in Scotland i: 1760–1830, Edinburgh 1988, 163–87; Thomas M. Devine, The Scottish Nation, London 2001, 91–100. 13 Anderson (n. 4), 8–9. 14 Donald J. Withrington, Schools and Schooling 2, 1696–1872, in Lynch (n. 3), 563. Cf. I. G. C. Hutchison, Workshop of Empire: The Nineteenth Century, in: Jenny Wormald (ed.), Scotland: A History, Oxford 2005, 232–233: ‘a survey in 1855 indicated the Scottish female literacy rates were higher than English male levels’. For the increase in female literacy in the nineteenth century, see Anderson (n. 4), 28. 15 Perhaps two per cent of the male age group in the eighteenth century – a rate which is ‘very high by international standards’ (Anderson (n. 4), 46). Participation rates would not rise appreciably until the twentieth century: see Robert D. Anderson, Universities 2, 1720–1960, in Lynch (n. 3), 613. 16 Anderson (n. 4), 18; Anderson (n. 15), 612–13; Hutchison (n. 14), 233–234. As Hutchison observes (p. 233), ‘in 1865 there were proportionately six times more university students in Scotland than in England’. 17 See Anderson (n. 4), 18, 44–47; Anderson (n. 15), 613. 12
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offered by Scotland’s egalitarian education system, is not a complete myth, but it has encouraged a degree of sentimental fantasy.18 George Davie’s notion of the ‘democratic intellect’ – according to which the Presbyterian Kirk’s democratic orientation and emphasis on literacy, together with the universities’ focus on philosophy and on the classical languages required for its study, promoted Enlightenment traditions of an inclusive general education that gradually gave way to utilitarian notions of professionalism in the course of the nineteenth and twentieth centuries – has been widely criticized in detail, but remains important as testimony to the link between Scottish identity and the distinctiveness of its education system, rather than for its contribution to the historiography of Scottish education. 19 For our purposes, it is sufficient that the comparative inclusivity of Scottish education, at both school and university levels, encompassed a substantial and widespread degree of access to the classical languages, especially Latin, from the mediaeval period to the modern.
2. Democracy and its discontents The distinctiveness of Scottish Education survived 1707’s Act of Union with England, and though there has undoubtedly been a great deal of convergence over the years, substantial differences between the English and Scottish education systems, at both school and university level, persist to the present day.20 Paradoxically, perhaps, given notions of the decline of the democratic See Anderson (n. 4), 11, 17; cf. his British Universities, Past and Present, London 2006, 91–92. 19 See George E. Davie, The Democratic Intellect, Edinburgh 1961; The Crisis of the Democratic Intellect, Edinburgh 1986. For discussion of Davie and his legacy, see Lindsay Paterson, George Davie and the Democratic Intellect, in: Gordon Graham (ed.), Scottish Philosophy in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Oxford 2015, 236–269; cf. Anderson (n. 4), 30–33. 20 On the distinctiveness of the Scottish educational tradition, see Lindsay Paterson, Traditions of Scottish Education, in: Heather Holmes (ed.), Education (Scottish Life and Society 11), East Linton 2000, 21–46; David Raffe, How Distinctive is Scottish Education? Five Perspectives on Distinctiveness, Scottish Affairs 49 (2004), 50–72. 18
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intellect, the history of Scottish education from the mid-nineteenth century onwards can be seen in terms of increasing democratization. But despite the role of the classical languages, literature, and thought in the formation of the Scottish tradition, Classicists have not always taken to or benefited from the changes that democratization has brought. An Education Act of 1872 (following English legislation in 1870) created a uniform national system of school education run by local school boards and set up the Scottish Education Department (from 1885 overseen by the Scottish Office in Edinburgh).21 As Robert Anderson and Stuart Wallace note, this led to ‘controversies, especially in the early years after 1872, over the teaching of Latin’.22 They explain: Latin was traditionally seen as the link between school and university, and a key to social mobility. In other countries, the classics were the preserve of the social elite; in Scotland they were open to the people. The disappearance of the parish school as a distinct institution ended this tradition, which was always stronger in some areas – like the North-East – than others, but critics of the SED’s utilitarianism continued to argue that elementary education needed an infusion of the liberal spirit of the university.
Further anxieties about the role and status of Latin in schools were occasioned by the introduction of the Leaving Certificate, a secondary level school leaving qualification on the model of the German Abitur, in 1888. Education at a level higher than the elementary had been available in some schools from the earliest periods, but though greater provision followed the Education Act of 1872, the real expansion in secondary education came in the early years of the twentieth century, once the Leaving Certificate had established itself.23 Universities were, from 1892, allowed to hold their own entrance
Anderson (n. 4), 25–27. Robert Anderson and Stuart Wallace, The Universities and National Identity in the Long Nineteenth Century, in Anderson, Freeman, and Paterson (n. 1), 278. 23 See Lindsay Paterson, Democracy or Intellect? The Scottish Educational Dilemma of the Twentieth Century, in Anderson, Freeman, and Paterson (n. 1), 227–234. 21 22
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examinations, set at Leaving Certificate level, with the result that the basic Latin that might have been enough in the past no longer sufficed, and the introductory classes which the universities had provided for those with only minimal qualifications were abandoned. 24 The Leaving Certificate also enshrined a core liberal curriculum in which English was compulsory, the sciences were central, and French began to threaten the status which had once belonged to Latin.25 These were among the challenges that led to the foundation of the Classical Association of Scotland in 1902 (one year before that of the Classical Association of England and Wales, in response to similar pressures).26 Yet, as Lindsay Paterson has remarked (of the 1930s), ‘Latin did not vanish in this period, and nor did it survive merely at the top end of a social hierarchy’.27 Though Latin was no longer the key to university entrance that it once had been, in the period before the Second World War, it continued to be studied by around half of Leaving Certificate candidates. Compulsory Latin and Greek at university level itself had been enshrined in the Universities Act of 1858,28 but compulsion for all subjects was abolished in the Act of 1889, which also introduced the distinctively Scottish pattern of the three-year, broad-based Ordinary MA and the more specialized four-year MA (Honours),29 the first two years of the curriculum being common to both. This model endured for most of the twentieth century, and the three-year degree was for most of that time a genuine alternative to Honours. It is now the choice only of a small minority of students, most of whom enter the universities with at least the intention of pursuing one or two main subjects for See Hutchison (n. 14), 235. These changes had been on the agenda since in 1850s, promoted by (among others) John Stuart Blackie, Professor of Greek at Edinburgh, a great admirer of the German research university on the Humboldtian model: see Anderson and Wallace (n. 22), 270–279. 25 See Paterson (n. 23), 231–232; cf. Paterson (n. 19), 254. 26 See Christopher Stray, The Foundation and its Contexts, in: Christopher Stray (ed.), The Classical Association: The First Century, Oxford 2003, 5–8; Ronald A. Knox, Appendix 1, The Classical Association of Scotland: The First Hundred Years, ibid., 256, 258–259. 27 Paterson (n. 23), 232. 28 Anderson and Wallace (n. 22), 276. 29 See Anderson (n. 4), 32; (n. 18), 89–90. 24
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four years. The common curriculum in the first and second years, however, does still offer significant flexibility prior to Honours entry in year three. In Scotland, the principle of free and universal secondary education, with selection by academic ability at age twelve, was established in the 1918 Education Act and fully implemented by the 1930s. This meant that the 1945 Education (Scotland) Act was more consolidatory in nature than the celebrated 1944 (Butler) Education Act which established universal free secondary education for England and Wales. 30 Selection at age twelve, determining whether one attended a senior secondary, in which it would be possible to study Latin and Greek, or a junior secondary (as circa 60 per cent of a given age-group would) was ended in the 1970s, with the introduction of comprehensive education. This was a much more thorough-going and much less controversial reform in Scotland than in England, with the result that all publicly funded schools in Scotland are now comprehensive, and such schools are attended by around 95 per cent of secondary school students (but only 75 per cent in Edinburgh, despite the excellence of many of the city’s state schools).31 Initially, the ending of selection created opportunities for more secondary school students to choose Latin (and sometimes also Greek), should they wish. In an unpublished lecture, Jennifer Shearer, Principal Teacher of Classics at Kirkcaldy High School in Fife (north of Edinburgh), notes that, in that local authority area, ‘17 of the 19 new comprehensive secondary schools did have Classics departments, and this situation was echoed right across Scotland’. The latest figures that we have in the Classics department at the University of Edinburgh indicate that there are now just three schools in Fife in that category. But that makes Fife better off than the cities of Glasgow and Edinburgh, which can muster just one state school between them that teaches any Latin at all. In retrospect, the end of selection has seen the virtual disappearance of Latin and Greek as an option for state-educated school students in Scotland. Edinburgh’s Royal High School, now comprehensive,
See Lindsay Paterson, Schools and Schooling 4, Mass Education, 1872–present, in Lynch (n. 3), 566–567. 31 See Paterson (n. 30), 568; (n. 23), 237. 30
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teaches no Latin; in the High School of Glasgow, refounded in 1976 as an independent selective secondary, Latin continues to flourish. Latin is (according to data returned to the University of Edinburgh Classics department) taught in sixteen of Scotland’s independent (i.e. private) schools – perhaps 32 per cent of the total in which Latin might be expected; 32 in 2018 there were 357 publicly funded secondary schools in Scotland, 33 ten of which (2.8 %) are recorded as teaching Latin. For comparison, there were 3,408 publicly funded secondary schools in England in 2017; 34 of these, four per cent offered Latin at Key Stage 3, i.e. for students aged 11 to 14 (as against 59 per cent in independent secondary schools), though more offered the language outside the curriculum. Two per cent of English state primary schools reported teaching some Latin.35 As it happens, I began my secondary schooling in the City of Glasgow’s first year of fully comprehensive state education in 1973. Latin was not ubiquitous in all the city’s new comprehensive schools, but it was common enough. I was able to study French for six years, Latin for five, and Greek for four. Schools which retained Latin co-operated closely, with help from an Advisor in Classics employed by the Glasgow city (from 1975 Strathclyde region) education department. At the upper levels, activities involving students from all over Strathclyde region and frequent interaction with members of the Departments of Greek and Humanity at Glasgow University were the norm. Latin survived, indeed flourished at my school (Eastbank Academy in Shettleston, now part of Glasgow East, one of the UK’s poorest parliamentary constituencies), until the retirement of my former teacher, Alan Jones. At his retirement dinner in 2011, Alan was lauded by the Head Teacher for The Scottish Government’s latest register (January 2020) lists 94 independent schools of all types, including primary and special needs: https://www.gov.scot/publications/independent-schools-in-scotland-register/. The Scottish Council of Independent Schools (which represents most, but not all independent schools in Scotland) lists 50 ‘mainstream’ schools in its latest census: http://www.scis.org.uk/facts-and-figures/. 33 https://www.thescsc.org.uk/wp-content/uploads/2019/01/education.pdf. 34 https://www.gov.uk/government/statistics/schools-pupils-and-their-characteristics-january-2017. 35 https://www.britishcouncil.org/sites/default/files/language_trends_survey_2017_0.pdf, 26–27, 56. 32
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his success in not just maintaining but increasing the take-up of Latin at all levels, with many warm words about ensuring his legacy. Within a year, Latin was gone. Latin learning in schools was, of course, already in decline when comprehensive education was introduced. The Scottish Classics Group’s new textbook series, Ecce Romani, introduced in 1971, just as the new Cambridge Latin Course was being rolled out in England, recognized the challenge of making the teaching of Latin more attractive and accessible to students of a range of abilities and backgrounds. The resistance that the series met in some quarters, especially among teachers used to interacting, via traditional instruction in grammar and translation, only with the most talented students in the former selective secondaries, suggests that failure to adapt may have played its part in the decline and withdrawal of Classics in some cases. In general terms, however, the decline of Classics in Scottish state secondary schools is more readily attributable to the perception that Latin and Greek are ‘elitist’ subjects both socially and intellectually, associated with private educational provision and with the bad old days of selection, suitable only for an exceptional minority of students who cannot really be catered for in the contemporary educational environment. Unlike in England, and despite repeated administrative reforms since the 1980s, Scottish state schools remain under a single system of central and local government control. The absence of a national curriculum in Scotland (of the sort that was introduced by the Thatcher government in England in 1988) should provide enough room for provision at least in Latin; but in practice local authorities and individual head teachers have been at best indifferent and at worst hostile to Classical subjects. Unlike in England, too, Classical Studies has not really taken off as an independent subject leading to national qualifications, but rather is largely seen as a way of justifying the continued employment of Latin teachers, where they still exist. Classical Studies in Scotland is thus not the showcase for or gateway to further study of the Classical world that Classical Civilization is in England and Wales. Scotland has no national qualification in Ancient History. A further problem is that, even where Classics survives and thrives, succession planning for teachers’ retirement is difficult or impossible given the
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absence of secure provision in Classics teacher training in Scotland since the withdrawal of the postgraduate diploma programme at Strathclyde University (i.e. the former Jordanhill College) in 2004. This decision depended largely on the reluctance of the then Scottish Executive (now Scottish Government) to guarantee posts for newly qualified teachers of Classics to complete their post-qualification induction. As numbers taking Classical subjects in schools have declined, so the perceived need for newly trained Classics teachers has dropped; with the result that Classics provision, even where it has been maintained through the years by the passion and hard work of its teachers, often disappears because there are no newly trained teachers to replace those retiring. As numbers teaching Classics in state schools drop further, so does the perceived need for teacher training. Despite much lobbying by the Classics community and its supporters, and after the demise of a short-lived (2006–15) and unsatisfactory stop-gap solution at Glasgow University (admitting only one or two students per annum, offering Latin and Classical Studies only in conjunction with other subjects, and using retired and part-time staff as instructors), it is still the case that it is impossible to qualify as a teacher of Latin or Classical Studies in Scotland. Hopes were raised when several years of patient collaboration between the Edinburgh Classics department (especially on the part of my colleague, Dr Donncha O’Rourke) and colleagues in the University’s Moray House School of Education resulted in a plan to reintroduce teacher training at Edinburgh in 2020. As that course began to be advertised, however, a decision was taken to withdraw it, pending review. At the time of writing, as the University stares into the financial black hole of its post-Covid-19 future, it would seem premature to expect that review to be positive. As in the rest of the UK, university education in Scotland began to expand – both in the number of universities and in numbers attending university – after the publication of the Robbins Report on Higher Education in 1963. 36 36
Under 9 % of school-leavers entered higher education in 1962; by 1996, this had risen to 46 %: Paterson (n. 30), 568. In Scotland, however, higher education courses are offered also by further education colleges, and the percentage of school leavers entering university (23.3 % in 2018) is in fact now lower than in England (https://www.ucas.com/corporate/news-and-key-documents/news/scottishstudents-celebrate-university-places-are-confirmed).
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But none of Scotland’s new universities introduced programmes in Classics, and student numbers in the ancient universities that still had such programmes were by the 1970s in serious decline. Though all had, by then, introduced ab initio language courses and general courses (although not yet degree programmes) in Classical Civilization, department size and student numbers meant that the University Grants Committee’s 1987 Review of Classics (chaired by the Director of the Institute of Classical Studies, Professor J. P. Barron, and so widely known as the Barron Report) had serious concerns about all Scottish Classics departments except St Andrews (which was by then home to more than 50 per cent of all Scotland’s undergraduate and postgraduate students in Classical subjects).37 At Glasgow and Edinburgh, the working party ‘found it hard to justify continuance [of Classical teaching] at both on their present scale in terms of student demand’ and recommended that they ‘enter a consortium’. Aberdeen had declined to a staff of four and a student population of just over 20, and so closure was recommended and (in 1990) implemented, 495 years after the university first began to teach students in Greek and Latin – the end, one might say, of an auld sang. 38
3. Revival? Paradoxically, the Barron Report, the hostility of successive UK governments since 1979 to the arts and humanities, the growth of intrusive audit cultures for research and teaching, and the increasing marketization of UK higher education have done nothing to prevent and probably quite a lot to facilitate a revival in Classical subjects in the three Scottish universities in which they survive. The development of full four-year MA programmes in non-linguistic subjects such as Classical Civilization and Ancient History has fully bedded down and makes for healthy enrolments in all three departments. Provision in Latin and Greek – for students with good secondary school qualifications in the subjects, as well as for those who begin the languages at university – is particularly strong at Edinburgh and St Andrews. St Andrews currently 37 38
University Grants Committee Review of Classics, 1987, 7. Ibid., 7–8.
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lists 29 research and teaching colleagues in Classics, Edinburgh 38. Academic staff numbers at Glasgow declined a little in the 2000s and 2010s, but have now recovered to a total of eleven, well above the level of eight that the Barron Report established as a minimum in 1987. The restoration of an established chair in Greek in 2012 was made possible by a legacy left by the last holder of the original chair, Douglas MacDowell, who retired in 2001. Aberdeen too, though it no longer has a distinct Classics department, has seen the return of courses in Ancient Philosophy and Religion, Classical Literature, Greek, and Latin, as well as the re-establishment of a local centre of the Classical Association of Scotland. Adult education in Classical subjects, moreover, continues to attract robust enrolments throughout the country. Though the survival of Latin and Greek in Scottish universities is substantially due first to the development of non-linguistic programmes in the 1970s and after and then to the establishment of those programmes not just as wholly respectable, but also as exciting and challenging degree subjects in their own right (in a system where, unlike in Germany, students’ subject choices at university are not necessarily directly related to their subsequent career pathways), it is no longer the case that ‘civilization’ courses alone keep Classics departments in business: in Edinburgh and St Andrews in particular enrolments in traditional Latin and Greek classes are buoyant. Though (since 2013) it is no longer possible to obtain a school-leaving (Higher or Advanced Higher) qualification in Greek in a Scottish state school, Latin remains part of the curriculum in ways that, at least in principle, make it available to a wider range of students with different levels of ability. In the 1980s, the traditional Ordinary Grade examinations taken at age 16 were replaced by the new Standard Grade qualifications which allowed students to sit the examination at the level most suited to their ability.39 Though the initial proposal was to exclude Latin at the lowest of the three levels, this was successfully resisted by teachers, and thus a recognized qualification in Latin (at least where the subject is offered) became a real possibility for the least able students. The survival of Latin remained unthreatened by the plethora 39
See Paterson (n. 30), 568; (n. 23), 237–239. Cf. Walter Humes, Scottish Education in the Twenty-first Century: Continuities, Aspirations and Challenges, in Anderson, Freeman, and Paterson (n. 1), 346–365, esp. 349.
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of further reforms that followed, until the development and gradual implementation, from 2004 onwards, of the Scottish Government’s new ‘Curriculum for Excellence’ (launched in 2010), 40 whose initial drafts had no place for the subject. Once again, it was only the tenacity of Scotland’s withering remnant of Classics teachers, together with their supporters in the universities and in wider Scottish society, that ensured that Latin should still feature in the new curriculum. Latin and Classical Studies are now available at five levels (National 3, National 4, National 5, Higher, and Advanced Higher). 41 In 2019, 376 students obtained awards in Latin at the new National 5 level (age 16), 253 at Higher, and 59 at Advanced Higher. 42 Where Latin survives in this new regime, it flourishes, thanks especially to the energy and commitment of those who teach it. There is much reason for rejoicing that, in a school such as Kirkcaldy High School (founded in 1582, alma mater of Adam Smith and Gordon Brown, and now a state comprehensive), students of all ages and abilities are taking to Latin in large numbers.43 If that could be replicated on a larger scale, the future of Classics in Scottish state schools would be secure. Curriculum for Excellence, however, confirms and consolidates the emphasis of recent curricular changes in Scottish education on skills – and especially non-subject-specific skills – rather than knowledge.44 This can mean that students educated in this system, if they wish to pursue further study of Latin at university, find that they know much less than those educated in jurisdictions such as England. 45 This may not matter all that much: Scottish university Classics departments provide courses in Latin suitable for students with varying levels of previous knowledge, See Humes (n. 39), 348–351, 354–355. See http://www.sqa.org.uk/sqa/45663.html. 42 See http://www.sqa.org.uk/sqa/64717.html. 43 See e.g. The Courier, 31 January 2012 (https://www.thecourier.co.uk/news/local/fife/93555/sapientia-et-doctrina-fife-pupils-learning-the-age-old-benefitsof-latin/). 44 See Lindsay Paterson, Scotland’s Curriculum for Excellence: The Betrayal of a Whole Generation?, https://blogs.lse.ac.uk/politicsandpolicy/curriculum-forexcellence/. 45 See Emma Buckley, Alice König, and Ana Kotarcic, Transitioning between Schooland University-level Latin Learning: A Scottish Perspective, Journal of Classics Teaching 18.35 (2017), 54–64. 40 41
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from none at all to considerable; and the need to provide basic levels of tuition to entrants who have ostensibly studied classical languages at school is a phenomenon that would have been very familiar to professors of Greek and Humanity in the great days of the eighteenth and nineteenth centuries. 46 But it can be demoralizing for students with a school-leaving qualification in a subject to find that they are not immediately ready to study alongside their peers who have qualifications in the same subject from a different education system. Against this must be weighed the potential widening of the opportunity to study the subject in the first place – the trade-off between ‘democracy’ and ‘intellect’ highlighted by Lindsay Paterson as ‘the Scottish educational dilemma of the twentieth century’.47 All three of the surviving Scottish Classics departments have in recent years done very well indeed in attracting external research income (in my own department at Edinburgh research income for the period 2014 to 2019 stands at just under £4.6 million) and in the recruitment of high fee-paying non-EU students; but another reason for their current success is undoubtedly the trebling of fees for students in England in 2012. Though Scottish students (and, for the moment, at least, EU students too) pay no fees at all in Scottish universities, English students do, at the same level (currently £9,250 per annum) as they would pay in England (and for one year more). There is no limit on the numbers of such students that Scottish universities can admit. Since the Classics departments of Edinburgh and St Andrews in particular draw almost all of their Latin and Greek students from the English private schools,48 this puts them in a better position, as contributors to the financial See e.g. Anderson and Wallace (n. 22), 270 (on the 1850s): ‘Students from rural parish schools knew some Latin, but otherwise their knowledge was rudimentary and for their benefit university lectures had to begin at a low level. Professorial lectures provided a general survey of their subjects, but specialised or advanced work was excluded from the official curriculum: as a university professor of Greek, [J. S.] Blackie had to begin with the alphabet.’ Low and declining standards are, it seems, a perennial concern of the incumbents of Scottish chairs in Classical subjects: see Knox (n. 26), 262, on a lecture delivered to the Classical Association of Scotland on 20 March 1926 by Professor Gilbert Davies, Professor of Greek at Glasgow, on ‘Illiteracy in the Universities’, 47 Paterson (n. 23). 48 Overall figures in all subjects for my own university show a decline in the 46
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health of their institutions, than subjects or institutions which rely more heavily on Scottish-educated students, in whose case the funding provided by the Scottish Government covers only a fraction of the costs of their education. This demonstrates that Classics remains highly attractive to students even when they are forced to incur significant levels of debt in order to study at university, but it also does nothing to dispel the impression that the subject caters especially for a narrow social class. Scotland has thus not been spared the marketization of higher education ushered in by the introduction of fees south of the border. 49 Lindsay Paterson in 2001 thought that mass education, together with associated demands for ‘quality assurance’, would, after the establishment of a Scottish parliament in 1999, ‘force the universities to pay more attention to Scottish society and traditions’,50 but in fact the advent of fees for English (or rather ‘RUK’) students, the expansion of international student numbers (a constituency which pays even higher fees than the English), and the Scottish Government’s cap both on funded places and on funding per student have meant that quite the opposite is the case. Managers in Scotland’s top universities now regard Scottish students – especially given the looming funding crisis occasioned by Covid-19 – as something of a liability, despite their enforced compliance with Scottish Government-imposed requirements on widening access to Scottish students from the least advantaged socio-economic backgrounds. By contrast, Scotland’s university Classics departments themselves have in recent years been making strenuous efforts to extend and strengthen links with local communities and to make Classics in Scotland once again available to all. These departments have always enjoyed good relations with local schools and communities. But as far as contact with schools is concerned, proportion of publicly educated students admitted to undergraduate courses, from 69.8 % in 2015/16 to 65.4 % in 2018/19, the same proportion as recorded by St Andrews in that year; the corresponding figure for Glasgow is 85.3 % (Higher Education Statistical Agency, Widening participation: UK Performance Indicators 2018/19, https://www.hesa.ac.uk/data-and-analysis/performanceindicators/widening-participation); state-educated participation in Greek and Latin courses is without doubt very much lower. Publicly educated students make up 95 % of the school population in Scotland and 93 % in the UK as a whole. 49 Much lamented in (e.g.) Stefan Collini, Speaking of Universities, London 2017. 50 Lindsay Paterson, Universities 3, post-Robbins, in Lynch (n. 3), 615.
