222 31 12MB
German Pages XV, 387 [389] Year 2020
Annika K. Müller
Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden
Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden
Annika K. Müller
Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden
Annika K. Müller Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport Johannes Gutenberg Universität Mainz Mainz, Deutschland Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 02 Sozialwissenschaften, Medien und Sport der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2018 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen. Das dieser Publikation zugrundeliegende Forschungsprojekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), im Rahmen des an der Universität Mainz und Stiftung Universität Hildesheim situierten Graduiertenkollegs 1474 „Transnationale Soziale Unterstützung“, gefördert.
ISBN 978-3-658-31855-0 ISBN 978-3-658-31856-7 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil I 2
3
1 2 6
Theoretische Perspektive und Forschungsinteresse
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive . . . . 2.1 Mobilität(en) revisited . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Mobilitätsparadigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Zum Dualismus von Mobilität und Sesshaftigkeit . . . . . . 2.2 Transnationale Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Transnationalismus als Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Transnationale soziale Eingebundenheit und Zugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Zusammenfassung: (Transnationale) Mobilität(en) . . . . . . . . . . . . Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Von der Nachbarschaftsgemeinschaft zum persönlichen Netzwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Persönliche Netzwerke – mehr als eine Metapher . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Soziale Beziehungen als Knoten und Kanten . . . . . . . . . . 3.2.2 Ego-zentrierte Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Strukturale Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Relationale Forschungsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Persönliche Netzwerke, Kontextualisierung und Bedeutungszuschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 14 14 18 22 23 28 32 35 36 42 43 44 46 51 52
V
VI
Inhaltsverzeichnis
3.4.2 Persönliche Netzwerke und Agency als Prozess . . . . . . . . 3.5 Zusammenfassung: Persönliche Netzwerke im Kontext von Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4
Forschungsgegenstand und Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Der Digitale Nomade: Ein Annäherungs- und Einordnungsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Transformation von (Kreativ- und Wissens)Arbeit . . . . . . 4.1.2 Facetten Digitalen Nomadentums und anderen mobilen Lebensformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Forschungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Teil II 5
6
62 65 66 66 71 81
Methodisches Vorgehen und Empirische Datengrundlage
Forschungspraktische Umsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gegenstandsbezogene Entwicklung des Erhebungsinstruments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Pretestphase und Feldannäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Interviewleitfaden und computergestützte ego-zentrierte Netzwerkkarte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Feldzugang und Datenerhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Feldaufenthalt in Südostasien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Interviewdurchführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Datendokumentation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Dateninterpretation und empiriebasierte Theorieentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Sample und Datenmaterial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Samplecharakteristika und Samplingprozess . . . . . . . . . . . 5.4.2 Übersicht: InterviewpartnerInnen und Datenmaterial . . . .
Teil III
58
89 89 90 91 99 100 106 113 114 118 128 128 134
Empirische Ergebnisse
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion entlang kontrastiver Fälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller . . . . . . . . . 6.1.1 Fall Malte – „seitdem würd ich mich eigentlich als Digitalen Nomaden bezeichnen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Mobilitäts- und ortsflexible Arbeitspräerfahrungen . . . . .
143 143 144 145
Inhaltsverzeichnis
6.1.3 Maltes persönliches Netzwerk (Teil 1) und aufkommendes Interesse am Thema Digitales Nomadentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.4 Hub-zu-Hub Mobilität und persönliche Broker . . . . . . . . . 6.1.5 Transformation von Maltes persönlichem Netzwerk (Teil 2) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.6 Ist-Situation: Maltes Aufenthalt auf Bali und Leben als Digitaler Nomade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.7 Zukunftsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.8 Zusammenfassung Fall Malte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer . . . . . . . . . . . 6.2.1 Fall Gerrit – „für mich ist es nur logisch, ich mag im Ausland sein und ich habe einen Job, mit dem ich das machen kann. Also bin ich im Ausland“ . . . . . . . . 6.2.2 Mobilitäts- und ortsflexible Arbeitspräerfahrungen . . . . . 6.2.3 Ortsflexible Lebensführung in Südamerika auf Probe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.4 Gerrits persönliches Netzwerk (Teil 1) und Mobilitätsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Ist-Situation: Gerrits Weg nach und Aufenthalt in Chiang Mai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.6 Gerrits persönliches Netzwerk (Teil 2): Zwischen lokal schwachen und transnational starken Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.7 Zukunftsperspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.8 Zusammenfassung Fall Gerrit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch empiriebasierte Querbezüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Broker mit persönlichen Beziehungscharakteristika als Unterstützungsquelle (Modus I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteristika als Informationsquelle (Modus II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
VII
149 155 160 163 168 171 174
174 175 177 180 184
191 198 201 205 206 206
214 219 222
VIII
Inhaltsverzeichnis
7.3
7.4
7.5
7.6 8
7.2.1 Form und Funktion Digitaler Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens (Modus I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Form und Funktion Digitaler Nomaden-Hubs in Gestalt eines Clusters (Modus II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Präventive Beziehungsarbeit und Beziehungstransformation (Modus I+II) . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Langjährige und jüngst geknüpfte Beziehungskonstanten (Modus I+II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 (Potentiell) Nachhaltige und zukünftige Beziehungen (Modus I+II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Einmalig aufgesuchte und „wiederkehrende“ Orte (Modus I+II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Vom unilokalen „Zuhause“ zur temporären „Homebase“ (Modus I+II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität . . . . . 7.5.1 Materiale und handlungspraktische Gestalt onlinebasierter Vernetzung (Modus I+II) . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Onlinebasierte Eingebundenheit und die Rolle von Reziprozität in sozialen Beziehungen zu Einzelakteuren (Modus I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Onlinebasierte Eingebundenheit und die Rolle von Validierung durch austauschbare Akteursvielzahl (Modus II) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.4 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Empirisch-methodische-Zwischenreflexion: Persönliche Netzwerke im Erzählverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im Kontext von Mobilität und Netzwerkeingebundenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln . . . . . . . . . .
223 239 249 253 254 259 270 271 274 275 282 295 298 299
307
311 315 318
321 321
Inhaltsverzeichnis
8.1.1 Mobilität begünstigende Bedingungen: Zur Wechselwirkung von Akteursattributen und Rahmenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Digitale Nomaden als Mobilitätsagenten: Zur Wechselwirkung von Akteurshandeln und Rahmenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.3 Die Welt als Handlungsraum: Zwischen Ressourcenzugang, -nutzung und -herstellung . . . . . . . . . . 8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1 Begriffsentwicklung und Zuordnungsmöglichkeit . . . . . . 8.2.2 Selbstpositionierung durch Abgrenzung . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Selbstbestimmtheit als Schlüsselelement . . . . . . . . . . . . . . Teil IV 9
IX
323
326 332 334 334 336 343
Schlussbetrachtung und Diskussion
Digitales Nomadentum als Lebensstil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.1 Mobilität beyond the nation-state als Normalität . . . . . . . . . . . . . . 9.2 (Transnationale) Mobilität(en) und persönliche Netzwerke . . . . . 9.2.1 Zwischen Aufbruchsstimmung und Fortführung . . . . . . . . 9.2.2 (Re)Produktion (in)stabiler Routinen . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.3 Zur Stärke schwacher Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.2.4 Netzwerkoptimierung durch Homophiliestreben . . . . . . . . 9.3 Zur Rolle des „Mindset“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
351 352 354 354 355 357 358 360
10 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
363
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 3.1 Abbildung 5.1 Abbildung 5.2 Abbildung 5.3 Abbildung 5.4 Abbildung 5.5 Abbildung 5.6 Abbildung 5.7 Abbildung 5.8 Abbildung 5.9 Abbildung III.1 Abbildung 6.1 Abbildung 6.2 Abbildung 6.3 Abbildung 6.4 Abbildung 6.5 Abbildung 6.6 Abbildung 6.7 Abbildung 6.8
Theoretische Perspektive auf Struktur und Agency als sensibilisierendes Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Computergestützte ego-zentrierte Netzwerkkarte mit VennMaker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Startseite Nomad List . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chiang Mai im Nomad List-Ranking . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschnitt Netzwerkvisualisierung von Paulina . . . . . . . Ausschnitt Netzwerkvisualisierung von Gerrit . . . . . . . . Ausschnitt einer Netzwerkkartendokumentation aus dem Interview mit Raik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Analyse des persönlichen Netzwerks von Malte . . . . . . . Kodierübersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Samplingprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gliederung der Ergebnisdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . Maltes persönliches Netzwerk während und nach dessen Auslandssemester in China . . . . . . . . . . . . . . . . . . Maltes persönliches Netzwerk während Leben in Neuseeland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschnitt aus Maltes persönlichem Netzwerk nach DNX-Besuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Transformation von Maltes persönlichem Netzwerk . . . Malters persönliches Netzwerk – finale Darstellung . . . . Ausschnitt aus Gerrits persönlichem Netzwerk während seines Studiums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ortsflexible kollektive Onlinearbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . Cluster in Gerrits persönlichem Netzwerk . . . . . . . . . . . .
55 94 101 102 110 112 117 122 126 132 141 147 155 158 162 172 177 183 189
XI
XII
Abbildung 6.9 Abbildung 6.10 Abbildung 7.1 Abbildung 7.2 Abbildung 7.3 Abbildung 7.4 Abbildung 7.5 Abbildung 7.6 Abbildung 7.7 Abbildung 7.8 Abbildung 7.9 Abbildung 7.10 Abbildung 7.11 Abbildung 7.12 Abbildung 7.13 Abbildung 7.14 Abbildung 7.15 Abbildung 7.16 Abbildung 7.17 Abbildung 7.18
Abbildungsverzeichnis
Alter-Alter-Relationen zwischen Cluster und Entität Slack Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerrits persönliches Netzwerk – finale Darstellung . . . . Broker mit persönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego . . . . . . . . . . . . . . . . . . Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens . . . . . Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschnitt aus Paulinas persönlichem Netzwerk während Aufenthalt in Hubud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschnitt aus Joshuas persönlichem Netzwerk während seines Aufenthalts in Chiang Mai . . . . . . . . . . . Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konversationsausschnitt des Chatkanals #chiang-mai aus Slack (instant-Messaging-Dienst) . . . . Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Soziale Beziehungen, (Im)Mobilität und Digitale Nomaden-Hubs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschnitt aus Raiks persönlichem Netzwerk zu lokal verankerten Orten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raiks persönliches Netzwerk und geographische Aufenthaltsorte der Alteri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raiks persönliches Netzwerk als Prozess – vor und nach 2014 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Visualisierung onlinebasierter Vernetzung in Netzwerkkarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausschnitt aus Kristins persönlichem Netzwerk zu Unterstützungsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191 201 213 220 224 228 231 234 238 240 242 244 246 248 251 281 286 288 301 311
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 8.1 Abbildung 8.2
Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ressourcenzugang, -nutzung und -herstellung . . . . . . . .
XIII
322 333
Tabellenverzeichnis
Tabelle 5.1 Tabelle 5.2
Kurzübersicht Interviewablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übersicht InterviewpartnerInnen und Datenmaterial . . . . . . .
98 135
XV
1
Einleitung
„Es gibt 193 Länder 1 auf der Welt. Da gibt es schlichtweg keinen Grund, hier, in Thailand, zu bleiben. Zumindest nicht im Moment.“ So lauten die Worte von Benedikt, 28 Jahre alt, aufgewachsen in der Nähe von Münster. Sein Studium der Informatik hat er in Berlin absolviert. Seit seinem Masterabschluss vor 15 Monaten hat er mittlerweile drei Kontinente bereist sowie in fünf Ländern – mal für mehrere Monate, mal für nur wenige Tage – gelebt und gearbeitet. Im Gepäck führt er stets seinen Laptop mit sich mit. Denn dieser bildet eines seiner wichtigsten Arbeitswerkzeuge. Sein Einkommen generiert er online; primär mit der Programmierung von Webseiten und dem Verkauf von sogenannten Apps2 . Seine Kunden und Auftraggeber sitzen in Deutschland, Kanada oder den USA. Kommuniziert wird onlinebasiert. Dementsprechend wichtig ist für Benedikt der Zugang zu einer Internetverbindung. Dieser Umstand veranlasst ihn daher dazu, stets Orte mit einer entsprechenden Infrastruktur aufzusuchen. So auch an jenem Tag, als ich mit ihm in einem der vielzähligen Wifi-Cafés in der thailändischen Stadt Chiang Mai ins Gespräch komme und das oben aufgeführte Zitat entsteht. Dort hält er sich seit rund vier Monaten auf. Doch bald will er weiter ziehen. Wohin hat er noch nicht entschieden – „Medellín in Kolumbien“ bildet eine Option, vielleicht aber auch „Taghazout in Marokko“. Benedikt gehört zu jenen Personen, welche in Medienberichten zunehmend häufiger unter dem Schlagwort Digitaler Nomade3 präsentiert werden. Im Rahmen von 1 Die
im Zitat genannte Länderanzahl entspricht der Aussage des Gesprächspartners, den ich im Rahmen meines Feldforschungsaufenthalts für die vorliegende Arbeit in Südostasien durch Zufall angetroffen habe. 2 Kurzform für (Web)Applikation. Dabei handelt es sich um eine Anwendungssoftware, welche oftmals für portable Geräte, wie bspw. Smartphones, angewendet wird. 3 Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit werden in der vorliegenden Arbeit die Begriffe Digitaler Nomade, Akteur, Befragter, Gleichgesinnter, Interviewter, Mobiler o. ä. primär in männlicher Form verwendet. Die weibliche Form ist dabei eingeschlossen. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_1
1
2
1
Einleitung
Personenportraits oder Unternehmensvorstellungen wird aufgezeigt, wie diese ihre Arbeit weitestgehend onlinebasiert, ortsflexibel und ohne feste Bürozeiten ausüben. Zu ihnen zählen bspw. Marketingexperten, Web- und Grafikdesigner, Programmierer, PR-Berater, Consultants, ebenso wie Buch- und Blogautoren, Übersetzer oder Lektoren. In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken diese in Printmedien und audiovisuellen Beiträgen unter Titeln wie „Living and Working in Paradise: The Rise of the Digital Nomad“ (Hart 2015) der englischen Tageszeitung The Telegraph, „Wanderarbeiter in eigener Sache“ (Hipp 2015) der Süddeutschen Zeitung, „Zukunft der Arbeit: Digitale Nomaden“ (tagesthemen 2016) der ARD Tagesschaunachrichten, „Vier Stunden, mehr nicht!“ (Wadhawan 2016) des Onlineportals Die Zeit, „Mit dem Laptop um die Welt“ (Hirn 2017) des Manager Magazins oder „The Digital Nomad Life: Combining Work and Travel“ (Mohnapril 2017) auf der Internetpräsenz der The New York Times. Medientauglich scheint der Digitale Nomade also längst zu sein. Doch wer steckt hinter den in den journalistischen Berichten beschriebenen Personen? An wissenschaftlich fundierten Forschungsarbeiten, die Aufschluss über diese Fragen geben könnten, mangelt es bislang jedoch (vgl. Müller 2016: 347; Reichenberger 2017: 2).
1.1
Forschungsinteresse
„All the world seems to be on the move“ (Sheller & Urry 2006: 207). So beschreiben Sheller und Urry ihre Beobachtungen zur Gegenwartsgesellschaft. Unterstrichen wird diese Annahme mittlerweile durch verschiedene Berichte und Statistiken. So zeigt bspw. der UN International Migration Report aus dem Jahr 2015, dass seit den letzten 15 Jahren ein kontinuierlicher Anstieg an internationalen Migrationsbewegungen zu verzeichnen ist. Während im Jahr 2000 noch von 173 Millionen Menschen gesprochen wird, sind es im Jahr 2015 rund 244 Millionen4 (vgl. United Nations 2015: 1). Im United Nations World Tourism Report wird dargestellt, dass im Jahr 2000 rund 674 Millionen internationale touristische Aufenthalte registriert wurden. Im Jahr 2015 sind es bereits 1.184 Millionen Personen5 (vgl. UNWTO 2015: 15). Und The German Business Travel Association schreibt bspw., dass ein allgemeiner Anstieg von Geschäftsreisen innerhalb Deutschlands beobachtet werden kann. Mit
4 Weitere Angaben, wie bspw. zu den in den Daten enthaltenen Flüchtlingszahlen, Aufenthalts-
und Herkunftsorten, Alter, Geschlechterverteilung etc., der Migranten siehe UN International Migration Report (2015). 5 Weitere Angaben, wie bspw. zu Zielregionen etc., siehe UNWTO Annual Report (2015).
1.1 Forschungsinteresse
3
einem Zuwachs von rund 4 % im Vergleich zum Vorjahr, konnten 2015 182.7 Millionen Business Trips von Unternehmensmitarbeitern gezählt werden6 (vgl. Verband Deutsches Reisemanagement e. V. 2016: 4). Neben dieser Transparentwerdung des Zuwachses an Migrations- und Mobilitätsbewegungen wird in der Literatur außerdem darauf hingewiesen, dass diese heute durch vielfältige Dimensionen charakterisiert sind: „Globale Migration ist komplexer geworden, Mischformen der Mobilität werden zunehmend normal und eine Vielzahl von Migrationsbewegungen läuft den dominanten und bekannten Strömen entgegen“ (O´Reilly 2014a: 1, Herv. im Orig. nicht übernommen). Anknüpfend an diese Feststellung stellt sich auch in der vorliegenden Arbeit die Frage, wo sich Mobilitäts- und Handlungspraktiken Digitaler Nomaden verorten lassen. Denn basierend auf den Medienberichten kann bislang nur die Annahme formuliert werden, dass es sich hierbei um eine seit jüngster Vergangenheit aufkeimende mobile Lebensform – dem Digitalen Nomadentum – zu handeln scheint. Wird der Blick in die Vergangenheit gerichtet, zeigt sich, dass bereits im Jahr 1997 die beiden Autoren Tsugio Makimoto und David Manners über den Digitalen Nomaden – damals noch unter einer prophezeienden Haltung – in ihrem gleichnamigen Buch Folgendes schreiben: “At the moment, we do not have the ability to communicate by video link between any two points on the planet. But we will have it, and it will be generally affordable, within ten years. We will be able to see people, documents and pictures wherever they happen to be, from anywhere we happen to be” (Makimoto & Manners 1997: 5 f.).
Heute, rund 20 Jahre später, scheint es, als sei aus der Fiktion Realität geworden (vgl. Müller 2016: 344). Möglich wurde dies nicht zuletzt aufgrund der stetigen Entwicklungen neuer Internet- und Kommunikationstechnologien und des Ausbaus von Transportwegen (vgl. z. B. Pries 2010: 14; Rainie & Wellman 2014). An Statistiken, die Aufschluss über die Anzahl Digitaler Nomaden liefern sowie eine Einordnung in heutige Mobilitätspraktiken ermöglichen könnten, mangelt es derzeit jedoch. Dies erscheint insofern wenig verwunderlich, als dass Digitale Nomaden oftmals mit Touristenvisa an ihre ausgewählten Destinationen reisen und somit keine entsprechende Identifikation möglich wird – sofern den Beschreibungen in Onlineartikeln Glaube geschenkt wird (vgl. z. B. Hamburger Abendblatt 2017). Anliegen in der vorliegenden Arbeit ist es daher, entlang einer empiriebasierten Exploration, Einblicke in die Lebenswelt Digitaler Nomaden zu erhalten und dadurch Aufschluss über deren Alltagspraktiken und Mobilitätsform zu erlangen. 6 Weitere Angaben, wie bspw. zu Unternehmensgrößen, Dauer der Geschäftsreisen etc., siehe
Verbund Deutsches Reisemanagment e. V. (2016).
4
1
Einleitung
Damit rücken gleichzeitig weitere Fragen in den Vordergrund. Diese lauten bspw. wie folgt: Welche Bedeutung wird der geographischen Mobilität aus Perspektive der Akteure zuteil? Welche Motivation treibt sie an? Welches Wertverständnis verbinden die Mobilen mit ihrer Onlinearbeit? Mit welchen Herausforderungen haben die Akteure zu kämpfen? Wie gestalten Digitale Nomaden ihre Freizeit? Oder welche Rolle wird sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität zuteil? Um diese nun relativ offen formulierten Fragen weiter konkretisieren zu können, wird zunächst der Überlegung gefolgt, dass davon ausgegangen werden kann, dass Digitale Nomaden im Kontext ihrer weltweiten Mobilität auf vielfältige Weise soziale Beziehungen knüpfen und diese zum Teil über weite geographische Distanzen hinweg aufrechterhalten. Denn mittlerweile wurde in bestehenden Untersuchungen vielfach gezeigt, dass heutige Beziehungen auch über Landesgrenzen hinweg fortwährenden Bestand haben können; dementsprechend sind diese transnational geprägt (vgl. z. B. Dahinden 2010a; Fassmann 2003; Fechter 2007; Herz 2014; Portes et al. 2002; Reisenauer 2014; Schellenberger 2011). Ob bzw. wie Digitalen Nomaden weltumspannende soziale Beziehungen unterhalten und ggf. intensivieren, gilt es im Folgenden zu explorieren. Dabei wird außerdem der Annahme gefolgt, dass Mobilität nicht in einem Vakuum, sondern stattdessen eingebunden in soziale Netzwerke erfolgt (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Cachia & Jariego 2018: 112; Massey et al. 1993: 448). Diese können sowohl in Gestalt eines (nationalstaatlichen) gesetzgebenden-, politischen- und ökonomischen Rahmens (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Pachucki & Breiger 2010; Wellman 1999b: 34) als auch in Form persönlicher sozialer Beziehungen eines Akteurs (vgl. Herz 2012: 133; Olivier 2013: 105) verstanden werden. Bedingt durch diese Einbindung können die Handlungspraktiken der Akteure wiederum strukturiert und damit verbundene Bedeutungszuschreibungen beeinflusst werden (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Faist et al. 2014: 59). Oder, um es in Anlehnung an die Worte von Ronald Burt zu formulieren: Bestimmte Handlungsmöglichkeiten werden erst durch bestimmte Strukturmuster ermöglicht (vgl. Burt 1997: 339). Zugleich wird jedoch auch angenommen, dass die Akteure durch ihr Handeln Einfluss auf die Ausgestaltung ihrer Netzwerkeingebundenheit nehmen können (vgl. Diaz-Bone 2008: 321 f.). Dementsprechend stellt sich auch für die vermutete mehrfach-mehrdirektionale Mobilität von Digitalen Nomaden (vgl. z. B. Hipp 2015) die Frage, durch welche Charakteristika deren Netzwerkeingebundenheit gekennzeichnet ist und inwiefern bzw. durch welche Strukturmuster Mobilität sowie eine Lebensführung als Digitaler Nomade im Allgemeinen ermöglicht oder gehemmt wird. Um diese Fragen beantworten zu können und dabei nicht auf einer metaphorischen Ebene verhaftet zu bleiben, wird für die vorliegende Arbeit das Konzept persönlicher Netzwerke herangezogen. Denn damit wird es möglich, das Forschungsinteresse unter einer relationalen Perspektive zu erfassen. Die soziale
1.1 Forschungsinteresse
5
Netzwerkanalyse, genauer der Ansatz ego-zentrierter Netzwerke, bietet hierfür das notwendige Handwerkszeug (vgl. Bilecen et al. 2018: 2). Darüber hinaus können die Beziehungsgeflechte so unabhängig nationalstaatlicher Grenzen (vgl. Herz & Olivier 2012b: 115) sowie hinsichtlich ihrer potentiellen Vielschichtigkeit7 untersucht werden (vgl. Rainie & Wellman 2014; Urry 2007). Mit den für die vorliegende Arbeit unter Berücksichtigung genommenen Aspekten und der entwickelten Forschungsperspektive wird zunächst ein Ausgangspunkt, der als sensibilisierendes Konzept für die Untersuchung der Alltagswelt Digitaler Nomaden dient, geschaffen. Es wird eine Loslösung von theoretischen Ansätzen, welche Sesshaftigkeit oder eine Untersuchung des geographischen Nahraums in den Fokus stellen, möglich; erscheinen doch beide Aspekte für Digitale Nomaden nicht als zutreffend. Gleichzeitig gelingt es, die persönliche Netzwerkeingebundenheit der Akteure im Kontext von deren Mobilität zu erfassen. Die Netzwerkverflechtungen werden dabei nicht als starre Gebilde verstanden, sondern stattdessen unter dynamischen Gesichtspunkten in die Analyseperspektive eingebunden. Interessant ist dies nicht nur mit Blick auf die Lebensführung Digitaler Nomaden, sondern auch deshalb, da Migration und andere Mobilitätsformen zwar mittlerweile vielfach netzwerkanalytisch untersucht wurden (vgl. z. B. Dahinden 2010a; Fuhse 2008; Gamper & Fenicia 2013; Herz 2014), die (kontinuierliche) Herstellung von Mobilität, ebenso durch Netzwerkverflechtungen erzeugte (Im)Mobilität, bislang jedoch nur wenig Aufmerksamkeit findet. Da es sich bei der Entwicklung der Mobilität Digitaler Nomaden um ein noch junges Phänomen handelt, erscheint ein solcher Ansatz umso wichtiger; sind es doch vermutlich die Akteure selbst, die ihren (Mobilitäts-)Weg ebnen müssen und erst im Nachhinein als potentielle Wegbereiter für Nachfolger gelten können. Um Einblicke in dieses Forschungsinteresse erhalten und Antworten auf die aufgeworfenen Fragen finden zu können, kommen in der vorliegenden Studie onlinebasiert arbeitende und geographisch mobile Personen selbst zu Wort. Hierfür wurden im Sommer 2015 während eines Feldaufenthalts in Südostasien Interviews mit Akteuren unterschiedlichster Nationalität und verschiedensten Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätserfahrungen geführt.
7 Der Ausdruck Vielschichtigkeit erlangt hier eine Doppeldeutigkeit. Denn es wird angenom-
men, dass Digitale Nomaden auf vielfältige Weise mobil sein können, bspw. geographisch ebenso wie onlinebasiert. Dieser Aspekt lässt sich auch auf die Gestalt sozialer Beziehungen übertragen. So kann ein sozialer Kontakt bspw. durch persönliche Besuche als auch durch onlinebasierte Telefonate oder Emails gepflegt werden.
6
1.2
1
Einleitung
Aufbau der Arbeit
Der Aufbau der vorliegenden Forschungsarbeit gliedert sich im Wesentlichen in vier Teile: (I) Die Ausarbeitung und Vorstellung der theoretischen Perspektive, (II) die Besprechung der methodischen Umsetzung, (III) die Ergebnisdarstellung und (IV) die Schlussdiskussion mit der Formulierung eines Forschungsausblicks. Für eine bessere Leseorientierung werden nachstehend nun die in den einzelnen Kapiteln zu besprechenden Inhalte kurz vorgestellt und skizziert. Kapitel 2 beginnt mit einer Reflexion darüber, inwiefern Mobilität insbesondere moderne Gesellschaften des globalen Nordens prägt. Dabei wird deutlich werden, dass es Mobilität heute keineswegs ausschließlich auf eine geographische Dimension zu reduzieren, sondern als vielschichtig zu begreifen gilt (vgl. Urry 2007). Dies trägt wiederum zu einem Perspektivwechsel bei, unter dem es möglich wird, Mobilität anstelle von Sesshaftigkeit – wie in vielen anderen Ansätzen praktiziert – zum Ausgangspunkt der Analyse zu machen. Dieser Aspekt ist insbesondere deshalb interessant, da eine lokale Verortung Digitaler Nomaden als wenig zuträglich für die Entwicklung der Forschungsperspektive erscheint. Daher wird im Anschluss die Einnahme einer transnationalen Perspektive besprochen. Diese erlaubt es, den Forscherblick auch auf etwaige Landesgrenzen überschreitende Praktiken der zu beforschenden Akteure zu richten. Wichtig ist dies deshalb, da – wie oben angesprochen – vermutet wird, dass Digitale Nomaden im Kontext ihrer u. U. weltweiten Mobilität auch in Aktivitäten und Beziehungsgeflechte, die über die Grenzen eines Nationalstaats hinausreichen, eingebunden sind. Um die Beschreibung der (transnationalen) Netzwerkstrukturen letztendlich auch konzeptionell greifbar machen zu können, wird in Kapitel 3 das Konzept persönlicher Netzwerke vorgestellt. Unter diesem Ansatz gelingt ein weiterer Perspektivwechsel, welcher den Forscherblick weg von einer Fokussierung auf die soziale Eingebundenheit eines Akteurs innerhalb eines geographischen Nahraums, hin zu einer potentiell weltweiten persönlichen Netzwerkeingebundenheit führt. Die analytische Umsetzung erfolgt dabei unter dem Konzept der sogenannten ego-zentrierten Netzwerke. Dessen, für die vorliegende Arbeit herangezogenen theoretischen Implikationen, basieren dabei sowohl auf Ansätzen der strukturalen Analyse als auch auf einer relationalen Forschungsperspektive. So gelingt es, netzwerkanalytische Betrachtungsweisen und qualitativ rekonstruktive Verfahren gleichermaßen in die Analyse einzubinden; Struktur und Agency wird in gleicher Weise Relevanz zugesprochen. D. h., dass einerseits berücksichtigt wird, inwiefern Netzwerkstrukturen die Handlungsmächtigkeit der Akteure und andererseits, wie die Mobilen durch ihre Aktivitäten ihre Netzwerkeingebundenheit beeinflussen. So wird die Frage nach dessen, wie eine Lebensführung als
1.2 Aufbau der Arbeit
7
Digitaler Nomade realisiert werden kann, von einer metaphorischen zu einer analytischen Ebene geführt. Nach Besprechung der theoretischen Überlegungen und Vorstellung der daraus gewonnenen theoretischen Perspektive, wird in Kapitel 4 ein Einordnungsversuch des Digitalen Nomaden in bestehende Literatur unternommen. Unter Bezugnahme auf historische Entwicklungen (insb. hinsichtlich der Veränderung von Arbeitsbedingungen und -anforderungen) und einer Betrachtung anderer mobiler Akteure, wird ein grundlegendes Verständnis zu den Voraussetzungen für die Herausbildung des Digitalen Nomadentums seit jüngster Vergangenheit geschaffen. Abschließend erfolgt in Anknüpfung an den so eruierten Kenntnisstand die Vorstellung der konkret ausformulierten Forschungsfragen. Im darauffolgenden Kapitel 5 erfolgt die Besprechung der methodischen Umsetzung des Forschungsanliegens. Dabei wird sich zeigen, dass sowohl die Entwicklung des Forschungsdesigns als auch die Wahl der Aufenthaltsorte in unterschiedlichen (Klein-)Städten Südostasiens für die Datenerhebung wesentlich durch die Felderfahrungen und Zugangsmöglichkeiten beeinflusst wurden. Hinsichtlich der Ausarbeitung des Erhebungsinstruments wurde ein Konzept entwickelt, das die Zusammenführung einer netzwerkanalytischen mit einer qualitativ rekonstruktiven Vorgehensweise im Rahmen der Datenerhebung berücksichtigt. Umsetzung fand der Ansatz in Form von narrativen Interviews in Kombination mit laptopbasierten ego-zentrierten Netzwerkkarten. Mit Hilfe der Software VennMaker8 konnte die persönliche Netzwerkeingebundenheit der zu interviewenden Akteure nicht nur visuell, sondern auch als Prozess in Form eines Films abgebildet werden. Für die anschließende Analyse wurde der Ansatz der Qualitativen Strukturalen Analyse herangezogen (vgl. Herz et al. 2015). Unter diesem wird eine Berücksichtigung von sowohl strukturalen als auch rekonstruktiven Facetten des Datenmaterials möglich. Den Kapitelabschluss bilden die Vorstellung des Datenmaterials sowie das dieser Arbeit zugrundeliegende Sample. Mit Kapitel 6 erfolgt der Beginn der empiriebasierten Ergebnisdarstellung. Dort werden zunächst entlang kontrastiver Fälle zwei Mobilitätshandlungsmodi, welche anhand des Datenmaterials eruiert wurden, vorgestellt. So wird einerseits aufgezeigt, unter welcher strukturalen Gestalt der persönlichen Netzwerke das Handeln Digitaler Nomaden realisiert wird und andererseits, inwiefern die Akteure ihre Netzwerkeingebundenheit im Kontext ihrer Mobilität selbst mitgestalten (müssen). Die Darstellung folgt dabei einem prozesshaften Charakter, entlang dessen sowohl die Entwicklung der jeweiligen Netzwerkgestalt als auch die entsprechende Mobilitätsgeschichte im Erzählverlauf abgebildet wird. Kapitel 7 dient anschließend dazu, die Facettenvielfalt des Digitalen Nomadentums im Allgemeinen sowie 8 Quelle
VennMaker: http://www.vennmaker.com.
8
1
Einleitung
der zuvor eruierten Modi zu verdichten. Dabei wird sich außerdem zeigen, dass, trotz unterschiedlicher Mobilitätserfahrungen und Ausgangslagen der befragten Akteure, sich wiederholende Struktur- und Handlungsmuster in den Interviews identifizieren lassen. Unter einer Querbetrachtung des erhobenen Materials und einer induktiv ausgerichteten Analyse, erwiesen sich insbesondere folgende Punkte als zentral: Brückenfunktionen einzelner Netzwerkkontakte (im netzwerkanalytischen Sprachjargon als Broker bezeichnet) der befragten Akteure im Kontext derer Interessensentwicklung am Thema Digitales Nomadentum sowie der konkreten Umsetzung Landesgrenzen überschreitender Mobilitätsschritte (s. Abschn. 7.1), das Aufsuchen von sog. Digitalen Nomaden-Hubs; (s. Abschn. 7.2), die Herstellung von Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen (s. Abschn. 7.3), die Rolle des Lokalen sowie die Frage nach Zugehörigkeit (s. Abschn. 7.4) und die Rolle von onlinebasierter Vernetzung als weitere Dimension von Netzwerkeingebundenheit und Mobilität (s. Abschn. 7.5). Jedes der Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung, in der die jeweiligen Netzwerkmuster und -mechanismen sowie Sinn- und Bedeutungszuschreibungen besprochen werden. Zur Abrundung des bis dato vorgestellten Materials wird unter Abschnitt 7.6 eine Zwischenreflexion vorgenommen. Diese dient insb. dazu, etwaige aus dem Material hervorgehende (Analyse-)Grenzen anzusprechen und zugleich zu erklären. Dabei wird sich zeigen, dass diese u. a. mit der noch jungen Entwicklung des Phänomens des Digitalen Nomadentums in Zusammenhang stehen. In Kapitel 8 wird das Datenmaterial zunächst unter einer kontextualisierenden Rahmung, wie sie bspw. durch gesetzliche oder politische Bestimmungen eines Nationalstaats erzeugt wird, beleuchtet. So kann aufgezeigt werden, wie eine mobile Lebensführung als Digitaler Nomade erst möglich wird sowie welche Voraussetzungen die Akteure selbst mitbringen müssen. Anschließend wird besprochen, welche Bedeutung die Befragten dem Begriff bzw. Konzept des Digitalen Nomaden, unter Berücksichtigung des aktuell in Medienberichten kursierenden diskursiven Bildes, beimessen. Eine resümierende Betrachtung und Diskussion der Ergebnisse erfolgt schließlich in Kapitel 9. Unter Einbezug der zentralen Charakteristika Digitaler Nomaden bzw. deren Handlungspraktiken wird zusammenfassend dargestellt, wie diese eine mobile Lebensführung – wie sie von den für die vorliegende Arbeit Befragten praktiziert wird9 – umsetzen. Auch wenn zunächst der Eindruck entstehen kann, als würden Digitale Nomaden eine von äußeren Einflüssen völlig freie Form von Mobilität realisieren, zeigt die Analyse doch, dass diese stets in (transnationale) soziale Beziehungsgeflechte eingebunden sind.
9 Da
es sich um eine qualitativ ausgerichtete Forschungsarbeit handelt, wird kein Anspruch auf Repräsentativität erhoben.
1.2 Aufbau der Arbeit
9
Unter der Entwicklung eines bestimmten Werteverständnisses gegenüber Mobilität, (Online-)Arbeit und allgemeinen Lebensführungsvorstellungen machen sich die Akteure die sie umgebenden sozialen Netzwerke zu Nutze und schaffen sich so Orientierungspunkte, die aus deren Perspektive nicht (immer) mit nationalstaatlichen Bezügen in Verbindung zu setzen sind. Geschlossen wird die Arbeit mit einem unter Kapitel 10 formulierten Ausblick zu weiteren Forschungsbedarfen.
Teil I Theoretische Perspektive und Forschungsinteresse
In diesem Teil der Arbeit erfolgt, wie angekündigt, eine Besprechung und Vorstellung der für das Untersuchungsanliegen erarbeiteten Forschungsperspektive. Diese dient sowohl für die Ausgestaltung des Forschungsdesigns als auch für die spätere Analyse als sensibilisierendes Konzept. Zentrales Element bildet dabei die Zusammenführung eines Verständnisses von Mobilität im Plural mit einer transnationalen Perspektive und einem Forscherblick, der die persönliche Netzwerkeingebundenheit eines Akteurs in Augenschein nimmt. Mit dem so gewonnenen Konzept gelingt es, die Herausbildung und Herstellung von Mobilitätshandlungspraktiken, wie sie von Digitalen Nomaden verfolgt zu werden scheinen, konzeptionell greifbar zu machen. Geprägt ist die Forschungsperspektive dabei insbesondere von einer qualitativ explorativen Haltung – so kann dem noch jungen Phänomen mit der notwendigen Offenheit begegnet werden. Abschließend wird ein Einordnungsversuch des Digitalen Nomaden in bestehende Literatur sowie eine Konkretisierung der Forschungsfragen vorgenommen.
2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
Mobilität zählt mittlerweile zu einem der Schlüsselbegriffe des 21sten Jahrhunderts und kann als grundlegendes Charakteristikum moderner Gesellschaften verstanden werden (vgl. Hannam et al. 2006: 1). Salazar schreibt hinsichtlich dessen: „In many parts of the world, mobility is considered to be an important way of belonging to today’s society“ (Salazar 2017: 5). Inwiefern diese Aussage auch auf die Lebenswelt Digitaler Nomaden zutrifft, gilt es im Folgenden noch zu untersuchen. Festgehalten werden kann zunächst lediglich, dass Digitalen Nomaden eine rege geographische Mobilitätsbewegung attestiert wird (vgl. Hipp 2015; Müller 2016: 344). Darüber hinaus ist aufgrund ihrer Arbeitstätigkeit Ähnliches auch für die Ebene onlinebasierter Mobilität anzunehmen; kann doch vermutet werden, dass diese – bildlich gesprochen – durch digitale Räume gleiten (vgl. Liegl 2011; Sørensen 2002) (s. Abschn. 2.1). Wie in der vorliegenden Arbeit Mobilität daher in ihrer facettenreichen Gestalt begriffen wird, wird in den nachstehenden Ausführungen in diesem Kapitel besprochen (s. Abschn. 2.1.1). Anschließend wird eine Reflexion zu bestehenden Forschungsarbeiten verschiedener Mobilitätsaspekte und den darin verfolgten theoretischen Ansätzen unternommen. Daraus ableitend wird wiederum ein für die vorliegende Arbeit vorgenommener Perspektivwechsel besprochen. Unter diesem wird Mobilität – und nicht wie oftmals Sesshaftigkeit – zum Ausgangspunkt der Überlegungen (s. Abschn. 2.1.2). Im Anschließenden Subkapitel (s. Abschn. 2.2) wird besprochen, wie unter einer transnationalen Forschungsperspektive Landesgrenzen überschreitende Praktiken und Beziehungen – ermöglicht, bedingt und erzeugt durch die vielfältigen Mobilitätsformen – der zu befragenden Akteure in die Analyse eingebunden werden können (s. Abschn. 2.2.1). Konzeptionell konkretisiert wird diese Überlegung dabei unter einer Hinführung zu einem Netzwerkverständnis von Landesgrenzen überschreitenden Verflechtungen (s. Abschn. 2.2.2). Abgerundet wird das Kapitel mit einer resümierenden Darstellung, unter der die beiden Ansätze – Mobilität(en) und eine transnationale Perspektive – zusammengeführt © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_2
13
14
2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
werden. Außerdem wird besprochen, weshalb in der vorliegenden Arbeit mit Bezug auf den Forschungsgegenstand dafür plädiert wird, von einer transnationalen Mobilität – und nicht wie oftmals zu lesen von einer transnationalen Migration – zu sprechen (s. Abschn. 2.3).
2.1
Mobilität(en) revisited
Eine Auseinandersetzung mit Mobilität als analytische Kategorie ist in den Sozialwissenschaften zunächst nicht als neu zu verzeichnen (vgl. Zelinsky 1971 in Cachia 2013: 34 f.; Zelinsky 1971 in Faist 2013b: 1638). Hervorzuheben gilt es jedoch, dass deren Rolle lange Zeit lediglich als trivial erachtet wurde. So schreiben bspw. Sheller und Urry: „Social science has largely ignored or trivialised the importance of the systematic movements of people for work and family life, for leisure and pleasure, and for politics and protest“ (2006: 208). Als Reaktion sowie gleichermaßen als Kritik an dieser wissenschaftlichen Ausrichtung entwickelte sich in den 1990er Jahren schließlich der sogenannte „mobility turn“ (Hannam et al. 2006; Sheller & Urry 2006). Der damit aufstrebende Perspektivwechsel führte wiederum zu einer Disziplinen übergreifenden Forschungsagenda (vgl. Cresswell 2006: ix; Salazar 2016: 2 f.), welche auch für die vorliegende Arbeit von Interesse ist. Dementsprechend wird das in dieser gesehene Potential im Folgenden vorgestellt.
2.1.1
Mobilitätsparadigma
„It is clear […] that mobility is central to what it is to be modern. A modern citizen is, among other things, a mobile citizen“ (Cresswell 2006: 20). Mit diesem Satz beschreibt Cresswell eine Facette, die längst zum Charakteristikum moderner Gesellschaften geworden ist (vgl. Cresswell & Merriman 2011b; Faist 2013b: 1637; Lash & Urry 1994: 252; Sheller & Urry 2006: 207). Möglich wurde diese Entwicklung nicht zuletzt aufgrund des fortwährenden Ausbaus im Verkehrswesen (Straßen-, Schienen- und Flugverkehr). Durch preiswerte bzw. für eine mittlerweile breite Masse finanziell erschwingliche Transportmittel1 (vgl. Pries 2010: 14) wird physische Mobilität über weite geographische Distanzen hinweg möglich (vgl. 1 Inwiefern
von finanziell erschwinglichen Transportmitteln gesprochen werden kann, hängt immer auch von dem sozio-ökonomischen Status einer Person ab. Was bspw. von mobilen Eliten als kostengünstig angesehen wird (vgl. z. B. Elliott 2014), kann bspw. das Budget eines Backpackerreisenden übersteigen (vgl. z. B. Smith et al. 2010).
2.1 Mobilität(en) revisited
15
Mau 2007: 44). Ebenso leisten Fortschritte im Bereich der Internet- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) – neben Radio, Fernsehen, Zeitschriften und Telefon – einen wesentlichen Beitrag zur Ausdehnung des „geographischen Bezugsrahmen[s] menschlichen Handelns“ (Pries 2008: 124). Im Kontext dieser Entwicklungen sprechen Rainie und Wellman auch von der Herausbildung einer sogenannten „Triple Revolution“ (2014: 1); darunter subsumieren sie drei Entwicklungsstränge, die sie als „Internet Revolution“, „Mobile Revolution“ und „Social Network Revolution“ (ebd.) bezeichnen. Um ein besseres Verständnis für die Herausbildung der heutigen Handlungspraktiken Digitaler Nomaden (vgl. Makimoto 2013: 41) entwickeln können, werden die besagten Entwicklungslinien in Kürze skizziert. Unter Ersterem, der „Internet Revolution“ (Rainie & Wellman 2014: 59), thematisieren die beiden Autoren zunächst die technologischen Entwicklungen von persönlichen Computern (kurz PCs), deren zunehmende Leistungsfähigkeit und Personalisierung. Mit benutzerfreundlicheren Designs sowie login- und passwortgeschützten Zugangsmöglichkeiten findet der PC Einzug in private Haushalte2 (vgl. ebd.: 65). Diese bieten in Kombination mit einer Internetverbindung eine individuelle Informations- und Recherchequelle oder Kommunikationsmöglichkeit (vgl. ebd. 2014: 60 u. 74). Wie bereits von Pries attestiert (vgl. 2008: 124), sehen auch Rainie und Wellman in diesem Entwicklungsstrang eine grundlegende Voraussetzung für die Veränderung der Handlungsspielräume der Akteure (vgl. Rainie & Wellman 2014: 80). Für die zweite Entwicklungslinie, die „Mobile Revolution“ (ebd.: 81), benennen die beiden Autoren insbesondere den Wandel von schnurlosen Telefonen hin zu sog. Smartphones und anderen portablen Geräten als relevant. Auch diese werden immer leistungsfähiger und vielseitiger einsetzbar. So verfügen diese heute neben der Funktion als Telefon bspw. auch über onlinebasierte Vernetzungsfunktionen, GPS-Koordinatensysteme, Kamera-, Video-, Musik- und Spielefunktionen oder Textnachrichtendienste. So wird es für den Einzelnen möglich, unentwegt auf vielfältige Kommunikations- und Informationskanäle zurückgreifen zu können (vgl. ebd.: 89). Darüber hinaus verläuft Kommunikation heute asynchron. D. h., dass für die Überbringung einer Information der Adressierte nunmehr nicht zwingend persönlich erreichbar sein muss; Nachrichtenspeicher übernehmen eine Aufbewahrungsfunktion (vgl. ebd.: 90 u. 96). Als zentral für den dritten Entwicklungsstrang, die „Social Network Revolution“ (ebd.: 21), sehen Rainie und Wellman sich verändernde Vernetzungspraktiken der Akteure. Als Überlegung hinter ihrer These werfen sie folgende Frage auf: „If social networks have long been with us, why 2 Rainie
und Wellman beziehen sich in ihrer Aussage dabei auf amerikanische Haushalte. In den frühen 1980er Jahren sind es rund 10 % der Haushalte, die über einen PC verfügen. In den 1990er Jahren werden Computer Vernetzungsfähig (vgl. Rainie & Wellman 2014: 60 f.).
16
2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
have we become more networked recently?“ (ebd.). Als zentralen Grund führen sie hinsichtlich dessen zunächst eine geographisch weitreichendere Konnektivität an (vgl. ebd.: 23–25, 27). Ergänzend thematisieren sie außerdem einen Wandel sozialer Beziehungskonstellationen. Exemplarisch sprechen sie dabei von kleiner werdenden Familien, der Berufstätigkeit von Frauen oder der Ablösung von verbindlichen ehrenamtlichen Aktivitäten durch ad hoc Veranstaltungen. Der Einzelne ist nunmehr nicht in Gruppen, sondern in persönliche Netzwerke eingebunden, so Rainie und Wellman (vgl. ebd.: 27–31) (s. hierzu noch ausführlicher in Abschn. 3.1). Was Makimoto und Manners 1997 noch als prophezeiend für die Zukunft beschrieben haben (s. Kap. 1), gilt heute folglich als real (vgl. Makimoto 2013: 41). Weiter bildet sich so außerdem ab, inwiefern neue Konvergenzen zwischen bspw. der physischen Bewegung von Personen und Transportmitteln, onlinebasierter Kommunikation und Tracking-Technologien entstehen können (vgl. Sheller 2011: 1). Mobilität wird facettenreicher und vielschichtig. Dass dieser Umstand mittlerweile auch in der Forschung anerkannt ist, zeigt sich in Arbeiten, in welchen sich Wissenschaftler bspw. auf die Untersuchung von Mobilität in Zusammenhang mit Distanz, Geschwindigkeit oder Rhythmus konzentrieren (vgl. Cachia & Jariego 2018: 111; Cresswell & Merriman 2011b). Dass Mobilität heute jedoch weitaus mehr als eine (bloße) physische Fortbewegung sein kann, bringt Sheller in ihrer nächsten Aussage zum Ausdruck: „[In] contemporary times, the world is arguably moving differently and in more dynamic, complex and trackable ways than ever before“ (Sheller 2011: 1). All die oben beschriebenen Entwicklungen und das aufstrebende wissenschaftliche Interesse3 an Mobilität(sfacetten) als Analysekategorie haben schließlich zu einem grundlegenden Perspektivwechsel innerhalb der gegenwärtigen Forschungslandschaft beigetragen (vgl. Salazar 2016: 3; Sheller & Urry 2006: 208). Sheller und Urry sprechen dabei von der Herausbildung eines „new mobilities paradigm“ (2006). Mobilities, zu Deutsch: Mobilitäten, steht dabei für den Plural der vielzähligen Facetten, Formen und Praktiken von Mobilität. Interessant ist dabei insbesondere, dass unter der Perspektive des Paradigmas die vor der Jahrtausendwende noch wenig beachtete Rolle von Distanz sowie deren Überwindung als elementarer Bestandteil sozialen Lebens Eingang in Forschungsarbeiten findet. Die beiden Autoren reagieren damit kritisch auf die dominierende Annahme, dass Sesshaftigkeit als Normalität zu betrachten sei – „Sedentarism treats as normal stability, meaning, and place, and treats as abnormal distance, change, and placelessness“ (Sheller & Urry 2006: 208). Einen fruchtbaren Ansatz für den wissenschaftlichen Perspektivwechsel sehen Sheller und Urry hingegen in dem theoretischen Konzept „Flüchtige Moderne“ (Orig. 3 Insbesondere in Forschungsbereichen der Anthropologie, Humangeographie und Soziologie
(vgl. Caletrío 2012: 207; Sheller & Urry 2006).
2.1 Mobilität(en) revisited
17
„liquid modernity“) von Zygmunt Bauman (2003) (vgl. Sheller & Urry 2006: 210). Resümierend schreiben sie: “Thus mobilities need to be examined in their fluid interdependence and not in their separate spheres (such as driving, travelling virtually, writing letters, flying, and walking)” (Sheller & Urry 2006: 212).
Unter der Perspektive des Mobilitätenparadigmas wird also nicht nur die Anerkennung vielfältiger Mobilitätsformen und -facetten, sondern auch eine Berücksichtigung von deren möglichen Interdependenz unterstrichen. Ein anschauliches Beispiel für die Vielschichtigkeit von Mobilität wird bspw. von Sørensen wie folgt beschrieben: „When you and I talk on our mobile phone, we are also mobile in the sense that our bodies can move freely whilst we converse […]“ (Sørensen 2002: 1). Urry (2007) fasst das, was Mobilität(en) unter der Perspektive des Paradigmas ausmacht, entlang von fünf Mobilitätsformen zusammen: • Die erste Form benennt er als (1) „physical travel“ und bezeichnet damit die physische Mobilität von Personen; bspw. zu arbeits-, freizeit- oder migrationsbedingten Zwecken. Er argumentiert, dass diese Form der Mobilität durch die Notwendigkeit des physischen Aufenthalts an einem Ort bedingt ist. • Die zweite Form (2), „physical movement“, umfasst den Transport von Objekten aller Art. Dadurch gelangen diese zu Konsumenten, Herstellern oder Händlern und es wird ein Zugriff auf die Objekte am jeweiligen Aufenthaltsort der Adressierten möglich. • Mit der dritten Mobilitätsform (3), „imaginative travel“, wird auf eine Mobilität mittels Erinnerungen, Vorstellungen, Texten oder Film- und Fernsehausstrahlungen Bezug genommen. So wird es Interessierten bspw. möglich, Veranstaltungen (wie Fußballspiele oder Auslandsreisen) am heimischen TV-Bildschirm zu verfolgen, ohne selbst physisch mobil werden zu müssen. • Viertens spricht Urry von (4) „virtual travel“. Diese Mobilitätsform führt er insb. auf die Entwicklung neuer Technologien zurück. Mobilität wird dabei im virtuellen Raum durch onlinebasierte Vernetzung realisiert. Einkäufe, Banküberweisungen oder gemeinschaftliche Textbearbeitungen können nunmehr überall dort ausgeführt werden, wo die Vernetzung eines Computers mit einer Internetverbindung möglich ist (s. hierzu auch die voranstehenden Ausführungen von Rainie und Wellman 2014). • Die fünfte Mobilitätsform (5), „communicative travel“, umfasst alle Formen des unmittelbaren Austauschs von Person zu Person; hierzu zählen Brief-,
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2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
Postkarten-, Telefon-, Faxgerät-, E-Mail-, Kurznachrichten- oder Videointeraktion. So wird bspw. durch das Schreiben und Versenden einer Email Kommunikation durch nur einen Klick möglich (vgl. Larsen et al. 2006: 47–49; Sheller & Urry 2006; Urry 2002; Urry 2007: 47). Diese, von Urry erarbeiteten, Mobilitätsformen und -facetten dienen auch in der vorliegenden Arbeit als Orientierungshilfe; primär, um eine Fokussierung auf einzelne Mobilitätsaspekte aufbrechen und stattdessen mögliche Interdependenzen (vgl. Urry 2007: 48) unter Berücksichtigung nehmen zu können. Kritisch gilt es jedoch noch anzumerken, dass es vorschnell wäre anzunehmen, dass mit dem Mobilitätsparadigma ein geschlossenes Theoriegehäuse zur Verfügung gestellt werde. Stattdessen weist Sheller darauf hin: „The new mobilities paradigm suggests a set of questions, theories, and methodologies rather than a totalising description of the contemporary world“ (2011: 2). Dieser Auffassung wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt.
2.1.2
Zum Dualismus von Mobilität und Sesshaftigkeit
Nachdem – wie oben angesprochen – unter der Perspektive des Mobilitätsparadigmas die Annahme von Sesshaftigkeit als Normalität (vgl. Sheller & Urry 2006: 208) unter Kritik geriet, lässt sich beobachten, dass zunehmend mehr Arbeiten publiziert werden, die sich den unterschiedlichen Facetten von Mobilität annehmen. Diese werden im Folgenden einer kurzen Reflexion unterzogen und in Form eines Überblicks dargestellt. Auf Basis dessen werden außerdem Überlegungen zur konzeptionellen Anschlussfähigkeit der Mobilitäts- und Handlungspraktiken Digitaler Nomaden angestellt. Unter dem Gesichtspunkt geographischer Mobilität bildet sich entlang der Literatur mittlerweile ab, dass zunehmend häufiger das, was zwischen zwei geographischen Punkten liegt, in den Blick genommen wird. Wichtig sind diese Beiträge laut Cresswell insbesondere deshalb, da: „The movements of people (and things) all over the world and at all scales are, after all, full of meaning. They are also products and producers of power“ (Cresswell 2006: 2). Die Relevanz dieser Aussage wird bspw. dann denkbar, wenn Mobilität in Zusammenhang mit dem Zugang zu Bildungseinrichtungen oder Arbeitsplätzen steht. Vernachlässigt wird dieses Argument jedoch häufig in Arbeiten aus dem Bereich der Verkehrsforschung. Denn durch die dort dominierende Annahme, dass Mobilität stets zweckorientiert und primär routiniert sei (z. B. Pendler- und Businessmobilität), rücken soziale Dimensionen in den Hintergrund (vgl. Larsen et al. 2006: 3). Forschungsarbeiten, die sich dem besagten Dazwischen hingegen gezielt annehmen und so dem Vorwurf, Mobilität als „black
2.1 Mobilität(en) revisited
19
box“ (Hannam et al. 2006: 4; Larsen et al. 2006: 3; Sheller & Urry 2006: 208) zu behandeln, entgegenwirken, befassen sich dabei mit Themen zu Bewegungspraktiken4 , wie bspw. Fahren (vgl. Laurier 2011), Rennen (vgl. Bale 2011) oder Tanzen (vgl. Cresswell 2006: 123–145; Dewsbury 2011). In anderen Arbeiten richtet sich der Fokus hingegen auf Knotenpunkte, die Teil des Mobilitätsgeschehens sind. Hierzu zählen bspw. Straßen (vgl. Merriman 2011), Flughäfen (vgl. Adey 2011) oder Brücken (vgl. Strohmayer 2011). Diesen Orten wird eine eigene Grammatik attestiert, da sie Mobilität in bestimmte Bahnen lenkt (vgl. Cresswell & Merriman 2011a: 7). Mit einer Anerkennung dieser Elemente als relevante zu beforschende Bestandteile von Mobilität wird es nun außerdem möglich, weitere Fragen, wie bspw. nach den von den Akteuren verfolgten Mobilitätspraktiken, damit verbundene Bedeutungszuschreibungen oder der Rolle von Verkehrsknotenpunkten, aufzuwerfen. So wird erreicht, dass bspw. geographische Mobilität nicht als tote Zeit betrachtet wird. Cresswell erklärt dies bspw. wie folgt: „We do not want to leave the commuter listening to the radio as a marginal curiosity. Rather we want to make her central to our interests by asking exactly what happens on the move“ (2011a: 4). Unter dieser Perspektive werden Mobilität und körperliche Erfahrungen als untrennbar voneinander betrachtet. „Our feet may hurt as we walk, the wind might blow in our face, we may not be able to sleep as we fly from New York to London“ (Cresswell 2006: 4). Inwiefern bspw. einzelne Transportmittel oder damit in Zusammenhang stehende Reisepraktiken für Digitale Nomaden als relevant gelten, gilt es entlang der Empirie noch zu explorieren. Dabei stellt sich jedoch zugleich die Frage, ob die Fokussierung auf eine selektiv ausgewählte Mobilitätsfacette für das vorliegende Anliegen zielführend wäre. Um die potentiell vielfältigen Mobilitätscharakteristika der zu Interviewenden erfassen zu können, fiel die Entscheidung schließlich gegen eine solche Vorauswahl (s. hierzu auch Abschn. 5.1.2). Festgehalten werden soll jedoch, dass die erwähnten bestehenden Studien zeigen, dass bereits viel unternommen wird, um der besagten Black Box zum Thema Mobilität entgegenzutreten. Als auffällig erweist sich entlang der Literaturdurchsicht dennoch, dass häufig
4 Für
eine ausführlichere Darstellung siehe bspw. Tim Cresswells und Peter Merrimans Herausgeberband „Geographies of Mobilities: Practices, Spaces, Subjects“ (2011b). In diesem stellen sie unterschiedliche Formen und Facetten von Mobilität in den Mittelpunkt und liefern damit vielfältige Einblicke in verschiedene historische sowie gegenwärtige politische-, kulturelle-, und ästhetische Aspekte von Mobilität. Außerdem werden darin neben Mobilitätsformen, wie bspw. Laufen als körperliche Aktivität, der Laufende als Subjekt betrachtet (vgl. Lorimer 2011: 19). Weiter zeigen sie in sogenannten „progress report[s]“ (Cresswell 2012; 2014; Merriman 2015; 2017) Einblicke in Mobilitätselemente, wie Ankunft, Abfahrt oder Stillstand.
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2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
einzelne Elemente von Mobilität (bspw. Mobilitätspraktiken oder -knotenpunkte) isoliert betrachtet werden. In anderen Forschungsarbeiten, primär aus dem Bereich der Soziologie, Kulturwissenschaft oder Anthropologie, zeigt sich hingegen, dass zunehmend mehr Lebensformen, die durch eine bestimmte Form von geographischer Mobilität charakterisiert sind, in den Fokus rücken. Hierzu zählen bspw. die Lebensweisen von Wochenendpendlern (vgl. Weiske et al. 2009), Personen in einer Fernbeziehung (vgl. Reuschke 2010), Zweitwohnsitzbesitzer oder saisonale Pendler (vgl. Schellenberger 2011) ebenso wie Ruhestandsmigranten oder sogenannte Lebensstil Migranten5 (vgl. Benson 2016; Gustafson 2016; Korpela 2016; O’Reilly 2014a) bzw. saisonale Lebensstil Migranten (bspw. Snowboarder in Wintersport Resorts) (vgl. Thorpe 2012). Auch wenn die hier aufgeführten Personengruppen zunächst als relativ heterogen erscheinen, fällt auf, dass ihnen ihr relativer Wohlstand6 als grundlegendes Charakteristikum gemein ist. Durch diesen wird es ihnen möglich, persönliche Vorstellungen von Lebensqualität in den Vordergrund zu stellen. Gleichzeitig fällt dabei auf, dass die Probanden bei ihrer Suche nach „a better way of life“ (Benson & Osbaldiston 2016; O’Reilly & Benson 2016) die Ankunft an einem konkreten Ort ins Zentrum ihrer Argumentation rücken. Ortsgebunde Kriterien, wie bspw. milde klimatische Bedingungen (vgl. Gustafson 2016: 72), sind dabei ausschlaggebend für die Ortsauswahl und tragen oftmals zu einer längerfristigen Ansiedlung bei. Dass die Auswahl und der Aufenthalt an konkreten Orten auch für Digitale Nomaden eine relevante Rolle spielen kann, ist durchaus denkbar. Nach welchen Kriterien eine solche Auswahl erfolgt, ist bislang jedoch unbeantwortet. Daher erscheint auch für die vorliegende Arbeit eine Reduktion des Forschungsfokus auf einen einzelnen Ort als vorschnell. Wird nun der Blick auf die konzeptionelle Ebene der benannten Studien gerichtet, zeigt sich weiter, dass dort meist auf Perspektiven zurückgegriffen wird, welche 5 Für
eine ausführlichere Darstellung siehe bspw. Michaela Bensons und Karen O’Reillys Herausgeberband „Lifestyle Migration. Expectations, Aspirations and Experiences“ (2016a). In diesem werden unterschiedliche Charakteristika von Lebensstil Migration beleuchtet und unter dem gleichnamigen Konzept entsprechende Analysen vorgenommen. Dabei wird deutlich, dass es Lebensstil Migration nicht als starre Kategorie, sondern als facettenreiches Phänomen zu betrachten gilt. 6 Von einem relativen und nicht absoluten Wohlstand wird deshalb gesprochen, da einige der jeweils Beforschten für die Finanzierung ihrer Lebensführung auch nach dem Landeswechsel einer Arbeitstätigkeit (neben Rentenbezügen oder Ersparnissen) nachgehen. Hierzu zählen die Gründung eines eigenen Geschäfts, Tätigkeiten im Niedriglohnsektor oder die Rückreise in das jeweilige Herkunftsland, um dort für einige Monate zu arbeiten. Wirklich reich sind die Wenigsten (vgl. Benson & O’Reilly 2016b: 29; O’Reilly 2014a: 1 u. 5; O’Reilly & Benson 2016: 4).
2.1 Mobilität(en) revisited
21
an die Ansätze der Multilokalitätsforschung erinnern bzw. auf diese zurückzuführen sind. Unter dem Begriff Multilokalität7 wird im Allgemeinen „Vita activa an mehreren Orten“ (Rolshoven 2006: 181 in Petzold 2010: 235) verstanden; soll heißen: die Aufteilung des Lebensalltags auf mehrere Orte. Auch wenn dieses Konzept auf den ersten Blick als vielfältig anwendbar erscheint, haben sich in der Literatur bereits kritische Stimmen breitgemacht. So argumentiert bspw. Petzold, dass Multilokalität „zum einen eher aus der Wohnperspektive, zum anderen eher aus der Mobilitätsperspektive behandelt wird“ (Petzold 2010: 240) und Nadler bemerkt, dass sich in „traditionalistisch orientierten Denkschulen“ räumliche Mobilität und räumliche Verortung „anscheinend gegenseitig aus[schliessen]“ (Nadler 2013: 55). Diesen Kritikpunkten wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt; erscheint eine Entweder-oder-Perspektive doch wenig zielführend. Dementsprechend wird mit Blick auf das Forschungsanliegen dafür plädiert, die Analyse weder auf eine einzelne Mobilitätspraktik zu beschränken noch den Forschungsfokus auf einen deduktiv ausgewählten Ort zu kanalisieren. Stattdessen wird sowohl Mobilität im Plural als auch die Möglichkeit des Einbezugs mehrerer Orte in der Gestaltung der Forschungsperspektive berücksichtigt. Abschließend möchte ich noch auf einen Aspekt verweisen, der dazu beiträgt, die Herausbildung der Handlungspraktiken Digitaler Nomaden sowie damit in Zusammenhang stehende Bedeutungszuschreibungen zu kontextualisieren. Passend hierzu bemerkt Cresswell: „We cannot understand new mobilities, then, without understanding old mobilities“ (2010: 29) (s. hierzu auch Abschn. 4.1.1). Dementsprechend gilt es, den Wert von Mobilität immer auch unter den Gesichtspunkten historischer Verläufe zu beleuchten: “The idea of mobility as liberty and freedom would have made little sense in feudal society. In the early modern period, as cities grew and people were displaced from the land, the practice and ideology of mobility was transformed. New mobile figures began to inhabit the landscapes of Europe. Mobility as a right accompanied the rise of the figure of the modern citizen who was granted the right to move at will within the bounds of the nationstate” (Cresswell 2006: 15, Herv. im Orig. nicht übernommen).
Mobilität ist somit immer auch eine Frage politischer Regularien und ist in Zusammenhang mit Hierarchien, Ungleichheiten und Machtverhältnissen zu verstehen (vgl. Cresswell 2010: 21 f.; Croucher 2012; Sheller 2011: 2). Ein empirisches Beispiel bietet hierfür exemplarisch die Arbeit von Elliott (2014) zu globalen Eliten. In dieser zeigt er, inwiefern, in Abhängigkeit von finanziellen Voraussetzungen, 7 Oftmals
synonym zu multilokalem Wohnen oder residenzieller Multilokalität verwendet (vgl. Hilti 2011: 31 f.).
22
2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
Mobilität gelingen kann und dadurch Machtunterschiede produziert werden (vgl. ebd.: 24). Mobilität wird dabei zu einer Ressource, welche wiederum Einfluss auf andere Aktivitäten nehmen kann8 . Darüber hinaus bildet sich so ab, dass Mobilität(en) in weitreichende Strukturen – sei es hinsichtlich historischer-, ökonomischeroder politischer Perspektive – eingebunden und folglich nicht isoliert ist (vgl. Bilecen et al. 2018: 1). „Mobilities need to be understood in relation to each other“ (Cresswell 2006: 9). Basierend auf den in diesem Kapitel kurz vorgestellten Studien, den dazu angestellten Überlegungen sowie den daraus gewonnenen Erkenntnissen, wird für die Ausarbeitung des Forschungsansatzes in dieser Arbeit das Ziel verfolgt, Mobilität als grundlegendes Element in die Perspektive einzuflechten. Darüber hinaus soll diese eine entsprechende Kontextualisierung erfahren und der Forscherblick von der Vorstellung eines geographischen Ortes als Ausgangspunkt der Analyse gelöst werden.
2.2
Transnationale Forschungsperspektive
Unter einer Intensivierung von Mobilität(en) und – wie voranstehend besprochen – dem Ausbau von Transport- und Kommunikationsinfrastrukturen (vgl. Pries 2010: 14; Rainie & Wellman 2014: 1) ist heute nicht nur die Überwindung weiter geographischer Distanzen, sondern auch die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte über Landesgrenzen hinweg auf vielfältige Weise möglich (vgl. z. B. Dahinden 2010a; Herz 2014; Kreutzer & Roth 2006; Nowicka 2006; Reisenauer 2014; Schellenberger 2011). Entlang dieser Beobachtung hat sich seit den 1990er Jahren eine Perspektive entwickelt, die in der Wissenschaft als transnationaler Forschungsansatz bekannt ist (vgl. Glick Schiller et al. 1992). Unter diesem geraten Phänomene, Entwicklungen oder Handlungspraktiken von Akteuren in den Fokus, die sich quer zu nationalstaatlichen Grenzziehungen aufspannen (vgl. Pries 2010: 9). Anders als bspw. in der Migrationsforschung, die oftmals unter einer Integrationsperspektive Konzepte wie Segregation oder Assimilation, also die Absonderung oder Anpassung von Migrierten gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, diskutiert (vgl. Faist et al. 2014: 15; Han 2009: 60; Mau 2007: 43; Reisenauer 2014: 13), macht unter einer transnationalen Perspektive der Forscherblick nicht an Landesgrenzen halt. Da auch für Digitale Nomaden aufgrund ihrer potentiell weltweiten Mobilität angenommen wird, dass 8 Verfügt
ein Haushalt bspw. über kein Auto, wird der Weg zur Arbeit durch öffentliche Verkehrsmittel bestimmt. Ist ein Solches jedoch nicht zugänglich, ist der Arbeitsweg gefährdet – soziale Ungleichheit entsteht (vgl. Larsen et al. 2006: 53 f.).
2.2 Transnationale Forschungsperspektive
23
diese in transnationale Beziehungsgeflechte involviert sind, werden im Folgenden die grundlegenden Charakteristika des Transnationalismusansatzes aufgezeigt und besprochen, inwiefern dieser für das vorliegende Forschungsanliegen von Nutzen ist.
2.2.1
Transnationalismus als Konzept
In den Sozialwissenschaften wurde lange Zeit zum Thema Migration eine Diskussion geführt, die von der Vorstellung eines bipolar ausgerichteten Wanderungsmodells dominiert wurde. D. h., es wurde angenommen, dass Migration als ein einmaliger und auf Dauer angelegter Entscheid zu begreifen ist. Häufig werden dabei ökonomische Argumente als Migrationsmotiv angeführt und unter sogenannten Push- und Pull-Faktoren diskutiert9 . Zu Ersterem, den Push-Faktoren, zählen bspw. hohe Arbeitslosenzahlen, die eine Region als wenig attraktiv erscheinen lassen; also abstoßend für die Wahl eines dortigen Lebensmittelpunktes wirken. Zu Letzterem, den Pull-Faktoren, zählt hingegen ein hohes Arbeitsplatzangebot, welches einen Ort als attraktiv erscheinen lässt (vgl. Haug 2000: 3; Treibel 2008: 39). Gleichzeitig wird diese Form der Wanderungsbewegung in der Literatur mit der Annahme eines sukzessiven Abbruchs der Sozialkontakte der Migrierenden in deren Herkunftsland verknüpft. Dementsprechend wird auch von einer für die Akteure als schmerzhaft empfundenen Bewegung ausgegangen (vgl. Pries 2010: 13 f.). Diese Annahme gerät jedoch mit Aufkommen des transnationalen Forschungsansatzes ins Wanken (vgl. Han 2009: 60 f.). Denn wie angesprochen, werden unter diesem nun verstärkt auch Landesgrenzen überschreitende Praktiken in die Untersuchungen einbezogen. Dabei erscheint überraschend, dass es sich bei der Ausbildung von transnationalen Beziehungen jedoch nicht um ein gänzlich neues Phänomen handelt. Exemplarisch zeigt sich dies in der Arbeit von William I. Thomas und Florian Znaniecki mit dem Titel „The Polish Peasant in Europe and America“ (1996). In dieser setzen sich die Autoren intensiv mit den Inhalten und Handlungspraktiken von Briefwechseln zwischen migrierten polnischen Familienmitgliedern in den USA sowie ihren Verwandten in Polen, in den ca. 1920er Jahren, auseinander. Ausführlich zeigen sie, welche Bedeutung den damals verfassten Briefen zuteilwurde. Interessant ist dabei insbesondere, dass Thomas und Znaniecki eine Praktik beleuchten, anhand der sich zeigt, dass bereits in den 1920er Jahren der Versuch zur Aufrechterhaltung Landesgrenzen überschreitender Beziehungen unternommen wurde. Heute erfolgen 9 Für
weitere Ausführungen zu ökonomischer Migration sowie anderen Migrationsformen, wie bspw. Fluchtmigration, siehe Treibel (2008: 115–173).
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2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
Diskussionen dieser Art schließlich unter einem transnationalen Ansatz (vgl. Reisenauer 2014: 33 f.). Dass in der (Sozial-)Wissenschaft jedoch dennoch lange Zeit eine Vernachlässigung der Berücksichtigung von Landesgrenzen überschreitenden Aktivitäten stattfand, wird unter der Herausbildung des methodologischen Nationalismus diskutiert (vgl. Dahinden 2009: 17; Wimmer & Glick Schiller 2002; 2003). Pries erklärt dessen Entwicklung unter historischem Rückbezug wie folgt: „Die modernen Sozialwissenschaften […] entstanden mit der bürgerlich-kapitalistischen Industriegesellschaft10 , die überall nationalstaatlich eingefasst war. Entsprechend wurde die nationale Gesellschaft als die gleichsam natürliche Bezugseinheit für soziologische Analysen gesetzt“ (Pries 2010: 17, Herv. im Orig.). Infolge zunehmender Migrationsströme von Arbeitskräften und Geflüchteten aus politisch instabilen Ländern sowie den damit einhergehenden neu entstehenden Ansiedlungsorten, der Herausbildung neuer Formen religiöser- und sprachlicher Verbundenheit und einem Wandel bestehender Wirtschaftssysteme, bildete sich in den 1990er Jahren schließlich auch eine neue Sicht auf Migration heraus (vgl. Faist et al. 2014: 55). Unter einer veränderten Perspektive entwickeln die Anthropologinnen Nina Glick Schiller, Linda Basch und Cristina Blanc-Szanton (1992) das Konzept des Transnationalismus. Dieses bietet einen (neuen) analytischen Rahmen zur Beforschung von Migration11 . Notwendig ist ein Perspektivwechsel ihrer Meinung nach insbesondere deshalb, da das bis dato existierende klassische Verständnis von Migration unmittelbar mit einer Perspektive von Entwurzelung und dem Verlust alter Strukturen einhergehe; eine Perspektive, die nicht (mehr) mit der sozialen Wirklichkeit von Migranten (und ihren u. U. immobilen Angehörigen) übereinstimme (vgl. Glick Schiller et al. 1992: 1). Anders als unter den Ansätzen von Push-Pull-Modellen, gerät aus der Perspektive des transnationalen Konzepts somit der potentielle Fortbestand sozialer Beziehungen in das Herkunftsland (auch nach der Migration) in den Fokus (vgl. Dahinden 2009: 17; 2010a: 393). Zusammenfassend beschreiben die Autorinnen den von ihnen formulierten Ansatz wie folgt: “We have defined transnationalism as the processes by which immigrants build social fields that link together their country of origin and their country of settlement. Immigrants who build such fields are designated transmigrants. Transmigrants develop and maintain multiple relations–familial, economic, social, organizational, religious, and
10 Siehe
hierzu Weiteres in Abschnitt 4.1. wird oftmals das Argument vertreten, dass es sich vielmehr um eine neue Perspektive als ein neues Phänomen handelt (vgl. Dahinden 2009: 17; Faist et al. 2014: 56; Wimmer & Glick Schiller 2002: 303). Siehe hierzu auch die Arbeit von Thomas und Znaniecki (1996). 11 Mittlerweile
2.2 Transnationale Forschungsperspektive
25
political that span borders. Transmigrants take actions, make decisions, and feel concerns, and develop identities within social networks that connect them to two or more societies simultaneously” (Glick Schiller et al. 1992: 1 f.).
Unter einer solch transnationalen Forschungsperspektive erscheinen klassische Migrationsmodelle nun nicht mehr als ausreichend, um die zwischen migrierten- und nicht-migrierten Akteuren ausgebildeten Beziehungen analytisch erfassen zu können (vgl. Lüthi 2005; Mau 2007: 43). Exemplarisch zeigt sich die Ausbildung solcher Beziehungsgeflechte bspw. anhand der Beobachtungen von Glick Schiller und ihren Kolleginnen zu Migranten aus Haiti, der östlichen Karibikregion und den Philippinen im amerikanischen New York. In ihrer Studie können sie nachweisen, dass die von ihnen beforschten Migranten trotz langjährigem Aufenthalt in den USA auch weiterhin soziale Beziehungen in ihr jeweiliges Heimatland unterhalten. Oftmals äußert sich dies in Form von finanziellen Reinvestitionen des in den USA erwirtschafteten Einkommens, unter der Gründung sogenannter hometown associations12 oder Besuchen im Herkunftsland (vgl. Glick Schiller et al. 1992: 2–4). Ähnlich wie in der Arbeit der Anthropologinnen, ist mittlerweile eine große Anzahl weiterer Studien in verschiedenen Disziplinen entstanden, welche entlang unterschiedlicher empirischer Beispiele belegen, dass die Alltagswelt von Migranten und anderen mobilen Personen Landesgrenzen überschreitend gestaltet sein kann13 . Weiter wird entlang dieser Arbeiten – mit Hilfe der dort eingenommenen transnationalen Perspektive – deutlich, dass der geographische Flächenraum eines Nationalstaates und die durch die Praktiken der Migranten entstehenden Sozialräume nicht als einander entsprechend betrachtet werden können (vgl. Pries 2008: 77 ff.; 2010: 20). Bevor diese Erkenntnis in der wissenschaftlichen Literatur für Diskussion sorgte, wurden Flächen- und Sozialraum jedoch als ineinander verschachtelte Räume thematisiert. Aus diesem Blickwinkel entstand wiederum ein Bild von Nationalstaaten und Gesellschaften, welches in der Literatur als „Container-Gesellschaften“ (Pries 2010: 19) bezeichnet wird. Der Begriff Container kann hier als Sinnbild für einen doppelten Schließungsprozess verstanden werden. Doppelt deshalb, da unter dieser Perspektive einerseits durch Grenzkontrollen eine geographische Schließung erzielt 12 Kann
ins deutsche als Heimatsortvereinigung oder -gemeinschaft übersetzt werden. hierzu exemplarisch folgende Herausgeberbände: „Orte transnationaler Wissensproduktionen: Sozial- und kulturwissenschaftliche Schnittmengen“ (Bender et al. 2014), „Transnationale Migration am Beispiel Deutschland und Europa“ (Pusch 2013), „Diaspora and Transnationalismus. Concepts, Theories and Methods“ (Bauböck & Faist 2010), „Soziale Arbeit und Transnationalität. Herausforderungen eines spannungsreichen Bezugs“ (Homfeldt et al. 2008b) oder „Transnationale Karrieren: Biografien, Lebensführung und Mobilität“ (Kreutzer & Roth 2006). 13 Siehe
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2
Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
wird und andererseits Personen entsprechend ihrer Staatsangehörigkeit ein- oder ausgeschlossen werden. Der geographische Raum, das Territorium, umschließt den Mitgliedschaftsraum, dem die jeweiligen Akteure angehören – oder bei Ausschluss eben nicht angehören (vgl. Mau 2007: 21 f.). Mögliche ethnische-, kulturelleoder sprachliche auftretende Unterschiede innerhalb eines Nationalstaates, also einem Flächenraum, wurden bis dato von den Vertretern des methodologischen Nationalismus geleugnet (vgl. Pries 2010: 19). Heute hat sich diese Vorstellung geändert. „Nationalstaat und Nationalgesellschaft sind […] immer weniger ein fester Behälter, in dem sich Gesellschaft und das Soziale autopoietisch, also alleine aus den inneren Regeln und Elementen heraus selbst (re-)produzieren“ (Pries 2008: 123; Herv. im Orig.). Die Kritik am methodologischen Nationalismus richtet sich dementsprechend an die Annahme, dass „die Welt quasi natürlicherweise in Nationalstaaten eingeteilt wäre“ (Dahinden 2009: 17). Erst durch eine Loslösung von diesem national geprägten Container-Verständnis kann der Blick auch auf transnationale Bezüge gerichtet werden. Landesgrenzen überschreitende Praktiken, welche zuvor ausgeblendet wurden, können so zum Gegenstand etwaiger Interessen und Untersuchungen werden (vgl. ebd.). Heute zeigt sich – wie entlang der Besprechung der Mobilitätsfacetten in Abschnitt 2.1.1 bereits deutlich wurde –, dass transnationale Beziehungen eine neue Intensität erreicht haben. Denn während Briefwechsel zwischen Familienmitgliedern in unterschiedlichen Ländern (vgl. Thomas & Znaniecki 1996) noch durch lange Wartezeiten charakterisiert waren, wird heute auf vielfältige Weise und ungeachtet der geographischen Distanzen kommuniziert (vgl. Rainie & Wellman 2014); bspw. erfolgt das Versenden einer E-Mail in nur wenigen Sekunden (vgl. Faist et al. 2014: 58). Durch IuK-Technologien werden transnationale Austauschmöglichkeiten folglich beschleunigt und „die Bedeutung der absoluten geographischen Raumdistanz“ relativiert (Pries 2010: 14). „Für immer mehr Menschen ist ihr konkretes Alltagsleben und ihre soziale Praxis, der Bezugsrahmen von Werten, Normen, Sprache und Weltsichten sowie die Bedeutung und der Gebrauch von Artefakten nicht mehr auf ein einziges und zusammenhängendes Territorium begrenzt“ (Pries 2008: 129). Empirische Belege liefern hierfür bspw. Forschungsarbeiten zu deutsch-türkischen Familien, die zeigen, dass die Mitglieder durch regelmäßige Kommunikation und persönliche Besuche intensive Familienbeziehungen zwischen Deutschland und der Türkei – trotz geographischer Distanz – unterhalten (können), dadurch auf vielfältige Weise Unterstützung erfahren und gemeinsame Bezugspunkte teilen (vgl. Fauser & Reisenauer 2013; Pries 2010: 14; Reisenauer 2014). Kritisch soll jedoch auch angemerkt werden, dass diese Überlegungen nicht mit der Auflösung des Nationalstaats gleichzusetzen sind (vgl. Pries 2010: 15 f.); führen
2.2 Transnationale Forschungsperspektive
27
grenzüberschreitende soziale Kontakte doch nicht automatisch zu einer Verschmelzung von Nationalgesellschaften. Vielmehr werden die jeweiligen Beziehungen zwar über nationalstaatliche Landesgrenzen hinweg geknüpft und aufrechterhalten; der Nationalstaat als solcher bleibt jedoch erhalten14 . Zusammenfassend erklärt Pries: „Wie in dem Begriff Transnationalismus angedeutet wird, bleiben Nationen als politische Einheiten und Nationalgesellschaften als nationale Sozialräume nach wie vor als grundlegende analytische Bezugseinheit relevant. Von diesen ausgehend können Grenzüberschreitungen, Überlappungen und Verbindungsstrukturen und -prozesse von der lokalen bis hin zur globalen geographischen Ebene konzipiert werden“ (Pries 2008: 129).
Dementsprechend können (heutige) transnationale Phänomene, -Praktiken und Prozesse in vielfältiger Gestalt und im Kontext unterschiedlicher Lebensbereiche auftreten15 . Pries warnt jedoch dennoch davor, Transnationalismus oder den Prozess der Transnationalisierung als neuen „catch-all-Begriff“ (Pries 2010: 11) zu begreifen. Um einem inflationären Gebrauch vorzubeugen und Licht in die konzeptionelle Vielfalt zu bringen, unterscheidet er daher zwischen sieben Idealtypen grenzüberschreitender Ausprägungen. Als (1) „Inter-Nationalisierung“ beschreibt er intensive Beziehungen zwischen nationalstaatlichen Container-Räumen, wie sie bspw. von der UNO unterhalten werden. Erfolgt eine Ausdehnung des nationalen Bezugshorizonts auf eine grenzüberschreitende Region, wie dies bspw. bei der Europäischen Union der Fall ist, kann von einer (2) „Supra-Nationalisierung“ gesprochen werden. Von einer (3) „Globalisierung“ ist hingegen dann die Rede, wenn sich die Ausdehnung von Flächen- und Sozialraum auf die ganze Welt bezieht. Tritt eine Verkleinerung von Sozial- und Flächenraum als Bezugseinheit auf (z. B. der Zerfall der Sowjetunion), wird dies als (4) „Re-Nationalisierung“ bezeichnet. Während diesen vier Idealtypen gemein ist, dass sich Flächen- und Sozialraum einander entsprechen, trifft dies auf die drei im Folgenden vorzustellenden Idealtypen nicht ausschließlich zu. So umfasst der Begriff (5) „Glokalisierung“ Wechselbeziehungen zwischen global und lokal angesiedelten Bezugseinheiten; Globalisierungsprozesse werden im lokalen Leben für die einzelnen Akteure erfahrbar. Eine (6) „Diaspora-Internationalisierung“ kann dann beobachtet werden, wenn intensive 14 Je nach Forschungsinteresse erscheint es sogar sinnvoll, Nationalstaaten als zu vergleichende Bezugseinheiten heranzuziehen. Dies kann bspw. dann zutreffen, wenn es Fragen zu Immigrationskontrollen zu klären gilt (vgl. Faist 2013a: 107 f.). 15 Beispiele hierfür bieten Studien zu transnationalen Familien (vgl. Bach 2013), transnationalen Entrepreneuren (vgl. Portes et al. 2002), transnationalen Bildungsräumen (vgl. Somalingam 2015) oder transnationalen Organisationen (vgl. Faist et al. 2014).
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Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
Beziehungen zwischen „Mutterland“ und „peripheren Flächen- und Sozialräumen“ bestehen, so Pries (2010: 23). Mit (7) „Transnationalisierung“ ist schließlich ein Landesgrenzen überschreitender Verflechtungszusammenhang gemeint, der mehrere Lokalitäten, jedoch ohne eine eindeutige „Heimat“, wie bei einer „DiasporaInternationalisierung“, verbindet (vgl. Pries 2008: 131 ff.; 2010: 20 ff.). Dafür ist insbesondere charakteristisch, dass verstärkt Handlungs- und Subjektorientierungen in den Fokus gestellt werden. „Transnationalisierung nimmt auf den relationalen und horizontalen Charakter der gegenwärtig stattfindenden politischen, ökonomischen und sozialen Prozesse Bezug und interessiert sich für soziale Handlungen und Transaktionen, die die Wände des Nationalstaates porös und zunehmend durchlässig erscheinen lassen“ (Mau 2007: 37). Da auch in der vorliegenden Arbeit Personen, deren Motivation, Sinn- und Bedeutungszuschreibungen im Fokus des Interesses stehen, scheint nicht zuletzt deshalb eine transnationale Perspektive als vielversprechend. Um aufzeigen zu können, wie diese für das Forschungsanliegen anwendbar gemacht wird, erfolgt nun im nachstehenden Subkapitel eine Hinleitung zu einer konzeptionellen Konkretisierung.
2.2.2
Transnationale soziale Eingebundenheit und Zugehörigkeit
Zuvor deutete sich bereits an, dass die Autoren bestehender Forschungsarbeiten ihren Fokus auf unterschiedliche Facetten transnationaler Phänomene richten. Erwachsen aus unterschiedlichen disziplinären Ansätzen und Forschungsperspektiven, kursieren so mittlerweile verschiedene Begriffe und konzeptionelle Rahmungen zur Erfassung des Transnationalen in der wissenschaftlichen Literatur16 . Hierzu zählen Formulierungen wie „transnational social fields“ (Glick Schiller et al. 1992: 12; Levitt & Glick Schiller 2004), „transnationale soziale Räume“
16 Ein Beispiel für ein differenziertes Verständnis der Autoren bietet sich bei der Betrachtung transnationaler Beziehungen unter verschiedenen Ansätzen. Peggy Levitt (2001) entwirft das Konzept transnationaler sozialer Felder. In dem von ihr entwickelten Ansatz bilden transnationale soziale Beziehungen die schwächste Form einer transnationalen Verbindung. Pries kritisiert an dieser konzeptionellen Auffassung, dass transnationale soziale Beziehungen hier relativ offen bewertet werden und bspw. bereits ein einzelner Telefonanruf als transnationale soziale Beziehung erfasst werden könne (vgl. Pries 2008: 196 u. 226 f.). Molina, Petermann und Herz fällt auf: „Transnational social fields and transnational social spaces are concepts used interchangeably in transnational literature. Although both of them refer to the complex of connections between borders, each of them represents a different – and complementary – perspective“ (2012: 3, Herv. im Orig.).
2.2 Transnationale Forschungsperspektive
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(Mau 2007: 17 ff.; Pries 1996), „transstaatliche Räume“ (Faist 2000), „transnational social formations“ (Vertovec 2009: 27) oder „Netzwerktransnationalität“ (Dahinden 2010a: 399). Gemein ist all diesen Ansätzen, dass Landesgrenzen überschreitende Facetten im Zentrum der Betrachtung stehen. Um nun die Vielzahl der als transnational skizzierten Phänomene ordnen zu können, hilft eine Differenzierung in eine „Transnationalisierung von oben“ und eine „Transnationalisierung von unten17 “ als Orientierung (Guarnizo & Smith 1998; Mau 2007: 53). Während Erstere meist in Bereichen der Ökonomie oder Politikwissenschaft zur Anwendung kommt (bspw. zur Beschreibung von Austauschbeziehungen internationaler Wirtschaftsunternehmen), wird von Letzterem dann gesprochen, wenn Akteurshandlungen und deren Alltagswelten im Forschungsfokus stehen (vgl. Mau 2007: 53). Verallgemeinernder beschreibt Pries dies wie folgt: „Das Forschungsprogramm der Transnationalisierung konzentriert sich in einer handlungs- und akteurszentrierten Perspektive auf soziale Prozesse und auf das Entstehen transnationaler sozialer Formationen und transnationaler Sozialräume und weniger auf das makrostrukturelle subjektlose Wirken von weltumspannenden Triebkräften“ (Pries 2008: 166) (s. Abschn. 2.2.1). Die Akteure und ihre Handlungsorientierungen werden dabei als aktiv gestaltendes Element transnationaler Prozesse anerkannt und zum analytischen Ausgangspunkt einer Untersuchung gemacht (vgl. ebd.). „[S]ie tragen aktiv dazu bei, ihre sozialen Handlungskontexte zu erweitern und somit auch den Handlungsrahmen des Nationalstaates zu übersteigen“ (Mau 2007: 67). So entsteht für den Einzelnen schließlich ein erweiterter Orientierungsrahmen, der über lokal verankerte Bezüge hinausreicht18 (vgl. ebd. 58). Gleichzeitig bedeutet dies, dass soziale Beziehungen, Interaktionen oder das Gefühl von emotionaler Nähe heute nicht mehr zwingend an lokale Nahräume gebunden sein müssen (vgl. Herz 2010: 42; Mau 2007: 44; Reisenauer 2014). So kann bspw. „[e]ine Liebesbeziehung über die Weiten des Atlantiks hinweg […] mit außerordentlich großer Nähe einhergehen, wie auch das gemeinsame Wohnen in einem Haus eine größtmögliche soziale und emotionale Distanz und Kontaktarmut nicht ausschließt“ (Mau 2007: 76). Physische Nähe und das Gefühl von Zugehörigkeit bedingen also nicht immer einander. Dieser Aspekt wird auch von Levitt und Glick Schiller in dem von ihnen entwickelten Ansatz zu „ways of being“ und „ways of belonging“ (2004) thematisiert. Unter Rückbezug auf eine transnationale Perspektive differenzieren sie dabei zwischen 17 Im Original „transnationalism from above“ und „transnationalism from below“ (Guarnizo & Smith 1998). 18 Vorausgesetzt die Akteure bringen entsprechende Kompetenzen zur Herstellung transnationaler Beziehungen (bspw. Fremdsprachenkenntnisse, Kompetenzen im Umgang mit technischen Geräten) (vgl. Herz 2010: 43; Mau 2007: 82 ff.) sowie den Wunsch oder Willen diesen erweiterten Handlungsrahmen zu nutzen (vgl. Faist et al. 2014: 59), mit.
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Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
einerseits dem Bestehen von Beziehungen und andererseits der tatsächlichen Identifikation über bzw. dem Gefühl von Zugehörigkeit und Eingebundenheit in diese Beziehungsgeflechte. Die Kombination von „being“ und „belonging“ kann dabei im Kontext Landesgrenzen überschreitender Verflechtungszusammenhänge variieren. Exemplarisch erklären die Autorinnen: „One person might have many social contacts with people in their country of origin but not identify at all as belonging to their homeland. They are engaged in transnational ways of being but not belonging. Similarly, a person may eat certain foods or worship certain saints or deities because that is what their family has always done. By doing so, they are not signaling any conscious identification with a particular ethnicity or with their ancestral homes. Here again, they are not expressing a transnational way of belonging“ (Levitt & Glick Schiller 2004: 1010 f.).
Die (bloße) Existenz transnationaler Beziehungen kann also nicht mit einem Gefühl von Zugehörigkeit gleichgesetzt werden. Dieser Aspekt ist für die vorliegende Arbeit insbesondere deshalb interessant, da sich sowohl die Frage stellt, inwiefern Digitale Nomaden im Kontext ihrer Mobilität transnationale Beziehungen ausbilden als auch, inwiefern ein damit in Zusammenhang stehendes Zugehörigkeitsgefühl ausgebildet wird. Aus theoretischer Perspektive zeigt sich also, dass unter transnationalen Verflechtungszusammenhängen eine Raumlogik entsteht, die Sozial- und Flächenraum nunmehr nicht als zwingend kongruent erachtet; dementsprechend nicht der unter dem methodologischen Nationalismus propagierten ContainerLogik entspricht. Mau skizziert diese Entwicklung wie folgt: „Mit der Globalisierung verschwindet das Soziale nicht, sondern es konfiguriert sich neu. Durch die Formierung transnationaler sozialer Räume und Kommunikationen wird die enge lokale Verortung von Personen und ihren Sozialbezügen aufgebhoben, und es erhöht sich der Anteil von Interaktionen, die durch weiter aufgespannte Flächenbezüge gekennzeichnet sind“ (Mau 2007: 72). Die Nachbarschaftsgemeinschaft muss also nicht den privaten sozialen Kontakten eines Akteurs entsprechen (vgl. ebd.: 88). Vertovec (2009) spricht im Kontext dessen auch von der Herausbildung transnationaler sozialer Formationen und benennt damit sowohl die Beziehungs- als auch Strukturcharakteristika entsprechender Landesgrenzen überschreitender sozialer Verflechtungen (vgl. ebd.: 27 ff.). Doch wie gelingt es, die geographisch weitläufigen Kontakte und damit einhergehenden transnationalen Beziehungsgeflechte einer Person analytisch greifbar zu machen? Einen geeigneten Ansatz bietet hierfür das von Barry Wellman beschriebene Konzept zu „personal communities“ (1988). Hierunter fasst er die individuelle Eingebundenheit
2.2 Transnationale Forschungsperspektive
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respektive das persönliche Netzwerk eines Akteurs – unabhängig von bestehenden territorialen Grenzen (vgl. Mau 2007: 88; Wellman 1988; Wellman & Potter 1999). Mit diesem Ansatz tritt Wellman zugleich einer wissenschaftlichen Perspektive, welche die soziale Eingebundenheit lediglich innerhalb zuvor definierter Flächenräume (wie bspw. einer Nachbarschaftsregion) untersucht, entgegen (vgl. Herz 2010: 42). Das Potential dieses Ansatzes haben mittlerweile auch andere Autoren – unter Bezugnahme auf unterschiedliche Studien – beschrieben. Herz und Olivier schreiben etwa: „The analysis of social networks helps to understand the cross-cutting transfer of ideas and transnational support, as well as the formation of opinions and lifestyles beyond the nation states“ (Herz & Olivier 2012b: 115). Dahinden spricht in diesem Zusammenhang auch von der Herausbildung einer „Netzwerktransnationalität“ (Dahinden 2010a: 394). Sie betont, dass „eine rigorose Netzwerkanalyse es erlaubt, den zu häufig metaphorisch verwendeten Transnationalismusbegriff zu operationalisieren und damit empirisch zugänglich zu machen“ (ebd.). Mittlerweile zeigt sich nun, dass zunehmend mehr Autoren transnationale Phänomene mit netzwerkanalytischen Ansätzen untersuchen; wenngleich die Forschungslandschaft hierzu im Allgemeinen noch dünn ist (vgl. Bilecen et al. 2018). So zeigen bspw. Gamper und Fenicia (2013) in ihrer Untersuchung zu Spätaussiedlern aus der ehemaligen UdSSR in Deutschland, dass ihre Interviewpartner sowohl in nationale als auch transnationale (eindimensionale oder mehrdimensionale) soziale Netzwerke19 eingebunden sind und über Landesgrenzen hinweg Support erfahren. Ein anderes Beispiel bietet eine Studie von Dahinden (2005; 2010a), in der sie albanisch-sprachige Migranten aus dem früheren Jugoslawien in der Schweiz hinsichtlich deren sozialer Eingebundenheit untersucht und bespricht. Dafür operationalisiert sie fünf Formen sozialer Unterstützung. Mit ihren Daten zeigt sie, dass insbesondere in der Schweiz verortete Kontakte eine unterstützende Funktion für tägliche Belange einnehmen; auf emotionaler Ebene gewinnen hingegen transnationale Beziehungen an Relevanz (vgl. Dahinden 2010a: 401). Auch Herz (2014) interessiert sich in seiner Studie zu deutschen Migranten in Großbritannien für deren Netzwerkeingebundenheit sowie damit in Zusammenhang stehende Unterstützungsleistungen. Mit seinen durch einen onlinebasierten (Netzwerk-)Fragebogen gewonnen Daten kann er die (trans)nationale Netzwerkeingebundenheit von rund 233 Personen nachzeichnen (vgl. ebd.: 123). Dabei zeigt sich, dass nicht nur die von ihm Befragten, sondern auch die jeweils von 19 Als eindimensional bezeichnen die Autoren soziale Netzwerke mit Beziehungen, welche ausschließlich in das jeweilige Herkunftsland oder ausschließlich in einen Drittstaat reichen; als mehrdimensional bezeichnen sie soziale Netzwerke mit Beziehungen, welche in das Herkunftsland und einen oder mehrere Drittstaaten reichen, sowie Netzwerke mit Beziehungen, welche ausschließlich in mehrere Drittstaaten reichen (vgl. Gamper & Fenicia 2013: 270 f.).
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Mobilität(en) und eine transnationale Forschungsperspektive
den Akteuren benannten Kontaktpersonen Beziehungen untereinander ausbilden. Auch diese haben zum Teil Landesgrenzen überschreitend Bestand (vgl. ebd.: 141– 145). Für die weitere Analyse macht sich Herz außerdem Maßzahlen, wie bspw. die Netzwerkdichte20 (s. Abschn. 3.3), zunutze. Dadurch gelingt es ihm, Kenntnisse über die „Bereitstellung von Ressourcen“ (ebd.: 191) durch (transnationale) Netzwerkstrukturen zu erlangen. Was diese Studien nun mit Blick auf das vorliegende Forschungsanliegen interessant macht, ist, dass es allen unter Rückgriff auf eine netzwerkanalytische Vorgehensweise gelingt, nicht nur (trans)nationale dyadische Beziehungen, sondern auch dahinterliegende Beziehungsgeflechte aufzuzeigen (vgl. Straus 2013: 33). Erst so wird es möglich, Aussagen über handlungsermöglichende oder hemmende Strukturmuster, die über die Grenzen eines Nationalstaats hinweg wirken, zu machen.
2.3
Zusammenfassung: (Transnationale) Mobilität(en)
Wie voranstehend angeführt, wird dafür plädiert, in der vorliegenden Arbeit von einer transnationalen Mobilität bzw. Mobilität im Plural und nicht, wie in der Literatur oftmals zu lesen, von einer transnationalen Migration (vgl. Glick Schiller et al. 1992; 1995) zu sprechen21 (s. Abschn. 2.1.1). Diese Überlegung liegt einerseits darin begründet, dass – zumindest auf geographischer Ebene – Migration oftmals als langsame(re) Form der Fortbewegung mit einer Intention der Wohnortsverlagerung und Mobilität als schnelle(re) Bewegungsform ohne Absicht zur Ansiedlung an einem neuen Ort beschrieben wird (vgl. Han 2009; Herz 2014: 23 f.). Da für Digitale Nomaden vermutet wird, dass sie das Ziel verfolgen mehrfach ihr Aufenthaltsland zu wechseln und dementsprechend (zunächst) keine neue Sesshaftigkeit anstreben (vgl. Hart 2015; Hipp 2015), erscheint eine Verwendung des Begriffs Migration nicht gegenstandsangemessen. Andererseits wurde in den
20 Diese gibt Auskunft über die Anzahl aller in einem Netzwerk realisierten Beziehungen und kann Informationen über die interne Geschlossenheit eines Netzwerks liefern (vgl. Herz 2014: 172–180). 21 Auch in bestehenden Forschungsarbeiten findet die Bezeichnung transnationale Mobilität Verwendung (vgl. Dahinden 2010b: 51; Fassmann 2003; Verwiebe 2006). Dabei fällt jedoch auf, dass diese in heterogenen Kontexten eingesetzt und nicht immer entlang einer expliziten Trennlinie zu transnationaler Migration genutzt wird; meist jedoch unter Verweis auf die Kategorie Zeit bzw. der Mobilitätsgeschwindigkeit oder -intensität. Daher soll an dieser Stelle die Relevanz einer Berücksichtigung des jeweiligen Forschungsanliegens, innerhalb dessen die Begriffe ihre Anwendung finden, unterstrichen sein.
2.3 Zusammenfassung: (Transnationale) Mobilität(en)
33
voranstehenden Ausführungen gezeigt, dass Mobilität (heute) in vielfältiger Ausgestaltung auftreten kann. Für die Akteure bedeutet dies wiederum, dass diese im Kontext ihrer physischen Bewegungen auf vielfache Weise soziale Beziehungen über geographische Distanzen hinweg unterhalten können; transnationale Praktiken ausbilden, sei es durch regelmäßige Telefonate mit Familienmitgliedern in einem anderen Land, Onlinekontakte zu Geschäftspartnern oder durch persönliche Besuche bei Freunden. Dementsprechend erscheint für die Erforschung der Mobilitäts- und Handlungspraktiken Digitaler Nomaden die Einnahme einer Perspektive, welche über nationalstaatliche Landesgrenzen hinaus reichen kann, mehr als sinnvoll. Anzumerken gilt es außerdem, dass weder das Konzept von Mobilität im Plural (vgl. Urry 2007) noch die Einnahme einer transnationalen Forschungsperspektive als geschlossenes Theoriegerüst verstanden werden kann (vgl. Faist 2013a: 19; Sheller 2011: 2) – vielmehr als Sensibilisierung gegenüber dem Untersuchungsgegenstand. Um dabei jedoch nicht auf einer metaphorischen Ebene verhaftet zu bleiben, wird für die Erhebung und Analyse der entstehenden (transnationalen) Beziehungsgeflechte ein Rückgriff auf das Konzept persönlicher Netzwerke vorgeschlagen. Mittels dieser gelingt eine Datenerhebung, die über nationalstaatliche Grenzen hinausreicht (vgl. Herz & Olivier 2012b: 115) und den Forscherblick vom einzelnen Ort ablösen kann. Gleichzeitig kann so Mobilität(en) anstelle von Sesshaftigkeit zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht werden.