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this has traditionally focused above all on those schools in which a Classical presence survives, and as the number of the latter dwindled, so interaction and co-operation had become more sporadic, dependent in particular on the sterling work of Classics teachers in local independent schools to keep such traditional activities as Latin reading competitions alive. At the same time, the greater diversification of the English secondary school system as a result of a series of reforms introduced first by the Labour government of 1997– 2010 and then by their coalition and Conservative successors has increased both the autonomy of individual schools in England and, in many cases, the role of parents, governors, and trustees in determining the curriculum. The result has been a resurgence of Latin in some areas, with greater opportunities for the language’s advocates and supporters to make their case. This has encouraged activists in a number of organizations to build on their success in extending Classics provision by taking it to places where it has rarely existed before. Though Scotland’s more homogeneous, state-controlled public education system offers less scope for autonomy in individual state schools or for parent power, nonetheless advocacy and outreach initiatives of various sorts are now beginning to take hold. Supported by mature research demonstrating the utility of Latin in fostering lexical awareness, reading skills, reading comprehension, and grammatical understanding in English,51 as well as in boosting modern foreign language learning – data of considerable relevance, one would think, to Scotland’s new Curriculum for Excellence – undergraduate students from Edinburgh, Glasgow, and St Andrews universities have, under the aegis of the Iris Project’s Literacy through Latin initiative,52 been introducing the subject to eleven- and
See e.g. Nancy A. Mavrogenes, The Effect of Elementary Latin Instruction on Language Arts Performance, Elementary School Journal 77 (1977), 268–273; Lewis A. Sussman, The Decline of Basic Skills: A Suggestion So Old That It’s New, The Classical Journal 73.4 (1978), 346–352; Richard A. LaFleur, Latin Students Score High on SAT and Achievement Tests, The Classical Journal 76.3 (1981), 254; Richard L. Sparks et al., An Exploratory Study on the Effects of Latin on Native Language Skills and Foreign Language Aptitude Students with and without Learning Disabilities, The Classical Journal 91.2 (1995–6), 165–184; Timothy V. Rasinski et al., The Latin-Greek Connection, The Reading Teacher 65 (2011), 133–141. 52 See http://irisproject.org.uk/index.php/projects/literacy-through-latin. 51
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twelve-year-old students in primary schools in some of Scotland’s most economically disadvantaged areas.53 Efforts to introduce or reintroduce Classics (whether Classical Studies or Latin) in state comprehensive secondary schools are being spearheaded by the Classical Association of Scotland, with the support of the charity, Classics for All.54 These initiatives are in their early days, but there is momentum behind them, supported especially by the initiative of Professor Tom Harrison (St Andrews), Chair of Council, the Classical Association of Scotland, and by the energy and industry of Dr Alex Imrie (Edinburgh), the Association’s Outreach Co-ordinator, but also underpinned by the success of Scotland’s university Classicists in defending and expanding their subject in the past three decades. A snapshot of where Classics stands at present in Scotland would present a mixed picture: Ancient History, Ancient Philosophy, Classical Archaeology, Classical Civilization, Greek, and Latin are flourishing in the university sector. Traditional, linguistic Classics has not, despite predictions, disappeared, but has in fact been maintained and enhanced. Students graduate in these subjects in significant numbers and go on to success in a wide variety of careers. But the decline of the subject in state schools, compounded by continuing difficulties in restoring provision for teacher training in Classical Studies and Latin, means that the universities do not, by and large, draw their students from the communities in which they are located. While a UK-national and international focus in student recruitment is absolutely to be welcomed, Scottish Classicists are also all too keenly aware of the need to foster our subjects in our local communities, communities that have every right to expect that their country’s top universities should welcome their brightest young people and allow them to benefit from all the programmes that they offer.
See (Edinburgh) https://www.ed.ac.uk/local/schools/literacy-through-latin; (Glasgow) https://www.gla.ac.uk/schools/humanities/research/classicsresearch/irisproject/; (St Andrews) https://www.st-andrews.ac.uk/classics/research/projects/llt/. 54 For a report, see http://aceclassics.org.uk/introducing-classics-into-scottishstate-schools/. For CAS and Classics for All, see https://classicsforall.org.uk/regional-hubs/scotland/. 53
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Griechisch und Latein im heutigen Frankreich: Welche Perspektiven hat das Studium?* Hélène Casanova-Robin Zwei Bücher, die aufgrund der Prominenz ihrer Autoren in Zeitung und Fernsehen ein breites Medienecho gefunden haben, machten jüngst auf ein häufig zu beobachtendes Phänomen aufmerksam: Man nimmt auf die griechischlateinische Kultur der Antike Bezug, um dort ein Echo auf ein aktuelles Ereignis zu finden oder sich umgekehrt zu versichern, dass eine Problemstellung, die ein innerstes Anliegen unserer Gegenwart betrifft, bereits in der Antike vorkommt. Christophe Ono-dit-Biot versammelt in seinem letzten Werk Die Stunde der Antike55 eine Reihe von Zeitungsberichten, in denen er ein alltägliches Ereignis einer Konstellation annähert, die durch antike Autoren bekannt ist – in der Regel handelt es sich um einen Mythos aus Ovids Metamorphosen. In einem ganz anderen Genre nehmen der Philosoph Raphaël Enthoven und die Zeichnerin Coco Platons Symposion in Form eines Comics neu in Augenschein.56 Die Autoren dieser Werke, allesamt keine Spezialisten im akademischen Sinne, liefern jedoch den Beweis, dass die antike Kultur eine bemerkenswerte Rolle in ihrem Denken spielt und ihre Kreativität und Reflexion befördert. Die Werbung für die Antike könnte keine medienwirksameren Botschafter finden, und insofern handelt es sich um ein begrüßenswertes Faktum, auch wenn man sich fragen könnte, welche Antike durch solche Werke vermittelt wird. Indes haben sie den unbestreitbaren Vorzug, dass es sie gibt und dass sie infolge eines Rückkoppelungseffektes Für die Übersetzung aus dem Französischen danken die Herausgeber Bettina Rommel. 55 Christophe Ono-dit-Biot, La minute antique, Paris 2019. 56 Coco / Raphaël Enthoven, Le Banquet, d’après l’œuvre de Platon (en bandes dessinées), Paris 2019. *
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hoffentlich die Leser einladen, die Texte, von denen die Rede ist, tiefergehend zu erkunden. Frankreich beruft sich gerne auf die Antike, und kein Tag vergeht, ohne dass man den Präsidenten der Republik mit Jupiter gleichsetzt oder den Chef der Partei La France insoumise, Jean-Luc Mélanchon, mit einem Volkstribun, wenn nicht gar mit Catilina vergleicht. Doch wie steht es um das Studium von Latein und Griechisch als Sprachen und Literaturen in unserem Bildungswesen? Welcher Stellenwert kommt ihnen dort zu? Die Entwicklung der schulischen Lehrpläne und der universitären Unterrichtsgestaltung gibt vielfach Anlass zu Besorgnis, welche selbst das aktuelle Interesse an den antiken Leitbildern nicht ausräumen kann. Ich werde hierzu einige Überlegungen anstellen, die persönlichen Beobachtungen und Erfahrungen entsprungen sind, wobei ich den Schwerpunkt auf das Lateinische lege, denn – meine gräzistischen Kollegen werden mir das hoffentlich verzeihen – Latein ist die Sprache, die mich tagtäglich beschäftigt, kurzum mein Spezialgebiet.
1. Bestandsaufnahme: Ein Etikettenschwindel Die letzten Reformen des Lycée, also der Oberstufe an den weiterführenden Schulen, belegen ein unvermindertes Interesse an den antiken Sprachen und Literaturen zumindest bei einem freilich geschrumpften Bevölkerungsanteil, und dies, obwohl ein geläufiger Diskurs jedwede Schulbildung – „Ausbildung“ soll es künftig offiziell heißen – verunglimpft, die keinen unmittelbaren praktischen Nutzen hat und nicht auf kürzestem Wege in eine lohnende berufliche Tätigkeit mündet – Berufszweige, die mit Literatur zu tun haben, gelten als vollends nutzlos. Zwar hat der Minister für Erziehung, Forschung und Technologie für das Lycée, also die Klassen 10 bis 12, einen neuen schulischen Zweig geschaffen, der mit dem Titel spécialité Langues, littératures et cultures de l’antiquité jenem nach wie vor lebendigen Interesse entgegen zu kommen scheint, er stellt jedoch keineswegs die herkömmlichen lettres classiques wieder her. Empfohlen wird dort das Lesen von Textauszügen sowie ein äußerst bescheidener Spracherwerb und eine breite Behandlung der antiken Zivilisation. Wie aber fügen sich diese Vorgaben in die Programme der
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Mittelstufe, also der Klassen 6 bis 9, und des darauf folgenden Lycée überhaupt ein? Und darüber hinaus: Was bedeuten sie für die Stellung der Disziplinen in der Hochschulbildung?
Latein und Griechisch im Sekundarschulwesen Ganz allgemein belegen die vom Ministerium übermittelten Zahlen eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Schülern, die wenigstens in einer Alten Sprache unterrichtet werden, nämlich ungefähr 500 000 (mehr als 20 % davon im Collège, das heißt bis einschließlich zur neunten Klasse, 5 % fahren damit fort bis zum Abschluss der Oberstufe; dem privaten Unterrichtswesen kommt dabei im Vergleich zum öffentlichen eine lange Kontinuität jener Studien zugute).57 Auf den ersten Blick schließt sich die vom Minister vorgeschlagene Reform dem allgemeinen Trend zum Erlernen alter Sprachen und Kulturen an, einer Bewegung, die tatsächlich niemals zum Erliegen kam, obwohl sie in schöner Regelmäßigkeit hart attackiert wurde − sei es, dass sie aus unterschiedlichen politischen Motiven ideologisch angeprangert wurde oder im Gefolge von Erziehungsreformen, welche dazu tendierten, den Unterricht immer mehr zurückzufahren, gänzlich unterdrückt werden sollte. Seit mehr als dreißig Jahren ist dies aber nie vollständig gelungen. Pierre Judet de la Combe und Heinz Wismann haben äußerst zutreffend und klarsichtig den Niedergang des Lateinischen und Griechischen in den letzten Dezennien analysiert und nachdrücklich Gründe zu ihrer Verteidigung vorgebracht.58 Ich werde darauf zurückkommen. Angesichts der jüngsten Reformen des Oberstufenunterrichts, die als Erneuerung einer ,humanistischenʻ Bildung angepriesen wurden, sind heute 57 2018 erhielten 456164 Schülerinnen und Schüler der Mittelstufe Latein- oder Grie-
chischunterricht, 81257 in der Oberstufe; allerdings geben viele der Lernenden nach einem Jahr bereits den Unterricht auf, weil die Stundenpläne für andere Fächer, zum Beispiel in einer zweiten Fremdsprache oder Informatik, mit denen der Alten Sprachen nicht kompatibel sind. 58 Pierre Judet de la Combe / Heinz Wismann, L’avenir des langues : repenser les humanités, Paris 2004; sodann Pierre Judet de la Combe, L’avenir des Anciens, oser lire les Grecs et les Latins, Paris 2016.
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daran allerdings Zweifel angebracht. Besieht man sie sich näher, entdeckt man, ohne hiermit eine Polemik anzetteln zu wollen, dass zwischen dem Aushängeschild, unter dem die Neugestaltung dargeboten wird, und ihrer Realisierung sich ganz offensichtlich ein Abgrund auftut: Wie ist es um die reale Existenz jenes Unterrichts bestellt, der an den Schulen oft nur auf das Allernötigste reduziert angeboten wird, wenn er nicht sowieso nur in der Theorie existiert? Kann man überhaupt von einem Spezialunterricht reden, wenn dem Erlernen der Sprache selbst, also dem Lateinischen und Griechischen, so wenig Platz bemessen wird? Welche Antike sollen die Schüler kennenlernen? Die Reform des amtierenden Ministers bietet somit rein theoretisch den Schülern, die das wünschen, die Möglichkeit des Lateinunterrichts mit einer nicht unbedeutenden Stundenanzahl und kreiert dies als „Spezialität“. Aber in Wirklichkeit führt ein Mangel an finanziellen Mitteln die Schulleiter dazu, die Stunden, die dem Unterricht der Alten Sprachen zufallen müssten, zu verringern; vorzugsweise werden dazu die einzelnen Lernstufen gebündelt und neu gruppiert, um andere Unterrichtsformen zu fördern und andere Optionen anzubieten, die man für ,nützlicherʻ hält. Beim Schuljahresbeginn 2019, also zu dem Zeitpunkt, als die Reform durchgesetzt wurde, hatten nur 0,36 % der Schüler die specialité Langues, littératures et cultures de l’antiquité in der Eingangsklasse zur Oberstufe, der Première, gewählt. Sicherlich ist dieser spezielle gymnasiale Zweig neu, dennoch muss man deutlich hervorheben, dass selbst die Pariser Eliteschulen, an denen die Tradition der klassischen Bildung eigentlich noch lebendig sein dürfte, den Schülern, die für den neuen Zweig optierten, nicht immer die zu erwartende Stundenanzahl zugeteilt haben. In der Tat bieten nur sehr wenige Oberstufen in Frankreich diesen speziellen Zweig an und er ist vom Verschwinden bedroht, wenn der Unterricht weiterhin nur mit reduzierter Stundenzahl durchgeführt wird. Was die für Frankreich spezifischen Vorbereitungsklassen anbelangt, die zu durchlaufen sind, um an einer der Elitehochschulen zu studieren, und die an die Oberstufe anschließen, womit sie diese um eine weitere höhere Stufe verlängern (und zugleich der Universität eine große Zahl guter Studenten entziehen) – was diese Classes préparatoires aux Grandes Écoles also betrifft,
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so findet man dort noch Latein- und Griechischunterricht in verschiedenen Formen. Tatsächlich verpflichtet die Reform von 2007 alle Studenten, die sich für den Ausbildungsgegenstand Literatur eingeschrieben haben, zum Studium einer Alten Sprache. Dafür sind zwei Stunden des allgemeinen Lernprogramms vorgesehen, zu denen, falls diese Sprachen Wahlfächer sind, zwei weitere Unterrichtsstunden hinzukommen. Eine Alte Sprache bleibt Pflicht bei der Aufnahmeprüfung für die Ecole nationale supérieure de la rue d’Ulm in Paris; sie ist nicht obligatorisch, aber wählbar für die Teilnahme des Concours für die gleiche Einrichtung in Lyon. Indes können die Schüler Latein als zweite Sprache auch dann wählen, wenn sie sich auf die Aufnahmeprüfungen verschiedener anderer Ecoles supérieures bewerben, zum Beispiel auf die Ecole supérieure de commerce. Im ersten Jahr der Vorbereitungsklassen besuchen die Studenten einen einstündigen Kurs zur antiken Kultur, dessen Thema jährlich von den Ecoles nationales supérieures festgelegt wird und auf das sich die mündlichen und schriftlichen Gegenstände des Unterrichts beziehen. Mit dieser Situation im höheren Schulwesen, die von einem deutlichen Desinteresse am Erlernen alter Sprachen geprägt ist, ist die an den Universitäten aufs engste verknüpft, wobei das System der Vorbereitungsklassen die Lage hier zusätzlich verkompliziert. Dadurch nämlich verzögert sich der Zustrom von Studierenden um zwei bis drei Jahre und schmälert die Studentenzahl im ersten und zweiten Studienjahr der Licence (Abschluss analog zum Bachelor). Hinzu kommt, dass die Neigung, einen Lehrberuf zu ergreifen, immer mehr abnimmt und der universitäre Lehrbetrieb die Studierenden dazu antreibt, sich für Ausbildungswege zu entscheiden, für die Latein oder Griechisch nicht obligatorisch sind. Man gibt nur ungern zu, dass einem das Studium der Alten Sprachen zu einer ausgezeichneten intellektuellen Schulung verhilft: Und bis auf wenige Ausnahmen lassen sich die Unternehmen zur Zeit von einem Lebenslauf, der eine Licence, einen Master oder gar Doktor in den Alten Sprachen nachweist, nicht wirklich überzeugen. Im Verlauf der letzten zehn Jahre wurde oft genug der Abbau der fast bis zum Verschwinden gebrachten lettres classiques beklagt. Deren Studiengang existiert heute tatsächlich nur noch an einigen wenigen französischen Universitäten. Nach wie vor jedoch ist das Lateinische präsent, freilich in
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anderer Gestalt: Beispielsweise existiert es in den interdisziplinären Studiengängen der sogenannten Humanités oder solchen wie Antike Kultur und Gegenwart und zweifellos auch in den Studienangeboten, die man den Studierenden zukommen lässt, die nicht speziell das Fach studieren, wobei das Sprachniveau dieser Adressaten den Ausschlag gibt. In der Praxis liegt das Schwergewicht auf antiker Kultur oder auf der Arbeit mit übersetzten antiken Texten, wobei sich der Unterricht allgemeinhin auf mehr oder minder genaue Themenstellungen bezieht. Die Antike bleibt weiter ein Referenzpunkt innerhalb der Ausbildung, sie zählt hingegen nicht für die Studienabschlüsse. Unter der Voraussetzung, dass Latein und Griechisch nicht das Herzstück der Bildung sind, sondern diese nur ergänzen, eignet sich die Antike vorzüglich, den neuen Studiengängen das Label der Exzellenz zu verleihen – ein Paradox, das nachdenklich macht. Faktisch entspricht der neue Platz des Latein einer bemerkenswerten Erneuerung der Herangehensweise an die Literatur und Kultur der Antike; diese wiederum steht im Zusammenhang mit einer Form ,pädagogischer Innovationʻ, einer heutzutage außerordentlich beliebten Konzeption − voller Kreativität, die so etwas mit sich bringen kann, aber auch voller Nachteile, ja sogar Gefahren, die damit verbunden sind.
2. Neue pädagogische Ansätze Die Programme, welche die Reform der Stundenpläne für den Unterricht in Mittel- und Oberstufe begleiten, zeigen das Bestreben, die Schule für die Welt von heute zu öffnen, wobei einem fächerübergreifenden Unterricht der Vorzug gegeben wird. Die Lehrer, die klassische Sprachen unterrichten, werden demzufolge einerseits angehalten, die Ausbildung sowohl umfassend anzulegen oder, besser noch, den Blick ins Allgemeine zu lenken; zugleich aber werden sie zu einem kleinteiligen Vorgehen verleitet und zwar in dem Maße, wie es darum geht, aus dem antiken Korpus eine Textauswahl zu treffen, die mit einer übergreifenden gesellschaftlichen Thematik zusammenpasst, wie Religion, Wissenschaft, Erziehung, Politik und weitere mehr.
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Dieser thematische Zugang wird ebenfalls in den Vorbereitungsklassen zu den Grandes Ecoles übernommen. Seit einigen Jahren erhalten die Schüler der sogenannten Première einen einstündigen Kurs Antike Kultur: Die Themenauswahl, die staatlich vorgegeben ist, setzte seither Gegenstände aufs Programm wie „Götter und Menschen“, „Macht“, „Körper“ und anderes mehr, will sagen: Themen, die in viele Richtungen anschlussfähig sind und die darauf zielen, die antike Literatur in den Zusammenhang eines allgemein verbreiteten kulturellen Wissens einzuschreiben. Diese neuen Zugangsweisen bilden gleichsam den Resonanzraum für bestimmte pädagogische und wissenschaftliche Zielvorstellungen, die sich seit gut zwanzig Jahren an der Universität fest etabliert haben. Dozenten und Forscher der Alten Sprachen und Literaturen haben angesichts der rückläufigen Personalausstattung in den Departements de lettres classiques, also in den Abteilungen für klassische Philologie an der Faculté des Lettres, all ihren Erfindungsreichtum eingesetzt, um Verbindungen oder zumindest Formen der Kontinuität aufzuzeigen, welche zwischen der antiken Welt und der heutigen Zeit besteht. Die Erkundung der Kultur und Literatur der Antike findet mithilfe von Themen statt, die im Mittelpunkt zentraler zeitgenössischer Anliegen stehen: „Mensch und Tier“, „Politik und Rhetorik“, „Das Selbst und das Andere“ einschließlich solcher Bedeutungen wie „Barbar“, „Freiheit in gesellschaftlicher und individueller Hinsicht“, „Die Welt des Mittelmeers“, „Gerechtigkeit“ und weitere mehr. Innerhalb der Universität lässt sich im Laufe der letzten zwanzig Jahre folglich eine beachtliche Erneuerung der Unterrichtsformen feststellen, und zwar nicht nur, was die Wege des Studiums antiker Texte anbelangt, sondern auch die Ausbildungsangebote selbst. Eine der fruchtbarsten Erfahrungen bestand nicht so sehr in der Öffnung der Kurse für diejenigen unter den Studierenden, die kein Fachstudium absolvierten, sondern in der Tatsache, dass der Unterricht in der lateinischen (oder griechischen) Sprache und Literatur mit einem komplementären und vielseitigen Studiengang gekoppelt wurde und damit in der Möglichkeit, einen Doppelabschluss innerhalb der sogenannten Bi-Licence zu erwerben. Derart aufgestellt, erhält das Lateinische (oder das Griechische oder beide in Kombination) eine andere Bedeutung:
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Es profitiert von einer anderen Sicht auf den Gegenstand und wird zum notwendigen Begleiter der Philosophie oder Kunstgeschichte oder Geschichte, nicht zuletzt der Politikwissenschaft. Mit der Erprobung jener Ausbildungsform, die zwei Fächer vereint, haben sich weitere Wege in andere Bereiche eröffnet: Latein wird zum Beispiel mit Lebenswissenschaften und mit Geowissenschaften verbunden oder Griechisch mit Medizingeschichte. Indem die Öffnung der Unterrichtsfächer zugleich einen weiten zeitlichen Rahmen schafft, finden selbstverständlich die Literaturen des Mittel- und Neulatein sichtbar ihren Platz und werden zunehmend in die Studiengänge eingebaut, selbst wenn sie aufgrund der geringen Einschreibquote für jene Spezialisierung eher marginal bleiben. So groß der Ehrgeiz auch ist, die Praxis entspricht dem nicht immer, denn wenn auch die Gegenstände des Unterrichts aktuelle gesellschaftliche Anliegen aufgreifen, ist doch oftmals nicht klar, welchen Rang der antike Text in solchen Programmen tatsächlich einnimmt: Nicht selten wird er nur in Übersetzung zur Kenntnis genommen, sodass er als Einzelstück in einem breiten Ensemble wahrgenommen wird und mitunter in einem Textkorpus untergeht, das ziemlich weitläufig, wenn nicht sogar bunt zusammengewürfelt ist. Die Schaffung all dieser neuen fachübergreifenden Angebote ist natürlich lobenswert. Dennoch ist festzuhalten, dass auch sie nicht überdauern können, wenn nicht parallel zu ihnen die Ausbildung von spezialisierten Studierenden erhalten bleibt, ja sogar verstärkt und unterstützt wird. Das Risiko der fächerübergreifenden Betrachtungsweise besteht darin, dass sie die antike Kultur auf einige wenige Gemeinplätze zusammenschrumpfen lässt, die gedanklich notwendigerweise wenig attraktiv sind. Sie entfernt all das, was den Wesenskern der Alten Sprachen und Literaturen ausmacht: Die Anregung zum Denken und Nachdenken, das Erlernen strenger und genauer Analyse, die Entwicklung der Urteilskraft und Geschmacksbildung, dies alles hat seinen Ursprung in der Sprachpraxis oder zumindest in der Sensibilisierung durch die Übersetzung von lateinischen Texten. Wenn zu diesem Risiko noch das zusammenhanglose Wissen hinzukommt, auf das wie auf eine in Distanz gehaltene auctoritas verwiesen wird, dann − leider muss das gesagt werden − bleibt die Antike ein exotisches Gebiet, das einem modernen Denken und
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seinem ästhetischen, politischen staatsbürgerlichen, anthropologischen Ferment keine wahrhaft neue Nahrung geben kann. Nur wenn die Texte gründlich erarbeitet und am besten in der Originalsprache gelesen werden, bilden sie einen Keim des aktiven Denkens. Indem hingegen das antike Denken ohne Textgrundlage und ohne die Auseinandersetzungen, die es ausgelöst hat, den Studierenden gleichsam als etwas, das von außen kommt, dargeboten wird, belässt man es in einer Position der Fremdheit, wie insbesondere Pierre Judet de la Combe in den oben zitierten Werken gezeigt hat. Umgekehrt führt jedoch auch der Versuch in eine Sackgasse, die Alten auf jeden Fall zu Zeugen gegenwärtiger Fragen zu machen wie zum Beispiel zur Gleichheit von Mann und Frau, zu Fremden oder Sklaven oder zur Religion, ja er kann sogar zu Fehldeutungen verleiten, wenn die Texte nicht in ihre Kontexte gestellt werden und zudem jedwede kritische Auseinandersetzung mit der Originalsprache ausgeblendet wird. Gewiss, zu früheren Zeiten konnte ein solches Vorgehen durchaus fruchtbar sein, jedoch nur, weil es auf einer genauen und vertieften Kenntnis der alten Texte beruhte. Die antike Literatur bietet das Wertefundament der humanitas, vorausgesetzt man kennt deren Definiton durch Cicero und die Art und Weise, wie sie von den antiken Autoren aufgefasst wird.
3. Sprache und Texte sind wieder ins Zentrum des Wissens zu stellen: Dazu braucht es notwendigerweise gut ausgebildete Fachstudenten Im Laufe der letzten Dezennien bestand eine der bemerkenswerten Öffnungen des Lateinstudiums zudem in der Erforschung der Diachronie der Latinität. Dieser Beitrag bliebe unvollständig, wenn er nicht mit Nachdruck auf ihre Entwicklung durch die Jahrhunderte verwiese, wenigstens bis hin zur Renaissance, will sagen bis zu dem Zeitpunkt, von dem an die antiken Texte mit einer neuen Aufmerksamkeit gelesen werden, um von ihnen Ausgaben herzustellen und sie damit an künftige Generationen weiterzugeben. Ohne Zweifel rechtfertigt die literarische und wissenschaftliche Produktion der Humanisten als zentrales Bindeglied zwischen Antike und Moderne das
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Interesse an den alten Texten, und zwar in dem Maße, wie diese Denker, wenn sie sich den politischen, ästhetischen, philosophischen und wissenschaftlichen Fragen der neuen Zeit stellten, ihre Auseinandersetzung auf eben jene Texte stützten und damit ihrerseits ein Grundlagenwerk geschaffen haben, das wiederum ein weiteres Zeugnis für die Fruchtbarkeit des Schrifttums und der Gedankenwelt der Antike darstellt. Diese Autoren – es seien hier nur einige berühmte Namen genannt wie Petrarca, Alberti, Pontano oder in den folgenden Jahrhunderten Du Bellay und Gassendi in Frankreich – wählen das Lateinische als persönliches Äußerungsmittel. Und es gibt ihnen immer neue Nahrung für die Formgebung der Volkssprache. Mit anderen Worten: Das Studium der neulateinischen Literatur birgt große Herausforderungen, die sich nicht in der Frage der imitatio erschöpfen, auf die man sie viel zu häufig reduzieren wollte. Das gilt tatsächlich für das gesamte Ensemble literarischer Formen und sicherlich ebenso für Naturkunde, Medizin, Philosophie, Politik, Kunsttheorie, Theatertraktate und so fort, all die Bereiche somit, zu denen sich die antiken Autoren schriftlich geäußert haben und die von den Humanisten nun entdeckt und zum Leben erweckt werden, indem sie sich die Schriftzeugnisse selbst aneignen und dadurch zu gedanklichen Prozessen stimuliert werden, die wiederum in ihr eigenes Erneuerungswerk eingehen. Das Altertum erscheint nun nicht mehr als ein festumrissener Moment in einem gegebenen zeitlichen Abschnitt und sei es, dass dieser sich über fünfzehn Jahrhunderte erstreckt: Es wird als ein lebendiges und weiterhin im Werden begriffenes Gedächtnis erachtet, das als wesentliches Fundament und als Nährboden modernen Denkens unverzichtbar ist. Das Textstudium eines Autors gewinnt somit insgesamt Sinn, wenn dieser in den geistes- und literaturgeschichtlichen Überlieferungszusammenhang gestellt und im Kontext der von ihm aufgerufenen künstlerischen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen betrachtet wird, mit denen er sich in die zeitgenössischen Debatten einschreibt. Diese Art der Annäherung an den neulateinischen Text bleibt insofern schwierig, als sie eine vertiefte Kenntnis voraussetzt: Um genau zu verstehen, wie beispielsweise Lukrez von den Humanisten rezipiert, diskutiert, kommentiert oder imitiert worden ist und wie daraus ein weitverbreitetes gelehrtes Schrifttum hervorgeht, muss nicht nur der hiervon weitergetragene Epikureismus bekannt sein,
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sondern es müssen Kenntnisse von den zeitgenössischen philosophischen Debatten, die in die Abhandlungen eingebaut werden, vorhanden sein. Überdies ist die Genauigkeit der in diesem Zusammenhang elaborierten Sprache in allen ihren innovativen Facetten zu ermessen, weil der Epikureismus sie als eigentliches bildhaftes Repräsentationsmedium der von ihm dargelegten naturkundlichen und ethischen Theorien begreift. Die wortgenaue Lektüre der Texte bleibt somit das wesentliche Werkzeug, um zum Kern der Gedanken vorzudringen. Nur so kann eine fruchtbare Übertragung der Reflexion in die Gegenwart gelingen. In jüngster Zeit hat Nicola Gardini in mehreren autobiographisch gefärbten Büchern ein an Argumenten reiches Zeugnis vorgelegt, in denen das Studium der alten Texte in der Originalsprache verteidigt wird, indem er sie zusammen mit seinem wissenschaftlichen Spezialgebiet, den modernen Literaturen, in den Blick nimmt.59 Er drückt darin seine Bewunderung für die lateinische Sprache aus, für die durch ihre Wortmusik erweckte Sensibilität, und verweist auf die geistige Strukturierung, welche die Konstruktion des lateinischen Satzbaus bewirkt – all die Weisheit von universeller Tragweite, die nur im unmittelbaren Verstehen der schöpferischen Sprache zu erfassen sei. Der Verfasser kommt darüber hinaus darauf zu sprechen, dass eine Lektüre Ovids in der Originalsprache unabdingbar sei, wenn sie sich nicht im Bejubeln der faszinierenden Komplexität des Textes erschöpfen wolle, wo doch dessen Wesenskern in der Ambiguität der Sprache liege, die der antike Dichter virtuos nutzt. Nur dann ließe sich ermessen, in welchem Grad Ovid in so vielen modernen Werken lebendig sei und dies sowohl in literarischer als auch konzeptioneller und philosophischer Hinsicht. 60 Es ist erfreulich, dass die Werke von Nicola Gardini bei einem großen Publikum wie es scheint weit verbreitet sind, enthalten sie doch die Grundlagen dafür, das
Nicola Gardini, Viva il latino. Storia e bellezza di una lingua inutile, Milano 2016 (französische Übersetzung: Vive le latin. Histoires et beauté d’une langue inutile, Paris 2018); ders., Le 10 parole latine che raccontano il nostro mondo, Milano 2018 (französische Übersetzung: Les 10 mots latins qui racontent notre monde, Paris 2019). 60 Nicola Gardini, Con Ovidio. La felicità di leggere un classico, Milano 2017 (französische Übersetzung: Avec Ovide. Le plaisir de lire un classique, Paris 2019). 59
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Studium unserer antiken Schriftsteller in der Originalsprache zu legitimieren. Mögen sie dieses Fundament wieder ins Kollektivbewusstsein heben! Kurzum, so notwendig die Diversifizierung des Lateinunterrichts (und des Griechischunterrichts) sein mag und so sehr auch unter den Bedingungen einer methodologischen Neuausrichtung der Praxis eine solide Ausbildung mit umfassenden Kenntnissen anzupeilen ist, es bleibt grundsätzlich dabei: Von fundamentaler Bedeutung ist die Ausbildung von Spezialisten, von Philologen und Forschern, die mit einem soliden Handwerkszeug zur Analyse befähigt werden und eine breite literarische Bildung erfahren, die zudem historisches, anthropologisches und philosophisches Wissen umfasst. Nur kraft einer solchen fachlich fundierten Vermittlung können wir selbst den Studierenden das Beste der Altertumswissenschaften weitergeben, gleich welche professionelle Ausrichtung sie wählen oder in welchen Studiengang sie sich einschreiben. Der Kern der antiken Studien muss erhalten, ja mit Leben erfüllt bleiben, falls gewünscht wird, sie mit anderen Disziplinen zu verbinden und dabei die Gültigkeit der antiken Gedankenwelt nicht vernachlässigt werden soll. Genau darin besteht die Wahl, die Universitäts- und Wissenschaftsverwaltungen obliegt, falls sie einen fruchtbaren interdisziplinären und fächerüberschreitenden Ausbau der Kenntnisse wünschen, der diesen Namen überhaupt verdient.61 Es ist notwendiger denn je, in den für das Lateinstudium spezialisierten Fachabteilungen Lehrkräfte und Forschende auszubilden, die über sichere Kenntnisse verfügen und dazu imstande sind, den künftigen Lehrern an der Sekundarschule und genauso den Studierenden, die sich von der Kenntnis der Antike einen Gewinn versprechen, das Wissen und die Methodologie zu vermitteln, die das Wesen selbst der antiken Kultur erhellt. Mit dem Verschwinden der Seminare, die auf Lehre und Forschung des Lateinischen spezialisiert sind, gerät die unerlässliche Ausbildung exzellenter Fachvertreter und damit recht eigentlich derjenigen, die buchstäblich die Sache der Texte beherrschen, in Gefahr.
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In diesem Sinne Nuccio Ordine, L’utilità dell’inutile, Milano 2013 (mehrfach neu aufgelegt; deutsche Übersetzung: Von der Nützlichkeit des Unnützen, München 2014; französische Übersetzung: L’utilité de l’inutile. Manifeste, Paris 2013): ein kleines synthetisches Buch mit einer gleichwohl unwiderlegbaren Argumentation.
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Italian Job: Decline and (Hopefully) Recovery of the Study of Latin in Italy Francesca Romana Berno
1. Current Situation of the Study of Latin in Italy There is a lively debate these days on the study of Latin, and more generally of classical culture, all around Europe: this collection of essays is a relevant example of this.1 I would like to offer my contribution to the discussion with a look at the situation in Italy, where the decline of this study, but also the attempts to defend and restore it, are both particularly evident. Much has been well written on a theoretical level on this subject, so I will focus on data and concrete answers to this question. Apparently, being the place where Roman civilization was born, as plenty of remains testify, and talking in a language which is the most sound-like to Latin of all romance languages, Italy should be the ideal place for studying Latin. Viewed from a distance, this seems obvious. Seen from the inside, however, it is not. Our question is closely linked to that of High Schools: indeed, in Italy the study of Latin traditionally starts at this level of instruction, and specifically in Liceo Classico (where students also learn Ancient Greek) and Liceo Scientifico.2 Two classes of data give striking evidence to the loss of importance of this subject in our courses of For an overview see Gregor Vogt-Spira, Latin: Back to the Future? Some Reflections on Latin and Literacy in the Digital Age, Symbolae Philologorum Posnaniensium Graecae et Latinae 29 (2019), 157–171. 2 Only few hours of Latin are planned in other schools, such as the Liceo Linguistico (two hours a week for two years: until 2009 there were two or three hours a week for five years) and the Liceo delle Scienze Umane (two hours a week for five years). Formerly, until 1977, the study of Latin started at Intermediate School. 1
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studies. The first comes from the Liceo Classico, a school whose whole identity is founded on the study of classical culture: the percentage of students who choose this course, previously settled around 15 %, has constantly diminished in recent years, reaching its lowest point in 2015 (5.5 %), while it has slightly risen up to 6.7 % in 2020 (6.5 % in 2021, still provisionary data).3 This percentage has a regional distribution: students who choose Liceo Classico are attested around 3.5 % in Northern Italy, 5-6 % in central Italy (with the exception of Rome, 9 %), 7 % or more in Southern Italy. The richer the territory, the lower the percentage. The second item comes from the Liceo Scientifico, whose specific subjects are Maths and Physics, and where students study Latin, but not Ancient Greek. This Liceo was particularly affected by the last general reform of High Schools (2009): indeed, since then students may choose between a course with Latin (with a reduced amount of hours dedicated to it, and a corresponding increase of Physics), and another one where Latin is replaced by more scientific and up-to-date subjects; in particular, computer science. This option is called “Applied Sciences”, and it has gained percentage year after year: 8.9 % in 2020 (10 % in 2021, provisionary data), while the traditional option has seen a reduction of enrollments from over 21.5 % before the reform, to a percentage around 15.1 %. It is evident that given the choice, students (and parents) prefer ‘modern’ subjects to Latin. A reduction in the number of students means a reduction in the number of teachers: therefore, in the game between supply and demand, this implied a reduction in the number of students in classical languages at the University. The chance of becoming a high school teacher in Greek and Latin or Italian and Latin, which is still the main career prospect from the faculty of Lettere (Humanities), and especially Lettere Classiche 4 (Classics), has been reduced, and so this course of study does not attract many students any more. Despite Here and below, data from the Minister of Public Instruction (Ministero per l’Istruzione, l’Università e la Ricerca, www.miur.it); cf. https://www.orizzontescuola.it/iscrizioni-2019-20-54-sceglie-il-liceo-ma-studenti-sono-43mila-inmeno/. 4 Currently, only few universities in Italy offer a Degree in Classics (‘Sapienza’ in Rome and ‘Federico II’ in Naples); other universities only have Master Degrees on this subject. 3
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the lack of selection in admissions, the faculty of Humanities is the students’ choice in nine of fifteen cases.5 The teaching profession is also discredited by limited social esteem, and a salary which is lower than that in most European countries, and also than that of other professions which require a similar training in Italy. For these reasons, becoming a teacher not only requires a long and difficult path, with no certainty of getting a job; it is also considered an unattractive profession. Moreover, and this is a problem within another problem, an increasing percentage of students who attend this faculty have never studied Latin −so the level of teaching, which formerly started with advanced linguistic skills in classical languages as a prerequisite, had to be drastically lowered to compensate for this lack. This not very optimistic picture shows a general decrease of interest in classical languages, and in classical culture altogether, which finds its roots and correspondence in many authoritative attacks against classical culture, among which stands a statement made (and later denied) in 2010 by our Minister of Finance at that time, Giulio Tremonti 6: “You cannot eat with Culture.”
2. Intellectual Reactions: Motivation, Dissemination, Actualization It seems that in Italy government and society agree in taking Latin, as part of classical culture, to be something useless, because it does not have an immediate and evident impact in terms of skills and competence. The answers which have been given are focused on three main tenets: motivation, dissemination, actualization. I will briefly show some examples. The decline of Latin, and more generally of classical culture in Italy, which Https://www.agi.it/cronaca/facolta_preferite_universitari_italia6132110/news/2019-09-04/ (data from the Minister of Education). The decrease in enrollments, which is also due to decreasing interest in high level studies in general, is reflected in student numbers: twenty thousand students less from 2010–2011 to 2015–2016. Still, there is a problem of unemployment for graduates in Humanities. 6 Who indeed attended the Liceo Classico. 5
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has been significantly described in terms of a war – “classics, or Licei, are under attack”, was a frequently repeated statement ̶ generated a diverse range of reactions by the intellectual class, which produced a number of roundtables, seminars, a galaxy of websites, associations, 7 and some longtime projects. Among those, I would recommend Classici Contro, a project started by some scholars from the University of Venice who – since 2012 – organize every year a cycle of seminars in theaters all around Italy, each focused on a contemporary theme (last year (2020), it was Oikos. Men and Nature, Between Homer and Imminent Future) read in the light of ancient texts and culture, with the cooperation of intellectuals, professors, High school teachers and students.8 Each year, the most relevant interventions are published in a collection of an editor from Milan, Mimesis. Among these initiatives, the most incisive in defense of classical culture in general, and of Latin in particular, with echoes also abroad, are indeed some books: in recent years several essays of so-called high dissemination have been published; they are focused on classical culture, but addressed to a wide audience, including non-classicists as well.9 Some of them explicitly aim to defend and stimulate Latin studies; I would single out the most famous and recent ones, written by Nicola Gardini, Ivano Dionigi, and Maurizio Bettini. 10 E. g. the Italian Association for Classical Culture (AICC, www.aicc-nazionale.com), disseminated all around Italy, founded in 1897, but particularly involved in the contemporary debate; the website and editorial site www.classicocontemporaneo.it; the website www.classicult.it. As for roundtables, I would quote the one held in Rome in 2015 with the participation of many important personalities of culture and university (Gli studi classici nel terzo millennio, March 16th 2015, cf. the chronicle by Martina Russo in Bollettino di studi Latini 43 (2015), 634–637). There was also a kind of theatrical performance with the title Processo al liceo classico (“Liceo Classico at the Bar”), with the participation, as a defense attorney of the Liceo, of one of the most influential Italian intellectuals at that time, Umberto Eco: you may find the one presented in Turin in 2014 at https://www.youtube.com/watch?v=sAqDEA8FwA. The script was published by Ugo Cardinale and Alberto Sinigaglia (Bologna 2016). 8 Https://virgo.unive.it/flgreca/ClassiciContro.htm; the creators of the project are Alberto Camerotto and Filippomaria Pontani. 9 A survey of recent publications on the subject in S. Stucchi, Come il latino ci salva la vita, Milano 2020, 5–25. On this book see below, 232. 10 I would like to add also a reference to: Latino perché? Latino per chi? Confronti internazionali per un dibattito, ed. by Attilio Oliva, Genova 2008, downloadable at 7
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They are all well written, easy to read, and have had a great success: plenty of readers, reviews, radio and tv interviews, and so on. I will say a few words about each of them and then try to make some general remarks. Nicola Gardini (Viva il latino. Storie e bellezza di una lingua inutile, Milano 2016) is not a Latinist, but a teacher of Italian and Comparative Literature at the University of Oxford. From this privileged evaluation center, he values Latin, with its most important authors, 11 as a “genetic code of Western culture”, an essential source for our literature and philosophy, but also for our culture in a wider sense. Dedicating a short section to each of a number of relevant authors in Latin literature, from Plautus to Augustine, he shows in simple but precise and capturing terms the fascinating aspects of each one’s style, the challenge of translation, the amazing net of etymologies which shows most evidently the way of thinking of a people, and links words of different cultures summarizing the history of ideas. 12 In this way, Gardini emphasizes how European culture is rooted in Latin culture, which represents a huge common background for all European citizens; his aim is to show how beautiful Latin is, valuing aesthetic pleasure in a way which he himself compares to that described in Stendhal’s The Red and the Black. Ivano Dionigi (Il presente non basta. La lezione del latino, Milano 2016) is a renown Latinist from the University of Bologna, and his book underlines the three main lessons which Latin gives us: the primacy of words, the centrality of time, the nobility of politics. The focus here is also on etymology, as an evident remnant of Latin in most European languages. Tracing the history of a word makes us understand a whole world of concepts and links between different cultures. Equally useful is to draw the semantic field of a key concept, e.g. that of time. The range of terms indicating time in Latin offers us a http://www.treellle.org/files/lll/QA1.pdf. About Roman history, Giusto Traina, La storia speciale. Perché non possiamo fare a meno degli antichi romani, RomaBari 2020. The author maintains that the expanse of the Roman empire and the number of different civilizations belonging to it should suggest to us a multidisciplinary and multicultural approach, trying to narrate a global history. 11 He has a special preference for Ovid, on whom he published a book (Con Ovidio. La felicità di leggere un classico, Milano 2017). 12 On etymologies cf. also Le 10 parole latine che raccontano il nostro mondo, Milano 2018. More recently, Gardini has written a book about ancient Greek: Viva il Greco. Alla scoperta della lingua madre, Milano 2021.
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suggestive reflection on the brevity of life and on the importance of culture to trespass the boundaries of a single existence.13 In the same way, the Latin word res publica, from which derive the modern terms for “republic”, emphasizes the importance of politics as something belonging to all people, of which everybody should care. Finally, Dionigi underlines the analogies between the shortness of Latin sentences and the character limit of contemporary instruments of communication, such as Twitter; he also stresses the usefulness of Latin to understand the cultural and archaeological, and thus touristic, Italian heritage, and so its relevance as a requested occupational skill in this key field of employment. Maurizio Bettini (A che servono i Greci e i Romani?, Torino 2017) is a philologist from the university of Siena, and he is famous for his research in ancient anthropology and in the history of myth. 14 In his book, as the title indicates, he tackles the idea of usefulness, which is so often discussed about Latin in particular, and about culture in general. Of course, Latin is useless if we consider it from a mere material point of view. But if we free the field of culture from the cage of economic metaphors which oppresses it and reduces it to a market, such as “cultural market” or “research product”, we may understand that Latin is not only useful for enriching one’s personal interests, but that it also contributes to open-mindedness and problem solving skills, which are particularly appreciated in economic and financial professions. 15 These three books share some common features: on the one hand, the idea that etymology is a preferred way to catch the reader’s interest, even if he is an unlearned one, and to show the concrete usefulness of Latin Language to This issue is very important to Dionigi, who also published Quando la vita ti viene a trovare. Lucrezio, Seneca e noi, Bari 2019. 14 As for the actualization of ancient culture, he wrote Homo sum. Essere ‘umani’ nel mondo antico, Torino 2019, about issues connected with migrations. 15 In this analysis, Bettini explicitly refers to Martha Nussbaum’s Not for Profit. Why Democracy Needs the Humanities, Oxford 32016 (12010); the Italian translation has been published with a preface of Tullio De Mauro, a famous scholar of Italian language, former Minister of Public Instruction. Beyond that, Bettini draws attention to the recent debate on the art. 9 of the Italian constitution, which states that the Italian Republic preserves landscape, historical and artistic heritage (cf. Costituzione incompiuta. Arte paesaggio ambiente, ed. by Tomaso Montanari, Torino 2013). 13
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better understand modern languages; on the other hand, the reflection on the idea of usefulness, either refused or reread to be applied to a cultural field such as Latin. Moreover, they all agree on the fact that the loss of Latin would be particularly serious in Italy, because of its pervasive presence in Italian literature, not less than in its language, its culture, and archaeology. The mix of these lines of reflection leads Bettini 16 to propose a reformulation of the Latin studies: he argues that if learning Latin would begin with culture and anthropology instead of with grammar, as it is done nowadays, it would be much more attractive for students, and this would raise the number of enrollments to the Liceo Classico. To make classical languages more up-to-date in a positive and interesting way, he also proposes to introduce workshops in High schools which translate and present ancient pieces (following some existing examples); to increase visiting museums and exhibitions; to study ancient rhetoric, which can be crucial to understand a modern political speech, and reception of the classics, which shows the deep connections of European (and in some case also extraeuropean) modern literatures with Latin authors; to read as many ancient works as possible, also in translation, in order to appreciate the work itself putting in brackets the difficulty of language. All of these would be motivating issues to lead to the study of Latin language, which is necessary to appreciate the deepest and fascinating beauty of Latin culture. Then again, the history of Latin literature as it is conceived nowadays in Italy, i.e. as a chronological list of principal and minor authors, which is typical of Italian schools, should be abandoned. In his opinion, in order to save classical culture, a sort of revolution of school programs, as well as of the final examinations, is needed.17 The books quoted above are all focused on two aspects: dissemination and motivation. Dissemination is always important, but it becomes crucial in a society where classical culture is no more a common ground, and where in its higher sense, here at play, it has a great importance in recreating a network of knowledge and competences, which is pivotal also to develop the 16 17
Cf. also in Dionigi (above, 229), 99–112. Which, until 2017, previewed a translation form Greek or Latin; now, also according to Bettini’s proposals, it has been turned into a contextualized translation with questions about comparisons between Greek and Latin texts.
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sense of respect for ancient monuments, landscape, traditions, not to speak of Italian literature: indeed, all these things derive more or less directly from Roman language and culture. In this regard, I would like to mention a book which has just been published by Silvia Stucchi, Come il latino ci salva la vita, Milano 2020. After a survey of the existing literature, the author offers an overview of all aspects of Latin culture in every respect (family, love affairs, money, etc.), with many references to texts in translation, and in an easy style which makes the reading at the same time pleasant and instructive. Motivation is not less important than dissemination. Students do not apply any more themselves to anything if they do not have a vivid personal interest in a certain subject, and these books try to raise this interest. In addition to this, Bettini proposes a concrete change in methodology, focusing on etymologies and culture rather than on morphology and syntax. The study of, let’s say, Roman daily activities, or of the meaning of res publica, would surely fascinate students more than dealing with Latin noun declensions and subjunctive endings. So, this could be a good way for motivating students, even if the introduction of so much new material, given the limited scheduled hours, would necessarily lead to a reduction of the grammatical, linguistical and literary content. There is the need of a new generation of handbooks and instruments for teachers to manage all these different issues, 18 and, even before that, a reconsideration of school programs. Actualization is one of the most effective motivation strategies. The same study of etymology shows the continuity from past to present; so do the performances of ancient theatrical plays, or the study of local toponyms or traditions: but also a targeted approach to Latin texts may help students to find in two thousand years old lines the same feelings, just dealt with in different ways.
18
At this moment, handbooks offer some insights into these issues; Bettini himself published a handbook for the Liceo (Nemora, Firenze 2005), introducing some notions of anthropology and culture.
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3. Concrete Reactions: Dissemination, Actualization and Internationalization As I have tried to show, the authors of the quoted books focus on motivation, but they also try to look at the other side of the coin, i.e. what happens after the Liceo. Indeed, apart from motivation, another important reason for the decline of classical studies in Italy has been the fact that they are not useful for finding a job. Not only are there fewer teaching positions in classical languages than before, as it has been said, but also the once famous higher competence for management positions, in other words, the assumption that each politician or top manager has attended a Liceo Classico, is in crisis. Nowadays, the labor market prefers shorter career paths, skills that are easier to acquire. So, scholars have developed some specific strategies to face this problem, actualizing classical culture without losing its specific features. I would like to take into consideration, after what has been written on the issue (see above section 2), some examples of what has been concretely done about it. One response is the creation of new job positions based on classical languages, but also open to technology and new digital instruments. Indeed, there has been in recent years a relevant development of new up-to-date branches of studying classics, such as Digital Humanities. 19 This interdisciplinary approach to classics (and to literature in general) is quickly gaining more and more importance, in that it has been the common ground for many successful projects, and nowadays accounts for a certain number of positions in several Universities; at the same time, it has offered new instruments for teaching in High Schools.20 A Center for Digital Humanities has been established by the Department of Humanities of the University of Venice, with some dedicated courses and a specific Master Degree; so do the Universities of Bologna and Pisa; an ERC grant on the digitalization of grammatical Latin
19 20
This topic is fully developed in Vogt-Spira 2019 (n. 1). See Andrea Balbo, Materiali e metodi per una didattica multimediale del latino, Bologna 2017; Paolo Monella, Metodi digitali per l´insegnamento classico e umanistico, Milano 2020.