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
Anknüpfend an die voranstehend besprochenen theoretischen Ausführungen wird in diesem Kapitel das Ziel verfolgt, aufzuzeigen, wie die potentiell weltweiten Mobilitäts- und Handlungspraktiken Digitaler Nomaden konzeptionell erfasst werden können. Hierzu wird zunächst beleuchtet, wie unter einem Perspektivwechsel der Blick von nahräumlichen hin zu weltumspannenden Bezugseinheiten (vgl. Pries 2010: 17) respektive persönlichen Netzwerken gelenkt werden kann (s. Abschn. 3.1). Anliegen ist es dabei, nicht nur dyadische Beziehungen, sondern auch die dahinterliegenden Strukturen transparent zu machen (vgl. Straus 2013). Denn nur so können Aussagen über (transnationale) Beziehungsgeflechte als handlungsermöglichende oder u. U. hemmende Ressourcen getroffen werden (vgl. Diaz-Bone 2008: 338) (s. Abschn. 3.2). Interessant ist dies für die vorliegende Arbeit insbesondere auch deshalb, da der Annahme gefolgt wird, dass Mobilität nicht in einem Vakuum, sondern eingebunden in soziale Netzwerke erfolgt (vgl. Bilecen et al. 2018: 1 f.; Cachia & Jariego 2018: 112; Massey et al. 1993: 488 f.); darüber hinaus sind sowohl Mobilität als auch die persönlichen Netzwerke von Personen in gesetzliche, ökonomische oder politische Netzwerke eingebunden (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Pachucki & Breiger 2010; Wellman 1999b: 34). Hinsichtlich der konzeptionellen und analytischen Umsetzung bietet die soziale Netzwerkanalyse (SNA) – konkret das Konzept ego-zentriertes Netzwerk – die benötigten theoretischen Implikationen und das geeignete Instrumentarium (s. Abschn. 3.3). Da den in der vorliegenden Arbeit zu beforschenden Personen außerdem nicht deren Handlungsmächtigkeit aberkannt und ausschließlich strukturale Muster als Erklärungsfolie für deren Mobilitätshandlungen herangezogen werden sollen, wird im nächsten Kapitel eine konzeptionelle Zusammenführung von Struktur und Agency besprochen. Mit diesem Schritt wird es möglich sowohl die Handlungen der Akteure struktural zu Konzeptualisieren als auch subjektive Sinn- und Bedeutungszuschreibungen
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_3
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
aus Perspektive der Akteure (vgl. Häußling 2010: 79) in die Analyse einzubeziehen und die Grundlage zur Einnahme einer relationalen Forschungsperspektive zu schaffen. Die Umsetzung einer mobilen Lebensführung kann so konzeptionell – und nicht nur unter metaphorischen Gesichtspunkten – erklärt werden (s. Abschn. 3.4). Abschließend wird unter einem resümierenden Kapitel die Zusammenführung der Überlegungen zu Mobilität im Plural und einer transnationalen Forschungsperspektive mit dem Konzept persönlicher Netzwerke und einem relationalen Ansatz dargestellt (s. Abschn. 3.5). So wird ein ausführlicher Einblick in die für die vorliegende Arbeit eingenommene Forschungsperspektive, die wiederum als sensibilisierendes Konzept für die spätere Analyse dient, geboten.
3.1
Von der Nachbarschaftsgemeinschaft zum persönlichen Netzwerk
„Since the start of systematic sociological thinking in the 1800s, analysts have worked to develop typologies that would organize the surface confusion of the real world into a coherent set of simpler terms“ (Wellman & Potter 1999: 49). Mit Sicherheit gehört hierzu auch die soziologische Konzeption von Ferdinand Tönnies, der eine Differenzierung von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ (2010 [1935]) vornimmt. Unter dem Begriff „Gemeinschaft“ subsumiert er jene Formen des Zusammenlebens, die auf familiären oder nachbarschaftlichen sowie eng verbundenen Beziehungsgeflechten fußen. Zu finden sind diese nach Tönnies meist in ländlichen Gebieten. Kontrastierend hierzu skizziert er den Begriff „Gesellschaft“. Hierunter versteht er ein vertraglich geregeltes Zusammenleben (meist) in Industriegesellschaften, das von weniger engen Beziehungsgeflechten geprägt und von Freundschafts- oder Bekanntschaftsbeziehungen dominiert wird (vgl. Wellman 1999b: 4). Ausgehend von dieser polarisierenden Perspektive und der Vorstellung soziale Vertrautheit sei mit dem geographischen Nahraum gleichzusetzen, erwächst im Anschluss eine Diskussion, die die Befürchtung eines Verlusts von Gemeinschaft proklamiert (vgl. Fischer 1982: 1; Herz 2014: 48; Wellman 1999b: 4). Dabei dominiert zunächst die Annahme, dass im Kontext gesellschaftlicher Veränderungsprozesse (wie Industrialisierung, Bürokratisierung oder Kapitalismus) sowie technologischer Entwicklungen mit einer Zerstörung von Gemeinschaft zu rechnen sei (vgl. Wellman 1999b: 2). Diese Überlegung macht auch Claude S. Fischers in seinem Buch „To Dwell Among Friends“ (1982) zur Einstiegsformulierung seiner Studie. Er schreibt: „Few ideas saturate Western thought as does the conviction that modern life has destroyed community“ (ebd.: 1). Die hinter dieser Aussage stehende allgemein vorherrschende Meinung postuliert, dass moderne Gesellschaften
3.1 Von der Nachbarschaftsgemeinschaft zum persönlichen Netzwerk
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die natürliche Beziehung zwischen Personen zerstören. Bindungen zwischen Verwandtschaftsmitgliedern und Nachbarschaftsbeziehungen würden gelöst und durch einen flüchtigen Bekanntenkreis ersetzt, so Fischers Erläuterung zur damaligen Diskussion (Bezugnahme auf die 1950er und 60er Jahre) (vgl. ebd.: 2). Berry Wellman tritt dieser Auffassung hingegen mit folgendem Statement entgegen: „Community has never been lost“ (Wellman 1999b: 2). Unter einer veränderten Perspektive zeigt Wellman, inwiefern, trotz der oben aufgeführten gesellschaftlichen Entwicklungen, von einem Fortbestand der Community gesprochen werden kann. Anders als Tönnies’ Konzept von Gemeinschaft, welches die „we-ness“ einer Gruppe in den Mittelpunkt stellt und „stressing the similarities or shared attributes around which group members coalesce“ (Cerulo 1997: 386), spricht Wellman von sogenannten „personal communities“ (Wellman 1988: 28; Wellman 1999b: 18; Wellman & Potter 1999). Dabei stellt er die persönliche Netzwerkeingebundenheit eines Akteurs in den Fokus. Zusammenfassend erklärt Wellman: „[C]ommunities are usually loosely bounded, sparsely knit networks of specialized ties“ (Wellman 1999a: xiii) (s. hierzu noch ausführlicher in Abschn. 3.2 und 3.3). Mit dieser Perspektive geht aus Wellmans Sicht wiederum eine grundlegende Frage nach dem Verständnis von Community einher. Diskutiert wird diese von ihm unter der – mittlerweile weitbekannten – „Community Question“ (Wellman 1979). Dabei bespricht er drei Sichtweisen, mittels derer auf personal Communities geblickt werden kann und die je nach Fokus ihre Aussagekraft entfalten. Konkret: „Community Lost“, „Community Saved“ und „Community Liberated“ (ebd.). Die Community Lost These basiert dabei auf der Annahme, dass durch eine zunehmende Arbeitsteilung der kommunale Zusammenhalt verloren geht und Beziehungen innerhalb einer Stadt primär nur noch von unpersönlicher Natur sind. Anstelle der Eingebundenheit in eine traditionell orientierte Community ist der Einzelne nunmehr durch wenig eng verbundene Beziehungen in mehrere soziale Netzwerke involviert (vgl. ebd.: 1204). VertreterInnen der Community Lost These argumentieren daher, dass Grund zur Sorge aufgrund von schwindendem Unterstützungspotentials innerhalb einer Community bestünde (vgl. Wellman 1999b: 7). „Their weak, narrowly defined, and disorganized ties are rarely available or useful for help in dealing with contingencies“ (Wellman 1979: 1204). Als Gegenargument zum Community Lost Ansatz entwickelt sich schließlich entlang empirischer Forschung die Community Saved These. Diese basiert auf der Auffassung, dass, trotz zunehmender Arbeitsteilung und Bürokratisierung, enge Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen weiterhin Bestand haben. Zentrales Argument für den Fortbestand des Zusammenhalts ist dabei die Annahme, dass von diesen Beziehungen eine große unterstützungsgebende Wirkung für den Einzelnen ausgeht (vgl. ebd.: 1205). Außerdem wird aus Community Saved-Perspektive
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
den Akteuren eine Fähigkeit zugeschrieben, die aus einem Streben nach Geselligkeit erwächst: „In the Saved argument, human beings are regarded as inherently gregarious, apt to organize communities under all circumstances“ (ebd.). Gemein ist den beiden vorgestellten Ansätzen, dass sich sowohl die Argumente der Community Lost These als auch der Community Saved These auf Studien stützen, welche innerhalb bestimmter Regionen, oftmals Stadtvierteln oder hinsichtlich innerfamiliärer Beziehungen, durchgeführt wurden (vgl. Herz 2014: 49; Jonuschat 2012: 22). Diese Vorgehensweise wird von Wellman (1979) jedoch als kritisch thematisiert. Denn sowohl die Forschung zu Beziehungsgeflechten innerhalb von Nachbarschaftsregionen als auch die (damalige) Fokussierung auf Beziehungen unter Verwandten oder Arbeitskollegen bilden lediglich einen Netzwerkausschnitt ab – so Wellmans Argument. Ihm zufolge ist es unter dieser Perspektive wenig verwunderlich, dass schwache Beziehungen in diesen Studien unterrepräsentiert sind (vgl. ebd.: 1206); Ein veränderter Blickwinkel wird hingegen unter der Community Liberated These eingenommen. Diese distanziert sich von den beiden Ausgangspunkten der Community Lost und Community Saved These und spannt sich zwischen den beiden Ansätzen auf (vgl. Herz 2014: 49). Denn mit der Community Liberate These wird zwar immer noch die Relevanz von Primärbeziehungen, wie bspw. Verwandtschaftsbeziehungen, bekräftigt, grundlegendes Argument ist jedoch, dass diese nicht mehr ausschließlich innerhalb einer lokal verwurzelten Gemeinschaft vorzufinden sind. Möglich wird dies nicht zuletzt aufgrund der Entwicklung und dem Ausbau von Transport- und Kommunikationsmitteln (s. Kap. 2). Darüber hinaus wird angenommen, dass, mit einer räumlichen Ausbreitung sozialer Interaktionen, die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass alle Kontaktpersonen eines Akteurs eine gemeinsame Nachbarschaft teilen (vgl. Wellman 1979: 1206). Zentral ist an der, unter dem Community Liberated Ansatz, eingenommenen Perspektive, dass nunmehr nicht nur ausschließlich lokal verankerte Lebensräume als Ausgangspunkt der Überlegung gelten. Soziale Beziehungen rücken nun unabhängig von räumlichen Grenzen in den Interessenfokus: „[T]he Liberated argument has abandoned the local area as the starting point for analyzing the Community Question and inquired directly into the structure of primary ties“ (ebd.: 1207). Außerdem geht mit der These die Annahme einher, dass die persönlichen Netzwerke – nach Wellman die personal communities – durch weniger dicht verknüpfte Beziehungsstrukturen charakterisiert sind. Diese bergen wiederum neue Ressourcen. Ob ein Zugang zu diesen Ressourcen jedoch letztendlich gelingt, hängt wiederum von der Qualität der Beziehungsstrukturen ab1 (vgl. ebd.) (s. hierzu auch Abschn. 3.2 u. 3.3). Resümierend erklärt Wellman: 1 Ein – mittlerweile weit bekannter – Datensatz der zur Untersuchung persönlicher Netzwerke
vielfach herangezogen wurde, basiert auf einer Umfrage welche innerhalb des Stadtteils East
3.1 Von der Nachbarschaftsgemeinschaft zum persönlichen Netzwerk
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„Community network analysis […] have shown the continuing abundance and vitality of interpersonal ties, even as they have been affected by capitalism, socialism, urbanization, industrialization, bureaucratization, and new transportation and communication technology” (Wellman 1999b: 20). Und auch Fischer argumentiert unter Bezugnahme auf diese Perspektive: “[W]e can evaluate the loss of community thesis only by closely studying people’s personal relations, the social worlds in which those relations are embedded” (vgl. Fischer 1982: 1). Dieser Annahme wird auch in der vorliegenden Arbeit gefolgt. Denn die Erforschung sozialer Beziehungen und Netzwerkverflechtungen von Digitalen Nomaden erscheint für das Forschungsanliegen mehr als fruchtbar; kann aufgrund deren potentiell weltweiter Mobilität doch angenommen werden, dass diese geographisch disperse Beziehungen unterhalten. Weiter erläutert Wellman, dass insbesondere unter der Entwicklung von neuen Internet- und Kommunikationstechnologien (IuK-Technologien) weitreichende Veränderungen in der Pflege von Beziehungen über geographische Distanzen hinweg zu verzeichnen seien. Er differenziert dabei zwischen vier CommunityCharakteristika und benennt diese wie folgt: „door-to-door“-, „place-to-place“-, „person-to-person“- sowie „role-to-role“-Communities (Wellman 2001). Door-todoor-Beziehungsgeflechte werden dabei unter den primär durch Nachbarschaftsoder Familienverhältnisse ausgebildete Kontakte subsumiert. Dies betrifft insbesondere Zeiten als persönliche Besuche zu Fuß oder – in privilegierten Fällen – mit
York in Toronto durchgeführt wurde (vgl. Wellman 1979; Wellman 1999b: 19 f.). Dieser setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Der Erste, ein quantitativ ausgerichteter Datensatz, wurde im Jahr 1968 erhoben und enthält die Angaben von 845 Teilnehmern. Die zweite Befragung stammt aus den Jahren 1977/1978 und umfasst 33 Tiefeninterviews, die zur Ergänzung des ersten Datensatzes erhoben wurden. (Erste Studien in welchen Daten zur Erfassung persönlicher Netzwerke erhoben wurden, finden ihre Anfänge in den 1960er Jahren in Detroit und Toronto (vgl. Wellman 1999b: 20)). Auf diese Daten greifen bspw. auch Wellman und Potter (1999) zurück, als sie sich die sozialen Beziehungen und Beziehungsgeflechte der Stadtteilbewohner im Detail ansehen. Hierbei nehmen sie keine Beschränkung auf zuvor ausgewählte Beziehungen innerhalb von East York oder Beziehungen anderer Lebensbereiche vor. Stattdessen fokussieren sie sich in ihrer Erfassung auf alle für die jeweils befragte Person relevanten Kontakte, unabhängig von deren Wohnort. So fanden Nachbarn, ebenso wie (direkte und weitläufige) Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen in der Analyse Berücksichtigung. Interessant sind ihre Ergebnisse insbesondere hinsichtlich dessen, als dass sie zeigen, dass nicht alle der genannten Kontaktpersonen eine Verbindung zueinander aufweisen; also sich bspw. nicht alle aus einer nachbarschaftlichen Umgebung kennen. Dennoch ist der/die Befragte nicht sozial isoliert, sondern in ein persönliches Netzwerk sozialer Beziehungen eingebunden (vgl. Wellman & Potter 1999: 55–75). Für weitere Ausführungen zu der Studie, siehe Wellman und Potter (1999: 55–75).
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einer Kutsche unternommen wurden2 (vgl. ebd.: 231 f.). Mit dem Ausbau von Transport- und Kommunikationsmitteln ist ein Wandel von door-to-door- hin zu place-to-place-Communities zu verzeichnen. „People maintain these community ties through phoning, writing, driving, railroading, transiting, and flying“ (ebd.: 233). Gleichzeitig bedeutet dies, dass Beziehungen geographisch weitläufiger ausgebildet werden können: „The shift to place-to-place contact enables people to find community while not being bound up in either their physical neighbourhood (place) and their neighbourhood community (group)“ (ebd.: 237). Den nächsten Entwicklungsschritt sieht Wellman insbesondere durch erneute Innovationen im Bereich der IuK-Technologien verortet. Durch die Nutzungsmöglichkeiten von Mobiltelefonen und onlinebasiert vernetzten persönlichen Computern (PCs) sieht Wellman eine „liberation from place“ (ebd.: 238). Sozialer Kontakt ist nun zwischen Personen unabhängig von deren Aufenthaltsort möglich und es kommt zur Herausbildung von person-to-person-Beziehungsgeflechten. Resümierend erklärt Wellman: „The shift to a personalized, wireless world affords truly personal communities that supply support, sociability, information, and a sense of belonging separately to each individual. It is the individual, and neither the household nor the group, that is the primary unit of connectivity“ (Wellman 2001: 238, Herv. im Orig.).
Im Zuge dieser Entwicklungen sprechen Wellman und sein Kollege Rainie daher auch von der Herausbildung eines sogenannten „Networked Individualism“ (Rainie & Wellman 2014; Wellman 2001: 238); gemeint ist damit die individuelle und onlinegestützte Eingebundenheit eines Akteurs. „The new media is the new neighbourhood“ (Rainie & Wellman 2014: 13). Darüber hinaus eröffnen die neuen IuK-Technologien für die Nutzer vielfältige und mehr als je zuvor dagewesene Interaktionsmöglichkeiten, so die beiden Autoren. Entgegen der vielfach diskutierten Befürchtungen, die Nutzung von IuK-Technologien würde zu einer sozialen Isolation führen, argumentieren Rainie und Wellman, dass zwar eine Veränderung sozialer Eingebundenheit, jedoch nicht deren Zerstörung stattfinde. „While the Internet and Mobile Revolutions have affected the nature of communities, they have transformed but not destroyed them for networked individuals in the networked operating system“ (ebd.: 121). Darüber hinaus sprechen Rainie und Wellman von der Herausbildung eines sogenannten „multiuser[s]“ (ebd.: 7), der durch vielzählige onlinebasierte Kommunikationsmöglichkeiten (wie bspw. Skypetelefonie, Chatkanäle, online Nachrichtendienste etc.) seine sozialen Kontakte aufrecht erhält. Zu jenen Plattformen, die einen maßgeblichen Einfluss auf die individuelle 2 Weitere
Ausführungen zu Fortbewegungsgewohnheiten im historischen Kontext, siehe Wellman (2001).
3.1 Von der Nachbarschaftsgemeinschaft zum persönlichen Netzwerk
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Vernetzung eines Akteurs nehmen, zählt bspw. das soziale Onlinenetzwerk Facebook. Der Begriff soziales Netzwerk erfährt dabei eine Doppeldeutigkeit. Neben der voranstehend ausgeführten theoretischen Perspektive ist an dieser Stelle die onlinebasierte Funktion zur Vernetzung mit einer Vielzahl von Personen gemeint. Onlineplattformen wie Facebook bieten ihren Nutzern die Möglichkeit, Textnachrichten zu verfassen, ein Onlineprofil anzulegen, Fotos und Videos zu versenden oder öffentlich einsehbare Nachrichten von anderen Nutzern zu kommentieren (vgl. ebd.: 139 f.) – um nur einige der Funktionen zu nennen. Eine besondere Stärke von Onlinenetzwerken sehen Rainie und Wellman in deren Funktion zur Rekrutierung von Unterstützung. Während bspw. bei Auftritt einer seltenen Krankheit Familienmitglieder oder Personen aus dem näheren Freundeskreis aufgrund von Erfahrungsmangel nicht um Rat gefragt werden können, gelingt mit Hilfe sozialer Netzwerke die Rekrutierung eines weitaus größeren Personenkreises; dementsprechend steigt die Chance, Personen mit ähnlichen Schicksalsschlägen und Erfahrungen ausfindig machen zu können (vgl. ebd.: 1–11). Die Charakteristika sozialer Kontakthaltung unterliegen aufgrund der IuK-Technologien also einem Wandel. Auf Nutzerebene bedeutet dies wiederum in einem größeren Umfang Selektionen vornehmen zu müssen, als dies noch im Rahmen von door-to-doorBeziehungen der Fall war. Gleichzeitig bildet sich so ab, dass unterschiedliche Kontaktpersonen auch unterschiedliche Funktionen erfüllen können. Wellman (2001) spricht dementsprechend auch von role-to-role-Communities und meint damit spezialisierte Beziehungsgeflechte. „Many interpersonal ties are based only on the specialized roles that people play–not the whole persons. These relationships are between fragments of selves, rather than between whole selves“ (Wellman 2001: 244). Während Eltern bspw. hinsichtlich finanzieller Fragen eine unterstützende Funktion einnehmen können, sind Freunde hingegen bspw. im Kontext von Geselligkeit besonders wichtig (vgl. Rainie & Wellman 2014: 125; Wellman & Wortley 1989; 1990). Je nach Bedarf kommt es außerdem nicht mehr nur darauf an, welche Personen zum unmittelbaren Bekanntenkreis gehören, sondern vielmehr über welche Kanäle bestimmte Personen erreicht werden können. „It’s not who you know, it’s how you know them“ (Plickert et al. 2007) (s. hierzu auch Abschn. 3.3). Einen zentralen – und mittlerweile weitbekannten – Beitrag zur perspektivischen Veränderung beim Blick auf Gemeinschaften, liefert die Arbeit von Robert D. Putnam. In seinem Buch „Bowling Alone“ (2000) thematisiert er am Beispiel von Bowling Ligen den Wandel gesellschaftlichen Engagements der amerikanischen Bevölkerung im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts. Dabei spricht er zunächst von einer rückläufigen Beteiligung in gemeinschaftlichen Zusammenschlüssen. Als Grund für diese Entwicklung führt Putnam u. a. eine sich ausdehnende Verstädterung, sich häufende arbeitsbedingte Pendlerbewegungen (vgl. ebd.: 213) und einen
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
zunehmenden Fernsehkonsum in privaten Wänden an (vgl. ebd.: 213 u. 234). So schreibt Putnam bspw.: „The car and the commute, however, are demonstrably bad for community life. In round numbers the evidence suggests that each additional ten minutes in daily commuting time cuts involvement in community affairs […]“ (ebd.: 213). In seinem Buch beschreibt Putnam also durchaus unter einem kritischen Blick die angesprochenen Entwicklungen. Am Beispiel des Bowlingsports thematisiert er jedoch auch, dass mehr Amerikaner als jemals zuvor Bowling spielen würden – jedoch eben nicht in langjährig etablierten Bowling Ligen (vgl. ebd.: 112). Stattdessen zeigt seine Arbeit, dass die Beteiligten seiner Untersuchung nicht – wie aufgrund des Buchtitels vermutet werden kann – alleine ihre Bowlingspiele bestreiten, sondern innerhalb von informellen Gruppenzusammenschlüssen (vgl. ebd.: 113). „[P]eople are not bowling alone […] but in fact are bowling in networks of shifting sets of others who happen to be free that week“ (Rainie & Wellman 2014: 121). Ausgehend von Erkenntnissen, wie sie durch Putnams Studie zu Tage gefördert wurden, argumentieren Rainie und Wellman, dass für Personen die Vorstellung einer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bowling-Team zwar kognitiv einfacher, tatsächlich jedoch eine Eingebundenheit in Netzwerke von wechselnden Mitgliedern zu beobachten sei. „People Think They Are in Groups but They Really Are in Networks“ (ebd.: 34).
3.2
Persönliche Netzwerke – mehr als eine Metapher
Nachdem voranstehend also aufgezeigt wurde, wie unter einem Perspektivwechsel die Erfassung der persönlichen Netzwerkeingebundenheit eines Akteurs unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen gelingen kann (s. Abschn. 2.2), erfolgt in diesem Subkapitel nun eine Besprechung über die konkrete Anwendbarkeit und Umsetzung des Anliegens. Da in den vergangenen Jahren das wissenschaftliche Interesse an der sozialen Netzwerkforschung jedoch einen enormen Zuwachs erfahren (vgl. Gamper & Reschke 2010: 9) und Einzug in vielfältige Forschungsdisziplinen der Sozialwissenschaften gehalten hat3 (vgl. z. B. Herz 2012: 133; Hollstein 2006: 11; Schnegg 2010: 55), unterliegen auch die Nutzungs- und Entwicklungsmöglichkeiten eines netzwerkanalytischen Verfahrens einer breiten Variation. Darüber hinaus
3 Wissenschaftliche
Arbeiten, welche sich netzwerkanalytischer Konzepte bedienen, sind mittlerweile in Bereichen wie der Familiensoziologie, Erziehungswissenschaft, Ethnologie, Technikforschung, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft Organisations- und Stadtentwicklung oder Migrationsforschung vertreten (vgl. z. B. Herz 2012: 133; Hollstein 2006: 11; Schnegg 2010: 55).
3.2 Persönliche Netzwerke – mehr als eine Metapher
43
lässt sich beobachten, dass in der bestehenden Literatur der Begriff Netzwerk oftmals einer metaphorischen Anwendung unterliegt (vgl. Franke & Wald 2006: 154; Herz & Olivier 2012b: 115 f.; Hollstein 2006: 13; Wellman 1988). „Wo sich früher Arbeitskreise, runde Tische oder Verbände bildeten, entstehen heute „Netzwerke““ (Bommes & Tacke 2006: 37, Herv. im Orig.). Wissenschaftler warnen daher vor der (begrifflichen) Herausbildung eines „catch-all-Konzeptes“ (Straus 2006: 482). Um dieser Problematik in der vorliegenden Arbeit entgegen zu wirken, wird die konsequente Anwendung einer netzwerkanalytischen Vorgehensweise (vgl. Hollstein 2006: 11 f.) verfolgt. Daher werden nachstehend zunächst die grundlegenden Bestandteile eines Netzwerks vorgestellt. So wird eine Verständnisbasis für die weiteren Ausführungen geschaffen (s. Abschn. 3.2.1). Anschließend wird das in dieser Arbeit verwendete Konzept zur Erfassung persönlicher Netzwerke besprochen (s. Abschn. 3.2.2).
3.2.1
Soziale Beziehungen als Knoten und Kanten
Im Allgemeinen wird unter einem sozialen Netzwerk eine bestimmte Anzahl von Akteuren und deren Beziehungen untereinander verstanden (vgl. Diaz-Bone 1997: 39; Mitchell 1971 [1969]: 2). Wird diese Vorstellung in einen netzwerkanalytischen Sprachgebrauch übersetzt, bilden Akteure jene Netzwerkeinheit, welche als Knoten, und Beziehungen jenen Bestandteil, welcher als Kanten bezeichnet wird. „In der Minimaldefinition besteht ein Netzwerk aus einem abgegrenzten Set von Einheiten und den betrachteten Beziehungen zwischen diesen Einheiten“ (Diaz-Bone 1997: 39). Die jeweiligen Knoten müssen dabei (je nach Forschungsinteresse) nicht immer dem gleichen Typ angehören. D. h., dass ein Akteur in Form einer Person, ebenso wie als Gruppe, Familie, Paar, Organisation oder auch als Nationalstaat auftreten kann (vgl. Diaz-Bone 1997: 40; Haas & Malang 2010: 89). Besteht eine Beziehung (also eine Kante) zwischen zwei Knoten, wird von einer Dyade gesprochen4 . „A dyad is an unordered pair of actors and the arcs that exist between the two actors in the pair“ (Wasserman & Faust 1994: 510). Anders formuliert, ist es also möglich, ein Netzwerk in einzelne Dyaden zu zerlegen und deren Beziehungseigenschaften zu untersuchen. Um ein vollständiges Bild zu erlangen, werden Dyaden jedoch nicht isoliert von ihrer entsprechenden Netzwerkumgebung betrachtet (vgl. DiazBone 1997: 43). Denn die soziale Beziehung zwischen zwei Akteuren ist stets auch von deren weiterer Netzwerkumgebung beeinflusst (Wellman 1988: 37). Auf diesen 4 Ist
eine Dyade mit einem weiteren Knoten verbunden, ist hingegen von einer Triade (also drei Knoten und drei Kanten) die Rede (vgl. Diaz-Bone 1997: 43).
44
3
Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
Aspekt wird im nachstehenden Kapitel noch weiter eingegangen (s. Abschn. 3.2.2). Zunächst richtet sich der Blick noch auf potentielle Charakteristika von Kanten. Je nach Forschungsinteresse können verschiedene Arten von Beziehungen – sofern diese im Netzwerk vorhanden sind – untersucht werden. So können die Kanten unter Perspektive der formalen Repräsentation bspw. auf deren Symmetrie hin untersucht werden. Dabei wird der Frage nachgegangen, ob eine Relation von lediglich einem oder beiden der an einer Beziehung beteiligten Akteure (Knoten) ausgeht. Eine Kante gilt dann als symmetrisch bzw. ungerichtet, wenn diese schlichtweg vorhanden ist. Von einer asymmetrischen oder gerichteten Beziehung wird hingegen dann gesprochen, wenn eine Verbindung (bspw. als Unterstützungsform) nur von Seitens einer der beteiligten Akteure als existent benannt wird. Um eine solche Bewertung vornehmen zu können, muss die Verbindung in Form von zwei Kanten betrachtet werden. „Eine Kante repräsentiert die Beziehung von Akteur A zu Akteur B und eine die Beziehung von Akteur B zu Akteur A“ (Haas & Malang 2010: 93). Weiter kann nach der Gewichtung einer Beziehung gefragt werden5 . Wird eine Beziehung also bspw. als positiv oder negativ bewertet? Wie häufig besteht Kontakt zwischen den beiden Akteuren? Wie wird die Beziehungsintensität bzw. -stärke eingestuft? Ist eine Beziehung durch einen multiplexen Charakter, sprich durch mehrfache Funktionen, geprägt? (vgl. Diaz-Bone 1997: 40 f.; Haas & Malang 2010: 93–95). An dieser Stelle soll nun jedoch keine Auflistung aller erdenklichen Beziehungsformen erfolgen. Die tatsächlichen, im empirischen Material auftretenden Facetten, sollen vielmehr unter einer induktiven Vorgehensweise aus den Daten herausgearbeitet werden (vgl. Bohnsack 2008: 188) (s. hierzu auch Abschn. 5.3.2).
3.2.2
Ego-zentrierte Netzwerke
In diesem Abschnitt richtet sich der Fokus nun auf die konzeptionelle Erfassung der voranstehend besprochenen persönlichen Netzwerke (nach Wellman (1988) personal communities) eines Akteurs (s. Abschn. 3.1). Hierzu wird auf eine netzwerkanalytische Vorgehensweise zurückgegriffen. Denn nach Wellman und Potter bietet diese ein Potential, das auch für die vorliegende Arbeit von Interesse ist. Sie schreiben: „A battery of concepts and techniques has helped community network analysts to move from speculation to systematic analysis“ (Wellman & Potter 1999: 51). Im Allgemeinen bedeutet dies zunächst nichts weiter, als dass Netzwerkmuster auf eine systematische Weise, welche andernfalls im Verborgenen geblieben wären, (graphisch) sichtbar gemacht werden (vgl. Cross et al. 2002; Straus 2013: 33). Vor 5 Für
eine Übersicht zu Beziehungsfacetten siehe bspw. Wassermann und Faust (1994: 18).
3.2 Persönliche Netzwerke – mehr als eine Metapher
45
Beginn einer jeden Untersuchung gilt es jedoch zu überdenken, welche Art von Netzwerk erhoben werden soll, um an die gewünschten Informationen zu gelangen. Hierbei wird zwischen sogenannten Gesamtnetzwerken und ego-zentrierten Netzwerken unterschieden. Ersteres zeichnet insbesondere aus, dass all jene Akteure, welche an dem zu untersuchenden Phänomen als beteiligt gelten, in die Erhebung einbezogen werden. Ein weit verbreitetes Beispiel bildet hierfür die Untersuchung von Schulklassen; bietet diese doch einen genauen Anhaltspunkt über die Anzahl der an einer Klasse beteiligten Akteure (vgl. Diaz-Bone 1997: 48; Jansen 2003: 69). Bei der Erhebung eines ego-zentrierten Netzwerks wird hingegen das direkte Umfeld eines einzelnen Akteurs – dessen persönliches Netzwerk – erfasst6 . „Ein egozentriertes Netzwerk besteht aus den Beziehungen eines fokalen Akteurs (Ego) zu anderen Akteuren (Alteri) der direkten Netzwerkumgebung, sowie den Beziehungen zwischen diesen Akteuren (Alter-Alter-Relationen)“ (Herz 2012: 133). Dabei werden meist alle für die Untersuchung relevanten Informationen, von der zu befragenden Person, also Ego, erfragt. Das bedeutet, dass zur Erhebung eines ego-zentrierten Netzwerks, der Befragte nicht nur Auskunft über dessen Kontaktpersonen (Alteri) sowie deren jeweiliges Beziehungsverhältnis (Ego-Alter Relation), sondern darüber hinaus auch über die Beziehung zwischen den genannten Kontaktpersonen (Alter-Alter-Relation) gibt. Die Erhebung erfolgt dementsprechend aus Perspektive von Ego (vgl. Herz 2012: 133; Jansen 2003: 80; Wolf 2010: 471). Für das vorliegende Forschungsinteresse bietet sich ein Rückgriff auf eine ego-zentrierte Vorgehensweise aus verschiedenen Gründen an. Einerseits, da die individuellen Handlungspraktiken und Mobilitätswege einzelner Personen respektive Digitaler Nomaden analysiert und nachgezeichnet werden sollen und andererseits, da eine
6 Ein
mittlerweile prominentes Beispiel für das Potential von ego-zentrierten Netzwerkanalysen bildet die Arbeit von Elisabeth Elizabeth Bott (1968 [1957]). Die Ethnologin gilt als Vorreiterin der heutigen Erhebungsverfahren ego-zentrierter Netzwerke (vgl. Jansen 2003: 43; Schnegg 2010: 62). In ihrer Studie zu Geschlechterrollendifferenzierungen in englischen Familien interviewte sie 20 Ehepaare in London. Sie interessierte sich dabei insbesondere für die verschiedenen Formen von Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann in den Familien. Da eine Analyse entlang von Attributen wie bspw. Alter, ökonomischer Status oder Beziehungsdauer zu keiner Erklärung führte, entwickelte Bott ein Verfahren zur Erfassung der sozialen Umwelt ihrer Interviewpartner – die soziale ego-zentrierte Netzwerkanalyse. Mit dieser Vorgehensweise gelang es ihr aufzuzeigen, dass eine soziale Einbettung von sowohl der Ehefrau als auch des Ehemanns in ein jeweils dichtes Netzwerk, mit wenigen sozialen Überschneidungen, zu einer verstärkten familiären Arbeitsteilung führt (vgl. Schnegg 2010: 62).
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3
Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
deduktiv auferlegte Festlegung der für Ego relevanten Akteure7 nicht als praktikabel und zielführend erscheint. Während darüber hinaus mit Blick in die bestehende Literatur auffällt, dass die beiden Begriffe ego-zentriertes Netzwerk und persönliches Netzwerk oftmals synonym verwendet werden (vgl. Wolf 2010: 471), bildet in der vorliegenden Arbeit Ersteres das formal analytische Handwerkszeug, um die persönlichen Netzwerke der zu Interviewenden systematisch erheben zu können. So wird nicht zuletzt eine sprachliche Differenzierung zwischen methodischem Konzept und theoretischer Perspektive transparent8 . Die konkreten Schritte zur Umsetzung der Datenerhebung werden unter Kapitel 5 besprochen.
3.3
Strukturale Analyse
Um die erhobenen Daten später auch analysieren und interpretieren zu können, bedarf es eines gewissen Grundverständnisses über netzwerkanalytische Perspektiven. Diese werden in diesem Abschnitt unter einer kurzen historischen Reflexion skizziert. Zu den wohl meist beachteten Vertretern der formalen Soziologie und damit auch wichtigsten Vordenkern sozialer Netzwerkanalyse zählt Georg Simmel (vgl. Gamper & Reschke 2010: 16; Häußling 2010: 241; Hollstein 2010b: 93; Schnegg 2010: 57). Bereits vor nunmehr 100 Jahren bespricht er in seinem Beitrag „Die Kreuzung Sozialer Kreise“ (Simmel 1992 [1908]) die Rolle von Gruppen und Gruppenzugehörigkeit für Individuen. Laut Simmel bilden die Mitgliedschaft des Einzelnen in unterschiedlichen sozialen Gruppen sowie deren Überlappungen eine grundlegende Quelle zur Entstehung von Individualität. „Die Gruppen, zu denen der Einzelne gehört, bilden gleichsam ein Koordinatensystem, derart, daß jede neu hinzukommende ihn genauer und unzweideutiger bestimmt“ (1992 [1908]: 466). Neben der Familie (als ursprünglichen Assoziationskreis) entwickelt der Einzelne außerdem Beziehungen, welche sich durch ähnliche Neigungen, Tätigkeiten oder gemeinsame Interessen auszeichnen, so Simmel (vgl. ebd.: 456 f.). Darüber hinaus eröffnen sich im Kontext gesellschaftlicher Differenzierung zunehmend mehr Möglichkeiten zur Partizipation an unterschiedlichen sozialen Gruppen; die Wahrscheinlichkeit einer
7 Die
Grenzen des ego-zentrierten Netzwerks, also die Entscheidung wer in der Erhebung Berücksichtigung findet, wird mit Hilfe eines sogenannten Namensgenerators erzeugt (vgl. Jansen 2003: 80 f.). Für die konkrete Umsetzung in der vorliegenden Arbeit siehe Kapitel 5. 8 Für weitere Diskussionen zu einer sprachlichen und konzeptionellen Unterscheidung der Begriffe ego-zentriertes Netzwerk und persönliches Netzwerk siehe Molina, Petermann und Herz (2012: 9 f.).
3.3 Strukturale Analyse
47
deckungsgleichen Mitgliedschaft verschiedener Personen wird dabei zugleich verringert (vgl. ebd.: 485). Weiter argumentiert Simmel, dass Vergesellschaftung durch eine wechselseitige Beziehung aller entstehe (vgl. Gamper & Reschke 2010: 16). Anders formuliert geht er davon aus, dass jedes Individuum an verschiedenen sozialen Kreisen, welche sich überlappen (nach Simmel kreuzen), teilhat. So entsteht eine wechselseitige Beziehung aller und „man [kann] sagen: aus Individuen entsteht die Gesellschaft, aus Gesellschaft entsteht das Individuum“ (Simmel 1992 [1908]: 485). Diese Wechselwirkung ist es, welche „Gesellschaft prozessual als Vergesellschaftung und struktural als Netzwerk“ (Häußling 2010: 65) greifbar werden lässt. Als zentral für Simmels theoretische Ausführungen lässt sich herausstellen, dass aus seiner Perspektive „allein die Form von Beziehungen Aufschluss über Kohäsionsprozesse und Individualisierungstendenzen geben kann“ (Gamper & Reschke 2010: 16 f.). Das soll heißen, dass Simmel zunächst erkannt hat, dass Formen der Vergesellschaftung durch Interaktionen zwischen Individuen initiiert und verfestigt werden, diese aber zugleich auf die Individuen zurückwirken. „Damit formuliert Georg Simmel den Kerngedanken des Netzwerkansatzes, dass es vor allem um die Relationen zwischen Akteuren geht (die dann wiederum Rückwirkungen auf die einzelnen Akteure haben)“ (Hollstein 2010b: 93, Herv. im Orig.). Weiter können laut Simmel Strukturmerkmale der benannten Wechselwirkungen und deren Ausprägungen (wie bspw. Gruppengröße oder Beziehungsdauer) konkreten Aufschluss darüber liefern, inwiefern Leistungen innerhalb einer Beziehung möglich oder erschwert sind. So wird bspw. ein sich Entziehen von Verantwortlichkeiten im Rahmen eines dyadischen Beziehungsverhältnisses schwieriger als im Kontext der Eingebundenheit in eine große Gruppe (vgl. ebd.). Im Kontext der Entwicklungen zur Netzwerkforschung haben sich zwei Hauptstränge herausgebildet, welche im Allgemeinen in eine formalistische und eine strukturalistische Forschungsprägung differenziert werden (Wellman 1988); wenngleich sich zeigt, dass eine strikte Trennung nicht immer konsequent verfolgt wird (vgl. Herz & Müller 2018: 560). In der vorliegenden Arbeit ist primär Letztere – wenn auch nicht ausschließlich – von Interesse. Wissenschaftler, welche einer formalistisch geprägten Forschungsströmung angehören, befassen sich insbesondere mit den entsprechenden Formen und Strukturmustern eines Netzwerks. Wie bereits bei und in Anlehnung an Simmel folgen sie der Annahme, dass ähnliche Netzwerkformen zu einem vergleichbaren sozialen Verhalten führen. Zugespitzt formuliert erklärt Wellman: „[T]heir argument has been that pattern of relationships is substantially the same as the content“ (1988: 25). Um die jeweiligen Formen von Netzwerken herauszuarbeiten und vergleichen zu können, nutzen und entwickeln Formalisten Messkonzepte, wie bspw. die Netzwerkgröße (Anzahl der beteiligten Netzwerkakteure) oder Netzwerkdichte (Anzahl der Verbindungen innerhalb
48
3
Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
eines Netzwerks). Für die anschließende Analyse und Darstellung entlehnen sie Verfahren aus der Mathematik und stellen das soziale Netzwerk als Matrix oder Graph dar (vgl. Petermann 2002: 58 f.). Forscher, welche dem Strang der Strukturalisten angehören, interessieren sich hingegen insbesondere für die durch soziale Netzwerkstrukturen beeinflussten Handlungen, möglichen Unterstützungsleistungen oder dem (Wohl-)Befinden von sozialen Akteuren9 (vgl. Petermann 2002: 61 f.; Wellman 1988). Anzumerken gilt es dabei, dass sich die Arbeit von Strukturalisten in zwei Ansätze, den positionalen und den relationalen Ansatz, unterteilen lässt. Der positionale Ansatz fokussiert – wie der Begriff verrät – die Positionen der Akteure in einem Netzwerk. Durch den Vergleich von Akteurspositionen in einem Netzwerk werden Akteure identifiziert. Von Interesse ist daher bspw. die Eruierung strukturell äquivalenter Personen. Denn entsprechend der Position eines Akteurs in einem Netzwerk, wird diesem ein einfacher oder schwerer Zugang zu bestimmten Ressourcen attestiert. „Wegen ihrer strukturellen Position innerhalb eines Netzwerks unterscheiden sich Mitglieder in großem Maße in ihrem Zugriff auf Ressourcen“ (Petermann 2002: 61). Beim relationalen Ansatz tritt die Fokussierung auf die Netzwerkpositionen von Akteuren in den Hintergrund und die Beziehungen zwischen den Akteuren sind von primärem Interesse. Gefragt wird nach dem Inhalt der sozialen Beziehungen, Ressourcenaustausch oder der Beziehungsintensität (vgl. ebd.: 61 f.). Insgesamt kann die Forschung von Strukturalisten sowohl als die Suche nach dem Einfluss von bestimmten Formen als auch als ein sozialwissenschaftliches Forschungsprogramm, in welchem (formale) Netzwerkkonzepte mit soziologischer Theoriebildung und sozialwissenschaftlicher Methodenentwicklung zusammengebracht werden, beschrieben werden (s. hierzu auch Abschn. 3.4). 9 Wellman (1988) resümiert den Forschungsansatz der „structural analysis“ unter fünf paradig-
matischen Charakteristika (vgl. ebd.: 20 ff.) wie folgt: (1) Verhalten wird über die Einbindung in soziale Strukturen interpretiert. So sind es nicht internalisierte Normen, sondern soziale Beziehungen, die für eine Erklärung von Verhalten dienen. (2) Der Analysefokus liegt auf den Relationen und nicht auf einer kategorischen Zuordnung der „units“ zu Attributen (ebd.: 20). „Identitäten, Rollen und Erwartungen der Akteure entstehen in der sozialen Beziehungsstruktur“ (Herz 2014: 35). (3) Die Handlungen eins Akteurs werden nicht nur durch dyadische Beziehungen, sondern darüber hinaus durch die Eingebundenheit dieser in eine weitere Netzwerkumgebung beeinflusst. „Each tie gives network members indirect access to all those with whom their alters are connected“ (Wellman 1988: 37). (4) Die Welt besteht nicht aus Gruppen, sondern aus „networks of networks“ (ebd.: 20 u. 38). (5) Analytische Methoden setzen sich mit den Mustern sozialer Strukturen auseinander und ergänzen – oder ersetzen – statistische Methoden unter deren Perspektive Analyseeinheiten als voneinander unabhängig betrachtet werden. Anzumerken gilt es: „Undeutlich bleibt in der Beschreibung von Wellmans, was das „strukturale“ ausmacht, das sich nicht auf formale Annahmen stützt“ (Herz & Müller 2018: 560, Herv. im Orig.).
3.3 Strukturale Analyse
49
Das, was die Netzwerkforschung als besonders attraktiv erscheinen lässt, ist die unter ihr eingenommene Perspektive, welche nicht nur einzelne Beziehungen, sondern auch die zwischen den Beziehungen liegenden Relationen in den Blick nimmt (vgl. Hollstein 2010b: 91). Das soziale Handeln eines Akteurs – der Grundposition der strukturalen Analyse folgend – wird dabei nicht unabhängig von dessen Eingebundenheit in soziale Netzwerkstrukturen verstanden. Wasserman und Faust formulieren dies wie folgt: „From the view of social network analysis, the social environment can be expressed as patterns or regularities in relationships among interacting units“ (Wasserman & Faust 1994: 3). Von der Bereitstellung eines geschlossenen Theoriegerüsts durch die soziale Netzwerkanalyse kann jedoch dennoch nicht gesprochen werden (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994: 1414; Petermann 2002: 52). Wie oben angesprochen, bietet sie vielmehr eine Reihe von Konzepten zur Untersuchung von Strukturmustern, die wiederum als Orientierung für einen analytischen Zugang zum Untersuchungsgegenstand dienen kann. „[S]ocial Network analysis is an orientation towards the social world that inheres in a particular set of methods“ (vgl. Scott 2011: 37, Herv. im Orig.). Im Folgenden werden zwei – der mittlerweile vielfach rezipierten – Konzepte kurz vorgestellt. So wird eine Orientierung dahingehend aufgezeigt, als dass deutlich wird, inwiefern mit unterschiedlichen Perspektiven auf einen Forschungsgegenstand geblickt werden kann (vgl. Herz 2014: 45). Zu den wohl bekanntesten Konzepten der Netzwerkforschung gehören sowohl Mark S. Granovetters Ausführungen zu „The Strength of Weak Ties“ (1973) als auch Ronald S. Burts Ansatz zur Funktion sogenannter „structural holes“ (1992). Grundlegendes Element in dem von Granovetter erarbeiteten Ansatz bildet – wie der Titel bereits verrät – die Stärke einer Beziehung. Mögliche Variationen erklärt er dabei wie folgt: „[T]he strength of a tie is a (probably linear) combination of the amount of time, the emotional intensity, the intimacy (mutual confiding), and the reciprocal service which characterize the tie“ (Granovetter 1973: 1361). Darüber hinaus argumentiert er, dass mit einer zunehmenden Beziehungsstärke zwischen zwei Personen auch die Wahrscheinlichkeit einer Überlappung des sozialen Umfelds der beiden Akteure steige. Weist also bspw. Person A eine starke Beziehung zu Person B sowie eine starke Beziehung zu Person C auf, liegt es nahe, dass auch Person B und Person C früher oder später miteinander in Kontakt kommen (vgl. ebd.: 1362). Im Allgemeinen sind starke Beziehungen bspw. in Cliquen, also ein Beziehungsgeflecht innerhalb dessen alle Mitglieder eine enge Verbindung zueinander aufweisen, zu finden. Schwache Beziehungen können hingegen als lose Verbindungen zwischen Akteuren verstanden werden. Ausgehend von diesen Überlegungen hält Avenarius exemplarisch fest, dass im Allgemeinen starke Beziehungen zwischen Freunden und schwache Beziehungen zwischen Bekannten bestehen (vgl. Avenarius 2010a: 100). Granovetter zufolge
50
3
Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
sind schwache Beziehungen insbesondere für die Vermittlung neuer Informationen relevant. „[J]e unterschiedlicher das persönliche Profil von Interaktionspartnern und je geringer die Häufigkeit und Intensität ihrer Begegnungen, umso wahrscheinlicher ist es, dass jeder von ihnen Zugang zu Informationen hat, die der andere noch nicht kennt“ (Avenarius 2010a: 100). Exemplarisch zeigt dies Granovetter entlang seiner Studie „Getting a Job: A Study of Contacts and Careers“ (1995 [1974]), in welcher er die Suche bzw. den Wechsel eines Arbeitsplatzes unter Berücksichtigung der sozialen Eingebundenheit eines Akteure untersucht. In dieser gelingt es ihm zu zeigen, dass es insbesondere schwache soziale Kontakte sind, welche die relevanten Informationen liefern. Denn während eng verbundene Freunde auf dieselben Informationsquellen wie der Suchende zurückgreifen, werden durch lose verbundene Beziehungen nicht-redundante Hinweise (bspw. zu anderen Firmen, Brachen etc.) transportiert (vgl. Borgatti & Lopez-Kidwell 2011: 42). So wird mit Granovetters Annahme zur Stärke schwacher Beziehungen deutlich, dass schwache Beziehungen als eine Brückenbeziehung fungieren können. Denn wie besprochen, kann eine schwache Verbindung einem Akteur Zugang zu einer Wissensquelle ermöglichen, welche durch enge Kontakte nicht realisiert wird (vgl. Granovetter 1973: 1364 ff.). In dem von Burt (1992) erarbeiteten Ansatz, greift dieser zunächst Granovetters Konzept zu schwachen Beziehungen auf und entwickelt unter einer Erweiterung von dessen den Ansatz der strukturellen Löcher. Sein Modell setzt dabei nicht wie bei Granovetter auf der Beziehungs-, sondern auf der Strukturebene an (vgl. Herz 2014: 46). Um diesen Perspektivwechsel nachvollziehbar machen zu können, bedarf es zunächst einer Klärung des Begriffs strukturelles Loch. Hierunter versteht Burt eine Beziehung zwischen zwei Akteuren, welche eine nicht-redundante Verbindung darstellt. „Nonredundant contacts are connected by a structural hole. A structural hole is a relationship of nonredundancy between two contacts. The hole is a buffer, like an insulator in an electric circuit. As a result of the hole between them, the two contacts provide network benefits that are in some degree additive rather than overlapping“ (Burt 1992: 18). Jener Akteur, welcher an der Überwindung eines strukturellen Lochs beteiligt ist, wird daher oftmals auch als „Broker“ (Burt 2004) bzw. „Makler“ (oder „cutpoint“) (Jansen 2003: 29) bezeichnet. Interessant ist dabei außerdem, dass Granovetter davon spricht, dass nur schwache Beziehungen eine Brückenfunktion einnehmen können; Burt zufolge kann dies jedoch unabhängig der Beziehungsstärke gelingen (vgl. Borgatti & Lopez-Kidwell 2011: 42). Aufgrund der Position eines Brokers verbindet dieser nicht nur zuvor unverbundene Gruppen, sondern erlangt gleichzeitig einen Informationsvorteil. Burt erklärt diesen Umstand wie folgt: “[P]eople who stand near the holes in a social structure are at higher risk of having good ideas. The argument is that opinion and behavior are more homogeneous within than between groups, so people connected across
3.4 Relationale Forschungsperspektive
51
groups are more familiar with alternative ways of thinking and behaving, which gives them more options to select from and synthesize” (Burt 2004: 349 f.). Durch die spezielle Position wird es dem Broker-Akteur folglich möglich, an eine Reihe nicht-redundanter Informationen zu gelangen. Dieser kann so einerseits Wissen aus unterschiedlichen Quellen zusammenführen und andererseits Einblicke in unterschiedliche alternative Praktiken, Perspektiven, Meinungen etc. erhalten10 (vgl. Borgatti & Lopez-Kidwell 2011: 42). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass dem Broker-Akteur aufgrund seiner Position ein Kontroll- bzw. Steuerungsvorteil zuteilwird. So kann er bspw. darüber entscheiden, welche Informationen vermittelt und welche einbehalten werden (vgl. Burt 1992: 33 f.). Nach dieser kurzen Skizzierung der beiden Ansätze von Granovetter und Burt fällt auf: „Burt’s theory may look different from Granovetter’s, but the differences are largely in language and focus“ (Borgatti & Lopez-Kidwell 2011: 42). Doch unabhängig des Sprachgebrauchs – ob es nun also strukturelle Löcher, Brücken oder nicht-redundante Beziehungen sind – bleiben die Konsequenzen die gleichen: Ein Zugang zu neuen Informationen entsteht (vgl. ebd.). Was aus dieser kurzen theoretischen Skizzierung für die vorliegende Arbeit schließlich als wertvoll abgeleitet werden kann, ist, dass aufgezeigt wurde, inwiefern mit unterschiedlichen netzwerkanalytischen Ansätzen verschiedene Perspektiven eingenommen und auf das Forschungsanliegen gerichtet werden können.
3.4
Relationale Forschungsperspektive
Um nicht auf einer rein strukturalen Ebene verhaftet zu bleiben – wäre dies doch aufgrund des explorativ ausgerichteten Forschungsanliegens nicht zielführend –, wird in diesem Abschnitt der Blick auf eine Öffnung des zuvor vorgestellten strukturalen Ansatzes gerichtet. Dabei erfährt insbesondere die Akteursperspektive Einzug in netzwerkanalytische Verfahren (vgl. Diaz-Bone 2008: 311). Äußerungen von kritischen Stimmen gegenüber dem Netzwerkansatz zeichnen sich seit den 1990er Jahren ab. Angekreidet wird dem netzwerkanalytischen Zugang insbesondere ein strukturalistischer Determinismus11 (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994: 1425). Zentrales Argument des Vorwurfs ist die Vernachlässigung von kulturellen Aspekten, Normen, Konstruktionsleistungen sowie der Agency von Individuen (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 2; Hollstein 2010b: 91 f.). Emirbayer 10 Für weitere Ausführungen siehe auch „Structural Holes and Good Ideas“ von Ronald Burt (2004). 11 Aus dem Englischen: „structuralist determinism“ (Emirbayer & Goodwin 1994: 1425).
52
3
Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
und Goodwin formulieren dies wie folgt: „Network analysis all too often denies in practice that crucial notion that social structure, culture, and human agency presuppose one another“ (Emirbayer & Goodwin 1994: 1413). Der Kritik folgend, kann bzw. sollte soziales Verhalten also nicht ausschließlich über Struktur(-maße) erklärt werden; so kommt es unter dieser Perspektive zu der erwähnten Öffnung des strukturfokussierten Netzwerkansatzes (vgl. Diaz-Bone 2008: 319 f.). Darüber hinaus ist die Herausbildung eines „Denkstils“ zu beobachten, der im Allgemeinen als relationale Soziologie12 bekannt ist (Schmitt & Fuhse 2015: 23). Im Rahmen der damit in Zusammenhang stehenden entfachten Debatte wird – vor dem Hintergrund der strukturalen Analyse – daher nicht selten auch von einer kulturellen Wende in der Netzwerkforschung gesprochen (vgl. Fuhse & Mützel 2010; Häußling 2010: 69; Mützel & Fuhse 2010: 7 f. u. 11). Nachstehend werden nun die Grundpositionen einer relationalen Forschungsperspektive aufgezeigt und deren Potentiale für die vorliegende Arbeit diskutiert. Hierfür wird zunächst die allgemeine Rolle einer Berücksichtigung von Kultur, Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen im Kontext der Untersuchung von Netzwerkstrukturen besprochen (s. Abschn. 3.4.1). Anschließend wird eine Möglichkeit zur konzeptionellen Verflechtung von Struktur und Agency aufgezeigt (s. Abschn. 3.4.2). Mit der so gewonnenen Sensibilisierung wird im Analyseteil dieser Arbeit sowohl ein Einbezug der strukturalen Gestalt persönlicher Netzwerke als auch die Handlungsfähigkeit der Interviewten gleichermaßen möglich.
3.4.1
Persönliche Netzwerke, Kontextualisierung und Bedeutungszuschreibung
Während die klassischen Ansätze der Netzwerkanalyse – wie voranstehend besprochen (s. Abschn. 3.3) – primär darauf abzielen, Netzwerkstrukturen als solche transparent zu machen, werden Aspekte, wie deren Entstehungs- und Bedeutungskontexte, nicht adressiert (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 13). Im Rahmen standardisierter Vorgehensweisen „interessiert primär die Form der Beziehung als
12 Für eine Übersicht zu unterschiedlichen Ansätzen, die sich unter der relationalen Soziologie resümieren lassen bzw. sich entlang dieser Entwickelt haben, siehe den Sammelband „Relationale Soziologie. Zur kulturellen Wende der Netzwerkforschung“ von Fuhse und Mützel (2010).
3.4 Relationale Forschungsperspektive
53
Kommunikations- und Handlungsresultat“ (Hepp 2010: 227). Unter der so erzeugten Position des strukturalistischen Determinismus – der Kritik von Emirbayer und Goodwin13 folgend – wird: „Kultur […] weder als Qualität von Beziehungen, noch als analytisch unabhängiger Diskurs berücksichtigt. Akteurinnen und Akteure werden als Inhaber/innen von Positionen betrachtet, die diese lediglich so vollziehen, wie sie strukturell vorgesehen sind; sie sind prinzipiell austauchbar und ohne Agency im Sinne einer Gestaltung sozialer Strukturen“ (Löwenstein 2017: 26).
Einen wegweisenden Ansatz für eine Berücksichtigung von Handlungen, ebenso wie von Kultur, sehen Emirbayer und Goodwin in der Arbeit von Padgett und Ansell (1993) zum Aufstieg der Medici-Familie in Florenz (1400–1434). In ihrer Untersuchung zeigen die beiden Autoren, wie es der Familie der Medici durch Heiratsstrategien, wirtschaftlich und politisch strategisches Handeln sowie weitreichende Finanzbeziehungen gelingt, einen Weberaufstand zu überstehen, sich mit ihrem Familiennetzwerk gegenüber anderen Familien besser aufzustellen und so den Stadtstaat wesentlich mitzugestalten (vgl. Diaz-Bone 2008: 321 f.; Gamper 2017; Hepp 2010: 228). Weiter sehen Emirbayer und Goodwin das Werk von Harrison C. White mit dem Titel „Identity and control“ (1992) als wichtigsten Beitrag zur Öffnung einer strikt strukturalen Forschungsperspektive. In diesem entwickelt White eine Rahmung für Forschungsarbeiten, welche der Position des strukturalistischen Konstruktivismus zugeordnet werden können (vgl. Hepp 2010: 228 f.; Löwenstein 2017: 26). Entlang einer Ausarbeitung von eigenen begrifflichen Konzepten versteht er Netzwerke dabei als „fluide Strukturformen“ und entwirft einen Ansatz 13 Emirbayer und Goodwin (1994) unternehmen den Versuch einer theoretischen Zuordnung netzwerkanalytischer Arbeiten und erarbeiten eine Unterteilung, die sie als „structuralist determinism“, „structuralist instrumentalism“ und „structuralist constructionism“ (Emirbayer & Goodwin 1994: 1425 ff.) bezeichnen. Letzteres ist im Deutschen auch als relationaler Konstruktivismus (wenn auch nicht ganz ohne Kritik) bekannt (vgl. Löwenstein 2017: 26). Der strukturalistische Determinismus bildet in der wissenschaftlichen Literatur dabei wohl den am häufigsten rezipierten Ansatz. Da auch in der vorliegenden Arbeit die standardisierten netzwerkanalytischen Vorgehensweisen einer kritischen Beleuchtung unterzogen werden, bildet auch hier der strukturalistische Determinismus einen wichtigen Ausgangspunkt der Diskussion. Wie im Text erwähnt, wird diesem ein strikter Vorzug von Beziehung vor individuellen Eigenschaften sowie eine Dominanz mathematischer Modelle attestiert (vgl. Holzer 2006: 75 f.). Dem strukturalistischen Individualismus werfen sie eine Vorgehensweise vor, welche individualistische Handlungstheorien (erst) im Nachhinein mit relationalen Konzepten anreichert (vgl. Holzer 2006: 77). Die Facetten des Strukturalistischen Konstruktivismus werden im Text nochmals aufgegriffen und besprochen. Für eine weitere Übersicht siehe auch Holzer (2006: 76–79)
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
mit welchem er „Struktur und Kultur gemeinsam neu strukturalistisch analysiert14 “ (Mützel & Fuhse 2010: 13). „Das strukturalistische Bild der Netzwerkforschung von Beziehungen als ermittelbare und erfassbare Verbindungen ohne Ziel- und Inhaltsambiguitäten wird damit grundsätzlich in Frage gestellt. In den Blick rückt dafür, wie Bedeutungen im sozialen Kontext entstehen“ (ebd.: 13 f.). Doch auch Whites Ansatz bleibt nicht ohne Kritik. Ihm wird insbesondere die Vernachlässigung einer subjektiven Sinnbearbeitung angekreidet. Denn in Whites Theorie wird Sinn „in erster Linie sozial gedacht und nicht subjektiv in den Köpfen der Beteiligten“, wie bspw. bei Weber (Schmitt & Fuhse 2015: 165). So sind es vor allem Handlungstheoretiker, die bemängeln, dass Handlungsentscheidungen und Agency bei White zu wenig unter Berücksichtigung stehen (vgl. ebd.: 166). Darüber hinaus bleibt „die konkrete Art und Weise der Berücksichtigung von Kultur unklar und unausgefüllt […] White weist eher auf ein Problem hin, nämlich das der adäquaten Berücksichtigung von kultureller Bedeutung als einen Aspekt der Netzwerkanalyse, statt, dass er dieses löst“ (Hepp 2010: 229). Während eine Diskussion zur (theoretischen) Integration von strukturaler Analyse und Akteursperspektive also in vollem Gange ist, zeigt ein weiterer Blick auf die bestehende Literatur, dass mittlerweile insbesondere interpretativ qualitative Verfahren als vielversprechend für eine praktische Umsetzung gelten (vgl. Diaz-Bone 2008: 311; Hepp 2010: 227). Der Mehrwert liegt hierbei insbesondere in der – wie oben beschrieben – vielfach vermissten Möglichkeit des Einbezugs von Sinnverstehen in standardisierten Verfahren; also die soziale Wirklichkeit aus Akteursperspektive in die Analyse einzuflechten (vgl. Häußling 2010: 79; Hoffmann 2015: 78 f.; Hollstein 2006: 17). „Die qualitative Auswertung besitzt dabei das besondere Potential, die „kulturelle Wende“ der relationalen Soziologie empirisch zu vollziehen. Das bedeutet, dass die gewonnenen Netzwerkdaten als „stories“ der Befragten über ihr soziales Umfeld gewertet werden können, weil sie deren Alltagsdeutungen und -handlungen zugrunde liegen“ (Häußling 2010: 80; Herv. im Orig.). Resümierend gilt es festzuhalten: Mit qualitativen Verfahren gelingt es, Einblicke in die Hintergründe und die Entstehung von Strukturen zu erhalten, Beziehungsformen explorativ zu ermitteln, die Perspektive der befragten Akteure auf deren jeweilige soziale Netzwerkumgebung einzubeziehen sowie Handlungspraktiken und Bedeutungszuschreibungen zu kontextualisieren (vgl. Bilecen & Amelina 2018: 601; Hollstein 2006: 20 f.). Die nachstehende Abbildung 3.1 bietet eine Übersicht zur Zusammenführung der Konzepte von Netzwerkstruktur und Agency sowie 14 Für eine ausführliche Darstellung von Whites Theorieansatz siehe Schmitt und Fuhse (2015). Für weitere Kritikpunkte zu einem Mangel an Diskussion von Kulturkonzepten aus kulturtheoretischer Perspektive siehe Hepp (vgl. 2010: 228) oder Löwenstein zur Perspektive von Emirbayer und Goodwin auf Whites Arbeit (vgl. 2017: 26).
3.4 Relationale Forschungsperspektive
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deren Nutzen für die vorliegende Arbeit als sensibilisierendes Konzept (s. hierzu auch in Abschn. 3.4.2).
Abbildung 3.1 Theoretische Perspektive auf Struktur und Agency als sensibilisierendes Konzept
Hinsichtlich der praktischen Umsetzung zeigt sich, dass unter Labeln wie „visuelle Netzwerkforschung“ (Schönhuth & Gamper 2013), „qualitative Networks“ (Bellotti 2015) oder „Mixed-Methods“ (Domínguez & Hollstein 2014; Edwards 2010) mittlerweile eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten, die sich neben den strukturalen Konzepten der Netzwerkforschung auch qualitative Ansätze sozialwissenschaftlicher Forschung zunutze machen, entstanden sind (vgl. z. B. Armitage 2016; Bellotti 2016; Bilecen & Amelina 2018; Bojarczuk & Mühlau 2018; Gamper & Fenicia 2013; Hoffmann 2015; Hollstein & Straus 2006; Olivier 2013; Ryan 2017). Zu den wohl ersten publizierten Beiträgen zählt im deutschsprachigen Raum der im Jahr 2006 unter dem Titel „Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen“ erschienene Sammelband von Hollstein und Straus (2006). In diesem werden entlang primär empirischer Studien verschiedene Verknüpfungsmöglichkeiten von qualitativen Ansätzen und Netzwerkkonzepten vorgestellt. Nur wenig später wurden diese von Diaz-Bone (2008) unter einer kritischen Perspektive beleuchtet und rezensiert. Er merkt an, dass aus seiner Perspektive in den meisten Beiträgen zwar qualitative Verfahren zum Einsatz kommen, für die Analyse der Netzwerke jedoch weiterhin oftmals auf standardisierte Ansätze zurückgegriffen werde (vgl. ebd.: 323 ff.). Einen der im Sammelband aufgeführten Beiträge bildet die Studie von Scheibelhofer (2006) – um an dieser Stelle nur exemplarisch ein Beispiel zu nennen15 . Diese befasst sich mit der Netzwerkeingebundenheit und damit 15 Andere im Rahmen des Sammelbands veröffentlichte Studien entwickeln andere Forschungsdesigns. Werner, Stiehler und Nestmann (2006) greifen bspw. auf teilstrukturierte Interviews und der Vorlage einer Vignette (vgl. Werner et al. 2006: 418) zurück. Hinsichtlich einer Verknüpfung mit netzwerkanalytischen Konzepten weisen sie jedoch erst am Ende
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
einhergehenden Interaktionsmöglichkeiten von österreichischen WissenschaftlerInnen in den USA. Für ihre Datenerhebung nutzt sie dabei Leitfadeninterviews sowie auf visueller Ebene „egozentrierte Netzwerkzeichnungen16 “ (Scheibelhofer 2006: 311); wenngleich sie dabei auf eine Erfassung der Alter-Alter Relationen verzichtet. Hinsichtlich letzterem Aspekt argumentiert Diaz-Bone jedoch (allgemein und ohne konkreten Bezug auf den Beitrag von Scheibelhofer), dass eine fehlende Erhebung der Alter-Alter-Relationen zu einer nur unvollständigen Erfassung der Netzwerkstruktur führe. Dies wiederum führt zu einer analytischen Verhaftung auf der Ebene sozialer Beziehungen zwischen Ego und Alter. Um jedoch potentielle Handlungsmöglichkeiten bzw. -einschränkungen analysieren zu können, bedarf es einer vollständigen Erfassung der Netzwerkstruktur (vgl. Diaz-Bone 2008: 338) (s. hierzu auch Abschn. 3.2). Dementsprechend bleibt im Fall von Scheibelhofers Arbeit offen, inwiefern bei den von ihr erhobenen Daten von einem Netzwerk gesprochen werden kann. Unter Bezugnahme auf alle im Sammelband veröffentlichten Beiträge schlägt Diaz-Bone schließlich vor, vielmehr von einer Ergänzung durch qualitative Methoden (anstelle einer qualitativen Netzwerkanalyse) zu sprechen (vgl. ebd.: 337). Doch auch nach der Formulierung seiner Diagnose zeigt sich, dass in später veröffentlichten Forschungsarbeiten weiterhin – wenn auch unter verschiedenen Vorgehensweisen – meist narrative Interviews mit netzwerkanalytischen visuellen Elementen verknüpft und unter einer zum Teil quantifizierenden Logik analysiert werden (vgl. Ryan et al. 2014; Schönhuth & Gamper 2013). So plädieren bspw. Bilecen und Amelina (2018) dafür, „biographische Narrationen nicht isoliert von interpersonellen Beziehungen zu betrachten“ (Bilecen & Amelina 2018: 597) und sprechen sich dabei für die Potentiale einer qualitativen Netzwerkforschung aus (vgl. ebd.: 600). Was aus meiner Perspektive in ihrem Beitrag jedoch nicht eindeutig transparent wird, ist die Frage nach dem, was die beiden Autorinnen als qualitative Netzwerkanalyse bezeichnen, ausmacht. Denn ihre qualitativen Daten beziehen sie aus biographischen Interviews; die Netzwerkinformationen erheben sie hingegen ihres Artikels darauf hin, dass eine Vignetten-Erhebung eine sinnvolle Ergänzung im Bereich der Netzwerkforschung sein kann (vgl. ebd.: 435). Kühn (2006) entwirft in seiner Arbeit ein Forschungsdesign, welches Längsschnittdaten nutzt, um soziale Netzwerke entlang von biographischen Erzählungen zu eruieren. So gelingt es ihm, die Rolle sozialer Beziehungen im Kontext alltäglicher Lebensführung und berufsbiographischer Orientierungen nachzuzeichnen. Dabei merkt Kühn jedoch selbst an, dass mit der von ihm durchgeführten Vorgehensweise zwar Netzwerkveränderungen im Kontext von sich verändernden Rahmenbedingungen aufgezeigt werden können, es jedoch an Detailierungsgrad hinke wenn es um Fragen der Positionierung der Alteri untereinander gehe oder Netzwerkbestandteile im Allgemeinen von Interesse werden (vgl. Kühn 2006: 410 f.). 16 Der Begriff egozentrierte Netzwerkzeichnung entspricht dem von Scheibelhofer verwendeten Vokabular (vgl. Scheibelhofer 2006: 311 u. 314).
3.4 Relationale Forschungsperspektive
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unter einer standardisierenden Fragelogik (vgl. ebd.: 603 f.). Die anschließende Interpretation des Netzwerks bleibt dabei auf einer Ebene der Reflexion zur Stärke von Netzwerkkarten zur Datenerhebung verhaftet – so mein Eindruck. Spätestens jedoch bei der Datendarstellung fällt auf, dass die Forscherinnen eine standardisierte Perspektive zur Auswertung von Netzwerk(karten)daten einnehmen (vgl. ebd.: 606). Ein anderes Beispiel bildet Bellottis (2008) Studie zu Freundschaftsnetzwerken von alleinstehenden jungen Erwachsenen in Mailand. Im Rahmen ihrer Datenerhebung erfragt sie zunächst alle für ihre Interviewpartner relevanten Freundschaftskontakte und führt anschließend biographische Interviews. Mittels Ersterem zeichnet sie die jeweiligen Netzwerkbeziehungen der Befragten (computergestützt durch das Programm UCINET generiert) nach. Mit Zweiterem holt sie Bedeutungszuschreibungen aus Perspektive der Befragten zu ihren sozialen Beziehungen ein. Durch den Methoden Mix kann Bellotti in ihrer Ergebnisdarstellung, welche sie in Form einer Typologie aufbereitet, sowohl Aussagen über die Struktur der jeweiligen Netzwerke als auch über die Bedeutung von Freundschaft aus Perspektive ihrer Interviewten machen (vgl. Bellotti 2008: 322 ff.). Offen bleibt aufgrund der softwaregestützten Netzwerkgenerierung jedoch die Frage, in welchem Verhältnis die Netzwerkakteure, aus Perspektive der interviewten Person, zueinander stehen. Darüber hinaus ist auch bei diesem Beispiel auffällig, dass – wie bei Bilecen und Amelina – die Datenerhebung ebenfalls einem zweigeteilten Verfahren unterliegt. Insbesondere im ersten Teil wird dabei einer quantifizierenden Logik gefolgt. Nachdem die exemplarisch aufgeführten Studien nun unter einem kritischen Blickwinkel vorgestellt wurden, soll dies jedoch nicht bedeuten, dass eine mixed-methods Vorgehensweise kein Potential bereithalte. So kann es bspw. gelingen, neben formbezogenen Informationen sozialer Netzwerke auch zusätzliche Kontextinformationen hinsichtlich der Qualität sozialer Beziehungen einzuholen (vgl. Diaz-Bone 2008: 337; Edwards 2010: 18). Unbeantwortet bleibt dabei jedoch die Frage, wie soziale Netzwerke hinsichtlich deren Struktur und subjektiver Bedeutungszuschreibungen qualitativ untersucht werden können; die Netzwerkstruktur als solche also nicht ausschließlich nach formalen Standards zu analysieren. Denn wie die empirischen Beispiele der bestehenden Studien zeigen, bleibt die Untersuchung des Strukturalen meist quantifizierenden Konzepten vorbehalten (s. hierzu auch Diskussion bei Diaz-Bone 2008: 338; Herz et al. 2015: Abschn. 4 u. 14). Einen geeigneten Ansatz zur Überwindung dieser Kritik bietet das Konzept der „Qualitativen Strukturalen Analyse“ (QSA) (Herz et al. 2015). Denn mit dieser werden Ansätze der Netzwerkanalyse konsequent mit den Standards qualitativer Sozialforschung nutzbar gemacht (vgl. Altissimo 2016: Abschn. 1.1; Peters et al. 2016; Truschkat 2016). Deren konkrete Anwendung für die vorliegende Arbeit wird noch in Kapitel 5 einer ausführlichen Besprechung unterzogen.
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3.4.2
Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
Persönliche Netzwerke und Agency als Prozess
Um den voranstehend aufgeführten Kritikpunkten in dieser Arbeit entgegenwirken zu können, wird in diesem Subkapitel eine Möglichkeit zur Zusammenführung von Struktur und Agency vorgestellt. Wie oben erwähnt, sind es Emirbayer und Goodwin die sich für eine verstärkte Berücksichtigung von Agency, im Kontext netzwerkanalytischer Forschungsarbeiten aussprechen (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994: 1442 f.). Das Agency-Konzept sehen sie dabei als Möglichkeit, um subjektive Sinnzuschreibungen in die Netzwerkforschung einzubeziehen (vgl. Mützel & Fuhse 2010: 23). In deutschsprachigen Übersetzungen ist der Begriff Agency mit vielfachen Varianten, wie bspw. Handlungsfähigkeit, Handlungsmächtigkeit, Handlungsbefähigung, Handlungsermächtigung oder als Handeln im Allgemeinen, belegt17 . Um diesen facettenreichen Begriff jedoch nicht auf einen dieser Aspekte reduzieren zu müssen, wird ebenso oft auch der englischsprachige Begriff im Deutschen übernommen (vgl. z. B. Hoffmann 2015: 61; Homfeldt et al. 2006: 23; Raithelhuber 2012: 122). Dementsprechend werden in der vorliegenden Arbeit die oben aufgeführten Begriffe synonym verwendet. Eine Übersicht zur Skizzierung von Agency bietet die Formulierung von Homfeldt, Schröer und Schweppe: „Das sozialwissenschaftliche Grundverständnis basiert auf der Ausgangsthese, dass menschliche Handlungen nicht nur durch Routinen bestimmt werden, die in der Vergangenheit entwickelt wurden, sondern dass sich Akteure durch Herausforderungen und Konflikte von diesen distanzieren können, um sich neuen sozialen Konstellationen zu stellen und im Rahmen sich verändernder Lebens- und Umweltbedingungen handelnd zu reagieren“ (Homfeldt et al. 2008c: 221).
Was an dieser resümierenden Formulierung deutlich wird, ist, dass bei der Erforschung von Agency sowohl individuelle Handlungen als auch die das Individuum umgebende Umwelt in den Fokus des Interesses rücken. Daher geht mit der Untersuchung von Agency außerdem die Frage einher, inwiefern individuelles Handeln als etwas, das in Relation zu einer sozialen Umwelt steht, gedacht werden kann (vgl. Raithelhuber 2012: 123). Um dieses Anliegen auch praktisch umsetzen zu können, wird dem Aspekt in der vorliegenden Arbeit mit der Erhebung ego-zentrierter Netzwerke (s. Abschn. 3.2.2) begegnet. So wird es möglich, neben den Handlungspraktiken auch die persönliche Netzwerkeingebundenheit eines Akteurs konsequent 17 Ebenso ist die Liste der mit Agency in Verbindung gesetzten Bedeutungszuschreibungen lang. Emirbayer und Mische schreiben: „[I]t has all too seldom inspired systematic analysis, despite the long list of terms with which it has been associated: selfhood, motivation, will, purposiveness, intentionality, choice, initiative, freedom, and creativity“ (Emirbayer & Mische 1998: 962).
3.4 Relationale Forschungsperspektive
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mitzudenken und eine Voraussetzung dafür zu schaffen, bestehende Dualismen, wie etwa zwischen Struktur und Handeln (vgl. Helfferich 2012: 24; Löwenstein 2017: 17), zu überwinden. In ihrem mittlerweile vielfach rezipierten Beitrag „What is Agency?“ (1998) erarbeiten Emirbayer und Mische drei Dimensionen von dessen, was sie unter menschlicher Agency verstehen18 und treten so der besagten Dichotomie entgegen. Gekennzeichnet sind diese durch zeitliche Orientierungen – wie Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart – und können wie folgt skizziert werden: (1) „Das iterative Element“ umfasst „die selektive Reaktivierung von bisherigen Denk- und Handlungsmustern durch die Akteurinnen und Akteure als in praktischer Aktivität routinehaft verinnerlicht, so dass sie soziale Welten Stabilität und Ordnung verleihen und dabei behilflich sind, Identitäten, Interaktionen und Institutionen über längere Zeit aufrechtzuerhalten“ (Emirbayer & Mische 2017: 148). Unter (2) „Das projektive Element“ wird verstanden: „[D]ie gedankliche Erzeugung eines möglichen zukünftigen Handlungsverlaufs durch die Akteurinnen und Akteure und die kreative Rekonfiguration der so erhaltenen Denk- und Handlungsstrukturen in Relation zu den Hoffnungen, Ängsten und Wünschen für die Zukunft, welche der/die Akteur/in hegt“ (ebd.: 148 f.). Sowie (3) „Das praktisch-evaluative Element“, welches wie folgt beschrieben wird: „[D]ie Fähigkeit der Akteurin oder des Akteurs, praktische und normative Beurteilungen von alternativen möglichen Handlungsverläufen in Reaktion auf sich abzeichnende Anforderungen, Dilemmata und Ambiguitäten von neu-entstehenden Situationen vorzunehmen“ (ebd.: 149). Ausgehend von diesen Grundpositionen ihres Agency-Ansatzes betonen Emirbayer und Mische außerdem, dass ihr Konzept als ein relationales zu verstehen sei (vgl. ebd.: 151). Umwelt und Individuum bzw. Struktur und Handeln bilden dabei keine voneinander getrennt zu betrachtenden Erkenntniskategorien. Helfferich fasst diesen Perspektivwechsel wie folgt zusammen: „Überträgt man den damit ermöglichten Perspektivwechsel auf den Gegenstand der Handlungsmächtigkeit, so erscheint diese nicht mehr als an die (aus dem Kontext isolierte) Figur des Individuums gebunden, sondern an Relationen in Netzwerken oder Systemen, die auch Artefakte und Dinge einschließen“ (Helfferich 2012: 24).
Mit diesem Perspektivwechsel – also der Lösung von einer individuenzentrierten Betrachtung und einer Berücksichtigung sich stetig ändernder Relationen – wird Agency außerdem zu „etwas stets neu Hervorbringendes“ (ebd.). Ebenso wird laut Emirbayer und Goodwin unter diesem Blickwinkel deutlich, dass Struktur und 18 In
der englischsprachigen Originalversion siehe Emirbayer und Mische (1998: 971).
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
Kultur nicht unabhängig voneinander zu denken seien: „In der Realität durchdringen Kultur und soziale Beziehungen einander und bedingen sich gegenseitig so durchgehend, dass es geradezu unmöglich ist, das eine ohne das andere zu begreifen“ (Emirbayer & Goodwin 2017: 318). So können kulturelle Strukturen das Handeln von Akteuren sowohl begrenzen als auch befähigen, bspw. aufgrund vorherrschender Diskurse19 . Resümierend halten Emirbayer und Goodwin fest, dass menschliche Agency stets von (mehreren) kulturellen sowie gesellschaftlichen Umwelten gerahmt wird. Gleichzeitig verfügen die Akteure über die Fähigkeit, bestehende Strukturen zu reproduzieren oder zu verändern (vgl. ebd.: 323 f.). „Of course, if culture and societal (network) structures shape actors, then it is equally true that actors shape these structures in turn“ (Emirbayer & Goodwin 1994: 1445). Eben dieser Aspekt – also die wechselseitige Beeinflussung von Netzwerkstruktur und Agency – ist es, der auch in der vorliegenden Arbeit von Interesse ist. Ebenso interessant ist, dass unter dem Agency-Konzept zum Ausdruck kommt, inwiefern es die Handlungsmächtigkeit von Akteuren nicht als unveränderbaren Zustand zu verstehen gilt. Da in der vorliegenden Arbeit Mobilitätsgeschichten und nicht einzelne Mobilitätszeitpunkte zum Ausgangspunkt der Betrachtung gemacht werden sollen (s. Abschn. 5.1.2), erscheint eine Orientierung an dem skizzierten Konzept von Agency auch für dieses Anliegen als fruchtbar. Denn wie oben angesprochen, wird unter dem Konzept von Agency deutlich, dass Akteurshandlungen mehr als ein Abbild gesammelter Erfahrungen sind (vgl. Scherr 2012: 107) und Netzwerke nicht als Standbilder missverstanden werden dürfen (vgl. Löwenstein 2017: 26). Emirbayer und Mische machen deutlich, dass: „The agentic dimension of social action can only be captured in its full complexity, we argue, if it is analytically situated within the flow of time. More radically, we also argue that the structural contexts of action are themselves temporal as well as relational fields […]“ (Emirbayer & Mische 1998: 963). Denn menschliche Agency ist – wie erwähnt – stets durch in der Vergangenheit entwickelte habituelle Aspekte, der Fähigkeit zur Vorstellung künftig alternative Handlungspraktiken auszubilden sowie bestehende Routinen zugunsten zukünftiger Projekte (unter Berücksichtigung gegenwärtiger Situationen) aufzubrechen, gekennzeichnet (vgl. Emirbayer & Mische 1998: 971; Emirbayer & Mische 2017: 148 f.; Scherr 2012: 109). So wird unter dieser Perspektive das Gestaltungs- und Veränderungspotential von Akteuren transparent und der Unterschied zu Handlungstheorien, die weniger Agency und mehr Handlungsregelmäßigkeiten und -erwartbarkeiten fokussieren, deutlich (vgl. Mützel & Fuhse 19 Zu berücksichtigen gilt es dabei, dass vermutlich niemals nur ein einzelner Diskurs, sondern stets mehrere kulturelle Formationen auf die Akteure – von Emirbayer und Goodwin auch als historische Akteure bezeichnet – wirken (vgl. Emirbayer & Goodwin 2017: 322).
3.4 Relationale Forschungsperspektive
61
2010: 24). Darüber hinaus gilt es festzuhalten, dass die handelnden Akteure als historische Akteure zu begreifen sind; stets gebunden an Zeit und Ort (Emirbayer & Goodwin 2017: 321 f.). Inwiefern die sozialen Handlungen der Akteure unter diesen Gesichtspunkten einen temporären Charakter erfahren, geht bspw. anhand von folgender Formulierung von Emirbayer und Mische hervor: „Jegliche soziale Handlung ist eine konkrete Synthese, die auf der einen Seite durch temporal-relationale Handlungskontexte geformt und bedingt wird, auf der anderen Seite durch das dynamische Element der Agency an sich. Letzteres garantiert, dass soziale Handlung in der Empirie niemals vollständig determiniert oder strukturiert sein wird. Andererseits ist kein Moment vorstellbar, in dem Agency wirklich „frei“ von Struktur werden würde […]“ (Emirbayer & Mische 2017: 189, Herv. im Orig.).
Abschließend soll nun noch ein empiriebezogener Blick auf die den Akteur umgebende Struktur und deren Einfluss auf das Akteurshandeln bzw. den durch Agency erzeugten Einfluss auf die Ausgestaltung von Netzwerkstrukturen (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994: 1445) gerichtet werden. Dabei zeigt sich, dass dieser Umstand in der bestehenden Literatur je nach Forschungsfokus aus unterschiedlichen Perspektiven thematisiert wird. So wird bspw. unter dem Aspekt der Kontextualisierung von Netzwerken und Handlungen erwähnt, dass gesellschaftliche- und ökonomische Entwicklungen (o. ä.) als einflussstiftende Elemente wirken können (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Wellman 1999b: 34). Exemplarisch führen bspw. Ryan und D’Angelo an, dass Migrantennetzwerke sowohl von der ökonomischen Situation im Herkunftsals auch der im Aufnahmeland beeinflusst werden (vgl. Ryan & D’Angelo 2018: 150). Richtet sich der Blick hingegen auf die Beziehungsebene zwischen Akteuren finden sich unterschiedliche Argumente, die potentielle Dynamiken in Beziehungen erklären können bzw. die wesentlich durch die Akteure selbst beeinflusst werden. Hierzu zählen bspw. sich verändernde Lebensumstände, wie sie bspw. mit der Geburt eines Kindes (vgl. Rainie & Wellman 2014: 136; Wellman et al. 1997), der Suche nach einer Arbeitsstelle (vgl. Chauvac et al. 2014: 8) oder der Herausbildung neuer Freundschaftsbeziehungen (vgl. Ryan & D’Angelo 2018: 150) einhergehen können. So bildet sich unter Berücksichtigung der zeitlichen Dimension ab, dass Beziehungen und Netzwerkstrukturen immer auch Veränderungen unterliegen können (vgl. Ryan 2015: 1666). Im Allgemeinen kann festgehalten werden, dass sich mittlerweile vielfältige Aussagen dahingehend finden lassen, dass Netzwerke durch dynamische Elemente charakterisiert sind (vgl. z. B. Edwards 2010: 6; Herz & Olivier 2012b: 116; Lubbers et al. 2010: 91). An konkreten Erkenntnissen über die Entstehung, Bedingung und Veränderung von Netzwerken mangelt es bislang jedoch (vgl. Hollstein 2006: 22; Ryan 2015: 1667). Wie dieser Herausforderung in der
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Persönliche Netzwerke und eine relationale Forschungsperspektive
vorliegenden Arbeit forschungspraktisch begegnet wird, wird unter Kapitel 5 noch genauer besprochen.
3.5
Zusammenfassung: Persönliche Netzwerke im Kontext von Mobilität
Abschließend zu diesem Kapitel wird nun die Zusammenführung der Ansätze von Mobilität im Plural (s. Abschn. 2.1) und einer transnationalen Forschungsperspektive (s. Abschn. 2.2) mit dem Konzept persönlicher Netzwerke und einem relationalen Ansatz als Überblick skizziert. Wie in den voranstehenden Ausführungen gezeigt wurde, unterliegt Mobilität heute einem vielschichtigen Charakter (vgl. Urry 2007: 47). Dieser ist in der vorliegenden Arbeit insbesondere deshalb von Interesse, da davon ausgegangen wird, dass Mobilität für Digitale Nomaden nicht nur in geographischer Hinsicht, sondern – aufgrund ihrer Arbeit – zumindest auch auf onlinebasierter Ebene relevant ist (vgl. z. B. Liegl 2011). Dass eine Überwindung weiter geographischer Distanzen gelingen kann, ist nicht zuletzt auf die fortwährenden Entwicklungen im Bereich des Transportwesens und der IuK-Technologien zurückzuführen. Auf Akteursebene bedeutet dies wiederum, dass sich deren Orientierungsrahmen weit über nachbarschaftliche Regionen ausdehnen kann (vgl. Mau 2007: 58). Die Ausbildung und Aufrechterhaltung Landesgrenzen überschreitender, also transnationaler, Beziehungsgeflechte wird möglich. Um die so entstehende mögliche weltweite Eingebundenheit eines Akteurs konzeptionell erfassen zu können, wurde das Konzept persönlicher Netzwerke vorgestellt. Dessen Potential für die vorliegende Arbeit wird u. a. auf folgendes Argument zurückgeführt: „Der Forschungsansatz der SNA erlaubt, Transnationalität über Beziehungen von Akteuren zu erfassen und somit die Untersuchung von sozialen Strukturbildungen, welche sich nationalstaatlichen Einteilungen entziehen“ (Herz & Olivier 2012c: 7). Durch die unter dem Konzept der ego-zentrierten Netzwerke gewählten Perspektive können außerdem Aussagen über Strukturen, die hinter dyadischen Beziehungen liegen und somit Aufschluss über handlungsermöglichende oder u. U. hemmende Strukturressourcen liefern, getätigt werden (vgl. Burt 1997: 339; Straus 2013: 33; Wellman 1988: 37). Gleichzeitig wird – insb. durch die explorativ ausgerichtete Forschungshaltung bedingt und forciert – durch die Einbindung des Agency-Ansatzes eine Berücksichtigung subjektiver Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen möglich. Dabei wird weder die Handlungsmächtigkeit von Akteuren im Kontext von deren Mobilität als frei von Strukturen noch Struktur als unbeeinflussbar von Akteurshandlungen betrachtet (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Cachia & Jariego 2018: 112;
3.5 Zusammenfassung: Persönliche Netzwerke im Kontext von Mobilität
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Emirbayer & Goodwin 1994: 1445). Zugleich gelingt so eine Kontextualisierung des Akteurshandelns (vgl. Bilecen & Amelina 2018: 597). Mit der so erarbeiteten theoretischen Perspektive als sensibilisierendes Konzept wird es möglich, sowohl bestehende Dualismen, wie zwischen Struktur und Handeln (vgl. Helfferich 2012: 24; Löwenstein 2017: 17), zu überwinden als auch den Forscherblick über nationalstaatliche Grenzen hinaus zu richten und Mobilität(en) anstelle eines – wie in der Literatur oftmals thematisiert (s. Abschn. 2.1.2) – selektiv ausgewählten Ortes zum Ausgangspunkt der Betrachtung zu machen. Das heißt außerdem, dass nicht nur bestehende oder hergestellte Strukturen und Handlungsmuster hinsichtlich deren Relevanz für Mobilität, sondern auch im Kontext von Mobilität untersucht und potentielle Dynamiken berücksichtigt werden können.
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Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
Arbeit, Mobilität und Lebensformen im Allgemeinen unterliegen einem Wandel – so die in wissenschaftlicher Literatur mittlerweile vielfach zu lesenden Hinweise (vgl. z. B. Cresswell 2006: 20; Florida 2014; Merkel & Oppen 2013; Nadler 2014; Sheller & Urry 2006: 207) (s. auch Kap. 2). Auch wenn diese Aussage zunächst trivial erscheint, deutet sie doch auf einen der Grundpfeiler zur Herausbildung der noch jungen Mobilitäts- und Handlungspraktiken Digitaler Nomaden hin (s. Abschn. 4.1). Denn wie voranstehend bereits unter Verweis auf Cresswells Zitat „We cannot understand new mobilities, then, without understanding old mobilities“ (Cresswell 2010: 29) (s. Abschn. 2.1.2) angeführt wurde, wird Ähnliches auch für die Erarbeitung eines Verständnisses der (Mobilitäts-)Facetten Digitalen Nomadentums angenommen. Daher wird in diesem Kapitel unter Aufführung eines kurzen historischen Überblicks ein Fundament für eine Kontextualisierung von Onlinearbeit im Zusammenhang mit Mobilität geschaffen (s. Abschn. 4.1.1). Anschließend wird entlang einer Literaturbesprechung zu mobilen Akteuren der Gegenwart bzw. deren Lebensweisen ein Einordnungsversuch des Digitalen Nomaden unternommen. So soll einerseits eine Anknüpfung an bestehende Studien und andererseits eine Differenzierung des Digitalen Nomaden zu anderen Mobilen möglich werden. Anders als unter der Bezugnahme auf mobile (Pendler-)Akteure und deren Lokalbezüge in Kapitel 2, wird in diesem Abschnitt jedoch der Aspekt des Temporären als weitere Dimension von Mobilität in die Darstellung einbezogen und deren Relevanz für die vorliegende zu untersuchende Thematik unterstrichen (s. Abschn. 4.1.2). Abschließend wird auf Basis der bis dato gewonnenen Erkenntnisse sowie der zuvor erarbeiteten theoretischen Forschungsperspektive das bislang nur lose verfasste Forschungsanliegen entlang von zwei konkret formulierten Forschungsfragen vorgestellt (s. Abschn. 4.2).
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_4
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4.1
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Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
Der Digitale Nomade: Ein Annäherungs- und Einordnungsversuch
Jene zwei Betrachtungsschwerpunkte, welche hinter den in diesem Abschnitt zu besprechenden Ausführungen liegen, lassen sich zunächst in folgenden allgemeinen Fragen subsumieren: Durch welche historisch gewachsenen Umstände wurde die Herausbildung von heutigen Mobilitäts- und Handlungspraktiken Digitaler Nomaden befördert bzw. möglich? Gibt es bereits bestehende bzw. beforschte Mobilitätsformen die an die Handlungspraktiken, wie sie für Digitale Nomaden erwartet werden1 , erinnern? Inwiefern sich die jeweiligen Aspekte auch im empirischen Material niederschlagen – sich also in den Erzählungen der Befragten spiegeln –, wird hingegen erst in den darauffolgenden Kapitel 6–8 transparent werden können.
4.1.1
Transformation von (Kreativ- und Wissens)Arbeit
Wie angekündigt wird im Folgenden nun ein kurzer historischer Überblick zu Veränderungen und (jüngsten) Entwicklungen aus dem Bereich (Online-)Arbeit skizziert. Im Vordergrund stehen dabei primär Aspekte, die für die vorliegende Arbeit als relevant erachtet werden2 .
4.1.1.1 Arbeit im historischen Kontext – ein kurzer Überblick Die Zeit des Frühkapitalismus ist im neunzehnten Jahrhundert insbesondere durch die Etablierung einer industriellen Produktionsweise gekennzeichnet. Deren zentrales Merkmal ist dabei der Einsatz und die Bereitstellung körperlicher Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt; wobei diese durch eine Berufsmoral, in welcher sich der Bürger dem Beruf zu verpflichten hat, charakterisiert ist. Hinsichtlich der damaligen Produktionsweisen bedeutet dies, dass nicht der Einzelne und dessen individuelle Fähigkeiten, sondern lediglich die Ausführung der jeweils anfallenden Arbeitstätigkeit von Interesse ist. Für die Bewältigung der Arbeit sind entsprechende körperliche Fähigkeiten und u. U. bestimmte Erfahrungen Voraussetzung. Der Einzelne ist dabei austauschbar (vgl. Krämer 2014: 26 f.). Anschließend entwickelt sich ab den 1920er Jahren die Hochzeit der industrialistischen Produktionsweisen. Rationalisierungsprozesse und Effektivitätsstreben werden zum Kennzeichen der organisierten 1 Bezugnehmend auf journalistische- und onlinebasierte Beiträge (vgl. Abendblatt 2017; Hart
2015; Hipp 2015; Hirn 2017; Mohnapril 2017; Wadhawan 2016) (s. auch Kap. 1). dabei kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Ebenso wenig handelt es sich um eine Aufführung, die einer exakten chronologischen epochalen Abfolge entspricht.
2 Es wird
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Moderne (vgl. ebd.: 25 u. 27). Dabei spielt insbesondere das Konzept des Taylorismus (als Vorreiter des späteren Fordismus) eine zentrale Rolle. Denn dieses steht für ein Verfahren der Prozesssteuerung, mit welchem Arbeitsschritte in kleinste Einheiten zergliedert werden. Das Modell wurde dabei mit dem Ziel der Arbeitsoptimierung so konzipiert, dass die einzelnen Schritte erlernbar und kraftsparend umgesetzt werden konnten. Für den einzelnen Arbeitnehmer bedeutet dies wiederum, dass dieser als maßgeblich „fremdgesteuert“ (ebd.: 27 f.) gilt. „Kopf- und Handarbeit“ werden einer sichtbaren Trennung unterzogen (Ibert & Kujath 2011: 11). Dementsprechend sind die produzierenden Akteure von „Planungs- und Kontrollmöglichkeiten des Arbeitsprozesses entkoppelt“ (Krämer 2014: 28). Infolge dieser Trennung können einzelne Handgriffe genau kontrolliert werden (bspw. anhand erzielter Stückzahlen). Gleichzeitig erfolgt so eine Dequalifizierung der Arbeitnehmer und auf Seiten des Arbeitgebers entsteht ein Wissensmonopol (vgl. Ibert & Kujath 2011: 11 f.). Ab den 1970er und 1980er Jahren (mit zunehmender Dynamik in den 1990er Jahren) ist eine weitere Entwicklung, welche sich schließlich durch eine kritische Haltung gegenüber dem rationalisierten Arbeitssubjekt auszeichnet, zu verzeichnen. Anstelle von standardisierten Abläufen, werden dem Arbeitnehmer in der Postmoderne mehr Entfaltungsmöglichkeiten eingeräumt; auch als post-fordistische Produktion bekannt. Diese Veränderung ist nicht zuletzt auf ein Wachstum im Bereich des Dienstleistungssektors zurückzuführen. Denn die dort notwendigen Fähigkeiten erfordern einen Rückgriff auf individuelle Kompetenzen (vgl. Krämer 2014: 30 f.); es entsteht eine „Subjektivierung von Arbeit“ (ebd.: 31). Der Einzelne bietet seine subjektive Arbeitsleistung wie ein Unternehmer auf dem Markt an. Voß und Pongratz sprechen daher auch von der Herausbildung des sogenannten „Arbeitskraftunternehmer[s]“ (1998). Sie erklären: „Mit der Verwendung des Unternehmer-Begriffs betonen wir strukturelle Ähnlichkeiten der neuen Form von Arbeitskraft mit dem Besitzer/Betreiber eines privaten Wirtschaftsbetriebes, der Kapital produktiv einsetzt und verwertet“ (Voß & Pongratz 1998: 145). Der Einzelne agiert dabei strategisch, indem er seine eigene Arbeitskraft stetig durch Weiterbildungen aufwertet und sein Fachwissen auf den neusten Stand bringt. Es entsteht eine regelrechte „Selbst-Ökonomisierung“ (Krämer 2014: 32) des Einzelnen.
4.1.1.2 Kreativ- und Wissensarbeit in der Gegenwartsgesellschaft Ausgehend von dem seit den 1970er Jahren angestoßenen Wandel, bildet sich seit den vergangenen Jahrzehnten eine sogenannte kreative Ökonomie bzw. kreative Industrie heraus (vgl. Florida 2014: 15 ff.; Krämer 2014: 36; Nadler 2014: 7); auf Akteursebene wird dabei von der Herausbildung eines Kreativsubjekts gesprochen. „Zentral für dieses Modell ist die Betonung von Kreativität als unumgänglicher Kompetenz moderner Beruflichkeit“ (Krämer 2014: 35). Darüber hinaus tritt an die
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4
Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
Stelle einer hierarchischen Arbeitsstruktur, in welche sowohl „proletarisierte Lohnarbeiter“ des Frühkapitalismus als auch „verberuflichte Massenarbeitnehmer“ (Voß & Pongratz 1998: 147) der organisierten Moderne eingebunden waren, ein verstärkt gefordertes Selbstmanagement des Arbeitnehmers (vgl. Krämer 2014: 36). Florida sieht in diesem Kontext Kreativität als grundlegende Triebfeder für ökonomischeund gesellschaftliche Entwicklungsprozesse. Hierzu entwirft er das Konzept der „Creative Class“ (Florida 2014). Zu deren Kern zählt er zunächst all jene Personen, deren Arbeitsaufgabe darin besteht, neue Ideen oder kreative Inhalte zu entwickeln (wie bspw. Musiker, Künstler, Architekten, Wissenschaftler oder Ingenieure). Bei einer solch eng gefassten Beschreibung belässt er es jedoch nicht. Unter einem weitläufiger abgesteckten Rahmen betont er vielmehr, dass auch die Arbeit von Personen aus anderen Bereichen, wie bspw. dem Gesundheitssektor, Finanz- oder Rechtswesen durch kreative Elemente charakterisiert sei. Denn auch in diesen Bereichen seien Arbeitnehmer dazu angehalten, innovativ auf standardisierte Abläufe zu reagieren (bspw. flexibel auf Kundenanfragen zu reagieren), so Florida (vgl. ebd.: 39). Dementsprechend zeigt sich, dass im Rahmen all dieser Arbeitsbereiche von den ausführenden Akteuren vielfältige und kreative Problemlösungsinitiativen gefordert werden. Zusammenfassend erklärt Florida: „[T]hose in the Creative Class are paid to use their minds–the full scope of their cognitive and social skills“ (ebd.: 9).
4.1.1.3 Flexibilisierung von Arbeitszeit und -Ort „[H]uman creativity is not limited to technological innovation or new business models. It is multifaceted and multidimensional […]“ (ebd.: 15), erklärt Florida weiter. Dennoch handelt es sich nicht um ein Gut, das stets zu festgelegten (Büro-)Zeiten abgerufen werden kann. Vielmehr bedarf es einer Neugestaltung von Lebensraum und Arbeitsform. Denn laut Florida kann nur so Kreativität voll ausgeschöpft werden. „Creativity involves distinct habits of mind and patterns of behavior that must be cultivated on both an individual basis and in the surrounding society“ (ebd.: 16). Unter Betrachtung des historischen Rückblicks zeigt sich, dass die während der organisierten Moderne praktizierte Trennung von Arbeits- und Wohnort sowie Erwerbsarbeit und Privatleben in der Gegenwartsgesellschaft ins Wanken gerät. Die beiden Sphären sind nunmehr durch Entgrenzung gekennzeichnet; Arbeits- und Privatleben verschwimmen in vielen Bereichen (vgl. von Streit 2011: 21, 24). Ausgangspunkt für diesen Wandel sind nicht zuletzt die fortschreitenden Entwicklungen im Bereich der IuK-Technologien (s. Abschn. 2.1 u. 3.1). Denn mit Hilfe der entsprechenden technischen Voraussetzungen wird heute längst nicht mehr nur im Büro,
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sondern auch in Cafés, Bahnhöfen, Flughäfen, Hotelzimmern oder der Privatwohnungen gearbeitet3 (vgl. Bender 2013: 7; Liegl 2011: 186; Rainie & Wellman 2014: 185; von Streit 2011: 44). Unter Betrachtung der so entstehenden (neuen) Arbeitsmustern scheint es wenig verwunderlich, dass in der Literatur auch von „atypischen Erwerbsverhältnissen“ (Merkel 2012: 15) gesprochen wird. Das bedeutet folglich auch, dass die Voraussetzungen für mehrfach am Tag wechselnde Arbeitsorte längst gegeben sind. Mittels portablen internetfähigen Geräten und einer geeigneten Internetinfrastruktur, wird der arbeitende Akteur zu einem vernetzten Akteur. Arbeit wird (für einige Berufsgruppen) unabhängig eines bestimmten Aufenthaltsortes möglich (s. Abschn. 2.1.1). Mit dem Öffnen eines Laptops – sei es nun im Café oder am heimischen Schreibtisch – öffnet sich zugleich ein bestimmter Tätigkeitsraum (s. Abschn. 3.1); Produkte und Dienstleistungen können im Netz onlinebasiert auf öffentlich zugänglichen Plattformen (wie Wikipedia, eBay oder YouTube) geteilt, beworben und verkauft werden. Wo früher Expertenkenntnisse gefragt waren, kann heute jeder zum Verkäufer werden (vgl. Rainie & Wellman 2014: 197–200). Rainie und Wellman beschreiben diese Veränderung wie folgt: „[T]here has been a shift in developed countries from growing, mining, and transporting things–atom work 3 Ein Blick auf Umfragen des amerikanischen Forschungszentrums Pew Reserach Center zeigt,
dass die technischen Voraussetzungen für sowohl Arbeitstätigkeiten als auch Privatangelegenheiten an unterschiedlichen Orten genutzt werden. Die Ergebnisse der Studie „Networked Workers“ (Madden & Jones 2008) zeigen, dass rund 50 % der darin 2134 Befragten (Hinweise zum Sample s. Madden & Jones 2008: 42 f.) angaben, arbeitsbezogene Emails an Wochenenden abzurufen, 46 % lesen ihre Emails auch an Krankheitstagen und 34 % bearbeiten ihre Emails während ihrer Urlaubszeit (vgl. Madden & Jones 2008: v). Darüber hinaus zeigt die Studie, dass private Angelegenheiten während Bürozeiten koordiniert werden. 19 % der Befragten gaben bspw. an, mittels onlinebasierter Kommunikation sowohl Zuhause als auch im Büro Bestellungen (bspw. Bücher) vorzunehmen und 12 % gaben an, Kurznachrichten zu versenden (Madden & Jones 2008: vii). (Weitere Hinweise zur Dateninterpretation und -diskussion s. auch (Rainie & Wellman 2014: 185 ff.)). Auch wenn die hier genannten Daten bereits aus dem Jahr 2008 stammen, liefern diese doch einen Eindruck über den Umgang mit onlinebasierten Technologien sowie über den Aufbruch der Trennung von Arbeits- und Privatsphäre. Dass es sich bei dieser Entwicklung um einen anhaltenden Verlauf handelt, bestätigt ein Blick auf eine andere – weitaus neuere – Untersuchung. So wird bspw. in der Studie „Social Media and the Workplace“ (Olmstead et al. 2016) der Anstieg von onlinebasierten Praktiken thematisiert. In der im Jahr 2014 durchgeführten Umfrage wurden 2003 erwachsene Amerikaner, die sich selbst als soziale Mediennutzer bezeichnen, befragt; davon 795 Personen mit Voll- oder Teilzeit-Beschäftigungsverhältnissen zum Befragungszeitpunkt (Hinweise zum Sample s. Olmstead et al. 2016: 8 f.). Die Studie zeigt, dass die von den Befragten angegebenen Gründe zur Nutzung sozialer Medien während deren offiziellen Büroarbeitszeiten äußerst vielfältig sind. Bspw. gaben 34 % der Untersuchungsteilnehmer an, diese für eine geistige Pause zu nutzen, 27 %, um mit Freunden in Kontakt zu treten und 20 %, um Informationen für bestimmte Problemlösungen einzuholen (vgl. Olmstead et al. 2016: 2).