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texts, named PAGES, has been obtained by Michela Rosellini (Sapienza University of Rome); the universities of Turin and Genova offer a joint PhD focused on this. Such a new and interdisciplinary field of research is very attractive for students coming from different fields: it is a quite new reality, but it seems promising, even if, of course, it cannot offer a solution for the whole problem. Furthermore, recent enterprises aim to renew classics, and also to increase internationalization. I would like to quote two relevant examples in this regard. The first one is the Italo-Korean project ‘Roma Sinica. Mutual Interactions between Ancient Roman and Eastern Thought’, which explores the interactions between western and eastern thought and literature, and previews a series of conferences and of publications, published by De Gruyter.21 The second one is the proposal of a Degree in Classics with all courses in English. This already exists for some scientific faculties, e. g. Medicine or Physics, and has started in 2019 at Sapienza University of Rome with a threeyears degree program.22 This initiative attracts not only foreign students, who are fascinated by these subjects but were formerly discouraged by the difficulty of the Italian language, and so disseminate classical culture all over the world,23 but also Italian students, who will have the chance to deepen their skills in English and so try to get a job experience abroad. Rome, with its huge heritage in archaeological remains of Roman culture, is the ideal place to let an experiment like this take place. The two examples quoted above belong to advanced classical culture; nonetheless, it is crucial to underline the relevance of classical culture on the high school level, even more than on an advanced one, that is to say, not only for those who want to make a job of it; because, as the above mentioned
The Italian referent is Andrea Balbo (Turin University); the De Gruyter series is presented at https://www.degruyter.com/view/serial/ROS-B; a first conference was held in Turin and the proceedings are available with open access (https://www.degruyter.com/view/title/540994?language=en); a second one took place in Seoul in 2019. The project receives its main financial support from Seoul University. Indeed, there is an increasing interest of Asian cultures, especially South Korea and China, in classical culture. 22 Https://corsidilaurea.uniroma1.it/it/corso/2020/30787/home. 23 Actual enrollments show a consistent percentage of students from Asia. 21
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books say, if Italians lose classical culture, they lose the chance of understanding and appreciating not only Latin literature, but also their own birthplace, their own literature and cultural identity. In my opinion, a relevant problem in this regard is represented by the selective admissions for the most targeted faculties, i.e. Medicine and Engineering. Indeed, these admissions are mostly based on scientific competence, so that students who come from the Liceo Classico often start at a disadvantage compared with those coming from other schools, who offer a deeper knowledge in scientific subjects.24 If these admissions were based more on attitude than on competences, then the celebrated open-mindedness and problem-solving capacities of students with a classical background could be appropriately valorized. Intellectual community should strongly ask the Minister to review the admissions process, in order to evaluate the most important thing in a, let us say, future medical doctor, which is less his material knowledge (he will have plenty of time to improve it in a six-year University Degree) but rather his attitude to take into consideration the whole person and not just a single part, to notice small details and put them into the general picture of a diagnosis: an attitude which everyone practices when translating from Latin. Meanwhile, in response to the crisis of enrollments, a pragmatic approach has been adopted by some Licei Classici, which have expanded their offer, thanks to a percentage of autonomy in didactic programs, with additional hours dedicated to subjects like advanced Math, Law, Economics, or a second foreign language.25 This choice has been appreciated by families, and so in these cases enrollments increased. It is quite the opposite of what happens at the Liceo Scientifico, where you may choose between Latin and other, “more useful” subjects; here, if a student is willing to study ancient Greek and Latin, he/she also is offered subjects which give him/her the competence he/she needs to pass the university selection procedures. Moreover, Italian Universities have recently added to their main commitments the so-called “third mission”, which means indeed dissemination of high culture within schools and society; specific forms of founding projects on this subject have been established. This initiative aims to fill the gap 24 25
This argument was already in Eco’s speech (n. 8). This is what happened at the so-called “Liceo Classico Europeo”.
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between High Schools (and, in a wider sense, society) and Universities in both directions: promoting and increasing enrollments for University degrees, but also offering High schools (and common people) instruments, sketches and examples of the most up-to-date progress in each discipline. This is crucial especially for the classical languages, given the already mentioned fact that teaching is the main job opportunity for students who get this degree, and so mainting contact with High Schools is also a way of training for their future profession.
4. Conclusion We can say that the situation is getting a bit better: teachers and classicists are aware of the crisis of Latin in Italy, and they have made not only passionate theoretical speeches, but also concrete proposals, some of them at least partially put into practice. Yet there is still something to do about the general attitude towards classical culture: indeed, a widespread prejudice considers it as a sign of distinction of an intellectual and despicable élite, which uses to show contempt for those who really do the hard work. The protest of the common man Renzo against the priest who was trying to deceive him in Alessandro Manzoni’s The Betrothed: “Are you kidding me? … What have I got to do with your latinorum?”,26 which refers to the most sound-catching of Latin inflexions, -orum, to signal its distance from the real world, still stands some way. Maybe the most important commitment of scholars nowadays – and those I quoted above are relevant examples of this − is indeed dissemination. This means, besides conveying specific contents, fighting this prejudice, showing in our daily life that Latin can make us not only more learned, but also better people, who consider themselves not in any sense superior, but more lucky, more blessed than others for being able to travel in time and getting to know such a wonderful culture and literature, and for this reason are well-disposed to share their knowledge with others.
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“Si piglia gioco di me? … Che vuol ch’io faccia del suo latinorum?” (chapter 2). Cf. Dionigi (above, 229), 85.
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Die Alten Sprachen in Österreich – der Siegeszug des Neulatein Florian Schaffenrath Wie in den meisten europäischen Ländern sind die wichtigsten Institutionen für die Vermittlung der Fächer Latein und Griechisch auch in Österreich die Schule und die Universität. Klassische Philologie kann an vier Universitäten in Österreich studiert werden: an der Universität Wien, der Karl-FranzensUniversität Graz, der Paris-Lodron-Universität Salzburg und der LeopoldFranzens-Universität Innsbruck. An allen Standorten werden Latein- und Griechischlehrer ausgebildet, die in Österreich von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich gute Anstellungsbedingungen vorfinden: Während das Fach Latein (zumindest in seiner vierjährigen Kurzvariante) zu den Pflichtfächern am Gymnasium zählt, ist der Griechischunterricht freiwillig, wird nur an einigen Schulen angeboten und somit auch nur von wenigen Schülern gewählt. Die Klassischen Philologen Österreichs, die an der Schule oder an der Universität unterrichten, sind in der Sodalitas – Bundesarbeitsgemeinschaft Klassischer Philologen und Altertumswissenschaftler in Österreich organisiert. Die Sodalitas gibt mehrmals im Jahr die Zeitschrift Circulare für kurzfristige und zeitnahe Informationen, und einmal im Jahr die Zeitschrift IANUS heraus, in der neben wissenschaftlichen und fachdidaktischen Artikeln zahlreiche Buchrezensionen über die wichtigsten Neuerscheinungen im Fach informieren. Daneben gibt es eine Reihe von regionalen Zeitschriften, beispielsweise Cursor (Oberösterreich) oder Latein Forum (Tirol). Aus der Zusammenschau dieser Informationsmedien erhält man Jahr für Jahr einen soliden Überblick über die Entwicklung der Klassischen Sprachen in Österreich.1
1
Einen guten Überblick über die Entwicklung der Klassischen Sprachen an den
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Ein exemplarischer Trend: Neulatein Die Entwicklung der Klassischen Sprachen in Österreich hat zahlreiche internationale Trends mitgemacht. Wie in vielen anderen Ländern führte die grundsätzliche Diskussion über die Sinnhaftigkeit vor allem des Latein (Griechisch bleibt hier oft im Hintergrund) zu verstärkten fachdidaktischen Bemühungen, die sich etwa in attraktiveren und moderneren Schulbüchern niedergeschlagen haben. Als Beispiele seien die Reihe Latein Lektüre aktiv! (Österreichischer Bundesverlag) oder das Lehrbuch Medias in res! (Veritas Verlag) neben vielen anderen genannt. Auch zwang die Reduktion der an der Schule für die Fächer Latein und Griechisch zur Verfügung stehenden Wochenstunden dazu, den vermittelten Stoff auf verschiedenen Ebenen (Grundwortschatz, Grammatikphänomene, Anzahl der Texte pro Modul) zu komprimieren und zu reduzieren. An der Universität wurde es deshalb nötig, mehr Grundlagenwissen zu vermitteln, das nicht mehr als bekannt vorausgesetzt werden konnte. In der universitären Lehramtsausbildung selbst kam es zu einer intensivierten Pädagogisierung, die eine verstärkte Anpassung und Abstimmung der Fachanteile und der pädagogisch-praktischen Teile des Studiums mit sich brachte. All diese Entwicklungen sind nicht spezifisch für Österreich, sondern lassen sich auch in anderen Ländern so oder so ähnlich verfolgen. Eine Auffälligkeit, die in ihrer Intensität sehr wohl eine Besonderheit für Österreich darstellt und in anderen Ländern so nicht stattgefunden hat, ist die bedeutende Rolle, die Neulatein sowohl an der Universität als auch an der Schule in den letzten 25 Jahren zu spielen begann. Weil dieser Aspekt für Österreich besonders relevant und spezifisch ist, soll er im Folgenden etwas österreichischen Schulen bis 2012 beziehungsweise 2016 bieten: Fritz Lošek, Latein für das 21. Jahrhundert. Ein Grenzgang zwischen „toter Sprache“ und lebendigem Trendfach, IANUS 33 (2012), 22–58; ders., Austria Latina – von einer „sterbenden Sprache“ zum Trendfach und zum Vorzeigemodell: Altsprachlicher Unterricht in Österreich, Forum Classicum 59 (2016), 80–90; beziehungsweise erweitert ders., Austria Latina – von einer „sterbenden Sprache“ zum Trendfach und zum Vorzeigemodell: Altsprachlicher Unterricht in Österreich, IANUS 37 (2016), 10–22. Kritisch zu den jüngsten Entwicklungen Karlheinz Töchterle, Einige utopische Gedanken zu den Reformbestrebungen im Sekundarschulbereich und zur Rolle der Alten Sprachen darin, Latein Forum 97/98 (2019), 1–5.
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genauer beleuchtet und nachvollzogen werden, ohne freilich zu verschweigen, dass auch in anderen Feldern der Klassischen Philologie von vielen interessanten neuen Entwicklungen zu berichten wäre. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts war das Lehramtsstudium Latein überwiegend am Klassischen Latein der Goldenen und Silbernen Latinität ausgerichtet. In der Stilkunde wurde an Cicero orientiertes Latein verlangt, Seminare wurden zum Großteil über klassische Autoren gehalten, und in Vorlesungen wurden die großen Texte der klassischen Antike behandelt. Es soll nicht behauptet werden, dass lateinische Autoren, die nach Tacitus geschrieben haben, nie Gegenstand von Lehrveranstaltungen gewesen wären, doch stellten entsprechende Kurse die Ausnahme dar. Der an der Universität gepflegte Fokus auf die Antike passte gut mit dem Lektürekanon der Schule zusammen: Es war lange Zeit klar, welcher Autor in welcher Schulstufe wann gelesen wurde, am Beginn der Lektürephase etwa regelmäßig Caesars De bello Gallico. Eine Lehrplanreform in den 1980er Jahren kaschierte dieses Vorgehen nur oberflächlich, denn wenn es im Lehrplan auch hieß, man solle sich mit der „Krise der Republik“ beschäftigen, war doch klar, dass sich dahinter eine intensive Sallust-Lektüre verbarg.2 Dies sollte sich 2004 mit einer erneuten Lehrplanreform grundlegend ändern. 3
Projekt Habsburgpanegyrik Sukzessive wurden an allen vier österreichischen Universitäten große Forschungsprojekte aus dem Bereich Neulatein begonnen, die allesamt einen regionalen Ansatz wählten. Den Anfang machte die Universität Wien: 1997 war dort Franz Römer in der Einwerbung eines vom österreichischen Fonds zur
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Vgl. Lošek (wie Anm. 1), 29. Zur Entwicklung, die mittel- und neulateinische Texte im österreichischen Lateinlehrplan nahmen, vgl. Fritz Lošek, Die Stellung von Mittel- und Neulatein im neuen Lehrplan der Allgemeinbildenden Höheren Schule Österreichs, in: The Role of Latin in Early Modern Europe, hg. von Gerhard Petersmann, Salzburg/Horn 2005, 161–179.
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Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanzierten Drittmittelprojektes zum Thema Poetische Habsburg-Panegyrik erfolgreich.4 Das Forschungsteam, dem unter anderem auch Elisabeth Klecker und Sonja Schreiner angehörten, machte es sich zur Aufgabe, die reichhaltige und in großer Zahl erhaltene panegyrische Literatur, die auf Mitglieder des Hauses Habsburg verfasst wurde, zu erschließen und literaturgeschichtlich zu erfassen. Als Grundlage standen die reichen Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek, der ehemaligen Hofbibliothek,5 in Wien zur Verfügung, aber auch andere Bibliotheken wurden berücksichtigt, etwa die im Stift Rein bei Graz aufbewahrte Bibliotheca Ferdinandea, die Hofbibliothek Kaiser Ferdinands II. (1578–1637). Im Zentrum der Aufmerksamkeit der Wiener Forschungsgruppe, die ungemein viele Publikationen hervorbrachte, standen Epigramme, Embleme, Oden, Elegien, Eklogen, Epyllien und Großepen vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. Auch nach dem offiziellen Auslaufen des Projektes im Jahr 1999 bot das hier erschlossene Material reichlich Stoff für fortführende Publikationen, aber auch für Master- und Doktorarbeiten.
Projekt Benediktinerdrama Kurze Zeit später begann Gerhard Petersmann an der Universität Salzburg 1999 mit dem Forschungsprojekt Musae Benedictinae Salisburgenses – Lateinisches Drama der Salzburger Benediktineruniversität.6 Seit der Gründung Grundlegend zum Projekt: Franz Römer, Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache vom 15. bis ins 18. Jahrhundert, in: 1000 Jahre Österreich − Wege zu einer österreichischen Identität, hg. von Franz Römer, Wien 1997, 91–99; Elisabeth Klecker, ,Nachleben antiker Mythologie in der Renaissanceʻ und ,Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Spracheʻ. Zwei Wiener Forschungsprojekte zur schöpferischen Antike-Rezeption in der frühen Neuzeit, Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 21 (1997), 142–145; Franz Römer, Klassische Bildung im Dienst habsburgischer Propaganda. Lateinische Panegyrik in der Donaumonarchie, International Journal for the Classical Tradition 5 (1998), 195–203. 5 Vgl. Franz Römer und Elisabeth Klecker, Poetische Habsburg-Panegyrik in lateinischer Sprache. Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek als Grundlage eines Forschungsprojekts, Biblos 43 (1994), 183–198. 6 Zum Projekt: Gerhard Petersmann, Musae Benedictinae Salisburgenses. Die 4
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der Universität Salzburg durch die Benediktiner im Jahr 1622 wurden dort regelmäßig lateinische Dramen aufgeführt. Es konnten über 600 Stücke nachgewiesen werden, von denen etwa 200 noch im Wortlaut erhalten sind. Neben spektakulären Texten wie Mozarts Jugendoper Apollo et Hyacinthus wurden durch das Forscherteam, dem unter anderem Veronika Oberparleiter Coroleu und Franz Witek angehörten, auch Dramatiker erschlossen, deren Werk in der Literaturgeschichtsschreibung bisher noch nicht ausreichend gewürdigt worden war, etwa P. Simon Rettenpacher OSB (1634–1706). Aus dem Projekt sind einige Buchpublikationen hervorgegangen.7 Leider hat sich nach Ablauf der Finanzierung im Jahr 2003 keine Fortsetzung einrichten lassen.
Projekt Grazer Jesuitenuniversität Auch an der Universität Graz wurde ein einschlägiges neulateinisches Forschungsprojekt gestartet: Unter der Ägide von Ludwig Fladerer beschäftigte man sich dort mit der „Antikerezeption an der Grazer Jesuitenuniversität“. Von der Universitätsgründung im Jahr 1573 bis zur Auflösung des Ordens 1773 spielten die Jesuiten in Graz eine entscheidende Rolle im universitären Leben. Im Rahmen des Projektes wurden wichtige Texte ediert, etwa Andreas Friz’ SJ (1711–1790) theatertheoretischer Traktat Epistola de tragediis oder die Dramen des Anton Maurisperg SJ (1678–1748). Zahlreiche online zur Verfügung gestellte Aufsätze und Editionen zeigen, wie reichhaltig die Grazer Produktion war, die Einflüsse aus ganz Europa aufnahm und ihrerseits auch überregional wahrgenommen
Antikenrezeption im lateinischen Salzburger Universitätstheater, IANUS 21 (2000), 13–17. 7 Franz Witek, Die „Bühne des Schicksals“. Demetrios von Makedonien in Historiographie und Drama, Salzburg/Horn 2001; Veronika Oberparleiter Coroleu, Simon Rettenpachers Komödie Judicium Phoebi, de nostri saeculi Vatibus. Einleitung, lateinischer Text, Übersetzung und Kommentar, Horn/Wien 2004; Franz Witek, Gestalten der antiken Historie im lateinischen Drama der Salzburger Benediktineruniversität, Horn 2009.
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wurde.8 Auswahlkriterien für die behandelten Texte waren einerseits ihr Antikebezug, andererseits ihr lokaler Bezug zur Steiermark und zur Universität Graz. Auch hier wurden die von der Forschung behandelten Texte mit Gewinn in den universitären Unterricht einbezogen und mitunter in Form von Diplomarbeiten behandelt.
Projekt Tyrolis Latina Während ein gemeinsames Merkmal der neulateinischen Projekte, die in Wien, Salzburg und Graz durchgeführt wurden, ihr Fokus auf die Rezeption der Antike war, verfolgte das von Karlheinz Töchterle an der Universität Innsbruck initiierte Projekt Tyrolis Latina – Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol einen anderen Ansatz: Die Mitarbeiter, unter ihnen etwa Stefan Tilg oder auch der Verfasser dieser Zeilen, verzeichneten zunächst alle im historischen Tirol (heute das österreichische Bundesland Tirol und die italienischen Regionen Südtirol und Trentino) auf Latein verfassten Texte und versuchten diese dann in einer literaturgeschichtlichen Arbeit zu kontextualisieren.9 Nach mehr als zehn Jahren erschienen 2012 die beiden Bände der Tiroler Literaturgeschichte, in denen etwa 7000 Werke von über 2000 Autoren behandelt werden.10 Parallel zur Literaturgeschichte wurden auch besonders herausragende Texte ediert (nicht selten in der eigens geschaffenen Reihe Tirolensia Latina11) oder in genaueren Studien untersucht. 12 Aus Aus den zahlreichen Publikationen Ludwig Fladerers sei exemplarisch genannt: Die lateinische Autobiographie des Michael Denis (1729–1800) und autobiographische Trends im 18. Jahrhundert, in: Autobiographie, hg. von Uwe Baumann, Göttingen 2013, 175–188. 9 Florian Schaffenrath und Stefan Tilg, Lateinische Literatur in Tirol. Ein Forschungsprojekt der Innsbrucker Latinistik, Der Schlern 78.6 (2004), 56–65. 10 Tyrolis Latina. Geschichte der lateinischen Literatur in Tirol, hg. von Martin Korenjak u. a., 2 Bde., Wien 2012. 11 Die Bände 1–8 der Reihe Tirolensia Latina erschienen im Universitätsverlag Wagner (Innsbruck) als Unterreihe der Commentationes Aenipontanae. 2015 wechselte die Reihe mit den Bänden 9–10 zum Rombach-Verlag (Freiburg), wo sie als Unterreihe der Paradeigmata erschien. 12 Wiederum nur exemplarisch seien genannt Stefan Tilg, Die Hl. Katharina von Alexandria auf der Jesuitenbühne. Drei Innsbrucker Dramen aus den Jahren 1576, 1577 8
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diesem Forschungsprojekt entwickelte sich die Idee, sich in Innsbruck um ein eigenes Ludwig Boltzmann Institut, das der Erforschung der neulateinischen Literatur insgesamt gewidmet sein sollte, zu bemühen, die letztlich auch Erfolg haben sollte (siehe unten).
Matura Ein wesentlicher Grund, warum in Österreich neulateinische Texte nicht nur ein akademisches Randphänomen blieben, das von einigen wenigen Forschern an den Universitäten gewissermaßen als Steckenpferd geritten wird, war die Einführung einer zentralisierten und standardisierten Aufgabenstellung für die Abschlussprüfung am Ende des Gymnasiums, also für die Matura. Seit 2009 waren Klassische Philologen von Schule und Universität damit beschäftigt, die Zentralmatura für die Fächer Latein und Griechisch vorzubereiten.13 Im Schuljahr 2014/15 wurden erstmals alle österreichischen Maturanten mit denselben Aufgaben konfrontiert. 14 Die Arbeitsgruppe nahm den erst vor wenigen Jahren neu eingeführten Lehrplan für Latein ernst, der mittel- und neulateinische Texte in allen Modulen verpflichtend vorschreibt, und speiste nachantike Texte in so hoher Zahl in den Pool an möglichen Aufgabenstellungen ein, dass kein Lehrer, der seriös und solide auf die Schlussprüfung vorbereiten möchte, mittel- und neulateinische Texte stiefmütterlich behandeln konnte. Dieses Insistieren, die Latinität in ihrer ganzen Breite wahrzunehmen, hatte weite Auswirkungen: Zahlreiche Schulbücher wurden adaptiert oder neu geschrieben und boten nun unter einem gemeinsamen
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und 1606, Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit, 101); Florian Schaffenrath, Die Briefe des Priors Benedikt Stephani aus Stams (1640–1671), Innsbruck 2006 (Tiroler Geschichtsquellen, 51). Vgl. Hermann Niedermayr, Standardisierung und Kompetenzorientierung im österreichischen Lateinunterricht. Erste Erfahrungen und mögliche didaktische Folgerungen, Latein Forum 72 (2010), 56–74; Hermann Niedermayr und Anna Pinter, Herausforderungen der neuen schriftlichen Reifeprüfung. Tipps für eine zielführende Vorbereitung, Latein Forum 76 (2012), 1–14. Vgl. Hermann Niedermayr, Generalprobe rundum gelungen! Hintergründe zur schriftlichen Reifeprüfung Latein im Haupttermin 2014, Latein Forum 83/84 (2014), 1–13.
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thematischen Dach sowohl antiken als auch mittelalterlichen und neuzeitlichen Texten Platz. Einen guten Überblick über die österreichischen (und deutschen) Unterrichtswerke bieten die Rezensionen, die regelmäßig in der Zeitschrift Didaktische Informationen (bis 2017 Universitätsverlag Wagner, Innsbruck) veröffentlicht werden.
Anpassungen an Universität und Schule Auch die Universitäten mussten im Bereich der Curricula im Lehramtsstudium dieser neuen Entwicklung Rechnung tragen. Mehr als früher wurden nun neulateinische Elemente in den Studienplan, den angehende Lateinlehrer zu absolvieren haben, eingebaut. Passend dazu wurden in Wien und Innsbruck eigene Lehrstühle mit neulateinischem Schwerpunkt geschaffen, die im Moment von Andreas Heil (Wien) und Wolfgang Kofler (Innsbruck) besetzt werden. Um auch die bereits im Schuldienst befindlichen Kollegen besser auf das Thema einzustimmen, wurden in den regional relevanten Zeitschriften zahlreiche neulateinische Themen aufbereitet 15 und in der Fortbildung ein klarer Fokus auf Neulatein gerichtet. Während die Lehrerfortbildung in der Hauptsache Aufgabe der einzelnen österreichischen Bundesländer ist und dort von sogenannten Arbeitsgemeinschaften (ARGE) organisiert wird, findet auch alljährlich ein bundesländerübergreifendes, meist mehrtätiges Bundesseminar statt.16 Das Heft 55/56 (2005) der in Tirol erscheinenden Zeitschrift Latein Forum (vgl. www.latein-forum.tsn.at) etwa trägt den Titel Reisen in den Fernen Osten. Spätmittelalterliche Fernreiseberichte in lateinischer Sprache. Eine Auswahl, Übersetzungen und Texte. Hermann Niedermayr und Florian Schaffenrath versammeln auf 200 Seiten für die Schule aufbereitete Texte, die die mittelalterliche und frühneuzeitliche Begegnung Europas mit den Ländern des Ostens thematisieren. Weitere Beispiele: Martin Korenjak, Vom Unort zum Paradies. Die Transformation der Alpen in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit, IANUS 38 (2017), 24– 37; Isabella Walser, Europa und europäische Identität(en) in der neulateinischen Literatur. Neue Wege und Perspektiven in Unterricht und Forschung, IANUS 38 (2017), 56–72. 16 Einen guten Überblick über das Wesen und die Geschichte dieser Bundesseminare 15
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Ludwig Boltzmann Institut Die österreichische Ludwig Boltzmann Gesellschaft bietet die Möglichkeit, zeitlich befristet Forschungsinstitute einzurichten, um zukunftsweisende Themen, die in der akademischen Welt noch nicht institutionalisiert sind, aufzubauen und bestenfalls in die bestehende akademische Landschaft einzupflanzen. 2011 wurde in Innsbruck das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien (LBI) gegründet, das Außenstellen in Oxford, Freiburg, Wien und Rom unterhält.17 Ziel des Teams rund um Gründungsdirektor Stefan Tilg war es zu zeigen, dass Latein in der Frühen Neuzeit kein reaktionäres, rückwärtsgewandtes Phänomen war, sondern dass die neulateinische Literatur einen wesentlichen Beitrag zum aktuellen Literaturdiskurs darstellte, dessen Bedeutung letztlich dem Nationalismus des 19. Jahrhunderts und seinem Einfluss auf die Universitätsorganisation zum Opfer fiel: Während Fächer wie Germanistik oder Romanistik Texte behandelten, die in den jeweiligen Vernakularsprachen verfasst waren, blieb die neulateinische Literatur auf der Strecke, da sich die Latinistik des 19. Jahrhunderts vor allem als Teil der Altertumswissenschaften sah und ihr Augenmerk auf antike Texte richtete. Das LBI erforschte in einer ersten Phase den neulateinischen Roman als populäres Medium seiner Zeit, das neulateinische Drama als Ort der Vermittlung neuester Ideen und den Beitrag des Neulatein zum frühneuzeitlichen Landschaftsdiskurs. Es ging also dezidiert nicht darum, neulateinische Texte als Zeugnisse der Antikerezeption wahrzunehmen, sondern sie als Beiträge zu jeweils aktuellen Diskussionen zu würdigen. 2018 ging das LBI in eine zweite Phase und widmet sich nunmehr der Rolle von Neulatein für die Naturwissenschaft, die Erziehung und die Geistesgeschichte. Wenn
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bietet Andrea Lošek, 10 Jahre Bundesseminar in Prein an der Rax: 2009–2018, Circulare (4/2018), 6–7. Florian Schaffenrath und Stefan Tilg, Neulateinische Literatur und das moderne Europa. Kurzvorstellung des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien, Neulateinisches Jahrbuch 13 (2011), 351–362; dies., Frischer Wind aus der Frühen Neuzeit. Das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien, Latein Forum 76 (2012), 26–33; Stefan Tilg, Neulatein und das moderne Europa. Ein kurzer Einblick in das Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien, Cursor 11 (2015), 38–39.
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das Institut Ende 2024 auslaufen wird, ist für eine Fortführung der Aktivitäten an der Universität Innsbruck gesorgt.
Neueste Forschungsprojekte Wie schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts werden auch aktuell österreichweit zahlreiche Drittmittelprojekte zu neulateinischen Themen durchgeführt. An der Universität Wien hat Hartmut Wulfram ein Projekt zum Thema Die Versepitaphien in Paolo Giovios Elogia virorum literis illustrium eingeworben. Untersucht werden hier die über 350 Kurzgedichte, die Paolo Giovio (1483–1552) und im Anschluss an ihn Johannes Latomus (1523–1578) in einer äußerst komplexen und geistreichen Art auf antike Literaten verfasst und veröffentlicht haben. – In Innsbruck untersucht Wolfgang Kofler mit seinem Team „Rolle und Funktion der lateinischen hagiographischen Epik“ und geht der Frage nach, welche Rolle neulateinische Epen bei der Vorbereitung und während eines Kanonisierungsprozesses eines neuen Heiligen in der Frühen Neuzeit gespielt haben. Epen wurden außerdem eingesetzt, um einen erst vor kurzer Zeit zur Ehre der Altäre Erhobenen über die Grenzen seines ursprünglichen Wirkungskreises hinaus bekannt zu machen. – In Salzburg beschäftigt sich Gottfried Kreuz intensiv mit dem Dichter und Historiographen Gaspar Brusch (1518–1559) und seinen Landschaftsbeschreibungen.18 Diese andauernde Forschungsaktivität schlägt sich auch in zahlreichen Lehrveranstaltungen zu neulateinischen Themen nieder, in Projekttagen, die für Schüler durch Forscher organisiert und veranstaltet werden, in Lehrerfortbildungen usw. Die schiere Fülle an lateinischen Texten, die noch auf ihre Entdeckung und Erforschung warten, lässt es unwahrscheinlich erscheinen, dass die Begeisterung für neulateinische Texte in nächster Zeit nachlassen wird. Ein Desiderat ist augenblicklich die Erstellung eines Kanons oder eine Verständigung darüber, welche Texte so wichtig sind, dass sie im Unterricht behandelt werden sollten, beziehungsweise welche nur von ephemerer Bedeutung sind. 18
Vgl. Gottfried Kreuz, Gaspar Brusch. Iter Anasianum. Ein Spazierritt durch Oberösterreich 1552, Wien 2008.
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Latin for Polish teenagers: The case of Małgorzata Musierowicz Elżbieta Wesołowska Graeco-Roman civilization did not die with the fall of the empire. It taught us. It helped to civilize us. Its lessons differed at different times.1
Małgorzata Musierowicz is the author of more than 20 very popular books for young people, particularly for young girls (12–16 years). She began her career in the mid-1970s, writing the book Małomówny i rodzina (Taciturn and the Family), a special tribute to Kornel Makuszyński, a popular Polish writer at that time.2 This novel (on the express request of readers) became the beginning of a long series devoted to the Poznań district of Jeżyce, referred to as Jeżycjada presumably imitating Homer in his epic poem Iliad. For years, the author, who is adored by teenagers, has been extolling family values, intellectual and spiritual culture, as well as civic virtues. She usually did it discreetly and wisely, but more recently has often been criticised by the feminist movement for her alleged conservatism and blindness to new trends.3 1 G. Highet, The Classical Tradition: Greek and Roman Influences on Western Literature, 2
3
Oxford 1976, 546. Małgorzata Musierowicz, Małomówny i rodzina, Kraków 1975. This is my own opinion, although I have not found a clear declaration of the author in this matter. After 15 years, the author wrote the novel again, commenting on this fact as follows: “Not everyone in their adulthood gets the opportunity to correct the mistakes of their youth. I was presented which such an opportunity. I had to take advantage of it”, which shows her sense of humour and self-distance. I think that this criticism is not correct. Although I’m not well-versed in the principles of critical feminist trends present in literary studies, I think, however,
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Fortunately, however, nobody accuses the author of traditionalism in her approach to Latin, which is abundant in these novels. It began with the volume of the second series, i.e. Szósta klepka (Sixth Stave), when Ignacy Borejko, the father of four robust girls, appeared on the scene; a classical philologist by education, a librarian by avocation and a soft-hearted man who, unfortunately, does not always have his feet fixed firmly on the ground. It is a particular topos in literature, not exclusive to Polish; it suffices to mention the Latin teacher: a freak, but also a mad tyrant in the initiation novel Ferdydurke by Witold Gombrowicz.4 Before I get to the essence of the topic, which is Latin in this youth series, it would be helpful to describe the plot of these books and their special character. The story is strongly connected with the Borejko family. The father is a classical philologist and librarian. The mother has not been working for years, earning extra income to his father’s small salary by making sweaters at home. Their four daughters: Gabriela, Ida, Natalia and Patrycja are extravagant and extraordinary personalities. The family has a large flat, and although the Borejkos do not belong to the wealthy, everyone feels good in their apartment, because, as the author writes, “it was just cosy with these people ̶ unwealthy, unresourceful and deprived of clout”.5
that Musierowicz could now be criticized for banalization of plots, lack of new story solutions and little individualisation of characters. Her ethical rhetoric has remained unchanged for years. Perhaps, what has an irritating effect nowadays is the constant presence of Latin; this language after all ideologically belongs to the Middle Ages, the dominant clergy and strong social divisions. This is probably what some researchers have observed. Perhaps the discreet but nevertheless existing presence of faith in God adds to this novelʼs reactionary nature. 4 As far as I know, the author himself remained silent about the meaning of this very strange title. However, there is a certain hypothesis that this is a slightly distorted, perhaps polonised sound of the phrase: Thirty door key, which would confirm the initiation nature of the novel. 5 Małgorzata Musierowicz, Kwiat kalafiora, Warszawa 1981, 14. For Małgorzata Musierowicz’s novels mentioned below cf. Szósta klepka, Kraków 1977; Opium w rosole, Kraków 1992; Ida sierpniowa, Kraków 1992; Dziecko piątku, Kraków 1993; Pulpecja, Kraków 1993.
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However, this description would not be complete without the father, a relentless enemy of consumerism, an attitude he reveals in a rather comical exchange of views with his son-in-law after the purchase of a dishwasher. 6 On the occasion of a seminar on Latin language in 21 st century Europe, which promises to be very interesting, I would like to address a few considerations on the status of Latin in these stories, the plot of which takes place during the communist period in Poland: In Musierowiczʼs book, there are a few generally known (NEC HERCULES CONTRA PLURES or NIMIUM CIVILES VILES or quite short as IN TOTO or PRIMA FACIE) and less known Latin sentences (e.g. SAPIENTI EST MUTARE CONSILIUM) or many citations from Seneca himself: QUOD ERIT POST ME, ANTE ME FUIT (epist. 54). It is also worth mentioning here that Latin embellishments are not repeated within the volumes. Latin appears as an important element of the world presented by the author when the first volume devoted to the Borejko family was created, i.e. the novel Opium w rosole (Opium in Broth) from 1992. I will mention the special role of the father and senior of the family below. Beginning with the 1993 volume, i.e. Dziecko piątku (The Daughter of Friday), the translation of Latin phrases began to appear in footnotes at the bottom of the page, so we have a situation where Latin is always accompanied by Polish translation. This in itself shows that the author is aware that the widespread presence of Latin in school education is a thing of the past, and that a bridge towards its understanding must be crossed by means of Polish translation. In no volume of this saga do we find a picture of a lesson in Latin or ancient culture, which is such a satisfying subject in other novels, e.g. in the aforementioned Gombrowicz or Niziurski.7 However, the author does not avoid 6 This is how the son-in-law sees him at the moment of the encounter: “this wonderful
old man, this fighter and ardent conservative”; cf. Małgorzata Musierowicz, Imieniny, Łódź 1998, 105. 7 Mr. Misiak, a history teacher in an excellent novel (this time perhaps more for boys) by Edmund Niziurski, Sposób na Alcybiadesa (How to outfox Alcibiades), Warszawa 1964. This is a more valuable example of the interweaving of the past in modern times since the book (the best in Niziurskiʼs œuvre) is in the canon of school reading for the fifth grade and still enjoys great popularity among readers.
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presenting other lessons, e.g. manual work in the volume Tygrys i róża (Tiger and Rose), Polish language in The Daughter of Friday, or physics in Brulion Bebe B. (The Copybook of Bebe B.). Nevertheless, Latin is present in Musierowiczʼs house on special rights, perhaps because the young heroines repeatedly make us understand that it was the Senior of the family himself who taught them all the ancient, enchanted wisdom in concise and brilliant phrases. The fact that Latin was taught in schools at that time is very important. The author alludes to this knowledge, by not translating the Latin aphorisms in her earlier novels. Daddy Borejko is a lovely freak; he does not always know in what times he is living. The energetic and practical wife and mother of four daughters, who has her feet firmly fixed on the ground, is simply indispensable here. And yet this peculiar man knew how to express his objection to the reality imposed, so he was active in the opposition in time of Solidarność in 1980–1982. Thus, he was absent in the novel Opium in Broth, which is set during the Martial Law in Poland, and his long absence during this difficult period was very carefully cultivated by his longing daughters. So, this ʻPolishʼ Latin also has its origins in the novel itself, which the daughters themselves repeatedly recall when they speak of how their dad taught them Latin sentences. And he did so with such great effect that the oldest, Gabrysia, became a research fellow at the university after having completed her studies of her studies in classical philology. In the world of the novels presented here, the debates revolve around many issues that are important to young people; here Latin serves as a guide and a permit to a safe, domesticated world with familiar and trusted people who are wise, good, helpful and are fond of the same books and music as well. It is, therefore, a culture as extremely important as the reading of good books. When one of the “outside” girls in the novel has no idea who Matylda de la Molle was, we immediately know that she does not belong to the group; she uses a different code and does not understand the language that unites the Borejko family − perhaps a bit snobbish, but a valuable clan of believers in similar imponderables. This tendency has appeared already in Musierowiczʼs ʻdebutʼ novel Taciturn and the Family, when a keen reader and collector of quotes, Munio, becomes the discoverer of an important historical puzzle thanks to his unprecedented
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literary erudition and reading. In subsequent novels, Latin is no longer the key to finding material treasures. It is rather a kind of permit that entitles one to enter the world of noble and educated people. At first, this happens in the times of Polish communism, and later in the times of democracy, when Latin has become largely absent from Polish schools. At that time, it was a ticket to a world full of clear rules; today, it is a ticket to a circle of people who cultivate traditions in the form of their commitment to values. In each of these epochs they are, after all, exposed to annihilation, either by the System or by the so-called Majority. Thus, we have a special locus amoenus, where you can feel good yourself and in the company of your compatriots. As I have already mentioned, senior Borejko has his archetypes in other Polish writers for young people, such as Niziurski’s Alcybiades in his novel Sposób na Alcybiadesa or the figures of the teacher in Makuszyński and Gombrowicz. And yet heʼs different from them. He is not only the freak detached from the world, but a man of standing rules, very emotional, though somewhat caustic. The author, Małgorzata Musierowicz, graduated from the Academy of Fine Arts and never had anything to do with classical philology. Well, unless in her school days... It is possible since she graduated from the respectable High School No. VII in Poznań, where one could certainly come across the study of this strange language... One may say, therefore, that Małgorzata Musierowicz builds a utopian refuge around the family of her characters. We can see people who do not care so much about prosperity, or about the so-called career, and who love literature. Their common cultural code is honesty and the principles they seek to uphold. Although they may seem old-fashioned and tailored to the standards of the times long past, it is a specific aristocratic spirit. It is, therefore, an elite, in a sea of mediocrity and little scams. Here, Latin with Seneca at the forefront (and also with Marcus Aurelius) offers relief − both when the ruined volume of Senecaʼs Thoughts is like a talisman guarding the little Laura against all evil in Tiger and Rose, and when the name Fidelis becomes a scapular for the bright future of Laura and her beloved man, when they enter into adulthood with impetus.
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It is hard to determine how much the author − an indefatigable ambassador of ancient culture among young people − contributes to the spread of the knowledge of the Latin language and antiquity as a surrogate of true culture and ʻdecencyʼ. Unfortunately, Małgorzata Musierowicz did not accept the invitation to meet students of classical philology to talk about antiquity and, in particular, about the use of Latin in her novels. After all, nobody wanted to examine her, let alone criticise her. Her faithful readers are all impressed by the excellent work she is doing to promote Latin among the young, even if it seems to be based on snobbishness and a sense of belonging to the elite. In a slightly utopian world, Musierowiczʼs Latin performs two functions, partly in contrast to each other: it helps to maintain individuality, while retaining a sense of belonging to an elite group, i.e. a chosen one, which, however, does not rule out opening up to others, even those outside their world. Does the latter aspect not irritate the most outspoken critics of Musierowiczʼs work, who (going by the precept of ʻburnt bridgesʼ) admit to being her erstwhile admirers or fans? It is not just Latin, after all. It is necessary here, to mention Seneca in Tiger and Rose and Marcus Aurelius in Język Trolli (Trolla’s Language). Both stoic philosophers ʻinterfereʼ in the life of young Ida and Laura, trying to ease their painful rebellion and sense of alienation. Seneca is present in the form of aphorisms in the ruined volume, while Marcus Aurelius, on the other hand, is concerned about the difficult life of young Laura. Seneca speaks to us in Polish from the pages of a book secretly taken from his motherʼs table; after all, it would be too much a burden to bear even for the granddaughter of a classical philologist. Marek Aureliusz speaks through his grandfather and gives the girl, who is at odds with the world, a substitute for peace and an attitude of consensus with reality. If we carefully examine the appearance of Latin in Musierowiczʼs saga in terms of ʻontologyʼ, we can see that it is present only in half of the volumes, always and only when the senior of the family or one of his daughters or descedents speaks to us, as I have already mentioned. Nevertheless, its presence is important and plays quasi the role of an additional participant in the special voluntary isolation (or distinguishing?) of the Borejko family and their friends. Paradoxically, this happens in the persistent attempts to make a connection with the rest of the world, especially with anybody unhappy
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and seeking the kind of support, in which Latin is a characteristic of those who act honestly. It is necessary here to recall the confession of the mother of the family, who says that she wanted to raise all her daughters as wise and noble people. Thatʼs why she never worked outside the home, thatʼs why with her wise presence and practical way of life, she sometimes supports a slightly crazy husband and brings the detached little Borejko world crashing back to earth. We should add here, that the presence of this ‘deadʼ language particularly gives colour to all the stories more or less related to the Borejko family, as if giving the characters a tool to interpret the world; it provides a common cultural code and the possibility of self-interpretation of the system of values that Musierowicz upholds. And once more let’s repeat the words of Highet: “And many – in art and philosophy and literature – we have received from Greco-Roman civilization, as a priceless legacy. The real duty of man is not to extend his power or multiply his wealth beyond his needs, but to enrich and enjoy his only imperishable possession: his soul.”8 Can we draw further conclusions about the role of Latin in shaping the four daughters of the Borejko family? Only one of them became a researcher after studying Philology. The other three and the older granddaughters Róża and Laura learn at home in their free time, together with their grandfather, maybe quite unconscious of so many advantages of this ʻdeadʼ language. This particular fascination of Musierowicz’s for Latin and beautiful sentimental words, which become a kind of signpost during communist Poland, gives us books encouraging us to learn the language of the ancient Romans. The author does not always provide the reader with original texts. In Tiger and Rose Laura does not part with the book of Senecaʼs sentences, some of which she reads aloud to the gentleman on the train. For example: “Oh, how good it would be for some people if they could run away from themselves! (...) If you want to escape from what is bothering you, you must be different, not elsewhere”.9 And: “Our calmness depends to a great extent on not doing anything wrong”.10 Both passages excellently comment Highet (n. 1), 549. Małgorzata Musierowicz, Tygrys i Róża, Łódź 1999, 60. 10 Musierowicz (n. 9), 61–62. 8 9
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on the escape from home of a rebellious teenager in search of an unseen father. It can be said that the entire world of the Borejkos and their friends is based on special foundations of understanding cultural heritage. And so the second volume of the saga, Sixth Stave, begins with the significant play of a toddler boy on the balcony in burning Rome during the times of Nero. The Borejko world is a peculiar Arcadia, first of the gloomy times of communism, then in universal consumerism in times of democracy. However, this does not mean that the characters are alienated. They always see the needy, rush to help them without lofty declarations, but listen carefully (ARRECTIS AURIBUS) and respect other peopleʼs freedom, after all SUAE QUISQUE FORTUNAE FABER. You could probably say that their main life slogan is: NIL MIRARI, NIL INDIGNARI, SED INTELLEGERE. The granddaughters of the elderly, Róża and Laura, are resolute and mature for their age, no doubt thanks to Latin, which decoratively adorns their statements, e.g. not very understandable to a janitor. In Musierowicz we will not find pompous (although completely justified) Latin praises such as:11
Latin not only increases linguistic awareness and helps the understanding and usage of one’s own language. In fact, its vocabulary and grammatical framework have similarities to those of French, German and Spanish. Its grammatical framework promotes precise analysis and logical thinking, as well as enhanced reading and writing skills with greater precision in expression. It promotes greater understanding of specialised fields of study, whether literary or technical, historic or scientific. Latin is still used in the creation of new words in modern languages of many different families, including English and Romance languages. Latin knowledge even provides a kick-start in the learning of other languages that are not related to Latin, such as Russian and Greek which, like Latin, are highly inflected languages.
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An example of the subtle humour of the author, who in this way can touch base with an appropriately enlightened reader. It can be especially seen in the title Ida sierpniowa (Ida of August), Kraków 1992, which should be connected with the famous Ides of March and the rebellion against Julius Caesar.
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Because it requires precision and logic, learning Latin is a challenge and requires a high level of intelligence to master, not to mention perseverance, enthusiasm and focus. These are, of course, the qualities of employable individuals in today’s society.12 In this way, the author would not reach her readers, but she does it gracefully, weaving Latin threads into the plot of heroes’ adventures. To conclude I will not exaggerate if I say that Małgorzata Musierowicz has been an excellent Latin language ambassador in Poland for a good 30 years.
Citing: https:// www. etymax.com/blog/how-useful-is-latin-in-the-modernworld/ (accessed 24 August 2021).
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Die klassischen Sprachen in der Gegenwart: Eine lettische Erfahrung Ilze Rūmniece
Einleitende Überlegungen Es gibt eine Reihe von Faktoren, die uns alle gleichermaßen betreffen, und es kommt dabei nicht immer darauf an, in welchem europäischen Land wir uns befinden und welches Bildungssystem, inklusive dessen Finanzierung, wir haben. Im Folgenden möchte ich einen kurzen Einblick in die lettische Situation aus Sicht der Klassischen Philologie geben. Im 21. Jahrhundert kann man beobachten, wie sich die Einstellung der Öffentlichkeit den Geisteswissenschaften gegenüber auf eine spezielle Art und Weise entwickelt hat. In erster Linie betrifft dies die Philologie – die Sprachund Literaturwissenschaft. Ihr Vorhandensein wird als etwas Selbstverständliches empfunden, so dass leicht der Eindruck entstehen kann, ihre weitere Existenz sei auch ohne Studien und gezielte Entwicklung gewährleistet: Alle Menschen kennen doch Sprachen, und alle lesen verschiedene Texte, darunter auch literarische. Diejenigen aber, die das aus beruflichen Gründen tun und dabei auch für die Studierenden da sind, sowie auch die Studierenden selbst werden quasi als ,Stiefkinderʻ der Bildungsschicht betrachtet. Denn was liest und hört man häufig in den Medien? Eine Befragung über die Aufstiegschancen und die dafür geeignete Ausbildung kommt zu dem Ergebnis, dass Studien der Informationstechnologien und Ingenieurwissenschaften, der Medizin und Gesundheitspflege, der Wirtschaft und Finanzen sowie auch des Marketings und der öffentlichen Beziehungen (Public Relations Studium) einen sicheren Arbeitsplatz gewährleisten. Heutzutage werden wir in den Medien kaum eine Nachricht finden, der zufolge auch Geisteswissenschaftler, die Philologie und Sprachen studieren, mit guten Arbeitschancen rechnen können. Dabei ist das Angebot in den
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Geisteswissenschaften viel breiter angelegt als in den Natur- und technischen Wissenschaften. Dies ist eine Tatsache. Hier könnte mir vielleicht jemand widersprechen, ich glaube aber, dass der so häufig verwendete Ausdruck ,Arbeitsmarktʻ in diesem Kontext vom Ziel der Ausbildung ablenkt. Vor kurzem habe ich eine Aussage eines Kollegen aus der Lettischen Kunstakademie über das Ziel oder die Mission der Ausbildung gelesen, die ich hier zitieren möchte: „Unsere Mission ist es, die Gesellschaft zu verbessern und den Menschen auszubilden.“ Diese Worte wurden zwar auf das Studium der bildenden Kunst bezogen, sie betreffen aber genauso den ganzen geisteswissenschaftlichen Bereich, darunter auch die Beschäftigung mit Sprachen und literarischen Texten, die einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer stabilen, nachhaltigen denk- und handlungsfähigen Gesellschaft leisten. Ein weiterer Aspekt betrifft die Kommunikation im 21. Jahrhundert: Sie erfordert Mehrsprachigkeit. Heute haben wir fast unbegrenzte Reisemöglichkeiten und Kontakte mit Menschen auf der ganzen Welt. Dies bedeutet, dass wir verschiedene Sprachen lernen können/müssen, was über das Internet auch ohne Lehrbücher möglich ist: Angeboten werden dabei aber Lernmethoden ohne feste Grammatikregeln und ohne Systemzwang – also schnelles (oberflächliches und nur kommunikatives) Sprachenlernen. Es ist zu bezweifeln, ob diese Form des Spracherwerbs eine ausreichende Grundlage für die adäquate und genaue Erfassung von Gedanken bilden kann, um das heute so häufig erwähnte kritische Denken zu entwickeln und Medienkompetenz zu erreichen. Dies ist der eigentliche Kontext der Fragen zum Schicksal der klassischen beziehungsweise alten (heute nicht mehr aktiv gebrauchten) Sprachen im 21. Jahrhundert.