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in the material economy–to selling, describing, and analysing things via words and pictures–bit work in the information economy“ (ebd.: 172: Herv. im Orig.). Die Arbeit des Akteurs ist nunmehr in eine rundum onlinebasiert vernetzte Umwelt eingebunden (vgl. Kakihara & Sørensen 2002: 7 ff.; Liegl 2011: 183). „It is often as easy to push bits at home or in the coffee shop as it is in the office“ (Rainie & Wellman 2014: 173).
4.1.1.4 Coworking als (neue) Arbeitsform Neben den Entwicklungen der neuen Technologien zeigt sich seit den vergangen Jahren ein weiterer Entwicklungstrend, der ebenfalls zu einer (räumlich) flexiblen Arbeitsgestaltung beiträgt. Die Rede ist von einem zunehmenden Angebot einer (neuen) spezifischen Form von (temporär nutzbaren) Arbeitsräumen4 : sogenannten Coworking Spaces. Hinsichtlich deren Anfänge wird in der Literatur meist auf das Jahr 2005 und Brad Neuberg als Gründer des ersten Coworking Spaces in San Francisco verwiesen (vgl. Kojo & Nenonen 2014; Liegl 2011: 187; Merkel 2012: 15; Neuberg 2014). Doch was genau zeichnet diese Räume aus? Bei Coworking Spaces handelt es sich nicht um Großraumbüros im klassischen Sinne, sondern um gemeinschaftlich nutzbare Arbeitsräume. Je nach Bedarf können dort einzelne Arbeitsplätze für unterschiedlich lange Zeiträume angemietet und flexibel genutzt werden. Einziges von den Nutzern selbst mitzubringendes Werkzeug bildet deren Laptop (vgl. Bender 2013: 25 f.). Angesprochen von diesem Konzept fühlen sich zumeist all jene Wissens- und Kreativarbeiter, welche onlinebasiert – sei es als Freiberufler oder in Festanstellung – ihrer Arbeitstätigkeit nachgehen können. Innerhalb der gemeinschaftlich genutzten Räume folgen sie dem Prinzip Coworking. Die dort Anzutreffenden arbeiten alleine oder im Team an Ideen, konkreten Aufträgen oder Projektskizzen (vgl. Hartmann 2016: 178; Merkel & Oppen 2013: 2) – das Konzept „working alone together“ (Spinuzzi 2012) ist dabei Programm. Im Vordergrund steht daher also nicht die gemeinsame Arbeit an einem bestimmten Projekt, sondern die kollaborative Raumnutzung. Wo früher Arbeitsorte entsprechend der dort ausgeübten Berufstätigkeit als Fabrik, Laden oder Büro identifiziert werden konnten (vgl. Liegl 2011: 183), verschwimmen im Kontext von heutigen Kreativ- und Wissensarbeiten die Grenzen. Coworking Spaces verleihen dieser neu gewonnenen Flexibilität einen Rahmen. Einerseits bilden sie einen Ort der Arbeitsatmosphäre und andererseits bilden sie für eine Vielzahl von Personen mit heterogenen Hintergründen einen Ort, der Möglichkeit für Austausch bietet (vgl. Kojo & Nenonen 2014: 5; Spinuzzi 2012: 421 f. u. 424 f.). Dass dabei mit den Angeboten auf eine 4 Ausführlicheres
zur Entwicklung von coworking Spaces aus einer historischen Perspektive von 1960 bis 2010 siehe Kojo und Nenonen 2014.
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wachsende Nachfrage reagiert wird, zeigen Statistiken, die einen rapiden Anstieg und eine weltweite Ausdehnung von Coworking Spaces verzeichnen. Bspw. zeigen die im Onlinemagazin Deskmag veröffentlichten Ergebnisse des Global Coworking Surveys, dass im Jahr 2015 die (geschätzte) Anzahl weltweit betriebener Coworking Spaces bei rund 87005 lag; im Vergleich hierzu betrug die weltweite Anzahl im Jahr 2013 nur ca. 2500. Doch nicht nur die Coworking Angebote selbst, sondern auch die Anzahl der Nutzer – sprich Coworker – hat laut dem Global Coworking Survey 2015 rapide zugenommen (vgl. Foertsch 2013; 2015). Interesse und Angebote sind also bereits vorhanden. Daher wird dem Konzept Coworking Space auch für künftige Entwicklungen ein zunehmendes Wachstum attestiert (vgl. Foertsch 2017). Was sich entlang des hier aufgeführten kurzen historischen Abrisses zeigt, ist, dass nicht nur eine Weiterentwicklung technologischer Hilfsmittel und eine Veränderung der Arbeitsraumgestaltung zu einem Wandel von Arbeit beitragen bzw. durch diesen bedingt werden kann, sondern Arbeit auch eine veränderte Bedeutungszuschreibung erfährt. Interessant ist dabei außerdem, dass die Herausbildung einer zunehmenden Arbeitsflexibilisierung (hinsichtlich Zeit und Ort) in der Literatur als „atypisch“ (Merkel 2012: 15) beschrieben wird. Im Umkehrschluss bedeutet dies wiederum, dass sich zeigt, inwiefern ein Bild von festen Büro- und Arbeitszeiten, Produktivität oder Optimierung das Verständnis von Arbeit noch heute zu dominieren scheint. Dieser Umstand bildet den historischen Überblick ab. Inwiefern die Arbeitspraktiken Digitaler Nomaden in den kursierenden (Arbeits-)Diskurs eingeordnet werden können bzw. deren Handeln durch diesen evtl. beeinflusst wird, gilt es nachstehend noch zu explorieren (s. insb. Kap. 8).
4.1.2
Facetten Digitalen Nomadentums und anderen mobilen Lebensformen
Während traditionelle Nomaden, also Hirten- oder Dienstleistungsnomaden, meist aus afrikanischen oder asiatischen Regionen, oftmals als unizivilisiert oder rückständig beschrieben werden (vgl. Gertel & Calkins 2011: 10), verhält es sich mit dem Blick auf Nomaden im bzw. aus dem globalen Norden anders. Durch einen zunehmenden Einzug von Mobilität in die Alltagswelten von Personen moderner Gesellschaften (s. Abschn. 2.1), hat sich die allgemeine Perspektive verändert. „Der 5 Im
Beitrag des Onlinemagazin Deskmag wird darauf hingewiesen, dass es sich bei der angegebenen Anzahl um eine ca. Angabe handelt. Denn es müsse berücksichtigt werden, dass die Zählung der Coworking Spaces einige Zeit in Anspruch nehme, gleichzeitig neue Räume eröffnen, andere ihre Konzepte ändern oder wieder andere schließen (vgl. Foertsch 2015).
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Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
Nomade ist zur positiv besetzten Leitfigur einer Gesellschaft avanciert, in der Mobilität als einer der höchsten Werte gehandelt wird und das Mobilsein zu einer sozialen Norm geworden ist“ (Schroer 2006: 118). Dementsprechend scheint es wenig verwunderlich, dass in der jüngeren Literatur mittlerweile Begriffe wie „global nomads“ (vgl. Kannisto 2014; Richards 2015; Richards & Wilson 2009), „neonomads“ (D’Andrea 2006), „moderne Nomaden“ (Hastedt 2009), „neue Nomaden“ (Lipphardt 2014), „Berufsnomaden“ (Vorheyer 2013) oder „nomadic manager“ (Reichwald & Möslein 2001: 125) kursieren. Auch der „Digitale Nomade6 “ (vgl. Liegl 2011; Sørensen 2002) ist vertreten. Allerdings fällt auf, dass in früheren Anwendungen die dem Begriff zugrundeliegenden Konnotationen nicht oder nur bedingt mit dem in der vorliegenden Arbeit eingenommenen Begriffsverständnis übereinstimmen. Denn in der bestehenden Literatur wird unter Fokusse auf „Virtual Reality“, „Cyberspace“, „Chatrooms“ (Liegl 2011: 183), „digital nomadicity7 “ (Kleinrock 1996; Liegl & Bender 2016: 2 f.) oder einen Zustands des „always on“ (Liegl & Bender 2016: 1) primär die onlinebasierte Dimension von Mobilität thematisiert. So schreibt bspw. Guggenberger unter seiner Bezeichnung des „digitalen Neunomaden[s]“ Folgendes: „Die digitalen Neunomden sitzen an selbstgewählten Orten vor Bildschirmen und gleiten elektronisch durch die Universen von Zeit und Raum. Sie kombinieren auf bemerkenswerte Weise physische „Seßhaftigkeit“ und Immobilität mit extremen Formen kultureller und identitätspsychologischer Beweglichkeit“ (Guggenberger 2002: 34; Herv. im Orig.). Wenngleich sich zeigt, dass in einigen Jahren später erschienener Literatur auf eine potentiell freie physische Platzwahl im Kontext der Ausübung onlinebasierter Arbeit verwiesen wird (vgl. Liegl 2011; Liegl & Bender 2016), wird der Aspekt einer gleichzeitigen weltweiten Mobilität – wie es für die Akteure in der vorliegenden Arbeit vermutet wird – nicht explizit in die Forschungsarbeiten eingebunden. Für den Versuch einer Einordnung des Digitalen Nomaden in die Reihe bestehender Forschungsarbeiten, richtet sich der Blick im Rahmen der nun folgenden Literaturreflexion daher insbesondere auf Lebens(abschnitts)formen und Handlungspraktiken, die durch eine geographische Mobilität – neben anderen möglichen Mobilitätsformen – charakterisiert sind. Zentraler Aspekt wird außerdem die mehrfache Überwindung von Landesgrenzen sein; wird es so doch für die Mobilität Digitaler Nomaden vermutet (s. Kap. 1). Die ausgewählten Studien lassen sich dabei zu Bereichen aus der (1)
6 Im
Englischen: Digital Nomad. Allgemeinen ist damit die Unterstützung von mobilen Personen durch internetfähige Geräte gemeint (vgl. Kleinrock 1996) (s. hierzu auch die Ausführungen von Rainie und Wellman in Abschn. 3.1).
7 Im
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73
freizeit- und lebensstilorientierten Mobilität (s. Abschn. 4.1.2.1) sowie zu (2) arbeitsorientierter Mobilität (s. Abschn. 4.1.2.2) zuordnen. Diese Unterteilung ergibt sich einerseits aufgrund der in den jeweiligen Forschungsarbeiten besprochenen Thematiken und andererseits auf Basis der für die Mobilität Digitaler Nomaden als relevant erachteten Aspekte8 . Zugleich bildet sich so ab, dass es an einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, in welcher die beiden Forschungsstränge gezielt zusammengeführt werden, mangelt (vgl. Müller 2016). Die nur dünne bestehende Literatur, welche erst nach der Datenerhebung für die vorliegende Arbeit publiziert wurde, wird am Ende des Kapitels vorgestellt (s. Abschn. 4.1.2.3). Interessant ist dieser zuletzt genannte Aspekt insbesondere auch deshalb, da so deutlich wird, inwiefern der Samplingprozess dieser Arbeit primär in Orientierung an Erkenntnissen, die während der Feldforschungsaufenthalte (s. hierzu Kap. 5) eruiert wurden, erfolgte bzw. erfolgen musste.
4.1.2.1 Freizeit- und lebensstilorientierte Mobilität9 Zu einer der Akteursgruppen, deren Handlungspraktiken vermutlich am schnellsten an die von Digitalen Nomaden erinnern, gehört die mittlerweile vielfach beforschte Figur des Backpackers10 (vgl. z. B. Binder 2005; 2009; Welk 2009). Deren große Aufmerksamkeit in der Literatur lässt sich vermutlich auf folgenden Umstand zurückzuführen: „Backpackers are to be found in every corner of the globe, from remote villages in the Hindu Kush to the centres of London or Paris“ (Richards & Wilson 2009: 3). Oftmals handelt es sich hierbei um junge Erwachsene, die sich für eine Auszeit, bspw. ein sog. Gapyear, auf Reisen begeben. Dementsprechend spielt 8 Es
gilt zu unterstreichen, dass hierbei nicht alle Formen mobiler Lebens(abschnitts)formen Erwähnung finden. Vielmehr erfolgt eine Selektion entsprechend des Forschungsinteresses. D. h., dass bspw. keine Arbeiten zu studentischer Mobilität, Sprachreisen oder Auslandspraktika in die Darstellung aufgenommen wurden. Denn in diesen Kontexten stehen meist Themen wie Studium, Ausbildung, der Besuch von Sprachschulen o. ä. und keine (Online-)Arbeitstätigkeit auf selbständiger Basis im Fokus. 9 Die Bezeichnung lebensstilorientierte Mobilität ist in diesem Kapitel an den Begriff der Lebensstil Mobilität von Cohen und seinen Kolleginnen (2016) angelehnt. Unter diesem subsumieren die AutorInnen verschiedene Formen von Mobilität, die insbesondere an der Schnittstelle von Migration und Freizeitmobilität zu verorten sind. Gleichzeitig möchte ich jedoch betonen, dass ich arbeitsbezogene Mobilitätsformen nicht isoliert von lebensstilorientierter Mobilität betrachten möchte. 10 Im Allgemeinen werden Backpacker auch als Rucksackreisende bezeichnet (vgl. z. B. Binder 2005: 29). In Zeitungsartikeln zu Digitalen Nomaden sind u. a. Sätze zu lesen, wie: „Mit großen Rucksäcken bepackt, sind Hargarten und Meurer seit drei Jahren unterwegs. Sie reisen dem Sommer hinterher – nach Thailand, Tansania oder Tasmanien“ (Hipp 2015). Dementsprechend scheint eine begriffliche Verbindung von Backpackern und Digitalen Nomaden auf den ersten Blick naheliegend.
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Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
nicht nur der Aufbruch, sondern auch die Absicht zur Rückkehr ins Heimatland eine bedeutende Rolle. Hinsichtlich dessen schreibt bspw. Vetter: „[D]ie Traveler wollen nicht nur zurückkehren, sie sind sogar der Meinung, die Reise verbessere ihre Chancen auf eine anschließende Integration in die Gesellschaft – Backpacking als Qualifizierungsmaßnahme […]“ (Vetter 2009: 36). Unter dieser Perspektive wird die Reise zu einer „Übergangszeit“, deren volles Potential sich erst nach einer erfolgreichen „Wiedereingliederung in die Herkunftsgesellschaft“ entfaltet. Denn dort wird das Erlebte auf dem Arbeitsmarkt unter Schlagworten wie „Flexibilität“ oder „internationale Kompetenz“ (ebd.: 42 f.) angepriesen. Dieser Aspekt ist deshalb interessant, da sich die Frage stellt, inwiefern Digitale Nomaden ihre im Kontext von Mobilität gesammelten Erfahrungen (bewusst) als erworbenes kulturelles Kapital betrachten; zumal davon ausgegangen wird, dass Digitale Nomaden (zunächst) keine Rückkehr forcieren. Was treibt sie an? Für die Suche nach einer Antwort richtet sich der Blick nun weiter auf Literatur, in welcher Dauerreisende im Fokus stehen. Dabei fällt jedoch auf, dass jene Personen von Backpacker-Rückkehrern oftmals als „hängen geblieben“ (Binder 2005: 126) bezeichnet werden. Grund hierfür ist die Attestierung eines Mangels an Zukunftsorientierung (vgl. ebd.). Weiter geht aus den wissenschaftlichen Dokumentationen hervor, dass es die besagten Dauerreisenden nicht mit der in den 1970er Jahren diskutierten Figur des „Drifter[s]“ (Cohen 2009: 44) zu verwechseln gilt. Denn während Drifter stets auf der Suche nach „places and people that are ‘really’ authentic“ (ebd.: 46; Herv. im Orig.) sind, zeichnen sich Dauerreisende dadurch aus, dass diese insbesondere an einem Kennenlernen des Selbst interessiert sind (vgl. Vetter 2009: 46). Letztere sind dabei oftmals an sog. Backpacker-Enklaven zu finden; dementsprechend ein Handlungsmuster, das nicht mit dem von Cohen beschriebenen Drifter übereinstimmt (vgl. Vetter 2009: 46). Ähnliches beobachtet auch D’Andrea (2006). Unter dem Begriff des „expressive expatriates“ (D’Andrea 2006: 97) beforscht er Personen, die ihre Aufenthaltsorte nach den Veranstaltungsorten von sogenannten „goa trance11 part[ies]“ (ebd.: 95) (in Goa, Marrakesch, auf Bali, Ibiza etc.) auswählen. Dort besuchen sie die ansässigen Hippiemärkte, Nachtclubs oder spirituellen Touristenzentren und verkaufen dort ihre Waren oder bieten ihre Dienstleistungen an (vgl. ebd.: 105 f.). Exemplarisch zeigt das Beispiel, inwiefern die mobilen Personen lokale Angebote und Events in den Fokus rücken. Gleiches gilt für die Herausbildung von sog. „bananapancake-trail[s]“ (Hutnyk 1996: 10 in Binder 2009: 104). Dabei handelt es sich um Backpackerrouten, die ihren Namen aufgrund der von den Reisenden dort konsumierten Pancakes erhalten haben. Welk erklärt: „Banana pancakes are like a ‘national dish’ to the backpacker scene. Almost everywhere travellers gather in large numbers 11 Subgenre
elektronischer Tanzmusik.
4.1 Der Digitale Nomade: Ein Annäherungs- und Einordnungsversuch
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(especially in Asia), restaurants and cafés serve this favourite backpacker dish in many different variations […]“ (Welk 2009: 91). Neben den angebotenen Pancakes bieten die Routen den Backpackern außerdem günstige Unterkünfte, Bars, Ausflugsangebote oder – je nach Ort – Arbeitsmöglichkeiten, wie bspw. als Erntehelfer (vgl. Cooper et al. 2009). Dementsprechend weist auch diese Entwicklung darauf hin, dass die Mobilen ihre Reiseplanung in Abhängigkeit von lokalen (Arbeits)Angeboten gestalten. Eine andere Gruppe mobiler Personen wird von Kannisto unter dem Schlagwort „global nomads“ (2014) beforscht. Die von ihr befragten Personen differenzieren sich insofern von „long-term travellers12 “ (Kannisto 2014: 19), als dass Letztere – laut Kannisto – immer wieder Pausen von ihren (langen) Reisen unternehmen. Auf „global nomads“ trifft dies hingegen nicht zu (vgl. ebd.: 20). Dementsprechend scheinen diese den Mobilitätspraktiken Digitaler Nomaden näher. Doch die Beobachtungen von Kannisto zeigen, dass ihre Nomaden regelmäßig lokal gebundene Arbeitstätigkeiten (bspw. in Restaurants, auf Baustellen, als Reiseführer, Koch oder Englischlehrer) ausüben (vgl. ebd.: 90 f.). Eine solche Form der lokalen Orientierung wird für Digitale Nomaden hingegen nicht vermutet. Führen diese ihre Onlinearbeit doch stets mit sich mit. So kann angenommen werden, dass sie von lokalen (saisonalen) Marktangeboten unabhängig sind. Dementsprechend stellt sich in der vorliegenden Arbeit die Frage, inwiefern Digitale Nomaden die Auswahl ihrer Aufenthaltsorte an lokalen Gegebenheiten ausrichten. Erste Hinweis zu beliebten Aufenthaltsorten der mobilen Onlinearbeiter finden sich mittlerweile bei Altringer (2015) und MacRae (2016), die Bali als Anziehungspunkt für Digitale Nomaden beschreiben (s. hierzu auch Abschn. 4.1.2.3). An einer ausführlichen empiriebasierten Darstellung mangelt es in den beiden Artikeln jedoch. Eine weitere Perspektive eröffnet sich, wenn Arbeiten unter dem Schlagwort Lebensstil Mobilität (vgl. Cohen et al. 2013) betrachtet werden, wie dies oftmals im Bereich der Tourismusforschung erfolgt (s. hierzu auch Abschn. 2.1.2). Zu den dort thematisierten mobilen Personen zählen Künstler (vgl. Bell 2013), Transpazifik Segler (vgl. Koth 2013) oder Wohnmobil Besitzer (vgl. Higgs & Quirk 2007). Gemein ist ihnen nicht der dauerhafte oder saisonale Aufenthalt an einem Ort, sondern die Forcierung andauernder Ortswechsel (vgl. Cohen et al. 2016: 6). „[L]ifestyle mobility pre-supposes the intention to move on, rather than move back“ (Cohen et al. 2013). Interessant ist an diesen Studien insbesondere, dass mehrfache Ortswechsel im Fokus stehen. Gleichzeitig scheinen die Handlungspraktiken Digitaler Nomaden jedoch auch hier nicht anschlussfähig, da in den Studien primär
12 Hierzu
zählt Kannisto auch Drifter und Backpacker (vgl. Kannisto 2014: 10–22).
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Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
eine bestimmte Form der Fortbewegung als ausschlaggebend für einen bestimmten Lebensstil bewertet wird. Eine solche Relevanzsetzung scheint für Digitale Nomaden zunächst schwierig. Abschließend soll zu diesem Subkapitel noch eine Entwicklungslinie aufgezeigt werden, die u. U. als einer der Vorreiter zur Herausbildung der Handlungspraktiken Digitaler Nomaden interpretiert werden kann – so meine Auffassung. Es handelt sich dabei um die seit einigen Jahren thematisierte Veränderung des Backpackers hin zu einem sog. „Flashpacker“ (Jarvis & Peel 2010; Richards 2015: 341). Seinen Namen verdankt der Flashpacker den von ihm auf seinen Reisen mitgeführten elektronischen Geräten (bspw. Laptop, Mobiltelefone o. ä.) (vgl. Jarvis & Peel 2010: 22 f.) – eine Praktik, die laut Zeitungsartikeln auch Digitalen Nomaden attestiert wird (vgl. Hirn 2017). Im Kontext dieser Entwicklung beschreibt Cody Paris im Jahr 2010 einen Umstand, der damals noch als außergewöhnlich galt: „Backpackers can stay in contact with work if they choose too, or in extreme cases they can maintain a constant nomadic status and work from the road, thus creating a mobile lifestyle“ (Paris 2010: 61). Aus meiner Perspektive erscheint an dieser Formulierung von Paris insbesondere der Ausdruck “extreme cases” bemerkenswert. Denn dadurch wird transparent, inwiefern noch vor wenigen Jahren die Kombination aus geographischer Mobilität und Onlinearbeit als Extremfall bewertet wurde. Für Digitale Nomaden scheint dies heute hingegen bereits Alltag zu sein (vgl. Makimoto 2013; Müller 2016: 345). Das Beispiel zeigt jedoch, wie die Facetten onlinebasierter Vernetzung auch in anderen Forschungsarbeiten zu mobilen Personen Einzug hält.
4.1.2.2 Arbeitsorientierte Mobilität13 Richtet sich der Blick nun auf Literatur, in welcher sich verstärkt Mobilität in Zusammenhang mit berufs-, arbeits- oder karrierebezogenen Thematiken gewidmet wird, zeigt sich, dass in den vergangenen Jahren insbesondere organisierte Formen von geographischen Bewegungen einen zunehmenden Anstieg erfahren haben. Hierzu zählen sowohl temporäre Geschäftsreisen als auch längerfristige Entsendungen (vgl. Maletzky & Pries 2014: 62). Interessant ist dieser Aspekt insbesondere deshalb, da auffällt, dass die Argumentationslogik zum Erfordernis von Mobilität oftmals über eine Perspektive des sich wandelnden Arbeitsmarkts sowie der Anpassung des Einzelnen an globale Marktanforderungen erfolgt. In diesem Zusammenhang sind es Angestellte und Manager, meist als „Posted Workers“, „Expatriates“ oder „Flexpatriates“ (ebd.: 64) bezeichnet, die im Rahmen ihrer Tätigkeit zu Nomaden 13 Der Fokus in den für dieses Kapitel ausgewählten Studien liegt auf Personen, welche sich freiwillig für einen bzw. mehrfache Mobilitätsschritte entscheiden. Migranten, die aus Gründen wie Flucht oder finanziellen Nöten dazu gezwungen sind ihr Heimatland zu verlassen, werden nicht berücksichtigt.
4.1 Der Digitale Nomade: Ein Annäherungs- und Einordnungsversuch
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werden. Diese handeln im Auftrag von Unternehmen, um bspw. Projekte im Ausland anzuleiten oder um als Führungspersonen routinemäßig zwischen verschiedenen Standorten zu pendeln (vgl. Beaverstock 2002; Meier 2009; von Dobeneck 2010). Der jeweilige Mobilitätsschritt bzw. die Aufenthaltsdauer an einem Ort ist dabei an Anforderungen, wie Deadlines oder vordefinierte (Unternehmens-)Abläufe gebunden; diese sind der Entscheidungsbefugnis des Einzelnen wiederum übergeordnet. Klemm und Popp haben zu diesem Aspekt einen Artikel verfasst, dessen Titel diesen Umstand treffend widerspiegelt: „Nomaden wider Willen: Der Expatriate als Handlungstypus zwischen Alltagswelt und objektiver Zweckbestimmung“ (2006). In ihren Ausführungen merken sie an, dass unter solch einem Kontext sowohl die geographische Mobilität als auch die individuellen Kompetenz- und Erfahrungsaneignungen unter den Vorgaben der besagten objektiven Zweckbestimmung erfolgen. Das soll heißen, dass die jeweiligen Handlungsentwürfe nicht frei, sondern an Unternehmensvorgaben gebunden sind (vgl. Klemm & Popp 2006: 129). Auf ähnliche Weise argumentieren auch andere Autoren. Kreutzer (2006) veranschaulicht bspw. entlang einer Fallstudie eindrücklich, dass die durch ein Unternehmen bereitgestellten Entsendungsleistungen mit dem jeweiligen Expatriatestatus des Entsendeten in Zusammenhang stehen (vgl. Kreutzer 2006: 51). Anders verhält es sich hingegen mit der Mobilitätsmotivation von bspw. freischaffenden Künstlerinnen. Diese begeben sich zwar freiwillig auf Reisen, die Auswahl ihrer Aufenthaltsorte ist dabei jedoch oftmals an lokale Gegebenheiten gebunden. So nehmen bspw. Städte wie Los Angeles für Filmschaffende oder Mailand und Paris für Modedesigner als Ballungszentren der jeweiligen Industrien (vgl. Florida 2009: 11) eine bedeutende Rolle für die Akteure ein. Denn mit der Aufenthaltswahl wird primär auch der Versuch unternommen, Teilhabe herzustellen. D. h., um dort eigene Produkte, Ideen oder Projekte zu präsentieren und gleichzeitig relevante Marktakteure antreffen zu können (vgl. Lipphardt 2015: 36) (s. hierzu auch D’Andrea 2006 in 4.1.2.1). In diesen Beispielen wird der Ort zu einem Raum der (u. U.) Möglichkeiten schafft, die andernorts nur schwierig zu realisieren wären. Folglich ist Mobilität bzw. der Aufenthalt an ausgewählten Orten auch in diesen Fällen zweckgebunden. Auch wenn für Digitale Nomaden – wie voranstehend erwähnt – angenommen wird, dass diese von lokalen oder saisonalen Abhängigkeiten unberührt bleiben, stellt sich nach wie vor die Frage, inwiefern sich diese im Kontext ihrer Mobilität Orientierungshilfen schaffen. Ein weiterer Blick auf die bestehende Expatriate-Literatur fördert einen weiteren interessanten Aspekt zu Tage. Denn dort sind oftmals Begriffe wie „expatriate enclaves“ (Beaverstock 2002: 534) oder „expat bubble“ (Fechter 2007: 167) zu lesen. Im Allgemeinen ist damit die geographische Ansammlung einer Vielzahl von (entsendeten) Expatriates und deren dortigen Interaktionen untereinander gemeint. Dies
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4
Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
erinnert an die im voranstehenden Subkapitel angesprochenen banana-pancakeRouten (vgl. Welk 2009: 91), denen Backpacker während ihrer Reisen folgen (s. Abschn. 2.1.2). Anders formuliert verweisen diese (begrifflichen) Beispiele darauf, inwiefern sowohl Expatriates als auch viele der Backpacker im Kontext ihrer Mobilität und während ihrer Aufenthalte, an ihnen unbekannten Orten, im Austausch mit Gleichgesinnten stehen. Kontakte zu Personen aus der einheimischen Landesbevölkerung treten dabei in den Hintergrund (vgl. z. B. Meier 2009). Um Aussagen dieser Art auch für Digitale Nomaden treffen zu können, bedarf es weiterer Forschung. Wie der hier aufgeführte kurze Überblick zu freizeit- und lebensstilorientierter Mobilität sowie zu arbeitsbezogener Mobilität zeigt, existieren bereits vielfache Studien, die sich mit den unterschiedlichen Facetten von Mobilität (als fortwährende und nicht nur einmalige Praktik) auseinandersetzen. An keine der vorgestellten Mobilitätsformen scheint die Handlungspraktik des Digitalen Nomaden umfassend anschlussfähig (vgl. Müller 2016). Seit jüngster Vergangenheit zeigt sich nun, dass dieses Argument auch von anderen Wissenschaftlern geteilt wird und der Digitale Nomade langsam an Aufmerksamkeit in der Forschung gewinnt. So schreibt bspw. Reichenberger: „The academic literature has not yet acknowledged this phenomenon“ (2017: 2). Diese Entwicklung in der Wissenschaftslandschaft wird daher nachstehend als kurzer Überblick vorgestellt.
4.1.2.3 Digitale Nomaden in aktuellen Forschungsarbeiten Wird der Blick nun auf Arbeiten – unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen – gerichtet, welche sich explizit mit dem Thema Digitales Nomadentum auseinandersetzen, wird schnell transparent, dass die Besprechung nicht weiter als bis Ende des Jahres 2015 zurückgeführt werden kann. Dieser Aspekt ist insbesondere deshalb bemerkenswert, da so die noch junge Entwicklung des Phänomens zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus hilft der Einblick in die Forschungsaktivitäten dabei, eine Einordnung der vorliegenden Arbeit bzw. die dafür durchgeführte Datenerhebung im Sommer 2015 vorzunehmen. Die ersten veröffentlichten Ergebnisse, die auf einer quantitativen Studie beruhen, wurden im Dezember 2015 im Wirtschaftsmagazin Forbes vorgestellt. Die dort unter dem Titel „Globetrotting Digital Nomads: The Future Of Work Or Too Good To Be True?“ (Altringer 2015) in Ausschnitten präsentierte Forschung wurde von der Innovations- und Designwissenschaftlerin Beth Altringer durchgeführt. Ihren Interessenfokus richtet sie dabei auf die finanziellen Hintergründe von Personen, die sich als Digitale Nomaden bezeichnen. Für ihre Datenerhebung entwickelt sie
4.1 Der Digitale Nomade: Ein Annäherungs- und Einordnungsversuch
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einen quantitativen Onlinefragebogen14 , mit Hilfe dessen Fragen wie: „[W]heather they were earning and saving enough compared with responsible financial planning norms back home“ (ebd.) beantwortet wurden. Die Ergebnisse von Altringer zeigen schließlich, dass deutliche Einkommensunterschiede zwischen den Befragten bestehen. Während einige, von Altringer unter Begriffen wie „independent finance professionals“ oder „elite software engineers“ (ebd.) zusammengefasst, durchschnittlich 8.000 $ pro Monat (einige wenige auch zwischen 25.000 $ und 50.000 $) verdienen, haben andere weitaus größere Probleme ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu Letzteren gehören laut Altringer insbesondere Personen, die „life coaching-“ oder „blogging“-Aktivitäten (ebd.) ausüben; diesen attestiert sie eine prekäre Lebenssituation. Abschließend beschreibt sie in ihrem Artikel exemplarisch einen Einzelfall, der in der Rückkehr ihres Protagonisten in dessen Heimatland, aufgrund von ökonomischem Misserfolg, endet. Dieses Beispiel ist insbesondere deshalb interessant, da in der vorliegenden Arbeit keine Personen mit vergleichbaren Rückkehrerfahrungen befragt wurden (s. Abschn. 5.4). Darüber hinaus veranschaulichen die von Altringer beschriebenen Aspekte, inwiefern die Lebensumstände von Digitalen Nomaden variieren können. Weiter ergaben die Recherchen, dass im Mai 2016 eine Web-Konferenz mit dem Titel „Connect-Universum – 2016. Digital Nomadism as a Global and Siberian Trend“ (2016a), federführend organisiert von der russischen Tomsk State Universität, durchgeführt wurde. Diese bot Interessierten die Möglichkeit, sowohl vor Ort als auch onlinebasiert teilzunehmen15 . Eine Publikation zu den auf der Konferenz diskutierten Inhalten wurde (bislang) nicht 14 Genaue Angaben über die Samplegröße werden im Artikel nicht gemacht. Lediglich folgende Formulierung ist zu finden: „The study attracted hundreds of responses […]“. Ebenso wenig gehen aus dem Artikel detaillierte Informationen über die Mobilitätsdauer der Befragten hervor. Altringer schreibt: „Most have been at it for at least three months, and more than a third have been going for over a year“ (Altringer 2015). Schwierig erscheint entlang dieser Daten eine Aussage über die Dauerhaftigkeit einer Lebensführung als Digitaler Nomade zu sein. 15 Auffällig erscheint, dass eine große Anzahl von mittel- und osteuropäischen Partizipierenden (bspw. aus Bulgarien, Polen, Russland oder der Ukraine) unterschiedlichster Disziplinen auf der Konferenz vertreten waren. Vorgestellt wurden auf der Veranstaltung verschiedenste Thematiken, wie bspw. Lernprozesse in virtuellen Teams, theoretische Facetten von Mediatisierung, Reisejournalismus oder Mobilitätsstrategien. Darüber hinaus macht die Universität in Zusammenhang mit der besagten Konferenz auf ihrer Homepage transparent, inwiefern diese geeignete Voraussetzungen zur digitalen Teilhabe und onlinebasierten wissenschaftlichen Austausch schaffen will – nicht zuletzt, um so den Universitätsstandort attraktiver zu gestalten (vgl. TSU 2016b). Dementsprechend scheint es so, als entwerfe die Universität ihr ganz eigenes Konzept des (studentischen) Digitalen Nomaden.
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4
Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
veröffentlicht16 . Ebenfalls im Jahr 2016 wies ich im Rahmen eines Mappingbeitrags sowie basierend auf den Beobachtungen während meiner Datenerhebungsphase auf die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung zum Thema Digitales Nomadentum, insb. aus Akteursperspektive, hin. Denn das, was in Zeitungs- und Onlineartikeln mittlerweile vielfach zu lesen ist, basiert – wie erwähnt – auf keinen wissenschaftlichen Erkenntnissen (vgl. Müller 2016). Die nächste Publikation lässt sich auf das Jahr 2017 datieren. Unter dem Titel „Digital nomads – a quest for holistic freedom in work and leisure“ unternimmt Ina Reichenberger (2017) den Versuch einer Definition des Digitalen Nomaden. Hierfür führt sie onlinebasierte Interviews und entwickelt ein Konzept, das sich zwischen den Ankerpunkten von „work“, „leisure“ und „travel“ (2017: 1), unter Bezugnahme auf Ansätze aus der Tourismusforschung, aufspannt. Die von ihr formulierte allgemeine Definition lautet wie folgt: “Digital nomads are individuals who achieve location independence by conducting their work in an onlineenvironment, transferring this independence to mobility by not consistently working in one designated personal office space but using the possibility to simultaneously work and travel to the extent that no permanent residence exists” (Reichenberger 2017: 8).
Diese relativ allgemeine Formulierung trifft auch die in der vorliegenden Arbeit vertretene Perspektive; wenngleich ich anstelle des Begriffs „location independence“, also Ortsunabhängigkeit, den Begriff Ortsflexibilität vorschlage. Denn aus physischer Sicht erscheint ein Akteur stets an einen Ort gebunden – so meine Meinung. Weiter zeigen die von Reichenberg vorgestellten Ergebnisse, dass einige ihrer Befragten trotz Mobilität weiterhin über einen festen Wohnsitz verfügen, andere hingegen nicht (vgl. ebd. 7). Die Erwähnung dieses Aspekts ist u. a. deshalb relevant, da so – wie zuvor bei Altringer – auf eine weitere Vielfalt der Charakteristika Digitaler Nomaden hingewiesen wird. Ebenfalls im Jahr 2017 veröffentlichen die beiden Informations- und Kommunikationswissenschaftler Will Sutherland und Mohammad Hossein Jarrahi einen Artikel unter dem Titel: „The Gig Economy and
16 Diese Aussage bezieht sich auf mögliche Veröffentlichungen in englischer Sprache; Stand: 27.1.2018.
4.2 Forschungsfragen
81
Information Infrastructure: The Case of the Digital Nomad Community17 “. Interessiert sind sie in ihrer Studie insbesondere an der sogenannten „Gig Economy18 “ und der Funktion von Onlineplattformen als Infrastruktur zur Bewerbung und Rekrutierung von Arbeitstätigkeiten. Digitale Nomaden bilden in ihrer Studie dabei die ausführende Einheit. Ihr Forschungsanliegen beschreiben sie wie folgt: „The current description of the digital platforms in the gig economy is predominantly focused on individual platforms with centralized design and control, and is therefore incomplete precisely because it does not accommodate the distributed, decentralized aspects of the gig economy. We reconceptualize this mediation as an ecosystem of heterogeneous applications and platforms, which are together infrastructural in enabling gig work“ (Sutherland & Jarrahi 2017: 3). Ihre Ergebnisse zeigen, dass bspw. Webpräsenz und -reputation einen wichtigen Teil der Tätigkeit von Digitalen Nomaden bilden. Denn erst durch diese gelingt es ihnen, im Rahmen der Gig-Economy, ihre Fähigkeiten und gesammelten Erfahrungen zu bewerben, Kunden zu finden oder Wissen auszutauschen (vgl. ebd. 10–12). Resümierend schreiben die beiden Autoren: „Learning to work as a digital nomad means learning to navigate and leverage this information infrastructure“ (ebd.: 17). Diese Schlussfolgerung scheint insofern spannend, als dass deutlich wird, inwiefern ein kompetenter Umgang mit onlinebasierten Tools, Programmen und Plattformen ein grundlegendes Handwerkszeug für Digitale Nomaden bildet. Erste thematische Annäherungen an das Thema Digitales Nomadentum scheinen also mittlerweile auch auf wissenschaftlicher Ebene stattzufinden. An fundierten empirischen Studien besteht jedoch nach wie vor ein Mangel. Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es daher, Licht in die beschriebene Angelegenheit zu bringen.
4.2
Forschungsfragen
In diesem Kapitel wird entlang einer kurzen Zusammenfassung der voranstehend vorgestellten Überlegungen aufgezeigt, wie der angesprochenen Forschungslücke in der vorliegenden Arbeit begegnet wird. Für eine Konkretisierung wird das zuvor
17 Der englischsprachige Begriff Community entspricht nicht dem von Wellman vorgestellten Konzept zu personal communities (1979) bzw. dem in dieser Arbeit angewandten Rückgriff auf persönliche Netzwerke. 18 Im Allgemeinen wird darunter ein Wirtschaftssystem verstanden, welches auf Freiberuflern beruht. Diese üben nicht nur eine, sondern mehrere Tätigkeiten für unterschiedliche Arbeitgeber aus. Ein Beispiel bildet die Plattform des Unternehmens Uber (vgl. Sutherland & Jarrahi 2017: 1).
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4
Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
nur lose beschriebene Forschungsinteresse außerdem in zwei Forschungsfragen ausformuliert. Da es sich bei der Herausbildung der Mobilitäts- und Handlungspraktiken, wie sie laut Medienberichten für Digitale Nomaden zu vermuten sind (vgl. z. B. Hart 2015; Hipp 2015; Mohnapril 2017), um eine noch junge Entwicklung handelt, wird dem Untersuchungsanliegen unter einer qualitativ explorativen Haltung begegnet. So wird es möglich, dem Forschungsgegenstand mit der notwendigen Offenheit entgegenzutreten und Einblicke in die soziale Wirklichkeit der mobilen Akteure zu erhalten. Aufgrund der nur dünnen bestehenden Literatur (vgl. Müller 2016: 347; Reichenberger 2017: 2) wird die Beschäftigung mit der Thematik außerdem von Fragen begleitet, welche zunächst auf ein grundlegendes Verständnis über das Digitale Nomadentum bzw. dessen Akteure im Allgemeinen abzielen. Diese lauten bspw. wie folgt: Was sind die Beweggründe für die Entscheidung ein geographisch mobiles Leben zu führen? Welche Bedeutung wird der Zusammenführung von Onlinearbeit und geographischer Mobilität aus Perspektive der Akteure zuteil? Wie gestalten sie ihren Lebensalltag? Welches Werteverständnis messen sie dem Thema Arbeit bei? Wie denken Digitale Nomaden über Freundschaft und Partnerschaft im Kontext von Mobilität? Nach welchen Kriterien wählen sie ihre Aufenthaltsorte aus? Diese Überlegungen tragen maßgeblich zur Ausformulierung der ersten nachstehend aufgeführten Forschungsfrage bei. Um nun nicht nur Einblicke in die allgemeinen Mobilitätscharakteristika der zu beforschenden Akteure zu erhalten, sondern um auch auf analytischer und konzeptioneller Ebene verstehen zu können, wie eine potentiell weltweite mobile Lebensführung als Digitaler Nomaden realisiert werden kann, wurde in den voranstehenden Kapiteln eine entsprechende Forschungsperspektive entwickelt. Hierfür wurde unter Orientierung an bestehenden Studien zu Landesgrenzen überschreitenden Phänomenen zunächst der Annahme gefolgt, dass soziale Beziehungen trotz geographischer Distanzen nicht unweigerlich abbrechen müssen; stattdessen durch eine transnationale Facette gekennzeichnet sein können (vgl. z. B. Dahinden 2010a; Fassmann 2003; Fechter 2007; Herz 2014; Reisenauer 2014; Schellenberger 2011). Denn Mobilität, die wiederum zur Aufrechterhaltung sozialer Kontakte beiträgt, kann heute auf vielfältige Weise erzeugt werden. Mobilität ist daher entlang eines Verständnisses im Plural (vgl. Urry 2007: 47) in die erarbeitete Forschungsperspektive eingeflochten. Für eine weitere Konkretisierung im Sinne des Forschungsinteresses wird außerdem vermutet, dass Mobilität nicht in einem Vakuum, sondern eingebunden in soziale Netzwerke erfolgt (vgl. Bilecen et al. 2018; Cachia & Jariego 2018: 112; Massey et al. 1993: 448). Diese können sowohl in Form sozialer Kontakte zwischen Personen (vgl. Herz 2012: 133; Olivier 2013: 105) oder ggf. Entitäten als auch unter einer Auffassung in Form von gesetzlichen,
4.2 Forschungsfragen
83
politischen oder ökonomischen Rahmenbedingungen auftreten (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Pachucki & Breiger 2010; Wellman 1999b: 34). Um dabei nicht auf einer metaphorischen Ebene verhaftet bleiben zu müssen, wurde das Konzept persönlicher Netzwerke bzw. ego-zentrierter Netzwerke als Untersuchungsansatz vorgeschlagen. Denn mittels dessen können Netzwerke analytisch und empirisch greifbar gemacht werden (vgl. Cachia & Jariego 2018: 112) und die Mobilität der Akteure erfährt eine Kontextualisierung. Gleichzeitig sollen jedoch nicht nur Strukturmaße als erklärendes Element herangezogen und den Akteuren ihre Agency aberkannt werden. Stattdessen werden unter der qualitativ ausgerichteten Forschungsperspektive auch subjektive Sinn- und Bedeutungszuschreibungen in die Analyse eingebunden und die potentielle Einflussnahme der Handlungsmächtigkeit von Akteuren auf deren Netzwerkeingebundenheit (vgl. Diaz-Bone 2008: 321 f.) berücksichtigt. Zugleich bildet sich so ab, dass weder Netzwerke noch Agency als starre Gebilde bzw. unveränderbare Routinen zu betrachten sind (vgl. Helfferich 2012: 24; Löwenstein 2017: 26; Scherr 2012: 107). Richtet sich der Blick erneut auf den empirischen Gegenstand, treten unter Bezugnahme auf die geschilderten Überlegungen unweigerlich weitere Fragen auf. Diese lauten bspw. wie folgt: Im Rahmen welcher Strukturcharakteristika sozialer Eingebundenheit wird das Handeln Digitaler Nomaden möglich? Inwiefern gestalten die Akteure ihre soziale Eingebundenheit im Kontext ihrer Mobilität mit? Welche Strukturmuster begünstigen oder hemmen Mobilität? Welche Rolle spielt dabei die mögliche Vielschichtigkeit sozialer Beziehungen? Wie gehen die Akteure mit der Überbrückung von geographischen Distanzen um? Inwiefern spielt die Überquerung von Landesgrenzen aus Perspektive der Mobilen eine Rolle? Diese Fragen bilden maßgeblich die Ausgangslage zur Formulierung der zweiten Forschungsfrage. Um Antworten auf all diese Fragen finden zu können, wurden die vorgestellten Überlegungen zusammengefasst und in folgenden zwei Forschungsfragen subsumiert: 1) Wie sind Digitale Nomaden entlang ihrer Handlungspraktiken sowie im Allgemeinen charakterisiert? 2) Wie kann eine Lebensführung als Digitaler Nomade umgesetzt werden? Konkret: Welche (transnationalen) Strukturmuster weisen die persönlichen Netzwerke Digitaler Nomaden auf, wie nehmen diese Einfluss auf das Handeln der Akteure und wie prägen die Akteure die strukturale Ausgestaltung der sie umgebenden Beziehungsgeflechte?
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4
Forschungsgegenstand und Forschungsfragen
Mit den aus dem Forschungsanliegen resultierenden Forschungsfragen sowie der erarbeiteten Forschungsperspektive wird es möglich, die (transnationale) soziale Eingebundenheit der Akteure entlang von deren Vielschichtigkeit und unabhängig nationalstaatlicher Grenzen zu eruieren. Dabei wird das Vorhandensein von Landesgrenzen sowie damit in Zusammenhang stehende mögliche Herausforderungen nicht negiert. Allerdings wird durch den Rückgriff auf das Konzept persönlicher Netzwerke eine Datenermittlung ungeachtet von geographischen Distanzen zwischen den zu Befragenden und deren Referenzpersonen möglich. Anders als in bestehenden Studien, welche ihren Fokus auf die Ausbildung von transnationalen Räumen zwischen zwei Ländern, wie bspw. Deutschland und Neuseeland (vgl. Schellenberger 2011) oder Polen und Irland (vgl. Bojarczuk & Mühlau 2018), richten, erscheint eine solche Fokussierung für Digitale Nomaden nicht zielführend. Gleiches gilt auch dann, wenn, neben der Berücksichtigung der Heimatund Ankunftsländer von migrierten Personen, weitere Drittländer in die Analyse eingebunden werden (vgl. Gamper & Fenicia 2013; Larsen et al. 2006; Olivier 2013). Wird davon ausgegangen, dass sowohl die Digitalen Nomaden selbst als auch u. U. deren Referenzpersonen geographisch mobil sind, kann angenommen werden, dass sich deren potentiell transnationale Beziehungen und Netzwerke nicht anhand von Ländernamen verorten lassen. Dementsprechend wurde eine Perspektive entwickelt, die die soziale Eingebundenheit der zu Befragenden unabhängig von deren wechselnden Aufenthaltsorten und somit auch losgelöst von einer strikt ortsbezogenen Betrachtungslogik möglich macht. Anknüpfend an das Argument der mehrfachen Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätspraktiken stellt sich weiter die Frage, inwiefern bzw. ob sich Digitale Nomaden Orientierungspunkte im Kontext ihrer Mobilität schaffen. Oder wie in Forschungsfrage zwei formuliert: Wie kann eine Lebensführung als Digitaler Nomade umgesetzt werden? Denn während in bestehenden Studien aus der Migrationsforschung bereits gezeigt wurde, dass sich Migrierende oftmals an Aufenthaltsorten zuvor migrierter Familienmitglieder orientieren und dadurch Unterstützung erfahren (bspw. bei der Wohnungsoder Arbeitssuche) (vgl. Boyd 1989; Massey 1988: 398; Negrón 2012: 46), gilt es, Aspekte dieser Art für Digitale Nomaden noch zu explorieren. In diesem Zusammenhang wird außerdem deutlich, dass es nicht nur die bestehende Netzwerkeingebundenheit der Mobilen, wie in bestehenden Studien bereits mehrfach unternommen (vgl. z. B. Dahinden 2010a; Fuhse 2008; Gamper & Fenicia 2013), zu erfassen, sondern auch die Herstellung und Veränderungen von Beziehungen zu berücksichtigen gilt; wird doch angenommen, dass erst über diese notwendige Ressourcen im Kontext von sowie für Mobilität entstehen und (Im)Mobilität erzeugen. Aus theoretischer und konzeptioneller Sicht ist eine dahingehende Diskussion in der
4.2 Forschungsfragen
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wissenschaftlichen Literatur bislang allerdings nur begrenzt geführt worden; Hinweise für deren Notwendigkeit bestehen aufgrund der angeführten Gründe jedoch dennoch (vgl. Bilecen & Amelina 2018: 601 u. 607 f.; Hollstein 2014: 20 f.; Ryan & D’Angelo 2018; Ryan & Mulholland 2014: 162). Diesen Anliegen wird sich nun in den nachstehenden Ausführungen angenommen.
Teil II Methodisches Vorgehen und Empirische Datengrundlage
In diesem zweiten Teil der Arbeit erfolgt die Vorstellung zur methodischen Umsetzung der voranstehend angestellten theoretischen Überlegungen. Dabei wird sich zeigen, dass die Gestaltung des Forschungsdesigns maßgeblich durch die gesammelten Erfahrungen während der Feldforschungsphasen mitbestimmt wurde. Dementsprechend werden sowohl empirisch-praktische als auch method[olog]ische Facetten in der Besprechung aufgegriffen und diskutiert. Am Ende des Kapitels wird die Datengrundlage der vorliegenden Arbeit aufgeführt.
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Forschungspraktische Umsetzung
In diesem Kapitel wird aufgezeigt, wie die Zusammenführung einer transnationalen Forschungsperspektive und einem Verständnis von Mobilität im Plural mit Konzepten der Strukturalen Analyse und einem qualitativ rekonstruktiven Ansatz in forschungspraktischer Hinsicht umgesetzt wird. D. h., es wird sowohl die Konzeptionierung des Erhebungsinstruments (s. Abschn. 5.1) als auch der tatsächliche Feldzugang und die konkrete Interviewdurchführung (s. Abschn. 5.2) sowie die Datendokumentation und -auswertung (s. Abschn. 5.3) besprochen. Da für einige der zu diskutierenden Aspekte die bestehende wissenschaftliche Literatur jedoch bislang relativ dünn ist (vgl. Müller et al. 2017), werden hin und wieder Aussagen der für die vorliegende Arbeit befragten Personen für eine Exemplifikation herangezogen. Abschließend werden in einer kurzen Übersicht die Interviewpartner und das Datenmaterial vorgestellt (s. Abschn. 5.4).
5.1
Gegenstandsbezogene Entwicklung des Erhebungsinstruments
Um ein empiriebasiertes Forschungsprojekt – wie es in der vorliegenden Arbeit insb. aufgrund des Anliegens zur Exploration forciert wird – realisieren zu können, bedarf es einiger Voraussetzungen. Hierzu zählen sowohl ein geeigneter Feldzugang (s. Abschn. 5.1.1) als auch Überlegungen, die zur Entwicklung eines Erhebungsinstruments führen, welches dem Forschungsinteresse entsprechend relevante Daten zu Tage fördert (s. Abschn. 5.1.2). Beide Punkte werden in diesem Kapitel besprochen.
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_5
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5
5.1.1
Forschungspraktische Umsetzung
Pretestphase und Feldannäherung
In diesem Abschnitt werden zunächst in aller Kürze die während der Pretestphase gesammelten Erfahrungen und gewonnenen Erkenntnisse skizziert. Von hoher Relevanz erwies sich diese Phase insbesondere deshalb, da – wie erwähnt – aufgrund des Mangels an Forschungsarbeiten zum Thema Digitales Nomadentum keine literarische Einarbeitung erfolgen konnte. Darüber hinaus stellte sich bei den ersten Versuchen einer Feldannäherung heraus, dass es den richtigen (Kommunikations-) Kanälen bedarf, um an signifikante Informationen zu gelangen. Während ich also Onlineforen durchforstete und über mögliche Interviewfragen nachdachte, versuchte ich parallel potentielle Interviewpartner als erste mögliche Informanten zum Thema ausfindig zu machen. Dabei stellte sich jedoch die Frage, wo entsprechend relevante Personen zu finden seien. Schließlich erwies sich eine Onlineplattform1 , dessen Autor sich selbst als Digitaler Nomade präsentiert und der, wie sich anhand der Recherchen herausstellte, unter mobilen Personen als allgemein bekannt gilt, als äußerst hilfreich. Nach einigen Klicks durch dort aufgeführte Rubriken, landete ich bei der Kategorie „Tipps von erfahrenen Nomaden“. Dort fand ich im Rahmen einer Erfahrungsübersicht wiederum folgendes Zitat: „Taipei (Taiwan): In den meisten fernöstlichen Ländern ist entweder das Leben zu teuer oder das Internet zu langsam. Taiwan bildet eine löbliche Ausnahme. Ausserdem hat die Insel tolles Essen, freundliche Locals und selbst im Winter ein erträgliches Wetter.2 “
An diese Information knüpfte ich an und versuchte mittels allgemein bekannter Onlineforen (wie bspw. Facebook, LinkedIn oder Xing) mögliche Interviewinteressierte zu gewinnen. So entstanden – unter einem kontinuierlichen Selektionsprozess – einige wenige vielversprechende Kontakte. Um neben den Onlinerecherchen außerdem einen tatsächlichen Einblick in das Forschungsfeld erhalten zu können, erfolgte im Januar 2015 ein explorativer Aufenthalt in Taipei. In der Hauptstadt Taiwans angekommen und einige Interviews mit den zuvor rekrutierten Personen später, bestätigte sich meine anfängliche Vermutung. Taipei hat eine außerordentlich gute Internetinfrastruktur zu bieten. Dieses Kriterium gilt es insbesondere deshalb zu unterstreichen, da diese eine grundlegende Voraussetzung für die Ausführung von Onlinearbeit bildet – so die Erzählungen der Befragten. Allerdings lernte ich auch, dass sich in Taipei viele der mobilen Personen auf einer Durchreise befinden. Wie sich später noch herausstellte, steht dieser Umstand außerdem in unmittelbarem 1 Quelle Wireless Life: https://wirelesslife.de/. Der Autor der Onlineplattform kommt in der vorliegenden Arbeit selbst nicht zu Wort. 2 Quelle Wireless Life Insider: http://wirelesslife.de/hotspots-digitale-nomaden/#insider.
5.1 Gegenstandsbezogene Entwicklung des Erhebungsinstruments
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Zusammenhang mit der nur geringen Anzahl von anderen Digitalen Nomaden in Taipei (s. hierzu Abschn. 7.2). Bevor jedoch weiter auf diesen Aspekt eingegangen wird, möchte ich an dieser Stelle noch auf eine Information verweisen, die ich im Gespräch mit einem Interviewpartner erhielt und die sich in gewisser Weise als Schlüsselinformation für die darauffolgende Datenerhebung erwies. Die Rede ist hierbei von einem Verweis auf die Onlineplattform „Nomad List“ bzw. dem dazugehörigen Chatkanal „#nomad3 “, der insbesondere für mobile und onlinebasiert arbeitende Personen als Kommunikationsplattform dient (eine ausführlichere Darstellung erfolgt in Abschn. 5.2.1). Kurzerhand trat ich dem kostenpflichtigen Portal als Mitglied bei. Mit diesem Schritt eröffnete sich schließlich eine wertvolle Möglichkeit, um Zugang zu potentiellen Interviewpartnern zu erhalten. An die Stelle langwieriger Recherchen und Selektionsprozesse trat eine Quelle mit einer Vielzahl für diese Arbeit interessanter Personen. Mit den so gewonnenen Eindrücken sowie Erkenntnissen über relevante zu erfragende Thematiken, kehrte ich nach Deutschland zurück. Dort erfolgte zunächst eine Durchsicht des bis dato erhobenen Materials. Darüber hinaus wurden erste Interpretationsrunden mit KollegInnen, ProfessorInnen, PostdoktorandInnen und DoktorandInnen, des Graduiertenkollegs DFG 1474 „Transnationale Soziale Unterstützung“ der Stiftung Universität Hildesheim und Johannes Gutenberg-Universität Mainz durchgeführt. So konnten neben der Bildung erster Annahmen auch Überlegungen hinsichtlich der (Um-)Formulierung von (weiteren) Interviewfragen angestellt werden. Rückblickend zeigt sich, wie erst durch die explorative Annäherung sowie unzählige informelle Gespräche eine Sensibilisierung für das Feld geschaffen werden konnte und inwiefern diese die weitere Entwicklung des Erhebungsinstruments maßgeblich mitgestaltete.
5.1.2
Interviewleitfaden und computergestützte ego-zentrierte Netzwerkkarte
Voranstehend wurde bereits das Konzept der persönlichen Netzwerke als eines der Grundpfeiler der theoretischen Perspektive vorgestellt. „Die zentrale Annahme dieses Ansatzes ist, Verflechtungszusammenhänge als prinzipiell nicht ortsgebunden zu konzeptualisieren“ (Herz 2014: 51). Diesem Aspekt folgend sowie unter Einbindung einer qualitativ rekonstruktiven Perspektive, wird im Folgenden nun das für
3 Quelle
Crunchbase und Levels: https://www.crunchbase.com/organization/nomad-list; https://levels.io/product-hunt-hacker-news-number-one/.
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Forschungspraktische Umsetzung
die vorliegende Arbeit entwickelte Erhebungsinstrument vorgestellt. Hierbei handelt es sich – allgemein formuliert – um die Kombination eines narrativen Interviews mit einer computerbasierten ego-zentrierten Netzwerkkarte (NWK). Die Überlegung zur Zusammenführung der beiden Erhebungselemente resultiert dabei primär aus den zuvor angestellten theoretischen Überlegungen sowie dem Anliegen einer Exploration. Durch die Anregung einer narrativen Erzählung sollen insbesondere Einblicke in die soziale Alltagswirklichkeit der zu Befragenden möglich (vgl. Bohnsack 2008: 91; Flick 2005: 117) und durch die Erfassung von Netzwerkstrukturen Handlungsressourcen aufgedeckt werden (vgl. Diaz-Bone 2008: 338 f.; Straus 2013: 33). Die Vorstellung erfolgt dabei in zwei Schritten, wobei beide Teile nicht als unabhängig voneinander betrachtet werden können – vielmehr als komplementär. (1) Zuerst wird sich der Fokus auf die visuelle Gestaltung der Netzwerkkarte richten. Hierbei werden außerdem die Grundlagenfunktionen des verwendeten Programms VennMaker4 vorgestellt und das darin gesehene Potential für die vorliegende Arbeit besprochen. (2) Anschließend wird die Gliederung des entwickelten Interviewleitfadens sowie der damit einhergehende Interviewaufbau beleuchtet. Die Reihenfolge der Besprechung ist dabei aufgrund einer besseren Nachvollziehbarkeit der Leitfadenfragen zurückzuführen. Denn diese stehen (zum Teil) in Zusammenhang mit der im Interviewverlauf, durch den zu Befragenden, zu visualisierenden Netzwerkkarte. Wird ein Blick auf die bestehende Literatur geworfen, zeigt sich, dass mittlerweile vielfältige Vorgehensweisen zur Erhebung ego-zentrierter Netzwerke entwickelt wurden und – wie zuvor angesprochen – zunehmend auf die Relevanz eines Einbezugs qualitativer Aspekte hingewiesen wird. So wurden Instrumente entworfen, die bspw. als Netzwerkkarten (vgl. z. B. Gamper & Fenicia 2013), Netzwerkzeichnungen (vgl. z. B. Scheibelhofer 2006) oder triangulative Verfahren (vgl. Franke & Wald 2006) bekannt sind. Gemein ist all den Ansätzen, dass sie die zu befragenden Akteure durch einen partizipativen Zugang am Prozess der Datenerhebung teilhaben lassen und damit deren Wahrnehmungs- und Bedeutungszuschreibungen einfangen können (vgl. Olivier 2013: 99 f.). Was dabei jedoch auch auffällt ist, dass zum Teil schon bei der Entwicklung der Erhebungsinstrumente, spätestens aber im Rahmen der Auswertung, oftmals von sogenannten „MixedMethods“ (Bellotti 2015; Hollstein 2014) Ansätzen gesprochen wird. Meist erfolgt die Analyse der visuellen Netzwerkdarstellung dabei unter einer quantifizierenden Logik (s. Abschn. 3.4.1), wie bspw. der Berechnung von Maßzahlen (vgl. Bellotti 2008; Bojarczuk & Mühlau 2018; Gamper & Fenicia 2013). Wie diesem Umstand
4 Quelle
VennMaker: www.vennmaker.com; Version 1.5.1.
5.1 Gegenstandsbezogene Entwicklung des Erhebungsinstruments
93
in der vorliegenden Arbeit (bereits) bei der Konzeptionierung des Erhebungsinstruments entgegengetreten wird sowie welche Grenzen bei der Erhebung mit dem Instrument erreicht werden, wird nun im Folgenden besprochen. (1) Konzeptionierung der ego-zentrierten Netzwerkkarte: Für die Gestaltung der Netzwerkkarte erfolgte zunächst eine Orientierung am „Social Convoy Model“ nach Kahn und Antonucci (1980), auch als Konzept der konzentrischen Kreise bekannt (vgl. Hollstein 2006: 18 f.) (s. Abbildung 5.1). Bei diesem Konzept befindet sich der zu befragende Akteur (Ego) in der Mitte der Karte und wird von drei Kreisen umgeben5 . Mit dieser Entscheidung wurde ein Weg eingeschlagen, der den zu Interviewenden im Prozess der Datenerhebung (s. Abschn. 5.2.1) einen Gestaltungsspielraum gewährt und gleichzeitig eine gewisse Vergleichbarkeit für die spätere Datenanalyse schafft. Denn durch die besagten Kreise entsteht eine Strukturierung, welche durch eine entsprechende Beschriftung außerdem eine Standardisierung (vgl. Hollstein & Pfeffer 2010: 4 ff.) erfährt. Der Entschluss, eine Kreisbeschriftung vorzunehmen, wurde wesentlich durch die Erfahrungen während der Pretestphase beeinflusst. Denn es stellte sich heraus, dass unbeschriftete Kreise auf Seiten der Interviewpartner – trotz vorheriger Erläuterung – immer wieder zu Nachfragen hinsichtlich deren Bedeutung(smöglichkeit) führten6 . Daher wurde letztendlich beschlossen, die Kreise mit einer Bedeutung zur persönlich empfundenen Nähe zu belegen. Theoretisch untermalt wurde diese Entscheidung durch eine Orientierung an der Community Liberated These nach Wellman (1979) (s. Abschn. 3.1). Die konkrete Kreisbeschriftung lautet: sehr eng verbunden, eng verbunden, weniger eng
5 Bei Betrachtung der in Abbildung 5.1 vorgestellten Netzwerkkarte und den dort abgebildeten
konzentrischen Kreisen fällt auf, dass der Radius des innersten Kreises verhältnismäßig größer als der des mittleren und äußeren Kreises ist. Die Entscheidung für diese Form der visuellen Aufbereitung basiert auf den Erfahrungen der Pretestphase. Denn es zeigte sich, dass eine zu kleine Fläche innerhalb eines Kreises zu Platzproblemen führen kann. Es können bspw. visuelle Überschneidungen in der Darstellung von Symbolen und dadurch eine erschwerte Nachvollziehbarkeit entstehen. 6 Mehrfach wurde zu Beginn oder inmitten des Visualisierungsprozess die Nachfrage gestellt, ob die konzentrischen Kreise für geographische Distanzen stehen würden oder aber, ob diese zur Verdeutlichung geographischer Distanzen genutzt werden könnten. Vermutet wird, dass Nachfragen dieser Art u. U. deshalb gestellt wurden, da sich die zu Interviewenden selbst intensiv mit geographischer Mobilität auseinandersetzen und dementsprechend bestimmte Assoziationen in Auseinandersetzung mit der Karte hervorgebracht werden. Grundsätzlich ist gegen eine solche durch den Interviewpartner eingebrachte Idee im Erhebungsprozess nichts einzuwenden. Allerdings wurde mit Blick auf die spätere Analyse und Ergebnisdarstellung eine solche Form der Heterogenität als kritisch erachtet. Denn wie sich entlang der ersten erhobenen Interviews abbildete, boten diese (trotz Standardisierung) reichlich Raum für Interpretationen.
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Forschungspraktische Umsetzung
verbunden, aber dennoch wichtig7 (von innen nach außen). Zu betonen gilt es an dieser Stelle allerdings auch, dass nicht der Eindruck entstehen darf, die Bedeutungszuschreibungen könnten ohne die narrativen Erläuterungen der Interviewten betrachtet werden. Denn erst durch deren Ausführungen werden Einblicke in deren Konstruktionsleistungen möglich (vgl. Ryan et al. 2014); ein soziales Netzwerk „is an evolving social world; a world of meanings, conventions, resources, resource distributions and sedimented histories“ (Crossley 2010: 31).
(Quelle: Eigene Darstellung; erstellt mit VennMaker)
Abbildung 5.1 Computergestützte ego-zentrierte Netzwerkkarte mit VennMaker
Weiter wurden für die Visualisierung des persönlichen Netzwerks drei Symbole ausgewählt (siehe linker Bildschirmrand8 ). Diese dienen als Stellvertretersymbole für alle während eines Interviewverlaufs von den zu Befragenden benannten 7 Da
auch englischsprachige Interviews geführt wurden, wurde das Erhebungsinstrument ebenfalls in einer englischsprachigen Ausführung angefertig. Die englischsprachige Beschriftung – von innen nach außen – lautet wie folgt: very close, close, less close but still important. Die Wahl dieser Formulierung erfolgte entlang verschiedener Diskussionen mit deutsch- und englischsprachigen Personen. Währenddessen wurden auch Überlegungen hinsichtlich der Formulierung very close connected, was als zu technisch versiert betrachtet wurde, sowie very close related, was mit einer zu starken Assoziationsmöglichkeit von Verwandtschaftsbeziehungen bewertet wurde, in die Diskussionen eingebunden. Diese Überlegungen führten zu der oben aufgeführten englischen Formulierung. 8 Anmerkung: Der Laptopbildschirm ist als interaktive Oberfläche zu verstehen. Daher gilt es zu berücksichtigen, dass in der Printversion die unter dem Quadrat-Symbol hinterlegten
5.1 Gegenstandsbezogene Entwicklung des Erhebungsinstruments
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Akteuren und Entitäten. Die beiden Kreissymbole9 mit geschlechtsspezifischer Zuordnung nehmen dabei eine Platzhalterfunktion für personale Akteure ein. Entitäten (wie Institutionen, Einrichtungen, Organisationen, Vereine, Onlineplattformen, Kommunikationskanäle, Hobbys, Konzepte, Ideen, Objekte oder Sonstiges) werden hingegen durch eine quadratische Figur visualisiert. Die ebenfalls am linken Bildschirmrand aufgeführte schwarze Linie repräsentiert Relationen. Diese wurde den zu Befragenden im Visualisierungsprozess angeboten, um Beziehungen zwischen den von ihnen genannten Alteri darstellen zu können. Von weiteren Rollenoder Farbzuweisungen, wie dies in anderen Studien hin und wieder zu sehen ist (vgl. z. B. Gamper & Fenicia 2013: 256 f.), wurde einerseits aus Gründen der Komplexitätsreduktion und andererseits aufgrund des Anliegens ein qualitativ ausgerichtetes Erhebungsinstrument zu entwerfen, abgesehen10 . (So ausgestattet wurden die zu Interviewenden im Erzählverlauf dazu angehalten, ihre benannten Akteure und Entitäten sowie ggf. deren Beziehungen untereinander auf der beschriebenen Netzwerkkarte zu visualisieren (s. hierzu Tabelle 5.1)). Weiter wurde die computerbasierte Netzwerkkarte mit einem quantitativen Kurzfragebogen verknüpft. Konkret bedeutet dies, dass am Ende des Interviews alle in der Netzwerkkarte visualisierten Akteure und Entitäten in Form einer Liste aufgeführt wurden. Mit dieser wurden wiederum drei Fragen verknüpft, die auf folgende Thematiken abzielten: a) Nationalität, b) Aufenthaltsort zum Zeitpunkt des Interviews und c) (Potentielle) vergangene Aufenthaltsländer der angegebenen Referenzpersonen von Ego. Für die spätere Datenanalyse wurden die so gewonnenen Informationen bei Bedarf als Zusatzinformationen genutzt. (2) Konzeptionierung des Interviewleitfadens: Nach den ersten Einblicken zum Aufbau der in der vorliegenden Arbeit verwendeten Netzwerkkarte wird nun Begriffe nicht vollständig sichtbar sind. Wird auf dieses mit dem Maus-Cursor geklickt, werden neben dem Schlagwort Institution auch die Begriffe Einrichtung, Organisation, Verein, Onlineplattform, Kommunikationskanal, Hobby, Konzept, Idee, Objekt und Sonstiges sichtbar. 9 Das Kreissymbol mit weißer Innenfläche steht für den zu Interviewenden, der in der Netzwerkkarte in der Mitte der Kreise (als Ego) platziert ist. Aufgrund der technischen Vorgaben des Programms VennMaker war es nicht möglich, diesen aus der Symbolliste zu entfernen. Weiter wurde davon abgesehen ein Gruppensymbol anzubieten. Denn die Pretestinterviews ergaben, dass die Befragten bei der Nutzung von Gruppensymbolen zu schnell in verallgemeinernde Beschreibungen verfielen; also weniger die Rolle von Einzelpersonen thematisierten. Wurde dennoch nach einer Visualisierungsmöglichkeit gefragt, wurde entsprechend des Kontextes auf eines der Symbole verwiesen. 10 Kritisch gilt es in diesem Zusammenhang anzumerken, dass bereits der Einsatz der konzentrischen Kreise sowie deren Beschriftung als ein Einschnitt in ein als qualitativ angeführtes Erhebungsinstrument bewertet werden kann. Die Gründe für die jeweiligen Entscheidungen sind dem Fließtext zu entnehmen.
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Forschungspraktische Umsetzung
beleuchtet, wie diese in den Interviewverlauf eingebunden wurde. Im Allgemeinen werden im Rahmen netzwerkanalytischer Datenerhebungsverfahren bestimmte Fragetechniken, die wiederum zur Benennung von Referenzpersonen oder Entitäten (Alteri) anregen sollen, in den Interviewverlauf eingeflochten. Konkret handelt es sich dabei um sogenannte Namensgeneratoren (NG) und Namensinterpretatoren (NI). Mit Ersterem wird der Befragte zunächst durch einen bestimmten Stimuli dazu angehalten, Referenzpersonen zu nennen (vgl. Herz 2012: 136; Schnegg & Lang 2002: 19 f; Wolf 2010: 471). Je nach Frageformulierung können dabei unterschiedliche Beziehungsverhältnisse eruiert werden. Zu den allgemein bekannten Frageverfahren gehört der sogenannte Burt-Generator, der ursprünglich für die allgemeine Bevölkerungsumfrage in den USA entwickelt wurde (vgl. Wolf 2010: 472). Die dort eingesetzte Formulierung lautet: „From time to time, most people discuss important personal matters with other people. Looking back over the last six month, who are the people with whom you discussed an important personal matter?“ (Burt 1984: 331). Mit dieser Formulierung werden primär solche Referenzpersonen erfragt, zu welchen Ego ein relativ enges Beziehungsverhältnis unterhält, so die Diskussion in der Literatur (vgl. Wolf 2010: 473). Wird die Frage entsprechend umformuliert, ist jedoch auch eine Eruierung vielfältigere Beziehungsverhältnisse denkbar (vgl. Fischer 1982: 36; Wolf 2010: 472). Mit anderen Worten: „Die Erhebung ego-zentrierter Netzwerke transformiert die Fragestellung, welche Einheiten in das Netzwerk gehören und welche nicht, in die Fragestellung, mit welchem Netzwerkgenerator das ego-zentrierte Netzwerk zu erheben ist“ (Diaz-Bone 1997: 52). Dementsprechend wurde in der vorliegenden Arbeit – aufgrund des Interesses möglichst alle für die zu befragenden Personen relevanten Akteure und Entitäten im Kontext von deren Mobilität erfassen zu können – eine offene Frageformulierung gewählt. Der konkret angewendete und im Interviewverlauf mehrfach wiederholte Namensgenerator lautet: Gab es in Kontext [X] bestimmte Personen [Organisationen/Onlineplattformen/etc.] die für Sie relevant [wichtig/hilfreich/unterstützungsgebend/hemmend/etc.] waren?
Hinsichtlich der möglichen Anzahl zu benennender Akteure wurde keine Grenze festgelegt und somit dem Prinzip der „free choice“ gefolgt. Es handelt sich dementsprechend um ein Design, bei dem „die Befragten alle Personen nennen können, die für sie die Kriterien des Generators erfüllen […] (vgl. Herz 2012: 136 f.). Anschließend bzw. parallel zu den gestellten Namensgeneratoren-Fragen kamen die sogenannten Namensinterpretatoren zum Einsatz. Mit Hilfe derer werden Informationen über die Beziehungen zwischen Ego und den von ihm benannten Kontaktpersonen (Ego-Alter Relation) eingeholt (vgl. ebd.: 135). In formal
5.1 Gegenstandsbezogene Entwicklung des Erhebungsinstruments
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ausgerichteten Studien führt dieser Schritt oftmals zur Abfrage von Rollen oder demographischen Daten der Alteri durch Antwortvorgaben (vgl. Wolf 2010: 474). In der vorliegenden Arbeit wurde jedoch auch an dieser Stelle darauf geachtet, die Fragen entsprechend offen zu formulieren. Der Namensinterpretator – der ebenfalls mehrfach und jeweils in leicht abgeänderten Varianten zum Einsatz kam – lautet: Können Sie mir bitte mehr über den Beziehungskontext [X] berichten?
Auf visueller Ebene wurden die daraus resultierenden Beziehungsbeschreibungen (Ego-Alter Relation) nicht festgehalten; schließlich ist deren Bestand Grundlage der Erzählung und wird somit als gegeben angesehen. Beziehungen zwischen den von den Befragten genannten Alteri (Alter-Alter-Relationen) wurden hingegen auch zeichnerisch festgehalten. Denn wie voranstehend bereits auf theoretischer Ebene besprochen wurde, wird erst durch die Erhebung dieser Beziehungen auch eine Analyse der Netzwerkstruktur möglich. Oder wie Straus es formuliert: „Das Unsichtbare sichtbar machen“ (Straus 2013: 33). So kann bspw. die Dichte eines Netzwerks betrachtet oder ein Cluster innerhalb eines Netzwerks ausgemacht werden. „Die Analyse der Netzwerkstruktur und damit die Möglichkeit zur Kenntnis zu nehmen, was von hier aus sowohl Einschränkungen als auch Ermöglichungen für das Handeln und Wahrnehmen von ego sind, wird sonst verfehlt“ (vgl. Diaz-Bone 2008: 338 f., Herv. im Orig. nicht übernommen). Eine Übersicht zu dem letztendlich ausgearbeiteten Interviewleitfaden ist in Tabelle 5.1 aufgeführt. Dieser diente während des Interviewverlaufs insbesondere als Orientierung; wenngleich jedes Gespräch ganz individuell verlief. Darüber hinaus gilt es anzumerken, dass zum Auftakt des Interviews zunächst die grundlegenden Funktionen der Software vorgestellt wurden. Bei Wunsch durfte der zu Interviewende die Visualisierungsfunktionen selbst testen. Außerdem wurde, unter Zusicherung eines anonymen Umgangs mit dem Datenmaterial, eine Erlaubnis zur Dokumentation – sowohl von der Zeichnung als auch von dem gesprochenen Wort – eingeholt. Dabei wurde ermunternd darauf hingewiesen, dass alles was für den Interviewpartner wichtig sei, auch für mich interessant sei. Da während des gesamten Interviewverlaufs das Laptopprogramm VennMaker in das Gespräch eingebunden war (s. hierzu weiteres in Abschn. 5.2.2), gelang es sowohl das gesprochene Worte als auch den damit in Zusammenhang stehenden Visualisierungsprozess zu dokumentieren. Denn VennMaker bietet eine Funktion, mit der es gelingt, aus dem Interview eine Filmsequenz (bestehend aus dem Visualisierungsvorgehen auf der Bildschirmoberfläche und einer audiovisuellen Aufnahme) zu erzeugen (vgl. Gamper et al. 2012). „Wesentlicher Vorzug einer solchen Visualisierung ist es, dass die Sequenzialität der Befragungssituation
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Forschungspraktische Umsetzung
Tabelle 5.1 Kurzübersicht Interviewablauf. (Quelle: Eigene Darstellung)
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
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um die Gleichzeitigkeit der bildlichen Darstellung ergänzt wird“ (Hollstein et al. 2013: 121). Für die vorliegende Arbeit bedeutet dies konkret, dass genaue zeitliche Zuordnungen zwischen der grafischen Entwicklung der Netzwerkkarte und dem Gesprächsverlauf gemacht werden können. D. h., dass eine Nachvollziehbarkeit sowohl hinsichtlich der Eintragung von Symbolen in der Netzwerkkarte und damit in Zusammenhang stehende narrative Erläuterungen als auch hinsichtlich möglicher Symbolverschiebungen gewährleistet ist. Hierin wird außerdem einer der wesentlichen Vorzüge zu einer Paper&Pencil Erhebung (vgl. z. B. Olivier 2013) gesehen. (Vorausgesetzt, die zu Interviewenden lehnen eine computergestützte Interviewdurchführung nicht ab. Hierzu weiteres in Abschn. 5.2.2) Denn mit papierbasierten Erhebungen ist eine Nachvollziehbarkeit der Kartenentwicklung am Ende des Interviews oftmals mit Herausforderungen verbunden – entspricht das Endprodukt doch einer Standbildaufnahme, einem „Snapshot“ (vgl. Ryan & D’Angelo 2018: 150). Wie voranstehend angeführt, finden sich in der Literatur jedoch dennoch Hinweise zur Notwendigkeit einer Nachvollziehbarkeit sich verändernder Beziehungen (über längere Zeiträume hinweg) (vgl. Hollstein 2006: 22; Ryan 2015: 1667) (s. Abschn. 4.2). Argumentiert wird dabei im Allgemeinen dahingehend, dass Beziehungen vielfältigen Einflüssen unterliegen und Veränderungen nicht linear verlaufen (vgl. Rainie & Wellman 2014: 136; Ryan & D’Angelo 2018: 150; Ryan & Mulholland 2014: 162) – „social ties are not spontaneous but require effort and nurturing“ (Ryan & Mulholland 2014: 148). Mittlerweile wurden einige wenige Arbeiten publiziert, die sich mit diesem Anliegen auseinandersetzen. Dabei fällt jedoch auf, dass das, was dort als Längsschnittuntersuchung angeführt wird, unter dem Vergleich zweier Zeitpunkte subsumiert wird. Konsequenterweise sprechend Ryan und D’Angelo daher auch von „repeat interviews“ (Ryan & D’Angelo 2018: 188). Andere versuchen zeitlich gebundene Dynamiken hingegen über biographische Erzählverläufe abzubilden; die Netzwerkdarstellung entspricht dabei jedoch einem starren Gebilde (vgl. Bilecen & Amelina 2018). Aus meiner Perspektive wird so jedoch erneut das Prinzip von Standbildaufnahmen reproduziert. Diesem Kritikpunkt wird in der vorliegenden Arbeit mit dem oben beschriebenen Erhebungsinstrument versucht entgegenzuwirken. Wie sich die letztendliche Interviewdurchführung und Analyse mit dem so gewonnenen Material gestaltete, wird in den nachstehenden Kapiteln besprochen.
5.2
Feldzugang und Datenerhebung
Nach der Pretestphase, ersten gesammelten Felderfahrungen sowie der Entwicklung des Erhebungsinstruments, erfolgte in den Sommermonaten Juni und Juli des Jahres
100
5
Forschungspraktische Umsetzung
2015 ein erneuter Forschungsaufenthalt11 in Südostasien. Dieses Mal gestaltete sich dieser jedoch geographisch disperser und verteilte sich auf unterschiedliche Länder und Städte. Zunächst ging es erneut in die taiwanesische Stadt Taipei, danach in die Metropople Bangkok sowie in die im Norden von Thailand gelegene Stadt Chiang Mai und abschließend in die Kleinstadt Ubud, auf der indonesischen Insel Bali. Die Entscheidung weitere und insb. diese Orte in die Erhebung einzubeziehen, wurde maßgeblich durch die während der Pretestphase gewonnenen Informationen sowie durch den mittels #nomad erlangten onlinebasierten Feldzutritt (s. Abschn. 5.1.1) beeinflusst. So wurde mir bspw. mehrfach davon berichtet, in einigen Städten Thailands sowie in Ubud auf eine Vielzahl von Digitalen Nomaden treffen zu können12 . Die gewählte Reihenfolge der zu besuchenden Aufenthaltsorte wurde dabei entlang von pragmatischen Gründen entschieden. Denn mit Blick auf die ansteigenden Temperaturen im Monat Juli in Taipei, war zugleich die Wahrscheinlichkeit verringert, auf potentielle Interviewpartner treffen zu können. Dementsprechend bildete Taiwan auch bei diesem Feldaufenthalt den Auftakt. Die anschließenden Stationen orientierten sich hingegen an logistischen Kriterien wie Flug- und Zugverbindungen. Im Folgenden wird nun geschildert, wie der tatsächliche Feldeintritt bzw. die Rekrutierung von neuen Interviewpartnern gelang (s. Abschn. 5.2.1) und wie sich die Befragungen gestalteten (s. Abschn. 5.2.2). Die Darstellung wird sich dabei weitestgehend auf einer deskriptiven Ebene bewegen. Analytische Verdichtungen werden unter Teil III vorgenommen.
5.2.1
Feldaufenthalt in Südostasien
Zu Beginn dieses Kapitels richtet sich der Blick zunächst auf die Onlineplattform Nomad List sowie den zugehörigen Chatkanal #nomad. Denn – wie oben angesprochen – spielten beide Medien einen entscheidenden Einfluss bei der Auswahl weiterer Aufenthaltsorte. Außerdem erwies sich der Chatkanal während des Forschungsaufenthalts als unerlässliches Kommunikationstool im Dialog mit den zu Interviewenden. Dementsprechend werden die beiden Tools nachstehend entlang ihrer Grundlagenfunktionen kurz skizziert. Hierzu möchte ich einen der Interviewpartner zu Wort kommen lassen. Denn so wird nicht nur deutlich, dass ich die beiden 11 Diesen bezeichne ich im Allgemeinen als Hauptaufenthalt; wenngleich dieser nicht als unbeeinflusst von den Erfahrungen des ersten Aufenthalts betrachtet werden kann. 12 Ein Umstand, den bspw. McRae in einer Publikation aus dem Jahr 2016 über Ubud bestätigt (vgl. MacRae 2016). Wie die Jahreszahl zeigt, jedoch zu spät, um diese in die Recherchen vor dem Feldforschungsaufenthalt im Jahr 2015 in die Überlegungen mit einbeziehen zu können.
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
101
Medien für Recherchearbeiten nutzte, sondern auch, dass die Befragten außerordentlich gut über die technologischen Entstehungshintergründe von Nomad List und #nomad informiert sind. Gerrit erklärt: G: „[D]u kennst wahrscheinlich Peters, Peter Levis und Nomad, #nomad oder Nomads List? (I: Ah okay.) Ähm, […] also so ein Typ, der auch praktisch in der Gegend rumreist und seine eigenen Startups macht oder seine eigenen Projekte umsetzt. Halt eins von den Projekten war eine Liste von, ähm, Städten zu machen und die zu ranken, wie gut die für, ähm, Typen wie mich oder ihn sind. Also wie günstig es ist, wie sicher es ist, ähm, wie viel, wie gut ist das Internet. Gibt es Cafés, Co-Working Spaces und so weiter. Und das nennt sich Nomads List. Und das, aber das ist interessant, ja, das, ähm“ (Gerrit, A. 138–140).
Einen Einblick in die von Gerrit beschriebene Liste gewähren die beiden unten aufgeführten Abbildungen 5.2 und 5.3. Dabei handelt es sich jeweils um einen Screenshot-Ausschnitt der entsprechenden Bildschirmoberfläche. Die erste Abbildung zeigt die Startseite13 der Onlineplattform Nomad List, deren Slogan bereits auf die dort zu findenden Städtekategorien hinweist.
(Quelle: Nomad List Cies Startseite, Stand: 27.7.2016)
Abbildung 5.2 Startseite Nomad List
13 Quelle
Nomad List: https://nomadlist.com/best-cities-for-digital-nomads.
102
5
Forschungspraktische Umsetzung
(Quelle: Nomad List Cies, Stand: 27.7.2016)
Abbildung 5.3 Chiang Mai im Nomad List-Ranking
Mittlerweile umfasst das von Gerrit erwähnte Ranking mehr als 1000 Städte. Aus den genannten Kriterien resultiert für jede Stadt wiederum eine Gesamtbewertung, welche in Form eines sogenannten Nomad Scores präsentiert wird. Aus den Ergebnissen wird die besagte Nomad List generiert. Wie eine entsprechende Listenplatzierung aussehen kann, ist exemplarisch unter Abbildung 5.3 aufgeführt. Es handelt sich dabei um das Ranking der Stadt Chiang Mai. Die Präsentation ist wie folgt aufgebaut: Am oberen linken Bildschirmrand befindet sich der Listenplatz, in diesem Fall Platz eins, oben rechts die durchschnittliche Internetgeschwindigkeit, unten links die Wetterbedingungen zum Zeitpunkt der Screenshot-Generierung sowie unten rechts die zu erwartenden Lebenshaltungskosten pro Monat14 . Weiter erläutert Gerrit den Onlinechatkanal #nomad15 wie folgt: G: „Und dazu, zu dieser Liste [gibt]16 es eben auch eine Slack-Gruppe in den, ich weiß nicht, ob du Slack kennst. Da gibt es eine Chatgruppe dazu. Ähm, #nomad“ (Gerrit, A. 138–140).
14 Weitere auf der Plattform eingebaute Funktionen ermöglichen eine Abfrage weiterer Details. Entsprechend der jeweiligen Entwicklungen können diese einer kontinuierlichen Veränderung unterliegen, bspw. im Rahmen sich wandelnder Jahreszeiten oder veränderter politischer Bedingungen. Außerdem soll an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass die Plattform einer kontinuierlichen Überarbeitung unterliegt. 15 Eine Querbetrachtung des Interviewmaterials zeigt, dass die Befragten die folgenden Begriffe zum Teil synonym verwenden: Slack-Gruppen, Nomad List, Nomad Forum, „#nomad“, „nomadlist.com“. 16 Angaben in eckiger Klammer wurden von mir für ein besseres inhaltliches Verständnis in das Zitat eingefügt. Auf einen Vermerk mittels meiner Initialen (A.M.) wurde aus Gründen eines besseren Leseflusses verzichtet. Dies gilt in der vorliegenden Arbeit auch für alle weiteren, entsprechend kenntlich gemachten, Angaben in Interviewzitaten.
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
103
Und weiter: G: „Also Slack ist bloß ein, eine Software. Und da kann, das kannst du oder ich, könnte jetzt eine Gruppe starten. (I: Okay.) Und dann können andere Leute da dazu“ (Gerrit, A. 170–172).
Zu jenen Subgruppen des Chatkanals #nomad, welche für die vorliegende Arbeit und somit auch für meine Recherchearbeiten von besonderer Relevanz waren, zählen die Kanäle: #taiwan, #bangkok, #chiang mai und #bali17 . Darüber hinaus erwiesen sich die deutsch- und englischsprachigen Facebookgruppen, Digitale Nomaden18 , Digital Nomad Community19 , Chiang Mai Digital Nomads20 und Bali Digital Nomads21 als besonders wertvoll. Auch vor diesem Aufbruch nach Südostasien unternahm ich den Versuch, bereits vor meiner dortigen Ankunft Kontakte zu potentiellen Interviewpartnern zu knüpfen. Schnell wurde ich dabei jedoch eines Besseren belehrt. Ein Auszug aus einem Onlinedialog spiegelt diese Situation passend wider. Mein dortiger Kontakt, Alex, schrieb: „DN’s are infamous for not being able to tell you where in the world we are next week“ (Onlinekontakt Alex, 14. Mai 2015). Dieser Umstand machte sich auch während meines Feldforschungsaufenthalts bemerkbar. Aufgrund der oftmals nur kurzen Planungszeiten der zu Befragenden wurde deutlich, dass Spontanität in jeglicher Hinsicht gefordert war. Einerseits aufgrund des von Alex’ beschriebenen Kriteriums, aber auch aufgrund der Arbeitstätigkeiten Digitaler Nomaden. Denn diese sind häufig durch kurzfristige Kundenanfragen o. ä. charakterisiert. In Südostasien angekommen, begann ich also erneut mit den Kontaktaufnahmen. Dabei zeigte sich, dass die jeweiligen Aufenthaltsorte ihre jeweils ganz eigenen Rekrutierungsstrategien forderten; Wie sich später herausstellte, hängt dies nicht zuletzt mit der jeweils lokal anzutreffenden (Coworking-)Infrastruktur zusammen (s. hierzu Abschn. 7.2). Im Allgemeinen spielten an allen Aufenthaltsorten onlinebasierte Kommunikationskanäle eine bedeutende Rolle. Allerdings war es notwendig, für jeden Aufenthaltsort den geeigneten Onlinechat ausfindig zu machen. So stellte sich bspw. in Taipei heraus, dass, trotz der landesweiten Verbreitung des sozialen 17 Einblick 18 Quelle
nur mit Registrierung möglich. Facebookgruppe Digitale Nomaden: https://www.facebook.com/groups/digitalen
omaden/. 19 Quelle Facebookgruppe Digital Nomad Community: https://www.facebook.com/groups/ 187597644752998/. 20 Quelle Facebookgruppe Chiang Mai Digital Nomad: https://www.facebook.com/groups/ cmnomads/. 21 Quelle Facebookgruppe Bali Digital Nomads: https://www.facebook.com/groups/balidigit alnomads/.
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Forschungspraktische Umsetzung
Netzwerks Facebook, potentielle Interviewpartner ausschließlich über den Chatkanal #nomad bzw. #taiwan kommunizierten. Dementsprechend verfolgte ich die Chatverläufe22 und brachte mich in die dort abgehaltenen Dialoge ein. In Taipei erwies sich diese Strategie insbesondere deshalb als besonders fruchtbar, da lokale Coworking Spaces (um dort mögliche Interviewpartner ansprechen zu können) und englischsprachige Beschilderungen nur selten vorhanden waren. In Bangkok angekommen, veränderte sich mein Rekrutierungsverhalten. Dort entschloss ich mich für eine Woche in ein sogenanntes Coworking Hostel einzuziehen. Neben Übernachtungsmöglichkeiten bietet dies seinen Gästen eine stabile Internetverbindung und laptopgeeignete Arbeitsplätze. So gelang es, neben Interviews auch vielfache informelle Gespräche zu führen. Darüber hinaus galt es zu berücksichtigen, dass sich in Bangkok mittlerweile vielzählige Coworking Spaces angesiedelt haben. Eines der Größten besuchte ich für einen Tag. Währenddessen bekam ich die Möglichkeit, mit einer der dortigen Mitarbeiterinnen ein kurzes Interview zu führen und mehr über die Entstehungsgeschichte des Space zu erfahren. Zu dessen Gründung berichtet sie: M: “Actually the space was founded in Hongkong, we have three locations in Hongkong and this is the fourth location in Thailand […]. For Bangkok we just opend before one year and one month23 we were just having a birthday anniversary last month” (Mitarbeiterin eines coworking Space in BKK, A. 3 u. 5).
Interessant ist an dieser Aussage insbesondere, dass sie auf die noch junge Entwicklung der weltweiten Coworking-Landschaft – konkret das Jahr 2014 – hindeutet (vgl. Foertsch 2013; 2015; 2017; Merkel & Oppen 2013). Als nächste Station während meines Feldforschungsaufenthalts stand die Stadt Chiang Mai auf dem Plan. Dort bot sich mir eine hohe Dichte an Coworking Spaces und -Cafés; insbesondere entlang der bekannten Nimman Road und kleineren Nebenstraßen, sog. Sois. Dennoch stellte sich auch hier eine Kontaktaufnahme mittels dem Onlinechatkanal #chiang mai am effektivsten heraus. So konnte ich neben Interviewvereinbarungen außerdem auch Informationen über lokal abgehaltene Events gewinnen und bspw. an einer sog. Meetup-Veranstaltung teilnehmen. Abschließend führte mich meine Feldforschung auf die Insel Bali. Dort machte ich mich auf den Weg nach
22 Nicht alle der in einem Chat angemeldeten Mitglieder müssen sich zwangsläufig am besagten Ort aufhalten. Aus den Dialoginhalten konnte bspw. abgeleitet werden, ob sich eine Person bereits am entsprechenden Aufenthaltsort befindet oder erst für die Zukunft einen dortigen Aufenthalt plant. Dieser Umstand erforderte eine entsprechende Selektionsarbeit. 23 Im Mai 2014. Das Interview wurde im Juni 2015 geführt.
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
105
Ubud und suchte den in den sozialen Netzwerken vielfach beworbenen Coworking Space „Hubud 24 “ (kurz für „Hub-in-Ubud“) auf. Anders als die Angebote in Chiang Mai, bot dieser Space ein rundum-Konzept. Neben allgemeinen Arbeitsplätzen, Meeting- und Skyperäumen grenzte auch eine Terrasse mit Garten an das Gebäude und lud zu Veranstaltungen ein. Darüber hinaus wurden von Seiten des Coworking Spaces regelmäßig Workshops, Expertenvorträge, Projektpräsentationen, Pitches oder Reparaturservices für Laptops organisiert. Im Gespräch mit einer der Hubud-Mitarbeiterin stellt diese dessen Angebote wie folgt vor: M: “[We] have three cofounders two of them from canada and one of them is from London, he is british. […] We started with only 25 people as our funding members ehm they were our inital members. 25 founding members. And than, now we have 270 active members but i this last two years I think we have seen like more than 2000 people coming and going you know […]. As time goes, eh we attrakted more and more location independend entrepreneurs or as they call themself Digital Nomads […]. At Hubud we host up to 40 Events monthly. Eh and they are skillsharing and brainstorming events. We have networkingevents so we really try to facilitate that kind of connections” (Mitarbeiterin eines coworking Spaces in Indonesien, A. 4–13).
Für die Feldforschung bedeutete dies wiederum, dass innerhalb Hubuds viele potentielle Interviewpartner anzutreffen waren; nicht zuletzt deshalb, da diese oftmals ihren gesamten (Arbeits-)Tag im Space verbrachten. Daher war es durch persönliche Ansprache der dort Anwesenden relativ einfach, Interessierte für eine Interviewteilnahme gewinnen zu können. Darüber hinaus wurde ich für den letzten Tag während meines Baliaufenthalts von einem meiner Interviewpartner zu einem „Workation“Besuch eingeladen (Maximilian, A. 4; s. hierzu auch Abschn. 6.1.1). Bei dem Begriff Workation handelt es sich um ein Kofferwort, welches aus den beiden englischsprachigen Begriffen Work und Vacation, also Arbeit und Urlaub, zusammengesetzt wird. (In Abschnitt 7.2 wird ein empirisches Beispiel vorgestellt und das Konzept noch ausführlicher besprochen.) Die besagte Einladung nahm ich gerne an. So bekam ich die Gelegenheit, weitere Einblicke in Arbeits-, Mobilitäts- und Alltagspraktiken Digitaler Nomaden zu erhalten. Dementsprechend hatte ich am Ende meines Aufenthalts neben den geführten Interviews auch unzählige Notizen zu informellen Gesprächen, Veranstaltungsteilnahmen oder allgemeinen Beobachtungen gesammelt. Diese erwiesen sich später insbesondere für eine Kontextualisierung der gewonnenen Informationen als wertvoll.
24 Quelle
Hubud: https://hubud.org.
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5.2.2
5
Forschungspraktische Umsetzung
Interviewdurchführung
War ein Erstkontakt mit den zu Befragenden hergestellt, erfolgte meist relativ zügig eine Realisierung des Interviewtreffens – manchmal am nächsten Tag, manchmal auch nur wenige Stunden später. Wie sich die konkrete Durchführung eines Interviews gestaltete, wird nun im Folgenden vorgestellt.
5.2.2.1 Intervieworte (finden) und Interviewequipment Begonnen wird zunächst mit einem Blick auf die jeweils ausgewählten Intervieworte und das für eine computergestützte Erhebung notwendige Equipment. Interessant erscheint dies nicht zuletzt deshalb, da die besagten Aspekte durchaus einen Einfluss auf die Gesamtsituation des Interviews nehmen können (vgl. Müller et al. 2017: Min. 8–29). Meist überlies ich es dem zu Befragenden einen Interviewort vorzuschlagen. Einerseits, um den Aufwand für den Teilnehmer gering zu halten und andererseits, um das Treffen in einer für den zu Interviewenden angenehmen Gesprächsatmosphäre abhalten zu können; in wenigen Fällen wählte ich auf Wunsch des Interviewpartners eine Location aus. Im Allgemeinen versuchte ich – sofern die Möglichkeit bestand und das Treffen nicht zu spontan erfolgte – den jeweils ausgewählten Ort vorab zu besuchen. Hiermit wurde das Ziel verfolgt, einen Eindruck von der vorzufindenden Geräuschkulisse, dortigen Stromanschlüsse oder Sitzmöglichkeiten zu erlangen. Im Rahmen dieser Vorgehensweise gab ich bei der Interviewvereinbarung und der Besprechung des Interviewortes daher lediglich eine Information an den zu Befragenden weiter. Die Rede ist hier von dem Hinweis über den (potentiellen) Einsatz eines Laptops – unter gleichzeitigem Verweis auf die gemeinsame Betrachtung des einzusetzenden Programms vor Ort. Die Weitergabe dieser Information war insbesondere deshalb relevant, da so die Notwendigkeit eines Tisches o. ä. bei der Wahl des Ortes transparent gemacht werden konnte. Hinsichtlich der Reaktionen der zu Befragenden auf diese Nachricht zeigte sich – zu meiner anfänglichen Überraschung – schnell, dass diese keinerlei Skepsis über den Einsatz eines Laptops äußerten. Zurückzuführen ist dieser Umstand vermutlich auf die alltägliche Routine von Digitalen Nomaden im Umgang mit neuen Technologien. Dennoch möchte ich anmerken, dass es diese Reaktionen nicht zu verallgemeinern gilt. Denn was für Digitale Nomaden gut zu funktionieren scheint, kann für andere Personengruppen durchaus eine Herausforderung darstellen (vgl. Olivier 2013: 110).
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
107
5.2.2.2 Reaktionen der InterviewpartnerInnen während des Interviewverlaufs War ein Sitzplatz am vereinbarten Treffpunkt gefunden und ein Getränk o. ä. bestellt, begann ich, meist parallel zu einem anfänglichen Smalltalk, zügig mit dem Aufbau des Laptops. Dabei wurde darauf geachtet, dass dieser so platziert wurde, dass primär der Interviewpartner eine gute Sicht auf die Bildschirmoberfläche, aber auch ich Einblickmöglichkeiten hatte. Anschließend erläuterte ich in knappen Sätzen mein Anliegen – also mein Interesse für die Mobilität des zu Befragenden im Allgemeinen als auch die damit in Zusammenhang stehenden Beziehungen. Im Allgemeinen zeigten sich die Teilnehmenden als Gesprächsbereit und keiner der zu Interviewenden lehnte die zuvor erfragte Aufnahme des Gesprächs ab25 (weitere Hinweise vor Interviewbeginn s. Abschn. 5.1.2). Was sich jedoch insbesondere zu Beginn der Interviews bzw. hinsichtlich der zu visualisierenden Netzwerkkarte zeigte, waren Nachfragen zum Umgang mit den einzutragenden Symbolen. Hinsichtlich des Visualisierungsbeginns stellte bspw. Malte folgende Nachfrage: M: „Ähm, ich kann ja einfach mal anfangn, ne? Jetzt is/“ I: „Ja. Genau“ (Malte, A. 98–99).
Wie das Beispiel zeigt, holt Malte durch seine Nachfrage eine Rückversicherung bei der Interviewerin, also bei mir, über den Beginn seiner Netzwerkvisualisierung ein. Kristin wirft hingegen die Bitte in den Raum, sie an ihre Visualisierungsaufgabe zu erinnern. Dies formuliert sie wie folgt: K: „[U]nd dann würde ich sagen, übernimm du einmal da ein bisschen die Führung da wenn ich es vergesse im Gequassel/ (I: (Lacht) Ja, ja/) Äh, den Fokus darauf zu verlieren, dass ich da etwas eintragen soll. Dann ziehe mich bitte auf dieses, äh, auf das Ding zurück bitte“ (Kristin, A. 30–32).
Deutlich wird an dieser Aussage von Kristin außerdem, dass für sie zu Beginn des Interviews noch unklar zu sein scheint, um was es sich bei dem Einzutragenden („etwas“) handeln soll oder kann. Wurde mit dem Visualisierungsprozess einmal begonnen, traten hin und wieder Nachfragen hinsichtlich der Beschriftung der einzutragenden Symbole auf. Ein solches Beispiel zeigt sich im Gespräch mit Raik, der 25 Zwei der Interviewpartner merkten an, dass sie eine Veröffentlichung in Form eines Podcasts oder Blogbeitrags ablehnen. Interessant ist an diesen Anmerkungen, dass ein Veröffentlichungsmedium dieser Art in keiner Weise von mir thematisiert wurde. Die Reaktionen der beiden Interviewpartner können insofern als eine besondere Sensibilität gegenüber Blogs und u. U. ihren eigenen gemachten Erfahrungen gedeutet werden.
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Forschungspraktische Umsetzung
aus Sorge um eine spätere Nachvollziehbarkeit seiner Beschriftung folgende Frage stellt: R: „DN kann ich schreiben, ne?“ I: „Ja.“ R: „Äh, (.) ähm. (4) [Eintragung DN Bewegung in NWK]“ (Raik, A. 266–268).
Das Beispiel von Raik erscheint mir insbesondere deshalb als interessant, da sich so in verbalisierter Form eine Art von Gestaltschließungszwang (im Allgemeinen eine in sich schlüssige Erzählung) hinsichtlich des Visualisierungsprozesses abzeichnet. Während von Gestaltschließungszwängen zwar oftmals im Kontext von narrativen Erzählverläufen gesprochen wird (vgl. Bohnsack 2008: 93), mangelt es bislang jedoch an einer entsprechenden Diskussion für die visuelle Ebene bzw. im Speziellen für computergestützte ego-zentrierte Netzwerkkarten (vgl. Müller et al. 2017: Std. Min 1:04–01:09). Im Allgemeinen konnte jedoch auch beobachtet werden, dass sich die Interviewten im Verlauf des Gesprächs ihre Karten zu eigen machten. Abschließend möchte ich noch ein Zitat des Brasilianers Ricardo aufgreifen. Er steht an dieser Stelle stellvertretend für jene Interviewpartner, welche in der Regel mit einer englischsprachigen Laptoptastatur arbeiteten. Da der von mir mitgebrachte Laptop jedoch mit einer deutschen Tastatur ausgestattet war, brachte dies für die Interviewsituation eine Herausforderung mit sich. Diese spiegelt sich in folgendem Satz von Ricardo: R: “Okay. Her name is Larissa. It’s so hard to type in a different keyboard” (Ricardo, A. 47).
Worauf sich Ricardo hier u. a. bezieht, ist die Position der beiden Buchstaben Y und Z. Denn diese sind auf deutsch- und englischsprachigen Tastaturen nicht an identischen Stellen angebracht. Diesen Umstand gilt es ebenfalls als möglichen Einflussfaktor auf die Interviewsituation anzuerkennen und zu reflektieren.
5.2.2.3 Synergien von Narration und Visualisierung im Interviewverlauf In diesem Abschnitt wird nun entlang konkreter empirischer Beispiele besprochen, wie im Interviewverlauf durch die Kombination von Narration und Netzwerkkarte Synergien erzeugt wurden. (1) Einerseits, indem der zu Interviewende sich seine Zeichnung für Erklärungen zunutze machte (vgl. Hogan et al. 2007) und (2) andererseits, indem die Netzwerkkarte für Interviewerin und Interviewee als gemeinsame
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
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Kommunikationsgrundlage diente; bspw., um Nachfragen zu bereits visualisierten Personen zu stellen (vgl. Altissimo 2016: Abschn. 3.5; Herz & Gamper 2011: 76). Bei einer Querbetrachtung des für diese Arbeit erhobenen Materials lassen sich resümierend vier Schritte im Prozess der Visualisierung und narrativen Erläuterungen identifizieren und wie folgt zusammenfassen: 1. Visualisierung und Positionierung von Alter A in NWK 2. Reflexion über Positionierung von Alter A gegenüber Ego und anderen Alteri B 3. Ggf. Repositionierung von Alter A und erneute Reflexion über Positionierung von Alter A gegenüber Ego und anderen Alteri B 4. Ggf. Repositionierung von Alter B, unter Reflexion der Neupositionierung von Alter A Im Allgemeinen gilt es anzumerken, dass es sich hierbei um keine starr abzuarbeitenden Erhebungsschritte handelt, sondern vielmehr um einen Aushandlungsprozess (zwischen Narration und Zeichnung), welcher je nach Interviewsituation ganz unterschiedlich verlaufen kann26 . (1) Nutzbarmachung der Netzwerkkarte: Ein Beispiel für einen entsprechenden Aushandlungsprozess findet sich im Interview mit Paulina. Hierzu ist in der nachstehenden Abbildung 5.4 ein Ausschnitt der von ihr vorgenommenen Netzwerkvisualisierung aufgeführt.
26 Insbesondere in Interviews, in welchen der Befragte seinen Blick über mehrere Jahre hinweg in die Vergangenheit richtete, zeigte sich, dass eine deutliche Abnahme von Repositionierungen zu verzeichnen ist. Aus meiner Perspektive könnte eine mögliche Erklärung hierfür sein, dass Interviewte bei langjährigen Rückblicken aus einer zunehmend resümierenden Betrachtung berichten; also zwar dynamische Entwicklungen in der Historie berücksichtigen, immer aber ein Erzählziel vor Augen behalten. Darüber hinaus haben die Erzählbeobachtungen auch gezeigt, dass Erzählungen über kürzere Zeitverläufe im Allgemeinen detailintensiver (hinsichtlich narrativer Ausführungen und visuellen Darstellungen) gestaltet sind.
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Forschungspraktische Umsetzung
(Quelle: Eigene Darstellung)
Anmerkung: Linienumrandungen von Symbolen wurden nachträglich eingefügt und entsprechen nicht der Originaldarstellung. Das Symbol mit der Beschriung Brothers wurde mit einer durchgezogenen Linie und das Symbol mit der Beschriung mom & dad wurde mit einer gestrichelten Linie kenntlich gemacht
Abbildung 5.4 Ausschnitt Netzwerkvisualisierung von Paulina
Die Netzwerkvisualisierung von Paulina zeigt zunächst, wie diese (Schritt 1) ihre Familie anhand von zwei Symbolen in der NWK visualisiert. Ihre Eltern werden dabei unter dem Symbol mom & dad resümiert; ihre Brüder visualisiert sie in einem Symbol unter der Beschriftung brothers (l. NWK). Diesen Schritt kommentiert sie wie folgt (Schritt 2): P: “I think it was important for me that they [mum & dad] can accept it, the, the fact that I’m moving again. Er, so, yeah, I think that was important but I would move, er, even if, if they didn’t agree, so it wasn’t like break, er, er, like some deal-breaking decision […]” (Paulina, A. 75).
Weiter zeigt sich, dass sie nach der Erstpositionierung innehält und (Schritt 3) eine Repositionierung ihrer Brüder vom mittleren in den inneren Kreis vornimmt (r. NWK). Sie argumentiert: P: “And then I would actually (..) put there ‘brothers’ (.) because I first discuss things with brothers then with my parents. […] Yeah, and, er, yep, so look, I will, I will move them [brothers] there, and mum and dad, they are still supporting me” (Paulina, A. 125 u. 299).
5.2 Feldzugang und Datenerhebung
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Unter Reflexion der jeweiligen Beziehungsstärken im Kontext ihrer Mobilität erklärt sie außerdem weiter (Schritt 3): P: “Okay, it’s quite SAD my mum and dad are here27 (laughter) but it’s, again, it’s not because we are not close but because they don’t really have a chance to be so big influencers on my life (laughter). I’m quite, I am quite stubborn when it comes to decisions, so (laughter), er, yeah” (Paulina, A. 304).
Im Zuge der Repositionierung ihrer Brüder reflektiert Paulina also auch über den Verbleib ihrer Eltern im mittleren Kreis. Schritt 4 wird in diesem Beispiel dementsprechend angedacht, jedoch nicht umgesetzt. Paulinas Beispiel zeigt, inwiefern durch eine Betrachtung der visualisierten Netzwerkkarte Reflexionsmomente auftreten und den zu Interviewenden zu weiteren Argumentationen anregen kann. So können die entwickelten Kommentare u. a. zu einer Validierung des gesprochenen Wortes beitragen (vgl. Hogan et al. 2007: 137). (2) Netzwerkkarte als Kommunikationsgrundlage: Im nächsten empirischen Interviewauszug wird ebenfalls ein Beispiel vorgestellt, das zeigt, inwiefern Visualisierung, (Re-)Positionierung und Reflexion visuell umgesetzt sowie narrativ kommentiert wurden. Darüber hinaus zeigt der Ausschnitt, wie durch eine Nachfrage der Forscherin, also durch mich, auf die Netzwerkkarte als gemeinsame Kommunikationsbasis (vgl. Herz & Gamper 2011: 76) im Interviewverlauf zurückgegriffen wurde. Hierzu ist unter Abbildung 5.5 ein Auszug des Visualisierungsprozesses aus dem Interview mit Gerrit aufgeführt.
27 Bezug
nehmend auf NWK.
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Forschungspraktische Umsetzung
(Quelle: Eigene Darstellung) Anmerkung: Linienumrandungen von Symbolen wurden nachträglich eingefügt und entsprechen nicht der Originaldarstellung. Das Symbol mit der Beschriung westlable minds wurde mit einer durchgezogenen Linie, das Symbol mit der Beschriung Familie wurde mit einer gestrichelten Linie und die Symbole mit der Beschriung Lukas und Taya wurden durch eine gepunktete Linie kenntlich gemacht.
Abbildung 5.5 Ausschnitt Netzwerkvisualisierung von Gerrit
Die Erstvisualisierung (Schritt 1) des Symbols Familie (l. NWK) kommentiert Gerrit zunächst wie folgt: G: „(..) Ja. (..) Ja und dann gibt es halt immer noch Familie (lacht). Äh, mal hier hin [Eintragung Familie in NWK] (..) Familie“ (Gerrit, A. 294).
Interessant ist hier, dass Gerrit sein Tun zwar kommentiert aber keine Auskunft über den Grund für die Wahl seiner Symbolpositionierung verbalisiert. Solche Vorgehensweisen zeigten sich immer wieder, auch in anderen Interviews. In solchen Situationen ist ein (spontanes) Nachfragen durch den Interviewer notwendig. Andernfalls entstehen spätestens während der Analyse Probleme hinsichtlich der Nachvollziehbarkeit des Visualisierungs- und Kommentierungsprozesses. Von einer ähnlichen Erfahrung berichten bspw. auch Ryan, Mulholland und Agoston. Das Ausfüllen eine NWK „silently“ (Ryan et al. 2014: Abschn. 6.5) beschreiben sie dabei aufgrund des Interesses an den Geschichten hinter den Beziehungen als problematisch. Im Fall von Gerrit wurde dieser daher zu einer Reflexion seiner Zeichnung (Schritt 2) durch eine Nachfrage angehalten. Diese lautete wie folgt:
5.3 Datenauswertung
113
I: „Okay. Und jetzt hast du die28 ein bisschen weiter weg von dir gesetzt. Gibt es da einen Grund?“ (Gerrit, A. 301).
Die darauffolgende Reflektion führt zunächst zu folgender Aussage: G: „Ja, ich bin mit meiner Familie, ich glaub, nicht so, ich meine, ist hart zu definieren, wie du mit deiner, wie eng du mit deiner Familie bist. Also ich bin, glaube ich, im Verhältnis eher relativ lose von meiner Familie“ (Gerrit, A. 302).
Anschließend wägt Gerrit seine Zeichnung, unter einem Vergleich zu den beiden Symbolen Lukas und Taya und anschließend zu dem Symbol Westlable Minds (Firmenname), ab. Dies führt sowohl zu (Schritt 3), einer Repositionierung seines Familien-Symbols, als auch zu (Schritt 4) einer Repositionierung von Westlable Minds (r. NWK). Dies kommentiert er wie folgt: G: „Aber so Taya und Lukas, okay, muss ich fairerweise sagen, dass Familie eng/ weiter ist, als Westlable Minds. (I: Ah okay.) Also Westlable Minds eher hier [Repositionierung Westlable Minds in NWK] und dann ist Familie eher so dazwischen [Repositionierung Familie in NWK]. Aber Lukas und Taya wissen auf jeden Fall mehr über mich, als meine Familie“ (Gerrit, A. 302–304).
Diese Beispiele haben exemplarisch veranschaulicht, inwiefern der Interviewverlauf sowohl auf narrativer als auch auf visueller Ebene als Prozess, der immer wieder durch Momente der Refelxion geprägt ist, verstanden werden kann.
5.3
Datenauswertung
Nachdem die Erhebung des Datenmaterials mit Ende des Feldforschungsaufenthalts in Südostasien abgeschlossen war29 , erfolgte dessen Analyse. Dementsprechend steht in diesem Kapitel die Datenauswertung im Fokus. Hierzu richtet sich der Blick zunächst auf die Datendokumentation bzw. -aufbereitung (s. Abschn. 5.3.1) und anschließend auf den konkreten Analyseprozess (s. Abschn. 5.3.2).
28 Bezugnehmend
auf das Symbol Familie.
29 Lediglich ein weiteres Interview erfolgte im Anschluss als Ergänzung in Deutschland wäh-
rend meines Besuchs bei einer der in Berlin abgehaltenen Digitalen Nomaden Konferenzen im Jahr 2015 (s. Abschn. 5.4.2).
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5.3.1
5
Forschungspraktische Umsetzung
Datendokumentation
Das am Ende eines Interviews generierte Material setzt sich aus zwei grundlegenden Bausteinen zusammen: a) einer Audiodatei der verbalen Daten sowie b) einer zugehörigen Filmdatei als Produkt des Visualisierungsprozesses der ego-zentrierten Netzwerkkarte. Dieses galt es nun in solch einer Form aufzubereiten, dass in der späteren Ergebnisdarstellung eine Nachvollziehbarkeit für den Leser geschaffen werden kann. Daher geht es in den folgenden Ausführungen nicht nur um eine Vorstellung der Dokumentationsschritte als solche, sondern gleichzeitig um eine Reflexion zu jenen Überlegungen, die notwendig waren um das Material in Textund/ oder Bildform zu fixieren; an entsprechender Literatur mangelt es bislang. In einem ersten Arbeitsschritt wurden daher Verlaufsprotokolle zu den Interviews angefertigt und eine Transkription der narrativen Erzählungen vorgenommen30 . Bei der Verschriftlichung wurde dabei darauf geachtet, neben dem gesprochenen Wort, auch sprachliche Betonungen, Wortdehnungen oder Pausen sowie verbale Auffälligkeiten (wie bspw. Lachen), dem Gegenstand angemessen empfunden (vgl. Flick 2005: 252 f.), kenntlich zu machen. So können in der späteren Analyse auch Reaktionen, wie bspw. eine heitere Stimmung oder kritisch kommentierte Themenbereiche, Berücksichtigung finden. Darüber hinaus wurde eine Anonymisierung des Materials vorgenommen. D. h., dass alle Namen der Befragten (Ego) durch Pseudonyme ersetzt wurden. Gleiches gilt für die im Rahmen der Interviews benannten Personen, Firmennamen, Homepages oder Blogs31 (Alteri). In einem weiteren Arbeitsschritt wurde das transkribierte Material mit dem im Film festgehaltenen Visualisierungsprozess abgeglichen. Ziel war es dabei, den Visualisierungsverlauf in verschriftlichter Form in das Transkript zu integrieren. Nach einigen Probedurchläufen zur Eruierung der Praktikabilität und des Nutzens für die Analyse wurde die Entscheidung getroffen die Dokumentation entlang von folgenden drei Merkmalen vorzunehmen:
30 Zunächst wurden vier der Interviews ausgewählt und vollständig transkribiert. Sukzessive erfolgten weitere Interviewauswahlen. Insbesondere gegen Ende des Analyseprozesses und mit einer zunehmenden Verdichtung des Materials wurden die Erzählverläufe nur noch in Auszügen transkribiert. 31 Bei letzteren beiden wurde abgewägt, inwiefern die Verwendung eines Pseudonyms notwendig ist, um die Anonymität des Befragten wahren zu können oder ob es sich dabei um einen allgemein bekannten Namen handelt, der keinerlei Rückschlüsse auf eine Einzelperson zulässt.
5.3 Datenauswertung
115
• Akteurseintragung: z. B. [Eintragung X in NWK] • Repositionierung: z. B. [Repositionierung X von Kreis Y nach Kreis Z in NWK] oder [Repositionierung X (innerhalb von Kreis Y) in NWK] • Relationeneintragung: z. B. [Eintragung Relation X und Y] Kenntlich gemacht wurden die im Transkript eingefügten Anmerkungen mit Hilfe einer eckigen Klammer32 . Ein Beispiel für diese Form der Dokumentation ist in den nachstehenden Sequenzen aus dem Interview mit Raik aufgeführt. Im ersten Zitat ist eine Notiz zur Visualisierung eines Alteris sowie Raiks Beschreibung des Beziehungsverhältnisses aufgeführt: R: „[Eintragung Nadine in NWK] Das is die Dame, die meine Post leert. Das is ne enge Freundin von mir. Wir waren auch mal zusammen, is aber schon lange her“ (Raik, A. 128).
In diesem Textauszug spiegelt sich also zunächst der Moment der Eintragung einer Person mit dem Namen Nadine in Raiks NWK. Im weiteren Interviewverlauf nimmt Raik eine Repositionierung33 von Nadine vor. Dies erfolgt im Rahmen eines Sortierungsprozesses nach Länderkontexten. Sein Vorgehen kommentiert Raik wie folgt: R: „Okay. Dann/ Dann/ [Repositionierung Eltern in NWK] Dann pflaster ich hier mal die Leute hin [Repositionierung Bruder in NWK; Repositionierung Nadine in NWK], die in Deutschland sind [Repositionierung Nichte in NWK auf linke Seite der NWK]“ (Raik, A. 158).
32 Ähnlich wie beim Transkriptionsvorgehen wurden auch bei der Verschriftlichung des Visualisierungsprozesses nicht alle Filme vollständig in eine verschriftliche Form übersetzt. Sukzessive wurden im Dokumentations- und Analyseprozess entsprechende Stellen ausgewählt. 33 Im Rahmen der Erprobung einer geeigneten Dokumentationsweise wurde der Versuch unternommen, eine noch detailliertere Verschriftlichung der (Re)Positioierungen vorzunehmen. Dabei wurde nicht nur die (Re)Positionierung als solche dokumentiert, sondern darüber hinaus auch Angaben zur genauen Position innerhalb eines Kreises notiert. Diese lauteten bspw. wie folgt: Repositionierung Akteur X von mittlerem Kreis, unten links nach äußerer Kreis oben rechts. Diese Vorgehensweise erwies sich jedoch als wenig praktikabel. Daher wurde eine solch detaillierte Verschriftlichung nur in besonders auffälligen Darstellungen vorgenommen. Im Allgemeinen wurde der Netzwerkkartenfilm für eine Betrachtung der Visualisierung zu Hilfe genommen.
116
5
Forschungspraktische Umsetzung
Die abschließende Visualisierung von Beziehungen zwischen den genannten Alteri, also der Prozess der Sichtbarmachung der Netzwerkstruktur (vgl. Straus 2013: 33), wird von Raik wie folgt kommentiert: R: „(…) Ähm, die beiden sind auch enge Freunde. [Eintragung Relation Nadine und Karen] (.) Aber nich mit meiner Nichte. Deswegen sind die jetz mal so […]“ (Raik, A. 446).
Wie wichtig der Arbeitsschritt der Dokumentation von Akteurseintragungen, Repositionierungen und Relationseinzeichnungen ist, erwies sich insbesondere während des parallel verlaufenden Analysevorgehens. Denn nur so können die Zusammenhänge zwischen narrativen Textauszügen und visualisierter Netzwerkkarte kontinuierlich (auch in Printformat) nachvollzogen werden. Auch dieser Aspekt zeigt sich in der aufgeführten Sequenz von Raik exemplarisch. Dort trägt Raik eine Relation in seine NWK ein, spricht die jeweiligen Namen der Alteri (Nadine und Karen) jedoch nicht laut aus. Im Rahmen einer Erhebung mit Papier und Stift bedeutet dies für den Forscher kontinuierliches Nachfragen bzw. Namen kommentieren zu müssen (vgl. Ryan et al. 2014: Abschn. 6.5), um eine spätere Nachvollziehbarkeit via Audioaufnahme erreichen zu können34 . Mit Hilfe der für diese Arbeit gewählten computergestützten Erhebung und dem Programm VennMaker ist es hingegen möglich, solche Aspekte auch nach dem Interview via Filmsequenz nachzuvollziehen. Weiter richtet sich nun der Blick auf die während der Interviewverläufe erstellten Netzwerkkarten. Ebenso, wie das transkribierte Textmaterial, wurden diese zunächst anonymisiert. (Die verwendeten Pseudonyme im Textmaterial und der NWK entsprechen einander.) Darüber hinaus kam im Rahmen der Dokumentationsarbeiten die Frage auf, inwiefern der als Film abgespeicherte Visualisierungsprozess als später nachvollziehbares Material in Printformat aufbereitet werden kann. Denn während in vielen der bestehenden Studien meist mit der final erstellten Netzwerkkarte gearbeitet wird (vgl. Bilecen & Amelina 2018; Bojarczuk & Mühlau 2018; Gamper & Fenicia 2013), wurde für die vorliegende Arbeit das Ziel verfolgt, auch deren Entstehungsprozess unter Berücksichtigung nehmen zu können. Letztendlich erwies es sich als praktikabel, pro Interview bzw. pro Film fünf bis acht Screenshot-Aufnahmen, also Standbilder, aus der Filmsequenz zu generieren.
34 Anders
als die unter Abschnitt 5.2.2 besprochene Notwendigkeit zu Nachfragen durch die Interviewerin bei kommentarlosen Symbolplatzierungen, ist ein Nachvollzug bei Eintragung einer Relation ohne Namensnennung auch im Nachhinein möglich. Denn die Relation verbindet die jeweils betroffenen Symbole.
5.3 Datenauswertung
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Die Anzahl orientierte sich dabei an der Länge des Interviews und den währenddessen stattfindenden Netzwerkdynamiken. Hierfür durchlief der Film oftmals mehrere Durchsichten; bereits erstellte Bilder wurden revidiert und durch neue ersetzt. Dieser Arbeitsschritt kann bereits als Teil der Analyse betrachtet werden; trug er doch maßgeblich zu einer Einarbeitung in das Material bei. Ein Beispiel zu zwei ausgewählten Screenshots ist unter Abbildung 5.6 aufgeführt. Hierbei handelt es sich um die Netzwerkvisualisierung von Raik35 , die parallel zu den oben aufgeführten narrativen Textauszügen entstanden ist.
(Quelle: Eigene Darstellung) Anmerkung: Linienumrandungen von Symbolen wurden nachträglich eingefügt und entsprechen nicht der Originaldarstellung. Das Symbol mit der Beschriung Nadine wurde mit einer gestrichelten Linie kenntlich gemacht.
Abbildung 5.6 Ausschnitt einer Netzwerkkartendokumentation aus dem Interview mit Raik
35 Die Abbildung zeigt ein Beispiel für eine dokumentierte Netzwerk-Dynamik. Zu sehen ist, dass der personale Akteur Nadine zunächst im inneren Kreis platziert wurde (l. NWK), am Ende jedoch im mittleren Kreis eine Position zugewiesen bekommt (r. NWK).
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5.3.2
5
Forschungspraktische Umsetzung
Dateninterpretation und empiriebasierte Theorieentwicklung
Schließlich richtet sich nun der Blick auf die Auswertung des Datenmaterials. Ziel war es dabei u. a. den mittlerweile vielfach kritisierten strukturalistischen Determinismus (s. Abschn. 3.4) nicht nur theoretisch, sondern auch methodisch zu überwinden; entsprechend des Forschungsinteresses, also sowohl die strukturale Gestalt der persönlichen Netzwerke der Befragten als auch die damit in Zusammenhang stehenden Bedeutungszuschreibungen in die Analyse einzubeziehen. Für dieses Anliegen bietet die Qualitative Strukturale Analyse (QSA) nach Herz, Peters und Truschkat (2015) einen geeigneten Ansatz. Denn die AutorInnen setzen mit ihrem Konzept an der zuvor beschriebenen Lücke, welche auf die Dominanz von standardisierten Auswertungsverfahren von Netzwerkstrukturen verweist (vgl. Diaz-Bone 2008: 338) (s. Abschn. 3.4.1), an. Auch in der QSA spielen Konzepte der formalen Strukturanalyse eine Rolle. Darüber hinaus werden diese jedoch mit Standards qualitativer Sozialforschung angereichert und verknüpft. Für einen besseren Einblick in die QSA werden im Folgenden zunächst deren Grundzüge in Kürze skizziert und im Anschluss deren konkrete Anwendung in dieser Arbeit entlang empirischer Beispiele vorgestellt.
5.3.2.1 Grundzüge der Qualitativen Strukturalen Analyse (QSA) Für die Analyse von narrativen Interviews und Netzwerkkarten haben die AutorInnen der QSA ein Interpretations- und Auswertungsverfahren entwickelt, das – wie erwähnt – auf die formalen Ansätze der Netzwerkanalyse (s. Abschn. 3.3) als sensibilisierende Konzepte zurückgreift. Dabei unterscheiden sie in ihrer Vorgehensweise zwischen strukturbezogenen, akteursbezogenen und relationenbezogenen Beschreibungen (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 20). Um die hinter jeder Beschreibung stehenden Perspektiven wiederum auch forschungspraktisch anwenden zu können, haben Herz, Peters und Truschkat Fragen ausgearbeitet, die im Interpretationsprozess an das Material gerichtet werden können36 . Für deren Ausformulierung greifen sie Ansätze, wie sie in Abschnitt 3.3 entlang der theoretischen Perspektiven von Granovetter (1973) und Burt (1992) exemplarisch vorgestellt wurden, auf. Eine Frage, die auf eine strukturbezogene Beschreibungen abzielt, lautet bspw.: „Gibt es Regionen im Netzwerk, die stärker vernetzt sind als andere?“ So 36 Eine Gesamtübersicht zu allen von Herz, Peters und Truschkat formulierten Fragen findet sich in Herz et al. Abschnitt 22–27. In ihrem Artikel liefern die AutorInnen auch Hinweise darüber, inwiefern die jeweiligen Beschreibungsformen für ego-zentrierte Netzwerke nicht als strikt voneinander getrennt betrachtet werden können (vgl. Herz et al. 2015: Fußnote von Abschn. 25).
5.3 Datenauswertung
119
werden Informationen über die Kohäsion, also Netzwerkdichte, abgefragt. Fragen, die wiederum auf ein Interesse an der Existenz von Äquivalenzen abzielen, lauten bspw.: „Welche Akteur/innen nehmen eine ähnliche Position im Netzwerk anhand von deren Beziehung ein?“ Akteursbezogene Beschreibungen zielen hingegen auf die Ermittlung der Zentralität einzelner Akteure oder auf Kompositionen (Zusammensetzungen) von Netzwerkumgebungen ab. Frageformulierungen diesbezüglich lauten bspw.: „Welche Akteur/innen verbinden andere Akteur/innen, die sonst unverbunden wären?“ oder „Wie verteilen sich die Knoten auf einzelne Attribute?“ Relationenbezogene Beschreibungen resultieren aus Fragen, die auf die Interpretation von Beziehungen abzielen. Eine Formulierung lautet bspw.: „In welche Richtung deuten die Beziehungen?“ (Herz et al. 2015: Abschn. 22–27). Diese und weitere ähnliche Fragen fanden auch im Auswertungsprozess der vorliegenden Arbeit Anwendung. Darüber hinaus wurden Überlegungen dahingehend angestellt, inwiefern entlang von Frageformulierungen auch etwaige Netzwerkdynamiken – nach der Logik einer Filmsequenz – aus dem Material herausgearbeitet werden können (vgl. Müller in Peters et al. 2018: 105–109). Aus inhaltlicher Perspektive resultiert dieses Analyseanliegen sowohl aus dem Interesse die Mobilität der Befragten über einen längeren Zeitraum abzubilden als auch dem Verständnis von Struktur und Agency als einander wechselseitig beeinflussende Elemente (vgl. Emirbayer & Goodwin 1994: 1445). Beides Argumente, die den prozesshaften Charakter des Forschungsanliegens unterstreichen. So entstanden im Verlauf verschiedener Interpretationssitzungen bspw. folgende Fragen: Zerfällt eine bestehende Clique durch die Repositionierung eines oder mehrerer Alteri? Inwiefern verändert sich die strukturbezogene Position eines Alters bei dessen Repositionierung (bspw. vom Broker zum Isolate)? Was bedeutet die jeweilige veränderte Netzwerkstruktur für Ego bzw. dessen daraus resultierenden Handlungsmöglichkeiten? Mit den durch die Fragen an das Material herangetragenen sensibilisierenden Konzepten gelingt es wiederum, die Netzwerkkarten – ähnlich wie Textmaterialien – in Analysesequenzen zu untergliedern (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 28). Die visuelle Darstellung wird so analytisch greifbar gemacht. Am Ende einer jeden Interpretationssitzung wurden – den Empfehlungen der QSA folgend – neben den erarbeiteten Beschreibungen auch Memos in Form von Annahmen oder weiteren Fragen formuliert. Diese dienten als Ausgangspunkt für die Hinzunahme bzw. Betrachtung des narrativen Interviewmaterials37 anhand identifizierter Kernstellen (vgl. ebd.: Abschn. 31). Darüber hinaus wurden bei der Anfertigung der Interviewverlaufsprotokolle (s. Abschn. 5.3.1) ebenfalls solche 37 Herz, Peters und Truschkat sprechen hier auch von einer Strategie des theoretischen Samplings von Kernstellen (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 35).
120
5
Forschungspraktische Umsetzung
Textstellen eruiert, die Aufschluss über eine Annäherung an das Forschungsinteresse versprachen (vgl. ebd.: Abschn. 34). Eine zunächst getrennte Durchsicht der beiden Materialien wurde insbesondere deshalb als gewinnbringend erachtet, da so sowohl Elemente der Netzwerkstrukturen als auch die von den Interviewten aufgeworfenen inhaltlichen Aspekte gleichermaßen in eine Feinanalyse einfließen konnten, ohne eines der beiden Materialien zu vernachlässigen. Nach Auswahl der entsprechenden Stellen, wird im Rahmen von QSA auf den Ansatz der GroundedTheory-Methodologie38 (GTM) zurückgegriffen (vgl. ebd.: Abschn. 35). So auch in der vorliegenden Arbeit. Dementsprechend wurde das Material zunächst entlang des Prinzips des offenen Kodierens aufgebrochen. D. h., es wurden im Rahmen von Interpretationssitzungen39 Lesarten von dem Material gebildet und Memos in Form von Beschreibungen oder ersten analytischen Ideen angefertigt. Darüber hinaus wurden an das Material Kodes (bspw. als Stichpunkt) vergeben und Eigenschaften herausgearbeitet (vgl. Breuer 2010: 83 f.). Anzumerken gilt es dabei: „Die Vorstellung es gäbe die (einzig) richtige Vorgehensweise des Kodierens, führt in die Irre“ (ebd.: 79, Herv. im Orig.). Eine Verfeinerung erfuhr die Interpretation anschließend entlang des sogenannten axialen Kodierens. Dieses mündet in der Ausformulierung von Annahmen bzw. überarbeiteten Memos und Kategorien. „Axiales Kodieren fügt Daten auf neue Art wieder zusammen, indem Verbindungen zwischen einer Kategorie und ihren Subkategorien ermittelt werden“ (Strauss & Corbin 1998: 76). 38 Die Wurzeln der Grounded-Theorie-Methodologie sind auf die beiden Autoren Barney Glaser und Anselm Strauss, die im Jahr 1967 eine gemeinsame Monografie veröffentlichten, zurückzuführen. Weitere Ausarbeitungen sowie Ausführungen zu konkreten forschungspraktischen Strategien wurden später von den beiden Autoren getrennt bzw. von Anselm Strauss gemeinsam mit Juliet Corbin vorgenommen. Unter diesem Umstand werden u. a. die unterschiedlichen Forschungssozialisationen von Glaser und Strauss transparent (vgl. für eine ausführlichere Darstellung Mey & Mruck 2011). In der vorliegenden Arbeit erfolgt aufgrund der Bezugnahme auf eine konkrete praktische Umsetzung eine verstärkte Orientierung an den Ausführungen von Strauss und Corbin (1998). 39 Insbesondere für die Feinanalysen des Textmaterials und der Netzwerkkarten wurde auf die Stärke von Gruppeninterpretationsrunden, die im Allgemeinen als besonders ertragreich erachtet werden (vgl. Breuer 2010: 80), gesetzt. Mein besonderer Dank für anregende Diskussionen und wertvolle Hinweise richtet sich daher an die Teilnehmer der Interpretationsrunden, die im Rahmen des DFG Graduiertenkollegs 1474 „Transnationale Soziale Unterstützung“ der der Stiftung Universität Hildesheim und Johannes Gutenberg-Universität Mainz realisiert werden konnten. Ebenso möchte ich den Teilnehmern der Workshops „Qualitative Method[ologi]en der sozialen Netzwerkforschung“ im Jahr 2015 sowie „Qualitative Social Network Research in Practice (QSNRP)“, die in den Jahren 2016 und 2017 an der Universität Hildesheim abgehalten wurden, sowie den Mitgliedern des Netzwerks RNNR [researchnetwork – network-research], für kostbare Diskussionsbeiträge im Kontext der Entwicklung des Erhebungsinstruments und späteren Datenanalyse danken.
5.3 Datenauswertung
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Abschließend wurden die so erarbeiteten Memos und Kategorien im Rahmen eines selektiven Kodierprozesses verdichtet. „Selektives Kodieren ist gewissermaßen Axiales Kodieren auf einem Niveau höherer Abstraktion, allgemeinerer Theoretisierungsstufe“ (Breuer 2010: 92). Ziel ist es dabei, ein konzeptuelles Zentrum, auch bekannt als Kernkategorie40 , zu eruieren, welches im Rahmen der Theorieentwicklung wiederum maßgeblich zur Herausarbeitung eines roten Fadens beiträgt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass mit der GTM eine gegenstandsbezogene Theorieentwicklung verfolgt wird, die durch Kontrastierung und Verdichtung anhand des Datenmaterials, mit dem Ziel einer theoretischen Sättigung, erreicht wird (vgl. ebd.: 52). Mit einer Analyse des Datenmaterials, in Orientierung am Konzept der QSA, gelingt es nicht nur an die Ebene von Strukturuntersuchungen anzuschließen, sondern auch deren Bedeutungskontexte und Herstellungsbedingungen unter Berücksichtigung nehmen zu können (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 12). Oder anders formuliert: Als wertvoll wird dieses Potential für die vorliegende Arbeit auch deshalb erachtet, da so die Agency der Akteure in ihrer Gebundenheit an Relationen (vgl. Helfferich 2012: 24) (s. Abschn. 3.4.1) empirisch sichtbar gemacht werden kann. Nachstehend werden nun konkrete empirische Anwendungsbeispiele vorgestellt. Hierbei richtet sich der Blick zuerst auf eine exemplarisch ausgewählte NWK, im Anschluss auf narrative Textauszüge und abschließend wird die Integration der beiden Materialen beleuchtet.
5.3.2.2 Anwendungsbeispiel von QSA in Bezug auf eine dynamische ego-zentrierte Netzwerkkarte Für die jeweils durchgeführten Interpretationsrunden wurden die Netzwerkkarten im Originalzustand belassen (abgesehen von deren Anonymisierung). Darüber hinaus wurde von der final erstellten Netzwerkkarte eine Kopie angefertigt, auf der wiederum alle Alteri mit einer Nummer gekennzeichnet wurden. Diese entsprach der Reihenfolge der Alteri-Visualisierung41 . Das so erstellte Beiblatt diente als Stütze im Interpretationsprozess und wurde (nur) bei Bedarf hinzugezogen. Auf Basis der final erstellten Netzwerkkarte erfolgte schließlich mittels Interpretation eine erste Annäherung an das Material. An diese Basis anknüpfend, wurden außerdem sukzessive (und je nach Interpretationsverlauf unterschiedlich) zwei bis drei
40 In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff des konzeptuellen Zentrums bevorzugt. So soll die mögliche Vorstellung von einer einzelnen Kernkategorie aufgelockert werden. Insbesondere deshalb, da sich das Forschungsinteresse u. a. auf einen prozessualen Erkenntnisgewinn richtet (Diskussion hierzu siehe auch Breuer 2010: 92 f.). 41 Positionsveränderungen können anhand der Nummern nicht abgelesen werden. Hierzu ist bei Bedarf ein Blick auf die entsprechende Filmsequenz notwendig.
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5
Forschungspraktische Umsetzung
(Quelle: Eigene Darstellung) Anmerkung: Linienumrandungen von Symbolen wurden nachträglich eingefügt und entsprechen nicht der Originaldarstellung. Die Symbole mit der Beschriung Elli und Hannes wurden mit einer gestrichelten Linie kenntlich gemacht.
Abbildung 5.7 Analyse des persönlichen Netzwerks von Malte
weitere Netzwerkkarten an die Interpretationsgruppenteilnehmer gereicht42 . Auf diesen Karten war jeweils eine konkrete Netzwerkveränderung festgehalten. Ein Beispiel ist hierzu unter Abbildung 5.7 aufgeführt. Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem Interview mit Malte43 . Für die Analyse wurden die voranstehend vorgestellten Fragenbeispiele an das Material gerichtet (Arbeitsschritt der unter dem Prozess des offenen und zum Teil axialen Kodierens subsumiert werden kann). Wie sich eine solche Vorgehensweise abspielte bzw. zu welchem Ergebnis diese führte, wird nun entlang des empirischen Beispiels von Malte vorgestellt. Da eine exemplarische Interpretationsvorstellung der gesamten Netzwerkkarte jedoch den Rahmen dieses Kapitels überschreiten würde, richtet sich der Blick (nur) auszugsweise auf die beiden personalen Akteure Elli und Hannes. Konkret: Auf deren (sich verändernde) Position im Netzwerk, den
42 Die Anzahl der ausgeteilten Karten variierte je nach Interviewverlauf bzw. Netzwerkkartenentwicklung. 43 Das Interview mit Malte wird im Rahmen des Ergebniskapitels entlang einer Fallbesprechung vorgestellt (s. Abschn. 6.1). Der hier aufgeführte Ausschnitt erfährt so später eine vollständige Kontextualisierung.
5.3 Datenauswertung
123
Zeitpunkt ihrer Visualisierung, ihre Beziehung zu Ego, ihre Relation untereinander sowie zu anderen Alteri im Netzwerk44 . Während einer Interpretationssitzung wurde für dieses Beispiel folgendes Memo notiert45 : Die beiden personalen AkteurInnen Elli und Hannes werden unmittelbar nacheinander im NW visualisiert. Beide weisen eine strukturell äquivalente Position im NW auf (l. NWK) und werden unmittelbar hintereinander repositioniert. Beide AkteurInnen weisen nach ihrer Repositionierung eine stärkere Beziehung zu Ego auf als zuvor. Beide sind nach ihrer Repositionierung erneut strukturell äquivalent (r. NWK). • Wieso weisen die beiden personalen AkteurInnen zu unterschiedlichen Zeitpunkten eine strukturell äquivalente Position im Netzwerk auf? • Welche Rolle wird den beiden AkteurInnen zuteil? Haben die beiden AkteurInnen aufgrund ihrer strukturell äquivalenten Position eine ähnliche Bedeutung für Ego? Sind die beiden Alteri hinsichtlich ihrer Funktion für Ego austauschbar? • Im Verlauf des Interviews wird die Beziehung zu Ego stärker. Weshalb wird die Beziehung im Verlauf des Interviews zu Ego stärker?
Was an diesem Memobeispiel auffällt, ist, dass es sich bei dessen Formulierung – wie oben erwähnt – zunächst (nur) um eine Fokussierung auf die Repositionierungen der beiden Akteure Elli und Hannes handelt. Zu betonen gilt es jedoch, dass stets das Ziel verfolgt wurde, auch die jeweils weitere Netzwerkumgebung in die Analyse einzubeziehen. Also jene (möglichen) Visualisierungsmuster zu berücksichtigen, die bereits bei der Datenerhebung unter Reflexionsmomenten wertvolle Hinweise auf die jeweilige Netzwerkentstehung lieferten (s. Abschn. 5.2.2). Im vorliegenden Interviewauszug bedeutet dies bspw. nach der Rolle der im Netzwerk auftretenden Entitäten (Quadratsymbole) zu fragen. Oder die Repositionierung des personalen Akteurs Lilly in den äußersten Kreis sowie deren sich verändernde Beziehung zu Ego zu hinterfragen. Besteht u. U. ein Zusammenhang zwischen der stärker werdenden Beziehung zu Elli und Hannes und der gleichzeitig schwächer werdenden Beziehung zu Lilly? Erst so wird eine (weitreichendere) Kontextualisierung des Beobachteten möglich.
44 Diese Form des Analyseverfahrens wiederholte sich im Verlauf der Interpretationssitzungen anhand vielfacher Beispiele. Dies führte wiederum dazu, dass sich unter einer resümierenden Betrachtung des Auswertungsvorgehens ein Muster im Umgang mit Netzwerkdynamiken herausbildete. Die Analyseschritte wurden zu Analyseeinheiten deklariert und wie folgt benannt: „A) Prozessuale Relationenentwicklung (Ego-Alter, Alter-Alter) B) Kontextabhängigkeit von Netzwerkelementen im Prozess“ (Müller in Peters et al. 2018: 107). 45 Ein Ausschnitt des Memos ist unter leicht verändertem Wortlaut auch unter Müller in Peters et al. (2018: 107 f.) zu finden.
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5
Forschungspraktische Umsetzung
5.3.2.3 Auswertungsbeispiele mit QSA von zwei narrativen Textauszügen In diesem Abschnitt wird nun das analytische Vorgehen hinsichtlich der ausgewählten Narrationsauszüge beleuchtet. Dabei wird auf zwei Strategien, die jeweils zur Auswahl relevanter Textsegmente führten, eingegangen: (1) Jene Auswahl, die auf Basis der Netzwerkkarteninterpretationen erfolgt sowie (2) jene Sequenzauswahlen, die sich bei der Durchsicht des Materials als besonders dicht, auffällig, problematisch oder als allgemein interessant erwiesen. Hinsichtlich der praktischen Umsetzung gilt es noch anzumerken, dass das gesamte transkribierte Interviewmaterial zunächst in die Software MaxQDA eingelesen wurde. „Computerunterstützung kann beim Arbeitsprozess mit großen und schwer übersichtlichen Datenmengen […] vieles erleichtern, ökonomischer und effektiver gestalten […]“ (Breuer 2010: 101). Kritisch anzumerken gilt es dabei jedoch auch: „Das Erfinden und Entwickeln von Kategorien, Modellen und Theorien übernimmt kein Computer […]“ (ebd.). In der vorliegenden Arbeit erwies sich er Einsatz der Software insbesondere hinsichtlich der Datenverwaltung als hilfreich. So konnten Textstellen schneller gefunden, Kodevergaben zugeordnet und Interviewausschnitte durch parallel verlaufende Listengenerierungen dargestellt werden. Für die Interpretationsarbeit wurde jedoch eine zusätzliche Datei in Form eines Worddokuments angelegt. Denn dieses bot mehr Gestaltungsspielraum für ausführliche Notizen, gedankliche Ausschweifungen oder zur Anfertigung von Skizzen. Das (1) erste empirische Beispiel, auf das sich nun der Fokus richtet, knüpft an den voranstehend vorgestellten Netzwerkausschnitt aus dem Interview mit Malte bzw. das dort vorgestellte Memo an; bezieht sich also auf die erste der Sequenzauswahl-Strategien46 . Dementsprechend kann dabei auch vom Prinzip des theoretischen Samplings (vgl. Glaser & Strauss 1998: 53–83; Herz et al. 2015: Abschn. 35) gesprochen werden. Die anschließende Interpretation erfolgte schließlich in Orientierung an das Verfahren der Grounded Theory Methodology; wobei auch bei diesem Analyseschritt die strukturalen Aspekte der Sozialen Netzwerkanalyse – wie von der QSA vorgeschlagen – als sensibilisierende Konzepte dienten (vgl. Herz et al. 2015: Abschn. 37). Die erste Sequenz, in welcher sich der Befragte (Ego) auf seine anfängliche Auseinandersetzung mit der Thematik des Digitalen Nomadentums bezieht und die beiden personalen Akteure Elli und Hannes (Alteri) ins Spiel gebracht werden, lautet wie folgt: M: „(.) Äh, so, dass ich eigentlich sagn würde, dass eigentlich der Hannes eigentlich auch irgendwo ne wichtige Person (.) [Beginn Eintragung Hannes in Netzwerkkarte] 46 Auch
hierbei handelt es sich aus Gründen der Kapitelkapazität nur um einen Ausschnitt.
5.3 Datenauswertung
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dafür war […]. Und es is auch noch mal was andres, ob man irgendwie Blog-Artikel über das Thema liest, oder sich mit jemandem/ mit jemandem darüber redet, sich mit jemandem darüber austauscht […] Ich glaub, ne andere Schlüsselbegegnung war dann die Elli […] die hatt ich in Neuseeland persönlich getroffen“ (Malte, A. 229–231 u. 241).
Die während des Interviewverlaufs sich verändernde Beziehung zwischen Ego und Elli sowie Ego und Hannes (welche sich im Rahmen der Netzwerkvisualisierung durch eine Repositionierung spiegelt), kommentiert der Interviewte wie folgt: M: „[M]it der/ mit der Elli hatt ich viel Gespräche über das Thema zu der Zeit. (..) Mit ner, ähm, (..)/ Mit dem Hannes natürlich auch. […] [D]iese Leute (.) dann auch [Repositionierung Hannes (1) und Elli (2) auf Linie innersten Kreis] irgendwie für mich wichtich wurdn“ (Malte, A. 396 u. 403).
Die aus den Interpretationssitzungen zu den entsprechenden Textauszügen notierten Beschreibungen führten wiederum zur Formulierung von folgendem Memo: Jüngst geknüpfte Beziehungen zu zuvor für Ego u. U. unbekannten Personen (Elli und Hannes), bieten für Ego relevante (Wissens-)Ressourcen im Kontext von dessen Mobilität. • (Zunächst) uniplexe Beziehung47 : Elli und Hannes sind Träger von für Ego relevantes Wissen/ Erfahrungen/ Meinungsbildern/ etc. • Position: Beide nehmen aufgrund ihres Wissens eine Brokerfunktion für Ego (hinsichtlich dessen Zugang zum Thema Digitales Nomadentum) ein. • (Zunächst) gerichtete Beziehung: Hinsichtlich der Richtung der Wissensweitergabe kann angenommen werden, dass mehr Wissen von Elli und Hannes zu Ego fließt als umgekehrt. • Beziehungsstärke als Dynamik: Durch persönlichen Austausch („viele Gespräche“) über ein gemeinsam geteiltes Interesse („über das Thema“) erfolgt eine Beziehungsintensivierung.
Für das (2) zweite vorzustellende empirische Beispiel wird eine Interviewsequenz herangezogen, die sich im Rahmen der Durchsicht des Interviewverlaufs als besonders interessant erwies. Hierbei handelt es sich um eine Beschreibung von einer Aktivität (die zum Zeitpunkt des Interviews noch in der Zukunft liegt), die zugleich auf ein Digitales Nomaden-charakteristisches Konzept verweist. In der nachstehenden Abbildung 5.8 ist hierzu eine Kodierübersicht aufgeführt.
47 Beziehung mit einfacher Funktion. Für eine ausführlichere Beschreibung zu Beziehungsund Netzwerkkonzepten siehe bspw. Wasserman und Faust (1994: 18). Ebenso wie die unter Abschnitt 3.2.1 angesprochenen Beziehungscharakteristika.
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5
Forschungspraktische Umsetzung
x
x
x
Sequenz
Offenes Kodieren
Memos
x
x
x
x
„[…] vier Wochen Bali, Workation,
mit andern Leuten“ (Malte, A. 219).
Schworte zu Interpretaon • Kofferwort = Work + Vacaon • Definierter Zeitraum • Definierter Ort • Kollekve Akvität Kodevergabe: • Workaon (in-vivo Kode)
Annahme: • Workaon als Akvität (im Kontext von Mobilität), die entlang von (zeitlicher, örtlicher und kollekver) Rahmung erfolgt. • Workaon als struktursendes Element im Kontext von Mobilität. (Bspw. hinsichtl. Auswahl von Aufenthaltsort zu best. Zeitpunkt.) x
x
Offenes Kodieren/ Axiales Kodieren x
Kategorienvergabe durch Kontextualisierung: • Workaon als Broker
Fragen zu Kontextualisierung: • Welche Rolle wird „andern Leuten“ zuteil? • Um wen handelt es sich bei diesen „andern Leuten“? x
Fragen zu Kontraserung: • Inwiefern unterscheidet sich das Konzept einer Workaon von anderen Formaten (z.B. Mastermind etc.)? x
Ausarbeitung von Dimensionen durch Kontraserung und Verdichtung mit anderen Formaten: • Workaon als Broker im Kontext von Mobilität: (externe) Rahmung – Selbstorganisaon x
(Quelle: Eigene Darstellung)
Anmerkung: Bei einem in-vivo Kode handelt es sich um einen Kode, dessen Benennung Interviewaussagen bzw. -begriffen entspricht (vgl. z.B. Strauss & Corbin 1998: 50). Die Arbeitsschrie offenes und axiales Kodieren sind nicht als getrennte Analyseeinheiten zu verstehen. Denn durch Systemasierungen im Rahmen des offenen Kodierens „ist bereits die Grenze zum Axialen Kodieren überschrien“ (Breuer 2010: 84, Herv. im Orig. nicht übernommen). Der Vorgang des selekven Kodierens ist in der Übersicht nicht zu sehen, da hierzu auf vielfache Weise Textsegmente, Kodes und Memos verglichen und kontrasert wurden. Dies würde den Rahmen einer übersichtlichen Darstellung überschreiten.
Abbildung 5.8 Kodierübersicht
Einerseits zeigt das ausgewählte Beispiel, inwiefern eine Workation als strukturstiftendes Element (bspw. hinsichtlich der Auswahl eines Aufenthaltsortes) im Kontext von Mobilität wirken kann und andererseits wird durch die Narration auf ein Digitales Nomaden-relevantes Thema verwiesen.
5.3 Datenauswertung
127
5.3.2.4 Synergien und Grenzen der erhobenen Datenmaterialien im Rahmen von Interpretation und Verdichtung In den voranstehenden beiden Abschnitten wurde exemplarisch aufgezeigt, wie die beiden unterschiedlich gelagerten Datenmaterialien (Netzwerkkarte und Narration) im Rahmen des Analyseprozesses als einander ergänzende Informationsquellen genutzt werden konnten. So konnte einerseits auf die hinter dyadischen Beziehungen liegenden Strukturen (vgl. Straus 2013), die mit einer (bloßen) narrativen Datengrundlage im Verborgenen geblieben wären, geblickt48 und andererseits die von den Befragten erzeugten Sinnkonstruktionen, die unter einer formal quantifizierenden Logik untergegangen wären, berücksichtigt werden. Inwiefern dabei das für diese Arbeit entwickelte Erhebungsinstrument sowohl bei der Datenerhebung als auch -analyse eine einflussstiftende (Aus-)Wirkung erzeugte, wird an dieser Stelle kurz skizziert. Denn, „[a]s in any research project, it is necessary to reflect upon how the method of data collection and the analysis method is used, in order to understand their effects on results“ (Altissimo 2016: 15.1). In der vorliegenden Arbeit gilt es zu berücksichtigen, dass im Rahmen der Interviewdurchführung nach für Ego relevanten Akteuren und Entitäten im Kontext von dessen Mobilität gefragt wurde (s. Abschn. 5.1.2 u. 5.2.2). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass keine Erhebung aller Ego bekannten Personen (bspw. alten Schulfreunden) erfolgte – es sei denn, diese spielen aus Sicht von Ego eine Rolle in dessen Erzählung. Die Erhebung des persönlichen Netzwerks von Ego gilt es daher unter der Perspektive der erzeugten Kontextualisierung zu betrachten – nämlich Egos sozialer Eingebundenheit im Kontext von Mobilität. Es wurden also ganz bestimmte Kontakt- und Bezugspersonen (sowie Entitäten) erhoben. Weiter gilt es zu bedenken, dass sich die generierten Erzählverläufe auf ganz unterschiedliche Zeiträume erstrecken. Einerseits, weil den Befragten die Möglichkeit eingeräumt wurde den Zeitpunkt ihres Erzähleinstiegs frei zu wählen und andererseits, weil die Personen des vorliegenden Samples auf ganz unterschiedlich lange Mobilitätsgeschichten zurückblicken. Während also bei der Befragung von bspw. Schülern einer Schulklasse über deren Freundschaftsbeziehungen innerhalb der Klasse sowohl ein geeigneter Rahmen hinsichtlich der zu berücksichtigenden Akteure (vgl. Diaz-Bone 1997: 48; Jansen 2003: 69) als auch ein zeitlicher Bezug, nämlich ein Schuljahr, hergestellt werden kann, ist dies in der vorliegenden Arbeit nicht möglich. Dies erscheint zunächst wenig kritisch. 48 Im vorgestellten Netzwerkkartenausschnitt sind (noch) keine Alter-Alter-relationen eingetragen. Dies liegt daran, dass es sich um einen Ausschnitt des Entstehungsprozesses der Netzwerkkarte handelt. Zugleich weist dieser Umstand auf eine Grenze des Erhebungsprozesses bzw. der Analyse hin. Denn Alter-Alter-Relationen können erst am Ende der Auswertung in die Betrachtung eingebunden werden.
128
5
Forschungspraktische Umsetzung
Eine Herausforderung ergab sich dabei jedoch dennoch. Denn es zeigte sich, dass insbesondere das Jahr 2014 (s. Abschn. 5.1.1) als einflussreich auf das Handeln der Interviewten gilt; können doch einige der Entwicklungen (bspw. Eröffnung der von mir während des Feldaufenthalts besuchten Coworking Spaces, erste Digitale Nomaden-Konferenz49 oder die Veröffentlichung der Onlineplattform Nomad List50 und des zugehörigen Chatkanals #nomad) auf das Jahr datiert werden. Mit Blick auf die Befragten und ihre (Mobilitäts-)Geschichten hat sich im Rahmen der Analyse herausgestellt, dass manche im Jahr 2014 ihren Mobilitätsstart fanden. Für andere bedeutete dies, dass ihre Handlungsstrategien durch wechselnde Rahmenbedingungen neue Einflüsse erfuhren. Ein Aspekt, den es auch im Rahmen der Ergebnisdarstellung immer wieder zu berücksichtigen galt. Eine weitere Reflexion dieses Umstands erfolgt unter konkreter Bezugnahme auf das empirische Datenmaterial in Abschnitt 7.6.
5.4
Sample und Datenmaterial
In diesem Kapitel wird das der vorliegenden Arbeit zugrundeliegende Datenmaterial vorgestellt. Um dessen Facetten sowie den mit der Erhebung und Analyse einhergehenden Samplingprozess besser nachvollziehen zu können, werden zunächst allgemeine Charakteristika der Interviewpartner vorgestellt (s. Abschn. 5.4.1) und anschließend werden in einer tabellarischen Übersicht die befragten Personen sowie das gewonnene empirische Material vorgestellt (s. Abschn. 5.4.2).
5.4.1
Samplecharakteristika und Samplingprozess
Gemäß dem Prinzip der Offenheit qualitativer Sozialforschung (vgl. Kelle & Kluge 2010: 18–21), wurde die Auswahl der InterviewpartnerInnen nicht durch theoriegeleitete Kategorien bestimmt. Vielmehr wurde unter einer explorativen Forschungshaltung der Versuch unternommen, eine möglichst heterogene Samplegrundlage (bspw. hinsichtlich Alter, Geschlecht, Nationalität, Arbeitstätigkeit und Mobilitätsdauer) zu schaffen. Aufgrund des Forschungsinteresses wurde jedoch
49 Quelle
Digitale Nomaden-Konferenz: https://www.dnxfestival.de/. Firmenverzeichnis von Nomad List ist als Gründungsdatum „Aug. 2014“ angegeben. Quelle Crunchbase u. Levels: https://www.crunchbase.com/organization/nomad-list; https:// levels.io/product-hunt-hacker-news-number-one/. 50 Im
5.4 Sample und Datenmaterial
129
Wert darauf gelegt, dass die zu Befragenden zum Zeitpunkt des Interviews mindestens einmal einen Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätsschritt unternommen hatten, einer onlinebasierten Arbeitstätigkeit nachgehen sowie keine (planbare) Beendigung ihrer Mobilität forcieren. Ein weiterer Aspekt, der sich jedoch erst während des Feldaufenthalts als zentral sowie für die Handlungspraktiken Digitaler Nomaden als charakteristisch erwies, ist die Art der Ausübung ihrer Arbeitstätigkeit. Gemeint ist damit, dass einige der Befragten bspw. sowohl an der Umsetzung eigener Projektideen arbeiten, gleichzeitig jedoch Auftragsarbeiten zur Generierung einer finanziellen Absicherung ausüben. Andere haben ihre vorherige Festanstellung hingegen in ein Auftraggeber-Auftragnehmer Verhältnis auf selbständiger Basis umgewandelt. Und wieder andere haben bereits vor ihrer Mobilität (bspw. während ihres Studiums) eine Onlinearbeit ausgeübt und verfügen dementsprechend über einen festen Kundenstamm, vielzählige Follower oder ein Produkt-Portfolio. Manche der Akteure befinden sich außerdem noch in der Aufbauphase ihrer Geschäftsidee51 . Diese Beobachtung macht die während des Feldaufenthalts angetroffene Diversität mobiler und online arbeitender Akteure deutlich. Bevor nun dazu übergegangen wird den Samplingprozess zu besprechen, werden in Kürze vier identifizierte Arbeitsformen vorgestellt. Hierbei handelt es sich um (1) Freiberufler, Freelancer oder (Solo-)Selbständige, (2) Entrepreneure, (3) Blogger und (4) Arbeitnehmer52 . Zu (1) Ersteren werden jene Personen gezählt, die auf selbständiger Basis tätig sind. Sie führen bspw. Auftragsarbeiten für Kunden aus und werden für die aufgewendete Arbeitszeit oder eine zuvor vereinbarte Arbeitszeit entlohnt. Dementsprechend handelt es sich um ein Arbeitszeit gegen Geld Verhältnis. Ein Beispiel für einen selbständigen Akteur bietet Gerrit. Neben der Arbeit an eigenen Projektideen übt er auch Auftragsarbeiten aus (für eine ausführlichere Darstellung s. Abschn. 6.2). Dies erklärt er wie folgt: G: „[I]ch bin von den Firmen nicht angestellt, sondern ich habe mein Gewerbe in Deutschland. Und die bezahlen mich entweder stundenweise oder Projektweise. Und es gibt also unterschiedliche Fälle. Also entweder pauschal, das hatte ich jetzt auch einmal, wo ich selber die/ der Prototyp, den sollte ich bauen für das und das Geld. Und dann baue ich den und gebe den ab und fertig. Und jetzt, wo ich jetzt momentan bin, da ist ein größeres Team. Aber mein Aufgabenbereich ist ein bisschen ab/ also abgetrennt von den anderen. Ähm, das heißt, ich habe einen Projektmanager in Amerika, wir 51 Eine ähnliche Beobachtung macht auch Altringer (2015). Sie erwähnt außerdem, dass nicht alle Digitalen Nomaden von ihrer Arbeit leben könne. 52 Die Eruierung der vier Arbeitsformen basiert auf Beobachtungen während des Feldaufenthalts sowie Interviewaussagen. Die Begriffswahl orientiert sich dabei am Sprachgebrauch der Befragten. Es wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.
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Forschungspraktische Umsetzung
telefonieren jeden Tag. Einmal skypen kurz, was jetzt die neuen Sachen sind, die zu tun sind. Und dann mache ich das. Und so geht das vorwärts und ich werde einfach stundenweise bezahlt, für das, was ich arbeite“ (Gerrit, A. 32).
Unter dem Schlagwort (2) Entrepreneur werden jene Akteure resümiert, die Gründer bzw. Inhaber eines Unternehmens und gleichzeitig dessen Verantwortliche sind. Folglich kann auch ein Selbständiger (in Abhängigkeit von dessen Tätigkeit) als Entrepreneur bezeichnet werden. Als charakteristisch erweist sich für diese Gruppe, dass diese das Ziel der Verwirklichung eigener Ideen verfolgen. Zu diesen Personen zählt bspw. Joshua, der bei unserer Begegnung von der Ausarbeitung einer seiner App-Idee berichtet: J: “Um, I came here [to Chiang Mai] to work, er, to, to build my own mobile app (.) and hope that it will make money. […] It’s called Hippo. (I: Mhm.) Yeah, and, er, yeah. It’s a game, a basic game for peoples’ phones” (Joushua, A. 6 u. 180–182).
Die Gruppe der sogenannten (3) Blogger zeichnet sich – wie der Begriff verrät – durch sogenannte Blogging-Aktivitäten aus. Grundlage hierfür bietet ein Blog (vergleichbar mit einer Onlineplattform), auf dem sowohl (Experten-)Wissen zu einer bestimmten Thematik als auch allgemeine Informationen, persönliche Gedanken oder Erfahrungen veröffentlicht werden. Außerdem können mittels Text-, Bild- oder Videomaterial Produkte promotet oder Werbeanzeigen geschaltet werden53 . Denkbar ist, dass auch Blogger als Freelancer oder Entrepreneure bezeichnet werden. Da diese während des Feldaufenthalts jedoch in großer Anzahl anzutreffen waren, wurde die Entscheidung getroffen, Blogger an dieser Stelle unter einer gesonderten Kategorie aufzuführen. Zu einer der als Bloggerin tätigen Akteurinnen gehört die Befragte Kristin. Exemplarisch beschreibt sie ihren Blog wie folgt: K: „[I]ch habe, ich habe ein B/ Also ich habe ein Gewerbe in Deutschland angemeldet. […] um halt dann genau, jetzt gerade ortsunabhängig arbeiten zu können. Und das basiert alles auf, ähm, auf einem Blog, ähm, (.) auf einem Surfblog für Frauen. […] Und bin dabei halt momentan einfach noch die Community aufzubauen […] Also mehr Klicks, mehr Leser […] Ähm, ähm, da sind sagen wir Informationen darauf, ähm, wie, wie, wie suche ich das richtige Anfängerbrett aus“ (Kristin, A. 38–85).
53 Dass mit dieser Art von Tätigkeit Geld verdient werden kann, wird exemplarisch in einem Artikel des Manager Magazins beschrieben. Der dort als Einkommensquelle vorgestellte Reiseblog, wird mit rund 1,5 Mio. Dollar beziffert (vgl. Hirn 2017).
5.4 Sample und Datenmaterial
131
Unter der vierten Gruppe, (4) Arbeitnehmer, wurden Personen resümiert, welche über einen Arbeitsvertrag in Festanstellung und somit über entsprechend unternehmensgebundene Arbeitstätigkeiten sowie ein regelmäßiges Einkommen verfügen. An die Stelle von Präsenzzeiten, wie sie oftmals in klassischen Angestelltenverhältnissen gefordert werden (s. Abschn. 4.1.1), ist jedoch die Möglichkeit der ortsflexiblen Ausübung der Arbeitstätigkeiten gerückt. Die Anzahl von Personen, die einer solchen Form von Arbeitstätigkeit zugeordnet werden können, bildet im vorliegenden Sample jedoch eine deutlich Minderheit54 . Zu einer dieser Personen zählt Daniel. Sein Angestelltenverhältnis skizziert er wie folgt: D: “So, I work for a company called Cube-Engineering at the moment. (I: Mhm) They are an IT-Management-Company based out of San Francisco. Ehm what we do is essentialy [lautes Ausatmen] eh I guess you can call us almost as a consulting farm. Ehm we’ll go find clients. My boss will find clients a:nd we have our team which is 18 people now. And depending on the client ehm my boss will put together a team based on our specifications” (Daniel, A. 1–3).
Abschließend wird der Blick auf ein empirisches Beispiel gerichtet, das veranschaulicht, inwiefern die Befragten – wie oben angesprochen – nicht immer nur einer einzelnen Arbeitsform nachgehen. Durch eine strategisch geschickte Kombination ihrer Tätigkeiten kann es ihnen bspw. gelingen, eine finanzielle Absicherung herzustellen und gleichzeitig Zeit für die Entwicklung eigener Geschäftsidee (mit welchen zu Beginn kein Einkommen generiert werden kann) einzuräumen. Von einer solchen Vorgehensweise berichtet bspw. Ricardo: R: “[T]hese personal projects I have, I have, er, I am developing a virtual reality research plattform for consumer research in, in the point of sale. So, like, er, usually people do, er, both the resellers and, and the industry, they do this kind of research for. They, they mock, they build this mock shop, so they can put the, their consumers there and see their reactions to everything and my idea is to, to build that in a virtual reality, er, environment with the/ and everything, and it’s very cool […]. That’s like, er, the, the project that’s, that really, I enjoyed working on, but no money yet and for, for the money […] I work mostly for freelancing. I get, I get my jobs at Upwork 55 . […] And it’s very cool, it’s very easy to get jobs. They pay hourly-based, and, and that’s mostly what I do for, for a job now” (Ricardo, A. 2–3, 7).
54 Diese Beobachtung trifft nicht nur auf das vorliegende Sample zu, sondern spiegelt den Eindruck während des gesamten Feldaufenthalts. 55 Eine beliebte Plattform zur Rekrutierung von Aufträgen sowie zur Bewerbung der eigenen Fähigkeiten bildet die Onlineinfrastruktur Upwork (Quelle Upwork: https://www.upwork. com/i/howitworks/client/).
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Forschungspraktische Umsetzung
Nach dieser kurzen Vorstellung der identifizierten Arbeitsformen, welche sich im Rahmen der Ergebnisvorstellung immer wieder spiegeln werden (s. Kap. 6–8), wird nun der dieser Arbeit zugrundeliegende Samplingprozess vorgestellt. Zunächst gilt es zu erwähnen, dass hierbei eine Orientierung an dem von Glaser und Straus formulierten Konzept des theoretischen Samplings erfolgte. „Theoretisches Sampling meint den auf die Generierung von Theorien zielenden Prozeß der Datensammlung, währenddessen der Forscher seine Daten parallel erhebt, kodiert und analysiert sowie darüber entscheidet, welche Daten als nächstes erhoben werden sollen und wo sie zu finden sind. Dieser Prozeß der Datenerhebung wird durch die im Entstehen begriffene […] Theorie kontrolliert“ (Glaser & Strauss 1998: 53; Herv. im Orig. nicht übernommen). Auch in der vorliegenden Arbeit wurde das Ziel verfolgt, während des Forschungsverlaufs neu gewonnene Eindrücke, Annahmen und Erkenntnisse in die Datenerhebung sowie die anschließende Auswertung einzubeziehen. Hierzu ist in Abbildung 5.9 eine entsprechende Übersicht aufgeführt.
Unbekannte Anzahl von DNs in Südostasien als Ausgangsannahme
Sensibilisierung für Forschungsgegenstand, Entwicklung von empiriebasiertem Vorwissen
Feldannäherung & erster Feldzugang
14 Fälle & 8 ergänzende Kurzinterviews, Feldnozen
23 Fälle & n informelle Gespräche, ergänzende Kurzinterviews, Feldnozen
theoresches Sampling während (Haupt-) Feldaufenthalt
theoresches Sampling im Analyseprozess
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 5.9 Samplingprozess
Wie voranstehend erwähnt, dienten zunächst eine Pretestphase sowie ein erster Feldaufenthalt für eine grundlegende Sensibilisierung gegenüber dem Forschungsgegenstand. Außerdem gelang so ein Zugang zum Feld, der sich später als Schlüssel zur Gewinnung weiterer Interviewpartner entpuppte (s. Abschn. 5.1.1). Ebenso konnte auf Basis der in Taipei gewonnenen Erkenntnisse die Entscheidung getroffen werden, die ausgewählten Forschungsorte geographisch zu erweitern (s. Abschn. 5.2.1). Die so bis dato eruierten Informationen lieferten einen wertvollen Beitrag, um Orientierungspunkte während des Samplingvorgehens zu schaffen (vgl. Flick 2005: 103). Dies war einerseits hilfreich und andererseits notwendig, um dem jungen Phänomen des Digitalen Nomadentums nicht vollständig unbegrenzt zu begegnen (s. Abschn. 4.1.2). Darüber hinaus galt es im Hinterkopf zu behalten, dass ein Teil der für das Forschungsanliegen interessanten Informationen, nämlich die persönliche Netzwerkeingebundenheit der zu Befragenden, bei der ersten
5.4 Sample und Datenmaterial
133
Kontaktaufnahme im Verborgenen liegt. Um dennoch eine Samplediversität erzeugen zu können, wurden in der vorliegenden Arbeit neben den unterschiedlichen Arbeitsformen auch Differenzen hinsichtlich Alter, Geschlecht, Nationalität und Mobilitätsdauer im Rekrutierungsprozess berücksichtigt. Weiter galt es, im Rahmen des Feldforschungsaufenthalts in Südostasien, eine zeitliche Limitierung zu berücksichtigen. Denn auch wenn mit dem Verfahren des theoretischen Samplings Erhebung und Analyse nicht als voneinander getrennte Arbeitsschritte verstanden werden können (vgl. z. B. Kelle & Kluge 2010: 47 f.), galt es, die Erhebung innerhalb des für den Forschungsaufenthalt geplanten Zeitraums abzuschließen. So konnten zwar zwischen Pretestphase und Haupterhebung erste Interpretationen des Materials vorgenommen werden, abgeschlossen werden musste die Erhebung jedoch während der zweiten Feldphase. Am Ende des Aufenthalts bildeten 23 narrative Interviews in Kombination mit ego-zentrierten Netzwerkkarten sowie unzählige informelle Gespräche, Kurzinterviews sowie allgemeine Feldnotizen die Datengrundlage für die vorliegende Arbeit. Anschließend wurden im Prozess der Dateninterpretation sukzessive einzelne Fälle56 ausgewählt und in die Analyse aufgenommen. Gefolgt wurde dabei dem Prinzip des maximalen und minimalen Vergleichs57 ; also der Suche nach Unterschieden oder Ähnlichkeiten (vgl. Glaser & Strauss 1998: 63 f.; Kelle & Kluge 2010: 48). Letztendlich flossen so 14 narrative Interviews in Kombination mit ego-zentrierter Netzwerkkarte sowie acht ergänzende narrative Kurzinterviews in die empiriebasierte Theorieentwicklung ein. Letztere ebenso wie allgemeine Feldnotizen wurden dabei insbesondere für eine Kontexteinbettung des erhobenen Materials (vgl. Olivier 2013: 102) herangezogen. Denn nach wie vor besteht in der vorliegenden Arbeit die Herausforderung darin, Informationen über jüngste Entwicklungen und potentielle Einflussnahmen auf die Handlungspraktiken der Interviewten induktiv aus dem Material und nicht aus einem umfassenden Literaturkorpus gewinnen zu können.
56 Hinsichtlich des Datenmaterials umfasst ein Fall in der vorliegenden Arbeit all jene Materialen, die im Gespräch mit einer Person gewonnen werden konnten. Handelt es sich also um ein narratives Interview in Kombination mit einer ego-zentrierten Netzwerkkarte, gehören beiden Materialen – unabhängig bzw. gerade wegen ihrer unterschiedlichen Geartetheit – einem Fall an. Die Erhebungseinheit bildet im Rahmen der Erhebung dabei die interviewte Person; die Untersuchungseinheit – entsprechend des Forschungsinteresses – die interviewte Person sowie alle von dieser Person benannten Akteure, die Beziehung zu diesen Personen, deren Eigenschaften und die damit in Zusammenhang stehende Netzwerkstruktur unabhängig nationalstaatlicher Landesgrenze (vgl. Pries 2010: 23). 57 Insbesondere hinsichtlich deren Beitrag zum Erkenntnisgewinn des Themas Digitales Nomadentum sowie hinsichtlich der Charakteristika der Mobilitätshandlungspraktiken und persönlichen Netzwerke der Befragten.
134
5.4.2
5
Forschungspraktische Umsetzung
Übersicht: InterviewpartnerInnen und Datenmaterial
In diesem Absatz wird nun das dieser Arbeit zugrundeliegende Datenmaterial vorgestellt. Hierzu findet sich in der nachstehenden Tabelle 5.2 eine Übersicht zu den befragten Personen, deren sozio-demographische Angaben sowie eine Auflistung des erhobenen Materials. Zu jenen Personen, mit welchen ergänzende Kurzinterviews, in denen den Befragten die Rolle eines Experten zuteilwurde (vgl. Flick 2005: 139) oder eine Diskussionsrunde geführt wurde, zählen der Gründer einer Onlinegruppe Ben (um mehr über die Begriffsentwicklung des Digitalen Nomadens zu erfahren), der Workation-Organisator Maximilian58 (um mehr über das Konzept einer Workation zu erfahren), die Diskussionsrunden-Teilnehmer Antoni und Sinan59 (um in Dialogform Kontextinformationen über die allgemeine Entwicklung des Digitalen Nomadentums zu erhalten), Bianca und Dirk, die als Paar spontan während des Interviews mit Malte hinzustießen (s. Abschn. 6.1) sowie zwei Coworking Space Mitarbeiterinnen (s. Abschn. 5.2.1). Die Reihenfolge der in der Tabelle aufgeführten Personen entspricht dabei der alphabetischen Sortierung, der als Pseudonyme aufgelisteten Vornamen. Die jüngsten Befragten sind zum Zeitpunkt des Interviews 24 Jahre und der älteste Befragte ist 45 Jahre alt60 . Mit einer Anzahl von 15 männlichen und fünf weiblichen Befragten61 ist das Sample durch eine deutlich größere Anzahl an Männern charakterisiert. Vermutet wird hier, dass dieser Umstand mit der weiten Verbreitung von (oftmals männerdominierten) Programmiertätigkeiten unter den Interviewten in Zusammenhang steht. Darüber hinaus wurde versucht, Interviewpartner unterschiedlichster Nationalitäten zu finden. Wie die tabellarische Übersicht jedoch erkennen lässt, ist das Sample – entsprechend der vorgefundenen Situation während des Feldforschungsaufenthalts – durch eine große Anzahl von Personen aus Westeuropa, insb. Deutschland und Nordamerika gekennzeichnet. Diesen Umstand kommentiert auch der Interviewpartner Gerrit, als er in seiner Erzählung folgende Beobachtung schildert: „Deutsche sind echt in der Überzahl hier“ (A. 262). Hinsichtlich des 58 Das Interview mit Maximilien wurde in Ubud vereinbart. Aufgrund von Zeitgründen wurde dieses jedoch erst in Deutschland durchgeführt. Hierfür erfolgte eine Verabredung im Rahmen der von uns beiden besuchten Digitalen Nomaden-Konferenz (DNX) in Berlin. 59 Ursprünglich konnten drei Interessierte für eine Teilnahme an einer Diskussionsrunde gewonnen werden. Ein Teilnehmer sagte jedoch kurz vor dem vereinbarten Treffen ab (s. hierzu auch Abschn. 5.2.1). 60 Coworking Space Mitarbeiterinnen ausgenommen. Das Durchschnittsalter des Samples beträgt 30,8 Jahre. Wobei es zu berücksichtigen gilt, dass Dirk mit 45 Jahren eine Ausnahme bildet. 61 Coworking Space Mitarbeiterinnen ausgenommen.
Tabelle 5.2 Übersicht InterviewpartnerInnen und Datenmaterial. (Quelle: Eigene Darstellung)
(Fortsetzung)
5.4 Sample und Datenmaterial 135
Tabelle 5.2 (Fortsetzung)
(Fortsetzung)
136 5 Forschungspraktische Umsetzung
Tabelle 5.2 (Fortsetzung)
5.4 Sample und Datenmaterial
137
138
5
Forschungspraktische Umsetzung
Bildungsabschlusses wird transparent, dass nahezu alle der Befragten über einen Universitäts- (Diplom, Master, Bachelor) oder FH-Abschluss verfügen. Lediglich zwei der Interviewten haben sich für eine Berufsausbildung entschieden. Die Durchschnittsdauer eines Interviews beträgt eineinhalb Stunden. (Viele der Interviews wurden im Rahmen der Terminvereinbarung von den zu Befragenden auf eine Stunde terminiert. Diesem Wunsch wurde bei Bedarf versucht nachzugehen.) Die kürzeste Interviewdauer beträgt 55 Minuten (mit Raik) und das längste Interview 2:05 Stunden (mit Gerrit).
Teil III Empirische Ergebnisse
In diesem Abschnitt, dem dritten Teil der Arbeit, richtet sich der Blick auf die empirischen Ergebnisse. Wie entlang der voranstehenden Ausführungen bereits besprochen, wurde bei der Konzeptionierung des Forschungsdesigns als auch bei der anschließenden Analyse der Annahme gefolgt, dass Mobilität nicht in einem Vakuum, sondern eingebunden in sozialen Netzwerken erfolgt (vgl. Bilecen et al. 2018; Cachia & Jariego 2018: 112; Massey et al. 1993: 448). Diese wirken einerseits strukturierend auf das Handeln der Akteure, können andererseits jedoch zugleich durch deren Agency (in ihrer strukturalen Gestalt) beeinflusst werden (vgl. Emirbayer & Goodwin 2017: 323 f); beide Elemente sind durch einen prozesshaften Charakter gekennzeichnet. Darüber hinaus wird vermutet, dass sowohl die Mobilität(shandlungen) der Akteure als auch deren besagte persönliche Netzwerke durch eine weitreichendere Rahmung, wie bspw. gesetzliche, politische oder ökonomische Bedingungen strukturiert werden (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Pachucki & Breiger 2010; Wellman 1999b: 34). Eine Übersicht zur Gliederung der im Folgenden vorzustellenden Ergebnisse ist unter Abbildung 1 aufgeführt. Zu Beginn werden in Kapitel 6 auf Grundlage zweier ausgewählter kontrastiver Fallverläufe deren eruierte Mobilitätshandlungsmodi (jeweils stellvertretend für einen Typus) vorgestellt. Als zentrales Element steht dabei die Schnittstelle von Struktur und Agency, die wiederum zur Herausbildung der jeweiligen Falllogik beiträgt, im Fokus. Denn so kann auf Basis der Empirie einerseits aufgezeigt werden, inwiefern durch bestimmte strukturale Muster (resp. Ressourcen) Handlungen erst möglich werden und andererseits, wie durch das Handeln der Akteure, im Kontext von deren Mobilität, Netzwerkstrukturen hergestellt oder verändert werden können bzw. müssen, um die gewünschte Lebensführung umsetzen zu können. Gleichzeitig bietet die Darstellung in Form von Fallverläufen die Möglichkeit, den prozesshaften Charakter des Untersuchungsgegenstands abzubilden. D. h. die Erzählverläufe werden von der ersten Idee der Befragten, ein ortsflexibles Leben führen zu wollen, bis zum Zeitpunkt des Interviews bzw. hinsichtlich deren Zukunftsvorstellungen nachgezeichnet.
140
Teil III: Empirische Ergebnisse
Ziel ist es dabei, die Einzelfälle zunächst entlang ihrer jeweiligen Spezifika zu rekonstruieren und anschließend auf einer verallgemeinernden Ebene zu besprechen. Denn „[j]eder Typologie liegt […] ein Merkmalsraum zugrunde, der sich durch die Kombination der ausgewählten Merkmale bzw. Vergleichsdimensionen und ihrer Ausprägungen ergibt“ (Kluge 2000: Abschnitt 3). Da dies jedoch nicht bedeutet, dass sich die für einen Einzelfall als charakteristisch herausgestellten Merkmale nicht auch in anderen Fällen unter ähnlicher Gestalt zeigen, werden in Kapitel 7 im Sinne einer empirischen Verdichtung sukzessive weitere Interviews hinzugezogen. Dabei wird in jedem der dort aufgeführten fünf Subkapitel ein Element besprochen, welches sich in den Fallverläufen als zentral erwies. Hierzu zählt das Potential von Brückenfunktionen einzelner Netzwerkkontakte (sog. Broker) im Kontext der Mobilität der Befragten (7.1), die Rolle des Aufenthalts an sogenannten Digitale Nomaden-Hubs (7.2), das Verhältnis von starken und schwachen Beziehungen als mobilitätsermöglichende Ressource sowie die Herstellung von Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen (7.3), lokale Bezugnahmen und die Frage nach Zugehörigkeit aus Perspektive der Befragten (7.4) wie auch onlinebasierte Dimension von Mobilität Digitaler Nomaden (7.5). Jedes der Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung. Kennzeichnend für diesen Kapitelabschnitt ist, dass nicht mehr mit einer Skizzierung der gesamten Interviewverläufe gearbeitet, sondern auf konkrete Interviewausschnitte zurückgegriffen wird1 ; Redundanzen können so minimiert und facettenreiche Charakteristika des Digitalen Nomadentums durch die erzeugte Kontrastierung bzw. Verdichtung herausgestellt werden. Dabei wird sich auch zeigen, dass die beiden Modi an einigen Stellen einander ähneln und sich entlang der Mobilitätshandlungsstrategien einzelner Akteure potentielle künftige Modiwechsel andeuten. Das bedeutet, dass die Mobilen ihre Handlungsorientierungen bspw. neu ausrichten oder aufgrund gesammelter Erfahrungen andere Strategien entwickeln. Allerdings wurde auf Basis der Datengrundlage in der vorliegenden Arbeit die Entscheidung getroffen, keinen dritten Modus anzulegen. Dieses Vorgehen resultiert primär aus dem Umstand, dass viele der Befragten noch am Anfang ihrer Mobilitätsgeschichte stehen und die Realisierung eines tatsächlichen Modiwechsels oftmals nur als Andeutung identifiziert werden kann; deren Umsetzung liegt in der Zukunft und entzieht sich somit dem vorliegenden Datenmaterial. Für eine Abrundung des Kapitels erfolgt unter 7.6 eine Zwischenreflexion bezüglich etwaiger aus dem Material hervorgehender (Analyse-)Grenzen. Dabei wird deutlich werden, 1 Dies
bedeutet nicht, dass der herausgegriffene Intervieausschnitt als entbunden von dessen Entstehungskontext verstanden wird. Vielmehr wird in den einzelnen Kapiteln jeweils eine zeitliche und inhaltliche Einordnung vorgenommen.
Teil III: Empirische Ergebnisse
141
dass diese u. a. mit der noch jungen Entwicklung des Phänomens des Digitalen Nomadentums in Zusammenhang stehen (s. hierzu auch Abschn. 5.3.2). Am Ende der Ergebnisdarstellung erfolgt unter Kapitel 8 schließlich eine Kontextualisierung der identifizierten Handlungspraktiken, Netzwerkstrukturen und Bedeutungszuschreibungen. Diese bewegt sich zwischen Rahmenbedingungen, wie bspw. gesetzlichen Vorgaben o. ä., Akteursattributen und aktuell kursierenden Diskursen zum Thema Digitales Nomadentum. So gelingt nicht zuletzt eine Transparentmachung der Verknüpfung von Mikro- und Makroebene. In Kapitel 9 wird eine Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse vorgenommen.
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Kapitel 6.1 Falldarstellung Mobilitätshandlungsmodi I
Kapitel 6.2 Falldarstellung Mobilitätshandlungsmodi II
Querverdichtung mit n-Fälle
von der ersten Idee...
her) logisc von NWK rono g (ch wicklung n la t g en eller Ent ellun Darst e und visu lg o f b la Erzäh
Kapitel 7.1 Broker Kapitel 7.2 Digitale Nomaden-Hubs Kapitel 7.3 Nachhalgkeit in Beziehungen
… bis Blick in Zukun
d ng un achtu llbetr NWK a F e r nd le g fina miere Resü arstellun D
Zusammenfassung & Synthesierung von Mobilitätshandlungsmodi I
Zusammenfassung & Synthesierung von Mobilitätshandlungsmodi II
Kapitel 7.4 Ort & Zugehörigkeit
Kapitel 8 Gesetzl./ pol./ ökonom. Handlungsrahmen, Phänomenentwicklung & Konstrukon
Kapitel 7.5 online Eingebundenheit
Zusammenfassung & Synthesierung nach jedem Kapitel
Kapitel 9 Schlussbetrachtung, verdichtende Synthesierung und Fallübergreifende Diskussion
Abbildung III.1 Gliederung der Ergebnisdarstellung. (Eigene Darstellung)
Mit der im Rahmen der Analyse entwickelten Darstellungsform der empirischen Ergebnisse gelingt es, sowohl eine Verdichtung entlang des Materials als auch dessen dynamischen Charakter abzubilden. So können einerseits Einsichten in die vielfältigen Facetten des Digitalen Nomadentums im Allgemeinen bzw. der Handlungspraktiken Digitaler Nomaden gewährt werden (primär Forschungsfrage A). Andererseits kann auf einer konzeptionellen – nicht metaphorischen – Ebene entlang von Netzwerkmechanismen sowie menschlicher Agency gezeigt
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Teil III: Empirische Ergebnisse
werden, wie eine mobile Lebensführung als Digitaler Nomade gelingen kann (primär Forschungsfrage B).
6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion entlang kontrastiver Fälle
Wie angekündigt werden im Folgenden die beiden im Analyseprozess erarbeiteten Mobilitätshandlungsmodi vorgestellt. Modus eins wird dabei exemplarisch entlang des Interviews mit Malte (s. Abschn. 6.1) und Modus zwei auf Basis der Interviewerzählung von Gerrit (s. Abschn. 6.2) nachgezeichnet. Die beiden Akteure wurden deshalb aus dem Sample ausgewählt, da sie aufgrund ihrer soziodemographischen Charakteristiken zunächst als relativ homogen und dementsprechend als relativ gut vergleichbar erscheinen; beide männlich, Ende 20, im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit, verfügen über einen Bachelorabschluss an einer deutschen Universität sowie über Erfahrungen im Bereich der Selbstständigkeit. Die Untersuchung zeigt jedoch, dass beide Akteure im Kontext ihrer Mobilität konträre Handlungsmodi entwickeln.
6.1
Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller1
Der Mobilitätshandlungsmodus I ist insbesondere durch eine soziale Eingebundenheit Egos in ein Netzwerk mit einer Vielzahl anderer Digitaler Nomaden, 1 Die
Verwendung des Begriffs Lebensstil ist in der vorliegenden Arbeit zunächst dem Sprachgebrauch der Interviewpartner entlehnt (bspw. spricht Ricardo in seinem Erzählverlauf von „lifestyle“ (A. 53)). In den nachstehenden Ausführungen wird entlang der Empirie weiter beleuchtet, durch welche Charakteristika der Begriff geprägt ist (s. Kap. 6–8). Begriffe, wie Lebensführung oder Lebensgestaltung werden dabei außerdem unter dem Lebensstilbegriff subsumiert. „Der Lebensstil ist das zentrale soziologische Konzept, das die persönliche und gesellschaftliche Ebene miteinander verbindet“ (Müller-Schneider 2008: 307). Das soll heißen, dass im Rahmen sozialen Wandels das eigene Leben nicht mehr nur in vorgeschriebenen biographischen Bahnen beschrieben, sondern durch zunehmend mehr Spielräume (bspw. ermöglicht durch Konsummöglichkeiten und Wertewandel) gestaltet werden kann. Alltag wird zum Ausdruck von Lebensstil (vgl. ebd.). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_6
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6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
die untereinander wiederum eine relativ dichte Verflechtungsstruktur aufweisen, gekennzeichnet. Support erfährt Ego in vielfacher Weise durch andere mobile Akteure. Es erfolgt ein sukzessives Hineinwachsen in ein Leben als Digitaler Nomade. Lebenswelt und Lebensstil werden von Ego über die Kopräsenz zu anderen Digitalen Nomaden hergestellt.
6.1.1
Fall Malte – „seitdem würd ich mich eigentlich als Digitalen Nomaden bezeichnen“
Zu jenen Personen, welche Modus I der identifizierten Handlungstypen repräsentieren, gehört der 29-jährige Malte (m). Dieser ist zum Zeitpunkt des Interviews seit ca. zwei Jahren mobil. Zuvor absolvierte er ein Bachelorstudium im Bereich der Informationstechnik an einer deutschen Universität, führte währenddessen bereits Programmiertätigkeiten in Form von Auftragsarbeiten aus und sammelte erste Mobilitätserfahrungen im Rahmen von Studienreisen. Zum zentralen Erzählelement wird im Interview mit Malte der Prozess des Hineinwachsens in eine ortsflexible Lebensführung. Die Interviewsituation Das Interview mit Malte fand auf der Insel Bali statt und dauerte eine Stunde und 32 Minuten. Die erste Kontaktaufnahme erfolgte mittels einer Facebookgruppe und gestaltete sich sehr unkompliziert; Malte stimmte sofort einem Interview zu. Die tatsächliche Realisierung eines Termins verzögerte sich jedoch um einige Tage. Dieser Umstand wird im Folgenden kurz skizziert, da er einen wesentlichen Einfluss auf die spätere Interviewsituation nahm. Zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme befand ich mich in der thailändischen Stadt Chiang Mai und Malte – wie sich später herausstellte – zum Zweck eines Visaruns2 in Thailands Hauptstadt Bangkok. Wir verabredeten uns für ein Interviewtreffen, das nur drei Tage später auf Bali stattfinden sollte. Kurze Zeit nach unserer Terminvereinbarung hatten wir allerdings beide mit Flugstornierungen aufgrund einer durch den indonesischen Vulkan Raung erzeugten Aschewolke3 zu kämpfen. Eine Woche später und nach zwei weiteren Versuchen 2 Kann
als ein kurzzeitiges Verlassen eines Landes, für eine unmittelbare im Anschluss erfolgende neue Einreise mit erneuertem Visum umschrieben werden (s. hierzu ausführlicher Abschn. 8.1.2). Der Begriff ist dem Sprachgebrauch der Interviewten entlehnt (vgl. z. B. Ricardo, A. 156). 3 Exemplarischer Medienbericht zu Verzögerungen und Ausfällen im Flugverkehr. Quelle Flugverkehr Indonesien: https://www.welt.de/reise/Fern/article143813077/Vulkanausbruchfuehrt-zu-Chaos-im-Flugverkehr.html.
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
145
einer Terminvereinbarung gelang es uns schließlich, ein persönliches Treffen umzusetzen. Als Interviewort schlug Malte den Coworking Space Hubud vor, ich stimmte gerne zu. Was das Treffen mit Malte insofern von den anderen durchgeführten Interviews unterscheidet ist, dass zwei weitere Personen, Bianca und Dirk (Ehepaar), während des Interviews anwesend waren. Dieser Umstand resultierte aus den Folgen mehrfacher verschobener Terminvereinbarungen. Malte, Dirk und Bianca kannten sich nur aus Skype-Telefonaten und hatten sich für denselben Tag, ebenfalls im Coworking Space Hubud, verabredet. Wie sich herausstellte, verband die drei eine gemeinsame bevorstehende Teilnahme an einer Workation. Meine anfängliche Befürchtung, Maltes Interviewerzählung könne durch die Situation zu sehr beeinflusst werden, bewahrheitete sich – soweit ich das beurteilen kann – nicht. Malte erwies sich als ein Gesprächspartner, der (offen) über private Thematiken und im Allgemeinen ohne Zögern berichtete. Auch die Visualisierung seiner Netzwerkkontakte begann er selbständig und nahm den Laptop im Verlauf des Interviews für sich ein. Während des Interviews stellten Bianca und Dirk kleinere Nachfragen bzw. warfen Kommentare ein. Diese wurden in der Analyse ebenfalls berücksichtigt. Ausgehend von dieser Situation bot sich mir im Anschluss an das Interview mit Malte außerdem die Möglichkeit, auch Bianca und Dirk einige Fragen zu stellen. Am Ende wurde ich zu einem Besuch bei der bevorstehenden Workation eingeladen – ich freute mich, sagte gerne zu und so sah ich die drei nur wenige Tage später erneut.
6.1.2
Mobilitäts- und ortsflexible Arbeitspräerfahrungen
Zu Beginn des Interviews mit Malte zeigt sich, dass seine ortsflexible Lebensführung – wie auch die vieler anderer Interviewter – durch eine Reihe biographischer Vorerfahrungen geprägt ist, welche wiederum einen wesentlichen Einfluss auf seine spätere Mobilitätsgeschichte nehmen.
6.1.2.1 Studium, Studienreise und Auslandssemester in China Als Einstiegserzählung wählt Malte eine Erfahrung, die er während einer zweiwöchigen „Studentenreise […] nach Palästina und nach Israel und irgendwie nach Jordanien“ (A. 6) erlebte und die ihm nachhaltig in Erinnerung blieb: M: „[…] Und als ich zurück war in Deutschland, da wars dann so, dass ich merkte: Ich sitze irgendwo in ner Vorlesung und bin im Kopf irgendwie noch in Jerusalem da aufm Markt. Und merkte so: Krass, was das (.) für unglaubliche Erlebnisse warn und wie viel/ (I: Mhm.) Spaß das gemacht hat. Das will ich irgendwie (.)/ Ja, so Reisen, im Sinne
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6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
von n andres Land richtich erleben und nicht einfach nur, ähm, Sehenswürdigkeiten abklappern“ (A. 6–8).
Auch wenn Malte keine weitere Konkretisierung dessen vornimmt, was er unter einem „richtich erleben“ eines Landes versteht, wird deutlich, dass er sich von allgemeinen touristischen Praktiken zu distanzieren versucht. Rückblickend resümiert er: „Da war so die Idee eigentlich geborn: Ich will mehr so was machen“ (A. 10) und beschließt infolge dessen ein Auslandssemester anzutreten. Dabei zeigt sich, dass sein Freund Hendrik die Funktion einer treibenden Kraft hinsichtlich aller zu planenden Schritte, einnimmt: M: „Und n Freund [Hendrik] von mir meinte, er geht nach China, (I: Mhm.) macht da Auslandssemester, und will auch gern mit der transsibirischen Eisenbahn dahin fahrn, Riesenabenteuer draus machen, und ob ich nicht Lust hab, da mitzumachen. (I: Mhm.) Und da war für mich eigentlich ZIEMLICH schnell klar: (.) Ja, das ist super, genau das will ich machen. Ähm, und hab mich dann da, ja, ihm angeschlossen“ (A. 10–14).
Vor Ort freunden sich die beiden außerdem mit weiteren Studierenden (Phil, Laura4 und Nina), die sie im Rahmen ihrer durch die Universität bereitgestellten Unterkunft kennenlernen, an. Die gemeinsame Zeit in China beschreibt Malte wie folgt: „Wir ham eigentlich jeden Tag miteinander geteilt“ (A. 118). Zurück in Deutschland ändert sich das Verhältnis jedoch schnell. Dieser Umstand spiegelt sich auch in Maltes Netzwerkvisualisierung wider; die Beziehungsstärke zu den Vieren nimmt ab (Abbildung 6.1): Die mit Ende des Auslandssemesters einhergehende Beziehungsveränderung, die für Hendrik, Phil, Laura und Nina gleichermaßen zu gelten scheint, erläutert Malte wie folgt: M: „(.) Ähm (.), als wir dann aber wieder nach Deutschland zurückkamen, hat sich das wahnsinnich schnell verlaufen. (.) (I: Okay.) [W]ahnsinnich schnell hatte jeder irgendwie wieder sein Ding, und hat irgendwie so seine Sachen gemacht. (.) Und so kams dann halt, dass es [Repositionierung Hendrik in NWK] (..), ja, dann relativ schnell, ähm, [Repositionierung Phil in NWK] (..) mit den Leuten ich eigentlich nix mehr zu tun hatte [Repositionierung Laura von mittleren in äußeren Kreis in NWK]“ (A. 120–122).
4 In
Maltes Netzwerkdarstellung trägt das Symbol mit der Beschriftung Laura eine falsche Geschlechterzuordnung. Dies entspricht der Originaldarstellung (s. Abbildung 6.1). Es wird vermutet, dass eine entsprechende Berücksichtigung im Erzählfluss des Interviewpartners unterging. Um diesen nicht zu unterbrechen, wurden keine weiteren Nachfragen gestellt.
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
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Anmerkung: Hendrik und Phil kennen Malte bereits von seiner Studienzeit in Deutschland. Laura und Nina lernt er hingegen erst in China kennen. Weiter gilt es anzumerken, dass Maltes Visualisierungsbeginn im mittleren Kreis unter Berücksichtigung der darauffolgenden Visualisierung seiner damaligen Partnerin (Lilly) im inneren Kreis, eine weitere Kontextualisierung erfährt (s. Abb. 6.2).
Abbildung 6.1 Maltes persönliches Netzwerk während und nach dessen Auslandssemester in China
Was Malte zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst ist, ist, dass die vier im Rahmen seiner Zukunftspläne erneut eine potentielle Rolle spielen (s. Abschn. 6.1.7.1).
6.1.2.2 Studium, Auslandssemester in China und Onlinearbeit Wie oben bereits angesprochen, übt Malte bereits während seines Studiums Programmiertätigkeiten in Form von Auftragsarbeiten für Kunden aus. Er erklärt: M: „Also es war im Studium bei mir so, dass ich während des Studiums mir das Studium eigentlich finanziert hab, indem ich schon für Kunden n bisschen Internetseiten programmiert hab. (I: Mhm.) Das hatt ich auch schon/ Also das war gar nicht mit dem Hintergrund, dass das irgendwie ortsunabhängig is, sondern das war einfach: (.), Ähm, ich hab Informationstechnik studiert: Also da gings auch irgendwie da drum. (.) Und das war halt ne gute Methode Geld zu verdienen, mehr Geld zu verdienen als irgendwie beim Aldi Regale einräum. (.) Und deswegen hatt ich schon/ Bevor ich überhaupt im Ausland war, hatt ich schon für Kunden n bisschen was gearbeitet“ (A. 20–22).
Die onlinebasierte Tätigkeit ermöglicht es Malte folglich, sowohl sein Studium zu finanzieren, als auch einen Kundenstamm aufzubauen, der sich im Rahmen seiner späteren Mobilität noch als relevant erweist (s. Abschn. 6.1.3). Eine Verbindung zwischen Onlinearbeit und geographischer Mobilität stellt er zum ersten Mal während seines Auslandssemesters in China her:
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6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
M: „[…] Und dann war ich eben in China. Und hab da zum ersten Mal gemerkt: Hm, ich kann ja eigentlich hier (..) genauso gut arbeiten, wie wenn ich in/ in Düsseldorf sitze – das macht eigentlich überhaupt keinen Unterschied“ (A. 24).
Im Rahmen dieser Erfahrung kommt Malte ebenfalls das erste Mal mit dem Prinzip von Geoarbitrage in Berührung. Hierbei handelt es sich um einen Begriff, der aus den Wirtschaftswissenschaften entlehnt ist und im Allgemeinen ein Konzept benennt, das die Nutzung von Währungs- und Lohnunterschieden umfasst (s. auch Abschn. 8.1.2). In Maltes Erzählung wird dieser Ansatz exemplarisch anhand von ihm beschriebener Restaurantbesuche transparent: M: „Und wenn ich hier ne Stunde arbeite, kann ich dafür ne Woche ins Restaurant gehn und das kann ich in Deutschland nich. Wo ich dann auch gemerkt hab, (.) dass ich das gleiche Geld verdiene, aber viel weniger Geld brauche“ (A. 24).
Nach dieser für ihn positiv erlebten Erfahrung – überall dort arbeiten zu können, wo ihm eine Internetverbindung zur Verfügung steht – fühlt er sich darin bestärkt, das Gelernte auch in anderen (Länder)Kontexten umzusetzen: M: „Und da war eigentlich das erste Mal die Idee geborn: Man könnt ja auch n bisschen, äh, länger reisen und dabei Geld verdienen“ (A. 24).
Wichtig ist ihm dabei zu betonen, dass er diesen Gedanken fasste, bevor er mit der Thematik des Digitalen Nomadentums in Berührung kam: M: „Und das war bevor ich den Begriff Digitale Nomaden auch jemals gehört hatte“ (A. 26).
Der weitere Interviewverlauf zeigt jedoch, dass es ca. drei weiterer Jahre5 bedarf, bis Malte eine (vollständig) ortsflexible Lebensführung tatsächlich umsetzt.
6.1.2.3 Work-and-Travel-Aufenthalt in Neuseeland und Onlinearbeit Nach Beendigung seines Studiums entscheidet sich Malte zunächst gemeinsam mit seiner Partnerin Lilly für einen siebenmonatigen „Work-and-Travel“-Aufenthalt6 5 Hierbei handelt es sich um eine ca. Angabe, die entlang der Interviewaussagen rekonstruiert
wurde. 6 Work-and-Travel
steht im Allgemeinen für eine Praktik, die oftmals von jungen Menschen, bspw. während eines Gapyears, betrieben wird. Eine beliebte Arbeitstätigkeit ist während dieser Zeit bspw. „Fruit picking“ (Cooper et al. 2009).
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
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(A. 36) in Neuseeland; u. a. um seine Englischkenntnisse verbessern zu können (vgl. A. 36). Dabei zeigt sich, dass Malte dem gleichen Prinzip der Einkommensgenerierung folgt, wie bereits zuvor während seines Auslandssemesters: M: „[Dort sind wir] mitm Camper-Van rum gefahrn. Und hab halt auch währenddessen dann immer schon n bisschen was gearbeitet. (I: Mhm.) Also das Studium war zu Ende. (..) Und, ja, hab dann von Neuseeland, genau das Gleiche, immer mal was gemacht. Und (.) hab dann da auch, ja, unterwegs gearbeitet“ (A. 38–40).
Ein Unterschied, der sich aus dem Vergleich zu Maltes Zeit in China ergibt, ist, dass ihn das Studium nunmehr nicht an einen Ort bindet. Als zentral erweist sich an den bis dato von Malte beschriebenen Mobilitätsund Auslandserfahrungen, dass es sich stets um temporär angelegte Aufenthalte handelt. Darüber hinaus erfahren diese eine Legitimierung, indem der jeweilige Mobilitätsschritt ein Framing unter dem Label Bildung erhält. Am Ende eines jeden Aufenthalts steht die Rückkehr nach Deutschland bzw. der (Rück)Weg auf einen allgemein als regulär anerkannten Bildungsverlauf.