Studien der klassischen Werte in Lettland: Historisches und Gegenwärtiges Um die aktuelle Situation Anfang des 21. Jahrhunderts einzuschätzen, ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die Ereignisse und Entwicklungen des
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20. Jahrhunderts vonnöten. Denn die historischen Ereignisse und deren Auswirkungen haben zu Differenzen geführt, die das Studium der klassischen Sprachen in verschiedenen Ländern geprägt haben. 2019 feierte die Universität Lettlands ihr 100-jähriges Jubiläum. Sie war die erste Hochschule des neugegründeten Staates – der Republik Lettland. Zu den Gründungsprinzipien gehörte unter anderem die Forderung, dass Lettisch die Sprache der Lehrveranstaltungen werden sollte. Unter den ersten Professoren waren viele Russen und Deutsche, die Vorlesungen zunächst in ihren Muttersprachen gehalten haben. Der Weg zur neuen lettischsprachigen Professur war aber schon vorbereitet, da bis zu diesem Zeitpunkt viele Letten an der Universität Dorpat (heute: Tartu) oder an russischen Hochschulen studiert hatten. Sie kehrten allmählich nach Lettland zurück und übernahmen nun die universitäre Lehre in ihrer Heimat. Der sprachliche Aspekt war in Lettland im Laufe des 20. Jahrhunderts auch für klassische Philologen ausschlaggebend: Man braucht hier nur die vielen und verschiedenartigen Übersetzungen ins Lettische zu erwähnen, durch die der lettische Leser die Werke antiker Autoren in seiner Muttersprache (erst) kennenlernen konnte. Es ist hier kaum nötig hervorzuheben, dass die wichtigsten Übersetzungen und Veröffentlichungen antiker Texte in den sogenannten großen europäischen Sprachen schon seit Jahrhunderten erschienen waren, so dass sich die Klassische Philologie Lettlands im 20. Jahrhundert den Übersetzungen einzelner antiker Autoren widmen konnte. Die lettischen Übersetzer, Kenner der klassischen Sprachen, hatten in dieser Zeit aber auch die Aufgabe, für ihre und an ihrer Muttersprache zu arbeiten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Erkenntnis, dass zur Entstehung einer nationalen Kultur wie auch für einen nationalen kulturellen Aufschwung ebenso Übersetzungen aus dem Deutschen, Französischen, Russischen, Lateinischen und Altgriechischen einen bedeutenden Beitrag leisten können. Die Klassische Philologie als Fachgebiet an der Universität Lettlands besteht seit deren Gründung 1919. Sie galt von Anfang an als Grundlagenfach für sprachwissenschaftliche und kulturhistorische Studien. Eine Unterstützung fand die Hochschule in Riga in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Schulen, vor allem in den Gymnasien, wo Latein und Altgriechisch nach dem Vorbild der besten Gymnasien der damaligen Welt zu den Pflichtfächern
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gehörten. Im Laufe von zwanzig Jahren – bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – hatten schon mehrere Dutzende junger Menschen ihre Studien an der Universität im Fach Klassische Philologie absolviert. Der Krieg zerstörte sowohl die Studienmöglichkeiten als auch das Leben der jungen Menschen: 1944 hatte die Universität Lettlands nur einen einzigen Absolventen der Klassischen Philologie. Es folgten fast 50 Jahre im Sowjetstaat. Die Klassische Philologie als Fachrichtung wurde in den Sowjetrepubliken abgeschafft, die Möglichkeiten dieser elitären und komplexen Studien antiker Kultur und alter Sprachen blieben nur den großen Zentren vorbehalten – Moskau, Leningrad (heute St. Petersburg) und auch Tiflis (Tbilissi). An den Schulen wurde Latein nicht mehr unterrichtet. In einigen Studiengängen konnte die lateinische Sprache aber ihre Rolle zum Teil beibehalten: So war sie beispielsweise ein Pflichtfach nicht nur in den philologischen Studien, sondern auch für angehende Historiker, Juristen und natürlich – Mediziner. All dies führt uns vor Augen, dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Möglichkeiten Lettlands im Gegensatz zu den westeuropäischen Hochschulen im Bereich der klassischen Sprachen stark beeinträchtigt waren. In den 90er Jahren standen in den baltischen Ländern die Wiedererlangung der Unabhängigkeit und die damit verbundenen Reformen im Vordergrund. An den Hochschulen und Schulen verstärkte sich der Wunsch nach Studien mit vertieftem Einblick in das europäische Kulturerbe in Verbindung mit dem Erlernen der klassischen Sprachen, was Jahrzehnte lang unterdrückt worden war. Dies führte zu einer programmatischen Erneuerung der Klassischen Philologie an der Universität Lettlands und zur Herausgabe einer universitären Schriftenreihe, in der wissenschaftliche Aufsätze und Jahresberichte veröffentlicht werden. Der Titel der Reihe, Antiquitas Viva,1 spie-
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Inzwischen sind fünf Bände erschienen, zuletzt: Antiquitas Viva. Studia Classica 5, hg. von Ilona Gorņeva und Ilze Rūmniece, Rīga 2019; DOI: http://doi.org/10.22364/av5 (letzter Abruf am 28.3.2021). Die Sammlung erscheint in lettischer und englischer Sprache; veröffentlicht werden wissenschaftliche Aufsätze von Forschern verschiedener Länder. In den Annales erscheinen Konferenzberichte sowie Informationen über Veranstaltungen in Lettland aus
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gelt dabei die Gesinnung der Herausgeber wider, die Erforschung des klassischen Altertums und auch dessen Rezeption in der Gegenwart zu fokussieren. Man konnte in dieser Periode gleichzeitig einen gewissen Anstieg des Wertes humanistischer Bildung im Allgemeinen beobachten. Auch die Studierendenzahl der klassischen Sprachen und Literaturen war etwa zwei Jahrzehnte lang stabil. Wir alle sind aber auch Zeugen dessen, wie schnell sich ein Wandel bezüglich der Sprachen und Kulturen vollziehen kann. Einflussreiche Faktoren sind dabei die durch moderne Technologien geschaffenen Möglichkeiten, schnell und einfach fast jede Information im Internet zu erhalten, daneben alle Arten von online-Training, ohne dass die Studierenden zu einer festen Zeit am Unterricht teilnehmen müssen, sowie auch die Werbungen für Karriere- und Studienmöglichkeiten in anderen Ländern. Fazit: Die Zahl der Studierenden der klassischen Sprachen sinkt rapide. Die Gründe, die die Studierenden in Befragungen anführen, wenn sie das Studium unterbrechen, sind: „Keine Motivation, keine Möglichkeit, gleich zu arbeiten, und – keine Zeit für eigenständige Lektüre“. Ein weiterer Aspekt, den ich beobachtet habe, ist, dass negativ eingestellte und pragmatisch orientierte Familienmitglieder nicht selten ein Studium der Klassischen Philologie diskreditieren, zum Beispiel mit Fragen wie: „Warum willst du tote Sprachen studieren? Was hast du davon?“ Diese ablehnende Haltung können aber auch Freunde einnehmen, die sich für sogenannte ‚zukunftsträchtige‘ Fächer entschieden haben, beispielsweise Computer- und Rechtswissenschaften. Diejenigen aber, die Bachelor- und Masterstudiengänge in der Klassischen Philologie abgeschlossen haben, schätzen den Wert des Studiums der alten Sprachen und nennen das Systemverständnis, die erworbenen Denk- und Analysefähigkeiten sowie die Arbeitsdisziplin und Selbstorganisation als wichtige Ergebnisse für ihre persönliche Entwicklung. Studierende aus anderen Fakultäten zeigen immer wieder Interesse an Kursen der lateinischen
den letzten zwei bis drei Jahren und über die Teilnahme von Schülern, Studierenden und Hochschuldozenten. .
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und griechischen Sprache oder der antiken Literatur, doch sind dies Einzelfälle, die nicht die Bereitstellung einer Gruppe von Studierenden gewährleisten können. In Lettland werden die Studien nach dem Motto „Geld folgt dem Studierenden“ finanziert, und das Ergebnis ist für die kleinen Studienprogramme oder -gruppen äußerst ungünstig: In finanzieller Hinsicht werden sie als ,Verlustgeschäftʻ betrachtet, und auf der Verwaltungsebene findet sich für solche Programme oder Kurse wenig Unterstützung. An dieser Stelle können rhetorische Fragen gestellt werden, wie beispielsweise „Braucht eine Gesellschaft und ihre Kultur viele Spezialisten der klassischen Sprachen oder genügt es, wenn nur einzelne ausgebildet werden?“ Oder: „Sind Spezialisten der klassischen Sprachen im 21. Jahrhundert noch gefragt?“ Es ist nicht ausgeschlossen, dass der überwiegende Teil der Gesellschaft auf die letzte Frage eine verneinende Antwort gibt oder mindestens Skepsis zeigt. Als Fachvertreter haben wir in dieser Situation überzeugende Argumente zu liefern, warum und wie man darauf bejahend antworten kann, denn wir brauchen Spezialisten für diese Sprachen. Abschließend möchte ich einige Argumente zu Gunsten des Wertes der antiken Kultur und der klassischen Sprachen in der Gesellschaft und dem Bildungssystem des 21. Jahrhunderts anführen: 1. Je älter und nachhaltiger eine Sprache in ihrem aktiven und kreativen Dasein gewesen ist, um so mehr gehören zu ihrem Erlernen auch historische und kulturelle Schichten, ohne dass dabei die Tatsachen der gegenwärtigen Zeit und Sprachen außer Acht gelassen werden. So entsteht eine Summe umfangreicher und tiefer Kenntnisse, die bei den meisten gegenwärtigen – im Vergleich dazu ,schmaler und flacher angelegtenʻ – ephemeren Studienprogrammen kaum zu gewinnen sind. 2. Man sollte über die Aktualisierung der inhaltlichen Werte antiker Texte nachdenken. Im Folgenden ein paar Worte darüber, wie ich dies verstehe: Im gegenwärtigen Informationsraum sehen wir eine starke Präsenz von Mustern asiatischer Kulturtradition; so sind wir beispielsweise von Begriffen wie Karma, Chakra, Yoga, Nirvana umgeben. Unsere europäische tausendjährige kulturhistorische und linguistische Erfahrung wäre hier eine wunderbare Alternative, sie scheint aber in Vergessenheit geraten zu sein – vielleicht, weil
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sie so lange als selbstverständlich galt. Kennt die jüngere Generation sie? Meine Erfahrung an der Universität führt zu einer verneinenden Antwort. 3. Außerdem können und sollten wir jede Gelegenheit nutzen, um zu zeigen, welche Vorteile das Lesen der Originaltexte im Vergleich zur Übersetzung mit sich bringt. 4. Heute sprechen wir viel über das ‚grünereʻ Leben. Das ökologische Denken besitzt große Aktualität. Vielleicht aber lässt sich diese Denkrichtung im Bereich der Sprachen und Kulturen mit der antiken Welt, ihren Sprachen und deren ,Anwendungʻ verbinden? 5. Und ein weiterer Gedanke: Meines Erachtens ist es wichtig, dem Begriff ,Traditionʻ im 21. Jahrhundert den ihm gebührenden Platz im menschlichen Wertesystem zurückzugeben. Gerade diejenigen, die die Werte der Tradition nicht kennen (und sie deswegen geringschätzen), sind auch diejenigen, die stets bereit sind zu ändern, umzugestalten, aufzugeben, zu vernichten. Die alten Sprachen und Kulturen studieren – das hat auch Auswirkungen auf unser Leben. Es bietet uns die Möglichkeit, viele der gegenwärtigen Werte der Menschheit besser zu verstehen und sie kreativ für die Zukunft zu nutzen.
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Alte Sprachen an der Tartuer Universität: vom Anfang bis heute. Janika Päll
Latein und Griechisch in den Curricula bis 1940 Wie überall in Europa ist Latein auch in Estland bis Anfang des 18. Jahrhunderts die wichtigste Bildungssprache gewesen und hat danach seinen Rückzug angetreten, während das Griechische erst nach der Reformation seinen Platz in den curricula gefunden hat. Die Blütezeit der lateinsprachigen Literatur und des Griechischstudiums in Estland war nicht zufällig die Zeit des 30-jährigen Krieges, als ein Gymnasium in Reval (Tallinn) im Jahr 1631 und die Academia Gustaviana in Dorpat (Tartu) 1632 vom damaligen schwedischen Herrscher des Landes Gustav II. Adolf gegründet wurden.1 Diese Akademien stellten dann für mehrere deutsche Gelehrte einen ruhigen Hafen dar. Die Universitätsdisziplin Klassische Philologie (zuerst altclassische Philologie) gibt es in Estland seit dem 19. Jahrhundert: im Jahre 1802 hat die zaristische Verwaltung in Tartu eine Universität für deutschbaltische Jugendliche
1
Heute gibt es das Gustav-Adolf-Gymnasium in Tallinn immer noch, aber seit den 1940er Jahren wird dort kein Unterricht in den klassischen Sprachen mehr angeboten. Für Neulatein an der Universität Dorpat vgl. Kristi Viiding, Die Dichtung neulateinischer Propemptika an der Academia Gustaviana (Dorpatensis) in den Jahren 1632–1656, Tartu 2002; für das Humanistengriechisch vgl. Janika Päll, The Genres of Humanist Greek Texts in 16–17th century Estonia and Livonia, in: Hellenostephanos. Humanist Greek in Early Modern Europe, hg. von Janika Päll und Ivo Volt, Tartu 2018, 57–112 (Acta Societatis Morgensternianae VI–VII). Für eine Übersicht der Geschichte des Lehrstuhls, vgl. auch https://www.maailmakeeled.ut.ee/et/osakonnad/klassikalinefiloloogia/ajalugu (letzter Abruf am 30.1.2021).
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gegründet, auch einheimische freie lettische und estnische Bürger- und Bauernsöhne durften sich einschreiben. Unter der Leitung Karl Morgensterns (1770–1852) wurde die neue Disziplin Klassische Philologie eingeführt: Wie es scheint, war er der erste, der den Titel eines Professors der Klassischen (altclassischen) Philologie trug. 2 Von Anfang an hat Morgenstern das Fach nach Plänen seines Halleschen Lehrers Friedrich August Wolf organisiert: Schwerpunkte für die damalige Klassische Philologie waren die Lektüre von klassischen Autoren und theoretische Disziplinen wie Ästhetik, Archäologie, Kunstgeschichte und Numismatik (die auf der Basis der neuerworbenen Kunstsammlungen der Universität gelehrt und studiert wurden); Morgenstern hat aber auch der Literaturgeschichte viel Aufmerksamkeit geschenkt, so dass er heute als der Erfinder des Gattungsbegriffs ‚Bildungsroman‘ gilt. 3 Der Eintritt in die Universität war ohne Gymnasialstudium der alten Sprachen (besonders Latein) undenkbar; nach Halleschem Vorbild hat man auch in Tartu ein Philologisches Seminar für zukünftige Gymnasiallehrer eröffnet, wo Morgenstern selbst über 42 Semester ein Lateinisches Collegium führte. Seit 1822 gab es einen zweiten Professor der Klassischen Philologie, daneben waren auch Privatdozenten tätig.4
Carl Joachim Classen, Über das Alter der ,klassischen Philologieʻ, Hermes 130.4 (2002), 490–497; Wilhelm Süss, Karl Morgenstern (1770–1852): ein kulturhistorischer Versuch, Tartu 1928–1929 (Acta et commentationes universitatis Tartuensis [Dorpatensis]) B, 16, 2.). 3 Anne Lill, Karl Morgenstern als Student im Seminarium Philologicum Halense, in: Zur 200. Wiederkehr der Gründung des Seminarium Philologicum Halense, hg. von Joachim Ebert und Hans-Dieter Zimmermann, Halle (Saale) 1989, 112–121; dies., Filoloogiaseminar Tartus 1821–1835, Akadeemia 5 (1989), 1051–1078; Tobias Boes, Formative fictions: Nationalism, Cosmopolitanism, and Bildungsroman, Ithaca 2012; Karl Morgenstern. Der Bildungsroman, hg. von Dirk Sangmeister, Eutin 2020; Jaanika Anderson, The Use of the University of Tartu Art Museum Collection in Teaching between 1803 and 1918, History of Education: Journal of the History of Education Society (2019), 1–16. [DOI: 10.1080/0046760X.2019.1615560 (letzter Abruf am 24.3.2021)] 4 Epp Tamm, Hain Tankler, Klassische Philologen an der Universität Tartu (Dorpat, Jurjew) und ihre Kontakte zu St. Petersburg, Hyperboreus. Studia classica 10 (2004), 22–60; Janika Päll, Karl Morgenstern – a torchbearer of the Halle school of classical philology in Tartu, in: Qui vult, potest. Karl Morgenstern 250, hg. von Jaanika Anderson, Janika Päll, Moonika Teemus und Ivo Volt, Tartu 2020, 37−58. 2
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Ein Jahrhundert später, am Anfang des 20. Jahrhunderts, nach einer starken Russifizierungswelle gegen Ende des 19. Jahrhunderts, gab es in Tartu immer noch ein curriculum für die Klassische Philologie, allerdings auf Russisch statt auf Deutsch und mit etwas anderen Schwerpunkten: Die Autorenlektüre stand wie früher an erster Stelle, auch Kunstgeschichte wurde aufgrund der Repliken- und Vasensammlung des Kunstmuseums gelehrt, und ebenso gewann das Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft und der Byzantinistik an Bedeutung; Hilfsdisziplinen wie Metrik, Epigraphik oder Kodikologie wurden gelesen, wenn es Professoren gab, die Interesse für diese Fächer hatten, wie bespielsweise Grigol Tsereteli (1870–1938), der Menander-Herausgeber und spätere Professor der Klassischen Philologie in Georgien.5 Während des ersten Weltkriegs wurde die Universität mit ihren Professoren, aber auch mit den Buch- und Kunstsammlungen nach Voronež in Russland evakuiert. Am 1. Dezember 1919 wurde sie nach neuen curricula als estnische Universität wiedereröffnet, zuerst mit vielen ausländischen Professoren, so Johan Bergman (1864–1951) aus Schweden und Wilhelm Süss (1882–1969) und Ernst Kieckers (1882–1938) aus Deutschland, aber auch Esten wie Pärtel Haliste (geb. Bauman, 1890–1944). Weil die Vasen-, Münzen- und Gemäldesammlungen in Voronež geblieben waren, verlagerte sich der Schwerpunkt von Ästhetik und Kunstgeschichte stark zur Philologie. In dieser Zeit gab es etwa 50 Absolventen, von deren Richard Kleis (1896– 1982), Karl Reitav (1897–1961), Hans/Heinrich Freymann (1909–1975) und Lalla Gross (1912–2008) später den altsprachlichen Unterricht erhalten haben.6
Vgl. Anderson (wie Anm. 3); Tamm und Tankler (wie Anm. 4); Janika Päll, Friedrich Puksoo - klassikaline filoloog, filoloog kui klassik, Vortrag auf der Konferenz “Rahvusülikooli raamatukogu 100” [Die Bibliothek der Nationaluniversität 100] am 18.10.2019 (Tartu): http://hdl.handle.net/10062/66712 (letzter Abruf am 24.3.2021); Martin Hallik und Olaf-Mihkel Klaassen, Keiserlik Tartu Ülikool ja Orient, Tartu 2002. 6 Vgl. Anne Lill, Kakssada aastat klassikalist filoloogiat Eestis: kahe alguse lugu, in: Duo saecula philologiae classicae in Estonia, hg. von Ivo Volt, Tartu 2003, 9–18 (Acta Societatis Morgensternianae I); Ivo Volt, Ain Kaalep 90 [Vortrag am 4. Juni 2016 in Elva, Datei in Besitz des Autors]. 5
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Die dunklen Zeiten 1940–1989 Die Okkupationen und der Zweite Weltkrieg hatten den Unterricht in der Klassischen Philologie sehr in Mitleidenschaft gezogen. Einige Professoren waren geflohen, gestorben oder sahen sich Repressionen ausgesetzt, seit 1949 war es nicht mehr möglich, die Klassische Philologie als Hauptfach zu studieren und 1954 wurde die Abteilung auch formal abgeschafft, obwohl es bis 1953 noch ein Dutzend Absolventen gab, die ihre Diplomarbeiten beispielsweise über Horaz, Terenz, Vergil, Seneca und Claudius Aelianus geschrieben haben.7 Zwei dieser Studenten, Astrid Kurismaa (1926–1982) und Ülo Torpats (1920–1988) wurden Lateinlehrer und wichtige Übersetzer antiker Literatur, wie auch der Dichter und Literat Ain Kaalep (1926–2020), der klassische Sprachen im Nebenfach studierte und später für den Neustart des Fachs eine wichtige Rolle spielte. 8 Schon in den 1950–1970er Jahren waren Latein – und natürlich auch Griechisch – aus den Schulen verschwunden; mit wenigen Ausnahmen, so dem Gymnasium No.1, dem heutigen HugoTreffner-Gymnasium in Tartu, wo man immer noch Latein lernen kann, seit 2008 von dem in Goslar geborenen Marcus Hildebrandt. In Tallinn hat Kristiina Leinemann 1988 den Lateinunterricht im Õismäe Humanitaargümnaasium eingeführt, mehrere ihrer Schüler sind später in Tartu klassische Philologen geworden.9 Weil die Tartuer Universität immer Lateinunterricht für die PhilologischHistorische, Medizinische, Juristische und Naturwissenschaftliche Fakultät angeboten hatte, gab es zwischen 1954 und 1990 noch einige Professoren und Lektoren aus Vorkriegszeiten (Lalla Gross, Richard Kleis und Karl Siehe Diplomarbeiten in der Universitätsbibliothek Tartu und Anmerkung 6. Vgl. Volt (wie Anm. 6); Ain Kaalep, Kolm Lydiat, Tartu 1997; Lill (wie Anm. 6); Kaarina Rein, Igatsus Hellase järele – Astrid Kurismaa, Keel ja Kirjandus 9 (2006), 768-660; Jaan Unt, Expertus linguae latinae - Ülo Torpatsi 75. sünniaastapäeva puhul, Postimees, 16. November 1995. 9 Vgl. Sirje Pärismaa, Aasta gümnaasiumiõpetaja nominent, Õpetajate leht, September 2016, https://opleht.ee/2016/09/aasta-gumnaasiumiopetaja-nominent-tippkool-nouab-ka-opetajalt-tipptaset/ (letzter Zugriff: 30.1.2021); Raivo Juurak, Ma ei teadnud isegi seda, mis did tähendab, in: Õpetajate Leht, 22. Mai 2009, https://dea.digar.ee/cgi-bin/dea?a=d&d=opetajateleht20090522.1.11 (letzter Abruf am 30.1.2021). 7 8
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Reitav) oder auch aus der jüngeren Generation (Ülo Torpats), die Spezialkurse für interessierte Studenten in kleinen Gruppen von 3 bis 5 Studenten gegeben haben. Manchmal wurde auch individuell gearbeitet. Dieser Unterricht wurde meistens mit Lektüre durchgeführt: Man las Caesar und Cicero, Horaz und Ovid, Livius und Tacitus, Homer, ein bisschen Tragödie, Herodot, Thukydides und Platon. Die Dozenten der nächsten Generation an der Universität, Professor Anne Lill (geb. 1947), Epp Tamm (1940–2020) und Marju Lepajõe (1962–2019), Olev Nagel (geb. 1944) und Jüri Maadla (geb. 1932) haben auf diese Weise klassische Sprachen studiert, zusammen mit einigen anderen, wie der Französischlektorin Anu Treikelder (geb. 1961) und dem Professor für Estnische Philologie Arne Merilai (geb. 1961). 10 Auch Jaan Unt (1947–2012), der Lektor für Latein, Griechisch und antike Literatur, hat so sein Klassikstudium angefangen, aber später in Sankt Petersburg (Universität von St. Petersburg, damals Leningrad) Klassische Philologie als Hauptfach studiert und dort auch seinen Abschluss gemacht. Alle diese Personen waren für die Kontinuität des altsprachlichen Unterrichts, auch als die Klassische Philologie als Hauptfach abgeschafft war, sehr wichtig. Sie haben gezeigt, dass auch wenn das Lehren und Lernen aus ideologischen Gründen offiziell unmöglich ist, man doch etwas tun kann.