6.1.3
Maltes persönliches Netzwerk (Teil 1) und aufkommendes Interesse am Thema Digitales Nomadentum
Zurück in Deutschland trifft Malte die Entscheidung, seine Programmierarbeiten auszubauen und „weiterhin selbstständich“ (A. 48) zu sein. „[I]m Grunde irgendwie auf den nächsten Level gehobn und gesagt: Ich mach das jetzt in Vollzeit“ (A. 52). So gelingt es ihm, die von ihm gewünschte Flexibilität beizubehalten. Doch schnell zeigt sich, dass diese Situation nicht zu seiner Zufriedenstellung beiträgt; in diesem Zusammenhang gewinnt die Thematik des Digitalen Nomadentums an Aufmerksamkeit.
6.1.3.1 Aufenthalt in Deutschland, Onlinearbeit und (erster Versuch zum Aufbruch von) Alltagsroutine Die Zeit in Deutschland (rund 1½ Jahre) verbringt Malte mit seiner Partnerin, die aufgrund ihrer Ausbildung als Lehrerin (A. 86) an einen Ort lokal gebunden ist. Rückblickend beschreibt Malte diese Situation wie folgt: „Das war eigentlich alles okay, schöne Wohnung, (.) alles gut, genug Geld gehabt“ (A. 70). Dennoch schleichen sich bei dem Paar Zweifel ein: „[H]am dann aber gemerkt: So richt/
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Irgendwas fehlt, so richtich/ Es is so n Alltagstrott, jeder Tag is irgendwie der gleiche“ (A. 72). Um das, was „fehlt“, narrativ verdeutlichen zu können, greift Malte auf eine Erinnerung zurück, die er anekdotisch wie folgt beschreibt: M: „[…] Und dann gabs/ Ich g/ Ich weiß, es gab so ein Schlüsselerlebnis, wo ich bei ner Weihnachtsfeier von nem guten Kunden von mir war. (I: Mhm.) (.) Und alle Leute, die da warn, ham gesagt, dass das Jahr wahnsinnich schnell vergangn is. Alle, sogar einer, der irgendwie als, ähm (.)/ der war irgendwie al/ als Praktikant da, der ging noch zur Schule – sogar der meinte: „Ja, das Jahr is ja so schnell vergangn.“ Und alle warn sich darin einich. Und da hab ich so n bisschen für MICH so ne Entscheidung getroffn: (..) Das will ich nich. Ich will nich auch irgendwie Jahr für Jahr hier sitzn // und sagn: (I: Mhm.) „Oh, das Jahr is aber wahnsinnich schnell vergangn. // Und das Jahr is aber auch wahnsinnich schnell vergangn“ (I: Mhm.) und plötzlich sind keine Jahre mehr da. Und/ und irgendwie, ja, die Jahre sind irgendwie begrenzt. Und für mich war klar: Wenn die Zeit zu schnell vergeht und man sagt: „Das JAHR is aber schnell vergangn.“ – Das is n Alarmsignal. Das heißt, da muss irgendwie (.)/ Da muss irgendwie sich was ändern. Muss man irgendwie aus der Routine wieder ausbrechen. (…) Und das war dann so n bisschen, wo dann so langsam die Entscheidung kam: (.) Wir gehen wieder nach Neuseeland“ (A. 72–78).
Deutlich wird hier, dass ein Aufbrechen einer sich einschleichenden Routine zum obersten Ziel wird, um mehr Zufriedenheit über die eigene Lebenssituation erlangen zu können. Sesshaftigkeit und „Alltagstrott“ werden in Verbindung gestellt. Für die Umsetzung des Routineaufbruchs rückt daher ein erneuter Mobilitätsschritt in den Fokus.
6.1.3.2 Auswanderung7 nach Neuseeland, Onlinearbeit und (zweiter Versuch zum Aufbruch von) Alltagsroutine Schließlich trifft das Paar die Entscheidung, zurück nach Neuseeland zu gehen. Dabei zeigt sich hinsichtlich der praktischen Umsetzung, inwiefern dieser bevorstehende Schritt für Malte deutlich einfacher als für seine Partnerin Lilly zu realisieren ist. Denn aufgrund seiner onlinebasierten Arbeitstätigkeit muss er keinen Bewerbungsprozess o. ä. durchlaufen, um vor Ort auf eine Anstellung hoffen zu können: M: „Auckland hatte uns wahnsinnich gut gefalln. (…) Und so kam dann die Überlegung: Wie/ Wie könn wa wieder da hin? Ich war selbstständich, meine damalige Freundin war, ähm, als Lehrerin/ Das war nich so ganz einfach. Das heißt, sie brauchte 7 Der
Begriff Auswanderung wird deshalb genutzt, da Malte und Lilly ihr gesamtes Hab und Gut von Deutschland nach Neuseeland verschiffen, dort eine neue Wohnung beziehen und den Plan verfolgen dort langfristig zu bleiben (vgl. A. 178 u. 182).
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
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n Job vor Ort. (I: Mhm.) Hat dann aber bei der X-Schule in Auckland (.) (I: Aah.) ähm, erst n Praktikum gekriegt. Und dann sind wa (.) erst mal so Probeweise für drei Monate nach Neuseeland. (I: Mhm.) Auch da wars wieder super, dass ich normal weiter arbeiten konnte. Ich musste mir in Neuseeland keinen Job suchen. (I: Mhm.) Hab weiter für die deutschen Kunden gearbeitet. Sie hat da das Praktikum gemacht. (..) Und eigentlich n paar Wochen im Praktikum rein, meinten die: „Ja, haste nicht Lust, äh, hier zu arbeiten, wenn das Praktikum fertich is?“ […]“ (A. 86–94).
Interessant ist an dieser Schilderung von Malte, dass sich zeigt, inwiefern der Aufenthalt als Paar von Lillys beruflicher Situation abhängt. Mit der Stellenzusage entscheiden die beiden kurzerhand, ihr gesamtes Hab und Gut aus Deutschland nach Neuseeland zu verschiffen: „Ham […] echt ne coole Wohnung gefundn. […] Äh, und haben dann mehr oder weniger auf unsre Möbel gewartet […] Das war auch ne lustige Erfahrung, in Neuseeland zu sein mit den ganzen deutschen Möbeln“ (A. 178 u. 182). So wohnlich eingerichtet, erleben Malte und Lilly zunächst einen guten Start in Neuseeland: „Am Anfang: Super Auckland! Superspannendes Stadt! Jedes Wochenende irgendwohin gedüst, irgendwie n Tagestrip gemacht da, (.) und hier ne Wanderung […]“ (A. 200). Doch nach ca. einem Jahr in Auckland (vgl. A. 200) wird Malte (erneut) von einem ihm bereits bekannten Gefühl eingeholt: M: „Und auch da kam dann irgendwann so n gewisser/ (..), ja, so n gewisser Alltagstrott rein. Und obwohl es so schön war, obwohl es überall sonnich war und alle gut gelaunt warn, (.) war es auch DA so, dass ich irgendwann das Gefühl hatte: Oah – jetzt biste schon n Jahr wieder in Neuseeland!“ […] Nicht, dass du doch wieder bei der Weihnachtsfeier sitzt und sagst, ähm: (B, I: lachen) (..) ‚Das Jahr is aber schon wieder schnell vergangn‘“ (A. 202, 205–207).
Der vorherige Versuch, den in Deutschland eingekehrten Alltagstrott aufzubrechen, scheint sich in Neuseeland zu wiederholen. Resümierend fasst Malte diesen Umstand zusammen: „Es war im Grunde das Gleiche/ die gleiche Routine […] verlegt von Deutschland nach Auckland“ (A. 315 u. 317). So bildet sich ab, dass ein alleiniger Ortswechsel nicht als Gegenmittel für die unliebsamen Routinen dient. Bis sich Malte jedoch zu einem Wandel seiner stets ortsgebundenen Lebensführung entscheidet, bedarf es weiterer zu sammelnden Erfahrungen.
6.1.3.3 Besuch in Deutschland als Paar Im „Frühling diesen Jahres [2015]“ entscheiden sich Malte und Lilly für einen Besuch in Deutschland, um „Familie und Freunde“ (A. 293) zu treffen. Dabei zeigt sich erneut, inwiefern die Planung der Reise in Abhängigkeit von Lillys Anstellungsverhältnis gestaltet wird: „Es warn irgendwie zwei Wochen, sie hat halt nur
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zwei Wochen Ferien“ (A. 293). Die mit diesem Umstand einhergehenden zeitlichen Restriktionen bekommt Malte auch während des Aufenthalts in Deutschland zu spüren. Dies bringt ihn zum Nachdenken: M: „[U]nd dann willste irgendwie möglichst alle sehn. Und das hat dann auch nich so geklappt. Irgendwie zum Beispiel ne gute Freundin von mir, die irgendwie jetzt inzwischen irgendn Kind gekriegt hatte, die eigentlich so über Schulzeit und Studium eigentlich immer so beste Freundin irgendwie war, hatt ich schon ne Weile nich gesehn und hatte das Baby noch nich gesehn – Hätt ich gern gesehn, als wir in Deutschland warn, aber es is irgendwie hinten runter gefalln. Die wohnte dann in Hamburg, schaffte es nich nach/ Wir warn dann in Düsseldorf. Schaffte es nich nach Düsseldorf zu komm und wir musstn irgendwie da ganz viele Leute sehn – und da hab ich gemerkt: Es is irgendwie so blöd, dass wir jetzt hier nur die zwei Wochen haben! (I: Mhm.) (…) Und das hat mich da schon so n bisschen geärgert […]“ (A. 293–295).
Zeitliche Einschränkungen werden für Malte folglich zum Nachteil bzw. als ein solcher interpretiert. Darüber hinaus wird an diesem Beispiel transparent, dass nicht die Überbrückung von geographischen Distanzen, sondern zeitliche Limitierungen als das eigentliche Problem beschrieben werden. Ein Umstand, dem er nicht gewillt ist, sich länger zu beugen.
6.1.3.4 Erster Austausch mit Digitalen Nomaden – Kennenlernen Hannes Parallel zu seinen in Deutschland und Neuseeland gemachten Erfahrungen, wird Malte zunehmend mehr auf das Thema Digitales Nomadentum aufmerksam: M: „Und während dieser Zeit hab ich auch immer mehr online so irgendwie mit (..), äh/ mit Digitalen Nomaden irgendwie davon gehört, damit gelesn. In der Zeit hat dann auch der Hannes, glaub ich, das Outside-Office8 gegründet, wo ich mich dann irgendwie angemeldet hatte. Dann auch irgendwie in der Mastermind irgendwie da sich öfter ausgetauscht hatte. Also da kams dann mehr und mehr, dass ich (.)/ ja, ich glaub, den Begriff hatt ich schon vorher gehört, aber mehr und mehr davon gehört hab, mehr und mehr dazu gelesn hab. Und die Idee mich, äh, (…) ähm, mich immer mehr begeisterte und es eigentlich immer mehr (..)/ ähm, mich das immer mehr interessierte. So. Dass eigentlich so, ich nenne es jetzt ma, ne Institution9 , (.) [Eintragung DNs in NWK]. (I: Ja. Mhm.) So die/ diese ganze Bewegung der Digitalen Nomaden (.) mich mehr und mehr interessierte, und ich mich mehr und mehr zu dieser Idee hingezogen fühlte. (..) Man muss nich in Deutschland wohnen oder in Neuseeland wohnen, man kann auch (.) alle paar Monate mal woanders wohnen? (.)“ (A. 209–211). 8 Pseudonym
für Name eines Blogs. Malte an dieser Stelle von einer Institution spricht, kann auf die Symbolbeschriftung im Programm VennMaker zurückgeführt werden (s. Abschn. 5.1.2).
9 Dass
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
153
Hier bildet sich zunächst ab, dass Malte durch die onlinebasiert recherchierten Informationen eine erste Vorstellung über eine mobile Lebensführung erfährt. Sein Austausch in der beschriebenen Mastermindgruppe dient ihm darüber hinaus als Reflexionsfolie, um sich mit anderen über die zuvor gemachten Erfahrungen – wie Routinen im Kontext von Sesshaftigkeit oder zeitlicher Flexibilität – austauschen zu können; eine Möglichkeit, die sich ihm im Gespräch mit früheren Arbeitskollegen, seiner Partnerin oder Studienfreunden nicht bot. Dem Akteur Hannes, als Autor des Blogs Outside-Office sowie Gründer der Mastermindgruppe10 , wird dabei eine zentrale Rolle zuteil; er nimmt eine Broker-Position für Malte ein. Denn Hannes dient als Vermittler von Informationen und als Kontaktzugang zum Thema Digitales Nomadentum. So erfahren die anfänglichen sporadischen Recherchen sukzessive an Regelmäßigkeit – „[W]ir hattn da so ne/ so ne Mastermind-Gruppe, wo wir uns alle zwei Wochn einfach so n bisschen ausgetauscht haben“ (A. 233) – und Malte erfährt Bestärkung in seinem (sich andeutenden) Perspektivwechsel. Dabei ist es erneut Hannes, der für Malte als persönlicher Ansprechpartner eine wichtige Funktion einnimmt (s. Abbildung 6.2): M: „(.) Äh, so, dass ich eigentlich sagn würde, dass eigentlich der Hannes eigentlich auch irgendwo ne wichtige Person (.) [Beginn Eintragung Hannes in NWK] (I: Mhm.) dafür war, dass ich so mehr und mehr gemerkt hab (..) [Ende Eintragung Hannes in NWK] ähm, das is irgendwie richtich klasse. Und es is auch noch mal was andres, ob man irgendwie Blog-Artikel über das Thema liest, oder sich mit jemandem/ mit jemandem darüber redet, sich mit jemandem darüber austauscht und merkt: Krass, der is/ der is genauso drauf, wie ich. Das is irgendwie/ Der hat irgendwie die ähnlichen Ideen und findet das richtich klasse […]“ (A. 229–231).
Als Resultat dieser ersten onlinebasierten Kennenlernphase beschließen die beiden, eine gemeinsame Workation zu organisieren (vgl. A. 367). M: „Und, ja, ich weiß nich genau, wann es war, irgendwann kam dann der Hannes eben mit dieser Idee: vier Wochen Bali, Workation, mit andern Leuten. Und da hatt ich ges/ Da hatt ich eigentlich direkt gesagt: Super, genau das/ Genau das ist das, was ich gesucht hab – irgendwie mal n bisschen was andres zu haben. (I: Mhm.) (.) Und, ähm, hab mich dann eigentlich sofort, äh, mit ihm da in Verbindung gesetzt und gesagt: „Ja, machen wa auf jeden Fall“ (A. 219–221).
10 Aus der Sequenz geht nicht eindeutig hervor, dass der Blog Outside-Office sowie die Mastermindgruppe in Zusammenhang stehen. Recherchen auf der Onlineplattform haben die Zusammengehörigkeit bestätigt. Aus Gründen der Anonymität wird an dieser Stelle die Originalquelle nicht angeführt.
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Wie das Beispiel veranschaulicht, erfährt Malte mit Hannes als treibende Kraft einen neuen Input. Dementsprechend wird Hannes erneut eine Broker-Funktion zuteil. Dieses Mal hinsichtlich Maltes geographischer Mobilität auf die Insel Bali (s. hierzu auch Abschn. 6.1.6).
6.1.3.5 Erster Austausch mit Digitalen Nomaden – Kennenlernen Elli Eine ähnliche Erfahrung wie im Austausch mit Hannes wiederholt sich für Malte kurze Zeit später während einer Begegnung mit Elli. Anders als der Kontakt zu Hannes basiert der Austausch mit Elli jedoch auf einem persönlichen Treffen in Auckland. Ihre erste Begegnung mit Elli beschreibt Malte wie folgt: M: „Ich glaub, ne andere Schlüsselbegegnung war dann die Elli, die ja auch jetzt hier nach Bali kommt, die hatt ich auch in (.)/ die hatt ich in Neuseeland persönlich getroffen. Die war/ die war auch viel in Neuseeland richtich/ Also die war auch als (.)/ Viel gereist is die in Neuseeland“ (A. 241).
Während des Treffens stellen die beiden schnell fest, dass sie nicht nur gemeinsame Interessen teilen, sondern auch auf die gleichen Recherchequellen zurückgreifen: M: „[U]nd dann irgendwie meinte sie dann: ‘Ja, und, was is so deine Morgenroutine?’ (I: lachen) Und ich/ ich kann/ Äh, wo ich merke: Krass, die liest ja die gleichen Blogs, irgendwie so die gleichen Sachen! (amüsiert) Und wo ich eben gemerkt hab: Krass, ähm (..), äh, ja, die is irgendwie genauso drauf, wie ich. (..) [Eintragung Elli in NWK]“ (A. 241–245).
Im Rahmen der Begegnung mit Elli erfährt Malte folglich eine weitere Bestätigung hinsichtlich seines sich entwickelnden Perspektivwechsels. Er erzählt weiter: M: „Und als ich dann die/ die Elli getroffn hab, hab ich irgendwie gemerkt: Krass! (.) Das is völlich anders. Das is irgendwie (.), ja, ne völlich andre Art (I: Mhm.) der/ der Kommunikation. Und es war auch irgendwie für mich (.)/ irgendwie auch so/ so ne Erleichterung, dass da/ dass/ dass ich nich irgendwie n bisschen spinne, oder dass ich irgendwie/ irgendwie da so n Rebell bin, sondern dass es auch andre Leute gibt, die das genauso sehn. Und dass es irgendwie (.), ja, einfach nur ne andere Art is, Dinge zu sehn und nich irgendwie (.), ja, so n paar Spinner online sind, die da irgendwie was/ äh, was/ was erzählen“ (A. 271–273).
Was bis hierhin auffällt ist, dass sowohl Hannes als auch Elli als Impulsgeber in Maltes Erzählverlauf auftreten. Trotz der bis dato kurzen Kontaktzeit leisten sie eine wichtige Unterstützungsfunktion.
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Abbildung 6.2 Maltes persönliches Netzwerk während Leben in Neuseeland
Mehrfach kommen Malte unter Reflexion seiner in Deutschland und Neuseeland gemachten Erfahrungen Zweifel an seiner Form der Lebensführung. Als Lösung tritt eine stärkere zeitliche – und damit auch geographische – Flexibilität in Erscheinung. Support, sich diesem Wunsch anzunähern, kommt dabei nicht von langjährigen Freunden, sondern von jüngst geknüpften Kontakten. Über schwache Beziehungen werden neue Ideen vermittelt. Hannes und Elli nehmen (u. a. aufgrund ihres Erfahrungshintergrundes) eine vermittelnde Funktion, also eine Broker-Position, als Zugang zum Thema Digitales Nomadentum für Malte ein.
6.1.4
Hub-zu-Hub Mobilität und persönliche Broker
Nach dem zweiwöchigen Aufenthalt in Deutschland kehrt Lilly nach Neuseeland zurück: „Meine Freundin ist dann nach zwei Wochen wieder zurückgeflogn nach Neuseeland, weil sie wieder arbeiten musste“ (A. 299). Malte begibt sich hingegen auf den Weg nach Spanien, um dort weitere Digitale Nomaden persönlich treffen
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zu können. Aus geographischer Perspektive ist dieser Schritt auch deshalb interessant, da sich dabei ein Handlungsmuster abzeichnet, welches sich im weiteren Interviewverlauf noch mehrfach wiederholen wird.
6.1.4.1 Workation in Tarifa/Spanien Nach Spanien begibt sich Malte nicht aufgrund der dortigen Landeskultur o. ä., sondern aus einem anderen Interesse: M: „Und ich war noch zwei Wochen in Spanien, in Tarifa. Und da war auch so ne, ich glaub, es hieß sogar Workation, wo einfach n paar/ oder, ja, der/ der Jonas, der auch relativ bekannt ist, da in der deutschen Szene, hatte n paar Leute/ oder hatte einfach gesagt: „Wollt ihr nich kommen, irgendwie, ich führ euch hier rum, sorg dafür, dass ihr n Platz zum Arbeiten habt und wir machen paar Tourn““ (A. 301).
Bei der beschriebenen Workation (s. auch Abschn. 5.3.2) handelt es sich folglich um ein Zusammentreffen von mehreren Personen (i. d. R. eine überschaubare Anzahl) an einem ausgewählten Ort, nämlich Tarifa, für einen temporären Zeitraum, um gemeinsam Freizeitaktivitäten unternehmen und in Gesellschaft arbeiten zu können. In diesem Zusammenhang bildet der Akteur Jonas in der Rolle des Initiators der Workation eine Broker-Position im Kontext von Maltes geographischem Mobilitätshandeln. Denn wie sich zeigt, bildet die Teilnahme an der Workation den eigentlichen Grund für Maltes Spanienreise. Weiter wird dabei deutlich, dass, trotz der informellen Organisationsweise, Jonas ein Vertrauensvorschuss entgegengebracht wird. Mit seinem Angebot scheint er den Nerv der Teilnehmer zu treffen11 .
6.1.4.2 Digitale Nomaden Konferenz (DNX) in Berlin/Deutschland Unmittelbar im Anschluss an seinen Aufenthalt in Tarifa besucht Malte die Digitale Nomaden Konferenz (DNX) in Berlin: „Und von Tarifa bin ich dann eben nochmal kurz zurück nach Deutschland zur DNX gegang“ (A. 321). Wie er die Konferenz erlebt, schildert er in der nachstehenden Sequenz. Den Auftakt bildet dabei eine Nachfrage von Bianca. Als Nebeneffekt erweist sich an dieser Frage-AntwortKonstellation insbesondere interessant, dass auch Bianca konkrete Kenntnisse über die Gestaltung der Konferenz zu haben scheint; andernfalls wäre ihr eine Frage in dieser Form nicht möglich gewesen: 11 Anhand der Narration von Malte lässt sich außerdem ableiten, dass Jonas ebenfalls an den Aktivitäten teilnimmt, also nicht wie der Organisator einer touristischen Reisegruppe oder ein Entsendungsbeauftragter von Unternehmensentsendeten außen vor bleibt. Jonas ist selbst Mitglied der Gruppe.
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
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B: „Mhm. (…) Hast du denn bei der DNX Workshops mitgemacht?“ M: „Nee. Ich hatte nur die, ähm, (.)/ Nur die/ die kleine Version, weil es ja doch relativ teuer war. Und ich das Gefühl hatte, die Workshops, das is vor allem für Leute, die grade ganz am Anfang stehn und noch n [lokal gebundenen] Job haben und jetzt mal wissn wollen, wie k/ geht das denn mit WordPress12 . […] Und das ist vielleicht auch n Grund, äh, (.) coole Leute bei der DNX, aber da sind viele Leute, die so n bisschen davon träumen, oder sagen: „Wär geil, eines Tages unterwegs zu sein und rum zu reisen.“Während die Leute, die wirklich sagen: „Ich komm nach Spanien für zwei Wochen“, die sind schon n bisschen weiter auf dem Weg. Und die sind in der Regel/ verdienen schon Geld unabhängig. Und, ähm (.) was nicht heißt, dass das irgendwie bessere Leute sind, aber (.) die vielleicht, wo man ähnlichere Probleme hat. Oder, äh, (.) die Herausforderung sich irgendwie besser/ besser decken und (.) ähm, ja, man deswegen n noch besseren Draht zu den Leuten hat“ (A. 326–327).
Auch diese Sequenz zeigt, dass Malte erneut einen geographischen Mobilitätsschritt in Orientierung an einem Veranstaltungsort eines Digitalen Nomaden-Events unternimmt. Darüber hinaus bildet sich ab, dass in gewisser Weise Abstufungen hinsichtlich des Mobilitätsgrades der dort anwesenden Personen zu existieren scheinen. Malte, der bereits über Kenntnisse im Bereich Onlinearbeit und Selbständigkeit verfügt, zählt dabei zu den erfahreneren Personen – so seine eigene Einschätzung. Personen, die über mehr Erfahrung als er selbst verfügen (wie bspw. Hannes, Elli oder Jonas), sind im Allgemeinen interessanter für Malte.
6.1.4.3 Gesamtbetrachtung:„DNs“,„Tarifa DNs“ und„DNX DNs“ Unter Reflexion seiner bis dato gemachten Erfahrungen und des neu gewonnenen Inputs nimmt Malte seine Netzwerkvisualisierung vor. Der entsprechende Ausschnitt ist in der nachstehenden Abbildung 6.3 aufgeführt: Die Anordnung der entsprechenden Symbole innerhalb der Netzwerkkarte kommentiert Malte wie folgt: M: „Äh, würd ich/ Also es wa/ es warn sehr/ sehr viele Leute, würd ich n bisschen weiter außerhalb [Beginn Eintragung DNX DNs in NWK] als die, ähm, (…)/ als die TarifaLeute [Ende Eintragung DNX DNs in NWK], weil es warn halt nur eins, zwei Tage und da wars halt so, man konnte mit wahnsinnich vieln Leuten n bisschen quatschen, aber (.) die Leute nicht so gut kennenlernen, wie in Tarifa, wo man zwei Wochen sich jeden Tag gesehn hatte“ (A. 325).
12 Web-Software.
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Abbildung 6.3 Ausschnitt aus Maltes persönlichem Netzwerk nach DNX-Besuch
Die Beziehungsintensität wird von Malte folglich über die jeweilige Kontaktdauer und der sich u. U. daraus entwickelnden Beziehungsbasis definiert. Seine gemachten Erfahrungen summiert er wie folgt: M: „Und da war ich eben zwei Wochen da in Südspanien. (.) Und da war im Grunde das Erlebnis, was ich mit der Elli hatte, war da irgendwie so verzehnfacht, weil da eben dann irgendwie zehn, 20 Leute warn, die alle genauso drauf warn […]“ (A. 303).
Und weiter: M: „Ja. Also das is auch was, was ich dann auch nach der Begegnung mit Elli auch HIER [auf Bali13 ] gemerkt hab, auch auf der DNX, (.) ähm, (.) dass man mit diesen andern Digitalen Nomaden/ dass ich mich wahnsinnich gut mit denen verstehe. Und auch Leute, die ich das erste Mal treffe, sofort das Gefühl hab, das sind irgendwie alte Freunde und man kann SOFORT sich was erzähln, und das is/ irgendwie is SOFORT so ne Connection da“ (A. 258).
Mit jeder neuen Begegnung scheinen sich Maltes Erfahrungen folglich zu potenzieren; er erfährt insofern Bestätigung für seinen Wunsch nach mehr (Orts-)Flexibilität, als dass er sich nunmehr nicht alleine mit seinen Gedanken auseinandersetzen muss. Seine Aufenthalte an den von ihm beschriebenen Orten – auch als Digitale Nomaden-Hubs bezeichnet (s. hierzu Ausführlicheres in Abschn. 7.2) – helfen
13 Bezugnehmend
auf Aufenthaltsort während des Interviews.
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
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ihm hierbei insoweit, als dass er keine aufwendigen Einzelverabredungen vornehmen muss. Denn dort trifft Malte jeweils auf eine Vielzahl von Digitalen Nomaden. So entsteht bspw. auch die Begegnung mit Lena durch einen Zufall während seines Konferenzbesuchs: „Vielleicht auch eine Person, die ich auch hier noch reinschreiben würde [Eintragung Lena in NWK 14 ], die ich auch (..) ähm/ auch auf der DNX kennengelernt hatte, mit der ich auch eigentlich viel zu tun hatte und oft telefoniert hatte. […] Jetzt auch noch. Jetzt auch noch“ (A. 586 u. 590). Resümierend über seine bis dato gemachten Erfahrungen erzählt Malte: M: „Und das is auch was, was mir in/ Oder, was ich dann gemerkt hab, was mir in Auckland irgendwie gefehlt hat. Da gabs zwar irgendwie nette Leute, mit denen man mal n Bierchen trink war, (.) aber die hattn das nicht. Und dann/ Des (.)/ Ich hatte nich so n Draht zu denen“ (A. 269).
Folglich sind nicht nur geographische und zeitliche Flexibilität wichtige Faktoren für Maltes Zufriedenheitsgefühl (s. Abschn. 6.1.3), sondern auch der Kontakt zu Gleichgesinnten. Eine Kombination dieser drei Aspekte spiegelt sich auch in Maltes weiteren Mobilitätsschritten wider (s. Abschn. 6.1.6 u. 6.1.7.1). Alle für Malte relevanten Informationen erhält er von Personen, die zuvor nicht zu seinem Freundeskreis zählten. Bestätigung für seine Denkweise erfährt er zunächst im Dialog mit Einzelpersonen (Hannes und Elli) und anschließend in (scheinbar) nunmehr jedem Austausch mit einem Gleichgesinnten. Durch den Aufenthalt an Orten mit einer breiten Masse von lokal anwesenden Gleichgesinnten, sog. Digitalen Nomaden-Hubs (bspw. Workation, DNX-Konferenz), bietet sich die Möglichkeit auf engem Raum eine Vielzahl von Digitalen Nomaden anzutreffen. Es entsteht jeweils ein Kontaktraum unter Gleichgesinnten; auch Aktivitätsfoci (vgl. Feld 1981) genannt. Kopräsenz zu anderen mobilen Onlinearbeitern kann hergestellt werden.
14 Als auffällig erweist sich an Maltes Visualisierungsvorgehen, dass er seine langjährige Freundin aus Hamburg (s. Abschn. 6.1.3.3) nicht in seine NWK einträgt. Diese steht symbolisch für eine gemachte Erfahrung. Jüngst geknüpften Kontakten, wie Lena oder Mareike (s. Abbildung 6.2) weist er hingegen ein Symbol im Verlauf seiner Visualisierung zu. Dies könnte ein Hinweis für seine Relevanzsetzung hinsichtlich wichtiger Personen im Kontext seiner Mobilität sein.
160
6.1.5
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Transformation von Maltes persönlichem Netzwerk (Teil 2)
Basierend auf den voranstehend beschriebenen Erfahrungen und sozialen Begegnungen fasst Malte den Entschluss, seine (weitestgehend) ortsgebundene Lebensführung in Neuseeland aufzugeben. Für dessen tatsächliche Umsetzung bedarf es jedoch zunächst der Herstellung einer strukturalen Veränderung innerhalb seines bestehenden Netzwerks.
6.1.5.1 Auflösung ortsbindender Beziehung: Trennung von Partnerin Zurück in Neuseeland (vgl. A. 329) unterrichtet Malte seine damalige Freundin über den von ihm gehegten Wunsch. Das daran anknüpfende Gespräch schildert Malte folgendermaßen: M: „Und jetzt kommt natürlich der unangenehme Part der Geschichte. Irgendwo passt es hier jetzt alles nich mehr so zusammen. Äh, hatte dann, tja/ Mit meiner Freundin, wir haben (.) sehr lang gesprochn, sehr lang überlegt: Wie gehts jetzt weiter? Was könn wa machen? – Und sind dann zu dem Schluss gekomm: Sie is superglücklich in Auckland, hat da ihren Traumjob gefundn, will da nicht weg. (..) ähm, (.) dass das nicht mehr, äh/ Dass das nicht mehr unter einen Hut zu bringen is. Und haben dann – sehr friedlich, sehr freundlich – aber die Entscheidung getroffn, (.) äh, dass wir uns nur gegenseitig kaputt machen, wenn wa probieren, das krampfhaft unter einen Hut zu bringn. Und ich will dann immer irgendwohin, und ich will dann nach Bali, und sie is dann alleine, und ich will dann gern noch länger in Bali bleibn.(.) und haben dann die Entscheidung getroffn, dass, ähm/ Dass jetzt e/ eben jeder sein Ding machen muss und, äh, wir uns trennen müssn“ (A. 329).
Deutlich wird hier, dass erst nach der Trennung von seiner ortsgebundenen Freundin und Beendigung der fünfjährigen Partnerschaft (vgl. A. 335) eine vollständig ortsflexible Lebensführung für Malte möglich wird. Durch die Auflösung des Beziehungsverhältnisses zu seiner damaligen Bezugsperson wird – aus strukturaler Perspektive – die Voraussetzung für eine ortsflexible Lebensführung geschaffen. Weder verpflichtende Rücksichtsnahmen noch zeitliche Limitierung hindern ihn nun an seinem Vorhaben. Kurzerhand entscheidet sich Malte für einen Landeswechsel nach Bali: M: „Und dann hab ich (…)/ Ja, im Grunde war ich noch zwei Wochen in Neusee/ äh, Also für mich war dann klar, o/ ähm, es gibt keinen Grund/ es gibt keinen großen Grund für mich, noch groß in Neuseeland zu bleiben […] Rucksack gepackt – und bin
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dann hier nach Bali gekomm vor (.), ja, vor zwei Monaten. (…) Genau, ja, knapp zwei Monate jetzt [Repositionierung Lilly in NWK]“ (A. 329).
6.1.5.2 Beziehungsintensivierung zu jüngst geknüpften Kontakten Auch wenn diese geographische Mobilitätsentscheidung von Malte zunächst als spontan oder individuell erscheint, wird bei Betrachtung seines weiteren bestehenden Netzwerks deutlich, dass er auf Bali relevante Unterstützung erhält. Hierbei handelt es sich um seine jüngst geknüpften Kontakte: M: „[M]it der/ mit der Elli hatt ich viel Gespräche über das Thema zu der Zeit. (..) Mit ner, ähm, (..)/ Mit dem Hannes natürlich auch. (I: Mhm.) Der Hannes war vor einigen Jahren eigentlich in ner ähnlichen Situation. (I: Mhm.) (..) Ähm. (…) Ja, (.) dass er eigentlich auch in ner/ in ner Beziehung war, d/ wo eben die Vorstellungen unterschiedlich warn und er dann irgendwie irgendwann diese Entscheidung getroffen hat. Und da hats mir auch sehr geholfn, von ihm zu hörn, dass für ihn das, das Richtige war und dass das für ihn funktioniert hat. (I: Mhm.) (..) und (..) ähm, ja, dass er auch ne Scheißangst hatte am Anfang und ziemlich schnell gemerkt hatte, dass das richtich ist und dass eigentlich ja, vielleicht diese Leute (.) dann auch [Repositionierung Hannes (1) und Elli (2) auf Linie innersten Kreis] irgendwie für mich wichtich wurdn“ (A. 396–403).
Was sich hier andeutet, ist, dass Hannes und Elli mit Malte nicht nur ein Interesse an geographischer Mobilität und Onlinearbeit teilen, sondern aus eigener Erfahrung auch ein Verständnis für damit in Zusammenhang stehenden (Lebens-) Entscheidungen hegen (in diesem Fall insb. Hannes). Dadurch entsteht eine Unterstützungsmöglichkeit, wie sie von langjährigen immobilen Freunden nicht ausgeht bzw. aus Mangel an Erfahrung nicht ausgehen kann. Im Zuge dieser Ereignisse erfährt folglich auch Maltes persönliches Netzwerk eine strukturale Veränderung. Diese kann unter Abbildung 6.4 verfolgt werden.
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Abbildung 6.4 Transformation von Maltes persönlichem Netzwerk
Weiter zeigen Maltes Ausführungen, dass einem anderen jüngst geknüpften Kontakt, Mareike, eine ähnliche Funktion wie Elli und Hannes zuteilwird (s. Abbildung 6.6). Auch in diesem Beziehungskontext wiederholt sich das Muster gemeinsam geteilter Interessen und (Trennungs-)Erfahrungen: M: „Auch irgendwie noch mal eine (..) wichtige, ähm, (.) Freundin [Eintragung Mareike in NWK], die ich jetzt in/ ähm, (.) in Tarifa kennengelernt hatte, mit der hab ich mich jetzt auch irgendwie viel ausgetauscht, jetzt in dieser Zeit. (I: Mhm.) (.) Ähm. (..) ja, die eigentlich auch ähnliche Erfahrungen hatte. Wo irgendwie grade Beziehung und Freiheit und dieses Thema. Und mir da auch irgendwie echt (.)/ ja, echt geholfen hat. Und wo irgendwie echt der Austausch wertvoll war“ (A. 463–465).
Die praktischen Voraussetzungen, eine ortsflexible Lebensführung zu führen, hatte Malte bereits nach seinem Studium erfüllt. Realisiert wird diese erst unter Verwirklichung zweier weiterer Aspekte: (1) Einer Intensivierung der jüngst geknüpften Beziehungen zu Gleichgesinnten (unabhängig von deren Aufenthaltsort) sowie (2) der Trennung von seiner lokal gebundenen Partnerin. Im Kontext dieser strukturalen Veränderungen stellt Malte geographische Mobilität her.
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6.1.6
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Ist-Situation: Maltes Aufenthalt auf Bali und Leben als Digitaler Nomade
Unmittelbar nach seiner Ankunft auf Bali zieht Malte in ein sogenanntes Coworkingund Coliving-Haus ein. Wie die Begriffe bereits verraten, werden unter diesem Konzept nicht nur gemeinsam nutzbare Arbeitsplätze (vgl. Merkel & Oppen 2013), sondern auch kollektiv nutzbare Wohnräume angeboten. Mit dieser Entscheidung greift er auf ein ihm (in Ansätzen) bekanntes Handlungsmuster zurück (s. Abschn. 6.1.4).
6.1.6.1 Aufenthalt im balinesischen Coliving-Haus CoCoBa und Positionierung als Digitaler Nomade Mit dem Mobilitätsschritt von Neuseeland nach Bali geht für Malte nicht nur eine geographische Veränderung, sondern auch eine neue Selbstbeschreibung einher. Basierend auf der neu errungenen Flexibilitätsmöglichkeit erläutert er: M: „Und, ja, und seitdem würd ich mich eigentlich als Digitalen Nomaden bezeichnen und bin dann eben hier nach Bali gekomm und hab für die ersten Monate (..) ähm, mich ei/ mich an so nem Coliving-Ort eingemietet. CoCoBa heißt das“ (A. 337).
Mit dem Einzug in das benannte Coworking- und Colving-Haus, begibt sich Malte in ein durch andere Digitalen Nomaden geprägtes soziales Umfeld – ähnlich wie zuvor während seines Aufenthalts in Tarifa (s. Abschn. 6.1.4.1). Malte erzählt: „Und da gibts eben/ da arbeiten n paar Startups. (I: Mhm.) Und es gibt ja n paar Zimmer, die sie so vermieten an eben Leute, die rum reisen, an Digitale Nomaden“ (A. 339–341). Eine Auseinandersetzung mit der (für ihn fremden) Landeskultur wird dabei nicht zwingend notwendig. Darüber hinaus bietet ihm der Hub optimale Bedingungen, die weit über die Bereitstellung von Wohn- und Arbeitsräumen hinausreichen: M: „[I]ch zahle die Nacht 40 Euro – es is aller/ allerdings, und das is so n bisschen das andere Coole, inklusive aller Mahlzeiten. Also es gibt irgendwie Frühstück, Mittag, Abendessen und irgendwie (.) zwischen den Mahlzei/ oder vormittags und nachmittags kommt noch mal jemand rum und bringt so n kleinen Snack irgendwie an den Arbeitsplatz. (.) Und auch Wäschewaschen is auch mit drin. Also man kriegt dann so n Sack, tut da die Sachen rein, dann wird das gewaschen, man kriegts gewaschen zurück […]“ (A. 343).
Mit dem beschriebenen Konzept wird es den Bewohnern möglich, ihre Arbeit voll und ganz in den Mittelpunkt zu stellen. Resümierend erläutert Malte: „Das heißt, (.) man muss/ Das einzige, was man macht: Entweder, man arbeitet an seinen Projekten,
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oder man unternimmt was, was einem Spaß macht“ (A. 343). So wird Effektivität – sowohl hinsichtlich der Arbeits- als auch Freizeitaktivitäten – zum zentralen Aspekt der Tagesgestaltung. Für die tatsächliche Umsetzung bedeutet dies, dass (Arbeits-) Routinen – trotz unbekanntem Umfeld – in kürzester Zeit hergestellt, Komplexität reduziert und die eigene Energie optimal kanalisiert werden kann. Über die Relevanz eines solchen Zustands sind sich Malte, Bianca und Dirk einig. Dies zeigt bspw. der folgende Dialog zwischen den Dreien: M: „Das is/ is bescheuert, aber (.) Entscheiden, wo man heut/ Oder selbst wenn man jetzt irgendwie, in/ in Bali überall kann man günstich Essen gehen, entscheiden, wo man heute Essen geht und was man essen will.“ D: „Eine unsrer größten Aufgaben die letzten zwei Wochen.“ M: „Also i/ das/ das klingt n bisschen bescheuert/ an/ v/ von/“ B: „Nee, überhaupt nich.“ M: „für jemanden, der irgendwie irgendwo in Deutschland oder in Australien wohnt, aber (..)“ D,B: „(lachen)“ M: „Ich hab für mich auch gemerkt, E/ Entscheidungen sind anstrengend. Und je weniger Entscheidungen man über irgendwelche unwichtigen Sachen treffen muss wie: Was ess ich denn heute? Was koch ich denn heute? Was zieh ich denn heute an? – (.) desto mehr mentale Energie hat man für wichtige Entscheidungen übrig (lachend).“ D: „Ja. Ja.“ M: „Ähm, und so fand ich das halt recht cool, dass man irgendwie da fokussiert arbeiten konnte oder was Tolles unternehmen konnte, aber sich eben sonst um nichts/ um nichts da kümmern musste“ (A. 343–351).
6.1.6.2 Soziale Eingebundenheit auf Bali und die Rolle des Coliving-Hauses CoCoBa als Digitaler Nomaden-Hub Neben der konzeptionell angebotenen Infrastruktur bietet der Coliving-Space CoCoBa für Malte zudem vielzählige Möglichkeiten, um mit anderen Gleichgesinnten in Kontakt zu treten. Dieser Umstand kommt Malte unmittelbar nach seiner Ankunft zugute: M: „Und das war halt ne super Sache, weil dadurch war ich sofort irgendwie in nem sozialen Umfeld von Leuten, die wieder so ticken wie ich. Und man kannt irgendwie direkt Leute, die einem auch irgendwie helfen könn: „Ja, hier, wie läuft das denn?“ Einer hat mir gezeigt, wie man mit m Scooter fahrn kann und (.) ähm, (.) jemand hat
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mir ne SIM-Karte besorgt. Und irgendwie, das war super, um n Anfang hier zu haben, direkt Leute kennenzulernen, irgendwie was zu unternehmen“ (A. 339–341).
Wie die Sequenz zeigt, erleichtert die durch die Bewohner des Hauses (indirekt) bereitgestellte Unterstützung Malte den alltagspraktischen Start auf Bali ungemein. Langwierige Bemühungen, neue Kontakte zu knüpfen, entfallen. Stattdessen findet Malte sich in einem sozialen Umfeld von Personen wieder, die „so ticken“ wie er, und die zuvor gemachten Erfahrungen, wie er sie zuvor bereits bei der Begegnung mit Elli (s. Abschn. 6.1.3.5) und während seiner Zeit in Tarifa (s. Abschn. 6.1.4.1) erlebte, scheinen sich zu wiederholen; die für Neuseeland beschriebene Lücke (s. Abschn. 6.1.4.3) wird gefüllt. Auch in einer der Mitarbeiterinnen des ColivingHauses, Arti, findet Malte eine Ansprechpartnerin. Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang insbesondere, dass es sich hierbei um eine Indonesierin15 handelt; den einzigen Kontakt den Malte zu einer einheimischen Person unterhält bzw. erwähnt. Ihre Beziehung skizziert Malte wie folgt: M: „Und irgendwie eine [Arti], die da im (..)/ im/ im CoCoBa arbeitet und so n bisschen [Eintragung Citro in NWK] (..)/ und so n bisschen sich um die Gäste kümmert. (..) Die auch jetzt irgendwie zu ner superguten Freundin geworden ist und mit der ich mich dann auch oft ausgetauscht hatte. Und irgendwie auch über die Trennung gesprochn hab und, äh, [Eintragung Arti in NWK] (..) ja, das war irgendwie auch/ Also wo ich dann irgendwie gemerkt hab: Krass, irgendwie, was für coole Leute ich hier kennenlerne und was für irgendwie coole Beziehungen ich hier aufbaue. (.) Und so, dass die vielleicht irgendwie jetzt auch noch mal/ ja (I: Mhm.) so richtich wichtige Leute sind“ (A. 459–461).
Weiter bildet sich entlang von Maltes Narration ab, dass der Space CoCoBa als zentraler Ausgangspunkt für seine Aktivitäten auf Bali fungiert. Bspw. lernt er dort den Bewohner Citro kennen: M: „Dann auch n paar Leute, die ich jetzt im CoCoBa kennengelernt hab irgendwie. Einer [Citro], der/ der auch am rum reisen ist, aus Polen, der jetzt, ähm, (..) äh, jetzt grad in Singapur ist, aber dann auch wieder nach Bali zurückkommt. Mit dem hab ich mich super verstanden und dann viel unternomm. Vielleicht will ich mit dem auch noch mal im, äh, (…)/ im/ (.) im/ im August irgendwie noch mal was unternehm“ (A. 457). 15 Diese Information ist dem quantitativen Kurzfragebogen entnommen. In seiner Narration nimmt Malte keinen Verweis auf die Nationalität der Mitarbeiterin vor. Dies kann dahingehend interpretiert werden, als dass dies für Malte keine Rolle spielt. Angemerkt werden kann jedoch, dass in meinen Beobachtungen während des Feldaufenthalts Coworking Space-ManagerInnen stets eine Ausbildung im Ausland genossen haben und über fließende Englischkenntnisse verfügen. Verallgemeinerbar ist diese Beobachtung nicht.
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Ein anderes Beispiel bildet eine Verabredung über ein soziales Online-Netzwerk mit Indah. Dort schreibt diese: „[I]ch bin hier auf Bali, ist noch jemand da?“ (A. 474). Indah wohnt zwar nicht im CoCoBa-Haus, jedoch in derselben Stadt wie Malte. Kurzerhand vereinbaren die beiden ein Treffen: „Wir ham dann so ne Roller-Tour gemacht […] durch die Reisfelder, dann irgendwie da was getrunkn – also war n supergeiler Tagestrip“ (A. 474). Darüber hinaus bemerken die beiden, dass sie eine ähnliche Beziehungsgeschichte teilen: M: „Und (.) die [Indah] war hier in/ die hatte auch irgendwie drei Monate ne Tour gemacht. (I: Mhm.) (..) und ist dann wieder zurück gekomm, nach Deutschland. (..) Und (.) hat sich dann in Deutschland relativ schnell von ihrem Freund getrennt. (.) ich weiß nicht genau, wa/ was der Grund war, aber war dann in der gleichen Situation, in der ich vor n paar Wochen war. (.) Und da wars dann ganz lustich (lachend). Da wars dann so, dass ich dann in/ Oder zum einen hab ich gemerkt: irgendwie/ irgendwie hats da so n bisschen so n System, oder irgendwie ist es oft schwierich, offenbar, wenn man/ wenn der eine Partner das entdeckt und der andere nicht so. Und da war ich dann eben in der Situation, dass ich sagen konnte: (.) „Ja, ich weiß, is scheiße, aber für mich wars die richtige Entscheidung und, ähm, für dich wirds ziemlich sicher in n paar Monaten auch die richtige Entscheidung sein.“ Und das war irgendwie (.) ja, ge/ (.) / auch noch mal so n Schlüsselerlebnis. Genau, dass irgendwie […] Ja, sie zu dem Zeitpunkt mir gezeigt hat: Krass, es war die richtige Entscheidung und ich es jetzt sozusagen ihr wieder sagen kann. (I: Mhm.) Ähm, (.) ja, für mich wars (.)/ für mich wars letztendlich auch das Richtige […]“ (A. 483–484 u. 486–488).
Malte erfährt durch den Austausch mit Indah demnach eine Reflexion seiner eigenen Situation sowie eine Bestätigung für seine eigene Mobilitätsentscheidung. Möglich wird dies nur im Austausch mit Gleichgesinnten – (immobile) Freunde aus der Vergangenheit können dies nicht leisten. Interessant ist an dieser Sequenz außerdem, dass nun Malte eine unterstützungsgebende Rolle einnimmt; ist in dieser Beziehungskonstellation doch er der Erfahrenere. Resümierend fasst Malte den erlebten Tag zusammen: M: „[D]as war n supercooler Trip. Und da hatt ich, als ich dann am Abend wieder zurück war im CoCoBa, und so das so verarbeitet hab, diesen Trip – wo ich dann zum ersten Mal dachte: (.) Krass (.) du hast die richtige Entscheidung getroffn. Das is so n geilen Tag – den hätts in Auckland so nicht gegebn. (I: Mhm.) Das ist genau das, (..) [Eintragung Indah in NWK] ähm, was du willst […]“ (A. 478–480).
Diese Aussage kann symbolisch für die Realisierung von Maltes Wunsch, eine ortsflexible Lebensführung zu führen, gedeutet werden – sowohl aus geographischer als auch von ihm empfundener Perspektive.
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
167
6.1.6.3 CoCoBa auf Bali als ein Zuhause von Vielen (?) Wie zuvor angesprochen, wählt Malte mit dem Coliving-Haus CoCoBa einen Aufenthaltsort, an welchem eine Vielzahl anderer Digitaler Nomaden anzutreffen sind. Als wie zentral er dieses Kriterium für seinen Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätsschritt empfindet, wird nochmals unter folgender Sequenz besonders deutlich: M: „Ich würd nie/ nicht sagen, dass jetzt Bali schon immer mein großer Traum war, sondern das ist irgendwie einer der Orte, die man irgendwie immer hört in diese Digitale Nomaden-Kontext. Auch grade hier mit diesem Hubud, wo man immer die Bilder sieht. (..) Und, ja, insofern ist es ziemlich cool eigentlich, jetzt mal echt wirklich hier im/ im Epizentrum (lachen) der/ der Digitalen Nomaden in Bali zu sein. (..) Ähm. (..) Ja, so dass Bali gar nicht unbedingt der große Traum war, aber das irgendwie so das war, wo ich gesagt hab, da will ich irgendwie am ehesten mal hin“ (A. 384).
Deutlich wird hier, dass nicht die Insel als solche, sondern die dortige Anwesenheit Digitaler Nomaden, Maltes Mobilitätsmotivation leitet. Anknüpfend an das Thema Aufenthaltsort(e) geht aus seiner Erzählung außerdem ein Reflexionsstrang hervor, welcher die Frage nach (s)einem Zuhause aufwirft: M: „Ähm, was ich halt auch ganz schön fand, so dieses/ grade das Thema, kein Zuhause mehr zu haben und irgendwie (.), wo Zuhause is – da sind jetzt Leute, die sind da mehr oder weniger n paar Jahre und ich weiß, (.) ich könnte irgendwann mal dahin zurückkommen und da sind Leute, die ich kenne noch von jetzt. Also das is im Moment am ehesten (.)/ am ehesten das Zuhause, was ich als Zuhause bezeichnen würde. (.) Und deswegen ich, ja, (.) auch irgendwie Institution16 . (I: Mhm.) Und, würd ich vielleicht sogar hier auf die Linie setzen, (.) äh, die CoCoBa-Leute [Eintragung CoCoBa Leute in NWK]“ (A. 369–371).
An die Stelle einer unilokalen Wohnung als Ort des Zuhauses, wie Malte sie zuvor bspw. mit seiner Partnerin bewohnte, tritt ein (in Zukunft) evtl. temporär aufzusuchender und Malte mittlerweile bekannter Ort. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine im traditionellen Sinn verstandene Wohnunterkunft, sondern – wie im Beispiel benannt – um ein Coliving-Haus. Ausschlaggebend für die beschriebene Wahl sind dabei die vor Ort (scheinbar längerfristig) anwesenden (Einzel-)Personen. Mit Blick in die Zukunft schätzt Malte sein Mobilitätshandeln wie folgt ein: „[S]o n paar Orte auf der Welt [zu] hab[en], wo ich das Gefühl hab: Da fühl ich mich Zuhause, da weiß ich wies läuft, da weiß ich, wo es das leckre Essen gibt (lachend). Und da kenn ich n paar Leute. (I: Mhm.) (..) Ja, Bali hat durchaus Potential zu einem dieser Orte 16 Bezugnahme
auf VennMaker-Symbolbeschriftung.
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6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
zu werden. (..) Tarifa is n anderer“ (A. 533–535). Wird die von Malte beschriebene Strategie tatsächlich umgesetzt, erscheint interessant, dass Malte auf diese Weise erneut eine Form von Routine herstellen könnte – ein Aspekt, von welchem er sich zuvor zu lösen versuchte (s. Abschn. 6.1.3.1 u. 6.1.3.2). Ein wesentlicher Unterschied ist dabei jedoch, dass Malte jederzeit seinen aktuellen Aufenthaltsort verlassen kann (s. hierzu Ausführlicheres in Abschn. 7.4). Der Aufenthalt an einem Digitalen Nomaden-Hub, in diesem Fall der Coworkingund Coliving- Ort CoCoBa, bietet Malte ein struktur- und routinestiftendes Wohnund Arbeitsumfeld. Komplexität in einem für ihn fremden Land wird reduziert. Die Anwesenheit einer Vielzahl Digitaler Nomaden ermöglicht die Herstellung von Kopräsenz zu einem sozialen Umfeld von Gleichgesinnten. Durch diese erfährt Malte Bestätigung und Unterstützung gleichermaßen.
6.1.7
Zukunftsperspektive
Zum Abschluss des Interviews richtet Malte seinen Blick in die Zukunft. Dabei fällt auf, dass sich die zuvor identifizierten Handlungsmuster zu wiederholen scheinen.
6.1.7.1 Mobilität zwischen Bekanntem und Unbekanntem An die zuvor skizzierte Vorstellung, im Kontext geographischer Mobilität an bekannte Orte zurückzukehren (s. Abschn. 6.1.6.3), knüpft Malte auch in seiner Zukunftsbeschreibung an: M: „Ich hab gesagt, ich mach jetzt erst mal/ Erst mal hab ich das Gefühl, ich muss mich bewegen und das mach ich, solang wies mir gefällt und wenn ich merke, jetzt möcht ich mal wieder n bisschen langsamer, oder jetzt möcht ich mal irgendwohin zurück, wo ich schon mal war, dann mach ich das“ (A. 531).
Anders als während seines zweiwöchigen Besuchs in Deutschland (s. Abschn. 6.1.3.3) sowie seiner Zeit in Neuseeland (s. Abschn. 6.1.5.1), ist es ihm in diesem Zusammenhang jedoch möglich, selbstbestimmt die jeweilige Dauer seines Aufenthalts (entsprechend gesetzlicher Einreiseregelungen o. ä.) festzulegen. Aufenthaltsdauer und -ort sind wählbar. Diese Vorstellung sieht Malte nicht nur für seine eigene Zufriedenheit als relevant, sondern bewertet diese zugleich als ein zentrales Charakteristikum Digitalen Nomadentums:
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
169
M: „Das vielleicht auch so als/ als andere (..)/ als andere Idee, dass Digitale Nomaden nicht unbedingt/ oder für mich nicht unbedingt heißen muss, dass man immer wahnsinnich exotisch und wahnsinnich weit weg, wahnsinnich schnell unterwegs sein muss, sondern dass es eben auch heißen kann (..), ähm, ich kann auch einfach mal alle Leute besuchn, die ich schon immer mal besuchn wollte, aber immer viel zu beschäftigt war aus, (.)/ womit eigentlich, weiß ich auch nicht, aber es irgendwie nicht hingekriegt hab, weil ich an einen Ort gebunden war“ (A. 295).
Interessant ist an dieser Sequenz insbesondere, dass sich für Malte als Digitaler Nomade Möglichkeiten zu ergeben scheinen, welche er zuvor vermisste. Während er bspw. seine Freundin in Hamburg während eines zeitlich limitierten Aufenthalts nicht sehen konnte (s. Abschn. 6.1.3.3), scheint dies in Zukunft anders zu sein. Bspw. plant er bereits, seinen Bruder während dessen Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ) in Peru zu besuchen (vgl. A. 416); eine Option, die ihm während seiner ortsgebundenen Lebensführung nicht als realistisch erschien: „Und da dacht ich auch: Wär schon cool, nach Südamerika will ich auch mal, den mal besuchen. Ja, aber ich häng hier in Auckland. Und jetzt gibt es schon die grobe Planung, dass ich ihn irgendwie gegen Ende des Jahres, Anfang nächsten Jahres, da unten besuchen komme“ (A. 418). Das Wiedersehen von Familienmitgliedern wird so in die mobile Lebensführung integriert. Darüber hinaus werden in diesem Zusammenhang alte Freunde für ein potentielles Wiedersehen interessant: „[J]etzt, wo ich wieder richtich unterwegs bin/ (I: Mhm.) hab ich auch wieder an die Leute [deuten auf Hendrik, Phil, Laura und Nina in NWK] gedacht und hab auch überlegt, ob ich den Hendrik nich noch mal, äh, (.)/ nich noch mal anschreiben soll, was er denn so macht […]“ (A. 132– 134). Auffällig erscheint an diesem Zitat, dass Malte erst durch die Gegebenheit der eigenen errungenen Ortsflexibilität ein Wiedersehen in Betracht zieht. Vermutlich u. a. deshalb, da ein persönliches Treffen nun als umsetzbar erscheint.
6.1.7.2 Digitale Nomaden-Kreuzfahrt als mobiler Hub Weiter blickt Malte auf einen künftigen zu besuchenden, ihm bis dato unbekannten Ort – ein Digitales Nomaden-Kreuzfahrtschiff. Da es sich dabei um eine zehntägige (vgl. A. 443) Atlantiküberquerung handelt, kann nicht von einem lokal verankerten Ort, stattdessen jedoch von einem mobilen Digitalen Nomaden-Hub, gesprochen werden. Malte erzählt: M: „Ja. N bisschen für die Planung in der Zukunft. Ich werd von Nov/ im November von Gran Canaria nach Brasilien mit nem/ mit so nem Cruise/ wie heißt das, Cruiseship/ Wie heißt das denn?“ D: „Kreuzfahrtsschiff.“
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6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
M: „Mit so a Kreuzfahrtsschiff. Mit so nem/ (lachen) Mit so nem“ D: „Das ist so ne geile Sache (lachend)“ M: „Kreuzfahrtsschiff, äh, nach Brasilien fahrn. Und das ist eben one/“ D: „(lachen)“ M: „Das ist eben/ Also ich wäre nie auf die // Idee/ Das war noch/“ B: „(lachen)“ M: „Es war noch nie mein Traum, mit nem Kreuzfahrtsschiff zu fahrn, ehrlich gesagt. // Aber/“ D: „Das hat der Jonas aus Tarifa/ ins Leben gerufn“ M: „Das hat auch der Jonas irgendwie/ irgendwie genau hat der auch irgendwie ins Leben gerufn. Also genau. Genau“ […] Also, der Hintergrund ist der: Das is n Oneway-Cruise […] Weil das Schiff eben im Sommer war das in Europa unterwegs und dann wirds zu kalt in Europa und dann isses irgendwie in Südamerika unterwegs. (..) Und deswegn muss das da runter geschafft werden und damit das eben nicht leer darunter fährt, verkaufen die n paar billige Tickets und man kann eben da runter fahrn. Für Digitale Nomaden ist das halt super, weil die sagen dann: „Ja, dann bleiben wa/ bleib ich halt eh n paar // Monate in Südamerika“ (A. 420–430, 432 u. 436).
In diesem Beispiel zeigt sich, dass erneut dem Akteur Jonas eine zentrale Rolle zuteilwird. Ähnlich wie bereits während Maltes Aufenthalt in Tarifa (s. Abschn. 6.1.4.1) nimmt Jonas auch im Falle der Kreuzfahrt eine organisatorische Funktion ein. In diesem Sinne wirkt er erneut als Broker im Zusammenhang mit Maltes geographischer Mobilität. Weiter erzählt er: M: „Und, also ich weiß nicht genau, wie der aktuelle Stand ist, aber in der FacebookGruppe haben, glaub ich, aktuell 120 Digitale Nomaden gesagt, sie sind auf diesem Schiff (lachend). Und dass das, glaub ich, auch ne richtich coole Zeit sein wird. Und dann BIN ich eben in Südamerika“ (A. 441).
Der Aufenthalt auf dem besagten Kreuzfahrtschiff bedeutet für Malte folglich (erneut), unmittelbar in ein soziales Umfeld von Digitalen Nomaden eingebunden zu sein. So kann er eine ähnliche soziale Situation, wie bereits zuvor in Spanien (s. Abschn. 6.1.4.1) oder während seines Aufenthaltes im Coliving-Haus CoCoBa (s. Abschn. 6.1.6) herstellen. Darüber hinaus wiederholt sich das Muster, dass nicht der Ort bzw. in diesem Fall das mobile Kreuzfahrtschiff als Ort im Vordergrund seiner Argumentation steht, sondern die jeweils dort anwesenden Digitalen Nomaden. Denn wie Malte selbst sagt, war es noch „nie“ sein „Traum“, mit einem Kreuzfahrt Schiff zu fahren; ähnlich wie er zuvor angab, Bali sei nicht sein „großer
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
171
Traum“ (A. 348) (s. Abschn. 6.1.6.3) gewesen. Offen bleibt dabei auch am Ende des Interviews, was Malte mit seiner eingangs formulierten Aussage nach seiner Studienreise: „Das will ich irgendwie (.)/ Ja, so Reisen, im Sinne von n andres Land richtich erleben“ (A. 6–8) (s. Abschn. 6.1.2.1) meint; erlebte er ein anderes Land bislang doch stets im Kontext von Aufenthalten an Digitalen Nomaden-Hubs17 . Dem Prinzip, Kopräsenz zu anderen Digitalen Nomaden herzustellen, scheint Malte auch in Zukunft folgen zu wollen. Erfahrene Mobile fungieren dabei weiterhin als Broker. Dementsprechend stellt sich die Frage, inwiefern Maltes Mobilitätshandeln als selbstbestimmt bewertet werden kann. Die Möglichkeit, einen Ort jederzeit zu verlassen, bleibt jedoch bestehen.
6.1.8
Zusammenfassung Fall Malte
Die Fallrekonstruktion von Malte wurde exemplarisch für die Vorstellung des Mobilitätshandlungsmodus I ausgewählt. Es wurde ein (Mobilitäts)Handeln identifiziert, welches zunächst durch ein zunehmendes Interesse am Thema Digitales Nomadentum und schließlich durch ein sukzessives Hineinwachsen in ein Leben als Digitaler Nomade – wie Malte sich selbst benennt – gekennzeichnet ist. Stellvertretend für diesen Verlauf wurde folgende Schlüsselsequenz eruiert: „[S]eitdem würd ich mich eigentlich als Digitalen Nomaden bezeichnen“ (A. 337). Die Formulierung „seitdem“, verweist dabei einerseits auf den prozesshaften Charakter seiner Mobilitätsgeschichte und markiert andererseits einen Zeitpunkt, der für eine Veränderung seiner Lebenssituation steht – so meine Lesart. Unterstützungserfahrungen durch andere Digitale Nomaden wird eine zentrale Rolle zuteil.
17 Ausgenommen ist von dieser Aussage die gemeinsame Auswanderung mit seiner Partnerin nach Neuseeland, welche (anders als Maltes Work-and-Travel-Erfahrung) ohne zeitliche Einschränkungen geplant war. Doch auch während dieser Zeit hält sich Malte bspw. in Coworking Spaces auf: „[I]ch hab dann da viel so in so kleinen Coworking Spaces gearbeitet“ (A. 198). So stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Frage, was Malte mit der aufgeführten Aussage meint.
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6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Abbildung 6.5 Malters persönliches Netzwerk – finale Darstellung
a) Geographische Mobilität und Aufenthaltsorte: Broker mit persönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego und Digitale Nomaden-Hubs Das Mobilitätshandeln von Malte ist insbesondere durch eine starke Orientierung an anderen Digitalen Nomaden charakterisiert. Die für ihn relevante Unterstützung erfährt er im persönlichen Dialog mit anderen mobilen Onlinearbeitern. Durch den Austausch erfährt er Bestätigung für seinen Wunsch und Zuspruch, ein ortsflexibles Leben umzusetzen. Malte sucht Orte auf, welche im Allgemeinen als Digitale Nomaden-Hubs bekannt sind (bspw. Workation in Tarifa, Coliving-Haus und Workation auf Bali, Kreuzfahrt). Die Ortsauswahl trifft er dabei nicht zufällig. Inspiration, Motivation und Ermutigung erfährt er durch bestimmte Einzelpersonen (bspw. Jonas, Hannes), die selbst über Erfahrungen mit Onlinearbeit in Kombination mit geographischer Mobilität verfügen. Diesen Personen wird im Kontext von Maltes Mobilität eine Broker-Position zuteil; bringt Malte ihnen doch einen gewissen Vertrauensvorschuss entgegen. Für Malte bedeutet deren organisatorische Vorarbeit, mit hoher Wahrscheinlichkeit am jeweils ausgewählten Aufenthaltsort auf andere Digitale Nomaden treffen zu können. Durch die Broker-Person werden
6.1 Mobilitätshandlungsmodus I: Der Lebensstilhersteller
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unliebsame Überraschungen minimiert. Dementsprechend wird Maltes Mobilität ein Hub-zu-Hub-Charakteristikum attestiert. Der eigentliche Aufenthaltsort bzw. das Land wird dabei zur Nebensache. b) Persönliche Netzwerkeingebundenheit als Ressource sanfter Mobilität Bereits während seines Studiums verdient Malte durch onlinebasierte Tätigkeiten Geld. Die Voraussetzungen für eine ortsflexible Lebensführung sind dementsprechend bereits geschaffen. Doch erst unter einer weiteren Kontextualisierung zeigt sich, dass Maltes Interesse an einer mobilen Lebensweise, sukzessive im Rahmen einer onlinebasierten Transparentwerdung des Themas Digitales Nomadentum, wächst; bevor er selbst einen mobilen Lebensweg einschlägt, wird durch Onlinemedien (bspw. Blogs) ein Bild von dem transportiert, was im Allgemeinen unter dem Konzept des Digitalen Nomadentums zu verstehen ist. Für die letztendliche Umsetzung ist sowohl eine Beziehungsintensivierung zu jüngst geknüpften Digitalen Nomaden-Kontakten (Hannes und Elli), als auch die Trennung von seiner ortsgebundenen Partnerin von Relevanz. Durch diese strukturale Veränderung werden die Voraussetzungen für Mobilität hergestellt. Die anfänglich schwachen Beziehungen erfüllen dabei die Funktion der Weitergabe neuer Informationen. Im Allgemeinen ist Maltes persönliches Netzwerk durch vielfältige Beziehungen zu anderen Digitalen Nomaden sowie deren Verbindungen untereinander charakterisiert (s. Abbildung 6.5). Das entstandene Strukturmuster dient Malte als Ressource für eine sanfte Mobilität. Die Kontakte zu Digitalen Nomaden wirken unterstützend. c) Herstellung von Lebensstil und Lebenswelt durch Partizipation und Kopräsenz Malte – als stellvertretender Repräsentant des Mobilitätshandlungsmodi I – macht sich auf vielfältige Weise bestehende Digitale Nomaden-Angebote zunutze. Neben der jeweiligen Informationsgewinnung stellt er durch seine Partizipation an Workations, seinen Aufenthalt in einem Coliving-Haus sowie seinen Besuch der Digitalen Nomaden-Konferenz Kopräsenz zu anderen Gleichgesinnten her. So wird es ihm möglich, unabhängig des Aufenthaltsortes oder der jeweiligen Landeskultur, in ein soziales Umfeld von Personen mit ähnlichen Interessen und Bestrebungen eingebunden zu sein. Auf Support, Wissen oder Erfahrungen anderer kann aufgrund der geographischen Nähe unmittelbar zurückgegriffen werden. Neben der so hergestellten Möglichkeit, die eigene Onlinearbeit in Gesellschaft umzusetzen, erfährt Malte außerdem Bestätigung für sein eigenes Tun. Nunmehr ist er nicht der einzige „Spinner“ (A. 273, vgl. Abschn. 6.1.3.5), der den Wunsch nach einer ortsflexiblen Lebensführung verfolgt. Durch die Kopräsenz zu Digitalen Nomaden taucht Malte in deren Lebenswelt ein und eignet sich eine entsprechende Lebensweise, respektive deren Lebensstil sukzessive an.
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6.2
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
Der Mobilitätshandlungsmodus II ist insbesondere durch die von Ego einnehmende Broker-Position innerhalb seines persönlichen Netzwerks charakterisiert. Ego hegt dabei konkrete Vorstellungen über die für ihn relevanten Informationen und Ressourcen. Dementsprechend macht er sich bestehende Digitale Nomaden-Angebote, Onlineplattformen und Aufenthaltsorte seinen Interessen entsprechend zunutze. Ego nimmt aktiv Einfluss auf die Gestaltung seiner Unterstützungsquellen. Es erfolgt eine strategische Herstellung – durch Nutzung Digitaler Nomaden-spezifischer Ressourcen charakterisiert – seines Lebensstils.
6.2.1
Fall Gerrit – „für mich ist es nur logisch, ich mag im Ausland sein und ich habe einen Job, mit dem ich das machen kann. Also bin ich im Ausland“
Zu jenen Interviewpartnern, welche Mobilitätshandlungsmodus II repräsentieren, gehört der 27-jährige Gerrit (m). Gerrit entscheidet sich zunächst für eine Ausbildung als Informatiker und absolviert im Anschluss sein Abitur. Zum Zeitpunkt des Interviews hält er einen Bachelorabschluss im Bereich Software Engineering einer deutschen Universität in Händen. Bereits während seiner Studienzeit gründet er eine Softwareagentur. Mobilitätserfahrung sammelt er durch einen Freiwilligendienst im Ausland, gefolgt von verschiedenen Reisen mit Freunden während seines Studiums. Entlang seines Erzählverlaufs fällt auf, dass er einen verstärkten Fokus auf arbeitsbezogene und effizienzorientierte Thematiken setzt. Darüber hinaus finden sich im Interview immer wieder Erzähleinheiten, welche in Detailbeschreibungen (bspw. von technischen Entwicklungen) münden. Narrationen, die ein aktives Handeln repräsentieren (sollen), erweisen sich als charakteristisch für Gerrits Erzählung. Die Interviewsituation Das Interview mit Gerrit fand in der thailändischen Stadt Chiang Mai statt und erstreckte sich über eine Dauer von einer Stunde und 55 Minuten. Die erste Kontaktaufnahme mit Gerrit erfolgte über den onlinebasierten Kommunikationskanal #chiang mai. Nach einem kurzen Austausch stimmte Gerrit sofort einem Interview zu und wir verabredeten uns für den nächsten Tag. Das Interview fand auf der Terrasse eines von Gerrit vorgeschlagenen und mir bekannten, in einer kleinen Seitenstraße gelegenen, Café statt. Vor Ort angekommen, bestellten wir Getränke. Die Gesprächsatmosphäre gestaltete sich als locker und Gerrit erzählte ohne Zögern. Hinsichtlich des Umgangs mit dem Laptop während des Interviewverlaufs kann
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
175
Gerrits Agieren als selbstverständlich beschrieben werden. (Exemplarisch zeigt sich dies, als er bspw. intuitiv mit einem Rechtsklick die Geschlechtszuordnung eines Symbols veränderte.) Im Allgemeinen ist Gerrits Netzwerkvisualisierung (dennoch) durch einen relativ sparsamen Einsatz von Symbolen charakterisiert.
6.2.2
Mobilitäts- und ortsflexible Arbeitspräerfahrungen
Zu Beginn des Interviews mit Gerrit wird schnell deutlich, dass dieser – ähnlich wie Malte – bereits während seiner Ausbildungs- und Studienzeit auf vielfältige Weise Auslands- und Arbeitserfahrungen sammeln konnte. Dadurch erlangt er Kenntnisse und knüpft Kontakte, welche ihm für seine spätere ortsflexible Lebensführung noch von Nutzen sein werden und die ihn gleich zu Beginn des Interviews zu folgender Aussage bewegen: „[F]ür mich ist es nur logisch, ich mag im Ausland sein und ich habe einen Job, mit dem ich das machen kann. Also bin ich im Ausland“ (A. 46).
6.2.2.1 Abitur, Europatour und Freiwilliges Soziales Jahr in Tansania Als Erzählauftakt wählt Gerrit die Zeit seines Abiturs. Er beginnt mit den Worten: „Und da hat dann alles angefangen“ (A. 38). Bereits während dieser Zeit unternimmt er mit Freunden gemeinsame Auslandsreisen. Beispielsweise erzählt er: „Da habe ich dann angefangen rumzureisen. Ähm, mit Kumpels Europatour zu machen und so Geschichten“ (A. 38). Unmittelbar im Anschluss an seine Schulzeit entscheidet er sich für ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in Tansania: „Und nach meinem Abitur bin ich dann ein Jahr nach Tansania als Freiwilligenlehrer […]. Das war ein weltwärts-Projekt 18 […]. Also gleichzeitig mein Bundeswehrersatz und ich war da ein Jahr in Tansania als Highschool Computerlehrer“ (A. 38–42). Wie sich dieser Aufenthalt wiederum auf seinen späteren Wunsch nach mehr geographischer Mobilität auswirkt, geht exemplarisch aus folgender Sequenz hervor: G: „So und da habe ich schon gemerkt, dass ich eigentlich, ich bin auch ein bisschen in Afrika rumgereist. Das ist, mir taugt das einfach. Seit dem, seit ich mein Abitur gemacht, also seit ich am Abitur machen war, wollte ich einfach immer raus. Irgendwie halt, einfach am besten jedes Land sehen. Und, ja, dann hat sich so durchgezogen“ (A. 42).
18 Weltwärts wurde im Jahr 2008 „durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ)“ gegründet. Es bietet Interessierten die Möglichkeit zur Mitarbeit in Entwicklungsprojekten im Ausland (Quelle Weltwärts: http://www.weltwaerts. de/de/ueber-weltwaerts.html).
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
Auffällig erscheint hier, dass Gerrit in seiner Aussage keinen Bezug zu einem konkreten Land oder einer Region herstellt. Im Vordergrund steht vielmehr ein allgemeiner geographischer Mobilitätswunsch – „jedes Land sehen“ zu können.
6.2.2.2 Studium und Firmengründung Nach seinem FSJ-Aufenthalt entscheidet sich Gerrit für ein Studium – trotz seines Auslandsinteresses – in Deutschland. Er argumentiert: „Weil es das Einfachste war. Ich habe geguckt, wo ich sonst studieren kann. Aber Deutschland war simpel, kostet nichts, war eine gute Uni. Also bin ich nach Deutschland“ (A. 42). Trotz dessen, dass sich Gerrit letztendlich für ein Studium an einer deutschen Universität entscheidet, geht aus seiner Erklärung hervor, dass sich seine Auswahlmöglichkeiten nicht nur auf Deutschland beschränkt zu haben schienen. Er zog durchaus auch andere Länder als Studienort in Betracht – ein Privileg, über welches, wovon ausgegangen werden kann, nicht Jedermann auf der Welt verfügt. Parallel zu seinem Studium fasst Gerrit gemeinsam mit einem Freund den Entschluss, eine Firma zu gründen: G: „Äh, während dem Studium, also das habe ich beim, äh, ich habe in Berlin studiert, habe ich eine Softwareagentur gegründet. Und habe die mit Leuten aufgebaut, so, am Schluss waren wir dann 10 Leute“ (A. 20).
Weiter erklärt er unter Reflexion seiner Netzwerkvisualisierung (s. Abbildung 6.6): „Emil ist auf jeden Fall relativ stark verbunden mit mir. Schreibe ich Emil hin. (..) [Eintragung Emil in NWK] Emil und der gehört zu Westlable Minds19 [Eintragung Westlable Minds in NWK]. So, ein Mitgründer von Westlable Minds“ (A. 292). Eine entsprechende Darstellung seiner Erklärung ist in der nachstehenden Abbildung 6.6 aufgeführt: Die bis dato von Gerrit beschriebenen Auslandsaufenthalte sind alle – ähnlich wie in Maltes Fall – durch einen temporären Charakter gekennzeichnet. Nach Ablauf eines festgelegten Zeitraums erfolgt jeweils eine Rückkehr nach Deutschland. Die Mobilitätserfahrungen wie auch der Aufbau der Softwareagentur dienen als Erfahrungsgrundlage für seine spätere Selbstständigkeit und als Ressource späterer projektbezogener Auftragsarbeiten.
19 Name
der Softwareagentur.
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
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Abbildung 6.6 Ausschnitt aus Gerrits persönlichem Netzwerk während seines Studiums
6.2.3
Ortsflexible Lebensführung in Südamerika auf Probe
Nach Beendigung seines Studiums trifft Gerrit die Entscheidung, ein Jahr in Südamerika zu verbringen. Anders als während seiner vorherigen Auslandsaufenthalte will er dabei jedoch onlinebasiert arbeiten und so eine ortsflexible Lebensweise auf Probe führen. Dabei zeigt sich, dass sowohl langjährigen Beziehungen als auch jüngst geknüpften Kontakten eine zentrale Rolle zuteilwird.
6.2.3.1 Aufenthalt in Südamerika mit Freund Lukas Den Auftakt seiner Mobilität nach und in Südamerika bildet ein gemeinsamer dortiger Aufenthalt mit seinem langjährigen Freund Lukas. Die beiden kennen sich bereits seit ihrer Schulzeit (vgl. A. 106). Ihr Beziehungsverhältnis beschreibt Gerrit wie folgt: G: „Und der ist so ein, der hat in München studiert und ich in Berlin. Ähm, aber wir tre/ also wir gehen eigentlich jedes Jahr zusammen reisen wir irgendwohin oder so. Und waren eben auch zusammen in Südamerika“ (A. 106).
In anderen Worten: Die beiden scheinen bereits darin geübt, ihre Freundschaftsbeziehung über (mal mehr, mal weniger) weite geographische Distanzen hinweg aufrechtzuerhalten und ihr Interesse an Auslandsreisen gemeinsam auszuüben. Besonders deutlich kommt dieses verbindende Element ihrer Freundschaft in der nachstehenden Sequenz zum Ausdruck:
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
G: „[A]lso mein bester Kumpel [Lukas], der ist, wie ich im, also ständig im Ausland. […] der macht das ähnlich oder sieht alles ähnlich wie ich. Und dass man jetzt nicht unbedingt viel Zeit in Deutschland verbringen muss“ (A. 50 u. 52).
6.2.3.2 Onlinearbeit in Südamerika und Kennenlernen von Taya Nach der ersten gemeinsamen Zeit mit Lukas in Südamerika – „Erst waren wir in Kolumbien, ein paar Städte und dann in Ecuador“ (A. 118) – beschließen die beiden, unterschiedliche Reiserouten einzuschlagen. Diese Entscheidung basiert nicht auf einem Streit o. ä., sondern erfolgt lediglich aufgrund unterschiedlicher Aufenthaltsinteressen: „Also mit Lukas, wir haben uns dann aufgeteilt, weil ich in länger in Kolumbien bleiben wollte und er wollte nach Südamerika20 “ (A. 112). Im Anschluss an ihre geographische Trennung beginnt Gerrit mit der Ausarbeitung seiner Projektideen. Er erklärt: „[H]abe dann angefangen, an eigenen Ideen zu bauen. (I: mh.) Eigene Idee, ähm, zu entwickeln. Also habe Konzepte entwickelt“ (A. 20–22). Kurze Zeit später lernt Gerrit die Amerikanerin Taya21 kennen: „[D]ie habe ich in Kali in Kolumbien kennengelernt“ (A. 118). Die beiden verstehen sich gut. Es zeigt sich, dass auch diese beiden eine „Leidenschaft“ (A. 46) für Auslandsaufenthalte verbindet: G: „Und ich war dann in Kolumbien. Und dann habe ich nach kurzer Zeit Taya getroffen. Und bin mit ihr dann drei Monate rumgereist. Also die restlichen drei Monate, die [ich] hatte in Südamerika“ (A. 112).
Darüber hinaus teilen die beiden ein Interesse für Programmierarbeiten. Dies führt dazu, dass Gerrit und Taya nicht nur zusammen durch Südamerika reisen, sondern mit der Arbeit an einer gemeinsamen onlinebasierten Projektidee beginnen: G: „[W]ir haben dann zusammen eine App entwickelt. Während der Zeit, als wir in Südamerika waren“ (A. 22).
Basierend auf dem gemeinsam Erlebten sowie der zusammen umgesetzten Arbeit intensiviert sich die Freundschaft der beiden. Kurzerhand beschließen sie eine gemeinsame „Firma“ zu gründen. Gerrit erzählt unter Reflexion seiner Netzwerkvisualisierung (s. Abbildung 6.6): „Taya kann ich auch hinschreiben, ist Toreño
20 Es kann angenommen werden, dass Gerrit an dieser Stelle auf andere Länder in Südamerika Bezug nimmt. 21 Hintergrund zu Tayas Nationalität: „Taya ist geboren in den USA, aufgewachsen in Kanada, ähm, und Eltern sind aus Taiwan und Hongkong“ (A. 386).
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
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Studios22 [Eintragung Toreño Studios in NWK]. Das ist unsere Firma, die Taya und ich zusammen haben“ (A. 292). So bleiben die beiden auch nach Gerrits Abreise weiterhin in Kontakt (s. Weiteres hierzu in Abschn. 6.2.4.3). Bevor nun jedoch weiter auf die Beziehung der beiden eingegangen wird, richtet sich der Blick noch auf ein Erlebnis, welches Gerrits weitere Mobilitätsentscheidungen nachhaltig beeinflusst.
6.2.3.3 Vorbildfunktion von Unbekannten respektive Digitalen Nomaden Am Ende seines einjährigen Aufenthalts in Südamerika kommt Gerrit hinsichtlich seiner dort gemachten Erfahrungen und dem von ihm verfolgten Ziel zu folgender Schlussfolgerung: G: „Und ich habe das Jahr dann nach dem Studium, wo ich in Südamerika war, wollte ich das sozusagen ausprobieren. Ob mir das, wie stark mir das gefällt, nicht in Deutschland zu sein, sondern im Ausland zu sein. Und von da aus produktiv zu sein. Und das hat eigentlich relativ gut funktioniert“ (A. 42).
Und weiter: G: „[F]ür mich, zu dem Zeitpunkt, in dem ich in Südamerika war, wusste ich, dass ich das, dass ich aus meiner alten Firma raus, aussteigen will und weiter nicht in Deutschland sein will“ (A. 42).
Einfluss auf diese Entscheidung hatte, neben der Zusammenarbeit mit Taya, eine weitere in Kolumbien gemachte Erfahrung. Dabei handelt es sich um eine Begegnung mit für Gerrit unbekannten Onlineentrepreneuren in der Stadt Medellín, Personen, die ähnlich wie er, onlinebasiert arbeiten: G: „Ähm, ich habe, während ich in Südamerika war, ein paar Leute getroffen, nicht viel, aber ein paar, die gearbeitet haben. Also die auch für US-Firmen angestellt waren23 sogar und gearbeitet haben. Das ist immer eine Bestätigung, dass das funktioniert. Und, ähm, ich habe in meinem direkten Umfeld keinen, der das macht wie ich“ (A. 46).
22 Firmenname. 23 Aus dem weiteren Erzählkontext geht hervor, dass es sich hierbei um onlinebasiert arbeitende Angestellte handelt. Zu dieser Personengruppe zählt im Sample der vorliegenden Arbeit bspw. der Interviewpartner Daniel (s. Abschn. 5.4.2).
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Als interessant erweist sich an dieser Aussage von Gerrit insbesondere, dass er im Zusammenhang mit den beschriebenen Begegnungen eine Form von „Bestätigung“ erfährt, die ihm auf ähnliche Weise bislang nur durch den Kontakt zu Taya zuteilwurde. Die für Gerrit relevanten Informationen werden über jüngste Kontakte bzw. schwache Beziehungen (Kontakt zu Taya und die für ihn unbekannten Onlinearbeiter in Medellín) übermittelt. Denn wie er selbst andeutet, verfügt in seinem bis dato bestehenden persönlichen Umfeld niemand über Erfahrungen hinsichtlich der Kombination von Onlinearbeit und geographischer Mobilität. Unbekannten Personen wird in gewisser Weise eine Vorbildfunktion zuteil; Bestätigung für sein eigenes Handeln erfährt Gerrit auf indirektem Wege.
6.2.4
Gerrits persönliches Netzwerk (Teil 1) und Mobilitätsvoraussetzungen
Trotz seines in Südamerika gefassten Entschlusses kehrt Gerrit zunächst nach Berlin, seinen Studienort, zurück: „Und dann letztes Jahr, also vor einem Jahr bin ich dann, ähm, zurück nach Berlin. Haben für ungefähr, weiß ich nicht, sechs Monate, hab/ bin wieder eingestiegen in die, meine Softwareagentur“ (A. 22). Außerdem arbeitet er parallel an der in Südamerika begonnenen App-Entwicklung: „Und habe nebenbei dies, die App, die ich mit der Freundin gemacht habe, fertigentwickelt“ (A. 22). Wie sich im Folgenden nun zeigen wird, liegt der primäre Grund seiner temporären Rückkehrentscheidung in der Schaffung geeigneter Voraussetzungen, welche ihm einen (erneuten) Aufbruch in eine ortsflexible Lebensführung ohne Verpflichtungen in Deutschland ermöglichen sollen.
6.2.4.1 Trennung von Partnerin Eine der grundlegenden strukturalen Veränderungen in Gerrits Beziehungsnetzwerk ereignet sich bereits während seiner Zeit in Südamerika. Dabei handelt es sich um die Trennung von seiner damaligen Partnerin; ein Aspekt, den Gerrit im Interview jedoch nur am Rande, wie zufällig, erwähnt: G: „Ich glaube, ein entscheidender Punkt, warum ich jetzt auf jeden Fall im Ausland bin, ist, dass, während ich in Südamerika war, mit meiner, ähm, jetzt, also mit meiner damaligen Freundin, ähm, wir Schluss gemacht haben. Und das hat dann sozusagen meine letzte Verbindung zu Deutschland gekappt mehr oder weniger. Ähm, ansonsten wär das, wäre ich wahrscheinlich erst mal für länger in Berlin gewesen“ (A. 62).
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
181
Deutlich wird hier, dass Gerrit die von ihm benannte Paarbeziehung mit einer ortsgebundenen Lebensführung in Verbindung setzt. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass seine damalige Partnerin (u. U. aufgrund ihrer Arbeitstätigkeit) an einen Ort gebunden ist bzw. kein Interesse an einer mobilen Lebensführung verfolgt. So wird transparent, dass die Trennung zur Voraussetzung von Mobilität wird.
6.2.4.2 Firmenausstieg in Deutschland Ein anderer zu klärender Punkt galt der mit seinem Freund Emil gegründeten Softwareagentur (s. Abschn. 6.2.2.2). Die Bekanntgabe seines Vorhabens, die Firma zu verlassen sowie die darauffolgenden Reaktionen der Mitarbeiter, beschreibt Gerrit exemplarisch in der nachstehenden Sequenz: G: „Also da gab es eben zwei Sachen zu entscheiden, einmal, dass ich wieder gehe, also ins Ausland gehe. Ähm, das hat jetzt keinen überrascht, weil, ich glaube, dass ich relativ von Anfang an gesagt habe, dass ich wieder ins Ausland will. Ähm, und die Überraschung war eher, dass ich dann auch wirklich komplett aus der Firma aussteige“ (A. 132).
Mit der tatsächlichen Umsetzung seines Firmenausstiegs löst Gerrit die bis dato bestehenden formalen Arbeitsstrukturen auf. Der weitere Interviewverlauf wird jedoch noch zeigen, dass diese Entscheidung nicht mit einem Beziehungsbruch zwischen Gerrit und seinen ehemaligen Kollegen gleichzusetzen ist (s. Abschn. 6.2.6.2). Die letztendliche Abreise aus Deutschland skizziert Gerrit wie folgt: G: „Und ich habe am Abend davor 24 um 22 Uhr gepackt. Also das gibt es einfach auch nichts mehr zum, vorzubereiten. Selbst als ich in Deutschland gelebt habe, habe ich vom gleichen Rucksack raus gelebt, den ich in Südamerika hatte. Also ich habe mein Wohn/ also ich als umgezogen bin, nach Berlin, ich habe mir eine Wohnung in Berlin halt dann wieder gesucht. Da bin ich mit dem Rucksack hin und nach sechs Monaten mit dem Rucksack wieder weg und mit dem gleichen Rucksack bin ich wieder geflogen“ (A. 124).
Interessant erscheint an dieser Sequenz insbesondere, dass Gerrits gesamtes Hab und Gut in einen Rucksack zu passen scheint. Dementsprechend kann angekommen werden, dass weitere Mobilitätsschritte innerhalb kürzester Zeit realisiert werden können; aufwendige zu organisierende Wohnungsauszüge entfallen. Darüber hinaus scheint Gerrit mit der Praktik der Abreise routiniert.
24 Vor
Abflug.
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
6.2.4.3 Treffen mit Taya in Berlin/Deutschland und Seattle/USA Als geographisches Ziel nach seiner Abreise aus Berlin wählt Gerrit die amerikanische Stadt Seattle. Auf Nachfrage für den Grund für diese Wahl erklärt er: „Ähm, eine Freundin war da gerade, also Taya“ (A. 220). G: „Ähm, USA. Also ich war, bevor ich nach, ich weiß gar nicht, wie lange ich Deutschland war, vielleicht sechs Monate, vielleicht ein bisschen länger. Ich wollte eigentlich schon während dem Winter weg, bin aber dann im Februar oder so in die USA geflogen. (I: Okay.) Und war da fast zwei Monate. Habe da die, meine Freundin besucht, mit der ich auch die App gemacht habe. (I: Ah.) Ja“ (A. 76–79).
Darüber hinaus geht aus dem gleichen Erzählabschnitt hervor, dass nur kurze Zeit zuvor Taya für einen Besuch von Gerrit nach Deutschland reiste: G: „Die war ein halbes Jahr davor, war die in Berlin für ein paar Wochen. Und jetzt war ich wieder in Seattle und habe die besucht. Die ist gerade in Seattle. (I: Okay.) Und haben da ein bisschen was gemacht für die App auch, aber einfach auch, weil wir gute Freunde sind, die besucht“ (A. 79–82).
Ausgehend von den beiden beschriebenen Besuchen deutet sich hier ein ähnliches Beziehungsmuster an, wie es Gerrit zuvor bereits unter Skizzierung von seiner Freundschaft zu Lukas erläuterte (s. Abschn. 6.2.3.1). Die beiden hegen ein gemeinsam geteiltes Interesse an geographischer Mobilität sowie – im Fall der Beziehung zu Taya – ein Interesse an Onlinearbeit. Darüber hinaus scheint eine Aufrechterhaltung des Kontakts über weite geographische Distanzen hinweg zu funktionieren. (Regelmäßige) Treffen an unterschiedlichen Orten bilden ein zentrales Charakteristikum ihrer Beziehung. Wird der Blick nun weiter auf die von Gerrit und Taya entwickelte Onlineapp gerichtet, fällt ein Beispiel ins Auge, anhand dessen deutlich wird, inwiefern Onlinearbeit in unterschiedlichen Ländern weltweit und somit ortsflexibel umgesetzt werden kann. Wie oben angesprochen, programmierte Gerrit zunächst in Deutschland allein an der in Südamerika gemeinsam entworfenen App-Idee weiter. In Seattle arbeiten die beiden wieder erneut gemeinsam an ihrem Projekt25 . Nach einer weiteren Überarbeitung geben die beiden ihre App schließlich zum onlinebasierten Verkauf frei. Gerrit erzählt: „[A]m Anfang dieses Jahres dann, war die App dann auch im Appstore“ (A. 22). Eine Übersicht zu der entsprechenden Projektidee bzw. 25 Im Bereich der App-Entwicklung ist es gängige Praxis, bereits veröffentliche Apps kontinuierlich zu überarbeiten oder den Nutzern bspw. Updates zur Verfügung zu stellen, um eine hohe Qualität der App zu gewährleisten.
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deren Realisierung ist in der nachstehenden Abbildung 6.7, unter Bezugnahme auf geographische Bearbeitungsorte, aufgeführt.
Abbildung 6.7 Ortsflexible kollektive Onlinearbeit
6.2.4.4 Aufenthalt in Seattle/USA Im Verlauf seiner Erzählung nimmt Gerrit eine ausführliche Skizzierung der für ihn relevanten Stadt-Charakteristiken vor. Dies kann zugleich als ein Hinweis zu deren Relevanz aus Gerrits Perspektive gedeutet werden. Außerdem ist dieser Aspekt nicht nur mit Blick auf seinen Aufenthalt in der amerikanischen Stadt sowie den dort ausgeübten Aktivitäten interessant, sondern auch hinsichtlich seines späteren Aufenthalts im thailändischen Chiang Mai (s. Abschn. 6.2.5). Neben der gemeinsamen Arbeit mit Taya nutzt Gerrit seine Zeit in Seattle, um weitere Kontakte, insbesondere potentielle Projektpartner zu finden oder Arbeitsaufträge zu erhalten. Hierfür nimmt er an Events großer Firmen teil (vgl. A. 192) und profitiert so von der bestehenden Infrastruktur innerhalb der Stadt. Die dortige Atmosphäre beschreibt er wie folgt: G: „[E]s hat [in Seattle] eine schöne Tech-Szene. Ist wirklich cool. Da ist auch viel Fortschritt. Also die Leute sind da sehr offen, was den Fortschritt angeht […] und, ähm, ja und große Firmen sind da auch. Und deswegen kam, habe ich das so verbunden. Einmal eine Freundin besuchen und wieder an der App zu arbeiten. Aber dann auch ein bisschen zu networken und zu gucken einfach, wie es da so ist“ (A. 222).
Trotz dessen, dass ihm sein Aufenthalt in der amerikanischen Stadt gut gefällt, kommt er zu folgendem Schluss: „Aber ich habe halt auch festgestellt, dass ich nicht
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unbedingt jetzt da arbeiten will“ (A. 222). Ausschlaggebend für diese Entscheidung ist für ihn insbesondere ein Argument: G: „Ähm, das ist, Seattle ist krass. Das ist noch nicht so hart wie San Francisco, aber halt schon teuer. Ich habe keinen Bock, irgendwie 1.500 für eine Wohnung im Monat zu zahlen“ (A. 218).
Darüber hinaus reflektiert Gerrit über die Vorstellung eines Angestelltenverhältnisses (in den USA). Diesbezüglich vertritt er eine klare Meinung: „[I]ch habe keine Lust irgendwie, zu arbeiten, wo ich dann 10 Tage Urlaub habe im Jahr oder so. Also ist nichts für mich. Da kann ich mich nicht mehr anfreunden. (lacht) Egal, wie hart ich es versuche“ (A. 222). Und weiter: „Das Gleiche gilt in Deutschland. Selbst 25 Tage oder 30 sind einfach schon zu wenig. Ähm, da habe ich keine Lust drauf“ (A. 222). Flexibilität und eine Anstellung als Arbeitnehmer bilden laut Gerrit folglich zwei konträre Pole; eine Perspektive, die sich auch noch in anderen Interviews widerspiegeln wird (s. Abschn. 8.2). Nach Auflösung ortsbindender (privater und beruflicher) Beziehungen bzw. Verpflichtungen wird es Gerrit möglich, uneingeschränkt – sofern im Kontext allgemeiner Rahmenbedingungen wie gesetzlichen oder politischen Bedingungen möglich – eine ortsflexible Lebensführung auszuüben. Im Fokus steht dabei zunächst kein Aufenthalt an allgemein bekannten Digitalen Nomaden-Destinationen. Stattdessen intensiviert er durch persönliche Besuche den jüngst geknüpften Kontakt zu einer Gleichgesinnten (Taya). So wird dieser auch über Landesgrenzen hinweg aufrechterhalten bzw. zu einer nachhaltigen Beziehung ausgebaut. Die Herstellung neuer möglicher (Geschäfts-)Kontakte unternimmt er in einer ihm unbekannten Stadt (Seattle) auf eigene Faust.
6.2.5
Ist-Situation: Gerrits Weg nach und Aufenthalt in Chiang Mai
Nachdem für Gerrit feststeht, nicht dauerhaft bzw. nicht für einen längerfristigen Aufenthalt in den USA bleiben zu wollen, wählt er als nächstes Ziel die im Norden von Thailand gelegene Stadt Chiang Mai. Er erklärt: „Und, ja, nach fast zwei Monaten, bin ich dann hier nach Thailand“ (A. 79–82). In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass insbesondere onlinebasiertes Kollektivwissen eine zentrale Rolle im Kontext seiner Mobilität spielt.
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6.2.5.1 Geographische Mobilität nach Chiang Mai/Thailand Anders als während seiner vorherigen Mobilität handelt es sich dieses Mal um einen geographischen Aufenthaltsort, welcher unter Digitalen Nomaden im Allgemeinen als bekannt gilt. Dementsprechend halten sich eine Vielzahl weiterer Digitaler Nomaden vor Ort auf (s. Abschn. 5.2.1). Da Gerrit über keinen persönlichen Ansprechpartner mit Ortskenntnissen verfügt, macht er sich die auf der Onlineplattform Nomad List veröffentlichten Informationen sowie den Onlinechat #nomad (s. Abschn. 5.2.1) zunutze. Dass es sich dabei um einen (für ihn) noch relativ neuen Kommunikationskanal handelt, zeigt folgendes Zitat: G: „Ja, also, was halt passiert ist, während ich in Südamerika war, ähm, ich muss noch sagen, gab es nicht so viel Informationen […]. Dann bin ich dann aus, war ich dann gerade aus Südamerika zurück. Und dann kam das26 . Und so der Chat und eben diese Plattform ist schon, gibt schon einen Mehrwert. Also gibt schon coole Informationen“ (A. 138 u. 160).
Transparent wird in diesem Zusammenhang, dass sich für Gerrit (erst) mit der Veröffentlichung der beiden Medien eine neue Informations- und Kommunikationsquelle bietet. Mit wechselnden Rahmenbedingungen verändern sich folglich auch Gerrits Handlungspraktiken. Wie er diese (neu errungene) Ressource im Konkreten nutzt, erklärt er wie folgt: G: „Ja. Weil ich, ähm, weil Chiang Mai die Nummer eins auf dieser Liste ist. Ähm, und praktisch das hat, was ich brauche. Also natürlich nur, weil es Nummer eins ist, ist das noch nicht, sagt das noch nichts aus, ob dir das da gefällt oder so. Aber es hat eben diese Eigenschaften, die für mich wichtig sind. Ähm, es ist preiswert, es ist sicher, es hat warmes Wetter und es hat Internet. Und das ist, praktisch die Faktoren sind erst mal wichtig. Und das hast du hier und alles andere ist praktisch nebensächlich, was, ähm. Und auch gut, also du kannst trotzdem ein bisschen feiern gehen. Du hast, die Leute sind relativ cool hier […]“ (A. 226).
Deutlich wird hier, inwiefern die Listenplatzierung der Stadt Chiang Mai Gerrits Mobilitätsentscheidung beeinflusst. Dabei fällt außerdem auf, dass er nicht auf Aspekte, wie die Landeskultur oder -sprache eingeht, sondern jene Kriterien auflistet, welche für ihn persönlich und für seine Onlinearbeit von Relevanz sind. Weiter 26 Bezugnehmend auf Nomad List und #nomad (vgl. Kontexterzählung A. 138–140). Unter Rekonstruktion von Gerrits vorherigem Mobilitätsverlauf (in Februar 2015 Flug in USA für ca. zwei Monate (vgl. A. 76), zuvor sechs Monate Deutschland) kann diese Aussage in etwa auf August 2014 datiert werden. Im Firmenverzeichnis von Nomad List ist als Gründungsdatum „Aug. 2014“ angegeben (Quelle Crunchbase: https://www.crunchbase.com/organizat ion/nomad-list).
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
bildet sich in diesem Zusammenhang ab, dass Gerrit den Landeswechsel von den USA nach Thailand aus physischer Perspektive zwar allein unternimmt, onlinebasiert jedoch von einer Vielzahl an Chatnutzern Unterstützung erfährt. Exemplarisch zeigt dies folgende Aussage: G: „Also bevor ich zum Beispiel in Chiang Mai bin, wusste ich vieles über Chiang Mai. Wo man wohnen, wo ist ein Fitness-Studio, wo ist sonst was. Ähm, durch eben hauptsächlich die Gruppe. Und (.) dies spielt glaub/ ja, schon eine Rolle. Ähm, also es gibt schon einen Unterschied zwischen vor zwei Jahren, wo es noch nicht Nomads List und diese Gruppe gab und jetzt. Weil jetzt Informationen doch einfacher noch, einfach zu finden sind. Eben speziell für diesen Zielgruppenbereich. Also für diese Zielgruppe“ (A. 140).
Bereits vor seiner Ankunft in Chiang Mai und ohne jemals selbst dort gewesen zu sein, gelingt es Gerrit, über vielfältige Detailinformationen zu verfügen. Möglich wird dies durch eine onlinebasierte sowie Ländergrenzen überschreitende Informationsweitergabe, kanalisiert durch die entsprechenden Chaträume. Validiert werden die Informationen durch die Meinungen und Kenntnisse einer Vielzahl von Chatteilnehmern. Insofern wird der Onlineplattform Nomad List in Kombination mit dem Onlinechat #nomad eine Broker-Funktion im Kontext von Gerrits Landeswechsel zuteil. Anders als im Fall von Malte spielt dabei jedoch keine konkrete Einzelperson eine zentrale Rolle, sondern das Wissen eines Kollektivs. Darüber hinaus ist Gerrit gefordert, die für ihn wichtigen Informationen aktiv zu erfragen. Die Organisation seines Aufenthalts in Thailand nimmt er selbst in die Hand.
6.2.5.2 Soziale Eingebundenheit und die Rolle von Chiang Mai als Digitaler Nomaden-Hub In Chiang Mai angekommen trifft Gerrit schnell auf andere mobile Onlinearbeiter. Zur Herstellung sozialer Kontakte – sowohl freundschaftlicher als auch geschäftlicher Natur – muss er jedoch andere Wege als in Seattle (s. Abschn. 6.2.4.3) gehen. Dies hängt nicht zuletzt mit den jeweiligen Stadt-Charakteristiken zusammen. Unter einem Vergleich seiner Erfahrungen erklärt Gerrit: G: „[W]as zum Beispiel in Seattle halt, was ein Meeting interessant macht, ist, du bist bei Facebook 27 . Es gibt kostenlos Essen und Trinken. Du triffst interessante Programmierer. Du triffst Leute, ähm, und das hast du ja alles nicht. Hier ist weder jemand, der dir kostenlos Essen oder Bier gibt, noch (lacht) viele Leute, die bereit sind, viel Zeit zu investieren, um gute Vorträge zu machen“ (A. 192).
27 Unternehmensname
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Das, was in Seattle also bereits als etablierte (Unternehmens-)Infrastruktur vorzufinden ist, scheint in Chiang Mai laut Gerrit zu fehlen. Während das exemplarisch genannte Unternehmen Facebook die für Gerrit interessanten Veranstaltungen in einem professionellen Rahmen abhält, bedarf es in Chiang Mai mehr Eigenengagements: „Ähm, sehr alles so, ähm, im privaten Bereich“ (A. 192). Nichtsdestotrotz bietet ihm der Aufenthalt in Chiang Mai ein soziales Umfeld, innerhalb dessen er vielfach auf andere Gleichgesinnte trifft. Gerrit erzählt: G: „Also es gibt, ich treffe hier mehr Programmierer als in Berlin, auf jeden Fall. Und praktisch jeder Typ in meinem Alter, der nicht Thai ist, ist Programmierer“ (A. 286).
Dass ein Aufeinandertreffen mit eben solchen Programmierern in Chiang Mai scheinbar überall möglich zu sein scheint, skizziert er exemplarisch in der nachstehenden Sequenz: G: „[K]ein Witz, äh, gestern Nacht waren wir, war das gestern, vorgestern Nacht waren wir feiern. Und danach noch kurz zu McDonalds28 , ich wollte eigentlich Eiscreme, Eis hat es nicht mehr gegeben. Ähm, keine Ahnung, kurz, war ein anderer Typ nebendran. Wir haben kurz gequatscht. War aus Kanada, ist in Techszene, ist jetzt nach Chiang Mai zugezogen, also hingezogen, um von hier aus sein Startup zu gründen. Oder also weiterzumachen, weil es hier günstiger ist 29 . Und das hast du praktisch gefühlt jeder, jeden weißen Typen in meinem Alter macht genau das. Entweder remote arbeiten oder hier zu sein, um das Start-up aufzubauen. Also jedenfalls die, die länger hier sind […]“ (A. 286).
Verglichen mit seiner Studienstadt Berlin bietet Chiang Mai für Gerrit folglich weitaus mehr Möglichkeiten, auf für ihn relevante Personen zu treffen. Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang außerdem, dass sich ihm diese Gelegenheit in Thailand bietet und er dennoch von Programmierern, die „nicht Thai“ sind, spricht. So entsteht entlang seiner Verbalisierung einerseits eine Abgrenzung zur thailändischen Bevölkerung und andererseits eine selbstgewählte Zuordnung zu einer bestimmten Gruppe von Programmierern. Diesen Umstand bewertet Gerrit wie folgt: „[E]s ist schön, dass es hier [in Chiang Mai] viele mit 28 Es gilt zu berücksichtigen, dass nicht nur die Schnellimbis-Kette McDonalds sondern auch andere Ketten, wie Starbucks oder 7Eleven die Stadtbilder Thailands prägen (Beobachtung während Feldaufenthalt). Dementsprechend handelt es sich bei dem von Gerrit benannten Ort zwar nicht um eine traditionell thailändische Lokalität, kann in dem beschriebenen Kontext aber dennoch als zufällig ausgewählter Ort gedeutet werden. 29 Wie zuvor bei Malte wird an dieser Stelle das Prinzip Geoarbitrage transparent. (Für Weiteres s. Abschn. 8.1).
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dem gleichen Interesse gibt“ (A. 286). Darüber hinaus deutet sich an dieser Stelle bereits der Hub-Charakter der Stadt an; wenngleich dieser andere Charakteristika als der von Malte beschriebene balinesische Hub aufweist. Dass nicht alle Begegnungen einem Zufall unterliegen, zeigen Gerrits weitere Ausführungen. Gezielt unternimmt er Versuche, um sich mit anderen Gleichgesinnten zu verabreden. Dabei fällt erneut eine zentrale Rolle auf das Chatprogramm #nomad. Durch die Nutzung des Chats kann er über aktuelle Events in Chiang Mai informiert werden oder im Onlinedialog persönliche Treffen vereinbaren. Er erzählt: G: „Das heißt, die [Chatgruppe] heißt nur [#]Chiang Mai Und die benutze ich hauptsächlich, um mit meinen Buddies hier in Chiang Mai, ähm, mich zu verabreden oder so. Ähm, so, wo arbeiten wir oder wo, ist jemand hier im Wakeup [Café] arbeiten oder ist jemand hier arbeiten. Oder hat jemand Hunger zum essen“ (A. 172).
Exemplarisch beschreibt er ein solch verabredetes Zusammentreffen in der nachstehenden Sequenz: G: „Ähm, Robert und Tobi (..), Robert ist Argentinier, Tobi ist Deutscher [Eintragung Robert in NWK, Eintragung Tobi in NWK].“ I: „Und wie hast du die kennengelernt?“ G: „Ähm, wann habe ich die zum ersten Mal getroffen? (…) Ich glaube, die meisten beim ersten Barbecue. Ja, Yanis, Yanis (..) [Eintragung Yanis in NWK], was Yanis gemacht hat. Ähm, (…) die sind, also die, die sind auch in dem, eben in dem zweiten Chat. In dem Chiang Mai Chat 30 mit dabei.“ I: „Okay.“ G: „Und Benjamin [Eintragung Benjamin in NWK], auch ein Deutscher, Deutsche sind echt in der Überzahl hier […] Ich glaube, ich habe die meisten, die meisten beim Grillen getroffen“ (A. 258–262 u. 264).
Und weiter: G: „[O]h, Christian, dann gibt es noch Christian [Eintragung Christian in NWK], einen anderen Deutschen. […] Genau, Christian hat eine Party gemacht. Christian hat, ähm, ich glaube mal eingeladen oder so. Und dann waren wir irgendwo in einer Bar“ (A. 274).
Parallel zu seiner Erläuterung nimmt Gerrit seine Netzwerkvisualisierung vor (s. Abbildung 6.8). Konkret gestaltet sich diese wie folgt: 30 Bezugnehmend
auf den Subkanal #chiang mai von #nomad (s. Abschn. 5.2.1).
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Abbildung 6.8 Cluster in Gerrits persönlichem Netzwerk
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Wie anhand von Abbildung 6.8 veranschaulicht wird, werden alle der oben genannten Akteure unmittelbar nacheinander in die Netzwerkkarte eingefügt und können hinsichtlich ihrer Anordnung als Cluster identifiziert werden. Gerrit erläutert seine Platzierungswahl wie folgt: „[D]as ist eine, eine Gruppe an Leuten. Die hängen jetzt nicht immer zusammen, aber das sind so alle ein Niveau, wie stark sie mit mir verbunden sind. Ja, das ist ganz schön“ (A. 264). Die Cluster-Form der Symbolanordnung erscheint vor dem Hintergrund von Gerrits Aufenthalt in Chiang Mai insofern als charakteristisch, als dass dort – anders als im Kontext von Maltes Aufenthalt auf Bali – keine einzelnen Coworking- oder Coliving-Orte als zentrale Anlaufstellen identifiziert werden können. Ein kollektiver Austausch entsteht in Chiang Mai zu Beginn meist onlinebasiert; ist dies aufgrund der lokal dispersen Anordnung von Coworking Spaces und -Cafés doch notwendig (s. Abschn. 5.2.1). Dieses Verhältnis spiegelt sich auch bei einer erneuten Betrachtung von Gerrits Netzwerkvisualisierung wider. Unter Hinzunahme der visualisierten Alter-AlterRelationen wird deutlich, dass alle der von Gerrit benannten Personen (in Chiang Mai) eine Verbindung zu der Software Slack (stellvertretend für #nomad) aufweisen (s. Abbildung 6.9). Gerrit erläutert diesen Zusammenhang wie folgt: „SlackGruppen sind auf jeden Fall mit den Leuten alle verbunden. Ähm, die habe ich durch entweder die, durch Slack-Gruppen kennengelernt oder dann Freunde von Leuten, die ich durch Slack-Gruppen kennengelernt habe“ (A. 366). Mittels Slack vernetzt, können die sechs Personen sich stets kurzerhand verabreden: „[W]enn Yanis Barbecue macht, dann ist auch jeder von denen da. […] jeder ist eingeladen von denen“ (A. 376). Sowohl im Kontext von Gerrits Weg nach Chiang Mai als auch während seines Aufenthalts in der thailändischen Stadt spielen eine Vielzahl mobiler Onlinearbeiter respektive Digitaler Nomaden eine zentrale Rolle. Dabei handelt es sich um für ihn unbekannte Akteure. Durch die Nutzung der Onlineplattform Nomad List und des Chatkanals #nomad können auf onlinebasiertem Weg eine Vielzahl von schwachen Beziehungen hergestellt werden. Neue Nachrichten können weitergeleitet und durch Kollektivwissen validiert werden. Auf diese Weise erhält Gerrit bereits vor seiner Ankunft in Chiang Mai eine konkrete Vorstellung von der Stadt; es entsteht eine imaginierte Mobilität (vgl. Urry 2007: 47). Weiter wird der Onlineplattform sowie dem -chat bzw. dem darüber kommunizierten Kollektivwissen eine Broker-Funktion mit unpersönlichem Charakter für Gerrits Mobilität und während seines Aufenthalts in Chiang Mai zuteil. Unpersönlich deshalb, da nicht eine bestimmte Einzelperson als
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Abbildung 6.9 Alter-Alter-Relationen zwischen Cluster und Entität Slack Gruppen
Ansprechpartner fungiert, sondern ein Kollektiv mit wechselnden Mitgliedern. Möglich wird dies wiederum nur aufgrund der Anwesenheit einer Vielzahl von Digitalen Nomaden in Chiang Mai; onlinebasiert sind diese Teil des zirkulierenden Kollektivwissens, lokal tragen sie maßgeblich zu Chiang Mais Hub-Struktur bei. Dass es sich hierbei um eine geographisch disperse Hub-Struktur handelt, hängt nicht zuletzt mit den vielfach über die Stadt verteilten Coworking Spaces und -Cafés zusammen. Anders als in Maltes Coliving-Haus fordert dieser Umstand die Akteure, ein Treffen im lokalen Raum durch Eigeninitiative (onlinebasiert) zu organisieren.
6.2.6
Gerrits persönliches Netzwerk (Teil 2): Zwischen lokal schwachen und transnational starken Beziehungen
Nach den ersten Wochen in Chiang Mai beschließt Gerrit auch die kommenden Monate dort zu verbringen. Er erzählt: „Äh, ich bin seit zweieinhalb Monaten hier und ich bleibe noch mal viereinhalb bestimmt. Also ein halbes Jahr würde ich erst mal hier sein. Ich habe jetzt aber keine Pläne. Es ist, könnte passieren, dass ich eher abhaue. Es könnte passieren, dass ich einfach dann länger bleibe“ (A. 228). Um
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nachvollziehen zu können welche Aspekte zu dieser Entscheidung beitrugen, wird im Folgenden nun Gerrits persönliches Netzwerk während seiner Zeit in Chiang Mai einer genaueren Betrachtung unterzogen.
6.2.6.1 Lokal schwache Beziehungen in Chiang Mai Wie voranstehend aufgezeigt, gelingt es Gerrit in Chiang Mai innerhalb kürzester Zeit soziale Kontakte zu anderen Gleichgesinnten zu knüpfen und mit einigen von ihnen einen regelmäßigen Austausch zu unterhalten (s. Abschn. 6.2.5.2). Voraussetzung für diese Beziehungsentwicklung ist zunächst deren gemeinsame Anwesenheit in derselben Stadt: G: „Robert hat jetzt auf jeden Fall wieder drei Monate Visum. Tobi wollte auch den ganzen Sommer bleiben. Yanis mit Freundin bleibt auch erst mal noch eine Zeit lang. Benjamin, glaube auch, ja, also ich glaube, die bleiben auf jeden Fall länger“ (A. 270).
Dieser Umstand sowie die Anwesenheit einer weiteren Vielzahl Digitaler Nomaden führt Gerrit zu folgender Schlussfolgerung: G: „Und, ähm, ich glaube, ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, ich bin hier nicht und werde auch in Zukunft hier nicht mehr allein oder weniger allein sein als in Berlin. Ähm, ich glaube, da ist kein Unterschied für mich. Ich habe zwar in Berlin mehr Leute, die ich kenne. Aber trotzdem auch nicht so, ähm, tiefe Freundschaften“ (A. 426).
Transparent wird hier, inwiefern Chiang Mai als Kontaktraum zwischen den Mobilen fungiert und dementsprechend die Charakteristika eines Digitalen NomadenHubs aufweist (s. Abschn. 6.2.5.2). Bei Bedarf kann sich Gerrit in Kopräsenz zu Gleichgesinnten begeben: G: „[I]ch glaube, ich bin jemand, der relativ schnell, ähm, andere Leute findet. Oder halt mit, einfach Leute anquatscht oder so und kein Problem habe, mit Leuten abzuhängen. Ähm, und ich habe auch gar nicht so, auf der anderen Seite gar nicht so das krasse Bedürfnis ständig Leute zu treffen. Ähm, deswegen macht das alles hier, das ist ganz angenehm so. Ich kann abhängen alleine oder einfach rumfahren und mir Sachen anschauen alleine. Und wenn ich mal jemanden treffen will, dann schreibe ich Leute und treffe mit jemandem“ (A. 424).
Wie Gerrit selbst sagt, wird es ihm in Chiang Mai möglich, bei Wunsch andere Onlineentrepreneure zu treffen, „abzuhängen“, oder auch alleine den Tag zu verbringen. Dies scheint nicht zuletzt aufgrund des von ihm beschriebenen Wesenszuges gut zu funktionieren. Darüber hinaus wird in dieser Sequenz erneut die Notwendigkeit von
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Eigeninitiative deutlich. Chiang Mai bietet als Hub zwar das entsprechende Umfeld, Kontakte müssen von den Akteuren jedoch aktiv hergestellt werden – bspw. durch Verabredungen für ein Barbecue-Treffen andernorts als in der eigenen Wohnanlage (s. Abschn. 6.2.5). Interessant ist an Gerrits Erzählung außerdem, dass er dieser Form der Kontaktknüpfung auch im Dialog mit Personen aus der lokalen Bevölkerung zu folgen scheint31 : G: „Das Mädels treffen ist relativ einfach, halt lässig, auch als, als Freundin. Ich habe hier mehrere Mädels, die ich kenne, die einfach, so abhängen kann oder treffen kann.“ I: „Thailänderinnen?“ G: „Ja, Thailänderinnen.“ I: „Und wie hast du die dann kennengelernt?“ G: „Ähm, weggehen, Tinder, ähm, ja, das ist es, weggehen oder Tinder 32 “ (A. 320– 324).
Dass Gerrit sich jedoch dennoch primär an Orten aufhält, an welchen er auf andere Personen aus dem Ausland trifft (bspw. Clubs: „Zoe“ oder „Spicy“ (A. 326)), zeigt bspw. folgender Satz: „[A]lso ich gehe persönlich auch zu den Hotspots, wo auch die internationalen Leute sind. Ja. Fällt einfach auch leichter, angenehmer. Weil, wenn du dann, ähm, hast du keine Sprachbarriere, ähm, alles scheint lockerer zu sein“ (A. 326). So gelingt es Gerrit, in einer für ihn neuen Stadt und fremden Kultur auf ihm bekannte Handlungsmuster zurückgreifen zu können.
6.2.6.2 Onlinearbeit in Chiang Mai und transnationale arbeitsbezogene (Online-)Beziehungen Mit Blick auf seine arbeitsbezogenen Tätigkeiten während seines Aufenthalts in Chiang Mai verfolgt Gerrit zwei Strategien: (1) Erfüllung von Auftragsarbeiten, um finanzielle Einnahmen generieren zu können sowie (2) Umsetzung eigener Projektideen, die noch in der Entwicklungsphase stecken (s. Abschn. 6.2.7) und somit wenig bis kein Geld einbringen. Mit dieser Vorgehensweise folgt Gerrit einem 31 Eine solche Form der Kontaktknüpfung wurde neben Gerrit nur von Sören erwähnt (s. Abschn. 7.3.3). Alle anderen skizzierten Beziehungen zu einheimischen Personen beschränken sich auf Mitarbeiter in Coworking- oder Coliving-Häusern (s. bspw. Fall Malte). 32 Auf Nachfrage die erwähnten Kontakte in der Netzwerkdarstellung zu visualisieren, verneint Gerrit lachend: I: „Möchtest du die da noch da hinzufügn?“ G: „(lacht) Nein, (lacht) ich glaube, ich trage da nicht Mädels ein. Das ist ein bisschen komisch. Aber das kommt irgendwie so, es ist einfach gar nicht, du triffst einfach leichter Leute“ (A. 325–326).
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bereits erprobten Handlungsmuster: „[E]in Teil von meiner, ähm, Aufgabe in der alten Firma, in der Softwareagentur, war es eben auch, Aufträge zu bekommen. […] Und jetzt, wo ich Freelancer bin, mach ich das, praktisch das Gleiche. Und habe ich auch in Seattle gemacht“ (A. 186–188). Sowie: „Und arbeite oder versuche, nebenbei eigene Apps oder Projekte zu entwickeln“ (A. 22). Anders als während seiner Zeit in den USA stellt Gerrit jedoch schnell fest, dass er mangels professionell angebotener „Networking-Komponente[n]“ (A. 196) in Chiang Mai (s. Abschn. 6.2.4.3) auf andere Rekrutierungsmaßnahmen zurückgreifen muss. Erneut spielen dabei onlinebasierte Kommunikationswege eine zentrale Rolle. Er erzählt: G: „[S]eitdem ich hier in Chiang Mai [bin], ist das alles, ähm, läuft hier alles online. Also auch mein Networking. Und mein, ähm, ja, meine Jobsuche und so weiter, ist dann halt alles online. Und nicht mehr Face to Face“ (A. 196).
Konkret: G: „Ah, ich bin auch in, ich bin, glaube ich, in acht verschiedenen Chats [von #nomad] drin. Ähm, das ist, glaube ich, auch was, ähm, das ist für ein normales, professionelles, also für meine, ähm, für meine Arbeit Interessantes. Ähm, ich bin ja in verschiedenen Slack-Gruppen. Und da sind öfter irgendwelche Jobangebote und da habe ich auch schon zweimal Jobs her“ (A. 178).
Die thematischen Fokusse der von Gerrit erwähnten Chats sind dabei bereits anhand des jeweiligen Chat-Namens ablesbar: „Also zum Beispiel, ich bin in einer Slack-Gruppe, die heißt Front-End-Entwickler. Das sind Front-End-Entwickler und tauschen sich aus“ (A. 180). Die Realisierung eines auf diese Weise gewonnenen „Jobs“ skizziert Gerrit in der nachstehenden Sequenz. Dabei handelt es sich um eine Programmiertätigkeit, die er für eine Firma mit Sitz in den USA (vgl. A. 316) ausführt: G: „Die sind eben Westküste. […] Ähm 14 Stunden Zeitunterschied oder so. Also das heißt mein 22 Uhr nachts ist denen ihr, ähm, 8 Uhr morgens. Und aber es heißt, dass ich oft auch, ähm, wenn ich aufstehe, morgens um 12 Uhr oder so, mit meiner Projektmanagerin kurz schreibe oder so, weil die dann immer noch wach ist. Ja, das heißt, wenn ich aufstehe und wenn ich ins Bett, also um 22 Uhr, das ist dann die meiste Zeit kommuniziere. Aber interessanterweise ist, ich weiß auch nicht, wie die, was mit der los ist, aber die ist schon die meiste Zeit auch wach. Also keine Ahnung, wie das läuft. Vielleicht hat die momentan eine andere Zeitzone oder so“ (A. 316).
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
195
Deutlich wird hier, dass Gerrit unabhängig von seinem eigenen – und dem seines Gegenübers – Aufenthaltsort mit Personen weltweit onlinebasiert zusammenarbeiten kann. Erst unter der Erfordernis zeitlicher Absprachen der transnationalen Zusammenarbeit wird das Thema Zeitzone zum Organisationskriterium (s. hierzu auch Abschn. 8.2). Dass Gerrits physische Anwesenheit in Chiang Mai – trotz seiner ortsflexiblen Onlinearbeit – einen Mehrwert mit sich bringt, wird unter Betrachtung seiner Arbeit an seinen eigenen Projektideen deutlich. Denn auch hierbei macht er sich die Anwesenheit der Vielzahl von Digitalen Nomaden (Chiang Mai als Kontaktraum) zunutze. Exemplarisch erzählt er: G: „Da gibt es noch einen, der macht, also sehr, sehr ähnlich, was ich mache. Also technologisch wie auch, ähm, so unser Ansatz, dass wir freelancen und so unser Geld verdienen. Und mit dem Geld versuchen, Projekt/ unsere eigenen Projekte zu machen. Und mit dem muss ich, glaub mal, noch öfter reden. Der macht das, ähm, besser als ich auf jeden Fall. Er macht es sehr erfolgreich. Also, ähm, ja, sehr, sehr erfolgreich sogar (lachend). Deswegen muss ich öfter mit dem quatschen. Ähm, wie er da so hingekommen ist. Ja, mal gucken“ (A. 286).
Interessant ist an der hier von Gerrit beschriebenen Orientierungsstrategie, dass er den Kontakt zu einer Person forciert, die mehr Effektivität bzw. Support für sein eigenes arbeitsbezogenes Handeln verspricht. So plant er über einen jüngst geknüpften Kontakt einen neuen und für ihn potentiell relevanten Informationszugang herzustellen. Möglichkeiten dieser Art waren ihm im Rahmen seines langjährigen oder Berliner Studienumfelds bislang nicht geboten (s. z. B. Abschn. 6.2.5.2). Anders verhält es sich mit der transnationalen arbeitsbezogenen Beziehung zu seinem Freund und früheren Gründerkollegen Emil (s. Abschn. 6.2.2.2), mit welchem er „auf jeden Fall noch Kontakt“ (A. 282) unterhält. Die während der gemeinsamen kopräsenten Zeit in Berlin gewachsene Beziehung dient Gerrit auch im Kontext seiner Mobilität als zuverlässige Ressource. Bspw. erzählt er: G: „Und wir hatten da vor zwei oder drei Wochen mal länger telefoniert, weil ich für meinen jetzigen Auftrag eigentlich Unterstützung bräuchte und gefragt habe, ob die mit einspringen wollen“ (A. 282).
Geographische Distanz bildet folglich auch in diesem Kontext kein Ausschlusskriterium für eine mögliche Zusammenarbeit.
196
6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
6.2.6.3 Transnational starke (Freundschafts-)Beziehungen Gleichwohl sich für Gerrit in Chiang Mai vielfach Gelegenheiten zur neuen Kontaktknüpfungen bieten, betont er die Relevanz konstanter Freundschaftsbeziehungen: G: „[I]ch glaube, ich schätze mich da wirklich glücklich, eben Taya und Lukas zu haben als gute Freunde. Die eben so, so diese Freunde sind, die konstant in deinem Leben sind. Und mit denen du auch praktisch alles teilst. Weil, wenn du jetzt nur mit Freunden bist, die du hier lokal triffst, ähm, die haben, die kennen dich halt erst seit dem Zeitpunkt. Und die wissen halt auch nicht alles über dich. Und ich glaube, das ist eben immer eine andere Art von Freundschaft. Ähm, aber ich finde eben diese, die richtig tiefe Freundschaft extrem wichtig. Und deswegen habe, bin ich da in einer glücklichen Situation. Ähm, dass eben, wenn du das nicht hättest, das wäre ein bisschen, na ja, du hast nie jemanden, mit dem du das so alles teilen kannst, was so los ist. Und, ähm, auch niemanden, der dich sonst richtig versteht, glaube ich“ (A. 424).
Wie die Sequenz zeigt, spielen Lukas und Taya, im Blick auf Gerrits Mobilität, trotz geographischer Distanzen, eine zentrale Rolle. Dabei fällt auf, dass den beiden Freundschaftsbeziehungen eine jeweils temporäre Kopräsenz gemein ist. Mit Lukas hat Gerrit eine gemeinsame immobile Zeit während seiner Schulzeit (s. Abschn. 6.2.3.1) und mit Taya eine gemeinsame mobile Zeit während ihrer Reise durch Südamerika (s. Abschn. 6.2.3.2) durchlebt. So konnte eine Beziehungsbasis geschaffen werden, welche auch über Landesgrenzen hinweg von Bestand ist. Geographische Distanz und emotional empfundene Nähe bilden dabei kein Ausschlusskriterium. Aufrechterhalten werden die Kontakte insbesondere mittels onlinebasierter Kommunikationsmittel. Den Kontakt zu seinem Freund Lukas beschreibt Gerrit bspw. wie folgt: G: „Und auch jetzt telefonieren praktisch so jede Woche, skypen wir und so“ (A. 106).
Über den Austausch mit Taya sagt er: G: „Ja, ich habe gestern auch mit Taya wieder telefoniert 33 , weil, die ist jetzt gerade, war eine Woche in Toronto. Und keine Ahnung, auf einer Hochzeit. Und ja hatte viel zu erzählen, war ganz lustig“ (A. 282).
Deutlich wird hier, dass der Austausch mit den beiden regelmäßig und nicht nur in Ausnahmesituationen stattzufinden scheint. Darüber hinaus unternimmt Gerrit Verabredungen für persönliche (nicht onlinebasierte) Treffen mit den beiden. Dies 33 Es kann aufgrund des Interviewkontexts angenommen werden, dass Gerrit hier von einer onlinegestützten Telefonie spricht.
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
197
zeigte sich bereits anhand seines Besuchs in Seattle bei Taya (s. Abschn. 6.2.4.3). Auch mit Lukas ist bereits das nächste Treffen geplant: „Den [Lukas] treffe ich jetzt dann Ende des Jahres auch in China“ (A. 50). Resümierend erklärt Gerrit: G: „Also meine Freunde eben, meine zwei besten Freunde [Taya und Lukas] sind praktisch immer im Ausland. Ähm, oder ich bin mit denen nie in persönlichen/ nie ist falsch, ähm, jedes halbe Jahr persönlich in Kontakt. Und dann für längere Zeit. Dann für einen Monat oder zwei, treffe ich die“ (A. 418).
Die Aufrechterhaltung von Freundschaftsbeziehungen über weite geographische Distanzen hinweg erscheint in dieser Sequenz aus Gerrits Perspektive scheinbar als selbstverständlich. Möglich wird dies vermutlich auch deshalb, da die Interagierenden ein gemeinsam geteiltes Verständnis für die Mobilität des jeweils anderen hegen34 – „Taya und Lukas sind eben auf meiner Wellenlänge“ (A. 428). Sorge, dass der Kontakt abbrechen könnte, macht sich Gerrit nicht: „[D]er Kontakt besteht sowieso genauso, wie als ob ich jetzt in Berlin wäre. Ist egal, ob ich jetzt in Thailand bin, das ist kein Unterschied“ (A. 420). Unter Hinzunahme der weiteren Beziehungsverflechtungen in die Betrachtung wird die zentrale Rolle von Taya und Lukas für Gerrit noch deutlicher. Im Visualisierungsprozess erklärt er beispielsweise: „Lukas und Taya wissen auf jeden Fall mehr über mich, als meine Familie“ (A. 302–304) (s. auch Abschn. 5.2.2.3). Nichtsdestotrotz steht Gerrit auch mit seiner Familie in regelmäßigem Kontakt. Auch diese Kommunikation erfolgt primär onlinebasiert: G: „[D]as ist so, wir schreiben relativ oft. Und ab und zu telefonieren wir. Äh, wir haben WhatsApp. Also Familien-WhatsApp, das ist ganz praktisch. Deswegen muss man gar nicht so viel telefonieren. Weil, wenn es irgendwas anderes ist, Mutti sowieso auf WhatsApp schreibt. Mein Bruder hat jetzt übermorgen Abschluss von seiner Uni. Da geht die ganze Family, der studiert da auch, wo ich studiert habe“ (A. 300).
Außerdem besucht er seine in München ansässigen Eltern in regelmäßigen Zeitabständen:
34 Anmerkung: Die beiden personalen Akteure Lukas und Taya nehmen im persönlichen Netzwerk von Gerrit eine strukturell äquivalente Position ein (s. Abbildung 6.10). Dementsprechend wurde im Analyseprozess zunächst die Frage aufgeworfen, weshalb die beiden Alteri eine strukturell äquivalente Position einnehmen. Welche Funktion nehmen diese im ego-zentrierten Netzwerk ein? Welche Bedeutung schreibt Gerrit den beiden Beziehungen zu? Das narrative Material zeigt, dass beide Akteure eine ähnliche Freundschaftsfunktion erfüllen.
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
G: „Ähm, als ich das erste Mal ins Ausland bin, also in Afrika, war meine Mutti nicht be/ sonderlich begeistert […]. [E]s hat sich aber gelegt. Also inzwischen, inzwischen ist das denen egal. Weil, ob ich jetzt in Berlin wohne und die zweimal im Jahr besuchen gehe oder in Thailand oder sonst wo wohne und die zweimal im Jahr besuche (lachend). Da ist für die nicht sonderlich großer Unterschied“ (A. 62).
Während Gerrits Eltern anfänglich also noch skeptisch gegenüber seinen Auslandsaufenthalten sind, erscheint für Gerrit die Überbrückung geographischer Distanzen längst als Normalität. Die Kilometeranzahl als solche nimmt dabei keinen Einfluss auf die Besuchshäufigkeit. Anders als während der Treffen mit Taya und Lukas wird außerdem deutlich, dass Gerrit in der Beziehung zu seiner Familie die Rolle des Besuchenden einnimmt. Durch ein In-Bezug-Setzen starker und schwacher Beziehungen in Gerrits persönlichem Netzwerk zeigt sich, dass schwache Beziehungen erst durch die Existenz starker Beziehungen ihr Potential entfalten können. Denn während neue Informationen durch schwache Beziehungen übermittelt werden, leisten (transnational) starke Beziehungen emotionale Unterstützung. Erst durch Letztere wird ein Einlassen auf das lokal fluide soziale Umfeld, innerhalb dessen der Einzelne austauschbar ist, möglich. Durch den physischen Aufenthalt an einem Digitalen Nomaden-Hub wird die Möglichkeit erhöht, auf Gleichgesinnte zu treffen, neues Wissen zu erlangen oder (arbeitsbezogenen) Support zu erfahren. Die Ausdehnung arbeitsbezogener Aktivitäten in den onlinebasierten Raum trägt zu einer Absicherung unabhängig vom eigenen Aufenthaltsort bei. Dementsprechend ergänzen sich lokaler und onlinebasierter Raum. Vertrauen und Nachhaltigkeit in einer Beziehung wird hingegen durch (temporäre) Kopräsenz erzeugt.
6.2.7
Zukunftsperspektive
Gegen Ende des Interviews richtet Gerrit seinen Blick in die Zukunft und reflektiert über seine bislang gemachten Erfahrungen. Erneut zeigt sich, dass er auch in diesem Zusammenhang an bewährten Handlungsmustern festhält.
6.2.7.1 Vorstellung zu geographischer Mobilität und sozialen Kontakten Resümierend und unter Rückblick auf seine sozialen Begegnungen in Berlin, Südamerika, Seattle und Chiang Mai beschreibt Gerrit seine Erfahrungen in der thailändischen Stadt wie folgt:
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
199
G: „[E]s [ist] hier [in Chiang Mai] auch eventuell sogar noch leichter Leute zu treffen, die auf meiner Wellenlänge sind, als in Berlin. […] Und hier, ähm, sozusagen einen Vorfilter hast von Leuten, die ins Ausland gehen, die im Ausland leben oder so. Ähm, das ist schon mal kein schlechtes Zeichen. Ähm, und man hat sofort Gemeinsamkeiten“ (A. 428).
Sowie weiter: G: „[A]uch mit Taya […] zeigt auch, die habe ich in Kolumbien getroffen. Und ich habe das Gefühl, wenn ich unterwegs bin, treffe ich, ist die Chance, dass ich Leute treffe, die auf meiner Wellenlinie sind, leichter, als wenn ich daheim bin“ (A. 430).
Beide Sequenzen zeigen, dass Chiang Mai zwar einerseits als Kontaktraum unter Personen mit ähnlichen Interessen dienen kann, gleichzeitig aber auch von den Akteuren ein bestimmter Wesenszug gefordert wird – nämlich offen auf Leute zugehen zu können. Unter dieser Voraussetzung scheint es Gerrit möglich, überall auf der Welt neue Kontakte zu knüpfen. Lokale Verwurzelung bildet dementsprechend nicht das Kriterium für soziale Eingebundenheit. Zentral ist für Gerrit dabei, dass es sich jeweils um Personen handelt, mit welchen er sich auf einer „Wellenlinie“ sieht: G: „[I]ch bin auch jemand der relativ, ähm, nicht streng, aber halt, ich kann das nicht ab haben, mit Leuten abzuhängen, von denen ich nicht viel halte. […] [F]ür mich ist da erst ein Mehrwert da, wenn die so auf einer Wellenlinie sind mit meinen, mit meiner Philosophie oder mit meinen, ähm, Ideen und mit meinem Lebensstil. Und mit, äh, wie man so drauf ist. Ansonsten, wenn ich mit irgendwem abhänge, das gibt mir nichts“ (A. 426).
Anders als für sesshafte Lebensführungen im Allgemeinen angenommen, ist Gerrit im Kontext seiner Mobilität nicht dazu gezwungen, täglich die gleichen (unliebsamen) Bürokollegen, Nachbarn oder Klassenkameraden sehen zu müssen. Entsprechend seiner Interessen kann er seine Kontakte optimieren.
6.2.7.2 Teamarbeit und (potentielle) neue Firmengründung Was seine künftigen Arbeitspläne betrifft, auch in Zukunft nicht (nur) allein, sondern gemeinsam mit anderen Gleichgesinnten in einem Team arbeiten zu wollen, plant Gerrit, sich die Anwesenheit einer Vielzahl von Onlinearbeitern in Chiang Mai zunutze zu machen: G: „Was ich eigentlich gern mal machen würde, ist, ähm, ein Haus mieten mit noch mal drei anderen oder so. Und dann so eine Art Coworking zu machen. Ähm, einfach
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Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
um sich gegenseitig ein bisschen zu pushen. Weil, wenn du halt immer alleine arbeitest, ist manchmal, also unabhängig, ob du in Deutschland oder hier bist, es ist, wenn du freelanced und nicht so den Druck von außen hast, ist manchmal halt nicht so leicht, sich zu motivieren. Und das wäre einfach was Cooles. Irgendwie zu viert ein Haus zu haben, mal gucken. Ähm, das wäre ganz/ mit Pool oder so (lacht), wäre ganz lässig“ (A. 278).
Auf diese Weise könnte es gelingen, Kopräsenz zu anderen Gleichgesinnten in Kombination mit Effektivitätsstreben herzustellen. Aus diesem Umstand könnte wiederum die Gründung eines Teams resultieren: G: „Zum einen würde ich, ähm, nicht sofort, aber wenn sich es ergibt, vielleicht Ende des Jahres gerne wieder ein neues Team aufbauen. Ähm, dieses Mal kleiner. Also wir haben das Westlable Minds haben wir zu fünft angefangen und am Schluss waren wir elf. Ich würde eher gern ein Dreierteam haben. Ich Technik, Marketing und ein Designer zusammen eine Firma zu starten. Hätte ich eigentlich Bock drauf“ (A. 340).
Deutlich wird hier, dass sich zuvor gemachte Erfahrungen und Handlungsmuster auch in Zukunft wiederholen könnten (bspw. hinsichtl. der Firmengründung mit Taya und Toreño Studios oder Emil und Westlable Minds). Erneut betont Gerrit auch für diesen künftigen Plan die Rolle einer soliden Vertrauensbasis mit seinen potentiellen Firmenpartnern: G: „Hypothetisch, ähm, sind das Leute, die du irgendwann mal triffst und merkst, dass die es drauf haben. Und die auch Bock haben, äh, was auf die Beine zu stellen. Und dann sind die dabei. […] [I]ch würde die persönlich erst mal treffen. Also sozusagen persönlich kennen. Ähm, mit denen persönlich auskommen können. Äh, ich will nicht/ muss nicht, sein dass du bester Buddy bist und bester Kumpel, wenn du mit jemandem arbeitest. Aber du brauchst du ja auch mal hohes Vertrauen, also es muss eine wirklich hohe Vertrauensbasis da sein. Und der Typ muss oder die Mädels müssen wirklich korrekt drauf sein. Ähm, sonst kannst du es vergessen. Also sonst brauchst du gar nicht starten. Ähm, du musst dem 100 % vertrauen können und, ähm, sonst würde es/ und das geht nur, wenn du persönlich jemanden kennst. Und also wenn du eine Firma zusammen hast, da kann der eine den anderen schon stark reinreiten und deswegen (..) muss das schon passen“ (A. 144–146).
Erneut zeigt sich, dass aus Gerrits Perspektive Vertrauen durch Kopräsenz hergestellt wird. Etwaige langwierige Vorstellungsgespräche oder Assessment-Center werden durch Werte wie Vertrauen oder Freundschaft ersetzt. Kontakträume, wie Chiang Mai bieten die notwendigen Ressourcen, um neue Informationen erhalten und u. U. Kollaborationen schließen zu können. Die Basis für das benötigte Vertrauen entsteht dabei durch Kopräsenz. Zugleich haben die
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
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Akteure (mit ihrer Onlinearbeit) jederzeit die Möglichkeit, ihren Aufenthaltsort zu verlassen und die besagte Kopräsenz aufzulösen.
6.2.8
Zusammenfassung Fall Gerrit
Die Fallrekonstruktion von Gerrit wurde stellvertretend für eine Vorstellung des Mobilitätshandlungsmodus II ausgewählt. Gerrit verkörpert einen Akteur, der maßgeblich als Koordinator und Organisator seiner geographischen Mobilität sowie seiner eigenen Lebensstilvorstellung auftritt. Hierzu stützt er sich nicht – ganz im Gegensatz zu Malte – auf Supportleistungen, die durch konkrete Einzelpersonen bereitgestellt werden. Stattdessen greift er (u. a.) auf (onlinebasierte) Digitale Nomaden-Angebote zurück, macht sich diese für seine Zwecke zunutze und erfragt gezielt für ihn relevante Informationen. Gerrit weiß, welche Form von Ressourcen er für die Realisierung seiner Ideen benötigt. Seine Mobilität präsentiert er als Selbstverständlichkeit. Dementsprechend wurde folgende Aussage von Gerrit
Abbildung 6.10 Gerrits persönliches Netzwerk – finale Darstellung
202
6
Mobilitätshandlungsmodi – Identifikation und Rekonstruktion …
als Schlüsselsequenz zur Repräsentation seines Mobilitätshandlungsmodus identifiziert: „[F]ür mich ist es nur logisch, ich mag im Ausland sein und ich habe einen Job, mit dem ich das machen kann. Also bin ich im Ausland“ (A. 46). a) Geographische Mobilität und Aufenthaltsorte: Orientierung an individuellen Interessen und Nutzung (Vielzahl) schwacher Beziehungen Gerrits Mobilitätshandeln ist insbesondere durch zwei Muster charakterisiert. (1) Geographische Mobilität erfolgt in Orientierung an individuellen Interessen, wie bspw. der Besuch von Freunden oder (2) geographische Mobilität erfolgt in Orientierung an onlinebasiert bereitgestellten Informationen, welche durch eine Vielzahl von anderen mobilen Personen wiederum eine Validierung erfährt (bspw. durch Kommentierung der Informationen). Der einzelne Akteur ist dabei austauschbar. Mit der Auswahl eines Digitalen Nomaden-Hubs (Stadt Chiang Mai) als Aufenthaltsort wird nicht das Ziel verfolgt, Zuspruch für die eigene ortsflexible Lebensführung durch andere mobile Personen zu erfahren. Stattdessen macht sich Gerrit die lokale Anwesenheit einer Vielzahl Digitaler Nomaden für seine Interessen zunutze. Im Vordergrund stehen arbeitsbezogene Thematiken wie Effektivität, Motivation und Projektkollaborationen. Durch eine Begegnungsmöglichkeit mit einer Vielzahl von Gleichgesinnten sowie der damit einhergehenden Möglichkeit zur Herstellung vielfältiger schwacher Beziehungen, erhöht sich die Chance neue Informationen zu erlangen. b) Persönliche Netzwerkeingebundenheit: Ego als Broker und Koordinator seiner Mobilität Als charakteristisch für Gerrits persönliches Netzwerk erweist sich dessen eigene Broker-Position (s. Abbildung 6.10). Erst durch ihn entstehen bestimmte Verbindungen zwischen den von ihm benannten einzelnen personalen Akteuren oder dem identifizierten Cluster (Alteri). Gerrit ist die einzige Kontaktperson (Broker) zwischen seiner Freundin in Seattle, seinen jüngst geknüpften Kontakten in Chiang Mai sowie seinem Freund in Berlin. Dadurch findet er sich innerhalb seines eigenen Netzwerks in einer gewissen Koordinations- und Kontrollfunktion wieder. Das bedeutet, dass er Einfluss auf das potentielle Kennenlernen seiner Kontaktpersonen nehmen kann (vorausgesetzt, diese befinden sich nicht bereits innerhalb des Clusters). Durch die geringe Dichte im Netzwerk (nicht jeder kennt jeden) (s. Abschn. 3.3) hat Ego wiederum mit weniger Restriktionen zu rechnen. Ein Streit mit einem Freund in Berlin muss keine Auswirkungen auf seine Sozialbeziehungen in Chiang Mai nehmen. Gerrit kann sein persönliches Netzwerk sukzessive optimieren. Gewachsen ist dieses strukturale Muster nicht zuletzt aufgrund seiner Mobilität. Gleiches gilt für die Aufrechterhaltung und Pflege neuer sowie bestehender Beziehungen.
6.2 Mobilitätshandlungsmodus II: Der Lebensstilnutzer
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c) Zur Nutzung eines Lebensstils Gerrit – als exemplarischer Repräsentant des Mobilitätshandlungsmodus II – greift auf ähnliche Weise auf Digitale Nomaden-Angebote zurück, wie Personen, die Modus I angehören. Er nutzt onlinebasierte Kommunikationskanäle, die auf Digitale Nomaden-Thematiken fokussiert sind und hält sich zuletzt an einem Digitalen Nomaden-Hub (lokal dispers charakterisiert) auf. Durch die so erzeugte Kopräsenz zu einer Vielzahl anderer mobiler Personen erhöht sich die Chance, auf Akteure mit ähnlichen Interessen zu treffen. Gerrit nutzt diese Ressource, um an für ihn wichtige Informationen zu gelangen und Motivation zu erfahren. Kontakte werden durch Eigeninitiative und nicht durch organisierte Programme hergestellt. Entsteht ein Kontakt zu einer Einzelperson, die aus Gerrits Perspektive einen Mehrwert verspricht (bspw. eine Arbeitskollaboration), forciert er die Entwicklung einer nachhaltigen Beziehung. Grundlage für deren Bestand über die Grenzen eines Nationalstaats hinaus bildet stets eine im Kontext von gemeinsamer (Im)Mobilität und Kopräsenz gewachsener Vertrauensbasis. Durch diese (erprobten) Handlungsstrategien macht sich Gerrit Digitale Nomaden-Angebote für seine eigenen Interessen zunutze. Schwache Beziehungen sind dabei von besonderer Relevanz zur Schaffung neuer Ideen, (transnationale) starke Beziehungen bieten Stabilität und (emotionale) Unterstützung. Den Begriff des Digitalen Nomaden nutzt er nicht als Selbstbeschreibung.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch empiriebasierte Querbezüge
Nachdem im vorangegangenen Kapitel 6 die beiden eruierten Mobilitätshandlungsmodi (jeweils als Typus) anhand zweier kontrastiver Fallverläufe vorgestellt wurden, erfolgt in diesem Kapitel eine Verdichtung der gewonnenen Erkenntnisse. Konkret bedeutet dies, dass Handlungs- und Strukturcharakteristika, welche sich in den Fallverläufen als zentral erwiesen, nochmals aufgegriffen und mit weiteren empirischen Datenmaterialien in Bezug gesetzt werden. So gelingt eine Herausarbeitung weiterer Ähnlichkeiten und Kontraste, welche schließlich zu einer induktiv ausgerichteten Verdichtung (vgl. Breuer 2010: 53) führen. Anstelle einer erneuten Gesamtdarstellung der Interviewverläufe, werden in diesem Teil der Arbeit jedoch (nur) ausgewählte Interviewausschnitte – stets unter Berücksichtigung von deren Einordnung im Gesprächsverlauf – herangezogen. Auf diese Weise werden Redundanzen minimiert. Im Allgemeinen erfolgt die Darstellung weitestgehend in Orientierung an den beiden zuvor identifizierten Modi. Dabei wird sich jedoch auch zeigen, dass eine strikte Zuordnung empiriebedingt nicht immer möglich ist. Das soll heißen, dass sich u. a. sowohl inhaltliche Ähnlichkeiten als auch Andeutungen für potentielle Modiwechsel – bedingt durch mögliche sich verändernde Reaktionen der Akteure auf immer wieder neue Handlungsanforderungen (vgl. Kelle & Kluge 2010: 86) – im Material finden werden. Dementsprechend wird in den nachstehenden Ausführungen eine ganz eigene Logik des Forschungsfeldes transparent werden. Konkret gliedern sich die nachstehenden Kapitel in folgende Themenbereiche: In Abschnitt 7.1 werden zunächst die in den Gesprächsverläufen identifizierten Funktionen von Brokern im Kontext der Mobilität der Interviewten besprochen. In Abschnitt 7.2 liegt der Fokus auf den sog. Digitalen Nomaden-Hubs, deren lokale Gestalt sowie deren Rolle und Wirkung für bzw. auf das (Mobilitäts-) Handeln der Akteure. In Abschnitt 7.3 steht das Thema Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Fokus. Daran anknüpfend wird in Abschnitt 7.4 Fragen zur © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_7
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7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Rolle des Lokalen sowie zum Zugehörigkeitsgefühl der Akteure nachgegangen. In Abschnitt 7.5 rücken die onlinebasierten Facetten von Mobilität ins Zentrum der Besprechung. Abschließend wird unter Abschnitt 7.6 eine Zwischenreflexion des bis dato vorgestellten Materials sowie etwaiger aufgekommener (Analyse-)Grenzen vorgenommen.
7.1
Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
Entlang der beiden voranstehend vorgestellten Fallverläufe zeichnete sich bereits ab, dass die ortsflexible Lebensführung der Interviewten durch eine Reihe biographischer (Prä-)Erfahrungen gekennzeichnet ist (s. Abschn. 6.1.2 u. 6.2.2). Dementsprechend kann nicht von einem konkret zu definierenden Startpunkt, sondern vielmehr von einem sukzessiven Hineinwachsen gesprochen werden. Weiter fällt bei einer Querbetrachtung der geführten Interviews auf, dass alle der Befragten im Verlauf ihrer Erzählung auf Akteure oder Entitäten verweisen, welche einen Einfluss auf ihre Interessensentwicklung am Thema Digitales Nomadentum und/oder der Umsetzung konkreter Mobilitätsschritte nehmen. Aus strukturaler Perspektive wird diesen daher eine Vermittlerfunktion, respektive eine Broker-Funktion, zuteil. Hinsichtlich dessen wird sich in den nachstehenden Ausführungen zeigen, dass diese – neben den voranstehend vorgestellten – sowohl unterschiedliche Charakteristika aufweisen als auch, dass die Befragten sich deren Funktion auf ganz eigene Weise zu Nutze machen. Die identifizierten Broker tragen daher grundlegend zur Gestaltung der Mobilitätshandlungen der Interviewten bei. Werden die gewonnenen Erkenntnisse kondensiert, wird außerdem deutlich, dass diese weitestgehend den zuvor identifizierten Modi I (s. Abschn. 7.1.1) und II (s. Abschn. 7.1.2) zugeordnet werden können.
7.1.1
Broker mit persönlichen Beziehungscharakteristika als Unterstützungsquelle (Modus I)
Ähnlich wie während des Gesprächs mit Malte, zeigt sich auch in einigen der anderen geführten Interviews, dass für die Befragten der persönliche Dialog mit geographisch mobilen Onlineentrepreneuren eine relevante Rolle im Kontext von deren Mobilität einnimmt. Dies gilt sowohl für eine erste thematische Annäherung an das Thema Digitales Nomadentum (s. Abschn. 7.1.1.1), als auch für die anschließende Umsetzung konkreter Landeswechsel (s. Abschn. 7.1.1.2). Zentral ist dabei, dass es sich bei den jeweiligen Gesprächspartnern stets um Personen mit entsprechendem
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
207
Erfahrungshintergrund handelt, welche nicht aus dem unmittelbaren Freundes- oder Bekanntenkreis des Befragten stammen.
7.1.1.1 Broker und Interessensentwicklung am Thema Digitales Nomadentum Ein solches Beispiel geht aus dem Interview mit Kristin hervor. Kristins Interesse an einer mobilen Lebensführung wird zunächst durch einen jüngst geknüpften Kontakt mit dem Akteur Oli geweckt. Ihren Beziehungskontext schildert sie wie folgt: „Das war ein Date. […] In dem Moment war er ein Fremder“ (A. 154 u. 518). Bei ihrem ersten Treffen stellen die beiden jedoch schnell fest, dass sie ein gemeinsames Interesse an Auslandsaufenthalten teilen. Anders als Kristin, blickt Oli neben Urlaubsreisen auch auf längerfristige Auslandaufenthalte zurück. Kristin erzählt: K: „Ähm, der sehr viel gereist ist. (I: Mhm.) Sehr, sehr viel gereist, der eine Zeit lang in Neuseeland gelebt hat, der in Mexiko gelebt hat“ (Kristin, A. 830).
Basierend auf diesem Aspekt dient Oli für Kristin als Impulsgeber, der – wie sich später noch herausstellen wird – eine nachhaltige Wirkung mit sich bringt (s. z. B. Abschn. 7.3.1.1): K: „[W]eil er einfach in meinem Umfeld damals einer der Ersten war, ähm, der wirklich so, so lange gereist ist. […] [I]n meinem Hamburger Umfeld war Oli einer der ersten Menschen, äh, die, äh, die ich dann so kennengelernt habe, die so, ähm, (.) ja so begeistert waren. (I: Mhm) Ähm und mich da so ein bisschen – genau – angestoßen haben“ (Kristin, A. 818, 824–826).
Anregungen und Ideen, die Kristin aus ihrem bestehenden Freundeskreis bislang folglich nicht erfahren konnte, werden durch ihren jüngst geknüpften Kontakt vermittelt. Da Oli außerdem aus eigener Erfahrung berichtet, kann angenommen werden, dass ihm eine gewisse Vorbildfunktion hinsichtlich der erfolgreichen Umsetzung von geographischer Mobilität zuteil wird. Auch konkrete organisatorische Informationen, wie bspw. die Beantragung eines Visums (vgl. A. 106) kann er vermitteln. Resümierend fasst Kristin zunächst zusammen: „Also es war, ähm, klar, Oli hat das ausgelöst“ (A. 186). Bei der Umsetzung einer eigenen onlinebasierten Geschäftsidee, als Voraussetzung einer lokal ungebundenen Einkommensquelle, kann Oli allerdings nicht helfen. Interessant ist dieser Umstand dennoch, da veranschaulicht wird, dass für einige der Interviewten ein bloßer Impulsgeber zur tatsächlichen Umsetzung einer ortsflexiblen Lebensführung nicht auszureichen scheint.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Da Kristin also – anders als viele der anderen Interviewpartner – vor der Herausforderung steht, ihre lokal verankerte Festanstellung kündigen und zugleich ein onlinebasiertes Business aufbauen zu müssen, entscheidet sie sich für eine Teilnahme bei der Digitalen Nomaden-Konferenz (DNX)1 in Berlin. Aufmerksam wird sie auf diese zunächst onlinebasiert: K: „[I]ch bin auf, ähm, ich bin auf Blogs gestoßen […]. Also auf diese ganze deutsche Bloggerszene und auf das ortsunabhängige Arbeiten. Dass ich dann auf die, die DNX/ (I: Okay.) Wichtiger, wichtiger Faktor. Das war die erste DNX/ (I: Mhm.) Ähm, in Berlin, die stattgefunden hat, auf die ich dann, äh, die ich besucht habe. (I: Ah okay.) Und da war schon diese Idee, okay, ich will davon mehr wissen, ich will das verstehen“ (Kristin, A. 264–272).
Außerdem erweist sich während ihres Konferenzbesuchs die Möglichkeit zum persönlichen Austausch mit erfahrenen Onlinearbeitern als besonders profitabel. Rückblickend beschreibt Kristin ihre Erfahrung wie folgt: K: „[E]s war (..) existenziell. Also wenn ich überlege, wenn ich dort nicht hingegangen wäre. […] Es war dann, genau, du hast nicht nur die Blogs gelesen und du hast mit deiner, (.) ähm, ja nicht nur für dich das gemacht, sondern du saßt auf einmal mit/ Wieviel waren wir denn da? Es war noch klein, waren 80 Leute oder 100 Leute. (I: Mhm.) Die aber das, alle dieselbe, den Spirit hatten, dieselbe Idee oder dieselben, ähm, Wünsche oder/ (I: Mhm.) Und alle in die gleiche Richtung wollten und DAS war, das war schon krass, es war gut, ja“ (Kristin, A. 312 u. 320–324).
Die Möglichkeit, auf eine Vielzahl von Personen mit ähnlichen Interessen zu treffen, eröffnet Kristin auf vielfältige Weise Zugang zu neuer Inspiration und Motivation. Die für sie tatsächlich ausschlaggebenden Gespräche führt sie jedoch mit konkreten Einzelpersonen. Dabei handelt es sich nicht um zufällig hergestellte Kontakte, sondern um Personen, die unter Digitalen Nomaden im Allgemeinen als bekannt gelten. Namentlich nennt sie Hannes – auch im Interview mit Malte benannt – und Chrissi2 : K: „Ich habe damals das erste Mal, (.) ähm, wirklich mit anderen Ortsunabhängigen darüber gesprochen, ich habe mit Chrissi und Hannes, weil die meinten: “Was hast du 1 Bei der erwähnten Konferenz handelt es sich um die gleiche Veranstaltung, welche auch von
Malte besucht wurde (s. Abschn. 6.1.4.2). Chrissi verweist bspw. auch der Interviewpartner Sören (s. Abschn. 7.1.2.1). Hannes und Chrissi verfügen beide über einen eigenen Blog, welcher jeweils onlinebasiert öffentlich eingesehen werden kann. Aus Gründen der Anonymität werden diese an dieser Stelle jedoch nicht mit einem Quellenverweis aufgeführt. 2 Auf
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
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denn vor? Was w/ Wenn du hier weggehst, was hast denn du vor?” (I: Mhm.) Ich so: “Ich mache einen Surfblog für Frauen.” (I: Mhm.) So, und die so: “Cool, geile Idee, Hammer, gibt es nicht.”“ (Kristin, A. 290–294).
Deutlich wird hier, dass Kristin im Gespräch mit Hannes und Chrissi nicht nur Motivation, sondern auch konkrete Bestätigung für ihre Geschäftsidee erfährt. Als besonders wertvoll kann dieser Austausch für Kristin außerdem auch deshalb bewertet werden, da sie die im Zitat aufgeführten Hinweise von zwei Personen erfährt, welche selbst über Erfahrungen im Blogging-Bereich verfügen. Dementsprechend kann angenommen werden, dass Hannes und Chrissi über einen entsprechenden Überblick zu aktuellen Onlineprojekten aus der Branche verfügen; sie also über das für Kristin relevante Wissen verfügen. Im Umkehrschluss kann angenommen werden, dass Kristin den beiden Bloggern aufgrund von deren Hintergrund einen Vertrauensvorschuss entgegen bringt. Interessant scheint in diesem Zusammenhang daher auch, dass Kristin von Hannes und Chrissi auf ihr konkretes Ziel nach Verlassen der DNX angesprochen wird. So entsteht eine beratende Gesprächsatmosphäre. Diese kann wiederum als eine Form von Unterstützung bewertet werden. Unter dieser Deutung wird Hannes und Chrissi folglich eine Broker-Funktion für Kristins Interessensentwicklung sowie für die Umsetzung ihres Onlinebusiness zuteil; sind sie es doch – und nicht Kristins langjährige Freunde –, die im persönlichen Gespräch die relevanten Informationen bereitstellen. Resümierend beschreibt Kristin den auf der Konferenz erhaltenen Input wie folgt: K: „[I]nspiriert von dieser DNX, also wirklich so da wieder herausgegangen bin, völlig beflügelt von den Menschen, die dort, äh, waren, die sehr offen damit auch kommuniziert haben, die nicht gesagt haben: “Ist alles Friede, Freude, Eierkuchen. Das ist alles leicht und easy. Nein, verdammte scheiße, es ist SCHWER!”“ (Kristin, A. 278).
Während ihres DNX-Besuchs erhält Kristin also die Möglichkeit, auch Informationen über die Schattenseiten einer onlinebasierten Selbstständigkeit aufgezeigt zu bekommen. Dass sich die Arbeit jedoch tatsächlich auszahlen kann, bekommt sie von erfahrenen – und somit nicht beliebigen – mobilen Onlinearbeitern wie Hannes und Chrissi bestätigt.
7.1.1.2 Broker und Umsetzung konkreter Landeswechsel Weiter richtet sich der Blick nun auf Interviewausschnitte, in welchen die Befragten von konkreten Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätsschritten berichten. Dabei zeigt sich, dass diese weder zufällig noch sozial isoliert stattfinden. Ein Beispiel hierfür bietet das Interview mit Raik. Ähnlich wie im Gespräch mit Malte,
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7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
berichtet auch Raik von einem Kennenlernen und anschließenden onlinebasierten Austausch, mit dem unter Digitalen Nomaden „relativ bekannt[en]“ (Malte, A. 301) Akteur Jonas. Auch Raik begibt sich aufgrund der Initiative von Jonas an den spanischen Küstenort Tarifa. Auf Nachfrage erzählt er: I: „(10) Nur für mein Verständnis, du meintest ja, du hast die3 ungefähr vor nem Jahr kennengelernt.“ R: „Ähm, (.) zum ersten Mal ja, auf der DNX. Und dann hab ich die [deuten auf Chrissi, Jonas, Caro und Kai in NWK] in Tarifa jetz gerade noch wiedergetroffen. (I: Ah, okay.) Wo ich auch nur war, weil Jonas da gerade das so/ so aufbauen will zum/ zum Nomaden-Hotspot in Europa. (I: Okay) Das fand ich sehr unterstützenswert und dachte, (.) da fahr ich hin und/ und, ja, ich kannt den eigentlich fast nur über Facebook und er hat mich eingeladen, bei ihm zu wohnen. Das hab ich sogar gemacht. (.) Und es war cool“ (Raik, A. 415–420).
Zentrales Argument für Raiks Entscheidung, nach Spanien zu gehen, bildet folglich Jonas Engagement zum Aufbau eines „Nomaden-Hotspot[s]“ sowie Raiks Interesse an Partizipation. Dementsprechend kann Jonas auch im Kontext von Raiks Mobilitätsschritt eine Broker-Funktion attestiert werden. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass im Rahmen von Raiks Mobilitätsmotivation nicht die Kultur oder Sprache des Ziellandes, sondern vielmehr die beschriebene Entwicklung eines „NomadenHotspot[s]“ im Fokus steht. Interessant ist unter dieser Perspektive außerdem, dass sich ein Zusammenhang zwischen Brokern mit persönlichen Beziehungscharakteristika zu der befragenden Person und deren Aufenthalt an einem der sich entwickelnden Digitalen Nomaden-Hubs (s. auch Abschn. 6.1.4) andeutet. Die Charakteristika und Rollen der besagten Hubs werden im nachstehenden Abschnitt 7.2 im Detail besprochen. Ein weiteres Beispiel geht aus dem Interview mit der Slowakin Paulina hervor. Im Kontext ihrer Mobilität nehmen ein Coworking Space bzw. dessen Mitarbeiter eine wichtige Funktion als Ansprechpartner ein. Während Coworking- und Coliving-Angebote im Allgemeinen ein stabiles Arbeitsumfeld (bspw. mit zuverlässiger Internetverbindung) bieten (s. Abschn. 4.1.1.3), zeigt Paulinas Beispiel außerdem, dass diese zugleich als Kontaktstelle dienen können. Wie sich nachstehend noch zeigen wird, macht sich Paulina diese Funktion zu Nutze. Hinsichtlich dessen beschreibt sie im Erzählverlauf zunächst die Phase vor ihrer Entscheidung für einen Landeswechsel (von Singapur nach Bali) wie folgt:
3 Bezugnehmend auf den vorherigen Interviewverlauf und die Visualisierung der vier Akteure
Chrissi, Jonas, Caro und Kai. Siehe auch Abschnitt 7.4.
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
211
P: “Um (.) so I felt a little bit like, okay, I needed some change. And, again, like very twist of life was that I’ve, I’ve been following Hubud 4 on Facebook since they started, and that I’m still more and more often, I’ve, I’ve, I’ve seen on the Facebook, like they are having events and skill sharing sessions and, and, and I don’t know, and then I discovered some other actually, mm (.) initiatives happening around Bali for entrepreneurs and digital nomads and so, and I started thinking like, ‘Okay, why am I in Singapore5 (.) er, when two and a half hours from here is Bali where I can live cheaper and have a community around me? Actually, the community around me was more, more important than living cheaper” (Paulina, A. 57).
Zunächst zeigt dieser Textauszug, inwiefern Paulina durch die Onlinepräsenz des Space dessen Events aus der Ferne folgen und so eine Vorstellung über die dortigen Angebote erhalten kann. Diese Möglichkeit bildet einen ersten Beitrag für Paulinas Interessensentwicklung an der Insel Bali als Aufenthaltsort. Zentrales Argument bildet dabei die dortige Anwesenheit von Gleichgesinnten. Bevor sie jedoch den Entschluss für einen tatsächlichen Landeswechsel fasst, entscheidet sie sich für eine persönliche Kontaktaufnahme, um Unklarheiten besprechen zu können: P: “Er (.) actually, I contacted Hubud, er, then whether, I wasn’t sure. There was something I wasn’t sure about, something about membership, yeah, because they have, you, you know how membership works here, and I wasn’t sure whether a one month membership is allowed, or whether they are interested in people who are staying here long term. So, I was very new to the concept of co-working spaces so I just wanted to check in front whether actually I will be able to, to be there a member while I’m here [in Bali, Anm. AM]. Now, it’s very obvious, now, now is the answer is very obvious or it was very obvious after (laughter) after their email, but, yeah, so I actually contacted, er, them and asked them whether I can come for one month and they said, “Of course”, and they sent me the PDF they made. It’s like ‘moving to Ubud’. It’s like a small pdf with some tips and tricks, and, and, um, some (.) interesting things what maybe someone is, er, er, asking about like before, before moving here” (Paulina, A. 141).
Durch die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit den Mitarbeitern des Coworking Space entsteht ein Austausch, der über die bloße Onlinebeobachtung hinausreicht. Durch den (Email-)Dialog und die erhaltenen Informationen gelingt es Paulina, letzte Unsicherheiten zu beseitigen. Die Frage nach der Möglichkeit zu einer Mitgliedschaft ist dabei aus zwei Gründen besonders interessant. Erstens wird so der Zugang zu einer geeigneten Arbeitsumgebung gesichert und zweitens wird 4 Name
eines balinesischen Coworking Space. Dieser wurde auch von Malte thematisiert (s. Abschn. 6.1.6.3). 5 Paulina studierte zunächst in Singapur und arbeitet dort im Anschluss onlinebasiert (vgl. A. 56).
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
durch eine Mitgliedschaft ein regelmäßiges Zusammentreffen mit anderen Digitalen Nomaden wahrscheinlich. Beide Kriterien werden im Austausch mit den Mitarbeitern bestätigt. Dementsprechend kann auch dem Coworking Space Hubud bzw. dessen Mitarbeitern eine Broker-Funktion attestiert werden; andernfalls wäre Paulina nicht an die für sie relevanten Informationen gelangt. Als charakteristisch bildet sich dabei ab, dass der Coworking Space als solcher sowie dessen Angebote als organisierte Anlaufstelle für die Interviewten dienen. Dies erinnert an den von Malte zuvor beschriebenen Aufenthalt im Coworking- und Coliving-Haus CoCoBa (s. Abschn. 6.1.6). So kann auch Paulinas Landeswechsel eingebunden in eine bestehende Infrastruktur erfolgen. Der am stärksten organisierte und gerahmte Mobilitätsschritt konnte in der vorliegenden Arbeit im Interview mit Jay identifiziert werden. Denn dieser berichtet von einer Teilnahme an einem Programm mit dem Namen „Hacker Paradise“ (Jay, A. 11). Dessen Konzept basiert auf der Kombination von organisierter geographischer Mobilität und Onlinearbeit. Auf der Homepage von Hacker Paradise heißt es: „We organize trips all over the world for developers, designers, and entrepreneurs who want to travel while working remotely or focusing on personal projects. We take care of accommodations, workspace, and community so that you can hop off the plane and immediately be productive6 .” Wie aus dem Text hervorgeht, werden von den Organisatoren des Programms all jene Aufgaben übernommen, welche die Befragten ohne ein solches Programm im Allgemeinen in Eigenleistung erbringen müssen. Darüber hinaus wird aus Perspektive von Jay deutlich, dass neben der organisatorischen Unterstützung auch die Möglichkeit zur gemeinsamen Mobilität mit Gleichgesinnten als zentral gilt. Dieser Aspekt wird bspw. transparent, als er von den Anfängen seiner ortsflexiblen Lebensführung berichtet: J: “I was with eh (..) ehm a small group, if you are in the eh nomad group7 , you have probably heard of it, called Hacker Paradise. So I was in this group for three month. So went through Vietnam, through (…) Bali and than from Bali to Thailand. So that´s that was the first time of my trip. And that was my excuse to work on/ getting myself stable, getting my money coming in and everything. Because I could invest in a program (unv. husten) for the first three month. So that gave me a good introduction […]“ (Jay, A. 11).
Wie Jay selbst sagt, ermöglicht ihm die Teilnahme am Programm von Hacker Paradise einen Mobilitätsauftakt, der geographische Mobilität ohne Einbußen am 6 Quelle
Hacker Paradise: http://www.hackerparadise.org/.
7 Bezugnehmend auf den Chatkanal #nomad. Mittels diesem erfolgte unsere Kontaktaufnahme
und Terminvereinbarung für ein Interviewtreffen.
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
213
täglichen Arbeitspensum erfahrbar macht. Außerdem erfolgt der Aufenthalt in für die Teilnehmer (u. U.) kulturell fremden Ländern, eingebunden in eine Gruppe von Gleichgesinnten. Dementsprechend kann auch Hacker Paradise als Broker im Kontext der Mobilität der Interviewten betrachtet werden.
7.1.1.3 Zusammenfassung: Broker mit persönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego Gemein ist all den in diesem Kapitel vorgestellten empirischen Beispielen, dass sie einen personalen Akteur oder eine Entität (Program) repräsentieren, welchem/ welcher im Kontext von Egos Mobilität eine Broker-Funktion attestiert werden kann. Als charakteristisch erweist sich dabei, dass es sich stets um jüngst hergestellte Kontakte handelt, welche für Ego als persönliche Ansprechpartner fungieren. Im Fall von Kristin waren es bspw. Hannes und Chrissi, die ihr während ihres DNXBesuchs relevantes Feedback vermittelten, bei Raik war es Jonas, der wesentlichen Einfluss auf dessen Mobilität nach Spanien nahm, im Fall von Paulina war es die Möglichkeit zur Kontaktaufnahme mit Coworking Space-Mitarbeitern, durch welche ihr Sicherheit vermittelt werden konnte und Jay begann seine Mobilität im Rahmen eines organisierten Programms. Durch den persönlichen Austausch entsteht einerseits die Möglichkeit, Nachfragen zu stellen und andererseits Motivation, Feedback und u. U. Zuspruch für das eigene Handeln zu erfahren. Darüber hinaus haben die Beispiele gezeigt, dass ein durch persönlichen Austausch inspirierter und abgesicherter Mobilitätsschritt stets an einen Aufenthaltsort mit anderen Digitalen Nomaden (sog. Digitaler Nomaden-Hub (s. Abschn. 7.2)) führt. In Abbildung 7.1 ist eine Übersicht zu dem Beschriebenen aufgeführt:
Broker mit persönlichen Beziehungscharakteriska zu Ego
geograph. Mobilität von Ego
Digitaler Nomaden-Hub
- (Garanerte) Lokale Anwesenheit anderer DNs - Kopräsente Eingebundenheit von Ego in soziales DN-Umfeld
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.1 Broker mit persönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego
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7.1.2
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteristika als Informationsquelle (Modus II)
Ähnlich wie sich bereits während der Fallvorstellung von Gerrit abzeichnete, machen sich auch andere Interviewpartner jüngst entwickelte Kommunikationskanäle und Onlineplattformen für ihre Informationsrecherche zu Nutze. Zentral ist dabei, dass es sich um keinen persönlichen Austausch, wie er im voranstehenden Kapitel unter Bezugnahme auf Mobilitätshandlungsmodus I identifiziert werden konnte, handelt. Stattdessen sind Gesprächspartner austauschbar, Informationen werden entsprechend der persönlichen Interessen der Interviewten selektiert und der Erkenntnisgewinn bleibt meist auf einer anonymen Ebene verhaftet. Es wird deutlich: Nicht die Einzelperson, sondern der aus einem Gespräch zu gewinnende potentielle Informationsgehalt als solcher steht im Vordergrund. Dieses Muster zeigt sich sowohl im Rahmen allgemeiner Auseinandersetzungen der Interviewten mit dem Thema des Digitalen Nomadentums (s. Abschn. 7.1.2.1), als auch im Kontext konkreter Landeswechsel (s. Abschn. 7.1.2.2).
7.1.2.1 Broker als Informationsquelle zum Thema Digitales Nomadentum Ein Beispiel für den in den Interviews vielfach benannten Nutzen „neue[r] Medien“ (Sören, A. 9), liefert das Interview mit Sören. Dieser spricht in seiner Erzählung von sogenannten „virtuellen Gesichter[n]“ (Sören, A. 10). Damit spielt er auf Blogautoren an, welche unter Digitalen Nomaden im Allgemeinen als bekannt gelten (s. hierzu auch Maltes Aussage in Abschn. 6.1.4.1 u. Kristins Aussage in Abschn. 7.1.3). Die dort öffentlich einsehbaren Informationen, Erfahrungsberichte und Diskussionen wecken zunächst Sörens Interesse an einer ortsflexiblen Lebensführung. Er berichtet: S: „Ich hab viel Hilfe online suchn können beziehungsweise in Blogs, in neuen Medien (lacht), ich les nich so gerne. Also ich les nich so gerne Bücher oder so. Deswegn ich les sehr gerne online ehm und genau, da gabs verschiedene Personen die ich im Prinzip nie gekannt hab aber die sehr gut/ sehr gut animieren ham können. Und eh ja genau, also es gab keine Person die mich jetzt an der Hand genommen hat oder so und gesagt hat ok darauf musst du vielleicht achtn oder sowas. Sondern das war/ also keine die ich wirklich kannte sondern es warn dann alles visuelle/ oder virtuelle (lacht) eh Gesichter.“ I: „Gabs da irgendwie spezielle virtuelle Gesichter?“
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
215
S: „Ehm ja ich muss sagn ich bin ganz großer Fan von Philipp Kamp von Spots AtW 8 und Chrissi Pawlak 9 .“ I: „Okay“ S: „Die so im deutschsprachigen Raum mehr oder weniger bekannt sind. Genau, die beidn ehm/ dadurch das/ die Chrissi im Prinzip die hau drauf Frau und der Philipp Kamp musste planen (lacht) und dieser Mix war eigentlich ziemlich, ziemlich gut, ja“ (Sören, A. 9–13).
Wie die Sequenz zeigt, bleibt Sörens Recherchevorgehen auf einer onlinebasierten Ebene verhaftet. Wie er außerdem selbst sagt, sucht er nicht nach einem persönlichen Austausch, einer Bestätigung oder gar einem Dialog mit den Blogautoren. Als interessant erweist sich an seiner Informationsbeschaffungsstrategie daher, dass ihm durch das gewählte Medium (nämlich Blogs) individuelle Eindrücke und Erfahrungsberichte aus der Perspektive der AutorInnen bereitgestellt werden bzw. von ihm als Leser konsumiert werden können, ohne persönliche Rücksprachen halten zu müssen. Durch die mittlerweile vielzähligen im Internet kursierenden Blogs wird es ihm zudem möglich, Informationen, Empfehlungen oder allgemeine Hinweise entsprechend seiner eigenen Interessen zu selektieren, zu vergleichen oder zu kombinieren. Ein bewertendes Feedback zu seinen Entscheidungen, Projektideen oder Mobilitätsvorstellungen erfährt er dabei nicht. Ein ähnliches Beispiel für die Weitergabe von Informationen, Ratschlägen und Erfahrungsberichten bildet ein von den Interviewten häufig benanntes Buch mit dem Titel „4-hour workweek 10 “ von Timothy Ferris; unter den Interviewten auch bekannt als Onlineunternehmer (vgl. z. B. Owen, A. 2, Mathéo, A. 10). Zu jenen Befragten, welche auf das Buch verweisen, zählt bspw. Owen. Im Interview kommt er auf dieses zu sprechen, als er über seine Überlegungen zur Aufgabe seiner ortsgebundenen Lebensführung in Kanada berichtet: O: “I havn’t even been part of this digital nomad escape thing, were/ you know, it´s bad everywhere you know, like like ehm I mean I´m stealing this from 4-hour workweek, like we all do. That´s actually a huge influence too. […] Ehm that´s probably/ ehm a person Tim Ferris´ personality is really ehm Tim Ferris/ because he is more like I am.
8 Blog-Name:
Spots Around the World (Pseudonym). ebenfalls von Kristin (s. Abschn. 7.1.1.1) im Interview benannt. 10 Wie der Titel bereits vermuten lässt, schreibt der Autor Timothy Ferris in seinem Buch über eine 4-Stunden Arbeitswoche. Darin berichtet er über seine eigenen Arbeitsgewohnheiten, lässt den Leser an seinen Erfahrungen teilhaben und zeigt Möglichkeiten auf, wie Arbeit und Mobilität verbunden werden können (Ferris 2007). 9 Wurde
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
He is crazy, he is a good crazy. He is more/ I relate more to him than I do Cody11 . So ehm, a person not the book. But his book was really great” (Owen, A. 2).
Zunächst gilt es festzuhalten, dass ein Buch im Allgemeinen eine Informationsquelle darstellt, die ohne die Interaktion mit anderen Personen auskommt. Der Leser kann das Geschriebene konsumieren, ohne einen persönlichen Austausch herstellen zu müssen. Im Fall von Owen scheint Tim Ferris außerdem eine gewisse Vorbildfunktion – mehr als der Blogger Cody – zuteil zu werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Beispiele zeigen, wie Blogs oder Bücher bzw. die jeweils dahinterstehenden Autoren, eine einflussstiftende Wirkung auf die Überlegungen und Interessensentwicklungen der Interviewten nehmen können. Daher können diese im Rahmen der Auseinandersetzung der Befragten mit der Thematik des Digitalen Nomadentums durchaus als Broker bezeichnet werden; wäre ohne die veröffentlichten Informationen eine Auseinandersetzung mit der Thematik auf diese Weise doch nicht möglich.
7.1.2.2 Broker und Umsetzung von Landeswechseln Ähnlich wie sich zuvor in der Fallrekonstruktion von Gerrit abbildete, greifen auch viele der anderen Interviewpartner auf die Onlineplattform Nomad List sowie den Chatkanal #nomad als Informations- und Kommunikationsressource zurück. Auffällig ist dabei, dass sich die Erzählungen über die Nutzbarmachung der Onlinetools sowie die darüber gewonnenen Informationen erstaunlich ähneln. Exemplarisch zeigt sich dies bspw. in Joshuas Ausführungen, als er sagt: “Hashtag Nomads, so that’s another thing that’s been useful” (Joshua, A. 130). Auch er orientiert – wie zuvor bereits von Gerrit beschrieben – seine Mobilitätsentscheidung an dem von Nomad List bereitgestellten Städteranking. Seinen Weg nach Chiang Mai erläutert er dementsprechend wie folgt: J: “NomadList.com is this site that, um, ranks cities for nomads in terms of how good a place is to live. And I think a lot of people actually came to Chiang Mai because of that list because Chiang Mai is like the number one place. So, that was, yeah, like that’s one of the reasons I came here. I mean, I already liked Thailand and like, okay, I didn’t really care which city and I see, ´Okay, Chiang Mai is number one. Okay, great, I’ll go to Chiang Mai‘” (Joshua, A. 116).
Auf ganz ähnliche Weise berichtet der Brasilianer Ricardo von seiner Entscheidung für einen Aufenthalt in der nördlich gelegenen Stadt von Thailand: 11 Vorname eines englischsprachigen Bloggers. Aus Gründen der Anonymität wird an dieser Stelle kein Quellenverweis auf dessen Blog aufgeführt.
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
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R: “Um, and I just, just thought, ‘Man, I’ve never been to Asia. I want to try Asia to just see what, what about it’, and then decided to come to Thailand. […]” I: “Do you remember how this turned out exactly?” R: “Yes, it was the Nomad List-Website, yes. Uh, nomad, that site is amazing. I researched a lot in that site and, and decided to go to Chiang Mai. It’s like the digital nomad-road hub, like every-, everybody’s here” (Ricardo, A. 11–15).
Beide Fälle zeigen exemplarisch, inwiefern die Onlineplattform Nomad List eine zentrale Rolle im Kontext der jeweiligen Mobilitätsentscheidungen einnimmt. Die dort bereitgestellten Informationen sowie der Listenplatz Chiang Mais auf Nummer eins, bilden die ausschlaggebenden Argumente für einen dortigen Aufenthalt. Dementsprechend erscheint die Broker-Funktion von Nomad List, im Kontext der Umsetzung konkreter Landesgrenzen überschreitender Mobilitätsentscheidungen, offensichtlich. Darüber hinaus spricht Ricardo von Chiang Mai als „digital nomad road hub” (Ricardo, A. 15) und umschreibt so die dortige Anwesenheit einer Vielzahl Digitaler Nomaden. Dieser Umstand führt bei einigen der Befragten wiederum zu Folgeargumentationen. Bspw. erzählt Anna: „Like for me, it shows me that the internet works there (laughter), so if there are other Digital Nomads I know “Okay, if you work there, I can work there. It´s okay”“ (Anna, A. 55). Durch die Anwesenheit einer Vielzahl von Onlineentrepreneuren erhält der Ort hinsichtlich dessen Tauglichkeit für die Interviewten folglich eine Validierung; kann Anna aufgrund der von ihr beschriebenen Umstände doch davon ausgehen, dass die dortige erfolgreiche Umsetzung onlinebasierter Tätigkeiten keinen Einzelfall bildet. Deutlich wird so auch, dass der Einzelne als Informationsquelle austauschbar und stattdessen die Meinungen und Erfahrungen einer Vielzahl relevant werden. Nomad List und #nomad bieten geeignete Kanäle, um die Informationen zu bündeln. Dementsprechend wird an dieser Stelle von den beiden Tools auch von einer materialisierten Form eines Brokers (mit unpersönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego) gesprochen. Ein weiterer, im Datenmaterial als Ausreißer identifizierter, Broker zeigt sich im Interview mit Jay. Dessen Erzählung ist dabei insbesonder aus zwei Gründen besonders interessant. Erstens aufgrund seines geschilderten Mobilitätsschritts von Indonesien nach Taiwan (vgl. A. 5) sowie der damit in Zusammenhang stehenden Rolle eines für ihn unbekannten „someone“ (A. 9) und zweitens aufgrund des sich dabei andeutenden Modiwechsels. Seinen Aufenthalt in Indonesien beschreibt er zunächst wie folgt:
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J: “So, I was in/ my main inspiration was actually because I was in Indonesia for two month. You know/ in Indonesia the internet is terrible12 […]. I had with maybe for two month was a one megabit download speed. And that was droped every now and than ehm and I was like after a few days ehm didn´t make my employer super happy. So I decided I will move somewhere/ where (..) a little bit more stable infrastructure and to have some internet connection“ (Jay, A. 9).
Sein Hauptargument für einen Landeswechsel bildet folglich die – für seine Bedürfnisse – problematische Internetinfrastruktur in Indonesien. Außerdem dominieren arbeitsbezogene Interessen die Auswahl seines künftigen Aufenthaltsortes; Landeskultur oder -sprache rücken in den Hintergrund. Seine letztendliche Entscheidung, nach Taiwan zu gehen, resultiert schließlich aus einem Hinweis, welchen er im Rahmen eines informellen und zufällig entstandenen Gesprächs erhält. Jay erzählt: J: “So in times were I arrived, I just arrived. I had no idea Tai/ Taiwan/ someone told me a few days befo:re „the internet is really good and it´s a nice place to be“. So: I thought, ok I wanna go there (laughter). I had no::: like no information about Taiwan in any way […]” (Jay, A. 4).
Erstaunlich erscheint an dieser Sequenz, dass Jay auf die Aussage einer ihm unbekannten Person, „someone“, zu vertrauen scheint. Vermutet werden kann, dass die besagte Person selbst über Taiwan-Kenntnisse verfügt und dementsprechend aus Erfahrung berichtet – ein Indiz gibt es hierfür jedoch nicht. Interessant ist dennoch, dass Jay durch einen jüngsten Kontakt und nicht von einem langjährigen Freund die für ihn relevanten Informationen erhält. Eine mögliche Annahme kann daher sein, dass Jay im Kontext seiner Mobilität mittlerweile mehrfach Begegnungen dieser Art erlebte und dementsprechend mehrfach auf die Internetinfrastruktur in Taiwan aufmerksam gemacht wurde. Unter dieser Perspektive könnten die jüngst gewonnenen Informationen eine Validierung erhalten und das Prinzip würde dem Rückgriff auf das Wissen Vieler ähneln. Da es sich bei dieser Überlegung jedoch nur um eine Annahme handelt wird auch klar, dass es weiterer Untersuchungen zu bspw. flüchtigen Begegnungen und deren Rolle im Kontext von Egos Mobilität bedarf. Was sich neben all den Vermutungen jedoch weitaus deutlicher abbildet, ist, dass Jay sein Mobilitätshandeln im Verlauf seiner Mobilität geändert hat. Denn während er im voranstehenden Kapitel noch von seiner Teilnahme am Programm Hacker Paradise und der damit in Zusammenhang stehenden organisierten Mobilität berichtet (s. Abschn. 7.1.1.2), scheint er nun (auch) auf eigene Faust Landeswechsel zu unternehmen. Inwiefern Jays Aufenthalt in Taiwan jedoch als langfristig betrachtet werden 12 Jay
nimmt keine Spezifikation seines genauen dortigen Aufenthalts vor.
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
219
kann oder ob er sich nach Fertigstellung seines Projekts erneut einer Gruppe von Gleichgesinnten anschließt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Auch hierzu bedarf es weiterer Forschung.
7.1.2.3 Zusammenfassung: Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego Als zentral für all die in diesem Kapitel als Broker identifizierten Akteure oder Entitäten bildet sich ab, dass diese durch die Austauschbarkeit von Einzelpersonen und/ oder eine gewisse Anonymität gekennzeichnet sind. Im Fall von Sören und Owen sind dies Blogs und ein Buch, bei Joshua, Ricardo und Anna ist es der Rückgriff auf Nomad List sowie #nomad und im Fall von Jay ist es eine ihm unbekannte Person. Informationen werden primär ohne in-person Austausch recherchiert und konsumiert. So entsteht ein Zugang zu Wissen, Erfahrungsberichten oder Ratschlägen, ohne in persönlichen Kontakt mit anderen treten zu müssen; wie erwähnt bildet die Erfahrung von Jay dabei eine Ausnahme. Darüber hinaus liegt es an Ego, die für ihn wichtige Information zu recherchieren, zu selektieren und zu bewerten. Wird dabei auf ein Onlinetool wie Nomad List in Kombination mit dem Chatkanal #nomad zurückgegriffen, entsteht ein Zugang zu Erfahrungen von mehreren Personen. Wie die Beispiele gezeigt haben, machen sich die Interviewten diese Möglichkeit zu Nutze und vertrauen in diesem Zusammenhang auf eine durch eine Vielzahl von Akteursmeinungen validierte Information. Die Personen hinter den Meinungsbildern bleiben anonym und sind austauschbar. Des Weiteren hat sich gezeigt, dass auch Broker wie bspw. die Entität Nomad List, welche kein persönliches Beziehungsverhältnis zu Ego aufweisen (können), die Interviewten an Orte führen, welche als „digital nomad-road hub[s]“ (Ricardo, A. 15) beschrieben werden. Hinsichtlich dessen wird sich im nachstehenden Kapitel noch zeigen, dass diese grundlegende Unterschiede zu jenen im vorherigen Kapitel erwähnten aufzeigen (s. Abschn. 7.2). Ausnahmen hinsichtlich der Destinationsauswahl wurden am Beispiel von Jay veranschaulicht. In Abbildung 7.2 ist eine entsprechende Übersicht aufgeführt. An diese wird auch im Folgekapitel 7.2 angeschlossen.
7.1.3
Zusammenfassung
Anhand der voranstehend aufgeführten Beispiele in diesem Kapitel bildete sich ab, dass die identifizierten Broker – sei es als personaler Akteur oder Entität – eine orientierungsstiftende Ressource für Ego bereithalten. D. h., dass diese für die Befragten Informationen, Anregungen oder Impulse bieten, welche aus deren (u. U.) langjährig beständigem sozialen Umfeld nicht hervorgehen (s. hierzu auch
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Broker mit unpersönlichen Beziehungscharak -teriska zu Ego
Digitaler Nomaden-Hub
- Lokale Anwesenheit anderer DNs - Herstellung kopräsenter Eingebundenheit von Ego in soziales DN-Umfeld durch Eigenengagement
kein Digitaler Nomaden-Hub
- keine Anwesenheit anderer (Vielzahl von) DNs
geograph. Mobilität von Ego
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.2 Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteristika zu Ego
Abschn. 7.3). In diesem Zusammenhang zeigte sich außerdem, dass die jeweiligen Broker nicht nur in unterschiedlicher Gestalt auftreten (Einzelpersonen, Onlinetools, Programm, Blogs, Buch), sondern die Akteure sich deren Funktion auch auf ganz verschiedene Weise zu Nutze machen. Interviewte, deren Handlungsstrategien Modus I zugeordnet werden konnten, zeigen, dass sie durch den persönlichen Austausch mit erfahrenen mobilen Onlinearbeitern sowohl Ermutigung und Bestätigung für ihr Vorhaben, eine ortsflexible Lebensführung zu führen, als auch konkrete Unterstützung (bspw. durch Coworking Space, Hacker Paradise) bei der Umsetzung von Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätsschritten erfahren. Personen, deren Mobilitätshandlungsstrategien hingegen unter Modus II subsumiert wurden, zeigen, dass die Akteure primär Recherchequellen nutzen, die ohne einen persönlichen Dialog mit einer Einzelperson auskommen (bspw. Blogs, Buch, Chatkanal, Onlineplattform). Die Befragten wissen, welche Informationen für sie als relevant gelten; sie wissen, wonach sie suchen und selektieren Informationen entsprechend ihrer Interessen. Gemein ist all den Brokerformen, dass es sich um jeweils jüngst geknüpfte Kontakte zu konkreten Personen oder kürzlich hergestellten Verbindungen zu einer Entität, wie bspw. zu der Onlineplattform Nomad List, handelt. Während Ersteres dabei durch ein persönliches, vertrauensvolles Beziehungscharakteristikum zu Ego gekennzeichnet ist (Modus I), weist Letzteres auf ein anonymes, unpersönliches Beziehungsverhältnis, bei welchem der Einzelne als austauschbar gilt, hin (Modus II). Unabhängig von der Beziehungsform, liefern jedoch alle der identifizierten Broker neue Impulse für Ego. Sie bündeln die für die Befragten interessanten Informationen und dienen als (Wissens-)Vermittler – also als Broker (vgl. Burt 2004). Dabei fällt außerdem auf, dass es sich stets um eine gerichtete, also nicht-reziproke
7.1 Broker als Ressource im Kontext von Mobilität
221
Verbindung (vgl. Diaz-Bone 1997: 128 f.) handelt. D. h., dass die Interviewten zwar neuen Input erhalten, Ähnliches jedoch nicht oder nur bedingt auf direktem Wege zurückgeben; Informationen werden nicht zwingend wechselseitig ausgetauscht. Dabei zeigt sich insbesondere unter Betrachtung von Modus I, dass dieser Aspekt nicht zuletzt mit dem jeweiligen Erfahrungshintergrund eines Akteurs in Zusammenhang steht. Denn die entsprechend aufgeführten Narrationsausschnitte zeigen, dass die Interviewten bei erfahreneren (als sie selbst) Onlinearbeitern den für sie notwendigen Zuspruch erfahren bzw. durch Nachfragen einfordern. Dabei wird den jeweiligen Broker-Akteuren neben deren Vermittler- außerdem auch eine Vorbildfunktion zuteil. Die Rückgabe von Wissen wird unter den besagten Voraussetzungen (aufgrund von Mangel an Egos Erfahrung) jedoch schwierig. Anders – und doch ähnlich – verhält es sich mit Entitäten, wie Blogs, Nomad List oder #nomad, deren Rolle unter Modus II subsumiert werden konnte. Auch in diesen Kontexten geben die Interviewten Ratschläge oder Informationen nicht unmittelbar zurück. Resümierend kann festgehalten werden, dass neben den durch die Broker – unabhängig von deren Gestalt – vermittelten Informationen ein Effekt transparent wird, der zeigt, inwiefern die persönliche Netzwerkentwicklung der Befragten beeinflusst wird; wird den Interviewten durch einen Broker doch stets der Weg zu den für sie relevanten Wissensquellen oder anderen Gleichgesinnten geebnet. Abschließend soll dieser Aspekt nochmals unter einer veränderten Perspektive und einer weitreichenderen Kontextualisierung betrachtet werden. Denn durch die von den Befragten genannten Onlinemedien und Blogs bzw. deren Leserschaft wird deutlich, dass sich ein zunehmendes Interesse an der Thematik des Digitalen Nomadentums zu entwickeln scheint (s. bspw. Malte und Sören, die in ihrer Erzählung auf ausgewählte Blogs verweisen (Abschn. 6.1.3.4 u. 7.1.2.1)). Gleichzeitig wird so transparent, dass durch die online bereitgestellten Beiträge zunehmend mehr Informationen über ortsflexible Arbeits- und Lebensformen an die Öffentlichkeit geraten. Dadurch erwächst das Phänomen des Digitalen Nomadentums seit jüngster Vergangenheit auf gewisse Weise aus sich selbst heraus. Konkret nachvollziehbar wird diese Aussage bspw. auf geographischer Ebene, anhand der Herausbildung von „digital nomad-road hub[s]“ (Ricardo, A. 15); also Orte, die durch die Anwesenheit einer Vielzahl von Digitalen Nomaden gekennzeichnet sind. Da diese durch online veröffentlichte Erfahrungsberichte beworben werden, scheinen sie für zunehmend mehr Onlinearbeiter an Attraktivität zu gewinnen. Dementsprechend scheint ein Satz, wie er nachstehend von Kristin im Rahmen der Auswahl eines ihrer Aufenthaltsorte formuliert wird, nicht verwunderlich: „Nicht irgendein andere Ort, sondern
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Canggu13 . Ähm, weil die zum Beispiel, ähm/ Hannes und Chrissi vom WorldPlanet 14 , also zwei diese beiden Reiseblogger, ähm, erzählt haben, wie großartig du dort arbeiten kannst 15 “ (Kristin, A. 576). So zeigt sich, wie Blogs nicht nur auf der Ebene der Mobilitätspraktiken der Befragten eine Brokerfunktion erfüllen können, sondern auch, inwiefern diese auf die Sichtbarwerdung des Phänomens des Digitalen Nomadentums im Allgemeinen sowie auf lokale Entwicklungen – etwa hinsichtlich der Herausbildung von Hubs – Einfluss nehmen.
7.2
Digitale Nomaden-Hubs16 als Aktivitätsfoci17 im Kontext von Mobilität
Während voranstehend aufgezeigt wurde, dass Broker die Interviewten häufig an Orte mit anderen, oftmals einer Vielzahl von anwesenden Onlinearbeitern führen, stehen in diesem Kapitel die Facetten der besagten Digitalen Nomaden-Hubs im Fokus. Denn wie sich ebenfalls zuvor andeutete, sind diese durch ganz unterschiedliche Charakteristika gekennzeichnet. Im Fall von Malte konnte bspw. das Coworking- und Coliving-Haus CoCoBa sowie dessen umfassendes Angebot als ein solcher Hub für Digitale Nomaden identifiziert werden (s. Abschn. 6.1.6). Anders verhielt es sich in der Fallrekonstruktion von Gerrit. Der von ihm aufgesuchte Hub lässt sich nicht auf ein einzelnes Gebäude reduzieren. Stattdessen kann die Stadt Chiang Mai bzw. ein Stadtteil derer als dispers-organisierter Digitaler Nomaden-Hub verstanden werden. Bedingt wird dies nicht zuletzt durch die jeweiligen städtebaulichen Infrastrukturen und dortigen lokalen Internetangebote. Dieser Umstand führt wiederum zu Fragen, die nachstehend einer genaueren Betrachtung 13 Balinesischer
Küstenort. eines Blogs (Pseudonym). 15 Im Zusammenhang mit dieser Aussage von Kristin gilt es zu berücksichtigen, dass es sich bei den beiden BlogautorInnen Hannes und Chrissi um jene Personen handelt, welche sie zuvor während ihres DNX-Besuchs kennenlernte und welche ihr bereits unterstützend zur Seite standen (s. Abschn. 7.1.1.1). 16 Die Bezeichnung Hub wurde der Beschreibung des Interviewpartners Ricardo, zu der im Norden von Thailand gelegenen Stadt Chiang Mai entlehnt. Im Original: „[D]igintal nomad-road hub“ (Ricardo, A. 15) (s. Abschn. 7.1.2.2 u. 7.1.3). Aus Gründen einer besseren Lesbarkeit wird der Begriff nicht stets unter Anführungszeichen aufgeführt. 17 Auf Basis des der von Scott Feld formulierten Fokus-Theorie sowie der darin vorgestellten „Foci“ (Feld 1981: 1016), wurde die Entscheidung getroffen den englischsprachigen Begriff ins deutsche zu übernehmen. In der bestehenden Literatur ist der Begriff sowohl in der Schreibweise als „Aktivitätsfoci“ (Fuhse 2010b: 79) als auch als „Aktivitäts-Foki“ (Fuhse 2016: 161) zu finden. 14 Name
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
223
unterzogen werden und die sich wie folgt formulieren lassen: Welche strukturalen Charakteristika weisen die von den Interviewten in unterschiedlichen Ländern und Städten besuchten Hubs auf? Welche Bedeutung wird der Anwesenheit einer Vielzahl Digitaler Nomaden vor Ort aus Perspektive der Befragten zuteil? Welche Interessen verfolgen die Akteure mit ihrem Aufenthalt an einem Hub? Wie nutzen die Befragten die jeweilige Hub-Infrastruktur? Der Aufbau dieses Kapitels erfolgt dabei erneut entlang der beiden zuvor identifizierten Modi. Dementsprechend werden zuerst jene Hubs besprochen, welche sich durch einzelne lokal verwurzelte Räumlichkeiten auszeichnen (s. Abschn. 7.2.1) (entspricht primär Aufenthaltsorten von Personen, die Modus I zugeordnet werden können) und anschließend jene, welche durch eine geographisch weitläufigere Struktur gekennzeichnet sind (s. Abschn. 7.2.2) (entspricht primär Aufenthaltsorten von Personen, die Modus II zugeordnet werden können). Andere, von den Interviewten als Destinationen ausgewählte Aufenthaltsorte, werden in den Folgekapiteln 7.3 und 7.4 thematisiert.
7.2.1
Form und Funktion Digitaler Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens (Modus I)
Wie angekündigt, richtet sich in diesem Subkapitel der Blick auf Digitale NomadenHubs, welche hinsichtlich ihrer strukturalen Charakteristika – sowohl auf visueller als auch narrativer Ebene – an die Gestalt eines Knotens erinnern. Aus analytischer Perspektive erscheint dies deshalb interessant, als dass im Sprachgebrauch der sozialen Netzwerkanalyse Knoten für Netzwerkeinheiten stehen (s. Abschn. 3.2.1). Diese können – je nach Forschungsinteresse – in Form von personalen Akteuren, Gruppen, Paaren, Organisationen o. ä. auftreten (vgl. Diaz-Bone 1997: 40). Hinsichtlich des Fokus in diesem Kapitel gilt es jedoch zunächst zu klären, woher die Assoziation eines Digitalen Nomaden-Hubs mit einem Knoten stammt. Eine Antwort findet sich hierzu in der Betrachtung der Netzwerkzeichnungen der befragten Akteure. Denn dort fällt auf, dass einige der Interviewten Knoten(ähnliche) Visualisierungsformen für die Darstellung Digitaler Nomaden-Hubs wählen (s. Abb. 7.3). An diese Beobachtung anknüpfend treten außerdem weitere Fragen in Erscheinung, die nachstehend entlang des empirischen Materials besprochen werden. Konkret lauten diese wie folgt: Weshalb wählen die Interviewten diese Form der HubDarstellung? Welche Bedeutung schreiben sie ihrer gewählten Visualisierungsform zu? Welche weiteren Beziehungskonstellationen stehen ggf. mit dem Knoten in Verbindung? Welche Bedeutung wird dem Digitalen Nomaden-Hub im Kontext
224
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
von Egos Mobilität zuteil? Inwiefern nimmt die strukturale Gestalt des Hubs Einfluss auf die Handlungsmächtigkeit von Ego bzw. inwiefern macht sich Ego die bestehenden Strukturen zu Nutze?
Hacker Paradise
Hubud (Quelle: Eigene Darstellung)
Anmerkung: Das linke Symbol zeigt einen NW-Ausschni aus dem Interview mit Jay. Hierbei handelt es sich um das Programm Hacker Paradise (s. Kap. 7.1.1.2); ein mobiler temporärer-Hub. Das rechte Symbol zeigt einen NWAusschni aus dem Interview mit Paulina. Hierbei handelt es sich um den Coworking Space Hubud (s. Kap. 7.1.1.2); ein lokal beständiger Hub.
Abbildung 7.3 Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens
7.2.1.1 Strukturale Charakteristika Digitaler Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens Richtet sich der Blick nun auf das empirische Material, fällt auf, dass zwei Formen Digitaler Nomaden-Hubs, die eine knotenförmige Gestalt aufweisen, unterschieden werden können. Entsprechend ihrer Charakteristika werden diese im Folgenden als (1) mobile temporäre oder lokal temporäre Hubs und (2) lokal beständige Hubs bezeichnet. Ein Visualisierungsbeispiel findet sich in der nachstehenden Abbildung 7.3: (1) Mobile temporäre oder lokal temporäre Hubs: Zu jenen Digitalen NomadenHubs, welche durch eine temporäre Beständigkeit gekennzeichnet sind, gehören bspw. die von Malte besuchte Workation in Spanien (s. Abschn. 6.1.4.1), dessen bevorstehende Teilnahme an einer Digitalen Nomaden-Kreuzfahrt (s. Abschn. 6.1.7.2) oder Jays dreimonatige Teilnahme an dem Programm Hacker Paradise (s. Abschn. 7.1.1.2). Unabhängig davon, ob es sich dabei nun um einen mobilen Hub, also ein sich in Bewegung befindender Hub (wie bspw. im Rahmen einer Kreuzfahrt) oder um einen lokal gebundenen Hub handelt, ist all den Konzepten gemein, dass mit Ablauf eines zuvor definierten Zeitraums die Auflösung des Hubs einhergeht. Da in den Interviews viele der temporär ausgerichteten Digitalen Nomaden-Hubs von den Befragten hinsichtlich eines in der Zukunft liegenden Zeitraums thematisiert oder nur skizzenhaft erwähnt werden, wird an dieser Stelle das Interview mit Maximilian herangezogen. Dieses wurde in Form eines kurzen Experteninterviews geführt (s. Abschn. 5.4.2). Denn Maximilian ist sowohl Organisator als auch Partizipierender einer Workation auf Bali. Dementsprechend greift
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
225
er im Interview beide Perspektiven auf. Durch seine Erzählung ermöglicht er so einen detailreichen Einblick in die Facetten einer Workation (sowie zugleich in die Strukturen eines Digitalen Nomaden-Hubs als Knoten). Auf Nachfrage berichtet er über die Auswahlkriterien eines Workation-Ortes Folgendes: M: „Preis natürlich, also preislich so Südostasien, so Nord/ Nordafrika vielleicht noch, Lateinamerika, Mexiko. Also Preis war ganz wichtiger Faktor. Dann das Wetter, also ham wir 18 geguckt dass da auf jeden Fall warm is, ham auch geschaut dass wir in der Nähe vom Strand sind. Und ehm dass man sich in dem Land so relativ gut fortbewegn kann. Viele Länder gibt’s wo man sich einfach n Roller ausleihn kann und von A nach B fahrn kann und relativ unabhängig is von öffentlichn Verkehrsmittln. U:nd worauf ham wir noch geachtet? Ja dann Internet is ja immer so ne Sache. […] Also wir ham schon auch n geguckt dass man da vernünftiges Internet hat. Und letzter Punkt war auch noch wo wir gesagt haben gibt es da Coworking Spaces vor Ort? Kann man sich dort auch noch mit andrn Leutn treffn, austauschn, vernetzn?“ (Maximilian, A. 19).
Wie aus der Sequenz hervorgeht, spricht Maximilian Faktoren an, welche auch bereits von Malte und Gerrit im Interview genannt sowie die im Allgemeinen als relevant für Digitale Nomaden betrachtet werden können (s. z. B. Abschn. 6.1.6, 6.2.6 o. 8.1.2). Im Fall der hier angesprochenen Workation zählen hierzu: Wetter, geringe Lebenshaltungskosten, eine stabile Internetverbindung sowie die lokal vorzufindende Infrastruktur, bspw. Nähe zu Coworking Spaces. Durch die von Maximilian benannten Vorüberlegungen und organisatorischen Maßnahmen19 geht für die Teilnehmer eine gewisse Erwartbarkeit einher20 ; bspw. kann angenommen werden, dass eine vernünftige Internetverbindung vor Ort vorfindbar und somit die Möglichkeit zur onlinebasierten Ausübung der eigenen Arbeitstätigkeit gesichert sein wird. Neben diesen strukturstiftenden Rahmenbedingungen erweist sich für das Konzept einer Workation außerdem die Gruppenzusammensetzung aus den Teilnehmern als relevant, so Maximilian. Seine Überlegungen hinsichtlich dessen werden in der nächsten Sequenz transparent:
18 Maximilian
organisiert die Workation mit zwei weiteren Personen. erklärt außerdem, dass Workation-Veranstaltungen stets ähnlichen Konzepten folgen. Seines Wissens nach bestehe derzeit keine einheitliche Begriffsverwendung: „Ich glaub bei andrn heißt das Camp oder Retreat oder wie auch immer mh aber im Grunde is es auch immer das gleiche. N Treffn die/ ortsunabhängig arbeitn könn, ihrn Laptop mitnehm/ n gutn Mix aus/ trotzdem noch an n n eignen Projektn arbeitn aber auch Austausch und Freizeit“ (Maximilian, A. 4). 20 Dementsprechend wird Maximilian auf ähnliche Weise wie Jonas (im Interview mit Malte und Raik) eine Broker-Position gegenüber den Workation-Teilnehmern zuteil. 19 Maximilian
226
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
M: „Wir ham ehm auch ganz lange überlegt wie wähln wir denn die Leute aus und wie solln die denn zusammn passn? Und wir ham am Anfang gesagt eigentlich wolln wir ganz unterschiedliche Leute dabei habn. Und wir wissen, alle Leute die Lust habn auf so ne Workation zu gehn, erstmal sind die alle schon ortsunabhängig, sind alle selbständig. Also wir hattn schonmal so Punkte wo wir uns überschnittn ham […] Und dann ham wir wirklich versucht Menschn mit unterschiedlichem Hintergrund zu finden“ (Maximilian, A. 9).