Neustart um 1990 und Reform Im wieder freien Estland wurde 1990 an der Tartuer Universität auch die Abteilung der Klassischen Philologie neu eröffnet, 1991 schrieben sich die ersten Studenten ein unter der Leitung von Professorin Anne Lill. 11 Von Anfang an gibt es einen Numerus clausus von 10, und bis 2015 war es nur möglich, in jedem zweiten Jahr neue Studenten anzunehmen. Aus den ersten zwei Jahrgängen sind mehrere immer noch aktive klassische Philologen hervorgegangen12 – dies nach einem 4-jährigem Bachelor-Studium statt der früheren 5 Jahre. In den ersten Jahrzehnten gab es viele Gastprofessoren: Jaan Vgl. Lill (wie Anm. 6). Vgl. Lill (wie Anm. 6). 12 Erster Jahrgang: Kaspar Kolk, Janika Päll, Kaarina Rein (geb. Krull), Merike Ristikivi 10 11
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Puhvel, Carl Joachim Classen, Jürgen von Ungern-Sternberg, Walter Ludwig, Heinz Hoffmann, Outi Merisalo, Hans Helander, Heikki Solin, Paavo Roos, Martin und Stephanie West.13 Schwerpunkte waren jetzt Philologie (zuerst auch vergleichende indo-europäische Grammatik mit Jaan Puhvel) und mehr und mehr die klassische Tradition. Danach sind die Zahlen gesunken: Obwohl es immer Absolventen gibt, werden die Arbeitsstellen seltener und vielleicht liegt das Interesse der begabtesten Studenten auch anderswo. Es gibt immer auch einen Austausch zwischen den Studenten der Philosophie, der Geschichte und der Theologie: Es ist nicht ungewöhnlich, das Studium an der Abteilung Philosophie, Theologie oder Geschichte, an der Juristischen Fakultät oder in verschiedenen modernen Sprachen anzufangen und danach auf Magister- und Doktorebene mit Klassischer Philologie weiterzumachen oder umgekehrt. Insgesamt wurde im Jahr 2021 wahrscheinlich eine Gesamtzahl von 100 Studenten, die mit einem Bachelordiplom abgeschlossen haben, erreicht, dazu kommen noch 28 Magister und 9 Doktoren (oder 14, wenn man 2 in Oxford und Cambridge und 3 in anderen Fakultäten verteidigte Doktorarbeiten von unseren Absolventen in Klassischer Philologie mitzählt). Die aktuellen Dozenten (die Verfasserin, Doz. Maria-Kristiina Lotman, die Lektoren Ivo Volt, Kadri Novikov, Neeme Näripä und Kaidi Kriisa) sind alle Absolventen der Tartuer Universität. Für den heutigen Zustand des altsprachlichen Unterrichts an der Universität Tartu (obwohl es Latein auch an der Universität Tallinn, der Musik- und Wirtschaftsakademie und an einigen höheren Fachschulen, wie die Schulen für Medizin und Gärtnerei, gibt) sind mehrere Reformen von Bedeutung. 1. Von Anfang an (im Jahre 1990) der Wechsel vom 5-jährigen Diplomstudium zum 4-jährigen Bakkalaureus. Das bedeutete Kürzungen in Studienprogrammen für alle Fächer, und oft war es das Latein im Generalstudium, das Stunden verlor: So hatten die Studenten der estnischen und französi-
(geb. Soodla), Ave Teesalu (geb. Paesalu), Ülo Siirak, Kristi Viiding (geb. Sak); zweiter Jahrgang: Katre Kaju, Maarit Kivilo, Maria-Kristiina Lotman, Triin Rebane, Kai Tafenau, Ivo Volt. 13 https://www.maailmakeeled.ut.ee/et/osakonnad/klassikalinefiloloogia/kulalislektorid (letzter Abruf am 30.1.21).
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schen Philologie und der Geschichte zum Beispiel danach nur noch ein Lateinjahr (zwei Semester, mit 4 Stunden pro Woche) statt der früheren 2 Jahre.14 2. Im Jahre 2003 kam eine neue Kürzung (oder ‚Reform‘) des 4-jährigen Bachelor mit einem 2-jährigen Master zu den 3+2 Jahren des Bologna-Systems. Das bedeutete noch weniger Latein im Generalstudium (Kürzung von vier Stunden pro Woche zu zwei, oder von zwei Semestern zu einem, und sogar Abschaffung wie in der Anglistik). Für das Curriculum der klassischen Philologie bedeutete es, dass viele Fächer, die früher zum Diplomstudium gehörten (zum Beispiel griechische Dialekte, historische Phonologie und Morphologie, Stilistik, Metrik, die hellenistische Dichtung, Römische Tragödie und auch manche Lektürekurse) nur noch im Magisterstudium vertreten sind und dass es im Magisterstudium weniger Lektüre- und Spezialkurse gab. 3. Im Jahre 2013 erfolgte die Vollendung der Bologna-Reform durch eine Teilung des Studiengangs der Klassischen Philologie in das Hauptfach Klassische Philologie und ein frei gewähltes Nebenfach (zum Beispiel Geschichte, moderne Sprachen, Literatur usw.), mit Einführung neuer mehr oder weniger obligatorischer allgemeiner Disziplinen, nach dem Marktmodell in Modulen. Für die Wahlfächer und das Nebenfach brauchte man Platz im Curriculum, auch in anderen Disziplinen. Daher schrumpfte Latein im Generalstudium nochmals, und als Resultat ist für Historiker und Theologen Latein heute auf der Bachelor-Ebene nicht mehr obligatorisch (es bleibt Wahlfach im Magisterstudium); für alle Studenten der Philologie ist Latein jetzt obligatorisch, aber nur für 6 ECTS (ein Semester 4 Stunden pro Woche). Positiv ist, dass die Klassische Philologie nun als Nebenfach für andere Disziplinen anerkannt ist: die Studenten des Nebenfachs studieren zusammen mit Hauptfachstudenten. Obwohl es in Modulen von obligatorischen Fächern des Curriculums keinen Platz für allgemeine Disziplinen wie Altertumswissenschaften, Mythologie, Paläographie, Alte Geschichte, klassische Traditionen oder ähnliches gibt, können wir diese für Nebenfachstudenten anbieten, und 14
Vgl. (hier und unten) Tartu Ülikooli loengud ja praktilised tööd, Tartu 1994–2002; https://ois.ut.ee und https://ois2.ut.ee/#/curricula (letzter Abruf am 30.1.2019).
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damit haben auch die Hauptfachstudenten die Möglichkeit, diese Disziplinen als Wahlfächer zu studieren. Es gibt seit Jahren eine Reihe von Studenten des Nebenfachs Klassische Sprachen und Kulturen, die auf der Magisterebene zu uns gekommen sind. 4. Im Jahre 2015 wurde im neugegründeten College für Fremdsprachen und Kulturen statt Magisterprogrammen der verschiedenen indoeuropäischen Sprachen ein neues Magisterprogramm für Europäische Sprachen und Kulturen eingerichtet mit den Schwerpunkten Anglistik, Germanistik, Romanistik, Skandinavistik, Übersetzung, Fremdsprachendidaktik (wo man als Nebenfach auch Latein wählen kann) und Klassische Philologie. Das Programm wird auf Englisch durchgeführt, aber als Ausnahme wird der Unterricht in Klassischer Philologie meistens auf Estnisch abgehalten (für unsere Erasmus-Gaststudenten bieten wir dieselben Fächer jedoch auch auf Englisch). Mit der Reform haben wir einige Fächer (wie Rhetorik, Römische Tragödie) verloren, aber als Wahlfächer auch neue Disziplinen hinzugewonnen, wie Übersetzungstheorie und viele praxisnahe Lehrformen, in welchen man Übersetzen aus antiken Sprachen, praktisches Arbeiten bei Projekten unserer Professoren oder eine Möglichkeit zur Vertiefung seiner Fachkenntnisse in der Bibliothek findet. 5. Obligatorisch ist Latein noch in der Medizinischen Fakultät, aber wir wissen nicht, wie lange. Zum Beispiel gab es an der Landwirtschaftlichen Akademie einen selbständigen Unterricht für Veterinäre, jetzt nur als e-Kurs, beschränkt meistens auf das Studium der Nomina und auf die Erlernung anatomischer Begriffe und Namen der Krankheiten ausgerichtet. Da seit 1994– 1996 das internationale Klassifikationssystem der Krankheiten auch im Estland benutzt wird (im Moment CIM-10 oder ICD-10),15 ist es beinahe nicht mehr nötig, die Diagnosen auf Latein zu kennen. 16 Auch in der
15 16
https://rhk.sm.ee/ (letzter Abruf am 30.1.21). https://www.sm.ee/sites/default/files/content-editors/eesmargid_ja_tegevused/Tervis/E-tervis_ja_e-tervisetoend/kaesiraamat.pdf. Neue (seit 2002 gültige) Version: https://www.riigiteataja.ee/akt/163343 (letzter Abruf am 30.1.21).
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Pharmazie ist die lateinische Terminologie eingeschränkt, existiert aber parallel zur englischen Sprache.17 6. Gymnasien: Seit der Sowjetzeit hat die Klassische Abteilung ihre Rolle bei der Ausbildung der Gymnasiallehrer so gut wie verloren, obwohl Latein in einigen Gymnasien in Tartu, Tallinn, Pärnu und Viljandi noch ein wenig gelehrt wird.18 Neuere Reformen der Pädagogikabteilung (oder -fakultät, jetzt Institut der Pädagogikwissenschaften) haben den klassischen Sprachunterricht deswegen nicht betroffen, aber es gibt, wie gesagt, für die Wenigen, die es wünschen, eine Möglichkeit, neben dem Unterricht der modernen Sprachen in den Magisterstudien im Nebenfach das Lateinlehrerdiplom zu erlangen. 7. Auch der Unterricht in den allgemeinen Fächern zur Antike, wie Alte Geschichte, Philosophiegeschichte und Allgemeine Literaturgeschichte, ist mittlerweile eingeschränkt. In den 1990er Jahren gab es separat ein Semester mit 2 Stunden Vorlesung wöchentlich über die älteste Literatur, dasselbe auch für die griechische und für die römische Literatur (dazu noch ein Sonderseminar in griechischer und römischer Literatur für Klassische Philologen, jeweils zweistündig pro Woche); jetzt gibt es nur noch eine Vorlesung (2 Stunden insgesamt) über die antike Literatur. In Alter Geschichte gab es Vorlesungen zur ältesten Geschichte (2 Stunden), dazu 4 Stunden griechische und 4 Stunden römische Geschichte, für Klassische Philologen auch Topographie (2 Stunden), und ein Seminar der Alten Geschichte. Jetzt gibt es während eines Semesters eine Vorlesung der Alten Geschichte (4 Stunden wöchentlich) und ein Sonderseminar. Auch in der Philosophiegeschichte ist die Einführung in die (antike) griechische Philosophie abgeschafft, aber es gibt spezielle Seminare zu Platon oder Aristoteles. Juristen beschäftigen sich mit Latein als Teil der römischen Rechtsgeschichte, in der Theologie wird Griechisch und Latein ein wenig studiert:
https://www.ravimiamet.ee/sites/default/files/farmaatsiaterminoloogia_2019.pdf (letzter Abruf am 30.1.21). 18 https://www.ht.ut.ee/et/ajalugu. https://www.maailmakeeled.ut.ee/et/osakonnad/konverents-basic-latin-and-greek-high-school-and-university-beginning21st-century (letzter Abruf am 30.1.21). 17
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Neutestamentliches Griechisch ist obligatorisch während des Bachelorstudiums, Latein existierte als Wahlfach im Magisterstudium; nach dem Tod von Marju Lepajõe, der Lektorin für alte Sprachen und Patristik, gibt es jedoch wenig Hoffnung für die Zukunft der Patristik. Das Neue Testament wird zwar immer noch gelesen, aber wer nur das Neue Testament auf Griechisch lesen kann, liest kein klassisches Griechisch, das wissen alle Gräzisten.
Zwischenbilanz und einige Worte über die kleine-Fächer-Diskussion: Das alles heißt, dass die Klassische Philologie ihr einziges Unterstützungssystem in den Abteilungen Mediävistik und Alte Geschichte, Theologie, Sprachwissenschaft, Rechtsgeschichte und Pädagogik so gut wie verloren hat. Es gibt aber auch gute Nachrichten: Seit 2013 ist der Eintritt in die Abteilung jedes Jahr möglich (immer mit dem Numerus clausus von 10, was für uns eigentlich gefährlich ist, weil wir zuweilen weniger neue Studenten bekommen). Aber weil es auch mehrere Nebenfach-Studenten gibt, können wir statt mit kleinen Gruppen von 3 bis 6 Studenten oft doch mit Gruppen von bis zu 10 Studenten arbeiten (die Universität sieht ungern Gruppen unter 5 oder 10 Studenten), in Kursen über die klassische Tradition, Mythologie oder Antike Kultur gibt es mehr Teilnehmer, 50 bis 100, und sogar mehr. Seit etwa der Jahrtausendwende (ab 1999) existiert in Estland die Diskussion über die kleinen Fächer. Zuerst betraf sie nicht den altsprachlichen Unterricht, sondern beispielsweise verschiedene finno-ugrische Sprachen, Paläontologie und Stratigraphie (Estnische Geologie), Harfen-Unterricht usw., obwohl auch die Sozialwissenschaften sich als kleine Fächer vorstellen wollten. 19 Als Beispiel für Studentenmangel gilt jedoch auch die Klassische 19
Vgl. Linda Järve, Klassikalist kultuuri tundmata jääme Euroopa vaimsesse vaesterajooni (Gespräch mit Anne Lill), Õpetajate Leht 33, 12.9.2003, https://dea.digar.ee/cgi-bin/dea?a=d&d=opetajateleht20030912.1.8 (letzter Abruf am 26.3.2021); Anne Lill, Kuidas on arenenud ja peaks arenema Tartu ülikool, Tartu Postimees, 5.4.2012, https://tartu.postimees.ee/798606/kuidas-onarenenud-ja-peaks-arenema-tartu-ulikool-vastab-anne-lill (letzter Abruf am 30.1.21).
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Philologie. Nach 2010, als ein Gesetz der Tartuer Universität vom Parlament erlassen wurde, ist die Diskussion so gut wie zum Stillstand gekommen, weil man es akzeptierte, dass eine Zahl von kleinen Fächern notwendig ist. Für einige Fächer wurden damals die sogenannten Nationalprofessuren geschaffen, so für die Estnische Philologie und Literaturen, Ethnologie, Professuren für estnische Geschichte, Geologie, Geographie usw.20 Die Klassische Philologie, die auf die europäische Tradition ausgerichtet ist, erhielt natürlich keine Nationalprofessur, wurde aber immerhin weitergeführt und schweigend akzeptiert, nicht zuletzt dank der Tätigkeit der Professorin (jetzt Emerita) Anne Lill und des Verständnisses unseres Colleges unter der Leitung der Direktorin Kersti Lepajõe und des Vizedirektors Tanel Lepsoo. In den letzten Jahren hat sich aber die ökonomische Situation stark geändert und wir ahnen, dass Fragen wie die, ob die Öffentlichkeit solche kleinen Fächer überhaupt braucht, wiederauftauchen werden. Jetzt verbindet sich die Diskussion aber mit den Humaniora allgemein. Auch hier haben wir mitgeredet, jeder für seine eigene Disziplin. 21
Zusammenfassung Was könnten wir weiter tun? Noch mehr mit anderen Disziplinen zusammenarbeiten: einerseits unsere Sprachkenntnisse im Dienst der anderen Fächer anbieten, andererseits immer die besondere Stellung des alten Griechenland und Roms und der klassischen Tradition für ganz Europa hervorheben, aber auch zeigen, dass das moderne Estland ohne die europäische Kultur nie entstanden wäre und keinen Bestand hätte. Dieses Jahr wurde das
Vgl. https://www.riigiteataja.ee/akt/103032011023 (letzter Abruf am 30.1.21); Rahvusvahelised rahvusteadused Tartu Ülikoolis, hg. von Tiit Hennoste, Tartu 2014. 21 Vgl. Rebekka Lotman, Eesti humanitaarne tulevik, in: Sirp, 19.12.2013, https:// sirp.ee/s1-artiklid/c9-sotsiaalia/eesti-humanitaarne-tulevik-2/ (letzter Abruf am 30.1.21); Meelis Friedenthal e.a. 2020, Mis asi see on, mida nimetatakse humanitaariaks, in: Akadeemia 9 (2019), 1578–1604, https://www.akad.ee/2020/08/25/akadeemia-nr-9-2020/ (letzter Abruf am 30.1.21); Vgl. auch Riho Altnurme, (Hg.), Humanitaarteadused ja -kunstid 100aastases rahvusülikoolis, Tartu: Tartu ülikooli kirjastus 2019. 20
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Budget der wissenschaftlichen Forschung auf 1 % der nationalen Bruttoproduktion der Wirtschaft angehoben, was seit langem erwartet war, aber das Zusatzgeld ist meistens für Kooperationen mit der Wirtschaft gedacht, was für die Humaniora nicht immer hilfreich ist. Doch gute Leistungen in der Wissenschaft, besonders die Teilnahme an europäischen oder regionalen Projekten und eine reiche Publikationstätigkeit im Ausland helfen, zusätzliche finanzielle Unterstützung für die Abteilung und das College zu bekommen, was unsere Arbeit leichter macht. Da die Klassische Philologie schon seit mehreren Jahrzehnten stark digitalisiert ist und unsere Studenten viel die elektronischen Thesauri, Wörterbücher, Programme für automatische morphologische Analyse und Datenbanken nutzen, dürfen wir an der Universität auch als Vorbild gelten für die Bedeutung digitaler Kenntnisse im Unterricht. Auch der Name des Studienprogramms Klassische Philologie wurde 2019 in Antike Sprachen und Kulturen umgewandelt, nach dem Vorbild der anderen Studienprogramme in unserem College für Fremdsprachen und Kulturen, aber ohne dass sich unser Curriculum änderte. Also machen wir alles, was eben möglich ist – und arbeiten weiter.
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Classics in St. Petersburg Olga V. Budaragina & Elena L. Ermolaeva
After the revolution of October 1917, teaching of Classics which had been an essential part of the gymnasium and university curriculum in Russia was gradually but inevitably excluded from the syllabus of schools and colleges. 1 A number of world-renowned scholars left the country, Mikhail I. Rostovtzeff (1870–1952) and Thaddaeus Zielinski (1859–1944) being among them. In the 1920ies – 1940ies, many other classicists experienced serious hardships which led to various deprivations, imprisonment in camps, and deaths. During the Soviet period, Departments of Classics at the universities were reopened only in 1932 (Leningrad) and 1934 (Moscow). The first school in late Soviet Russia to teach Ancient Greek and Latin on a regular basis was founded in Leningrad in 1989. It is obvious that the total destruction of the prerevolutionary system of education could not, unfortunately, go unnoticed. These days, in Russia there are four universities which have Departments of Classics – Moscow State University,2 Russian State University for the Humanities (Moscow, since 1993),3 the HSE Institute for Oriental and Classical Studies (Moscow, since 2017),4 and St. Petersburg State University.5 Olga V. Budaragina, Olga M. Freidenberg, Aristid I. Dovatur, and the Department of Classics in Leningrad, in: Classics and Communism, Budapest/Ljubljana/Warsaw 2013, 3–17. Артем М. Скворцов, Кафедра классических языков и литератур ЛИФЛИ: история создания и организация учебного процесса, Philologia Classica 15.2 (2020), 394–410. 2 http://www.philol.msu.ru/~classic/sotrudniki/ (accessed 6 January 2021). 3 http://ivka.rggu.ru/article.html?id=79215 (accessed 7 January 2021). 4 https://iocs.hse.ru/en/about/ (accessed 7 January 2021). 5 http://phil.spbu.ru/o-fakultete-1/struktura-fakulteta/kafedry/klassicheskoi-filologii (accessed 8 January 2021). 1
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The article deals with the brief history and the present day of two independent but interconnected classical institutions, which are located in the same building in St. Petersburg.
Bibliotheca classica Petropolitana The Bibliotheca classica Petropolitana6 was founded in 1993 by the classical philologist Alexander K. Gavrilov (St. Petersburg State University; Institute of History at the Russian Academy of Sciences) to revive the traditional study of the ancient heritage in Russia and to strengthen the classical philology in St. Petersburg University and the Academy of Sciences. The New Europe Prize, awarded to Alexander K. Gavrilov in 1993 by a consortium of Institutes for Advanced Study (with the Wissenschaftskolleg zu Berlin7 and IAS Princeton as the main players), formed the material basis for the implementation of the plan. In the meantime, BiCl has become one of the most renowned centres for the study of antiquity in Russia. From 1993 to 2007, it was led by its founding director Alexander K. Gavrilov, and from 2007 to 2017 by Alexander L. Verlinsky. Since 2017, it has been headed by Olga V. Budaragina. From the beginning, the BiCl has seen itself as a non-governmental, independent institution and has consistently adhered to this line since its foundation. Although this has meant that the work processes are free of bureaucracy, it has also made material security more difficult. Since private support for science is not developed in Russia and the state has never been willing to support non-governmental institutions (it now treats them as suspicious “non-commercial organisations”), BiCl was supported exclusively by Western, mainly German, foundations. The Thyssen, Krupp, Volkswagen and Bosch Foundations have generously supported the BiCl’s projects on the study of classical science since its foundation.
Hereafter BiCl. http://www.bibliotheca-classica.org/en/node/107 (accessed 8 January 2021). 7 Hereafter WiKo. 6
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The BiCl houses a publicly accessible reference library. The maintenance and constant expansion of the library form a central part of its activities. Donations from scholars abroad, duplicates from the major libraries (École normale supérieure Paris, Philological Library of the Free University of Berlin, etc.), bequeathed book collections of late scholars from Russia and Europe, as well as donations from organizations and foundations (DFG, Trinity College Cambridge, Secco-Pontanova Foundation, Donors’ Association for the Promotion of Sciences and Humanities in Germany) have contributed to the creation over time of a library that is one of the largest in the field of classical philology in Russia. Today, its holdings have grown to about 30,000 volumes (books and journals) and more than 30,000 electronic books and articles. The online catalogue of all printed editions is nearing completion. The BiCl is physically located in the St. Petersburg Classical Gymnasium (Gymnasium Classicum). The unique combination of library and school allows students to become familiar with the languages, culture and history of Classical Antiquity at an early age. Some of the school’s graduates decide to study Classics at the university and pursue their own research projects in close cooperation with the BiCl. Almost every BiCl staff member (with the exception of librarians) has a full-time job at the university, the Academy of Sciences, and Gymnasium Classicum. The social and political peculiarities in Russia have led to a concentration of the BiCl on scientific activities: 1. Hyperboreus was founded by the Bibliotheca classica Petropolitana in 1994 as the first academic journal in Russia since the 1917 revolution specializing in the field of classical studies. Scholars from the Classical Department of St. Petersburg State University, the St. Petersburg Institute of History (Russian Academy of Sciences) and St. Petersburg Gymnasium Classicum participated in the foundation of the journal. The aims of Hyperboreus are to advance the study of classical antiquity in Russia and to encourage international cooperation in this field by publishing original articles and reviews of books in Russian, English, German, French, Italian, and Latin. The editors invite contributions in all areas of classical scholarship (language and literature, history, philosophy and sciences, papyrology, epigraphy, archaeology,
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and arts) based primarily on the interpretation of classical sources. Hyperboreus also aims at throwing light upon archaeological excavations at the classical sites on the Northern coast of the Black Sea region. Since its beginning, the journal has been published jointly by BiCl and the C. H. Beck Publishing House. Hyperboreus is edited in two annual fascicles. 2. Another continuous project is the editing of the humanistic almanac Ancient World and Us, which is devoted to classical reception in literature and arts and to the history of classical scholarship. It aims at a broader audience than the Hyperboreus and is published in Russian. One of the issues of the Ancient World and Us8 originated as a joint project by Polish, German, and Russian scholars and is dedicated to the memory of the celebrated classicist Tadeusz Zieliński (Thaddaeus Zielinski, Фаддей Ф. Зелинский); the 150th anniversary of his birthday was celebrated in 2009. An attempt was made to understand Zielinski’s significance and impact in the context of three European cultures. The main body of this volume consists of Zielinski’s Autobiography (Mein Lebenslauf) translated for the first time from German into Russian by Anatoly I. Ruban who has also contributed a full commentary on the text. Zielinski began writing his Autobiography in 1924, after he had emigrated from Soviet Russia in 1922. The manuscript was initially kept by Zielinski’s son Felix; later it was given to the family of his younger sister Cornelia Zielinski-Kanokogi who lived in Japan. In 1996, the Autobiography was brought to Poland where it was published in translation in 2005. 3. One of the most important publications of the BiCl is Corpus inscriptionum regni Bosporani: Album imaginum 9 published in 2004. After the appearance of Inscriptiones antiquae orae septentrionalis Ponti Euxini (IosPE) II (1890) / IV (1901) academician V. V. Latyshev (1855–1921) engaged himself in preparing a new edition of inscriptions of the Bosporus Kingdom, which he did not manage to carry through. In the 1940s this work was resumed by the Institute of History of the Soviet Academy of Sciences (Leningrad branch), and in 1965 it published Korpus Bosporskikh Nadpisej (The Corpus 8 9
Древний мир и мы: Классическое наследие в Европе и России 4 (2012). Corpus inscriptionum regni Bosporani: Album imaginum, St. Petersburg: Bibliotheca classica Petropolitana, 2004.
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of Bosporan Inscriptions = Corpus Inscriptionum Regni Bosporani, CIRB). Unfortunately, the volume did not include abundant photo material collected for this edition and preserved at the Institute of History of the Russian Academy of Sciences (St. Petersburg) and Institute for the History of Material Culture (St. Petersburg). The aim of the present volume was to fill up this important gap. The current major project of the BiCl which is supported by Thyssen Foundation is the Dictionary of St. Petersburg Сlassical Scholars (1819–1920) in three volumes. It includes 250 detailed biographies written by more than 50 scholars from different fields of classics (philologists, historians, art historians, and archaeologists) who contributed to the project. The BiCl can look back on a long and solid tradition of international conferences. The contributions to the workshops on the history of Classical scholarship organized by the BiCl in 2003, 2009, and 2014 have been published in Hyperboreus.10 Since its foundation, a number of outstanding scholars of Classics from all over the world have visited the BiCl as guest speakers. An important source of support and inspiration for the BiCl is the circle of friends Amici founded by the two great scholars and former Fellows of the WiKo Thomas Gelzer († 2010) (Classical Philology Bern) and Martin Hengel († 2009) (Theology, Tübingen). Since 1997, Bernd Seidensticker (Classical Philology FU, Berlin-Brandenburg Academy of Sciences and Humanities) has been chairman of this circle of friends, whose board also includes Stefan Rebenich (University of Bern), Bernd Roling (FU Berlin), the former academic coordinator at the WiKo Reinhart Meyer-Kalkus (Literary Studies, University of Potsdam), and Fritz Felgentreu (Classical Philology, MdB). The Amici are an international circle of friends that does not organize regular meetings, but can be activated at any time if necessary. It has rendered great services above all in building up and completing the library. It also enables young scholars from St. Petersburg to spend shorter and longer periods at
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Volume 10, fasc. 1–2 (2004): 300 Jahre altertumswissenschaftliche Forschung in St. Petersburg; volume 19, fasc. 1–2 (2013): Institutionen der klassischen Wissenschaft im 19. und 20. Jh.; volume 21, fasc. 2 (2015): Das goldene Zeitalter und die Krise der klassischen Wissenschaft in Europa und Russland – Menschen, Institutionen, Ideen (ca. 1870 – ca. 1920).