Wie aus Maximilians Erklärung hervorgeht, zeichnen sich die ausgewählten Gruppenteilnehmer durch eine gewisse künstlich erzeugte Homophilie, also durch einander ähnliche Charakteristika aus (vgl. McPherson et al. 2001); im vorliegenden Beispiel hinsichtlich deren Lebensführungsvorstellungen. Gleichzeitig wird laut Maximilian jedoch auch ein Ziel zur Herstellung von Heterogenität, insb. hinsichtlich fachlicher Expertisen, verfolgt. Für die Teilnehmer wird durch diese Kriterien erneut eine gewisse Form von Erwartbarkeit – hinsichtlich der Gruppenzusammensetzung – produziert. Denn so wird ein temporärer Hub erzeugt, der den Beteiligten Raum für Austausch, gegenseitige (fachliche) Unterstützung oder Inspirationsvermittlung einräumt. Für das letztendliche Gelingen und die inhaltliche Gestaltung der Workation werden die Teilnehmer jedoch selbst gefordert. Maximilian erzählt: M: „Ham das am Anfang auch versucht, uns jedn Morgn um neun zu treffn und ham dann sozusagn so ne kleine Runde gemacht, jeder hatte 10 Minuten so zu erzähln was sind seine Ziele für n Tag und wo braucht er vielleicht Unterstützung. […] [E]infach so n bischen diesn (..) diesn Druck zu habn das die Leute nachfragn „haste heute dein Ziel erreicht, was hast du geschafft, brauchst du irgendwo Hilfe?““ (Maximilian, A. 12 u. 8).
Und weiter: M: „Dann ham sich so über den Tag kleine Grüppchen gebildet die dann gesacht ham, ok wir fahrn jetzt zu viert mal nach Ubud in die Stadt oder fahrn da in Coworking Space, wer will mitkomm?“ (Maximilian, A. 6).
Wie die narrativen Textauszüge zeigen, wird der Rahmen einer Workation dafür genutzt, um ein motivationsstiftendes soziales Umfeld zu schaffen. Dazu zählen sowohl der Austausch von Expertisen als auch mögliche gemeinsame Freizeitaktivitäten. Durch die informelle Form der Planung wird es jedem Teilnehmer außerdem möglich, seinen eigenen Tagesablauf zu gestalten; gleichzeitig bleibt der Rückhalt der Gruppe, also der immer gleichen Personen, bestehen. So kann bspw. eine fremde Stadt oder ein neuer Arbeitsplatz im Beisein von Gleichgesinnten erkundet
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
227
werden. (Arbeitsbezogene) Effektivität und (effektive) Pausen werden zu einander ergänzenden Aspekten. (2) Lokal beständige Hubs: Anders als temporäre Hubs zeichnen sich lokal beständige Hubs durch eine dauerhafte Beständigkeit mit lokal gebundenem Ortsbezug aus. Hierzu zählen Coworking Cafés, Coworking Spaces oder Angebote, die Coworking- und Coliving-Konzepte vereinen; ein Beispiel zeigte sich hierfür bereits in Maltes Beschreibung zu seinem Aufenthalt im Coliving-Haus CoCoBa (s. Abschn. 6.1.6). Räumlichkeiten dieser Art bieten ihren Besuchern und Mitgliedern in der Regel ein geeignetes Arbeitsumfeld mit Arbeitstischen, Meeting- und Videochaträumen sowie eine stabile Internetverbindung (vgl. Bender 2013: 25 f.; Merkel & Oppen 2013) (s. hierzu auch 5.2.1). Dies führt wiederum dazu, dass die jeweiligen Spaces oder Cafés zu zentralen Anlaufstellen für die Onlinearbeiter werden. Besondere Relevanz wird diesen insbesondere in Ländern mit einer allgemein mangelhaften Internetinfrastruktur zuteil. Dies trifft auch auf die balinesische Stadt Ubud zu (vgl. MacRae 2016). Im Allgemeinen bedarf es für die Nutzung von Arbeitsplätzen in Coworking Spaces oder -Cafés keiner Anmeldung. Gleichzeitig bedeutet dies jedoch auch, Teil einer konkreten Gruppe innerhalb eines organisierten Rahmens zu sein. Die dort anzutreffenden Personen können jedoch u. U. von Tag zu Tag variieren. Einen detailreichen Einblick in die Facetten eines Coworking Space und wie dieser als lokal beständiger Hub in Gestalt eines Knotens (s. Abb. 7.5) verstanden werden kann, liefert das Interview mit Paulina. Daher werden im Folgenden einige Ausschnitte aus dem Gespräch mit ihr für eine Veranschaulichung herangezogen. Im vorherigen Kapitel wurde bereits gezeigt, dass die Mitarbeiter des Coworking Space Hubud (als Broker) eine unterstützende Funktion im Kontext von Paulinas Mobilität von Singapur nach Bali einnehmen (s. Abschn. 7.1.1.2). Unmittelbar im Anschluss an ihre Ankunft entscheidet sie sich für eine Mitgliedschaft im besagten Space. Sie erzählt: P: “Yeah. Um (..) I arrived and, um (..) I came to Ubud. I, the next day, I went to get a membership in Hubud and I started working from here. […] I started, er, joining those, uh, Bali Bungkus21 and skill sharing sessions and to, and, er, think tanks and getting to know people, and, er, and meeting people […]” (Paulina, A. 151).
Ähnlich wie im Rahmen von Hubud, bieten auch andere Coworking Spaces oftmals Workshops, Seminare oder Partys für ihre Mitglieder an (s. Abschn. 5.2.1). Anhand 21 Eine von Hubud angebotene meist einstündige Veranstaltung zu arbeitsbezogenen Thematiken; vergleichbar mit einem Workshopformat (Quelle Hubud Bali Bungkus: http://www. hubud.org/event/bali-bungkus-introduction-enterprise-valuation/).
228
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
der hier von Paulina beschriebenen Erfahrung wird außerdem veranschaulicht, wie es trotz neuem sozialem Umfeld gelingen kann, in eine organisierte Umgebung von Gleichgesinnten einzutauchen. Darüber hinaus zeichnet sich ab, inwiefern die Coworking-Angebote die Bedürfnisse, Interessen und Wünsche der mobilen Personen aufgreifen und in ihre Konzepte integrieren. Im Fall von Paulina wird sich weiter unten außerdem noch deutlicher herausstellen, inwiefern der von ihr besuchte Coworking Space Hubud in der balinesischen Stadt Ubud eine geographisch zentrale Position einnimmt und weshalb alle weiteren von Paulina angeführten Aktivitäten auf den Coworking Space zurückführen. Resümierend kann zunächst festgehalten werden, dass all den Hubs die Zusammenführung bzw. die Möglichkeit des Zusammenkommens von Interessierten auf geographisch relativ engem Raum, gemein ist. So entstehen Gelegenheitsstrukturen, die Raum für Begegnung schaffen; von Scott Feld (1981) auch als Aktivitätsfoci (vgl. Fuhse 2016: 161) bezeichnet. Dies führt wiederum – den Visualisierungen der Befragten folgend – zur Beschreibung eines Digitalen Nomaden-Hubs als Knoten. Abbildung 7.4 bietet hierzu eine Übersicht.
x
Broker mit persönlichen Beziehungscharakteriska zu Ego
geograph. Mobilität von Ego
Digitaler Nomaden-Hub (Akvitätsfocus)
mobile temporäre Hubs/ lokal temporäre Hubs
Empirische Beispiele - DN-Kreuzfahrt - Workaon - Hacker Paradise Empirische Beispiele
lokal beständige Hubs
- Coworking Café - Coworking Space - Coliving Angebot
x
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.4 Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens I
7.2.1.2 Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens und die Rolle schwacher Beziehungen Weiter richtet sich der Blick nun auf das an den jeweiligen Hubs anzutreffende soziale Umfeld; also auf jene Personen, auf welche die Befragten im Rahmen der sich bietenden Gelegenheiten treffen. Wie sich voranstehend bereits andeutete, handelt es sich dabei meist um einander unbekannte oder nur flüchtig bekannte Personen. In anderen Worten: Die Interagierenden unterhalten zunächst eine schwache Beziehung zueinander, welche durch den gemeinsamen Aufenthalt an einem Ort charakterisiert ist. Um nun einen konkreten Blick auf soziale
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
229
Interaktionen und Beziehungsmuster werfen zu können, wird im Folgenden an die beiden voranstehenden von Maximilian und Paulina beschriebenen Hub-Strukturen angeknüpft. (1) Mobile temporäre oder lokal temporäre Hubs: Wie sich bereits zeigte, bildet der Unterstützungsgedanke unter Teilnehmern einer Workation ein grundlegendes Element des Konzepts. Der fachliche Austausch wird dabei durch organisatorische Maßnahmen forciert und führt so wiederum zu bspw. folgender Gruppenkonstellation: „Da warn ja auch ganz verschiedene Leute dabei. N n Programmierer, ne Designerin, n E-Commerce-Experte. Leute mit ganz unterschiedlichen Hintergründen und auch ganz unterschiedlichen Fähigkeiten. Dadurch ehm konntn wir uns untereinander ganz gut helfn“ (Maximilian, A. 12). Mit den Worten von Granovetter gesprochen, spiegelt sich in diesem Beziehungsbeispiel folglich die Stärke schwacher Beziehungen (vgl. Granovetter 1973) (s. Abschn. 3.3). Denn durch die zusammengeführten Expertisen entsteht die Möglichkeit, über den eigenen fachlichen Rand hinauszublicken und neue Ideen oder Informationen zu erhalten. Eine Gelegenheit, die im Austausch mit den immer gleichen Personen für gewöhnlich nicht gelingt. Im Allgemeinen sowie auch in diesem Fall, sind es schwache Beziehungen, die zu neuer Inspiration verhelfen (vgl. Avenarius 2010a: 100; Granovetter 1995 [1974]). Darüber hinaus birgt das Konzept einer Workation die Möglichkeit, jüngst geknüpfte Kontakte zu intensivieren. Maximilian erzählt weiter: M: „[W]eil einfach (.) Zeit für intensiven Austausch hat, für tiefgehendere Gespräche die man zum Beispiel auf so ner Konferenz22 nich führn kann oder die man online auch übrn Chat nich führn kann. Und diese viele/ viele Zeit die man miteinander verbringt. Die is einfach wertvoll“ (Maximilian, A. 18).
Möglich wird ein solch intensiver Austausch nicht zuletzt aufgrund der gemeinsam geteilten Unterkunft sowie der gemeinsamen Tagesgestaltung (s. Abschn. 7.2.1.1). (2) Lokal beständige Hubs: Auf ganz ähnliche Weise – wenn auch weniger strukturiert – gestalten sich Paulinas jüngste Kontaktaufnahmen im Rahmen ihres Aufenthalts in Ubud bzw. dem Coworking Space Hubud. Zunächst hegt sie den Wunsch auf Bali, anders als in Singapur, auf mehr Personen mit ähnlichen Interessen und einem gemeinsam geteilten Verständnis für das eigene Tun zu treffen. Rückblickend auf ihre Zeit in Singapur erzählt Paulina Folgendes:
22 Bezugnehmend auf Digitale Nomaden-Konferenz in Berlin. Dort wurde das Interview geführt.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
P: “[…] I missed the, I missed the community, like I missed, um, since I wasn’t at school23 anymore, er (.) I, I really needed some group of people around me who were also doing something as I because my friends who I have in Singapore, they were full time people. They didn’t, er, we could have met like, er, in the (..) during the weekends or late, late evening, and, um (..) they didn’t, even though they were like amazing people, they didn’t have the mindset of like travelling and working while travelling and so. And this is what I craved a bit to, because that’s something which then is also pushing me and, and led me to become better at it. It’s like this sharing the thoughts and experiences. This is what I missed a lot […]” (Paulina, A. 56–57).
Paulinas Wunsch, in ein unmittelbares soziales Umfeld von Gleichgesinnten eingebunden zu sein, erfüllt sich mit ihrem Aufenthalt in Hubud (vgl. A. 50). Dabei zeigt sich entlang ihrer weiteren Erzählungen, dass der Coworking Space weitaus mehr als nur einen Arbeitsplatz für sie zu bieten hat. Im Rahmen ihres Aufenthalts eröffnen sich für Sie Begegnungsmöglichkeiten, die neben arbeitsbezogenen Beziehungen auch freundschaftliche und freizeitbezogene Kontakte entstehen lassen. Exemplarisch berichtet sie bspw. von ihrer Begegnung mit Hari und Lyla (wie sich später noch zeigen wird ein Kontakt, der sich auch im Kontext ihrer weiteren Mobilitätsschritte noch als relevant erweist) Folgendes: P: “I met him [Hari] last year here in Hubud. It was in August last time, last year [2014] and, uh, you, you see this, like this is quite a community for people and we kept on seeing each other and, and we get to know each other more and, and, er, I also liked, er, his girlfriend [Lyla], which is from Slovakia, er, and we got, er, close as friends and then we spent, er, we went to Vietna-, not Vietnam, to Thailand. So, we spent, er, a month in Thailand last year, uh, so we gather people, and, uh, we stayed in touch as, as friends” (Paulina, A. 50).
Exemplarisch zeigt das Beispiel, wie aus zufälligen Begegnungen eine Freundschaft entstehen kann (s. hierzu auch Abschn. 7.3.2). Als verbindendes Element ihrer Beziehung erweist sich das gemeinsam geteilte Interesse an geographischer Mobilität und Onlinearbeit (s. auch nachstehende Textauszüge) als zentral. Im Anschluss an ihren Aufenthalt auf Bali und in Thailand, entscheidet sich Paulina zunächst für einen Besuch in der Slowakei: „[I]t’s my, it’s my home country – just doing nothing, literally, just like enjoying the friends and going for the, the vacation, short vacation in Slovakia“ (Paulina, A. 42). Aus geographischer Perspektive trennen sich also die Wege von Paulina, Hari und Lyla. Doch schon kurze Zeit später erhält Paulina von Hari folgende Nachricht:
23 Paulina
absolvierte in Singapur ihr Masterstudium und arbeitete parallel onlinebasiert.
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
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P: “[H]e suddenly wrote to me that, “Oh, I’m starting this Startup, so would you like to join me, but you have to come to Bali”. I’m like, “Okay, I can do such a sacrifice” (laughter). Yeah, so” (Paulina, A. 50).
Freudig nimmt Paulina das Angebot an und begibt sich erneut auf den Weg nach Bali. Was sich dabei außerdem zeigt, ist, dass die Beziehung zu Hari neben dem freundschaftlichen Bezug um eine arbeitsbezogene Komponente ergänzt wird; die Beziehung weist nun einen multiplexen Charakter auf (s. Abschn. 3.2.2). Bevor nun jedoch auf die Charakteristika des Startup-Unternehmens im Detail eingegangen wird (s. hierzu Abschn. 7.2.1.3), wird an dieser Stelle noch ein Blick auf Paulinas lokal verankerte Netzwerkeingebundenheit auf Bali geworfen. Dabei wird transparent, dass alle ihre dort geknüpften Kontakte eine Verbindung zu dem Coworking Space Hubud aufweisen. Dieser Aspekt wird insb. auf visueller Ebene, in der nachstehenden Abbildung 7.5 deutlich.
(Quelle: Eigene Darstellung) Anmerkung: Für diese Darstellung wurden die Symbole entsprechend dem Aufenthaltsort der Akteure bzw. Entäten zum Zeitpunkt des Interviews für eine bessere Übersicht farblich markiert. Die Informaonen entstammen aus dem quantaven Kurzfragebogen. Den Farben wurde folgende Bedeutung zugewiesen: Orange = Indien, Rosé = Indonesien, Dunkelgrau = Slowakei, Beige = Slowenien, Dunkelgrün = Tschechien, Hellrot = UK. Die Auereitung der farbigen Symbole wurde mit dem Programm Inkscape187 vorgenommen. Anschließend wurden diese in das Programm VennMaker imporert. Anmerkung zu Prinormat der Buchausgabe: Farben werden als Graustufen abgebildet. Dies entspricht folgender Zuordnung: Orange = Indien, work team, Rosé = Indonesien, Hubud, Tom, Alina, Hari, jogging team, swimming team, work team, Dunkelgrau = Slowakei, brothers, Beige = Slowenien, work team, Dunkelgrün = Tschechien, Lyla, Hellrot = UK, work team.
Abbildung 7.5 Ausschnitt aus Paulinas persönlichem Netzwerk während Aufenthalt in Hubud
232
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Wie aus Paulinas Netzwerkzeichnung hervor geht, weist der Coworking Space Hubud vielfältige Verbindungen zu unterschiedlichen Personen bzw. kollektiven Akteuren auf. Unter einen arbeitsbezogenen und z. T. freundschaftlichen Beziehungskontext fallen die Symbole24 mit der Beschriftung „Hari&Lyla25 “, „Alina“ und „workteam“. Freizeitbezogenen und/ oder freundschaftlichen Kontakt unterhält Paulina zu „jogging team“, „swimming team“ und „Tom26 “. Die Position von Hubud erinnert dabei (im weitesten Sinne) an die Mitte eines Sterns. So wird auch die zentrale Funktion Hubuds als Aktivitätsfocus (vgl. Feld 1981), also als Ort der Begegnungsmöglichkeiten schafft, deutlich. Doch wer genau verbirgt sich hinter den dargestellten Personen? Und wer wird unter der Beschreibung „quite a community“ (A. 50) subsumiert? Bildet doch insbesondere Letzteres den Ausgangspunkt für Paulinas Motivation ihren Aufenthalt nach Bali anzutreten (s. Abschn. 7.1.1.2). Auf diese Frage liefert ihre Narration Aufschluss. Zur Relation zwischen jogging team und swimming team erklärt Paulina: P: “Er, in the morning, I wake up at like (laughter) six and always I do some sport in the morning, so either I swim or I go for jogging. That’s why those two teams/ ” (Paulina, A. 254).
Die Funktion von Hubud in diesem Kontext erläutert sie wie folgt: P: “Mhm, mhm. Yeah, work team27 and then jogging team [Eintragung jogging team in NWK]. Jogging team, they are also all the friends who we28 hang out usually also, also, and I would move then Hubud and Hubud people closer [Repositionierung Hubud innerhalb von innerstem Kreis näher an Ego].” I: “And the jogging team, did you meet them here in Ubud?” 24 Akteure oder Entitäten, die im Rahmen der Ergebnisvorstellung unter Orientierung an einer Netzwerkkartenvisualisierung vorgestellt werden, werden bei erstmaliger Nennung in Anführungszeichen gesetzt. Anschließend werden diese aus Gründen einer besseren Lesbarkeit nicht mehr angeführt. 25 Lyla hält sich zum Zeitpunkt des Interviews in Tschechien auf. Diese Information geht aus dem quantitativen Kurzfragebogen hervor. 26 Neben den benannten Akteuren und Entitäten zeigt der Ausschnitt skizzenhaft, dass zu Hubud einige weitere Relationen führen. Diese gehen von den Symbolen „mom & dad“, „closest friends“, „Leon & Inna“, „Chloe“ und „Eliska“ aus. Diese werden an dieser Stelle aus zwei Gründen nicht in die Beschreibung aufgenommen: (1) Entweder handelt es sich um Kontakte, die Hubud lediglich aus Paulinas Erzählung kennen oder (2) deren Bezug zu Hubud in der Vergangenheit liegt. 27 Lautes denken. 28 Bezugnehmend auf work team.
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
233
P: “Yes, yes, in Hubud actually, directly even, yeah. (I: Okay.) And the swimming team [Eintragung swimming team in NWK]” (Paulina, A. 218–222).
Und weiter: P: “Okay, so I’ll start with, er, okay, Hubud and jogging team[Eintragung Relation Hubud und jogging team]. (I: Yes.) Mhm. Okay, these [jogging team] are the people, they are all from, uh, Hubud. Actually, not all of them but I met them because of the Hubud. Also the swimming team and Hubud [Eintragung Relation Hubud und swimming team]” (Paulina, A. 311–313).
Ebenfalls in Hubud lernt Paulina den Akteur Tom kennen: P: “Tom, I met in Hubud” (A. 317). Auf Nachfrage erklärt sie die Beziehung zu Tom wie folgt: „[P]otential partner to be29 “ (A. 206).
Werden nun neben den Beziehungen der genannten Akteure zu Ego sowie zu Hubud auch deren Beziehungen untereinander (Alter-Alter-Relationen) betrachtet, fällt auf, dass diese ebenfalls vielfältige Verbindungen unterhalten (s. Abb. 7.5). Hinsichtlich dessen erklärt Paulina weiter: „[…] Alina knows Hari and Lyla, and Tom knows them [Hari and Lyla], also Tom knows them. And Alina and Tom know each other; (I: From Hubud?) P: From Hubud. Tom knows jogging team. Alina knows jogging team. Alina knows swimming team. Tom knows swimming team. […] Mhm, mhm (.) and, er, what else can we link (laughter). (I: Do they [zeigen auf jogging team und swimming team und work team] know each other?) Yeah, yeah. So, some of them are even in both (.) [Eintragung Relation jogging team und swimming team] […]“ (Paulina, A. 329–331 u. 339–341). Was zunächst als Beziehungs-Wirrwarr erscheint, ist erneut aufgrund von Hubuds zentraler Position interessant. Denn so zeichnet sich ab, dass nicht nur Paulina vielfältige Kontakte im Rahmen ihres Aufenthalts in Hubud knüpft, sondern auch die von ihr genannten Akteure ähnliche Beziehungen (und zwar untereinander und ebenfalls über Hubud geknüpft) unterhalten. Resümierend kann festgehalten werden, dass ein Coworking Space wie ihn Paulina in der balinesischen Stadt Ubud vorgefunden hat, grundlegenden Einfluss auf soziale Begegnungsmöglichkeiten im Kontext der Mobilität des Einzelnen nehmen kann. Inwiefern aus den zunächst vielzähligen schwachen Begegnungen u. U. 29 Weiter führt Paulina die Beziehung zu Tom nicht aus. Dass sie dies bewusst versucht zu vermeiden, wird auch im Rahmen ihrer Interaktion mit der ihr vorliegenden Netzwerkkarte deutlich. Sie erklärt: „I wouldn’t name him. So, let’s call him, uh, let’s call him Tom [Eintragung Tom in NWK], okay“ (Paulina, A. 206). Um keine schlechte Stimmung während des Interviews zu erzeugen, wurde von weiteren Nachfragen abgesehen.
234
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
stärkere Beziehungen entstehen können, wird im nächsten Subkapitel besprochen. Abbildung 7.6 bietet eine Übersicht zu dem bis dato Besprochenen:
Akteurshandeln
Broker mit persönlichen Beziehungscharakteriska zu Ego
geograph. Mobilität von Ego
Digitaler Nomaden-Hub (Akvitätsfocus)
mobile temporäre Hubs/ lokal temporäre Hubs
(meist) Anmeldung erforderlich, Teilnahme an vorstrukturiertem Programm, Herstellung von Kopräsenz zu anderen DNs, Möglichkeit zur Knüpfung sozialer Kontakte zu DNs durch Kopräsenz
Akteurshandeln lokal beständige Hubs
Herstellung von Kopräsenz zu anderen DNs, Möglichkeit zur Knüpfung sozialer Kontakte zu DNs durch Kopräsenz
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.6 Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens II
7.2.1.3 Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens als Unterstützungs- und Innovationsquelle im Kontext von (Im)Mobilität Während in Digitalen Nomaden-Hubs also eine Vielzahl von (einander zunächst meist unbekannten) Akteuren aufeinander treffen, Wissen weitergeben oder Ideen austauschen, intensivieren sich mit einzelnen Personen hin und wieder Beziehungen. Dass aus anfänglich flüchtigen Begegnungen also auch nachhaltige Arbeits- und/ oder Freundschaftsbeziehungen entstehen können, zeigen ebenfalls die Beispiele von Maximilian und Paulina. (1) Mobile temporäre oder lokal temporäre Hubs: Bezugnehmend auf die konkrete inhaltliche Gestaltung der Workation auf Bali, berichtet Maximilian von einem explorativen Versuch zur Forcierung von einem Wissensaustausch Folgendes: M: „Und eine spannende Sache, also im Grunde hat jeder an eigenen Projekten gearbeitet. An eigenen Grundprojekten oder Geschäftsideen die er umsetzn wollte. Ehm wir ham dann an eim Abend mal ne sogenannte Startup-Night gemacht wo wir gesagt ham wir wolln auch mal wirklich an Projekt zusammn arbeiten. Und wolln mal guckn wie das so funktioniert. Ehm dort hatte jeder, also wir warn zehn Leute, jeder hatte die Möglichkeit ne Geschäftsidee zu pitschn. Irgendwas was man schon lang im Kopf hat und sagt das will ich einfach mal ausprobiern. Mal guckn ob das funktioniert. Dann hat jeder zehn Minutn Zeit die andern davon zu überzeugn dass seine Idee ne gute Idee is“ (Maximilian, A. 14).
Und weiter:
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
235
M: „So hat jeder seine Idee vorgestellt, wurde abgestimmt über zwei Ideen. Hattn dann zwei Favoriten, ehm zwei Gruppen gebildet mit jeweils fünf Leutn […] Und genau in dieser/ da ham wir versucht die Gruppn so aufzuteiln das man in jeder Gruppe tatsächlich jemand hatte wirklich mit Design gut auskennt, jemand der sich mit ehm (..) einer Programmierer, also Webseiten umsetzn kann, vielleicht noch jemand der im Marketing gut is. So das jeder dann so spezielle Aufgabn übernimmt ehm spezielle Skills hat die man für so n Projekt brauch. Und das war einfach Wahnsinn zu sehn was da entstehn kann in einer Nacht“ (Maximilian, A. 16–17).
Durch die gezielte Zusammenführung der unterschiedlichen Expertisen, gelingt es den Gruppenteilnehmern letztendlich innerhalb kürzester Zeit, zwei Geschäftsideen onlinebasiert auf die Beine zu stellen: M: „[U]nd jede Gruppe hat dann versucht diese Idee zu validiern. Recherche gemacht, gekuckt zu welchm Preis könnte man das anbietn, wa/ was gibt’s da schon für Wettbewerber (.) ehm ja wie kommuniziert man dieses Angebot. Und dann/ wirklich in einer Nacht sind dann zwei Webseitn entstandn wo wir so ein Prototypn, natürlich ham wir nicht das Produkt hergestellt oder eingekauft aber wir ham auf dieser Seite gezeigt wies aussehn würde, mit m Bild mit so nem Mockup30 , ham dann ne Facebookseite auch dafür erstellt, n Emailformular und dann auch n bischen Werbeanzeign dafür geschaltet so das Leute auf diese Seite kommn, sich für den Emailnewsletter eintragn und dann ham wir einfach mal gekuckt wie ist denn so diese theoretische Kaufbereitschaft“ (Maximilian, A. 16).
Exemplarisch zeigt der hier von Maximilian beschriebene Versuch, wie unter einer experimentellen Vorgehensweise – hypothetisch – Innovation entstehen kann. Deutlich wird dabei jedoch auch, inwiefern es für die Realisierung einer konkreten Zusammenarbeit eines (zumindest temporären) kopräsenten Aufenthalts bedarf, um innerhalb kürzester Zeit aus einer Idee Innovation schaffen zu können. Da die Rahmung einer Workation jedoch nur durch einen temporären Charakter geprägt ist, reicht die Ausarbeitung des Projekts nicht über einen Modellzustand hinaus. Rückblickend bewertet Maximilian die während der Workation-Zeit gesammelten Erfahrungen dennoch wie folgt: „[I]ch glaub jeder is da mit so viel Inspiration raußgegang aus dieser Sache und hat so viel dazugelernt“ (Maximilian, A. 11–13). (2) Lokal beständige Hubs: Anders als im Beispiel von Maximilian wird in der Erzählung von Paulina deutlich, dass die Zusammenarbeit mit ihren KollegInnen des Startup-Unternehmens als längerfristiges Projekt angelegt ist. Für die Mitglieder des Teams bedeutet dies, sich gemeinsam an einem Ort aufzuhalten bzw. gemeinsam den Ort zu wechseln. Um zunächst einen Einblick in die Konstellation des Teams
30 Kann
ins dt. als Modell oder Nachbildung übersetzt werden.
236
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
zu erhalten, werden die Mitarbeiter sowie deren Kennenlernkontexte entlang von Paulinas Erläuterung kurz vorgestellt: P: “Yeah. So (5) [Eintragung Hari&Lyla in NWK] okay, so this is my current boss and this is his Slovak girlfriend, and they have become very, we have become very close […]” (Paulina, A. 176).
Weiter stellt Paulina unter dem Überbegriff „work team“ (A. 216) ihre neuen KollegInnen vor: P: “[W]hen I arrived to Bali, at the beginning, we lived in Canggu31 . I actually knew only him [Hari] so all the rest of the people in the team were new for me, new to me, and, er (5) one, er, guy whose name is Kiril who is from Bulgaria, and Hari met him a few weeks before because he worked for, he, he worked for our mother-, uh, company which is in the UK, and, er, he decided that he will come to work for our, our, er, company. So, he was new to all of us actually. Er, another member team is, um, Gita from India and he has been Hari’s long year friend for many years. So, but he was new to me and I had never met him before, and, er, we had two more members which are not working with us, uh, anymore right now so I’m not going to mention them” (Paulina, A. 261–162).
Ein weiteres Teammitglied bildet der Slowene Anton, der sich zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht auf der Insel befindet. Zu ihm unterhält Paulina daher einen bislang onlinebasierten Kontakt: P: “[W]e have one guy in Slovenia, Anton, but I haven’t met him in person yet. He is coming at the beginning of August. (I: Okay.) So, we are very much looking forward to seeing him, so I talk only on, um, Skype with him. We write actually, we haven’t talked yet (laughter), yeah” (Paulina, A. 262).
Während sich das Kernteam gemeinsam bzw. künftig gemeinsam auf Bali befindet, arbeitet das Team darüber hinaus mit rund 20 weiteren, namentlich unbenannten Personen aus Indien und Großbritannien zusammen: P: “Yeah, and then we have around 20 people in, er, India and the UK and like freelancers and people who help us with, um, yeah. Yeah” (Paulina, A. 262).
Während des Aufenthalts am Küstenort Canggu erhält das Team einen weiteren Zuwachs durch die Ukrainerin Alina: 31 Balinesischer
Küstenort.
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
237
P: “Er, and we met Alina in Canggu actually, er, and we needed a translator to Ukrainian and Russian languages, and then that’s how it started. And then we meet still more and more and then we realised that she’s, er, clever, exactly as we needed, so, er, we gave her a full time job. Hari gave her a full time job. Um, so that’s how we met” (Paulina, A. 162).
Hier fällt auf, dass der Kontakt zu Alina auf ähnliche Weise entsteht, wie sich zuvor die Beziehung zwischen Paulina und Hari entwickelte. Zunächst lernen sie sich durch einen Zufall kennen. Bedingt durch den gleichen Aufenthaltsort und die damit einhergehende Kopräsenz entsteht die Möglichkeit für mehrfache Begegnungen und ein besseres Kennenlernen. Dementsprechend kann davon ausgegangen werden, dass die Teammitglieder feststellten, auf (zumindest) menschlicher Ebene, wenn nicht sogar freundschaftlicher Ebene, ein gutes Verhältnis zu Alina zu unterhalten. Im Kontext der Arbeitskraftsuche für das Startup-Unternehmen und den Sprachkenntnissen von Alina, erfolgt schließlich ihre Anstellung. Anschließend entscheidet sich das Team, samt Alina, für einen gemeinsamen Locationwechsel. Dieser führt sie in die balinesische Stadt Ubud bzw. um genau zu sein, in den Coworking Space Hubud. Dort halten sie sich während ihres (zum Zeitpunkt des Interviews) geplanten mehrmonatigen Aufenthalts täglich auf. Resümierend erklärt Paulina: P: “[T]hat’s how I started, and that’s, we are (.) remote team. We can work from wherever, er, we want and we like to, we liked Bali so we decided that this is our first stop and let’s see where we go from here” (Paulina, A. 32).
Als interessant erweist sich an diesem Beispiel, dass Paulina aus geographischer Perspektive zwar mobil ist, ihr soziales Umfeld trotz Locationwechsel jedoch bestehen bleibt. So verfolgt das Team eine gemeinsame (Im)Mobilität. Noch deutlicher wird dies, als Paulina im Kontext ihrer Netzwerkvisualisierung (s. Abb. 7.5) ihre Beziehung zu den Teammitgliedern sowie deren Relationen untereinander (AlterAlter-Relationen) beschreibt: „Okay, Alina is related to Hubud because I spent most of the time with her here [Eintragung Relation zwischen Alina und Hubud in NWK] and also the work team because she’s, um, my, er, colleague [Eintragung Relation zwischen Alina und work team in NWK]32 ” (Paulina, A. 315). So zeigt sich anhand der hier aufgeführten Beispiele exemplarisch, wie durch gemeinsame 32 Das multiple Alter work team und Hari&Lyla weisen in der visualisierten Netzwerkdarstellung keine Verbindung zueinander auf. Anhand der Narration geht jedoch hervor, dass work team und Hari&Lyla in einer Verbindung stehen, da Hari der Chef des Startup-Unternehmens ist. Die nicht visualisierte Relation kann u. U. auf eine mögliche Unübersichtlichkeit aufgrund bereits visualisierter Beziehungen zurückgeführt werden. Während des Feldaufenthalts
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7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Immobilität bzw. gemeinsame Mobilität die Grundlage für eine Zusammenarbeit entstehen kann. Weshalb Hari, als „Boss“ (A. 176) des Startups die gemeinsame lokale Anwesenheit seiner Teammitglieder wichtig ist, geht aus dem Gespräch mit Paulina nicht hervor. Eine Antwort kann jedoch evtl. im Interview mit Gerrit gefunden werden. Denn dort betont dieser, dass – aus seiner Perspektive – eine (anfängliche) lokal gebundene Kennenlernphase für den Aufbau einer Vertrauensgrundlage (vgl. A. 146) besonders relevant sei (s. hierzu Abschn. 6.2.7). Dies könnte u. U. auch im Fall von Paulina zutreffen. Darüber hinaus bedeutet dieser Umstand für Paulina auch, trotz geographischer Mobilität, in ein beständiges soziales Umfeld von Gleichgesinnten eingebunden zu sein. Außerdem zeichnen sich die im Kontext von dessen geknüpften sozialen Beziehungen – wie voranstehend erwähnt – durch einen multiplexen Charakter (Arbeits- und Freundschaftsbezug) aus. Es entsteht ein Beziehungsverhältnis, auf dessen Fundament nicht nur Ideenaustausch, sondern eine langfristige Kollaboration und Innovationsentwicklung stattfinden kann. Abbildung 7.7 zeigt eine Übersicht, zu den an den jeweiligen Hub-Aufenthalten forcierten Handlungspraktiken der Befragten:
Broker mit persönlichen Beziehungscharakteri ska zu Ego
geograph. Mobilität von Ego
Digitaler Nomaden-Hub (Akvitätsfocus)
Akteurshandeln im Kontext von mobile temporäre Kopräsenz zu anderen DNs Hubs/ Experimentelle Herstellung von (temporärer) lokal temporäre Arbeitskollaboraon zur Generierung von Innovaon, Hubs Nachhalgkeit des Outputs mit Fragezeichen
Akteurshandeln im Kontext von Kopräsenz zu anderen DNs lokal beständige Hubs
Forcierte Herstellung von (nachhalger) Arbeitskollaboraon zur Generierung von Innovaon, Forcierung von nachhalgem Output
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.7 Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens III
7.2.1.4 Zusammenfassung: Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Knotens Wie die voranstehenden Ausführungen gezeigt haben, steht der Aufenthalt der Befragten an einem Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens stets mit der unmittelbaren Kopräsenz zu Gleichgesinnten in Verbindung. Dieser Umstand erklärt einerseits den in diesem Kapitel als Knoten umschriebenen Hub-Charakter in Hubud treffe ich täglich auf Hari, Alina und Paulina, die ihre Arbeitszeit gemeinsam in Hubud verbringen.
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
239
und andererseits wird die räumliche Nähe der Akteure aufgrund der jeweiligen Hub-Strukturen erzeugt. Das soll heißen, dass bspw. ein Coworking Space in Form eines Hauses Gleichgesinnte räumlich zusammenführt und so wiederum Begegnungsmöglichkeiten entstehen. Transparent wird so außerdem, inwiefern ein Coworking-Haus strukturstiftend auf die Handlungsmächtigkeit der Akteure wirken kann. Der Knoten-Begriff steht dabei für eine sprachliche Beschreibung des Hubs als zentraler Ausgangspunkt der Akteursaktivitäten. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass über die an den Hubs vielfach vorzufindenden schwachen Beziehungen oftmals neue Ideen und Informationen vermittelt werden. Innovation (bspw. im Sinne einer Arbeitskollaboration) entsteht hingegen erst unter sich intensivierenden Beziehungen. Basis für deren Entstehung bildet wiederum ein (zumindest anfängliche) kopräsenter Aufenthalt an einem Ort bzw. eine gemeinsame Mobilität (s. hierzu auch Abschn. 7.3). An die Stelle von Bewerbungsgesprächen tritt ein (meist multiplexes) Beziehungscharakteristikum, welches durch ein anfänglich freundschaftliches und anschließend durch ein mögliches arbeitsbezogenes Verhältnis ergänzt wird.
7.2.2
Form und Funktion Digitaler Nomaden-Hubs in Gestalt eines Clusters (Modus II)
In diesem Subkapitel richtet sich nun der Blick auf Digitale Nomaden-Hubs, welche hinsichtlich ihrer strukturalen Gestalt an ein Cluster erinnern. Die begriffliche Beschreibung ist dabei ebenfalls dem netzwerkanalytischen Sprachgebrauch entlehnt. Im Allgemeinen zeichnet sich ein Cluster in einem ego-zentrierten Netzwerk durch eine dichte Anordnung mehrerer Akteure und deren ähnlicher Position innerhalb eines Netzwerks aus (vgl. Diaz-Bone 1997: 64). Wird nun auf die während der Interviewerzählung entwickelten Netzwerkkarten und den dort identifizierten Clustern geblickt, treten weitere Fragen auf. Diese lauten bspw. wie folgt: Weshalb entwickeln einige der Befragten im Verlauf ihrer Netzwerkvisualisierung eine Cluster-Darstellung? In welchen Erzählkontexten tritt eine Cluster-Anordnung auf? Welche Bedeutung und welcher mögliche Nutzen wird den Clustern aus der Perspektive der Interviewten zuteil? Inwiefern nehmen Cluster-Anordnungen Einfluss auf die Handlungsfähigkeit von Ego? Diesen Fragen widmen sich die nachstehenden Ausführungen.
7.2.2.1 Strukturale Charakteristika Digitaler Nomaden-Hubs in Gestalt eines Clusters Wie zuvor vorgestellt, führt neben Gerrit auch der Weg einiger anderer Interviewpartner nach Chiang Mai. In diesem Zusammenhang zeigt sich außerdem, dass all
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7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
jene, welche von einem Aufenthalt in der thailändischen Stadt berichten, hinsichtlich dessen auch einander ähnliche Netzwerkzeichnungen vornehmen. Als charakteristisch erweist sich dabei, dass vielfältige Coworking Spaces, Coworking Cafés oder andere Socializing-Orte als Anlaufstellen innerhalb Chiang Mais dargestellt werden. Exemplarisch findet sich ein Beispiel hierfür in der Netzwerkkarte von Joshua (s. Abb. 7.8):
24
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21
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(Quelle: Eigene Darstellung)
Anmerkung: Die Filmsequenz zeigt, dass alle der abgebildeten Symbole unmielbar nacheinander visualisiert werden. (In der Grafik wurde die Reihenfolge der Eintragung mit einer entsprechenden Nummer kenntlich gemacht). Die beiden ausgewählten Screenshots zeigen außerdem, dass die Symbole im Erzählverlauf minimale Reposionierungen erfahren. Die Cluster-Anordnung beleibt dennoch bestehen.
Abbildung 7.8 Ausschnitt aus Joshuas persönlichem Netzwerk während seines Aufenthalts in Chiang Mai
Die Symbole „punspace“, „kaweh coffee“, „CAMP“ und „Coffee Monster“ stehen alle für in Chiang Mai angesiedelte Coworking Spaces oder Coworking Cafés. Aus geographischer Perspektive ist dabei außerdem interessant, dass es sich hierbei um Angebote handelt, welche sich alle dem Viertel der bekannten Nimman Road, einer der Hauptstraßen der Stadt, zuordnen lassen. Dass sich die Infrastruktur auch im täglichen Handeln der Akteure widerspiegelt, zeigen Joshuas nachstehende Ausführungen: J: “[…] [Eintragung Punspace in NWK], that as well, Punspace, and then the other one that I go to [Eintragung Kaweh in NWK], which is just a coffee house is Kaweh Coffee. Those two are the two sort of main ones that I go to if I was. And for a while, if I just don’t want to be at Punspace anymore or if I just, you know, yesterday I found myself that like all the people around me, like I know all these people. I want to be alone, so I’m going to go away. (I: Okay.) So, I went to Kaweh Coffee” (Joshua, A. 325–327).
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
241
Und weiter: J: “Um (..) I mean, they’re, like for here, cowork spaces, for example, are like [Repositionierung Punspace (1) und Kaweh Coffee (2) in NWK] maybe closer because I go to them. There are other ones, for example, that I’ve either been to, like one is called Camp [Eintragung Camp in NWK], which is in the Mayan Mall, which I’ve been to, but I do not like at all […], and then another one called, uh, Coffee Monster [Eintragung Coffee Monster in NWK], which is somewhat further. Uh, like Camp is within walking distance, no problem, like maybe from here, especially. You basically just go north, it’s like five minutes” (Joshua, A. 337).
Wie sich zeigt, wechselt Joshua, je nach Stimmung, zwischen den in der Stadt angebotenen Spaces. Anders formuliert bildet sich ab, inwiefern die lokale Anordnung der Spaces und Cafés Joshuas Handeln innerhalb Chiang Mais lenkt. Jeder Space bzw. jedes Café bringt bei einem dortigen Aufenthalt seine ganz eigene Atmosphäre mit sich. Weiter erzählt Joshua: J: “It’s [CAMP] just at the top of a mall, and with them, you have to buy at least a coffee, um, and then you can get Wi-Fi, um, and tons of university students are there, Thai University students, uh, but I, I don’t like it there. Um. Just noisy, too many people. Nah. (I: Okay.) Um, and then Coffee Monster is just like, to walk to Coffee Monster from here33 , it would be like thirty, forty minutes. So, yeah, not ideal. It’s similar, I think, to Kaweh Coffee, um, but you’re just, you know, you’re expected to buy a coffee, but that’s about it. Yeah” (Joshua, A. 337–339).
Deutlich wird entlang dieser Aussage, dass ein Locationwechsel stets mit einem gewissen –mal mehr, mal weniger großen – Aufwand in Verbindung steht. Durch diesen Umstand wird auch der Unterschied zu den voranstehend beleuchteten Hubs in Gestalt eines Knotens transparent. Denn anders als im Fall einer Workation oder dem Aufenthalt in einem Coworking- und Coliving-Haus (s. Abschn. 6.1.6 u. 7.1.1), verteilen sich die täglichen Aktivitäten der Befragten auf mehrere Spaces, Cafés oder ähnliche Locations. Gleiches gilt für die Aufrechterhaltung bestehender oder die Herstellung neuer sozialer Kontakte. Dieser Umstand liefert wiederum eine Erklärung für die clusterförmige Gestalt des identifizierten Digitalen NomadenHubs, respektive die Stadt Chiang Mai. Weiter zeigt sich im Fall von Joshua, dass dieser im Rahmen seines Aufenthalts in Chiang Mai ganz eigene Vorlieben und Strategien entwickelt, um seinen (Arbeits-)Tag zu gestalten. Unter Reflexion und Restrukturierung seiner Netzwerkvisualisierung erklärt er: “Um (5) maybe Punspace a little closer because I met 33 Das
Interview mit Joshua fand in einem Café in der Nimman Road statt.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
more people through that [Repositionierung Punspace nach innen in NWK] (…) and Camp [Repositionierung Camp nach außen in NWK] because I hate it. Um (…) yeah, I’d say that’s about it” (Joshua, A. 355). Von einer ganz ähnlichen alltäglichen Strategie berichtet bspw. auch Ricardo. In seiner Erzählung wird allerdings zusätzlich deutlich, inwiefern er sein Appartment als weiteren Arbeitsort in seinen Tagesablauf zu integrieren versucht. Er berichtet: R: “It’s just like, sometimes a client would say, “Oh, I need to deploy this shit”, I need to fix one thing and then I work from my apartment, but the internet sucks, so it’s very, very hard. I get frustrated and I can’t work so I, I, like I would rather go somewhere else. I usually go to Camp” (Ricardo, A. 88).
Als interessant erweist sich an diesem Zitat insbesondere, dass deutlich wird, inwiefern Ricardo sein lokal gebundenes Mobilitätshandeln innerhalb der Stadt an den Zugangsmöglichkeiten zu einer Internetverbindung orientiert. Seine Wohnung wird dabei zu einem seiner täglichen Aufenthaltsorte. Als Arbeitsort dient diese jedoch nur bedingt. Denn wie sich zeigt, scheinen bestimmte Arbeitsaufgaben an der dort verfügbaren Internetverbindung zu scheitern. Resümierend gilt es an dieser Stelle nun festzuhalten, dass die Beispiele zeigen, dass sich die Aufenthaltsorte der Interviewten geographisch dispers über die Stadt verteilen; sich dementsprechend von einem Aufenthalt an einem Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Knotens, wie bspw. anhand des balinesischen Coworking Space Hubud aufgezeigt (s. Abschn. 7.1.1), deutlich unterscheiden. Abbildung 7.9 bietet hierzu eine Übersicht:
Broker mit unpersönlichen Bezugscharakteriska zu Ego
Empirische Beispiele geograph. Mobilität von Ego
Digitaler Nomaden-Hub (Akvitätsfocus)
lokal beständige Hubs
(Klein)Stadt mit Vielzahl von Coworking Cafés und Coworking Spaces
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.9 Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters I
7.2.2.2 Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Clusters und die Rolle schwacher Beziehungen Richtet sich der Blick auf die sozialen Beziehungen und Interaktionsmuster, welche die Befragten während ihres Aufenthalts in Chiang Mai unterhalten, zeigt sich, dass diese auf vielfältige Weise Kontakte zu anderen Digitalen Nomaden knüpfen und
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
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Kopräsenz zu diesen herstellen. Da die Begegnungsräume jedoch nicht auf einen einzelnen Space oder ein bestimmtes Café konzentriert sind, müssen die Akteure selbst aktiv werden, um sich zu koordinieren und zu vernetzen. Hierzu bedarf es wiederum – wie zuvor von Joshua angedeutet – bestimmter Kenntnisse über die jeweiligen Angebote, die Atmosphäre innerhalb eines Space oder dem dort anzutreffenden sozialen Umfeld. In anderen Worten: Nicht jeder Arbeitsort eignet sich auch zur Herstellung sozialer Kontakte, ebenso wenig wie sich einige der Cafés nicht für ruhige Arbeitsstunden eignen. Eine solche Erfahrung macht bspw. Anna. Über ihre Anfangszeit in Chiang Mai berichtet sie Folgendes: A: “I went to a Coworking Space, I went to Punspace for like one month or two and I met no one […] everyone is just like focused/ 34 ” (Anna, A. 4).
Bestätigt wird ihre Erfahrung von Mathéo. Darüber hinaus erklärt er: M: “Punspace is Punspace. Is just like is like no one talking, nothing. If you go at CMAP or Kawhee Coffee or other café […] just one stand up say “ok, hey guys we go for/ eh eat something? You wanna come?” and everyone “yeah”” (Mathéo, A. 47).
Mit dem notwendigen Wissen über die jeweiligen Aufenthaltsorte kann es folglich gelingen, das jeweils gewünschte soziale Umfeld anzutreffen. Ähnliches gilt für die an den jeweiligen Orten vorfindbaren fachlichen Expertisen. Mathéo erklärt: M: “Even the kind of Digital Nomad you find there aren´t the same. In Coworking space you find more (.) oh how can I say that? Like dedicate, sales nomads like people who actually make money or like working on something. You find this kind more like in Punspace, to/ here CAMP it´s more like bloggers, vloggers” (Mathéo, A. 48).
Coworking Spaces in Chiang Mai können folglich dann als soziale Kontakträume fungieren, wenn die Akteure über entsprechende Kenntnisse verfügen. Anders verhält es sich hingegen mit konkreten Verabredungen. Hier zeigt sich, dass die Interviewten auf eine onlinebasierte Ebene zurückgreifen. Eine solche Vorgehensweise bildete sich bspw. bereits in der Erzählung von Gerrit zu dessen Aufenthalt in Chiang Mai und seiner Verabredung für ein Barbecue-Treffen (s. Abschn. 6.2.5) ab. Dass unter den Anwesenden in Chiang Mai außerdem ein allgemeiner Konsens über eine solch onlinebasierte Form der Kommunikation zu bestehen scheint, zeigt bspw. folgende Erfahrung von Joshua: 34 Anna bricht hier den Satz ab. Aufgrund des Interviewkontextes kann jedoch angenommen werden, dass sie hier Bezug auf die Arbeitstätigkeit der Besucher nimmt.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
J: “[A]nd then actually one girl who I met through [#nomad] is, she has done like some birthday parties, stuff like that. Um, and actually, she posted on the Chiang Mai digital nomad forum, so you can come if you want, every/ everyone is welcome to that” (Joshua, A. 325).
Wie aus der Sequenz hervorgeht, adressiert die Gastgeberin alle Mitglieder des Forums. Interessant ist dabei, dass sie so nicht nur mehrere Personen mit einer einzigen Nachricht erreicht, sondern ihre Einladung zugleich an ihr unbekannte Personen richtet – u. a. auch an Joshua. Ein anderes Beispiel für die Nutzung des Chatkanals #nomad zeigt sich im Gespräch mit Ricardo. In seinem Fall handelt es sich jedoch um eine Verabredung mit Einzelpersonen. Ähnlich wie Joshua wird auch er zunächst onlinebasiert auf eine bevorstehende Veranstaltung in der Stadt aufmerksam. Anschließend tritt er mit einem der Chatteilnehmer in direkten Kontakt. Ein Ausschnitt aus der so entstandenen Konversation35 ist in Abbildung 7.10 aufgeführt:
(Quelle: Screenshot aus dem Chatkanal #chiangmai; eigene Darstellung)
Anmerkung: Aus Gründen der Anonymität wurden die Namen und Profilbilder der Chaeilnehmer unkenntlich gemacht.
Abbildung 7.10 Konversationsausschnitt des Chatkanals #chiang-mai aus Slack (instantMessaging-Dienst)
35 Der Screenshot der Konversation entstand unmittelbar nach dem Interview mit Ricardo. Möglich wurde dies, da die innerhalb der Chatkanäle abgehaltenen Konversationen für Mitglieder stets für 24 Stunden einsehbar sind. Anschließend werden die Konversationen gelöscht (Stand: 9.7.2015).
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Wie aus der Konversation hervor geht, verabredet sich Ricardo mit zwei Personen, welche er zuvor noch nicht kannte. Im Interview beschreibt er die Kontaktaufnahme und letztendliche Abendgestaltung wie folgt: R: “Yesterday, I went out for drinks with two guys from, from the Slack Chat 36 , and one other guy that just was there. I don’t know where he’s from (laughter)” (Ricardo, A. 53).
Darüber hinaus zeigen Ricardos Ausführungen, dass die gemeinsame Abendgestaltung für ihn weitaus mehr als ein bloßer Konzertbesuch bedeuteten. Er erzählt: R: “[T]hat’s really cool because, er, the biggest fear that I had, was, I have, er, Latin blood so it’s very important for me to connect to people and to be around people, and I was really afraid that I would be completely alone and lonely and sad, and that definitely didn’t happen” (Ricardo, A. 53).
Ähnliches gilt für die Umsetzung seiner täglichen Arbeitstätigkeit: R: “I think, I think I was expecting more of the negative stuff, you know, I was expecting more that I would be more lonely. I was expecting that I couldn’t find people to work with and, and actually now, here, I am, I am working more with people than, than back home. Back home, I, I used to sit at my apartment and work alone all day long and here, I go to cafes and I end up meeting people and working together and kind of supporting each other in their tasks. It’s, it’s very cool” (Ricardo, A. 69).
Wie sich aus den aufgeführten Interviewausschnitten ableiten lässt, wird in Chiang Mai den Akteuren eine gewisse Eigeninitiative zur Herstellung sozialer Kontakte abverlangt. Zentrales Element bildet hierbei eine den persönlichen Treffen vorgelagerte onlinebasierte Kommunikation. Notwendig wird dies nicht zuletzt aufgrund der geographisch dispersen Anordnung lokaler Begegnungsräume. D. h., dass anders als bspw. in einem Coliving-Haus (s. Abschn. 7.2.1), sich die Akteure in Chiang Mai erst finden müssen. Möglich wird dies mittels der geschilderten Vorgehensweisen wiederum auch deshalb, da in Chiang Mai eine Vielzahl von Digitalen Nomaden anwesend sind. Abbildung 7.11 bietet erneut eine Übersicht:
36 Synonyme
Verwendung zu #nomad bzw. #chiang-mai.
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Akteurshandeln Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteriska zu Ego
geograph. Mobilität von Ego
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Herstellung von Kopräsenz und Kontaktknüpfung geograph. dispers, Eigenengagement von Ego erforderlich, Kontaktherstellung durch onlinebasierte Kommunikaon erweitert
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.11 Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters II
7.2.2.3 Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Clusters als Informations- und (potentielle) Innovationsquelle im Kontext von (Im)Mobilität Die Anwesenheit einer Vielzahl von Digitalen Nomaden in Chiang Mai ermöglicht es den Befragten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit auf Personen mit gemeinsam geteilten Interessen zu treffen. Diesen Umstand weiß bspw. Isabella zu schätzen und erzählt: I: “Here [in Chiang Mai], you kind of go out and the topics of conversation are always going to be a bit more business orientated. It’s a good, good crowd and it’s, it’s really nice as well to be around people that I don’t have to explain my life to” (Isabella, A. 162).
Einander ähnliche Erfahrungshintergründe scheinen laut Isabella zu einem gemeinsam geteilten Verständnis zu führen. Für sie bedeutet dies bspw., sich im Gespräch mit anderen Digitalen Nomaden nicht erklären zu müssen37 . Dieser Aspekt zeigt sich auf ähnliche Weise auch in anderen Interviews. Bspw. erklärt Ricardo, wie es ihm innerhalb kürzester Zeit nach seiner Ankunft in Chiang Mai gelang, mit anderen Digitalen Nomaden (arbeitsbezogenes) Wissen auszutauschen: R: “With the Slack Chat, it was very cool because once I am here, I just start talking to people and texting them and working together at cafés and going out for drinks […] I really can find a lot of people to connect and work with, very cool people, very open people to, to learn and, and teach and everything, and that’s been really, really great” (Ricardo, A. 53).
Mit einigen der so kennengelernten Akteure entsteht wiederum ein regelmäßiger Austausch: 37 Eine detailliertere Auseinandersetzung mit Reaktionen von Freunden und Familienmitgliedern auf Egos ortsflexibler Lebensführung erfolgt unter Abschnitt 7.3.
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R: “[I]t’s kind of organic, but there is this guy, is called Chri/ Christian. He’s German and er, we met like last week, through another guy from, from the Slack Chat, and we just worked together on the first day and that’s cool. Like, let’s work together this week, “Okay, let’s do it”. So, we just talked through the Slack Chat and said, “Where you working?” “Okay, I’ll go there”, and just meet, and just work together. It’s very nice” (Ricardo, A. 74).
Neben dem so hergestellten sozialen Austausch gelingt es den Akteuren außerdem, ein vertieftes Verständnis über die jeweiligen fachlichen Expertisen der in Chiang Mai angetroffenen Personen zu entwickeln. Je nach Interesse oder Fragen kann so auf das Wissen von unterschiedlichen Akteuren zurückgegriffen werden. In Bezug auf die Beziehung zwischen Ricardo und Christian gestaltet sich dies bspw. wie folgt: R: “I discuss a little bit of work related problems with Christian, Christian. He is, er, a GTD. You know a GTD? Get Things Done!” I: “Ah, okay. Yeah.” R: “He is a GTD coach, so he knows a lot about, er, scheduling stuff, and getting things work, to, to, to work and I talk a little bit with, about that with him” (Ricardo, A. 124–127).
Exemplarisch zeigt sich hier, inwiefern aus informell hergestellten Beziehungen ein Mehrwert (für zumindest einen der Interaktionspartner) entstehen kann. Die beschriebene Situation erinnert dabei an Gerrits Erzählung, als er erklärt, sich künftig mit einer in Chiang Mai kennengelernten (namentlich unbenannten) Person intensiver austauschen zu wollen; eine Person, die scheinbar eine ähnliche Arbeitsstrategie wie er selbst verfolge, diese jedoch erfolgreicher umsetze (s. Abschn. 6.2.6.2). Mathéo geht den fachlich forcierten Austausch hingegen anders an. Er sucht hierfür die entsprechenden Coworking Spaces auf und erklärt: M: “If you want to meet all the marketing-community you go to eh go to eh Monster Coffee. All the marketing guys are there, they work from there. I don´t know why (laughter). And ja, you have community inside the community” (Mathéo, A. 7).
So scheinen sich folglich kleine Expertisen-Foci (vgl. Feld 1981) innerhalb der Stadt Chiang Mai herauszubilden. Ähnliches gilt auch für informell organisierte Workshops, Meetups oder Mastermindgruppen. Hierzu erzählt Isabella: I: “I’ve been to a couple of like collaborative business meetings”. Sowie später im Interview: “[H]ere [in Chiang Mai], there’s a few like workshops and collaborative
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
events, um, sort of brainstorming meetings with an idea that we all share our tools and our expertise” (Isabella, A. 221 u. 239–241).
Möglich wird die Entstehung solcher Wissenspools folglich wiederum erst durch die lokale Anwesenheit einer Vielzahl von Digitalen Nomaden in Chiang Mai. Deutlich wird jedoch auch, dass es für eine gezielte(re) Informationsabfrage einer Beziehungsfestigung bedarf; bspw. durch mehrfache Verabredungen (wie im Fall von Ricardo) erzeugt. Dementsprechend deutet sich auch in diesem Kapitel an, dass (eine zumindest temporäre) Kopräsenz zur Voraussetzung einer Beziehungsintensivierung wird. Für eine Übersicht siehe die nachstehende Abbildung 7.12.
Broker mit unpersönlichen Beziehungscharakteriska zu Ego
Akteurshandeln geograph. Mobilität von Ego
Digitaler Nomaden-Hub (Akvitätsfocus)
lokal beständige Hubs
Informaonsaustausch durch zufällige Begegnung und Herstellung wiederholter Begegnung im lokalen Raum
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.12 Mobilität von Ego an Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters III
Um beantworten zu können, inwiefern es im Rahmen eines solchen Zusammentreffens auch zur Entwicklung von Arbeitskollaborationen kommt, bedarf es weiterer Forschung. Dieser Umstand weist zugleich auf eine Grenze im vorliegenden Datenmaterial hin. Denn als Beispiel zur Vorstellung einer erfolgreichen Zusammenarbeit bietet sich lediglich die gemeinsame Appentwicklung von Gerrit und Taya (s. Abschn. 6.2.3 u. 6.2.4) an; wenngleich die beiden sich nicht an einem Digitalen Nomaden-Hub kennenlernten. Oder, nicht zu vergessen, Paulinas Einstieg in Haris Startup-Unternehmen (s. Abschn. 7.1.1). Wie beschrieben, lernten sich letztere beiden jedoch innerhalb des lokal verankerten Coworking Space Hubud, also keinem geographisch dispersen Hub, kennen.
7.2.2.4 Zusammenfassung: Digitale Nomaden-Hubs in Gestalt eines Clusters Wie die Beispiele gezeigt haben, ist der Aufenthalt von Akteuren an einem Digitalen Nomaden-Hub in Gestalt eines Clusters, sowohl durch die Anwesenheit einer Vielzahl von Digitalen Nomaden als auch durch eine geographisch disperse Infrastruktur von Coworking Cafés und -Spaces gekennzeichnet. Dieser Umstand fordert die Akteure auf, selbst aktiv zu werden. Denn nur so können soziale Beziehungen
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
249
vor Ort geknüpft werden. Zu Beginn erfolgt dies meist onlinebasiert, bspw. um ausfindig machen zu können, wer sich wo aufhält, wer welche Veranstaltungen besucht etc. Einem persönlichen Zusammentreffen auf lokaler Ebene ist dementsprechend eine onlinebasierte Kommunikation, nach Urry eine Form des „communicative travel“ (Urry 2007: 47), vorgelagert. So navigiert sich der Einzelne – auf der Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen und sozialen Interaktionsmöglichkeiten – durch die Stadt. Weiter bildet sich dabei ab, wie die Handlungsfähigkeit der Akteure durch die lokale Infrastruktur gelenkt wird und wie die Akteure die bestehenden Angebote für ihre Interessen nutzen. Der Einzelne ist dabei (zunächst) austauschbar. Erst im Kontext sich intensivierender Beziehungen wird die Einzelperson relevant.
7.2.3
Zusammenfassung
Wie die Beispiele in diesem Kapitel verdeutlicht haben, wird es den Interviewten an den jeweils von ihnen aufgesuchten Digitalen Nomaden-Hubs – unabhängig von deren lokal infrastruktureller Gestalt – möglich, auf andere, meist eine Vielzahl von Gleichgesinnten zu treffen. Wahrscheinlich wird dieser Aspekt durch die zuvor von ihnen um Hilfe gebetenen oder für Recherchezwecke genutzten Broker (s. Abschn. 7.1). So zeigt sich, dass nicht die Landeskultur oder -sprache am Standort eines Hubs im Vordergrund der Entscheidung für einen dortigen Aufenthalt steht, sondern stattdessen die Anwesenheit anderer Digitaler Nomaden38 ; oder wie Paulina es nennt: Einer „community39 “ (A. 57; Abschn. 7.1.1). Auf diese Weise können die Interviewten an für sie unbekannten Orten auf gewohnte Strukturen zurückgreifen und Routinen herstellen. Dies gilt sowohl auf Ebene des sozialen Austauschs, also auch in praktischer Hinsicht, wie bspw. durch den Rückgriff auf stabile Internetinfrastrukturen innerhalb von Coworking Spaces. Auch wenn die empirischen Beispiele weiter gezeigt haben, dass die Befragten während ihres Aufenthalts an einem Hub unterschiedliche Strategien entwickeln (müssen), um soziale Kontakte zu knüpfen, ist all den Orten dennoch gemein, dass sie den Akteuren Gelegenheitsstrukturen bieten, um auf Gleichgesinnte zu treffen. Wie zuvor angesprochen spricht Scott Feld in diesem Zusammenhang auch
38 Faktoren wie geringe Lebenshaltungskosten, Wetter, Internetzugangsmöglichkeiten oder öffentliche Verkehrsmittel (s. Abschn. 5.2.1 u. 7.2.1.1) können dabei mit einer hohen Wahrscheinlichkeit als gegeben angesehen werden. Andernfalls wäre die Herausbildung eines Digitalen Nomaden-Hubs als unwahrscheinlich einzuschätzen. 39 Den von Paulina verwendeten Community-Begriff gilt es nicht mit Wellmans Verständnis einer „personal community“ (1979; 1988) gleichzusetzen (s. Abschn. 3.2).
250
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
von sogenannten „Foci“ (Feld 1981: 1015). Diesen bzw. der von ihm entwickelten gleichnamigen Fokus-Theorie liegt die Annahme zugrunde, dass „relevant aspects of the social environment can be seen as foci around which individuals organize their social relations“ (ebd.: 1016). Jedem Fokus liegt dabei eine bestimmte Eigenschaft zugrunde. Dies kann bspw. in einer Schulklasse die Bildung, in einem Unternehmen der Beruf, in einem Tennisverein das Interesse am Sport oder in einer Wohnsiedlung der ökonomische Status der Bewohner sein (vgl. Fuhse 2016: 162). Dementsprechend können den in dieser Arbeit identifizierten Hubs Eigenschaften wie Austauschmöglichkeiten unter mobilen Onlinearbeitern oder die Herstellung potentieller Arbeitskollaborationen zugeordnet werden. Denn „[e]in Aktivitäts-Fokus ist ein Ort des sozialen Austauschs, an dem es verstärkt zur Bildung sozialer Beziehungen kommt“ (ebd.). Zentrales Charakteristikum ist dabei außerdem: „Die Zusammensetzung der Personen an einem Aktivitäts-Fokus bestimmt mit darüber, unter welchen Personen sich systematisch Sozialbeziehungen bilden“ (ebd.). Feld zufolge ist die Wahrscheinlichkeit daher größer, dass Personen, welche einem gemeinsamen Fokus angehören, auch eine persönliche Beziehung zueinander aufbauen, als Personen, welche keinen Fokus teilen (vgl. Feld 1981: 1016). Mit Bezug auf die mobilen Onlinearbeiter in der vorliegenden Arbeit hat die Beleuchtung der Hubs gezeigt, dass die Akteure durch ihren Aufenthalt an einem der besagten Orte Zugang zu für sie interessante Personen mit unterschiedlichen Expertisen erhalten. So können auf vielfältige Weise und innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl von schwachen Beziehungen ausgebildet werden. Diese dienen den Akteuren wiederum als Quelle zu neuen Informationen; ein Aspekt, wie er von langjährigen Sozialkontakten nicht ausgeht bzw. aufgrund von Mangel an Wissen und Erfahrung nicht ausgehen kann. Basierend auf diesen empirischen Befunden lässt sich ein Mechanismus der Netzwerkbildung beobachten: Homophilie. Umgangssprachlich formuliert verbirgt sich hinter dem Homophilie-Prinzip der Gedanke von „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ (Jansen 2003: 250). Das soll heißen, dass mit dem Konzept der Homophilie die Annahme verbunden ist, dass einander ähnliche Akteure mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in Verbindung treten, als einander unähnliche Personen (vgl. Centola et al. 2007: 905 f.; McPherson et al. 2001: 416). Das alleinige Zusammentreffen mit anderen Digitalen Nomaden lässt in der vorliegenden Arbeit jedoch noch auf keinen Homophilie-Effekt schließen. Der Umstand des Aufeinandertreffens steht lediglich mit dem Konzept des Aktivitätsfocus in Zusammenhang (vgl. Fuhse 2016: 163). Homophilie als Charakteristikum der persönlichen Netzwerkbildung der Befragten bildet sich stattdessen dann ab, wenn die Akteure sich dazu entschließen, mit anderen mobilen Onlineentrepreneuren, Selbständigen oder Startup-Mitarbeitern in Kontakt zu treten und – wenn als passend empfunden – eine beständige Beziehung,
7.2 Digitale Nomaden-Hubs als Aktivitätsfoci im Kontext von Mobilität
251
anstelle eines bloßen Aufeinandertreffens, aufzubauen (s. hierzu Abschn. 7.3.4); u. U. eine Arbeitskollaboration bilden. Dass die Interviewten primär Austausch mit anderen mobilen Gleichgesinnten und nicht bspw. mit Personen aus der einheimischen immobilen Bevölkerung suchen, zeigen die bis dato vorgestellten empirischen Beispiele (s. weiteres hierzu in Abschn. 7.3.2 u. 7.4.2). Abbildung 7.13 bietet zu dieser Überlegung eine Übersicht. Nachstehend erfolgt deren Erläuterung.
x
Ebene: Geographische (Im)Mobilität
Ebene: Soziale Beziehungen/ persönl. Netzwerk
- Aufenthalt an Digitalen Nomaden-Hub als Akvitätsfoci - Temporäre geograph. Immobilität oder gemeinsame Mobilität zur Herstellung von Kopräsenz als Voraussetzung für Kennenlernen, ggf. Arbeitskollaboraon und Innovaon
Chance für Kennenlernen, Freundscha (1), Ideen- und Expersenaustausch, Homophilie
Entscheidung für Arbeitskollaboraon (2)
Mulplexität von Beziehung: Freundscha (1) Arbeit (2)
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.13 Soziale Beziehungen, (Im)Mobilität und Digitale Nomaden-Hubs
Richtet sich der Blick auf die Zeit während des Aufenthalts der Interviewten an einem Hub, zeigt sich, dass sich mit einigen der sich intensivierenden Kontakte neben einem freundschaftlichen Verhältnis auch eine potentielle Zusammenarbeit anbahnt. Die in diesem Kontext zu beobachtende Entwicklung weist dabei folgendes Muster auf: Eine Beziehungsintensivierung beginnt stets auf einer freundschaftlichen Ebene (in Abb. 7.13 als (1) angeführt; u. U. bleiben einige der Beziehungen auf dieser Ebene verhaftet). Gleiches gilt für potentielle Arbeitskollaborationen40 (in Abb. 7.13 als (2) angeführt). Grundlage für Letzteres ist insbesondere die zuvor geschaffene Vertrauensbasis. Erst wenn sich auf zwischenmenschlicher Ebene eine Beziehung bewährt, wird diese u. U. durch eine arbeitsbezogene Dimension erweitert; und somit zu einer entsprechend multiplexen Beziehung. An die Stelle von Bewerbungsgesprächen oder Assesmentcentern tritt ein freundschaftliches Vertrauensverhältnis. Als charakteristisch geht dabei aus dem Datenmaterial hervor, dass 40 Diese Beobachtung gilt für neue, im Kontext der Mobilität der Befragten sich formierende Projekt- und Arbeitskollaborationen. Zum Beziehungsverhältnis zu bspw. ehemaligen Arbeitgebern s. Abschnitt 7.3.
252
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
einer jeden stärker werdenden Beziehung, ein (zumindest temporärer) gemeinsamer Aufenthalt an einem Ort bzw. eine gemeinsame Mobilität voraus geht. Dies zeigte sich bspw. anhand der Beziehung zwischen Gerrit und Taya (s. Abschn. 6.2.3.2), ebenso wie an der Relation zwischen Paulina, Hari und Lyla sowie ihrem späteren Kontakt zu Alina (s. Abschn. 7.2.1). Erst durch die gemeinsame (Im)Mobilität entsteht die Chance eines einander besseren Kennenlernens; nach Gerrits Worten zum Aufbau einer „Vertrauensbasis“ (A. 146). So bildet sich auch ab, inwiefern Mechanismen der Netzwerkbildung die Mobilität der Befragten beeinflussen bzw. inwiefern der Wunsch zur Ausbildung nachhaltiger Beziehungen oder Arbeitskollaborationen (temporäre) Immobilität erzeugen kann. Um noch detailliertere Aussagen hinsichtlich dessen treffen zu können, bedarf es, wie zuvor erwähnt, jedoch weiterer Studien. Festzuhalten gilt an dieser Stelle jedoch dennoch, dass die Beispiele verdeutlicht haben, dass über schwache Beziehungen neue Ideen vermittelt werden (vgl. Granovetter 1973) und somit der Weg für eine mögliche Innovationsentstehung bereitet wird. Über sich intensivierte starke Beziehungen wird Innovation hingegen umgesetzt (vgl. Avenarius 2010a: 106), bspw. in Form von Arbeitskollaborationen. Unter Bezugnahme auf Beobachtungen dieser Art gilt es weiter zu fragen, ob sich Städte wie Chiang Mai langfristig als Digitale Nomaden-Hubs etablieren und ob diese künftig als Ballungszentren für Onlinearbeiter, wie andernorts bspw. Los Angeles für Filmschaffende oder Paris für Modedesigner (vgl. Florida 2009: 11), fungieren. Basierend auf den Beobachtungen während des Feldforschungsaufenthalts für die vorliegende Arbeit liegt es nahe, diese Frage zunächst mit ja zu beantworten; wenngleich die Entwicklung noch in den Anfängen zu stecken scheint und es weiterer Beobachtungen bedarf. Abschließend soll an dieser Stelle, unter Berücksichtigung der voranstehend vorgestellten Modi, noch ein weiterer Aspekt angesprochen werden, welcher erneut auf einen potentiellen Modiwechsel hindeutet. Ein Beispiel hierfür zeigt sich im Gespräch mit Joshua (s. Abschn. 7.2.2). Während dessen Erzählung im Allgemeinen durch eine Beschreibung charakterisiert ist, in welcher er zwar erwähnt, wie er sich Digitale Nomaden-Angebote zu Nutze macht, sich jedoch nicht auf die Unterstützung anderer Digitaler Nomaden beruft (entspricht Modus II), deutet sich bei einem Blick in die Zukunft ein potentieller Strategiewechsel an. Denn er erzählt: „[…] which I’ve been thinking about doing (.), which is HackerParadise.org41 . (I: Ah.) Which is basically a place for digital nomads, um, to get together at specific places and the way they work is that, um (.), they choose a country, they stay in that country for four or five weeks as, you know, work together as a group and they leave 41 Hierbei
handelt es sich um das von Jay beschriebene Program (s. Abschn. 7.1.1.2).
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
253
and go to another country. So, I think right now, they are in Estonia. They’ll next go to Barcelona (..)” (Joshua, A. 202–208). Ob Joshua seine Pläne tatsächlich umsetzt, kann nicht beantwortet werden. Interessant ist seine Überlegung allerdings dennoch, deutet sich in dieser doch erneut an, dass die Befragten in Abhängigkeit ihrer Erfahrungen, Erlebnisse und sich möglicherweise verändernden Wünsche im Verlaufe ihrer Mobilität u. U. ihre Handlungsgewohnheiten verändern. Im Fall von Joshua bedeutet dies bspw., sich einer organisierten Gruppe von mobilen Onlinearbeitern (entspricht Modus I) anzuschließen.
7.3
Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
Im Allgemeinen gilt es zu berücksichtigen, dass die Befragten – unabhängig von ihrer Mobilitätsdauer zum Zeitpunkt des Interviews – stets in bestehende Netzwerkstrukturen eingebunden sind (vgl. z. B. Diewald 1991: 85; Negrón 2012: 46), neue Kontakte knüpfen, Beziehungen intensivieren (s. z. B. Abschn. 6.2.3.2 u. 7.2) oder auflösen (s. z. B. Abschn. 6.1.5). Dies gilt für Freundschafts-, Arbeits- oder Familienbeziehungen gleichermaßen. Die Mobilität der Interviewten findet dementsprechend niemals isoliert statt. Dementsprechend treten unweigerlich Fragen auf, die auf die Funktion langjähriger bzw. jüngst geknüpfter und potentiell beständiger Beziehungen abzielen. Welche Rolle wird diesen im Kontext von Egos Mobilität zuteil? Welche unterstützenden oder u. U. hemmenden Aspekte gehen mit diesen Beziehungen für die Befragten einher? Welche neuen Kontakte intensivieren sich? Welche alten Beziehungen bleiben bestehen oder brechen auseinander? Unter Beantwortung dieser Fragen wird im Folgenden aufgezeigt, wie die Interviewten ihre Mobilität realisieren; d. h., inwiefern Beziehungen intensiviert, verändert oder aufgelöst werden, um eine mobile Lebensführung herstellen zu können. Der Aufbau des Kapitels erfolgt dabei jedoch nicht wie zuvor in Orientierung an den beiden identifizierten Modi. Grund hierfür sind einerseits vielfache Überschneidungen und andererseits die oftmals relativ kurze Mobilitätsdauer der Befragten, die sie in ihren Erzählungen immer wieder zu (bislang nicht umgesetzten) Zukunftsprognosen zwingt (s. hierzu auch Abschn. 7.6). Daher ist die nachstehende Kapitelstrukturierung an der vergangenen (s. Abschn. 7.3.1), gegenwärtigen (s. Abschn. 7.3.2) und potentiell künftigen sozialen Eingebundenheit der Akteure (s. Abschn. 7.3.3) orientiert. So gelingt es außerdem, die Facettenvielfalt der Ausgangslagen und Erfahrungshintergründe der Interviewten (s. Abschn. 5.4) transparent zu machen und gleichzeitig zu zeigen, inwiefern sich die Erzählverläufe hinsichtlich bestimmter Netzwerk(transformations)muster ähneln.
254
7.3.1
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Präventive Beziehungsarbeit und Beziehungstransformation (Modus I+II)
Wie angesprochen, richtet sich der Blick nun zunächst auf jene Netzwerkkontakte, welche bereits vor Egos Aufbruch in eine ortsflexible Lebensführung – wenngleich nicht voneinander als isoliert zu betrachtende Mobilitätsphasen gesprochen werden kann – eine (langjährige) Rolle in dessen Leben spielten. Hierzu zählen sowohl arbeitsbezogene als auch private Beziehungen. Als interessant erweisen sich diese Kontakte insbesondere hinsichtlich ihrer Einflussnahme bzw. Wirkung auf den Mobilitätsbeginn der Interviewten.
7.3.1.1 Präventive Beziehungsarbeit: Zur Herstellung von Beziehungsnachhaltigkeit trotz bevorstehender geographischer Distanz Eine der grundlegenden Voraussetzungen zur Realisierung einer ortsflexiblen Lebensführung bildet die Generierung von finanziellem Einkommen via Onlinearbeit. In diesem Punkt sind sich die Interviewten einig. Anders als in den Fällen Malte und Gerrit (s. Abschn. 6.1 u. 6.2), müssen einige der Befragten jedoch erst eine Geschäftsidee entwickeln, um eine onlinebasierte Arbeitstätigkeit ausüben zu können. Zu diesen Personen gehört bspw. Raik. Dieser baut seine Geschäftsidee zunächst sukzessive neben der Ausübung einer ortsgebundenen Tätigkeit in Festanstellung auf. Er erzählt: „Ja. Also ich hab, äh, im Jahr 2008 angefangen zuerst nebenberuflich, äh (I: Mhm.) Ratgeber zu erstellen, digitale Ratgeber, so E-Books. (I: Ah, ok.) Und später dann noch Audiokurse, Audiointerviews, Videokurse, ähm, zum Thema [X]. Und die vertreib ich über’s Internet in verschiedenen Strukturen. Das is so/ So fing es an“ (Raik, A. 20–25). Zum Zeitpunkt des Interviews, rund acht Jahre später, erweist sich Raiks Onlinebusiness als ertragreich. Dies erklärt er in folgender Sequenz: R: „Und inzwischen mach ich ganz viel auch Affiliate-Marketing, falls dir das was sagt, E-Mail-Marketing. […] Und, ja, und bin Nomade geworden so im Laufe der Zeit. […] Ich war, ähm, Vollzeit angestellt gewesen, leitende Position in ner sozialen Einrichtung. Ich hab nebenberuflich angefangen. (I: Ah, okay.) Und dann hab ich 2010 gekündigt und fing auch schon an zu reisen“ (Raik, A. 35–36 u. 50–52).
Was aus diesem Zitat geschlussfolgert werden kann, ist, dass Raik durch den Aufbau einer Leserschafft der Ausstieg aus seiner Festanstellung gelingt; wird durch Kundenbindung doch gleichzeitig eine finanzielle Einnahmequelle generiert. Eine
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
255
andere Strategie verfolgt Anna. Im Gegensatz zu Raik behält sie ihr Arbeitnehmerverhältnis (trotz geographischer Mobilität) bei. Die Zusammenarbeit mit ihren Kollegen erfährt dabei jedoch eine Transformation. Anna erzählt: A: “I don´t have the profile of a Digital Nomad at all. (I: Okay.) I used to work in Hamburg for a german company that works ehm/ does media analysis. And I used to work there for one year and a half and then we42 wanted to move abroad. So I told them that I want to go away and if its ok if I start/ mh continue working for them from abroad. Because pretty much everything we do, is online. And they said yes” (Anna, A. 16).
Wie das Beispiel von Anna zeigt, wird in ihrem Fall aus einer kopräsenten eine onlinebasierte Zusammenarbeit mit ihrem Arbeitgeber. Auf diese Weise gelingt es auch ihr, eine finanzielle Absicherung im Kontext von Mobilität herzustellen. Ausgewählt wurden die beiden Beispiele von Raik und Anna an dieser Stelle deshalb, da sie stellvertretend für all jene Interviewpartner stehen, welche vor ihrem Aufbruch in eine ortsflexible Lebensführung keiner Onlinetätigkeit nachgingen. Unter Anknüpfung an diesen Aspekt zeigt sich weiter, dass die Interviewten erst nach Klärung des Themas Arbeitstätigkeit ihre Freunde und Familienmitglieder über ihr Vorhaben unterrichten. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein zufälliges, sondern vielmehr um ein strategisches Vorgehen. Von solch einer Handlungspraktik berichtet bspw. Kristin: „[I]ch habe zwei Monate, muss ich gestehen, ähm, ich habe es komplett alleine, ich habe es komplett für mich behalten“ (Kristin, A. 116). Grund für dieses Vorgehen ist insbesondere die Befürchtung vor Zurückweisung. In ihrem Fall auch deshalb, da ihre Entscheidung nicht nur ein Verlassen ihres Wohnortes, sondern zugleich die Aufgabe einer Festanstellung mit geregeltem finanziellen Einkommen, bedeutet. Ein erstes Gespräch sucht Kristin schließlich mit ihrer Freundin Judith. Sie berichtet: K: „Ähm, und das wurde dann immer realer, also ich wusste, es hörte nicht auf der Gedanke, und habe dann im Dezember das erste Mal mit je/ Mit einer sehr engen Freundin darüber gesprochen. Habe gesagt: “Ich mache das!”“ (Kristin, A. 128).
Wie das Zitat zeigt, sucht Kristin folglich nicht nach Unterstützung bei ihrer Freundin, sondern unterrichtet diese vielmehr über ihren Entschluss. Raum für Diskussion wird mit dieser Strategie nicht oder nur wenig gelassen. Einen anderen Grund, weshalb langjährige Freunde nicht als Unterstützungsquelle vor Aufbruch in eine
42 Bezugnehmend
auf ihren Partner Mathéo (s. Abschn. 5.4).
256
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
ortsflexible Lebensführung herangezogen werden, zeigt sich in einer Aussage von Sören als dieser sagt: S: „Aber so in meinm Bekanntnskreis, klar hat man das immer schon mal gehört, dass jemand nach Australien zum Work-and-Travel gegang ist, allerdings hab ich auch in meinem Freundeskreis noch kein gehabt der nach Asien gegangen ist, außer wenn jemand berufliche Gründe hatte. Im Sinne vom zum Arbeitn, China oder sonstwas. Aber das ist nich gleichzusetzn mit dem reist/ so n Businesstrip das is doch, das sind zwei Paar Schuhe im Prinzip“ (Sören, A. 14).
Exemplarisch zeigt sich in dieser Erzählung von Sören, dass von langjährigen Beziehungen auch deshalb kein Support ausgehen kann, da die jeweiligen Personen über keine entsprechenden Erfahrungen verfügen. Gleichzeitig verweist dieser Umstand so auf die noch junge Entwicklung des Digitalen Nomadentums. Zuletzt werden in der Regel die Eltern in die Mobilitätspläne der Interviewten eingeweiht. Wie sich entlang des empirischen Materials herausstellte, hängt dies primär mit deren Sorgeäußerungen zusammen. Kristin – wie viele der anderen Interviewten auch – entscheidet sich daher zunächst dafür, ihren Bruder in ihr Vorhaben einzuweihen. Sie erzählt: „Ähm, der einzige, ja den, äh, ich hatte meinen Bruder mit eingeweiht. […] [I]hn aber gebeten: “Bitte, behalte das erst einmal alles für dich, ich will das alles im Hintergrund werkeln und machen.”“ (A. 332 u. 338). Erst zu einem späteren Zeitpunkt bindet Kristin ihre Eltern in ihr Vorhaben ein. Bei der Informationsübermittlung bittet sie ihren Bruder, als Unterstützer mitzuwirken. Diese Situation schildert sie wie folgt: K: „Ich hatte meine Eltern besucht und hatte, bevor ich mit meinen Eltern gesprochen hatte, ähm, um, äh, eine Geschwi/ Ein Geschwisterabend sozusagen gebeten und, ähm, weil ich bitte gerne mit ihm sprechen wollte. Und, ähm, habe mit Holger [Bruder], den habe ich eins, zwei Tage vorab/ (I: Mhm.) Darüber gesprochen: “Okay, Holger, ich habe mein Visum geholt.” […] Ähm, genau, ja und, äh, so von wegen: “Bitte sei meine Stütze mit, dass es nicht dramatisch ist und kein Weltuntergang ist, weil ich meinen Job gekündigt hatte. Äh, und jetzt reisen gehe.” Und, äh, genau, weil ich wusste, der ist einfach jünger, der ist/ (I: Mhm.) der ist anders schon gereist“ (Kristin, A. 468–472).
Exemplarisch zeigt sich hier, dass der von Kristin beschriebene Generationenunterschied bzw. die damit in Zusammenhang stehenden Erfahrungshintergründe der von ihr adressierten Personen, sie zu der von ihr skizzierten Handlungsstrategie verleiten. Noch deutlicher wird dies in der nachstehenden Sequenz: K: „Ähm, genau, zu meinen Eltern gegangen und gesagt: Leute, ich will meinen Job kündigen und ich werde nach Australien gehen. (I: Mhm, mhm.) Und, ähm, weil meine
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
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Eltern nie gereist sind, meine Eltern saßen nie im Flieger. (I: Okay.) Genau. Diese/ die fahren nach Spanien mit dem Bus, so, ja? (Lachen) Ähm, und dann wusste ich, ei, ei, ei, das wird für die gerade ein bisschen/ (I: Mhm.) Bisschen emotional und sehr dramatisch“ (Kristin, A. 206–214).
Auf Kristins Nachricht reagiert ihre Mutter wie folgt: K: „Das war, ähm, genau, meine Mum wollte drei Monate mit mir über das Thema nicht reden. Da ging gar nicht, die wollte, wenn wir dann einmal telefoniert hatten und ich dann eben von den Reisevorbereiten/ Vorkehrungen gesprochen habe, ging gar nicht“ (Kristin, A. 474).
Deutlich wird hier, dass Kristin in der Beziehung zu ihren Eltern diejenige ist, welche die unterstützungsgebende Rolle einnimmt. Dieser Aufgabe versucht sie in Form verstärkter Einbeziehung ihrer Eltern in ihre Vorbereitungsmaßnahmen nachzukommen. Sie erzählt: K: „Äh, sie hatten ihre Ängste, die haben sie kundgetan, und ich habe versucht auf den Weg dahin, sie hatten, na dann auch acht Monate Zeit sich daran zu gewöhnen. Und habe dann immer versucht so ein bisschen die mitzunehmen, zu sagen: “Ähm, sieh einmal, ich bin ganz gut vorbereitet, ich reise mit mehreren Visa-Karten und wenn das und das passiert, ich habe meine Dokumente alle digital, das heißt, wenn einmal mein Pass weg verschwindet oder”/ Einfach um denen so das Gefühl zu geben/“ (Kristin, A. 486).
Werden weitere Interviewausschnitte für die Betrachtung hinzugezogen, zeigt sich, dass auch andere Befragte von ganz ähnlichen Kommunikationsstrategien und anschließenden Reaktionen ihrer Eltern berichten. Bspw. erzählt Raik: R: „U:nd, (..) ja, meine Eltern finden das/ (…) die geben mir da die Freiheit, aber die machen sich zum Beispiel viel Sorgen so. Die/ Die/ Die d/ finden das gut, aber auch/ Also die sehen, dass es mir damit gut geht, aber die hätten mich natürlich manchmal auch gern näher“ (Raik, A. 230).
Und Paulina berichtet: P: “My mum and dad, dad not as much but my mum was more like, “Oh, but how is the safety there [in Bali]”, and then da, da, da, so, um (.) she was a bit like, “Okay”, but eventually she got used to the, the just used to it yes, yes, yes” (Paulina, A. 149).
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Reaktionen der Eltern zwischen Sorge und Freiraum gewähren kursieren. Zum Unterstützer werden diese
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
ebenso wie langjährige immobile Freunde nicht. Dennoch scheint für die Befragten eine allgemeine Akzeptanz über ihr Mobilitätsvorhaben, zumindest von Seiten der Eltern, von Relevanz zu sein. Dies spiegelt sich bspw. anhand von Kristins Bemühungen zur Einbindung ihrer Eltern wider; u. a. bereitet sie ihre Eltern auf diese Weise präventiv auf den sich künftig verändernden Kontakt vor (s. Abschn. 7.3.2). Eine der wenigen Ausnahmen bildet hingegen die Erfahrung des Brasilianers Ricardo. Die Reaktion seiner Mutter auf sein Mobilitätsvorhaben schildert er wie folgt: R: “My mother is, she is very supportive. She wants to get out of Brazil as well, to live abroad, but my, I have a little sister that, that’s nine years old now. So, it’s harder to, to go out with, er, with a little kid. Um, and she, she says that she really misses me and that she would really miss when I am abroad. Er, she, she, she was really sad when I went out, but at the same time, she, she was happy for me” (Ricardo, A. 55).
Interessant erscheint an dieser Erzählung von Ricardo nicht nur die unterstützungsgebende Reaktion seiner Mutter, sondern auch der damit einhergehende Hinweis auf die unterschiedlichen Ausgangslagen der Interviewpartner. Im Fall von Ricardo könnten dies bspw. ökonomische Herausforderungen für die Landesbevölkerung in Brasilien sein. Dementsprechend erscheint ein Landeswechsel auch aus Perspektive der Elterngeneration als Option nicht unwahrscheinlich (s. hierzu auch Kap. 8).
7.3.1.2 Beziehungstransformation: Zur Auflösung von ortsbindenden Beziehungen als Voraussetzung für geographische Mobilität Neben dem Bemühen, einzelne Kontakte auch in Zukunft über Landesgrenzen hinweg aufrechterhalten zu können, zeigt sich in den Interviews jedoch auch, dass es einer Auflösung bestimmter Beziehungen als Voraussetzung für Mobilität bedarf. Dies trifft insbesondere auf ortsbindende Partnerschaftsbeziehungen zu. Ähnlich wie im Fall von Malte (s. Abschn. 6.1.5) und Gerrit (s. Abschn. 6.2.4), skizzieren auch andere Befragte eine Problematik, die sich zwischen der Vereinbarkeit von Mobilitätswunsch und lokal verwurzelter Paarbeziehung aufspannt. So spricht bspw. Owen davon, sich aktiv für eine Trennung von seiner Partnerin vor Beginn seiner Mobilität entschieden zu haben: O: “I mean I had a girlfriend. This is, this is a common problem as a nomad (laughter) as we tend to leave eh (.) partners behind. […]“ (Owen, A. 13).
Sören berichtet hingen davon, verlassen worden zu sein:
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
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S: „[M]eine Freundin, dass die mich verlassn hat im Prinzip. Ehm das war eigentlich n damit hab ich ne ziemlich/ oder meine Bezugsperson die sonst immer mich irgendwie daran gehindert hat einfach loszuziehn. Die hab ich dann im Prinzip verlorn und ehm (..) genau das war so ne ganz wichtiger Schlüsselmoment eigentlich. Nachdem ich dann auch s/ oder kurz nach dem des passiert is hab ich dann auch für mich entschiedn okay jetzt oder nie (lacht). Nich jetzt oder nie aber, dass is n guter Zeitpunkt, auch wenn man im Prinzip nich auf den gutn Zeitpunkt hoffn sollte […]“ (Sören, A. 8).
Exemplarisch zeigen die Beispiele, dass die Auflösung der Paarbeziehung jeweils zum Startschuss in eine mobile Lebensführung bzw. zur Voraussetzung für Ortsflexibilität wird. Raik zieht aus diesem Umstand folgenden Schluss: „Beziehung is schwierig, glaub ich, in so nem Nomadenzustand“ (Raik, A. 432). Eine gemeinsame Mobilität als Paar realisieren die Befragten hingegen erst dann, wenn beide Partner sowohl einen Mobilitätswunsch hegen, als auch onlinebasiert arbeiten können. Dementsprechend beschreiben Anna und Mathéo den Schlüssel zu ihrer bis dato 13-monatigen gemeinsamen Mobilität wie folgt: A: “This is actually, I think (…) well, we had the idea of going abroad before we met. Like each of us. So I think, if (.) one of us would not like to go abroad, we would not be together. Probably. (..)” M: “Mh ja, very true (laughter)” (Anna & Mathéo, A. 14–15).
Resümierend lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten, dass entlang der vorgestellten Beispiele deutlich wurde, inwiefern es bestimmter Beziehungskonstellationen bzw. einer Veränderung in bestehenden Beziehungen – sowohl auf emotionaler als auch auf strukturaler Ebene – als Wegbereiter für den Aufbruch in eine ortsflexible Lebensführung bedarf.
7.3.2
Langjährige und jüngst geknüpfte Beziehungskonstanten (Modus I+II)
Richtet sich der Blick nun weiter auf jene Kontakte, welche die Befragten auch nach Aufbruch in ihre ortsflexible Lebensführung bis hin zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung unterhalten, zeigt sich, dass hierzu sowohl langjährige als auch jüngst geknüpfte Beziehungen mit Potential auf fortwährenden Bestand gehören. Konkret wird dabei der Frage nachgegangen, welche Rolle den jeweiligen Beziehungen sowie der Facette der Beziehungsnachhaltigkeit im Kontext von bzw. für Egos Mobilität zuteil wird. Als interessant erweist sich dieser Aspekt insbesondere deshalb, da in anderen Studien bereits gezeigt wurde, dass die Aufrechterhaltung
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
von Beziehungen (über geographische Distanzen hinweg) auch Beziehungsarbeit bedeutet. Nicht alle Beziehungen halten dieser Herausforderung stand (vgl. Kannisto 2014: 149; Ryan & D‘Angelo 2018: 153). Dementsprechend stellt sich auch in diesem Kapitel die weitere Frage, welche bzw. wie Beziehungen im Kontext von Egos Mobilität aufrechterhalten bzw. nicht aufrechterhalten werden.
7.3.2.1 Langjährig nachhaltige Beziehungen Wie voranstehend angesprochen, unterhalten einige der Befragten bereits über Jahre hinweg arbeitsbezogene Beziehungen (s. z. B. Abschn. 6.1.2, 7.3.1). Ein Beispiel für deren Aufrechterhaltung im Kontext von Egos Mobilität zeigt sich bspw. in folgender Aussage von Sören: „[D]en Arbeitgeber den ich vorher hatte [hab ich] jetzt als großn Kundn im Prinzip. Für den arbeite ich immer noch“ (Sören, A. 3–4). Ein anderes Beispiel bietet ein Blick auf die Zusammenarbeit des Kanadiers Joshua mit seiner Freundin Lucy. Exemplarisch skizziert Joshua den Kontakt während seines Aufenthalts in Thailand wie folgt: J: “Um, Lucy is a close friend of mine in Toronto. Um (..) I met her through a coding meet-up group. Um (.) she, like helps run one of them pretty much in Toronto, one of the biggest ones in Toronto and, er (..) she runs a social media company there and I (.) I don’t know, I like talking to her. She’s a good friend. Um, and I’ve decided to also make her an Official Advisor to my, er, company” (Joshua, A. 72).
Als interessant und gleichermaßen charakteristisch für langjährige multiplexe Beziehungen43 , wie sie von Joshua und Lucy sowie von anderen Interviewpartnern unterhalten werden, erweist sich deren wechselseitiges Vertrauensverhältnis. Gefestigt wurde dies wiederum durch einen gemeinsamen temporären Aufenthalt an einem Ort (s. hierzu auch Abschn. 7.2). Hinsichtlich freundschaftsbezogener Beziehungen zeigt sich, dass auch im Verlauf der Interviewerzählungen erneut Personen genannt werden, welche bereits vor Aufbruch der Befragten in eine ortsflexible Lebensführung eine relevante Rolle spielten. Dabei fällt auf, dass deren jeweilige Beziehung entweder durch (1) ein gemeinsames Interesse an Onlinearbeit und/ oder geographischer Mobilität oder zumindest durch (2) eine Akzeptanz über den Weggang Egos gekennzeichnet ist.
43 Das Muster der Multiplexität, charakterisiert durch eine freundschaftliche und arbeitsbezogene Beziehung, wurde auch in den Abschnitt 6.2.7 und 7.2.1.2 identifiziert und vorgestellt.
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
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Während (1) Ersteres voranstehend bereits ausführlich anhand der Beziehung zwischen Gerrit zu seinem Freund Lukas besprochen wurde (s. Abschn. 6.2.3.1), berichtet hinsichtlich (2) Letzerem bspw. Kristin über die Beziehungsaufrechterhaltung zu ihrer Freundin Judith Folgendes: K: „[W]enn […] wir zwei, drei Wochen nichts voneinander hören (.), das ist kein Thema. Das ist in keiner Art und Weise ist das, ähm, ähm, ist das, äh, ist das schlimm. […] weil man so eine lange, so eine feste Substanz hat und genauso ist es bei Silvia und Judith. Wir haben/ also so ein krasse Fundament“ (Kristin, A. 750 u. 756).
Eine ganz ähnliche Meinung findet sich bspw. auch in Paulinas Aussage, als sie über die Beziehung zu ihrer langjährigen Freundin und Namenspartnerin Folgendes erzählt: „I know I can get, er, honest opinion from her […]. [W]e were studying, uh, together at the high school. […] Yeah, so we’ve been like, for twenty years, we’ve been, er, like best friends“ (Paulina, A. 109, 111 u. 115). Wie beide Beispiele zeigen, baut die jeweilige beschriebene Beziehung auf einem langjährig gewachsenen „Fundament“ – wie es Kristin (A. 756) nennt. Das Gelingen der Aufrechterhaltung des Kontakts basiert dabei auf einer Akzeptanz über Egos Mobilitätsentscheidung auf beiden Seiten (s. Abschn. 7.3.1.1). Aussagen dieser Art sind insbesondere deshalb interessant, da in bestehenden Forschungsarbeiten zu mobilen Personen auch Gegenteiliges aufgezeigt wird. Kannisto geht bspw. so weit zu sagen, dass immobile Personen den Weggang des Freundes oder der Freundin als Provokation bewerten und den Mobilen entsprechende Vorwürfe unterbreiten (vgl. Kannisto 2014: 149). Ein denkbarer Grund, weshalb manche der in der vorliegenden Arbeit beschriebenen langjährigen Freundschaftsbeziehungen trotz neuer Situation weiterhin Bestand haben, können die – mehr oder weniger regelmäßigen – Besuche der Befragten in ihren Herkunftsländern bei Familienmitgliedern und Freunden sein (s. unten in diesem Kap. u. Abschn. 7.4.2). Dass jedoch nicht alle langjährigen Beziehungen den sich verändernden Umständen Stand halten, macht bspw. folgende Erfahrung von Raik deutlich: R: „[A]lso das war für mich so ne Erfahrung, seitdem ich (.) mich selbstständig gemacht hab, ähm, (..) dass sich mein Freundeskreis gewandelt hat. Das haben viele so beschrieben. Bei mir war das auch so.“ I: „Aha. (8) Hast du ne Idee, woran das vielleicht liegt?“ R: „M::hm, (.) an/ (.) also gesamt das/ Lebenseinstellungen, gemeinsame Themen“ (Raik, A. 110–112).
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Exemplarisch zeigt sich an diesem Beispiel, dass nicht nur Themen wie Mobilität, geographische Distanz oder Selbstständigkeit, sondern auch das Thema Lebenseinstellung im Allgemeinen zu veränderten Beziehungskonstellationen führen kann. Gleiches gilt für sich verändernde Lebensumstände auf Seiten der Alteri; sprich der von den Befragten benannten Referenzpersonen. Ein Beispiel hierfür bildet sich bspw. ab, als Paulina über eine sich verändernde Beziehung zu langjährigen Freunden folgende Kontextumstände thematisiert: „[T]hey have kids at the moment, small babies […]. What I meant to say is that, er, they have their own, er, responsibilities now so we are not in that often touch as before“ (Paulina, A. 297). Zu berücksichtigen gilt es folglich stets, dass sich nicht nur die Lebensumstände der Befragten im Kontext von deren Mobilität, sondern immer auch die Lebenssituation von deren Kontaktpersonen verändern (vgl. Rainie & Wellman 2014: 136; Ryan & D‘Angelo 2018: 153; Wellman et al. 1997) können44 . Weiter zählen auch Familienmitglieder zu jenen Kontaktpersonen, mit welchen die Interviewten im Kontext ihrer Mobilität regelmäßig in Austausch stehen. Dabei bildet sich ein ähnliches Muster ab, wie es bereits vor Egos Aufbruch in eine ortsflexible Lebensführung identifiziert werden konnte. Während Geschwister weiterhin als Unterstützer hinzugezogen werden, nehmen die Interviewten gegenüber ihren Eltern eine unterstützungsgebende Funktion ein. So berichtet bspw. Paulina: „I first discuss things with brothers then with my parents“ (Paulina, A. 123–125). Diese unterstützende Rolle der Geschwister kann dabei sowohl praktische als auch emotionale Anliegen umfassen. Bspw. erzählt Paulina weiter: P: “Mm (.) yeah, more (.) practical let’s say, er, my brother was helping me with getting the travel insurance, new travel insurance lately. I wanted to change so he was helping me” (Paulina, A. 248).
Ricardo berichtet über den Kontakt zu seiner in Australien (vgl. A. 145) lebenden Schwester hingegen Folgendes: R: “Well, I think my sister is still very important for me and we talk every day and she, she always helps me with everything. There are some days that I, that I am not very well. There are some days that I am very well. […] She is always there to support me and talk to me […] I think she is the most supportive” (Ricardo, A. 103).
44 Forschungsarbeiten, die sich unter einer entsprechend kontextualisierenden Perspektive mit den Folgewirkungen der sich verändernden Lebensumstände der Alteri, für die Situation Egos im Detail beschäftigen, stehen bislang aus.
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
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Neben der Unterstützungsfunktion wird in dieser Sequenz erneut ein Hinweis auf den Generationenunterschied zwischen Geschwistern und Eltern deutlich. So bieten gemeinsam geteilte Mobilitätserfahrungen unter Geschwistern eine mögliche Erklärung für die Unterstützungsabfrage von eben diesen. Darüber hinaus führt das gemeinsame Mobilitätsverständnis dazu, dass persönliche Treffen mit Geschwistern auch außerhalb des gemeinsamen Herkunftslandes stattfinden. So berichtet bspw. die Slowakin Paulina von einem Wiedersehen mit ihrem Bruder in Singapur: P: “I’ve spent from July to the middle of (.) October, I’ve spent here [in Bali] with a three week break in September in, er, Singapore because of exhibition and my brother and his fiancé visiting” (Paulina, A. 60).
Exemplarisch zeigt sich an diesen Beispielen, dass Geschwister im Allgemeinen meist vertraut mit geographisch weit entfernten Auslandsreisen zu sein scheinen45 . Ganz im Gegensatz zu den Eltern der Interviewten. Noch deutlicher wird dies anhand von Sätzen, wie bspw.: „[M]eine Eltern saßen nie im Flieger“ (Kristin, A. 206) oder „[M]eine Eltern waren praktisch nirgends, meine Eltern, die waren, sind zum ersten Mal außerhalb Europas letztes Jahr gekommen […] als sie eine Mittelmeerrundfahrt gemacht haben“ (Gerrit, A. 412). Hinsichtlich des Kontakts der Befragten zu ihren Eltern bedeutet dies wiederum, dass dieser insbesondere durch Besuche der Mobilen in ihren Herkunftsländern charakterisiert ist. Paulina erwähnt dies bspw. in folgender Sequenz: P: “I already have some plans for Europe and Christmas of course back home, and, er, which I really, really enjoy and I need to feel the cold for a while and some snow and so, and of course to see some family and friends” (Paulina, A. 293).