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German and Swiss universities, supports the journal Hyperboreus with contributions and acts as a partner in project applications submitted by BiCl to foundations or institutions.
Gymnasium Classicum Petropolitanum11 The rebirth of school classical education in St Petersburg began in the late 1980s. In 1989, the St. Petersburg Classical Gymnasium (SPCG, or, in Latin, Gymnasium Classicum Petropolitanum) was founded under the auspices of the city authorities by a group of enthusiastic teachers, including classicists, with the assistance of Prof. Iakob M. Borovsky (1896–1994) and Prof. Alexander I. Zaicev (1926–2000). The SPCG remains the only state school in Russia where the study of both ancient languages is obligatory; it presently has a student body of around 700.12 The school was founded with the aim of recreating the educational programme and tradition of the classical gymnasia in pre-revolutionary Russia and to connect these with modern European pedagogical strategies: The core of the academic programme is the compulsory study of the classical languages (Latin and Ancient Greek), two contemporary languages (English and German) as well as mathematics. To ensure that every student receives a classical education we offer a single set curriculum for all students. The founding principle of the institution is “teaching the skills of learning”, meaning every student develops critical thinking skills and receives support in the search for knowledge.13 Pupils, who are selected through entrance examinations which determine their general development and their aptitude for analytical thinking, start This overview is an excerpt from the article: Elena Ermolaeva and Lev Pushel, Classical Languages, Culture, and Mythology at the St. Petersburg Classical Gymnasium, in: Our Mythical Childhood Education, ed. Lisa Maurice, Warsaw 2021, 184– 203 (in print). 12 See Vsevolod Zelchenko, Gymnasium Classicum Petropolitanum, Hyperboreus 19.1–2 (2013), 289–296. 13 The Classical Gymnasium of St. Petersburg, School #610, http://610.ru/en/ (accessed 5 May 2020). 11
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studying at the SPCG in Grade 5 (ten to eleven years old) and study for seven years up to Grade 11 (seventeen to eighteen years old). From Grade 5, pupils are given lessons in ancient civilization, mythology, and Greek and Roman history. Likewise, Latin begins in Grade 5 and continues until the final year, with four to five academic hours per week in Grades 5–7 (covering Latin grammar and syntax), three hours in Grades 8–11 (reading ancient authors: Caesar, Cicero, Ovid, Horace, Livy, Virgil, Tacitus, and Petronius). Ancient Greek starts in Grade 7 (twelve to thirteen years old) and continues throughout with three hours per week. The curriculum aims to teach Ancient Greek grammar and syntax for three years, after which students begin reading texts in the original: Attic prose (Xenophon, Plato, Lysias, Lucian), followed by Homer in Grade 10, and, in the final year, Herodotus and a tragedy of Euripides or Sophocles, or a comedy of Aristophanes. Testing is carried out via continuous assessment (different kinds of texts, grammar tests, translations from Russian into Latin and Greek) and a final oral examination after almost every level. There is also an obligatory year-long course on the history of Ancient Greek and Latin literature. Extracurricular activities are also an important source of classical education in the school. There is a club, Classica, where students, with the assistance of their teachers, work on topics of their interest and give presentations, the best of which were published in the school annual magazine Abaris, which, between 2000 and 2008, was edited by teachers Vsevolod V. Zelchenko and Olga V. Budaragina with the assistance of students and other teachers from the school. Additionally, since 2005 the SPCG has been taking part in a Greek competition in Italy, Certamen della Tuscia, organized by Lyceum Mario Buratti and the Viterbo University – on two occasions the school’s students have won the first prize.14
14
Arseny Vetushko in 2007 and Kristina Vashpanova in 2019. See Certamen Viterbiense 2019: un’edizione che parla di equità, TusciaUp, 7 April 2019, https://www.tusciaup.com/certamen-viterbiense-2019-unedizione-che-parladi-equita/132581?fbclid=IwAR0TjSzw-Qk6nZFflbr0XSol4UlUJhqxV05uUCUvrGZ5VWwJruJ8s8XdbQ (accessed 8 September 2019).
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During the summer holidays, students regularly took part in the archaeological excavations at the sites of former Ancient Greek colonies Chersonesus, Nymphaion and Pontic Olbia, as well as in Deultum (Bulgaria). Classicists from the gymnasium presently organize original programmes of cultural tourism in Greece and Italy for the SPCG students and teachers. It is also worth mentioning the publishing activities of the SPCG, which is engaged in translating Greek and Latin textbooks and manuals from German and publishing them.15 On a wider scale, there functions an association of school teachers of classical languages, Societas Russica Magistrorum Linguarum Classicarum,16 which aims to preserve and improve the status and quality of classical language in secondary schools and to promote classical education. The association is part of Euroclassica, a European association of teachers of classical languages and civilizations.17 The SPCG itself takes part in the annual Euroclassica Greek and Latin examinations, 18 while the Euroclassica congress
Kurt Person, Propylaia: Griechisches Unterrichtswerk (Griechisches Lese- und Übungsbuch), Stuttgart 1967; Kurt Person, Propylaia: Хрестоматия по древнегреческому языку [Propulaia: Ancient Greek Textbook], trans. Vanda P. Kazanskene, Sankt-Peterburg 1993 (2nd ed. 2013); Matthias Stehle, Griechische Sprachlehre, Stuttgart 1950; Matthias Stehle, Грамматика древнегреческого языка [Ancient Greek Grammar], trans. Vanda P. Kazanskene, Sankt-Peterburg 1993; Horst Holtermann and Hans Baumgarten, Ianua Nova, Göttingen 1986; Horst Holtermann and Hans Baumgarten, Ianua Nova, trans. Alexander Chernoglazov, Sankt-Peterburg 1993 (2nd ed. 2016). The school has also published Древнегреческий язык: Задания и тесты [Ancient Greek: Tasks and Tests] by Vsevolod Zelchenko (2011), a witty collection of grammar, linguistic, lexical, and translation assignments. 16 Librarius, http://librarius.narod.ru (accessed 30 March 2020); Societas Russica Magistrorum Linguarum Classicarum, https://librarius-narod.ru/pro/srmlc.php (accessed 5 July 2020). 17 Euroclassica, https://www.edugroup.at/praxis/portale/euroclassica (accessed 30 March 2020). 18 Henriette van Gelder and Elena Ermolaeva. When Russian and Dutch Pupils Meet for EGEX and ELEX, Euroclassica Newsletter 23 (January 2015), 39, https://www.edugroup.at/fileadmin/DAM/Gegenstandsportale/Latein/Dateien/Euroclassica_documents/Newsletter/Newsletter_2015.pdf (accessed 23 July 2020). 15
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that took place in St. Petersburg in September 2007 contributed to the popularity of classical education and brought new members into the Russian association.19 One of the projects of Societas Russica and the SPCG was to organize a summer school in Russia for pupils in order to popularize ancient languages and civilization. The Summer School in Classics (Academia Classica Aestiva) has been held from 2009 annually on 1–10 August with the assistance of the Russian Foundation for Support of Education and Science in the school buildings of the small village Rozhdestvo (vicus Nativitatis), which is situated halfway between St. Petersburg and Moscow. 20 It is important to note that the SPCG is in close contact with the BiCL; some members of the BiCL staff are even simultaneously teachers of Classics at the school. Thus, students have the opportunity to do research and prepare their presentations with the assistance of scholars.
Elena Ermolaeva, Annual Conference in St.-Petersburg, Euroclassica Newsletter 15 (January 2007), 12–16. 20 Antiquity Summer Schools, Librarius, https://librarius-narod.ru/pro/lsha.php (accessed 8 September 2020). 19
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Zu den Autorinnen und Autoren
Gerhard Aumüller (geb. 1942), Dr. med., em. Professor für Anatomie in Marburg. Neben anatomischen Fachpublikationen mehrere medizin- und musikhistorische Veröffentlichungen. Die musikhistorischen Interessen betreffen den Orgelbau des 17. Jahrhunderts, Michael Praetorius und Heinrich Schütz. Mitglied (unter anderem) der Historischen Kommission für Hessen und im Wissenschaftlichen Beirat der Internationalen Heinrich Schütz-Gesellschaft. Alessandro Balistrieri (geb. 1976), Studium der alten Sprachen und der Klassischen Philologie an der Universität von Bologna (Alma Mater Studiorum). Von 2006 bis 2010 Lehrer für Lateinische und Griechische Sprache und Literatur an verschiedenen Gymnasien Bolognas. Seit 2010 ist er freiberuflich als Berater auf dem Gebiet der nahöstlichen Handschriften (hauptsächlich Arabisch und Persisch) für Buchhändler, Antiquare und Auktionshäuser auf internationaler Ebene tätig und Autor von verschiedenen Monographien zu Themen, die mit seiner Forschungsarbeit zusammenhängen: islamische Handschrift, Stundenbücher, Geschichte Zentralasiens. Im Jahr 2019 arbeitete er als Latein-Übersetzer an der ersten Staffel der deutschen Netflix-Fernsehserie Barbaren mit. Alexander Becker, Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und Geschichte in Frankfurt. Promotion 1998 ebenda über ein Thema aus der zeitgenössischen Philosophie des Geistes, Habilitation 2011, ebenfalls in Frankfurt, mit einer Arbeit zum Diskursiven Platonismus. Von 2013–2016 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Düsseldorf, seit 2016 Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Marburg. Veröffentlichungen (unter anderem): Kommentare zu Platons Theätet (2007) und zu Platons Politeia (2017).
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Francesca Romana Berno is Associate Professor of Latin Language and Literature at Sapienza University of Rome. She is interested in Latin philosophical prose works (Cicero and Seneca), with special attention to the study of technical terminology and to rhetorical tools (metaphors, poetic quotations, historical examples) addressed to parenetic aims. On Seneca she has published three essays, dealing with Natural Questions (2003), Moral Epistles 53–57 (2006), and De constantia sapientis (2018). She has also tackled some aspects of Senecan tragedy, and some philosophical issues in Ovidian poetry. At the moment she is working with two colleagues on a translation with commentary to Seneca’s Moral Epistles. Olga Budaragina: In 1990 she graduated from the Department of Classics at St. Petersburg State University, in 1993 she received her M. A. degree at the State University of New York at Albany. In 2006 she obtained her Ph. D. in Classics (Portrayal of Nature in Later Latin Language Poetry: Claudius Claudianus). Since 1993, she has worked in the Department of Classics at St. Petersburg State University (currently as a docent). She teaches courses in the Latin language and lectures on Ancient Greek and Latin literature and Classics’ teaching methods. From 1993–2001, she taught Latin and Ancient Greek at the Gymnasium Classicum Petropolitanum. She is a member of the editorial boards of the almanac The Ancient Word and Us (Classical Heritage in Europe and Russia) and of the series Classical Philology (St. Petersburg University) as well as of Philologia Classica (St Petersburg), Keria (Ljubljana), Antiquitas viva (Riga), Ancient World and Us (St Petersburg). Since 2017, she is director of the Bibliotheca classica Petropolitana (St. Petersburg). Her research interests lie in Latin poetry, epistolary heritage of M. Cornelius Fronto, and reception of the Classical tradition. Douglas Cairns is Professor of Classics in the University of Edinburgh and author of Aidôs: The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature (1993), Bacchylides: Five Epinician Odes (2010), and Sophocles: Antigone (2016). His most recent edited volumes include Emotions in the Classical World: Methods, Approaches, and Directions (with Damien Nelis, 2017), Greek Laughter and Tears: Antiquity and After (with Margaret Alexiou,
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2017), Seneca’s Tragic Passions (with Damien Nelis, 2017), Distributed Cognition in Classical Antiquity (with Miranda Anderson and Mark Sprevak, 2018), and A Cultural History of the Emotions in Antiquity (2019). He is a Fellow of the Royal Society of Edinburgh and of the British Academy, and a Member of Academia Europaea. His current research project, funded by an ERC Advanced Grant (2018–23), is a history of the concept of Honour in Classical Greece. Hélène Casanova-Robin is full Professor (Professor Doctor) in latin literature at Sorbonne University (Paris) and senior member at the Institut Universitaire de France. She studied Latin poetry (Ovid, Virgil, Lucretius, Propertius) and the ancient heritage in the Humanism of the 14th and 15th centuries, exploring aesthetic, cultural and ideological implications. She is the author of several books and papers about myth, Ovid’s and Virgil’s poetry, and of two editions with commentaries of Giovanni Pontano’s poetry collections (Eclogae, 2011; Eridanus, 2018). Elena Ermolaeva is Associate Professor of Classical Philology at St Petersburg State University. Her main research interests include ancient Greek epic poetry and parody, lexicology, textual criticism and history of classical scholarship. Her other research themes are reception of Classics in Russian literature and Humanist Greek in Russia. She is representative of Euroclassica association in Russia. Sonja Fielitz ist seit 2005 W3-Professorin für Englische Philologie an der Philipps Universität Marburg. Sie studierte Englisch, Latein und Deutsch an der LMU München, wo sie auch 1992 mit einer Arbeit über Shakespeares Timon of Athens promoviert wurde. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Shakespeare und die Frühe Neuzeit, die Rezeption klassischer Autoren in England und das ‚lange‘ 18. Jahrhundert, dem auch ihre Habilitationsschrift aus dem Jahr 2000 mit dem Titel Wit, Passion and Tenderness. Ovids Metamorphosen im Wandel der Diskurse in England zwischen 1600 und 1800 verpflichtet ist. Sie ist Herausgeberin von zwei wissenschaftlichen Reihen, hat
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insgesamt acht Monographien verfasst, sechs Aufsatzsammlungen herausgegeben und über 50 Aufsätze veröffentlicht. Christoph Friedrich studierte von 1974–1979 an der Universität Greifswald Pharmazie und absolvierte parallel neben seiner Promotion (1983) noch ein Studium der Geschichtswissenschaft. 1987 habilitierte er sich für Geschichte der Pharmazie und erwarb 1990 zusätzlich die venia legendi für Medizingeschichte. 1992 erhielt er in Greifswald eine C3-Professur für Geschichte der Pharmazie, 2000 übernahm er die Leitung des einzigen Institutes für Geschichte der Pharmazie in Marburg. 2004–2012 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie. Seit 2020 ist er pensioniert. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählt die Pharmazie vom 18.–20. Jahrhundert, die Arzneimittelgeschichte und pharmazeutische Kulturgeschichte. Friedrich publizierte 50 Bücher und über 390 Aufsätze in Zeitschriften und Sammelbänden. Maike Gotthardt ist seit 2013 als Studienrätin im bremischen Schuldienst tätig. Sie studierte Latein und Englisch an der Philipps-Universität Marburg und der University of Bristol/UK und schloss ihr Studium 2011 mit dem Ersten Staatsexamen ab. Nach dem Referendariat erlangte sie 2013 ihr Zweites Staatsexamen. Nils P. Heeßel ist nach Stationen in Heidelberg und Würzburg seit 2017 Professor für Altorientalistik an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die wissenschaftlichen und religiösen altorientalischen Texte des 2. und 1. Jahrtausends v. Chr., insbesondere zur Medizin, Divination und Dämonologie. Derzeit untersucht er die altorientalische Textüberlieferung und Serienbildung, forscht zur Rolle der Gelehrten in der altorientalischen Kultur und erschließt bislang unpublizierte Keilschrifttexte aus Assur und Babylon. Klaus Kempf hat in über 40 Dienstjahren allen wichtigen Funktionsbereichen einer wissenschaftlichen Bibliothek vorgestanden, zuletzt als leitender Bibliotheksdirektor der Hauptabteilung Digitale Bibliothek und Bavarica an
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der Bayerischen Staatsbibliothek. Sein besonderes Interesse galt dabei immer dem Sammlungsauf- und -ausbau sowie den sich daraus ergebenden Implikationen für die Bestandsvermittlung beziehungsweise die Qualität der Benutzungsdienste. Seit 1. März 2021 ist K. Kempf im Ruhestand. Dirk Lölke, geboren 1962 in Stadthagen (Niedersachsen), trat nach dem Studium der Griechischen und Lateinischen Philologie 1992 in den Auswärtigen Dienst ein und war unter anderem auf Posten in Belgrad, Brüssel, Asunción und Rom. Bis 2021 war er deutscher Botschafter in Luanda (Angola). Melanie Möller ist Professorin für Klassische Philologie mit dem Schwerpunkt Latinistik an der Freien Universität Berlin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Dichtung und Prosa der spätrepublikanischen und augusteischen Literatur, Poetik und Rhetorik, Sprachphilosophie, Hermeneutik und die Rezeption der antiken Literatur. Sie ist für verschiedene Tageszeitungen als freie Mitarbeiterin tätig. Zuletzt erschienen von ihr das Ovid-Handbuch. Leben − Werk − Wirkung (2021) sowie, in Kooperation mit Matthias Grandl, Wissen en miniature. Theorie und Epistemologie der Anekdote (2021). Janika Päll, PhD, Professorin für Klassische Philologie und Leiterin der Abteilung der Klassischen Philologie, College für Fremdsprachen und Kulturen, Universität Tartu. Abschluss des Doktoratsstudiums mit einer Dissertation über den Prosarhythmus bei Gorgias, danach Beschäftigung mit dem Humanistengriechisch und der Rhetorikgeschichte. Sie hat verschiedene Untersuchungen zur altgriechischen Poesie, Syntax der griechischen Sprache und zur Buchgeschichte veröffentlicht und ist als Übersetzerin antiker Literatur tätig. Sie ist Mitherausgeberin von Studia Classica Morgensterniana, einer der klassischen Literatur und ihrer Tradition gewidmeten Reihe. Dr. Andreas Ritzenhoff, Abitur in Marburg, Studium der Medizin in Antwerpen, Brüssel, Heidelberg und Santiago de Chile, Assistenzarzt an der Uniklinik Düsseldorf. Dann erfolgte der Ruf ins Marburger Familien-Unternehmen Seidel, das Design-Verpackungen für Kosmetik und Pharma
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produziert. Dort ist er seit 1991 als Geschäftsführer und Inhaber tätig. Dr. Ritzenhoff engagiert sich politisch unter anderem für die Gründung eines Europäischen Staates zur Sicherung von Freiheit für die Menschen in Europa. Ilze Rūmniece, Professorin für Sprachwissenschaft (Klassische Philologie), Leiterin des Masterstudiengangs Klassische Philologie und des Hellenistischen Zentrums (Universität Lettlands, Riga), Lehrerin für Latein, Altgriechisch und Neugriechisch, Forschungsinteressen: Stilistik antiker Texte, Rhetorik, antike und neugriechische Poesie. Irmtraut Sahmland (geb. 1955), Dr. phil., apl. Professorin für Geschichte der Medizin in Marburg. Arbeitsschwerpunkte sind Medizingeschichte in Hessen, Hospital- und Krankenhausgeschichte, Patientengeschichte, Geschichte der medizinischen Aufklärung, Psychiatriegeschichte, Medizin und Religion. Mitglied u. a. der Historischen Kommission für Hessen und der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus. Maria Lucia Sancassano, Studium an der Universität Pavia (Klassische Philologie), danach an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und an der Universität Zürich (Klassische und Romanische Philologie) jeweils im Rahmen eines Austauschstipendiums des Collegio Ghislieri von Pavia. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Romanischen Seminar der Mainzer Universität, Promotion an der Philipps-Universität Marburg (Klassische Philologie). Lehrerin für Latein und Italienisch (Liceo Classico Dettori, Cagliari), Lehrbeauftragte an der Universität Roma 3 (Master an der Fakultät Lettere e Filosofia) und an der Universität Cagliari (Fakultät Lettere e Filosofia und Lingue e Letterature Straniere). Zahlreiche Lehrveranstaltungen im Bereich der Lehrerfortbildung. Seit 2015 Abgeordnete Lehrkraft des italienischen Außenministeriums an der Europäischen Schule Frankfurt. Wolf-Friedrich Schäufele (geb. 1967), Dr. theol. habil., 1994–2001 Wissenschaftlicher Mitarbeiter beziehungsweise Assistent an den Universitäten Mainz und Köln, 2001–2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-
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Institut für Europäische Geschichte Mainz, seit 2007 Professor für Kirchengeschichte am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg. Forschungsschwerpunkt: Kirchengeschichte des Mittelalters, der Reformation und der Frühen Neuzeit. Florian Schaffenrath, 2005 Dissertation über das Columbus-Epos des Ubertino Carrara SJ an der Universität Innsbruck, 2014 Habilitation mit einer Arbeit über Ciceros Philippische Reden. Assoziierter Professor für Klassische Philologie an der Universität Innsbruck und seit 2014 Direktor des Ludwig Boltzmann Instituts für Neulateinische Studien. Publikationen über regionale neulateinische Literatur und neulateinische Epik. Seit 2018 general editor der Acta Conventus Neolatini (Brill). Dr. Korbinian Spann ist Geschäftsführer und Head of Data bei Insaas.ai, einem Softwareunternehmen mit Fokus auf künstliche Intelligenz und Natural Language Processing (NLP). Dr. Spann ist verantwortlich für die Entwicklung von speziellen Wörterbüchern und der Datenpipeline. Er studierte unter anderem Philosophie und Judaistik und promovierte über die Beschreibung und Wahrnehmung des Fremden in der rabbinischen Literatur. Gregor Vogt-Spira hat den Lehrstuhl für klassische Philologie/Latinistik an der Philipps-Universität Marburg inne. In den Jahren 2008–2012 war er als Generalsekretär des deutsch-italienischen Zentrums für europäische Exzellenz Villa Vigoni (Comer See) an einer Scharnierstelle von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit tätig. Neben vielen Arbeiten zur lateinischen und neulateinischen Literatur gilt sein besonderes Interesse übergreifenden Fragen der Literaturtheorie sowie der Antikerezeption. Er ist Mitherausgeber der Reihe Europäische Grundbegriffe im Wandel. Philipp Weiß hat nach seiner Promotion (Lateinische und Griechische Philologie) von 2016 bis 2018 ein Bibliotheksreferendariat an der Bayerischen Staatsbibliothek und der Universitätsbibliothek Regensburg absolviert. Seit 2019 betreut er als Projektkoordinator den Fachinformationsdienst Altertumswissenschaften − Propylaeum an der Bayerischen Staatsbibliothek.
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Prof. Elżbieta Wesołowska teaches Latin and ancient literature at Adam Mickiewicz University in Poznań, Poland. She is a past director of the Institute of Classical Philology at AMU. She is interested in the works of Ovid and Seneca, but also in modern reception of ancient literature, and in translating Latin poetry into Polish. Constantin Willems ist seit 2016 Professor für Bürgerliches Recht und Römisches Recht am Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg und Mitglied im Direktorium des Marburger Centrum Antike Welt (MCAW). Ulrich Winter wurde 1996 an der Universität Heidelberg in den Fächern Romanistik und Germanistik promoviert, habilitierte sich 2003 an der Universität Regensburg und lehrt seit 2003/04 Romanische Philologie/Literaturund Kulturwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gegenwartskultur in Spanien und Lateinamerika, Kulturtheorie und Vergleichende Literaturwissenschaft.
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Angelika Fricke studierte Slavische und Klassische Philologie und ist Lehrbeauftragte am Institut für Klassische Sprachen und Literaturen (Marburg). Manuel Reith studierte Geographie und Klassische Philologie und ist wiss. Mitarbeiter am Institut für Klassische Sprachen und Literaturen (Marburg).
www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-27474-1
Angelika Fricke · Manuel Reith (Hg.)
Im vorliegenden Band wird in 23 Beiträgen die gegenwärtige Situation der Klassischen Philologie in den Blick genommen. Dabei sind die Befürchtungen, Erwartungen und Hoffnungen sehr unterschiedlich, welche die Autorinnen und Autoren aus der Sicht außeruniversitärer Arbeitsbereiche wie Bibliothekswesen oder Auswärtiger Dienst, Nachbarfächern wie Medizingeschichte und Jura sowie des eigenen Faches an anderen europäischen Standorten, etwa Rom oder Riga, an eins der sogenannten Kleinen Fächer herantragen.
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert
Angelika Fricke und Manuel Reith (Hg.) unter Mitwirkung von Gregor Vogt-Spira
Latein und Griechisch im 21. Jahrhundert