Von einer ähnlichen Vorgehensweise berichtet auch Raik. Besuche in Deutschland integriert er – ganz zur Freude seiner Eltern – regelmäßig in seine mobile Lebensführung. Er erzählt: R: „[D]ie [Eltern] sehen auch, letztendlich besuch ich sie genauso wie vorher auch n paar Mal im Jahr. (I: Ja.) Und ich telefonier ja immer die Woche mit denen und, ähm, die haben jetz sogar WhatsApp entdeckt und so und Skype“ (Raik, A. 230–232).
45 Eine mögliche Erklärung für diese Entwicklung könnte hierfür bspw. der Anstieg von Studienreisen oder Auslandssemestern bzw. entsprechenden Programmen zur gezielten Förderung von Jugendmobilität sein (vgl. Altissimo et al. 2017; Binder 2005; Richards 2015).
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Die hier von Raik beschriebene Reaktion seiner Eltern ist insbesondere auch deshalb interessant, da sie an eine zuvor bereits vorgestellte Aussage von Gerrit erinnert. Dieser sagt: „[I]nzwischen ist das denen egal. Weil, ob ich jetzt in Berlin wohne und die zweimal im Jahr besuchen gehe oder in Thailand oder sonst wo wohne und die zweimal im Jahr besuche (lachend). Da ist für die nicht sonderlich großer Unterschied“ (A. 62) (s. Abschn. 6.2.6.3). Die Eltern in – mal mehr, mal weniger – regelmäßigen Abständen zu besuchen, scheint für die Interviewten folglich selbstverständlich. Deutlich wird dabei außerdem, dass geographische Distanzen und die damit in Zusammenhang stehenden notwendigen finanziellen Mittel nicht als Ausschlusskriterium angeführt werden. So zeichnet sich die (meist) privilegierte Situation der Interviewten ab46 . Eine andere Strategie um den Kontakt mit den Eltern aufrecht zu erhalten, bildet die onlinebasierte Kommunikation (s. hierzu auch Abschn. 7.5.1). Hinsichtlich dessen zeigt sich entlang des Materials jedoch auch, dass einige der Eltern – ganz im Gegensatz zu Geschwistern oder Freunden der Interviewten – erst gewisse Kompetenzen im Umgang mit neuen Medien erlernen müssen. Wie die nächste Sequenz veranschaulicht, machen eine solche Erfahrung bspw. Kristins Eltern: K: „[D]as ist jetzt so, im Grunde großartig. Ich habe vorhin, deswegen habe ich dich warten lassen, mit meiner Familie geskyped. (I: Aha.) Mit meinen Eltern. Und das ist so irre, wie die da, also sie sind selber da hineingewachsen. Und die sich so freuen und die alles für, die SAUGEN diesen Blog auf. Die haben sich ein, die haben, die haben sich ein Instagram-Account zugewiesen, mein Vater hat sich ein, ein Smartphone besorgt, damit er mit mir Whatsappen kann, Skype-Konto angelegt. Also großartig, die sind da so richtig mit hineingewachsen und verfolgen alles und, ähm, wollen alles wissen, wo ich gerade bin, was es genau ist und wollen Bilder sehen und Videos sehen“ (Kristin, A. 480).
Und weiter: K: „[D]ie wissen genau wann, “unsere Tochter ist in Australien.” Oder, genau, und, äh, oder jetzt genau: “Die ist jetzt gerade in Indonesien.” […] Ist großartig, ja, genau. Die sind, äh, sind sozusagen immer ein bisschen, äh, dadurch haben die ein bisschen das Gefühl ein bisschen mit dabei zu sein, ist ganz süß, ja. (Lacht)“ (Kristin, A. 488).
46 Auf finanzielle Engpässe verweist bspw. Altringer (2015) in ihrem Artikel zu Digitalen Nomaden. Um jedoch tatsächlich Aussagen über Mobilitätsabbrüche aus finanziellen Gründen machen zu können, bedarf es weiterer Forschung.
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Teilhabe am Leben der Tochter wird für die Eltern folglich mittels Internet- und Kommunikationstechnologien möglich. So kann das, was Urry als „virtual travel“, „imaginative travel“ und „communicative travel“ (Urry 2007: 47) bezeichnet, erzeugt werden. Möglich wird dies duch die vielfältigen von Kristin in der Sequenz beschriebenen Kommunikationskanäle. Wie sie erzählt, gelingt so neben dem verbalen Austausch auch eine Übermittlung von Fotos und Videos, welche wiederum Vorstellungen über ihren Aufenthaltsort und ihre dortigen Aktivitäten auf visueller Ebene transportieren. Die geographische Distanz zwischen Kristin und ihren Eltern spielt dabei keine Rolle. Deutlich wird außerdem, dass die Entscheidung für eine mobile Lebensführung keineswegs mit einem Bruch o. ä. mit dem Elternhaus gleichgesetzt werden kann. Anders als in bestehenden Migrationsstudien dokumentiert (vgl. Boyd 1989; Massey 1988: 398; Negrón 2012: 46), erfolgt eine Orientierung am Aufenthaltsort von Verwandten jedoch lediglich zu Besuchszwecken und nicht aus Gründen der Unterstützungssuche. Wie erwähnt, bleiben die (meisten) Interviewten auch während ihrer Mobilität in der Rolle der Unterstützungsgebenden gegenüber ihren Eltern verhaftet.
7.3.2.2 Jüngst geknüpfte und potentiell nachhaltige Beziehungen Wie eingangs zu diesem Kapitel thematisiert, zeigt sich weiter, dass die Interviewten im Verlauf ihrer Mobilitätserzählungen immer wieder neue Kontakte knüpfen (s. hierzu auch Abschn. 7.2). Einige Ausgewählte bergen dabei das Potential für eine nachhaltige Beständigkeit. Welche Beziehungscharakteristika diese dabei aufweisen (müssen) sowie welche Funktion diese für Ego im Kontext von dessen Mobilität übernehmen, wird nun im Folgenden (sowie unter Abschn. 7.3.3) beleuchtet. Richtet sich der Blick auf die geographische Ebene, wird deutlich, dass die Befragten von einem primär fluktuativen sozialen Umfeld umgeben sind. Dieser Aspekt wurde bereits unter Abschnitt 7.2 transparent. Von Joshua wird dieser Umstand bspw. wie folgt skizziert: „[Y]ou know, because these are also digital nomads, they might take off in a week and decide, “Okay, I’m going in a week”, or whatever“ (Joshua, A. 249). Als Resultat aus dieser Situation zeigt sich wiederum weiter, dass die Befragten entsprechende Strategien im Rahmen ihrer Kontaktknüpfung und -aufrechterhaltung entwickeln. Dementsprechend erzählt Joshua weiter: J: “[Y]ou know, one of the first questions you ask is like, “Oh, how long have you been in Thailand? How long will you be staying in Chiang Mai?” and if the answer is like, “Oh, just one more week”, it’s like, “Oh, that’s cool. Well, I’m busy anyways, you know, take it easy”” (Joshua, A. 260).
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In anderen Worten zeigt sich hier, inwiefern die Dauer eines gemeinsamen Aufenthalts an einem Ort über die Möglichkeit zur Intensivierung einer Beziehung entscheidet. Von einer ganz ähnlichen Erfahrung und einer daraus resultierenden Copingstrategie berichtet bspw. auch Isabella: I: “Obviously superficially, you’re always going to be friendly and nice and make these relationships but (.) the more you travel and the more you say goodbye to people, I think, over time, you perhaps don’t let people in as much” (Isabella, A. 168).
Gelegenheiten, um auf Gleichgesinnte zu treffen, scheinen die Interviewten im Kontext ihrer Mobilität folglich ausreichend zu haben. So erwähnt bspw. auch Daniel: „[T]hat´s live here. […] [E]verybody is friendly and everybody is going to invite somebody else to do something. Ehm opens up/ it opens up a lot more socialand network situations“ (Daniel, A. 7). Die Festigung einer Beziehung sowie das Einlassen auf einen neuen Kontakt wird, wie oben erwähnt, hingegen erst durch gemeinsam geteilte Erlebnisse bzw. (temporäre) Kopräsenz an einem gemeinsamen Aufenthaltsort möglich. Für eine Veranschaulichung bietet sich hierfür die im vorherigen Abschnitt 7.2 vorgestellte Workation bzw. die daraus resultierenden sozialen Beziehungen an. Den Kontakt zwischen den damaligen Teilnehmern beschreibt der Workation-Organisator Maximilian zum Zeitpunkt des Interviews wie folgt: M: „Wir kommn jetzt auch alle gerade vom Frühstück wo die halbe Bali-Crew (lacht) hat sich jetzt gerade in Berlin wieder getroffn47 . Ja: und da ham sich ganz einfach total gute Freundschaftn gebildet. Also jetzt knapp drei Monate später immer noch in Kontakt, wir schreiben uns immer alle zwei, drei Tage, tauschn uns immer noch aus und treffn uns wenn/ mh (.) mh (.) zwei, drei Person vor Ort sind. Also einfach so auf so ner freundschaftlichn Ebene“ (Maximilian, A. 20).
Wie Maximilians Schilderung zeigt, besteht der Kontakt unter den ehemaligen Teilnehmern auch nach Beendigung der Veranstaltung fort. Möglich wird dies auf Basis onlinebasierter Kommunikationsmittel – „wir schreiben uns immer“. Der Aufenthaltsort der Akteure wird erst im Rahmen persönlicher Treffen relevant. Diesen Aspekt bekommt auch Joshua zu spüren, als er unter Reflexion zu jüngst geknüpften Kontakten zu folgender Schlussfolgerung kommt: J: “Like two close friends that I’ve made, um, they’re moving to south Thailand in a month, um, and, and I may move there as well, but it either means that they’re leaving me or I’m leaving a bunch people here. One of the two” (Joshua, A. 249). 47 Das Interview mit Maximilian fand nach dem Feldaufenthalt in Südostasien in Berlin statt (s. Abschn. 5.4).
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Resümierend lässt sich festhalten, dass die Beispiele zeigen, dass Kopräsenz immer auch zur Herstellung bzw. Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen beiträgt. Gemein ist den so entstehenden Freundschaften außerdem, dass die Interagierenden ein gemeinsames Verständnis für geographische Mobilität und onlinebasierte Beziehungspflege teilen. Dementsprechend zeigt sich im Rahmen der so neu entstehenden Beziehungen ein Homophiliemuster (vgl. McPherson et al. 2001: 415). Mit den Worten von Jansen formuliert, kann dies als „Gleich und Gleich gesellt sich gern“ (2003: 250) umschrieben werden. Unter dieser Perspektive und übertragen auf das empirische Material, kann wiederum geschlussfolgert werden, dass die beschriebenen Homophilieaspekte als Schlüssel zur Herstellung von nachhaltig beständigen Beziehungen gelten. Als ein weiterer interessanter Beziehungsaspekt bildet sich ab, dass sich einige der Interviewten mit den Themen Dating und Partnerschaft auseinandersetzen – trotz der voranstehenden Diskussion zur Auflösung von Paarbeziehungen als Voraussetzung für Mobilität (s. Abschn. 7.3.1). Dabei zeigt sich jedoch auch, dass die befragten Akteure mit ganz ähnlichen Herausforderungen wie bei der Herstellung neuer Freundschaftsbeziehungen zu kämpfen haben. Auf Nachfrage erzählt bspw. Joshua Folgendes: I: “So, as you mentioned, (.) those people who you met through Tinder 48 ?” J: “Yes.” I: “Are you still in contact with them, or?” J: “Yep.” I: “Are they still here?” J: “Yep, yeah. Uhm, actually no. One of them left yesterday actually. She went to England, um, and yeah, we remain friends. Um, one of them, I’ve run into a few times (.) um, and, yeah, and one of them now I’m kind of dating, but not really. It’s like digital nomad-dating, like yeah, you can leave at some point and like, yeah, that’s just how it is. Similar to how you apply to dating, you apply to friends, just yeah, you can leave at any time, so.” I: “Okay.” J: “Just enjoy the time you have with the person and that’s it (.), yeah” (Joshua, A. 250–257).
Wie das Beispiel von Joshua zeigt, sind folglich nicht nur Freundschafts-, sondern auch Datingkontakte durch eine gewisse Fluktuation gekennzeichnet. 48 Online-Datingportal.
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Einen Versuch, diesem Umstand entgegen zu wirken, unternimmt Sören. Zunächst erzählt er: S: „Ich hab tatsächlich jemand in Thailand kenngelernt, ich habs schon häufig angespielt (lacht), in Chiang Mai. […] [D]as is, genau das is eine Bekannte die ich (.) genau damals an Silvester [2015] kennengelernt hab. Also ich mein klar, man lernt immer viele Leute auf Reisen kennen mit denen man dann kurzzeitig einen Nacht oder zwei, drei Nächte, vielleicht auch n paar Tage verbringt. Du weisst was ich mein, ehm des is aber nicht/ sie war deutlich mehr in dem Fall oder ist deutlich mehr“ (Sören, A. 22).
Und weiter: S: „Deswegn geh ich auch wieder zurück nach Chiang Mai“ (Sören, A. 22).
Für eine Aufrechterhaltung der potentiellen Partnerschaft scheint die Möglichkeit, gemeinsam Zeit verbringen zu können, folglich als zentrales Element. Andernfalls würde Sören nicht auf eine Rückkehr nach Chiang Mai verweisen. Darüber hinaus zeigt sich, dass Sörens „Bekannte“ ihn bereits zuvor in Vietnam besuchte. Neben dem Aspekt der gegenseitigen Besuche in unterschiedlichen Ländern erweist sich dabei außerdem als besonders interessant, dass es sich bei der Beziehung um einen Kontakt zu einer einheimischen „Thai-Dame49 “ – so Sörens Sprachgebrauch – handelt. Er erzählt: S: „Die Thai-Dame [Eintragung thai-dame in NWK], okay? (I: Mhm, ja.) Die ehm (.) genau, mich auch immer wieder im Prinzip/ die im Prinzip immer wieder/ sie war auch in Hanoi50 , tatsächlich. Sie is, also ich bin nach Hanoi geflogn und sie ist dann für zehn Tage und dann is sie doch länger gebliebn 14 Tage oder 16 ehm is sie dann nach Hanoi gekommn. Also wir ham ziemlich enge Verbindung mittlerweile“ (Sören, A. 23).
Dass es sich bei der hier beschriebenen (Partnerschafts-)Beziehung zwischen einem der Interviewpartner und einer Person aus der lokalen Bevölkerung um eine Ausnahme in der vorliegenden Arbeit handelt, zeigt ein Blick auf das Sample sowie die
49 Es wird vermutet, dass Sören aus Gründen der Anonymität nicht auf den Namen der von ihm benannten „Thai-Dame“ zurückgreift. 50 Stadt in Vietnam.
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anderen Interviewverläufe51 . Diesem Aspekt scheint sich auch Sören bewusst zu sein. Daher fügt er seiner Erzählung schnell folgende Erklärung hinzu: S: „Man muss dann immer unterscheiden zwischen out of border people, also im Prinzip Leute die schon mal in westlichen Ländern warn. (I: Ah.) Mit denen bist du deutlich schneller auf einer Wellenlänge. Ich weiß nicht warum. Das is zumindest/ vielleicht is es nur meine Erfahrung. Aber das is meistens so, weil die genau wissen wies in unsern Ländern/ viele Locals, viele Einheimische ham noch nie/ die Leute die hier aufm Feld beispielsweise arbeitn, die ham noch nie/ sind noch nie bis nach Java52 gekommn beispielsweise. Die und ehm, dann is es schwer mit denen auf eine Wellenlänge zu kommn. Und gerade in Thailand gibt’s gerade die Jungn die sind zie/ die sind ziemlich fit. Des sind/ ich sehe mich da genau auf einer Wellenlänge mit denen“ (Sören, A. 22).
Ein gewisses Grundverständnis für geographische Mobilität (und u. U. auch Onlinearbeit) scheinen die beiden folglich zu teilen; ein Aspekt, der sich wiederum auf ihre Beziehung auswirkt. Die Grundidee, in einer Partnerschaft gemeinsam Zeit an einem Ort verbringen zu können, reflektiert Sören unter ambivalenten Überlegungen jedoch weiterhin kritisch: S: „Das Thema Liebe is auch echt schwer das zu händln im Prinzip, weil du immer da „okay, soll ich hierbleiben und vll/ vielleicht die nächsten Jahre hier in dem Land leben o/ oder sie kommt mit?“ Aber das funktioniert in der Regel auch nicht. […] [I]ch hab zwei Möglichkeiten: Bleib ich jetzt in Chiang Mai? Oder (.) bleiben wir irgendwie zusammn? Ehm oder reis ich weiter? Und eh (.) das is schwer. Das is schwer, definitiv“ (Sören, A. 21 u. 23).
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Sören – wie die meisten der Befragten – folglich (noch) nicht bereit, seine neu errungene Ortsflexibilität erneut aufzugeben. Dies zeigt sich auch an folgender Aussage von ihm: „[D]ann ist die Frage: Bleibst du deswegn hier? Meistns/ ich bin jemand der sich meistns dagegen entscheidet“ (Sören, A. 21). Forschungsarbeiten, die sich in Zukunft dem Thema Partnerschaft und Paarbeziehungen im Kontext von Mobilität widmen, erscheinen dementsprechend mehr als sinnvoll; zeigen die empirischen Beispiele doch, dass sich die Interviewten mit der Thematik auseinandersetzen und konfrontiert sehen. Festgehalten werden kann
51 Unter
Abschnitt 7.4 wird entlang des Interviews von Raik, als einzig weiterer Fall gezeigt, dass auch er Beziehungen zu Personen aus der lokalen Bevölkerung in Thailand, welche nicht in einem Coworking Space o. ä. arbeiten, unterhält. In seinem Fall handelt es sich jedoch nicht um eine potentielle Paarbeziehung. 52 Indonesische Insel.
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jedoch zunächst, dass sich sowohl in den identifizierten Freundschafts- als auch potentiellen Paarbeziehungen eine Homophilietendenz abbildet.
7.3.3
(Potentiell) Nachhaltige und zukünftige Beziehungen (Modus I+II)
Zum Abschluss eines jeden Interviews richten die Befragten ihren Blick in die Zukunft. Dementsprechend handelt es sich in diesen Erzählabschnitten um (noch) nicht realisierte Pläne oder Vorstellungen. Dennoch liefern sie Hinweise zu potentiellen Zukunftswünschen der Interviewten und zeigen, dass der Herstellung von Stabilität in bestimmten Beziehungen eine relevante Rolle zuteil wird. So erklärte bspw. Gerrit voranstehend bereits Folgendes: „[I]ch glaube, ich schätze mich da wirklich glücklich, eben Taya und Lukas zu haben als gute Freunde. Die eben so, so diese Freunde sind, die konstant in deinem Leben sind. […] wenn du jetzt nur mit Freunden bist, die du hier lokal triffst, ähm, die haben, die kennen dich halt erst seit dem Zeitpunkt. Und die wissen halt auch nicht alles über dich“ (A. 424) (s. Abschn. 6.2.6.3). Längerfristige Beziehungen können in diesem Fall dementsprechend mit einem Wissensvorsprung über den jeweiligen Freund oder die Freundin, im Gegensatz zu jüngst geknüpften Kontakten, belegt werden. Gleichzeitig bildet sich entlang der Gesprächsverläufe jedoch auch ab, dass Themen wie Flexibilität, Freiheit oder eine andauernde geographische Mobilität, die Narrationen und Argumentationsstränge der Befragten prägen (s. hierzu auch Abschn. 8.2). Ein Satz wie ihn bspw. Raik formuliert, kann daher als charakteristisch für die Zukunftsbeschreibungen der Befragten angesehen werden: „Also mein Planungshorizont is immer grad so eher Wochen als Jahre. (..) Und ich hoffe, dass ich immer diese Freiheit so behalten werde. Also ich fühl mich sehr wohl so, wie’s is“ (Raik, A. 428). Unter Vergleich und Kontrastierung von Aussagen, wie sie Gerrit und Raik formuliert haben, wird deutlich, inwiefern die Interviewten über soziale Beziehungen, trotz des Wunsches sich in einer stetig verändernden lokalen Umwelt aufzuhalten, Stabilität finden können. Kontinuierliche Kopräsenz wird dabei nicht zwingend zur Voraussetzung (s. hierzu auch Abschn. 6.2.6.3). Ein anderes Thema, welches ebenfalls vielfach von den Interviewten angesprochen, in den meisten Fällen jedoch (noch) nicht realisiert wurde, beschreibt Ricardo als er von seinem Wunsch einer künftigen Zusammenarbeit mit einem Team berichtet. Er erzählt:
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R: “[T]hat’s something that I miss. I miss, like because I work with them53 , it’s not that I work on the same project. We have different projects and I work, and he works, and if, and we just talk while we do it, er, but I miss working, working with another programmer so we could just talk and, and get things straight together and, and build, er, one of the idea of the other, just building new ideas. That is something I miss. I haven’t done this since, since I was working in the physical company back in Brazil, so, so that is something I miss. One thing that I’m doing to overcome this, I am looking for new projects in freelancing now, and I am looking for projects where I can work in a team, in, remotely, um, and maybe I, I am thinking about maybe finding some, some remote job that I can work in fixed hours but, but with a team, with, um, one project and I don’t know, it’s, it’s, it’s one idea” (Ricardo, A. 126–127).
Der hier von Ricardo beschriebene Wunsch erinnert an die zuvor exemplarisch vorgestellte Idee von Gerrit, ein Team bzw. eine Firma zu gründen und vielleicht sogar ein Coworking-Haus ins Leben zu rufen (s. Abschn. 6.2.7). Das Thema einer kollegialen Zusammenarbeit scheint daher mehrere Befragte zu beschäftigen. Interessant ist an Ricardos Aussage jedoch außerdem, dass für das Gefühl der Zusammenarbeit ein gemeinsamer Aufenthalt mit Teamkollegen an einem Ort aus seiner Perspektive nicht zwingend erforderlich zu sein scheint. In den Fällen von Gerrit und Paulina, welche beide bereits über Erfahrungen mit Teamarbeiten verfügen, wurde jedoch deutlich, dass zumindest eine anfängliche Kopräsenz für den Aufbau einer Vertrauensgrundlage von Nöten ist (s. Abschn. 6.2.7 u. 7.2.1). Um detaillierte Informationen über die verschiedenen Möglichkeiten der Zusammenarbeit, etwa hinsichtlich der Intensität und der Form des Austauschs zu erhalten, bedarf es weiterer Studien.
7.3.4
Zusammenfassung
Wie entlang der empirischen Beispiele in diesem Kapitel deutlich wurde, sind die Befragten von Beginn ihrer ersten Idee eine ortsflexible Lebensführung einzuschlagen bis hin zum Zeitpunkt des Interviews in soziale Netzwerkverflechtungen eingebunden (vgl. z. B. Diewald 1991: 85). Ihre Mobilität findet demzufolge nicht in einem Vakuum statt (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Cachia & Jariego 2018: 112; Massey et al. 1993: 448). Unter einer strukturalen Perspektive hat sich dabei außerdem herausgestellt, dass es bestimmter Netzwerkstrukturen bzw. einer Veränderung von bestehenden Beziehungsgeflechten bedarf, um die gewünschte ortsflexible Lebensführung umsetzen zu können. Die Notwendigkeit der Beziehungsveränderung hat sich im Rahmen langjährig bestehender Arbeitsbeziehungen sowie am 53 Bezugnehmend auf andere mobile Personen und gemeinsamen Aufenthalt in Coworking Spaces oder -Cafés.
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wohl eindringlichsten bei der Besprechung zur Auflösung von ortsbindenden Partnerschaftsbeziehungen gezeigt; wenngleich transparent wurde, dass das Thema Partnerschaft auch im Kontext einer realisierten Mobilität eine Rolle spielt. Darüber hinaus bildete sich ab, dass sich die von den Interviewten benannten Referenzpersonen (Alteri) in selbst ausgewählte Kontakte (bspw. Freunde) und immer schon vorhandene Bezugspersonen (bspw. zu Familienmitgliedern) unterteilen lassen. Dabei zeigte sich in beiden Beziehungsvarianten, dass die Aufrechterhaltung der Kontakte einer Veränderung unterliegt – nicht zuletzt bedingt durch Egos Mobilität. Hinsichtlich familiärer-, also nicht freiwillig ausgewählter Beziehungen (vgl. Bellotti 2015: 89; Laireiter & Lettner 1993: 105), zeichnete sich neben veränderten Rollenverhältnissen außerdem ein Generationenunterschied ab. Während Geschwister von den Interviewten in einigen Fällen als Unterstützungsquelle hinzugezogen werden, nehmen die Befragten gegenüber ihren Eltern eine unterstützungsgebende Funktion ein. Basierend auf der Interpretation der empirischen Beispiele wird angenommen, dass dieser Umstand auf ein gemeinsam geteiltes Verständnis von Mobilität (und u. U. onlinebasierter Arbeitstätigkeit) unter Geschwistern, jedoch nicht unter Eltern und Kindern zurückzuführen ist. Dementsprechend wird transparent, dass die Interviewten auf bestimmte Beziehungen in Abhängigkeit der jeweiligen Kontextsituation zurückgreifen bzw. eben nicht zurückgreifen – “Ties are not all mobilized in the same way; some are highly dependent on the context in which they can function” (Chauvac et al. 2014: 8). So wird hinsichtlich der beschriebenen Situation vermutet, dass aus Perspektive der Interviewten bspw. die Einholung eines Ratschlags von ihren Eltern als wenig ertragreich erscheint. Anders, so die fiktive Annahme, würde es sich hingegen bei Fragen zum Kauf eines Autos, Kapitalanlagen o. ä. verhalten. Hinsichtlich des Kontakts zu (langjährigen) Freunden bildet zumindest deren Akzeptanz über Egos Weggang eine Grundvoraussetzung für eine künftige Aufrechterhaltung der Beziehung. Tatsächliche Unterstützung geht dabei aufgrund von Mangel an Erfahrung von den Wenigsten aus. Es sei denn, es wird ein gemeinsames Interesse für geographische Mobilität und/ oder Onlinearbeit geteilt. Ist der Interviewte einmal in eine ortsflexible Lebensführung aufgebrochen, ist all den langjährigen Beziehungen, sei es mit Freunden oder mit Personen aus dem Elternhaus, gemein, dass diese eine Transformation hinsichtlich deren Aufrechterhaltung durchlaufen. Denn Egos Mobilitätsentscheidung ist keineswegs mit der Forcierung eines Bruchs mit bestehenden Beziehungen o. ä. gleichzusetzen (s. hierzu auch Abschn. 7.4). Neben weiterhin – mehr oder weniger regelmäßig – stattfindenden persönlichen Besuchen, bilden nun auch internetbasierte Kommunikationsmittel einen wesentlichen Bestandteil zur Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen. Dabei trägt Letzteres wesentlich zur Herausbildung eines vielschichtigen Charakters der Beziehungspflege bei. Das soll heißen, dass die Interviewten
7.3 Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen im Kontext von Mobilität
273
neben ihrer physischen Mobilität auch auf vielfältige Weise, bspw. via Instagram, Skype oder WhatsApp mobil sind und so onlinebasiert im Austausch mit anderen stehen (vgl. Urry 2007: 47). Landesgrenzen, geographische Distanzen oder der Aufenthaltsort von Ego sowie ggf. von dessen Alteri spielen dabei keine Rolle54 . Die Beziehungen formieren sich dementsprechend zu transnationalen sozialen Beziehungen. Weiter diente dieses Kapitel dazu aufzuzeigen, inwiefern sich jüngst geknüpfte bzw. im Kontext von Mobilität hergestellte Kontakte in einzelnen Fällen intensivieren. Auffällig ist dabei, dass es sich stets um Personen handelt, mit welchen die Befragten gemeinsame Interessen (für geographische Mobilität und/ oder Onlinearbeit) teilen. Oder wie Gerrit es formuliert: „[Mit] Leute[n] […] die auf meiner Wellenlänge sind“ (A. 428). Dementsprechend bildet sich ab, dass neue Beziehungen, welche Potential für Beständigkeit bergen, immer auch einen Mehrwert für die Befragten versprechen. Andernfalls zerfällt ein Kontakt. Dies gilt für freundschaftsund arbeitsbezogene Kontakte gleichermaßen (s. Abschn. 7.2.1.2, 7.2.1.3, 6.2.3.2, 6.2.4.3 u. 6.2.4.4). Darüber hinaus hat sich auch in diesem Kapitel herausgestellt, dass das Fundament einer jeden (potentiell) nachhaltigen Beziehung auf einer gemeinsamen zumindest temporären Aufenthaltszeit an einem Ort baut. Denn erst so entsteht die Gelegenheit für mehrfache persönliche Treffen und ein besseres Kennenlernen, was wiederum den Aufbau einer Vertrauensbasis mitsichbringt (s. hierzu auch Abschn. 7.2). Werden die langjährig beständigen und jüngst geknüpften sich intensivierenden Beziehungen nun einer Gesamtbetrachtung unterzogen, wird transparent, dass sich innerhalb der jeweiligen persönlichen Netzwerke der Interviewten eine Homophilietendenz abbildet. Das soll heißen, wie bereits im voranstehenden Kapitel erwähnt, dass die Befragten mit ihnen ähnlichen Personen eine Beziehung knüpfen und ausbauen (vgl. Jansen 2003: 250). So entsteht ein Netzwerkbildungsmechanismus, den McPherson und dessen KollegInnen als „Similarity breeds connection“ (McPherson et al. 2001: 415) skizzieren. In diesem Zusammenhang nehmen die in der vorliegenden Arbeit Befragten außerdem eine aktive Gestalterrolle ein. Denn sie sind es, die maßgeblich an der Knüpfung und Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen beteiligt sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies wiederum, dass unliebsamen Kontakten aus dem Weg gegangen werden kann (bspw. durch einen Wechsel des Arbeitsplatzes oder gar des Aufenthaltslandes)55 . Eine Möglichkeit, die innerhalb von 54 Denkbar ist, dass zur Absprache von Telefonaten o. ä. Zeitzonenunterschiede berücksichtigt werden müssen (s. hierzu auch Abschn. 7.5.2). 55 Im Kontext von familiären – nicht freiwillig gewählten – Beziehungen ist eine solche Vorgehensweise hingegen mit weitaus mehr Aufwand verbunden (vgl. Laireiter & Lettner 1993:
274
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
lokal verankerten Nachbarschafts- oder Bürogemeinschaften hingegen nur schwierig umsetzbar erscheint. Die Entwicklung einer solchen Handlungsstrategie ist nach Diewald als wenig verwunderlich einzustufen. Denn ihm zufolge streben Individuen stets nach der Erringung eines Beziehungsmehrwerts: „Dies geschieht u. a. dadurch, daß sie sich über den Aufbau und die Aufrechterhaltung persönlicher Netzwerke die Voraussetzung für soziale Unterstützung schaffen“ (Diewald 1991: 86 f.). Unter netzwerkanalytischen Gesichtspunkten trägt die Intensivierung von bestimmten Beziehungen, basierend auf einem reziproken Verhältnis, außerdem zu einer Netzwerkstrukturierung (vgl. Fuhse 2016: 167) bei. Im Fall der für die vorliegende Arbeit befragten Akteure bedeutet dies, dass ausgewählte neue Kontakte sich zu potentiell nachhaltigen Beziehungen formieren und langjährige Beziehungen u. U. einen Wandel hinsichtlich der Aufrechterhaltung des Austauschs durchlaufen. In beiden Fällen wird jedoch eine Stabilisierung, d. h. eine Aufrechterhaltung der jeweiligen Beziehung, unabhängig vom Aufenthaltsort der Beteiligten, erzeugt.
7.4
Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
Wie sich voranstehend bereits abzeichnete, wählen die Interviewten aus verschiedenen Gründen ihre Aufenthaltsorte (meist) mit großem Bedacht aus. Neben der Suche nach einer geeigneten (Internet-)Infrastruktur spielen dabei insbesondere soziale Beziehungen eine relevante Rolle – sei es im Rahmen des Aufenthalts an einem Digitalen Nomaden-Hub (s. Abschn. 7.2) oder aufgrund des Besuchs von Freunden und Familienmittgliedern (s. Abschn. 7.3). Anders als in den voranstehenden Ausführungen rückt in diesem Kapitel nun das Lokale als Solches in den Fokus der Betrachtung. Denn „Körperlichkeit bedingt unter anderem, dass wir mit Notwendigkeit einen Ort in der physisch-materiellen Welt beanspruchen“ (Weichhart 2009: 1). Dabei wird sich jedoch auch zeigen, dass die jeweiligen Bedeutungszuschreibungen der Interviewten zu einem Ort eng mit den dort anzutreffenden sozialen Kontakten in Zusammenhang stehen – das Lokale also nicht ohne die persönlichen Beziehungen der Befragten gedacht werden kann. Daher wird in den nachstehenden Subkapiteln beleuchtet, welchen Konstruktionen das Lokale aus der Perspektive der befragten Akteure unterliegt sowie inwiefern lokale Charakteristika das Handeln der Interviewten beeinflussen. Konkret handelt es sich dabei sowohl um Orte, welche von den Interviewten einmalig aufgesucht und somit für diese als zuvor unbekannt
105). Dementsprechend erscheint der oben beschriebene Wunsch nach Akzeptanz auf Seiten der Interviewten über ihre Mobilitätsentscheidung als Schlussfogerung nur logisch.
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
275
gelten, als auch um Orte, welche von den Akteuren im Kontext ihrer Mobilität mehrfach besucht werden (s. Abschn. 7.4.1). Im anschließenden Kapitel richtet sich unter einer weiterhin beibehaltenen geographischen Perspektive der Blick auf die gesamte Netzwerkeingebundenheit der Akteure sowie deren weltweite Ausdehnung. Dem Ansatz der Community Liberated These (vgl. Wellman 1979) folgend wird dabei transparent werden, inwiefern die Ausbildung bzw. die Aufrechterhaltung sozialer Beziehungen Einfluss auf die geographischen Mobilitätsbewegungen und somit auf die (weltweit disperse) strukturale Ausgestaltung der persönlichen Netzwerke nehmen kann (s. Abschn. 7.4.2). Abschließend gilt es außerdem noch anzumerken, dass die Gliederung des Kapitels auch dieses Mal aufgrund der Datenlage keiner eindeutigen Modizuordnung folgt. Denn, wie bereits mehrfach angesprochen (s. Abschn. 5.4 u. 7.3), handelt es sich bei der zu untersuchenden Mobilitätsform um eine noch junge Entwicklung. Viele der befragten Akteure blicken daher auf eine noch ebenso junge Mobilitätsgeschichte zurück. Dementsprechend berichten einige der Befragten zwar von potentiell mehrfach aufzusuchenden Orten, eine Umsetzung erfolgte zum Zeitpunkt des Interviews jedoch noch nicht56 .
7.4.1
Einmalig aufgesuchte und „wiederkehrende“ Orte (Modus I+II)
Zunächst kann ganz allgemein angenommen werden, dass jeder Ortswechsel bzw. jeder Aufenthalt an einem Ort den Akteur mit einer spezifischen lokal gebundenen Umwelt (wie bspw. klimatische, kulturelle, sprachliche oder infrastukturelle Bedingungen) konfrontiert (vgl. Ryan & Mulholland 2013: 10). Während in diesem Zusammenhang in anderen Studien bereits darauf hingewiesen wurde, dass dieser Umstand zu Fremdheitsempfinden führen kann (vgl. z. B. Meier 2006: 224 f.; von Dobeneck 2010: 139 ff.), stellt sich auch in der vorliegenden Arbeit die Frage, wie die mobilen Onlinearbeiter ihre Aufenthaltsorte – neben Digitalen NomadenHubs (s. Abschn. 7.2) – erleben. Welche ortsbezogenen Aspekte sind für sie von besonderer Relevanz? Welche Handlungsstrategien entwickeln die Befragten im Umgang mit lokal Unbekanntem? Zur Beantwortung dieser Fragen werden im Folgenden jene Elemente betrachtet, welche von den Interviewten im Gespräch zum Erzählgegenstand gemacht wurden.
56 Dieser Umstand würde in der überwiegenden Anzahl der Fälle dazu führen, dass lediglich hypothetische Aussagen üder deren künftige Mobilitätsstrategien gemacht werden könnten. Eine Refelexion über die Grenzen der vorliegenden Arbeit erfolgt unter Abschnitt 7.6.
276
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
7.4.1.1 Einmalig aufgesuchte Orte Entlang der voranstehenden Ausführungen bildete sich bereits ab, dass die Interviewten mit jedem Wechsel ihres Aufenthaltsortes gefordert sind, eine Neuorientierung vorzunehmen. Dies gilt sowohl für die Ankunft an Digitalen Nomaden-Hubs (s. Abschn. 7.2), als auch für Orte, welche unter Digitalen Nomaden im Allgemeinen als weniger bekannt gelten. So zählt zu den täglichen Aufgaben, sofern diese nicht als Bestandteil eines Coworking-Programms angeboten werden, die Suche nach Essensangeboten57 . Hinsichtlich dessen erwähnt bspw. Joshua: „The only daily struggle is figuring out where to eat“ (Joshua, A. 313). Ähnliches gilt für die Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen, welche ausnahmslos in allen Interviews als relevant benannt werden. Während auch diese im Rahmen der Teilnahme an Coworking-Programmen als gesichert gelten, müssen diese bei erstmals von den Befragten aufgesuchten Orten einer anfänglichen Erkundung unterzogen werden. Erste Anlaufstellen bilden dabei stets Coworking Spaces. Exemplarisch berichten bspw. Bianca und Dirk von einem solchen Vorgehen Folgendes: B: „Wir hattn ein, zwei Tage wo wir dann im ehm (.) in Coworking Space in Canggu58 warn in dem SaltyVolt 59 das hat ja neu aufgemacht (.) und da ham wa schon zwei Tage ziemlich durchgehaun.“ D: „Ja.“ B: „Da ham wer richtig Gas gegebn.“ D: „Das war auch ganz gut, weil die ham ja auch n ein sehr gutes Internet. Da konnt ich halt mal n paar Projektdaten die etwas größer warn also Gigabyte weise tatsächlich mal Daten hin und her schiebn. Das war halt auch wichtig wo man solche Plätze hat wo man halt tatsächlich auch high speed Internet hat, das is dann schon manchmal wichtig“ (Dirk & Bianca, A. 15–18).
Ein anderes Beispiel zeigt sich in Joshuas Erzählung zu seinen Aufenthalten in Südkorea und China60 : J: “So, in Seoul, I found a co-working space there and, um (.) signed up for, like two weeks (.) to, yeah, just basically try it out and work, and then so I worked on
57 Bspw. erzählte Malte von einer Rundumversorgung während seines Aufenthalts im Coliving-Haus CoCoBa: „Also es gibt irgendwie Frühstück, Mittag, Abendessen“ (Malte, A. 343) (s. Abschn. 6.1.6.1). 58 Balinesischer Küstenort. 59 Name eines Coworking Space. 60 Beides unter Digitalen Nomaden im Allgemeinen weniger favorisierte Länder.
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
277
[Name App] in Seoul, uh, for, yeah, for about two weeks for the time I was there” (Joshua, A. 214).
Und weiter: J: “I hadn’t yet really done work of any kind because I was in China and the internet sucks. […] China sucks for internet and sucks for coffee” (Joshua, A. 220).
Wie die Beispiele zeigen, bildet das Angebot einer stabilen Internetverbindung innerhalb von Coworking Spaces (vgl. Bender 2013; Liegl & Bender 2016; Merkel & Oppen 2013) ein grundlegendes Kriterium für einen Aufenthalt in deren Räumlichkeiten. Das Aufenthaltsland als solches wird dabei zur Nebensache – abgesehen von Aufenthalten in Ländern wie China, in welchen mit Restriktionen hinsichtlich möglicher Internetzugänge zu rechnen ist. Da die Interviewten außerdem oftmals in Zeitzonen, welche nicht ihrem physischen Aufenthaltsort entsprechen, arbeiten (bspw. im Rahmen von Arbeiten mit onlinebasiertem Kundenkontakt), bieten einige der Coworking-Betreiber ein 24-Stunden Angebot für ihre Gäste an. Von einem solchen Angebot macht bspw. Joshua in Chiang Mai gebrauch. Er erzählt: J: “So, they [at Punspace61 ] actually have like, uh, a finger print reader if you want to get in afterhours, which is pretty high tech. Like, if I want to get in at eleven PM, I like have to put my thumb on it and then the door will open” (Joshua, A. 331).
Durch Angebote wie dieses wird es den Interviewten möglich, ihren Aufenthaltsort von ihren Arbeitspraktiken zu entkoppeln. Denn während in einigen Städten bzw. Ländern mit einer allgemein schlechten Internetinfrastruktur zu rechnen ist (vgl. MacRae 2016), trifft dies innerhalb der Wände eines Coworking Space (meist) nicht zu (Merkel & Oppen 2013). So können die Akteure auch bei Ankunft an einem ihnen unbekannten Ort innerhalb kürzester Zeit (Arbeits-)Routinen herstellen; eine Praktik, die mittlerweile nicht zuletzt aufgrund des steigenden Coworking-Angebots (vgl. Foertsch 2013; 2015; 2017), eine weltweite Ausdehnung erfahren kann. Wendet sich der Blick nun von arbeits- hin zu freizeitbezogenen Praktiken und deren lokale Bezüge, fällt auf, dass es sich dabei oftmals um Aktivitäten handelt, welche aufgrund ihrer Charakteristika nicht zwangsläufig einem konkreten Land oder Ort zugeordnet werden können. Exemplarisch berichten die Interviewten bspw. von folgenden Freizeitbetätigungen:
61 Name
eines Coworking Space.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
G: „[W]o ich hin will, ist, ich will, ähm, Fitness-Studio, wieder Sport machen. Das war in letzter Zeit, Südamerika war es noch besser, aber seit ich aus Südamerika zurück bin, war echt wenig Sport. Ähm, ja, Südamerika. Ähm, ich will Fitness machen“ (Gerrit, A. 320). R: “I think, in my free time, I am, I will go to the cinema. I went to the movies once” (Ricardo, A. 131). O: “Actually I´m doing running as well. I´m training for half marathon, that´s that´s in a week, ja, in Tainan62 ” (Owen, A. 29).
Wie die narrativen Ausführungen zeigen, können die genannten Aktivitäten an weitestgehend austauschbaren Orten – vorausgesetzt ein entsprechendes Angebot ist vorhanden – ausgeübt werden. So kann ein Kinobesuch bspw. in Deutschland ebenso wie in Thailand oder Australien stattfinden und die Praktik des Lauftrainings kann in gewisser Weise an nahezu allen Aufenthaltsorten ausgeübt werden. Verbindlichkeiten gegenüber einer Sportmannschaft (die bspw. die regelmäßige Teilnahme an Trainingseinheiten erfordert) werden nicht eingegangen. Abhängigkeiten von konkreten Ortscharakteristika sowie u. U. von bestimmten Jahreszeiten entstehen hingegen dann, wenn die jeweilige Aktivität entsprechende Voraussetzungen erforderlich macht. Was für einen Skifahrer bspw. das Aufsuchen schneebedeckter Bergregionen bedeutet, bedeutet für die Surfliebhaberin Kristin der Aufenthalt an einem Küsengebiet (s. hierzu auch Abschn. 8.1). Über die Auswahl eines geeigneten Surfortes berichtet sie daher bspw. Folgendes: K: „Also Bali erst mal / hier sind gerade gute Wellen. Das ist eine gute Zeit. Die Wellen sind gerade auch einfach gut. Du kannst hier gerade sehr gut surfen. Ich hatte überlegt, was machst du denn jetzt? Vielleicht, ähm / ich habe geguckt Thailand, aber Thailand hat Wet-Season gerade und genauso dasselbe in Vietnam“ (Kristin, A. 574).
Während Bali sich zum Zeitpunkt des Interviews folglich als geeigneter Surfspot entpuppt, wird jedoch auch deutlich, dass es sich dabei um eine nur temporäre Gelegenheit handelt. So zeigt sich, inwiefern es für die Ausübung bestimmter Aktivitäten einer entsprechenden (geographischen) Anpassung seitens der Interviewten bedarf. Auf ähnliche Weise berichtet auch Raik von einer Strategie, die zeigt, inwiefern im Rahmen bestimmter Handlungen lokale Abhängigkeiten bestehen können. Er erzählt:
62 Stadt
in Taiwan.
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
279
R: „Also ich kenn das auch mal, einsam zu sein, aber dann änder ich das halt. Und das kann ich eigentlich überall (.) so.“ I: „Indem du dann was machst?“ R: „Zum Beispiel, indem ich tauchen geh,“ I: „Mhm. (bejahend)“ R: „Ode:r indem ich Tinder benutz.“ I: „Ah, okay.“ R: „Ode:r sonstige Institutionen, Couch-Surfing manchmal.“ I: „Mhm. (bejahend)“ R: „(.) Mach ich nich oft. Also is jetz nich so besonders wichtig, aber ich weiß es genau, wenn ich in ne fremde Stadt komm und niemanden kenn, dann kann ich zum Couch-Surfing-Stammtisch gehen.“ I: „Okay.“ R: „In Bangkok zum Beispiel, da kommen jeden Mittwoch 80 Leute ungefähr dahin und wenn man da früh hingeht, dann lernt man auch voll viele kennen und kann die nächsten Tage was mit denen machen, wenn man das will. (.) So. Und das ge/ gibt’s in fast jeder Stadt. I: Interessant.“ R: „(..) Da fühl ich mich eigentlich nie einsam“ (Raik, A. 588–600).
Gemein ist all den hier aufgeführten Beispielen, dass die Akteure unabhängig von ihrem Aufenthaltsland auf ihnen bekannte (Freizeit- und Arbeits-)Praktiken und bewährte Handlungsmuster zurückgreifen bzw. sich an Orte begeben, die eine entsprechende Aktivität ermöglichen. Dies gilt für den Aufenthalt in einem Coworking Space, einen Kinobesuch oder die Teilnahme an einem Couch-Surfing-Treffen gleichermaßen. Interessant ist dies insbesondere deshalb, da es den Interviewten so gelingt innerhalb kürzester Zeit Routinen im Unbekannten herzustellen. So kann eine Form von Stabilität im Kontext von Mobilität erzeugt werden, welche nicht an Bürozeiten, Urlaubsgenehmigungen oder anderen Mitgliedschaften orientiert ist.
7.4.1.2 „Wiederkehrende“ Orte Anders als mit einmalig besuchten Orten verhält es sich mit mehrfach von den Interviewten aufgesuchten Lokalitäten; also mit für die Akteure bereits bekannten Örtlichkeiten. Dementsprechend tritt unweigerlich die damit in Zusammenhang stehende Frage nach deren Funktion für die Befragten bzw. nach dem Grund
280
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
für die Mehrfachbesuche der Interviewten eines Ortes auf. Exemplarisch wurde voranstehend bereits gezeigt, dass Malte seine Strategie potentieller Mehrfachaufenthalte mit folgendem Argument begründet: „da weiß ich, wies läuft“ (A. 533) (s. Abschn. 6.1.6.3). Während Malte im Interview seinen Blick jedoch noch in die Zukunft richtet, kann Raik bereits aus eigener Erfahrung berichten. Ein Beispiel hierfür ist in der nachstehenden Sequenz aufgeführt: R: „Also, (..) es gibt für mich immer so Orte, wo ich manchmal gerne bin. Die sind noch63 wichtig, Wohlfühl-Orte. (I: Mhm.) N Stadtteil in Hamburg oder der Park nebenan (I: Mhm) oder Terminal 2164 . Das sind so wiederkehrende Orte vielleicht noch“ (Raik, A. 528–532).
Zunächst veranschaulicht Raiks Aussage, dass die von ihm benannten Orte relativ heterogene Charakteristika aufweisen. Steht ein Park im Allgemeinen doch für Natur, frische Luft und Ruhe, eine Shopping Mall hingegen für Trubel und Konsum. Dementsprechend scheint jeder Ort ganz unterschiedliche Bedürfnisse zu erfüllen65 . Was Raik hier außerdem als „Wohlfühl-Orte“ bezeichnet, weist auf eine Bewertung der genannten Locations hin. Dabei fällt auf, dass eine Bewertung dieser Art erst dann ausgesprochen werden kann, wenn entsprechende Erfahrungen bereits gemacht wurden. Als Resultat positiv bewerteter Orte werden diese u. U. zu „wiederkehrenden Orte[n]“ – also zu mehrfach aufgesuchten Orten. Dies zeigt einerseits, dass es den Akteuren im Kontext ihrer Mobilität möglich zu werden scheint, an weltweit verteilte Orte zurückzukehren und andererseits, inwiefern den Akteuren im Kontext ihrer Mobilität eine gewisse Koordinationsleistung abverlangt wird. Denn Zugang zu der jeweiligen lokalen Umgebung besteht nur dann, wenn sich der Akteur auch physisch an die entsprechenden Orte begibt. Raik erzählt weiter: R: „Zum Beispiel, weißt du, manchmal hat man irgendwie Appetit auf das und das, das und das. (I: Mhm.) Und dann früher dacht ich: Ah, gut, dann geh ich da nachher hin und dann fällt mir ein, ach nee, das war ja in Los Angeles, dieser Inder. Okay, is grad sehr weit weg. Aber wenn ich dann da bin, dann is es mein Stamm-Inder. (I: Okay, aha.) U:nd is aber nich so oft, dass ich dahin kann. (I: Okay.) Und so hab ich in vielen Orten so Lieblingssachen halt“ (Raik, A. 546–552).
63 Voranstehend erfolgte bereits eine Nennung wichtiger Aktivitäten. Die Wortwahl „noch“ kann als eine Form der Aufzählung verstanden werden. 64 Name einer Shopping Mall in Bangkok. 65 Außerdem ist auffällig, dass es sich bei all den genannten Orten um öffentlich zugängliche Lokalitäten handelt.
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
281
Die Nutzung eines lokalen Angebots steht folglich immer mit der körperlichen Anwesenheit des Akteurs in Verbindung. Das Lokale ist im Kontext der Mobilität der Befragten daher stets durch einen temporär zugänglichen Charakter gekennzeichnet. Unter Berücksichtigung dieser zeitlichen Dimension zeigt sich außerdem, dass dem Lokalen eine andere Bedeutung als im Rahmen dauerhafter Zugangsmöglichkeiten zuteil wird. Unter Reflexion seiner Netzwerkzeichnung (s. Abb. 7.14) erzählt Raik weiter:
x
x
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.14 Ausschnitt aus Raiks persönlichem Netzwerk zu lokal verankerten Orten R: „[Mit] Orten bin ich (..) eng verbunden. […] (15) [Eintragung Orte (zb Parks, Malls, Restaurants, Cafes) in mittlerer Kreis in NWK] Aber auf jeden Fall mehr als vorher, bevor ich gereist bin.“ I: „Mhm. (bejahend) (…) Hat die/ Also wenn du sagst, bevor du gereist bist, waren die nich so wichtig/“ R: „Nee, da waren die nich so wichtig.“ I: „Okay. Und hat’s/ hast du gemerkt, ob’s dafür n Grund gibt,“ R: „Mhm, mhm [überlegt]“ I: „so für die Veränderung?“ R: „Ich glaub, ich schätz sie mehr, weil ich seltener da bin und trotzdem regelmäßig. So ne Mischung aus Heimat und Genießen, weil ich bald wieder weg bin so“ (Raik, A. 538–544).
Wie das Beispiel zeigt, geht für Raik mit Beginn seiner Mobilität folglich eine Veränderung seines Ortsverständnisses einher. Deutlich wird dies insbesondere durch seine Angaben mit Zeitbezug. Bspw. als er sagt: „mehr als vorher“ (A. 538). Was er mit diesem „vorher“ meint, wird klar als er sagt: „bevor ich gereist bin“ (A. 538). Wie Raik selbst sagt, weiß er die jeweiligen Orte mit zunehmend nur temporären Zugangsmöglichkeiten mehr zu „schätz[en]“. Zugleich erweitert sich sein Handlungsspielraum jedoch signifikant. Handelt es sich bei den von ihm erwähnten Orten doch um Locations in weltweit verteilten Städten – ein „Stadtteil
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in Hamburg“ (A. 530), eine Shoppingmall in Bangkok (vgl. A. 532) und ein indisches Restaurant in Los Angeles (vgl. A. 548). Zusammenfassend kann zunächst festgehalten werden, dass die Beispiele zeigen, inwiefern durch das Aufsuchen bekannter Orte einerseits das Gefühl von Vertrautheit im Kontext von Mobilität hergestellt werden kann und andererseits, inwiefern deren Bedeutung erst durch temporäre Nutzungsmöglichkeiten an Wert gewinnt. Als zentral gilt dabei außerdem, dass „Wohlfühl-Orte“ nicht austauschbar sind und das Verlassen eines Ortes stets freiwillig stattfindet. Durch das Aufsuchen von sowohl bekannten – „wiederkehrenden“ – als auch einmalig aufgesuchten Orten, können sowohl Stabilität im Kontext von Mobilität hergestellt, als auch unliebsame Routinen aufgebrochen werden.
7.4.2
Vom unilokalen„Zuhause66“ zur temporären „Homebase67“ (Modus I+II)
In diesem Subkapitel wendet sich der Blick nun weg von den lokalen Charakteristika einzelner Aufenthaltsorte, hin zur persönlichen Netzwerkeingebundenheit der Interviewten. Dem Ansatz der Community Liberated These (vgl. Wellman 1979) folgend, liegt der Fokus dabei insbesondere auf den sozialen Beziehungen der Interviewten sowie auf geographischer Ebene auf deren potentieller weltweiter Dispersität. So gelingt es, aufzuzeigen, inwiefern Mobilität und die Ausbildung bzw. die Aufrechterhaltung sozialer Kontakte (s. hierzu auch Abschn. 7.3) Einfluss auf die strukturale Ausgestaltung der persönlichen Netzwerke der Interviewten sowie vice versa nehmen. Außerdem wird im Folgenden unter der eingangs beschriebenen relationalen Perspektive (s. Kap. 3) und in Zusammenhang mit den von den Befragten mehrfach aufgesuchten, über Kontinente hinweg verteilten Orten, der Frage nach Zugehörigkeit nachgegangen. Dabei wird sich zeigen, inwiefern die Akteure im Kontext ihrer Mobilität ein verändertes Verständnis von einem „Zuhause“ – unter einer traditionellen Perspektive als unilokal verankerten Wohnraum verstanden – entwickeln und welche Rolle dabei sozialen Beziehungen unabhängig nahräumlicher Regionen zuteil wird.
66 Der 67 Der
Begriff „Zuhause“ ist dem Sprachgebrauch von Malte entlehnt (vgl. Malte, A. 331). Begriff „Homebase“ ist dem Sprachgebrauch von Raik entlehnt (vgl. Raik, A 60).
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
283
7.4.2.1 „Ob ich vielleicht so drei, vier Orte auf der Welt hab […] ich weiß es noch nicht68“ (Malte) In diesem Abschnitt wird zunächst an das zuvor vorgestellte Interview mit Malte (s. Abschn. 6.1) angeschlossen. Denn bereits dort wurde aufgezeigt, dass Malte über die Rückkehr an bestimmte Orte nachdenkt (s. Abschn. 6.1.7). Wenngleich sich Maltes diesbezügliche Aussagen noch auf einer hypothetischen Ebene bewegen, erweisen sich diese für die nachfolgende Besprechung als besonders interessant. Denn in seiner Narration werden die Facetten sich wandelnder Vorstellungen von einem „Zuhause“ eindringlich transparent. Wenn wir uns nun an Maltes Erzählung zu seiner Auswanderung nach Neuseeland mit seiner damaligen Partnerin und deren gemeinsamer Wohnungssuche sowie die Verschiffung der Möbel aus Deutschland an deren neuen Wohnort (s. Abschn. 6.1.3.2) zurückerinnern, fällt auf, dass der Wohnraum als solcher als zentrale Anlaufstelle für alle weiteren Aktivitäten dient. In diesem Zusammenhang spricht Weichhart bspw. von einer „Schutz- und Aufbewahrungsfunktion“ (Weichhart 2009: 4) der Wohnung und Nadler benennt den Prozess der Wohnungseinrichtung als „aktive Raumaneignung“ (Nadler 2013: 63). Unabhängig von der Begriffswahl erweist sich dabei als bemerkenswert, dass die Wohnung als unilokaler Ausgangspunkt aller Argumentationen beschrieben wird (s. Abschn. 2.1.2). Auch aus Maltes Sicht scheint eine solche Perspektive zu Beginn seiner Mobilität (noch) als selbstverständlich zu gelten. Dies zeigt sich bspw., als er über das Verlassen der gemeinsamen Wohnung in Neuseeland Folgendes berichtet: M: „Und ich erinner mich auch an ein/ ein Schlüsselmoment. Ich bin dann halt in der (..)/ in der/ in der Wohnung/ in der noch gemeinsamen Wohnung in Neuseeland, hab dann halt meine Sachen gepackt, hatte den Flug, hab den Schlüssel (.) aufn Tisch gelegt und hab dann halt/ die/ die Tür, die geht so/ die geht so von alleine zu. (.) Und hab dann noch mal so/ hatte dann die Tür in der Hand, hab gesagt: Okay, ähm, (.) noch/ noch kannste zurück, noch dus entscheiden. Dann die Tür losgelassen. Und ich muss sagen: (.) Noch NIE hat sich dieses Türschloss so laut und so endgültig angehört wie in diesem Moment, wie dann Peng, die Tür zu war – und ich hatte quasi, ja, meinen Rucksack, n Flugticket nach Bali, oneway (lachen). Ja und das war dann so mein Leben“ (Malte, A. 333).
Bildlich gesprochen werden Schlüssel und Tür in dieser Sequenz zum Symbol der Zugangsmöglichkeit zu einem konkreten, unilokal verankerten Wohnraum. Mit der Abgabe des Schlüssels erlischt diese Möglichkeit. Darüber hinaus bedeutet dies, die 68 Das Zitat ist dem Interview mit Malte entnommen. Beide Sätze stammen aus Absatz 529 und wurden für die Darstellung in der Überschrift aneinandergereiht sowie geglättet. Originaltranskript: „[O]b ich vielleicht so (.) drei, vier Orte auf der Welt hab […] Ähm, ich weiß es noch nicht“ (Malte, A. 529).
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Beziehung zu seiner damaligen Partnerin auch räumlich aufzulösen. Malte erzählt weiter: M: „Und muss auch sagen, am Anfang, also (.) hatt ich auch, äh, irgendwo ne Scheißangst hierhin [nach Bali] zu komm, weil auf einmal halt nichts mehr, kein Zuhause mehr, keine Freundin mehr (lachend)“ (Malte, A. 331).
Als zentral bildet sich hier ab, wie unter der von Malte beschriebenen Sichtweise ein Zuhause als geographisch lokalisierbar gilt. Wird diesem Deutungsmuster gefolgt, erweist sich unter einer theoretischen Perspektive außerdem als interessant, dass – wie erwähnt – auch im Rahmen von Uni- und Multilokalitätsforschungen der Wohnort bzw. mehrere Wohnorte69 als feste Bezugspunkte der handelnden Akteure in den Mittelpunkt gestellt werden (s. Abschn. 2.1.2). Dass mit fortschreitender Mobilitätsdauer der Interviewten eine solche Sichtweise jedoch nicht mehr als angemessen erscheint, zeigte sich voranstehend bereits anhand der Beschreibung zu Maltes Ankunft auf der Insel Bali (s. Abschn. 6.1.6). Wie skizziert, mietet er sich dort in einem Coliving-Haus ein. Dies bietet ihm wiederum die Möglichkeit, seinen Aufenthaltsort innerhalb kürzester Zeit, ohne Kündigungsfristen oder der Notwendigkeit einer Haushaltsauflösung, verlassen zu können. So erfüllt sich Maltes Wunsch nach mehr Ortsflexibilität auch in praktischer Hinsicht. Dennoch zeigt sich, dass sich Malte zu Beginn zunächst mit der Herausforderung einer Neuorientierung konfrontiert sieht: M: „Ähm, was schon seltsam ist: Man hat das Gefühl, man weiß nicht mehr, wo man so dazugehört irgendwie. Also man hat schon (..)/ Oder man weiß nicht so richtich, werde ich jetzt irgendwie ziellos umherirren und irgendwie nirgends gefällts mir richtich gut und (.) irgendwie kein Bezugssystem zu haben“ (Malte, A. 529).
Eine mögliche Strategie zur Herstellung von dessen, was er als „Bezugssystem“ bezeichnet, erläutert er weiter:
69 Der Multilokalitätsbegriff weist in aktuellen Publikationen vielfache Erscheinungsformen auf. Hierzu gehören Lebensformen, wie bspw. von Wochenendpendlern, saisonalen Arbeitsmigranten, Eigentümern eines Altersruhesitzes, Paaren die an zwei gleichwertigen Wohnsitzen leben, Besitzern eines Ferienwohnsitzes, Dauercampern, Hausbootbesitzern etc. (vgl. Petzold 2010: 238 f.). Dabei fällt außerdem auf, dass der Begriff Multilokalität in diesen Kontexten oftmals synonym zu multilokalem Wohnen oder residenzieller Multilokalität verwendet wird (vgl. Hilti 2011: 31 f.). Allerdings wird mit letzteren Beiden meist Bezug auf eine feste Behausung genommen und Ersteres weitläufiger verstanden (vgl. Hilti 2011: 31; Petzold 2010: 242 f.).
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
285
M: „Sodass ich (.) nich weiß, ob es/ ob ichs auf Dauer so machen werde, dass ich immer woanders bin, oder ob ich vielleicht so (.) drei, vier Orte auf der Welt hab, wo ich weiß, da fühl ich mich wohl, da weiß ich, wie die Dinge laufen, da kenn ich vielleicht auch Leute. (..) Ähm, ich weiß es noch nicht“ (Malte, A. 529).
Wie Maltes Überlegungen zeigen, zieht er es künftig in Erwägung, sowohl ihm unbekannte als auch bekannte Orte aufzusuchen. So können u. U. Routinen aufgebrochen und Stabilität hergestellt werden. Auffällig erweist sich dabei jedoch auch, dass die Rückkehr an einen bestimmten Ort (wie bspw. eine auf Dauer angemietete Wohnung) nicht mehr als Option erwähnt wird – die Vorstellung von einem unilokalen Wohnort wird von „drei, vier Orte[n]“ abgelöst. In Zusammenhang mit diesen (noch auszuwählenden) Orten stehen wiederum konkrete Personen. Dieser Aspekt wird im nachstehenden Kapitel, unter Hinzunahme weiterer Beispiele, noch im Detail besprochen. Zunächst reflektiert Malte noch resümierend über seine geplante Mobilitätsstrategie: M: „Und so, glaub ich, kann man so dieses/ diese Heimatlosigkeit ganz gut, ähm/ ganz gut umschiffen“ (Malte, A. 535).
Mit dieser Vorstellung ist Malte unter den Interviewten nicht alleine. So berichten auch andere Befragte von der Idee, an ihnen bekannte und liebgewonnene Orte für einen erneut temporären Zeitraum zurückzukehren. Ricardo erwähnt bspw.: „I am really liking it. I will probably come back to Chiang Mai. […] There are so much, so many cafes and good internet and everybody’s here, and it’s, it’s very cool“ (Ricardo, A. 72).
7.4.2.2 „Bin immer wieder regelmäßig hier in Bangkok“ (Raik) Inwiefern die tatsächliche Umsetzung von Mehrfachaufenthalten an einem Ort sowie die damit in Zusammenhang stehenden Bedeutungszuschreibungen aus Perspektive der Interviewten nun tatsächlich aussehen, wird nun in diesem Abschnitt besprochen. Hierfür bietet erneut das Gespräch mit Raik, aufgrund dessen rund achtjährigen Erzählrückblicks zu seiner Mobilitätsgeschichte (s. Abschn. 7.3.1.1), interessante Einsichten. Die Beschreibung von Mehrfachaufenthalten an einem Ort bleibt dabei nicht auf einer hypothetischen Ebene verhaftet. Um darüber hinaus den Zusammenhang zwischen Raiks geographischen Mobilitätshandlungen, seinen gewählten Aufenthaltsorten und dessen sozialen Beziehungen betrachten zu können, wird für die Besprechung die von ihm visualisierte Netzwerkkarte hinzugezogen (s. Abb. 7.15); wurde einleitend zu diesem Kapitel doch bereits angesprochen, dass
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
das Lokale nicht ohne soziale Beziehungen gedacht werden kann. Diese Aussage gilt es im Folgenden nun zu konkretisieren.
Thailand
USA
De
uts
chl
an d
Schweiz
Malaysia ortsflexibel
(Quelle: Eigene Darstellung) Anmerkung: Die Farben entsprechen dem Aufenthaltsort der Alteri zum Zeitpunkt des Interviews. Folgende Farbbedeutungen wurden zugewiesen: Blau = Deutschland, Lila = Malaysia, Grau-Grün = Schweiz, Braun = Spanien, Grün = Thailand, Weinrot = USA. (In Prinormat sind Farben als Graustufen angeführt.) Inmien der Erzählung beginnt Raik außerdem, die von ihm visualisierten Akteure entsprechend deren Aufenthaltsort zu soreren. Diesen Vorgang kommenert er wie folgt: „Vom Ding her würde das Sinn machen, wenn ich diese Kreise jetz unterteile in/ […] Dann/ Dann/ [Repos. Eltern in NWK] Dann pflaster ich hier mal die Leute hin [Repos. Bruder in NWK; Repos. Nadine in NWK], die in Deutschland sind [Repos. Nichte in NWK]. […] [Repos. Rike in NWK; Repos. Domi in NWK] (9) Das war er nich. [Repos. Mason in NWK; Repos. Eddy in NWK] (5) (I: Mhm. (bejahend)) [Repos. Sebi in NWK] (5) Ja. (...) Dann kommt jetz Thailand“ (Raik, A. 154-162).
Abbildung 7.15 Raiks persönliches Netzwerk und geographische Aufenthaltsorte der Alteri
Zunächst zeigt sich anhand von Raiks Erzählung, dass dieser, ähnlich wie Malte, sukzessive in eine ortsflexible Lebensführung hineinwächst. Auch er skizziert dabei im Rahmen seiner Beschreibung eine Loslösung von einem unilokal verankerten Wohnsitz:
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
287
R: „Also genau genommen erzähl ich das jetz erst mehr oder weniger oder, mhm, (.) mir selber wird’s auch erst immer mehr klar, dass ich in Deutschland/ (.) aus Deutschland weggehe oder so meinen Wohnsitz da aufgebe“ (Raik, A. 228).
Wenn Raik also seinen Wohnsitz in Deutschland verlässt, stellt sich unmittelbar die Frage, wo er plant, sich weiterhin aufzuhalten. Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es einer Betrachtung des gesamten Interviewverlaufs. Denn wie sich dabei herausstellt, wechselt Raik regelmäßig seine Aufenthaltsorte; kehrt jedoch auch in (zunächst) vier ausgewählte Regionen immer wieder zurück. Ein Blick auf seine persönliche Netzwerkeingebundenheit (s. Abb. 7.15) liefert hierzu einen Überblick. Denn wie sich weiter unten noch zeigen wird, kehrt Raik primär an jene Orte zurück, an welchen er Freunde und Familienmitglieder oder andere Vertraute antrifft. Bei Betrachtung von Raiks Netzwerkkarte fällt auf, dass dieser Beziehungen zu Personen mit geographisch unterschiedlichen Aufenthaltsorten (zum Zeitpunkt des Interviews) unterhält. Für eine übersichtliche Darstellung wurden in Abbildung 7.15 die innerhalb des Netzwerks identifizierten Isolates und Cluster mit einer gestrichelten Umrandung kenntlich gemacht (entspricht nicht der original Netzwerkkartenvisualisierung). Im Umkehrschluss bedeutet dies wiederum, dass sich zeigt, dass fast alle der genannten Personen innerhalb eines Clusters einem gemeinsamen Aufenthaltsland angehören. Unter Hinzunahme von Raiks narrativen Ausführungen wird außerdem deutlich, dass lediglich jene Akteure, welche dem Cluster der Digitalen Nomaden zugeordnet werden können, also „Ben“, „Chrissi, Jonas, Caro und Kai“ als ortsflexibel gelten (s. u.). Interessant ist in diesem Zusammenhang außerdem, dass unter Berücksichtigung der zeitlichen Dimension die vier zuletzt genannten Akteure erst ab dem Jahr 2014 eine Rolle in Raiks Erzählung spielen. Dieser Umstand ist nicht zuletzt auf die aufstrebende Entwicklung des Digitalen Nomadentums ab 2014 zurückzuführen und spiegelt sich auch auf visueller Ebene wider. Hinsichtlich der relativ chronologischen Symboleintragung von Raik bietet Abbildung 7.16 eine Übersicht. Um nun also die Verlinkung zwischen Raiks geographischen Mobilitätshandlungen und seinen bestehenden sozialen Beziehungen deutlicher nachvollziehen zu können, wird für jedes Isolate bzw. Cluster exemplarisch ein ausgewählter Interviewauszug vorgestellt. Diese Vorgehensweise ist auf Gründe einer besseren Übersichtlichkeit zurückzuführen. Dementsprechend wird aus jedem Cluster die Narration zu einem einzelnen Akteur als Stellvertreter vorgestellt. Hierzu zählen folgende Personen: Raiks „Nichte“, „Mason“, „Timo“ und „Antonia“,
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(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.16 Raiks persönliches Netzwerk als Prozess – vor und nach 2014
„Tauchlehrerfreunde“, „Kamon“ sowie die Digitalen Nomaden „Chrissi, Jonas, Caro und Kai70 “. 70 Während des Interpretationsverlaufs entstandene Memos, in welchen entlang einer deskriptiven Beschreibung die Positionen und Relationen der Alteri im Ego-NW beschrieben werden, lauten wie folgt: • „Mason“: Der personale Akteur Mason hat keine weiteren sozialen Beziehungen zu weiteren Alteri in Raiks persönlichem Netzwerk. Dadurch hat Mason die Position eines Isolates inne. • „Nichte“: Der personale Akteur mit der Beschriftung Nichte kann durch diese Attributszuschreibung als Mitglied von Raiks Familie identifiziert werden. Darüber hinaus weist sie eine Beziehung zu den Akteuren „Bruder“ und „Eltern“ auf. Raiks Nichte kann so dem Cluster des Familienkreises zugeordnet werden. Mit einer Pfaddistanz von zwei (über Eltern) weist Raiks Nichte außerdem jeweils eine Beziehung zu „Eddy“, „Stefan“ und „Chi“ auf. Eddy und Stefan sind langjährige Freunde von Raik, weshalb ein Kennenlernen von Freunden und Eltern wenig verwunderlich erscheint. Chi hat eine Verbindung zu Eltern aufgrund ihres Besuchs von Raik in Deutschland. Die Beziehungen der Eltern zu nicht-verwandten Akteuren bestehen folglich aufgrund von Raik. Weitere Hinweise zu Symbolen des blauen Clusters: Das Symbol „Domi“ steht für einen „Business-Freund“ (A. 106), das Symbol „Sebi“ steht für einen „Business-Freund“, das Symbol „Christof “ steht für einen Freund; u. U. „Business-Freund“, das Symbol Eddy steht für einen langjährigen Freund aus Raiks Studienzeit, bei dem Symbol „Nadine“ handelt es sich um eine Ex-Freundin und zum Zeitpunkt des Interviews um eine gute Freundin. Bei dem Symbol „Karen“ handelt es sich um eine Freundin. Bei dem Symbol Stefan handelt es sich um einen Freund. • „Timo Antonia kommen regelmäßig nach Asien“: Die beiden personalen Akteure Timo und Antonia weisen neben der Verbindung zu Stefan keine weiteren sozialen Beziehungen auf. (Dies kommentiert Raik folgendermaßen: „Stefan und Timo sind auch sehr enge Freunde“
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
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In Deutschland besucht Raik bspw. regelmäßig seine Nichte (in Cluster mit blau markierten Symbolen). Er erzählt: R: „Und meine kleine Nichte. (I: Ah.) (.) Die muss ich immer besuchen, wenn ich in Deutschland bin und so [Eintragung Nichte in NWK]. (I: Mhm.) Ich plan auch so’n bisschen meine Deutschland-Zeiten. Zum Beispiel, wenn sie Geburtstag hat, dann muss ich kommen und so. (I: Ja.) Zu Weihnachten und/ und so. Find ich immer cool, wenn ich die auch seh“ (Raik, A. 136–144).
(Raik, A. 460).) Darüber hinaus nehmen Timo und Antonia aufgrund ihrer Beschreibung als Paar eine strukturell äquivalente Position in Raiks Netzwerk ein. So weisen auch diese beiden Akteure ein Clustercharakteristikum auf bzw. bilden ein Paar. Durch die Verbindung zu Stefan haben Timo und Antonia über eine Pfaddistanz von zwei eine Verbindung zu den Akteuren „Kamon“, Chi, Eltern, Christof, Domi und Sebi. • „Tauchlehrerfreunde 4–5“: Der multiple Akteur Tauchlehrerfreunde 4–5 weist keine weiteren sozialen Beziehungen zu anderen personalen Akteuren auf. Da Raik Tauchlehrerfreunde 4–5 jedoch in einem Symbol visualisiert, wird zunächst davon ausgegangen, dass die besagten Tauchlehrerfreunde jeweils untereinander in Verbindung stehen. Eine weitere Verbindung besteht zu der Aktivität Tauchen, welche Raik mit der Aufschrift „Tauchen ideal zum Leute kennenlernen“ beschriftet. So weist auch die Aktivität Tauchen in Verbindung mit dem multiplen Akteur Tauchlehrerfreunde 4–5 und ohne weitere soziale Verbindungen zu anderen Alteri eine Clusterstruktur auf. • „Kamon“ und Cluster zu Akteuren mit Aufenthaltsort in Thailand: Das Symbol Kamon steht für die Thailänderin Kamon. Kamon ist eine Freundin von Raik und aktuelle Partnerin von Raiks Freund Stefan. Raik erklärt: „[…] Stefan is jemand, der auch/ Ah, der muss hier in die Mitte eigentlich. (.) Stefan is oft in Deutschland [Repositionierung Stefan in NWK] und oft in Thailand. (I: Okay.) Den treff ich sehr oft auch hier. Also, er kommt zum Beispiel in zwei Wochen auch hier rüber“ (A. 164–166). Diese Relation erklärt außerdem die Broker-Funktion von Stefan zwischen dem blau markierten Cluster sowie dem grün markierten Cluster. Das Symbol Chi steht für eine Freundin von Raik und Stefans ExFreundin. Da Raik während eines Aufenthalts in Deutschland von Chi besucht wurde, bot sich die Gelegenheit für ein Kennenlernen von Raiks Eltern. Diese Relation erklärt die Verbindung zwischen dem blauen und grünen Cluster. Die Symbole „Yuna“ und „Ha“ stehen für zwei Thailänderinnen, welche wiederum Freundinnen von Kamon sind. (Anmerkung zur Visualisierung: Es wird vermutet, dass die Relations-Visualisierung zwischen den Symbolen Kamon und Ha im Interviewprozess untergegangen ist. Raiks Narration macht jedoch die Beziehung zwischen Kamon und Ha deutlich: „Ähm, (..) okay, dann würd ich hier jetz so einige (..) [Eintragung Yuna in NWK], zum Beispiel Yuna, das is ne Freundin von Kamon. (5) [Eintragung Ha in NWK] Ha heißt sie, die auch“ (A. 184). Ebenfalls wird vermutet, dass im Visualisierungsprozess die Einzeichnung der Relation zwischen Kamon und Chi untergegangen ist. Siehe hierzu nachstehende narrative Erzählung von Raik (vgl. A. 322).) Das Symbol „James“ steht für einen in Thailand lebenden Amerikaner. Raik erzählt: „U:nd (.) James. (..) Den hab ich mal auf der Straße kennengelernt beim Essen
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Exemplarisch fällt hier auf, wie Raik seine Deutschlandaufenthalte mit Anlässen wie Geburtstagen seiner Nichte oder Weihnachten verknüpft. So zeigt sich, wie regelmäßige Familienbesuche im Kontext einer mobilen Lebensführung integriert werden. Ebenfalls regelmäßig (wenn auch seltener) trifft Raik seinen amerikanischen Freund und früheren Geschäftspartner Mason (personaler Akteur mit weinrot markiertem Symbol) in den USA. Raik erzählt: R: „Ah, Mason. (5)“ I: „Nochmal klicken71 . Okay“ R: „Ja. (..) Der lebt allerdings nich in Deutschland [Eintragung Mason in NWK], deswegen fällt der mir jetz hier ein. Das sind immer so Kreise, das sind halt/“ I: „Mhm. (bejahend))“ R: „(.) Okay.“ I: „Aus was für nem Kontext kennst du den?“ R: „Auch n Geschäftspartner, mit dem ich, ähm, viel zusammen gemacht hab, erstellt/ Produkte erstellt hab. Einer meiner engsten Freunde. Der lebt in den USA auf’m Segelboot in Los Angeles. Und den besuch ich eigentlich auch so mindestens einmal im Jahr“ (Raik, A. 146–152).
Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass die jährlichen persönlichen Treffen (erst) durch Raiks geographische Mobilität realisiert werden. Weitere regelmäßige Treffen finden mit den beiden Akteuren Timo und Antonia (multipler Akteur mit grau-grün markiertem Symbol) statt. Anders als mit seiner Familie oder seinem Freund Mason, finden diese Verabredungen jedoch an unterschiedlichen Orten, meist im asiatischen Raum, statt: R: „So. (…) Dann (.) eng verbunden Richtung Asien (…) mach ich mal hier ein Pärchen aus der Schweiz. Die/ (.) Mit dem Timo hab ich mal geschäftlich zu tun, nee, doch, hab ich eigentlich immer noch. Aber auch sehr viel privat. Timo und Antonia nenn ich die mal. Die kommen regelmäßig nach Asien, so zwei Mal im Jahr und dann (I: Ah.) schau ich immer, dass ich auch dahin fahr, also/“ I: „Okay.“
[Eintragung James in NWK]. (lächelt) Der lebt hier auch, Amerikaner“ (A. 192). Das Symbol „Ben“ steht für einen Digitalen Nomaden, der sich zum Zeitpunkt des Interviews in Bangkok aufhält. 71 Hinweis
zu laptopgestützter Netzwerkvisualisierung.
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R: „wo die dann da sind. Die sind zum Beispiel, äh, in Malaysia in zwei Wochen. Dann fahr ich da auch hin“ (Raik, A. 196–201).
Ebenfalls in Asien trifft Raik seine Tauchlehrerfreunde (multipler Akteur mit lila markiertem Symbol). Wie die Symbolbeschriftung bereits verrät, basiert diese Freundschaft auf dem gemeinsamen Interesse an der Aktivität Tauchen. Exemplarisch erzählt Raik: R: „Und dann (..) gibt es noch Tauchlehrerfreunde nenn ich die. (I: Mhm. (bejahend)) Das is ne Gruppe von, (..) ja, so (.) vier bis fünf Leute. (I: Mhm. (bejahend)) (.) Ähm, die pendeln immer zwischen (.) Polanta in Thailand (I: Mhm. (bejahend)) und den Perhentian Islands in Malaysia.“ I: „Ah, okay.“ R: „Immer je nachdem, wo grad Saison is. Und eigentlich besuch ich die auch mindestens einmal pro Saison [Eintragung Tauchlehrerfreunde 4–5 in NWK] und dann verabreden wir uns über Facebook und da werd ich (I: Okay.) wahrscheinlich im August so zwei Wochen oder so mit denen verbringen.“ I: „Okay. Und wie hast du die kennengelernt?“ R: „Beim Tauchen mal ursprünglich“ (Raik, A. 202–214).
So zeigt sich auch in diesen Fällen, inwiefern Raik seine Aufenthaltszeiten an einem bestimmten Ort an den Anwesenheitszeiten anderer Personen orientiert. Zu jenen in Bangkok mit festem Wohnsitz ansässigen Akteuren gehört bspw. die Thailänderin Kamon (in Cluster mit grün markierten Symbolen). Diese Verbindung skizziert Raik wie folgt: R: „[I]ch hatte n paar unlösbare Probleme, als ich hier diese Appartments72 gekauft hab. Da hab ich mich dann an Kamon gewendet und die hat das für mich alles/ die hat mir sehr geholfen, das abzufedern, Sachen zu übersetzen, für mich zu telefonieren. (I: Ah, okay, ja.) Oder (…) im März war ich hier mal total krank. Ich hatte so über 40 Grad Fieber. Ich konnt nich mal mehr sitzen, sondern echt nur noch liegen und dämmern und da sind auch irgendwie Kamon und Chi abwechselnd gekommen und haben mich irgendwie mit kaltem Wasser betupft und mir Essen gebracht und so und solche Sachen. (..) Ja“ (Raik, A. 320–322).
Interessant ist die Beziehung von Raik zu Kamon aus unterschiedlichen Gründen. Einerseits gehört sie zu den wenigen Ausnahmen innerhalb des Samples dieser 72 Aus dem weiteren Interviewkontext geht hervor, dass Raik nicht selbst in einem von ihm gekauften Apartment wohnt.
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Arbeit, in welcher die Befragten eine Beziehung zu einer einheimischen Person des jeweils beschriebenen Aufenthaltslandes benennen. Andererseits begibt sich Raik durch den Kauf von Appartments in ein Abhängigkeitsverhältnis hinsichtlich sprachlicher und kultureller Gegebenheiten. Ein Umstand, den die Interviewten im Rahmen ihrer Onlinearbeit im Allgemeinen umgehen (können); sind sie doch nicht von der wirtschaftlichen Auftragslage ihres Aufenthaltslandes abhängig. Insbesondere auf letzten Aspekt wird unter Kapitel 8 nochmals eingegangen. Für dieses Kapitel gilt es zunächst noch festzuhalten, dass Raiks Beziehungen nach Thailand auch deshalb als auffällig gelten, da sie bereits vor 2014 geknüpft und ohne den Support durch andere Digitale Nomaden ausgebildet wurden. Anders verhält es sich hingegen mit Raiks Beziehungen zu Chrissi, Jonas, Caro und Kai (in Cluster mit grün und braun markierten Symbolen). Alle vier hat Raik während seines Aufenthalts in Tarifa (aufgrund der dortigen Initiative von Jonas zur Entwicklung eines „Nomaden-Hotspot[s]“ (A. 418) (s. Abschn. 7.1.1.2)) kennengelernt. Diesen Kontakt will er auch in Zukunft – unabhängig von einem konkreten Ort – aufrecht er halten. Er erzählt: R: „(11) Also ich könnte noch hier so’n paar von den Nomaden dazufügen73 .“ I: „Wenn du möchtest.“ R: „Weil, ich hab irgendwie das Gefühl, ich werd die noch näher kennenlernen. (4) Es gibt ja diese Kreuzfahrt 74 . Hast du davon gehört? Diese Nomaden-Kreuzfahrt.“ I: „Nein. (lächelt)“ R: „Das is am 18. November. (I: Aha.) Da f/ haben sich jetz ungefähr 100 Digitale Nomaden gefunden, (I: Okay.) die von Gran Canaria nach Brasilien fahren.“ I: „Ach echt?“ R: „Das kostet irgendwie 300 Euro oder so, weil das Schiff überführt wird, is es so ganz günstig. (I: Okay.) Und, ja, wir machen alle zusammen diese Kreuzfahrt. Es sind insgesamt zehn Tage oder sowas.“ I: „Und du gehst auch mit?“ R: „Und da geh ich auch mit, ja, einfach, weil/ weil ich das cool finde, diese Leute noch näher kennenzulernen und so [Eintragung Chrissi, Jonas, Caro und Kai in NWK]“ (Raik, A. 400–414).
73 Bezugnehmend
auf die Netzwerkkarte. hier von Raik beschriebene Kreuzfahrt wurde auch im Interview mit Malte benannt (s. Abschn. 6.1.7.2). 74 Die
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Wie Raiks Erklärung zeigt, handelt es sich bei seinem Kontakt zu Chrissi, Jonas, Caro und Kai um eine noch junge Beziehung, welche es zu intensivieren gilt. Realisiert wird dies wiederum durch die gemeinsame Teilnahme an einem Digitalen Nomaden-Angebot; in diesem Fall eine Digitale Nomaden Kreuzfahrt, welche erstmals im Jahr 2015 durchgeführt wurde75 . So wird anhand dieses Beispiels außerdem transparent, inwiefern Raiks bisherige Handlungspraktiken durch eine junge aufstrebende Entwicklung neue Optionen erfahren. Anders formuliert wird durch eine Kontextualisierung von Raiks Mobilitätshandlungen deutlich, dass dieser einerseits weltweit disperse Sozialbeziehungen unterhält, welche Einfluss auf die Auswahl seiner Mobilitätsziele nehmen und andererseits, inwiefern durch seine geographische Mobilität die Ausbildung seiner Netzwerkbeziehungen beeinflusst wird. Diese Praktik wird ab dem Jahr 2014 durch eine weitere Komponente ergänzt. So fällt einmal mehr auf, dass es sich bei der Herausbildung des Phänomens des Digitalen Nomadentums um eine noch junge Entwicklung handelt. Inwiefern Personen wie Raik entsprechende Digitale Nomaden-Angebote in ihre weltweiten Mobilitätshandlungen langfristig integrieren (bspw. durch Aufenthalte an Digitalen Nomaden-Hubs (s. Abschn. 7.2)), gilt es in weiteren Studien zu verfolgen. Zunächst soll der Blick in diesem Kapitel jedoch nochmals zurück auf die Frage nach der Funktion und Bedeutung von Mehrfachaufenthalten an einem Ort gelenkt werden. In diesem Zusammenhang erläutert Raik: R: „Also Chi war die Allererste, die ich kennengelernt hab 2013 [in Bangkok]. (I: Okay.) U::nd, ja, dann kontinuierlich/. […] Das is (I: Okay.) schon sehr, ja, is so’n Heimatgefühl, wenn man halt Leute enger kennt in ner Stadt“ (Raik, A. 176–182).
Als zentral bildet sich hier ab, dass Raik das von ihm beschriebene „Heimatgefühl“ an einem Ort mit den dort jeweils Anwesenden und ihm bekannten Sozialkontakten in Verbindung setzt. Gleichzeitig wird jedoch auch deutlich, dass eine Beziehungsintensivierung mit den jeweils lokal anwesenden, vermutlich immobilen Personen, erst durch Raiks Mehrfachaufenthalte möglich wird. Persönliches (Wieder-)sehen und lokale Anwesenheit gehen dementsprechend Hand in Hand. Dies entspricht dem unter Abschnitt 7.3 bereits identifizierten Muster zur Herstellung von Beziehungsbeständigkeit. Die Umsetzung einer erneut unilokal verankerten Lebensführung verfolgt Raik jedoch dennoch nicht. Stattdessen erklärt er: R: „Ich würde gar nich unbedingt sagen, ich geh nach Thailand, sondern eher ich/ ich leb ein sehr mobiles Leben. (I: Mhm. (bejahend)) Und Thailand is n wichtiger Ort und im Grunde genommen auch der Ort, wo ich mehr Zeit verbring als irgendwo anders. 75 Quelle
Nomad Cruise: https://www.nomadcruise.com/history/.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Aber ich würd jetz nich sagen, ich geh nach Thailand, sondern ich reis ganz viel durch die Gegend (.) u:nd bin immer wieder regelmäßig hier in Bangkok zum Beispiel“ (Raik, A. 228–230).
Gleiches gilt für weitere Orte in anderen Ländern: R: „Ähm, (.) ja, genauso Hamburg, das is für mich jetz auch nich mal unbedingt meine/ (.) meine erste Heimat, sondern ein Ort von mehreren, wo ich regelmäßig bin“ (Raik, A. 64).
Exemplarisch zeigen diese narrativen Ausführungen, inwiefern die Vorstellung von einem „Zuhause“ (Malte, A. 331), als festen Wohnsitz und als lokal verankerte Anlaufstelle, nicht mehr zutreffend zu sein scheint. Stattdessen findet eine Ablösung durch mehrere jeweils temporär aufgesuchte Aufenthaltsorte statt. Diesen Umstand beschreibt Raik exemplarisch wie folgt: R: „[Z]um Beispiel jetz grad bin ich in Bangkok. Das is auf ne gewisse Weise reisen, (I: Mhm. (bejahend)) aber irgendwie auch ne Art Homebase“ (Raik, A. 58–60).
Interessant ist an dieser Aussage von Raik, neben der von ihm beschriebenen praktischen Umsetzung, insbesondere die sprachliche Ablösung von dem (deutschen) Zuhause- oder Heimatbegriff76 . Im Rahmen seiner mobilen Lebensführung dienen nicht nur ein Ort, sondern vielmehr mehrere Orte als mehrfach aufzusuchende Anlaufstellen, respektive „Homebase[s]“. Zu eben solchen „Homebase[s]“ werden diese jedoch erst dann, wenn durch entsprechende soziale Kontakte ein Zugehörigkeitsgefühl entsteht. Oder wie Malte es nennt: „[D]a fühl ich mich wohl, da weiß ich, wie die Dinge laufen, da kenn ich vielleicht auch Leute“ (Malte, A. 529) (s. Abschn. 7.4.2.1). Unter einer relationalen Perspektive dienen „wiederkehrende 76 Die von den Interviewpartnern verwendeten Begriffe Zuhause und Heimat geben zunächst Anlass, über deren Bedeutungshintergrund nachzudenken. Die bestehende Literatur zeigt, dass bspw. Nadler dem Begriff Heimat einen Vergangenheitsbezug zuschreibt und von Heimat als einem „Ort des Aufwachsens“ sowie „ersten bewussten Freundschaften und Liebschaften“ (Nadler 2013: 62) spricht. Dem Begriff Zuhause schreibt Nadler einen Gegenwartsbezug zu, der in Zusammenhang mit einem konkreten Wohnort steht und durch einen Umzug eine räumliche Verlagerung erfahren kann (vgl. Nadler 2013: 63). Aus analytischer Sicht gilt es, diesen begrifflichen Unterschied zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Erzählung der Interviewten wird jedoch vermutet, dass diese in ihrer Wortwahl keiner spezifischen Reflexion folgen. Es wird angenommen, dass die Begriffe Zuhause und Heimat mehr oder weniger synonym verwendet werden. Außerdem wird dem Argument von Nadler gefolgt, dass eine „Unterscheidung zwischen Heimat und Zuhause so nur im Deutschen funktioniert“ (Nadler 2013: 62).
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
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Orte“ (Raik, A. 532) folglich zur Herstellung von sozialer Eingebundenheit und beugen einem „ziellos[en] umherirren“ (Malte, A. 529) vor. Als zentral erweist sich dabei außerdem, dass geographischen Distanzen und nationalstaatlichen Grenzen aus der Perspektive der Interviewten keine Beachtung geschenkt wird. Mobilität und weltweit disperse Aufenthaltsorte werden als Selbstverständlichkeit präsentiert.
7.4.3
Zusammenfassung
Wie die Beispiele im ersten Abschnitt in diesem Kapitel gezeigt haben, üben lokale Charakteristika und Angebote einen maßgeblichen Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten und umgesetzten Handlungspraktiken der Interviewten aus. Dabei wurde transparent, dass die Akteure im Allgemeinen zwei Strategien verfolgen, um Routinen im Unbekannten herzustellen sowie um diese bei Bedarf wieder aufzubrechen. Einerseits, indem sie sich lokale Angebote, wie bspw. Coworking Spaces, für ihre Zwecke an neu aufgesuchten Orten zu Nutze machen und andererseits, indem sie Orte aufgrund ihrer Charakteristika, wie bspw. Küstenregionen, bewusst auswählen, um dort eine ihnen vertraute Aktivität (bspw. Surfen, Tauchen) ausüben zu können. Beiderlei Varianten tragen dazu bei, Komplexität zu reduzieren. Gleichzeitig sorgen die jeweils nur temporären Aufenthalte an einem Ort dafür, dass Routinen immer wieder aufgebrochen werden. Dies gilt für das Aufsuchen von, für die Interviewten sowohl neuen als auch bekannten, Orten gleichermaßen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass lokale Gegebenheiten Akteurshandlungen sowohl strukturieren, bspw. im Rahmen der Suche nach einem Coworking Space, als auch, dass die Akteure durch bestimmte Praktiken Struktur herstellen können, bspw. im Rahmen der Ausübung eines vertrauten Hobbies. Mit Letzterem ist dabei insbesondere die Herstellung von Struktur im Sinne von stabilitätsstiftenden oder vertrauenserweckenden Orientierungspunkten bzw. -praktiken gemeint. Im zweiten Abschnitt wurde am Beispiel des Interviewpartners Raik gezeigt, dass dieser in ein weltweit disperses Netzwerk eingebunden ist bzw. im Kontext seiner Mobilität weltweit disperse soziale Beziehungen ausgebildet hat. Dabei wurde ebenso deutlich, dass sich intensivierende Beziehungen (s. Abschn. 7.3) einen maßgeblichen Einfluss auf die Auswahl der Aufenthaltsorte der Befragten nehmen. Sichtbar wurde dies auf empirischer Ebene am Beispiel von Raik und mit Hilfe des narrativen Datenmaterials in Kombination mit dessen ego-zentrierter Netzwerkkarte. So gelang es – dem Konzept der Community Liberated These (vgl. Wellman 1979) folgend – aufzuzeigen, dass die soziale Eingebundenheit der Akteure nicht unter einer Fokussierung auf den geographischen Nahraum erfasst werden kann. Denn die mobilen Akteure wechseln in – mal mehr, mal weniger – regelmäßigen
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Abständen ihre Aufenthaltsorte; besuchen Freunde und Familie in unterschiedlichen Ländern (s. hierzu auch Abschn. 7.3) oder begeben sich zwischenzeitlich an für sie unbekannte Orte. Eine zentrale Rolle für ihre Mobilitätsentscheidungen spielen dabei meist immer soziale Beziehungen, welche wiederum entsprechend geographisch dispers verteilt sind77 . Außerdem hat sich in diesem Zusammenhang nochmals deutlich herausgebildet, dass die Entscheidung für eine ortsflexible Lebensführung keineswegs mit einem Bruch mit Familienmitgliedern o. ä. einhergeht. (Diese Schlussfolgerung wurde auch in Abschn. 7.3 transparent.) Stattdessen integrieren die Befragten Besuche in ihren Heimatländern sowie andernorts im Rahmen ihrer geographischen Mobilität. Interessant ist dieser Aspekt auch deshalb, da in bestehenden Forschungsarbeiten zu anderen mobilen Lebensweisen (wie bspw. Pendler-, Lebensstil- oder Ruhesitzmigranten) oftmals auf von den Mobilen geäußerte Kritik gegenüber ihren Herkunfts- oder Erstwohnsitzländern verwiesen wird (vgl. Benson 2016: 122 ff.; O´Reilly 2000; Schellenberger 2011). Auf die für die vorliegende Arbeit Interviewten treffen Äußerungen dieser Art hingegen nicht zu. Was im Rahmen der Lebensführung Digitaler Nomaden nicht vorgesehen zu sein scheint, ist das Niederlassen an einem einzelnen Wohnort. Sprachlich und inhaltlich zeigte sich dies im Kontext der von den Befragten beschriebenen Perspektivwechsel von einem unilokal verankerten „Zuhause“, im Sinne von bspw. einer Wohnung, hin zu temporär aufsuchbaren „Homebase[s]“. Ein theoretischer Anschluss an die unter der Uni- und Multilokalitätsforschung diskutierten Perspektiven (vgl. Hilti 2009; Weichhart 2009) erscheint dementsprechend wenig zielführend (s. Abschn. 2.1.2). Anhand des empirischen Materials wurde auch deutlich, dass weder von einem Verlassen und erneuten Ankommen an einem bestimmten Ort, noch von einem Anfang und Ende der Mobilität als solche gesprochen werden kann. Daher wurde auch in diesem Zusammenhang dem benannten Perspektivwechsel, unter Zuhilfenahme des Konzepts persönlicher Netzwerke, gefolgt. Das heißt, dass die soziale Eingebundenheit der Befragten im Kontext von deren Mobilität und nicht in Abhängigkeit eines einzelnen Wohnsitzes erfasst wurde. So wurde es unter diesem Forschungsblick außerdem möglich aufzuzeigen, inwiefern Zugehörigkeit – oder wie von Levitt und Glick Schiller benannt „ways of belonging“ (2004) (s. Abschn. 2.2.2) – unabhängig von deduktiv auferlegten geographischen Maßstäben eruiert werden kann. Denn wie anhand des Falls von Raik exemplarisch gezeigt, können die soziale Eingebundenheit sowie das damit einhergehende Zugehörigkeitsgefühl der Interviewten nicht einer bspw. einzelnen Nachbarschaftsgemeinschaft zugeordnet werden. Raik 77 Bspw. in Form von sich bereits intensivierten Beziehungen, wie in Abschnitt 7.3.2 beschrieben oder aufgrund des Besuchs eines Digitalen Nomaden-Hubs, wie in Abschnitt 7.2 vorgestellt. Denkbar sind Landesgrenzen überschreitende Mobilitätsschritte aber auch aufgrund von bspw. eines Visaruns (s. hierzu Abschn. 8.1.2).
7.4 Zur Rolle des Lokalen im Kontext von Mobilität
297
wechselt stattdessen zwischen rund vier weltweit verteilten Regionen, an welchen er wiederum auf Vertraute trifft und so ein „Heimatgefühl“ (Raik, A. 182) herstellen kann. Die Vorstellung von Heimat und Zuhause oder im englischen Sprachgebrauch home78 , wird daher erst dann lokal mehrfach zuortbar, wenn unter einer relationalen Perspektive die Verbindung zu sozialen Beziehungen in die Betrachtung eingebunden und zugelassen wird. Als zentral bildet sich weiter ab, dass Orte in diesem Zusammenhang dann als nicht austauschbar gelten, wenn es sich bei den dort anwesenden Personen um ebenso wenig austauschbare lokal ansässige Freunde oder Familienmitglieder handelt. Dieser Aspekt erweist sich, im Vergleich zu den Aufenthalten der Interviewten an Digitalen Nomaden-Hubs (s. Abschn. 7.2), daher als grundlegender Unterschied; geht es bei Letzterem doch primär um das Antreffen einer Vielzahl von einander zuvor unbekannten Gleichgesinnten. Erst wenn sich dort lokal verankerte soziale Beziehungen als nachhaltig erweisen, gewinnt der Hub u. U. an Relevanz als „Homebase“ (s. hierzu bspw. Malte in Abschn. 6.1.6.3). Inwiefern sich lokal verortbare „Homebase[s]“ als Bestandteil der Lebensführung Digitaler Nomaden langfristig etablieren, gilt es in weiteren Forschungsarbeiten jedoch noch zu beobachten. Dabei gilt es außerdem zu fragen, welche Rolle Digitalen Nomaden-Angeboten (wie basp. Coliving-Häusern etc.) in diesem Zusammenhang künftig zuteil wird. Ein Hinweis auf eine dahingehende Entwicklung zeigte sich in der vorliegenden Arbeit, als Raik von einem Kennenlernen der Akteure Chrissi, Jonas, Caro und Kai in Tarifa (von Raik als „Nomaden-Hotspot“ (A. 418) benannt (s. Abschn. 7.1.2.2)) und einem bevorstehenden Wiedersehen auf einem Kreuzfahrtschiff für Digitale Nomaden berichtete. Die weitere Verfolgung dieser etwaigen Entwicklung erscheint daher lohnenswert. Abschließend kann für dieses Kapitel festgehalten werden, dass das empirische Material zeigte, dass die Aufrechterhaltung der für Ego relevanten sozialen Beziehungen (erst) durch dessen geographische Mobilität gelingt. Andernfalls, so die Vermutung, würden Kontakte zu immobilen Personen früher oder später zerbrechen. Somit wird auch deutlich, inwiefern die Herstellung des Gefühls von Zugehörigkeit neben der Verbindung zu bestimmten Sozialkontakten immer auch mit geographischer Mobilität in Zusammenhang steht.
78 Wie zuvor erwähnt, wird vermutet dass die Interviewten keine klare definitorische Trennung zwischen bei Gebrauch der Begrifflichkeiten vornehmen.
298
7.5
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
Als mein Handy den Hinweiston für den Eingang einer Textnachricht von sich gibt, erscheint auf dem Display das Logo des Chatkanals #nomad. Als ich das Symbol antippe, öffnet sich ein Dialogfeld mit der Beschriftung [Josh] sowie ein Foto, auf dem mir ein junger Mann freudig entgegen winkt. Schnell erkenne ich, dass es sich hierbei um meinen Interviewpartner Joshua handelt. Anstelle eines Textes erhalte ich jedoch nur eine wirre Zahlen- und Buchstabenkombination, formatiert als Internetlink. Als ich auf diesen tippe, stellt sich heraus, dass es sich bei der Nachricht um GPS-Koordinaten handelt. In einem weiteren Feld auf meinem Display öffnet sich das Programm Google Maps; genauer: eine onlinebasierte Straßenkarte der Stadt Chiang Mai. Dort verweist ein kleiner roter Pin auf eine Straßenecke. Als ich in die Karte für eine vergrößerte Darstellung hineinzoome, erkenne ich, dass die Markierung auf ein Coworking Café verweist. In einer zweiten Nachricht schreibt [Josh]: „2:30 pm?“ Basierend auf unserer gestrigen Kommunikation weiß ich, dass sich Joshua auf ein Interviewtreffen bezieht. Unter kurzem Blick auf die Uhr, stimme ich gerne zu. Eine halbe Stunde später mache ich mich auf den Weg; Google Maps weist mir den Weg. So oder so ähnlich gestalteten sich viele der vereinbarten Interviewtreffen im Rahmen meines Feldaufenthalts in Südostasien. Rückblickend erweist sich dieser Aspekt nicht nur als interessant, sondern auch als elementarer Bestandteil der Feldforschung; zeigt eine Querbetrachtung der geführten Interviews doch, dass ausnahmslos alle der Befragten auf die Nutzung einer Vielzahl von onlinebasierten Kommunikationskanälen, Social Media Plattformen oder anderen Onlinemedien verweisen. Mit Hilfe dieser werden geographische Raumdistanzen relativiert (vgl. Pries 2010: 14) und die Aufrechterhaltung weltweit disperser Beziehungen möglich. Dies zeigte sich voranstehend bereits an Beispielen zur onlinebasierten Kommunikation mit Arbeitskollegen (s. z. B. Abschn. 6.2.6.2), Familienmitgliedern oder Freunden (s. z. B. Abschn. 7.3.2.1). In diesem Kapitel richtet sich der Blick im ersten Abschnitt nun zunächst nochmals explizit auf die von den Befragten beschriebene onlinebasierte Infrastruktur. Dabei wird sich zeigen, welche Handlungsstrategien diese unter Rückgriff auf Onlinemedien im Kontext ihrer Mobilität entwickeln und inwiefern so bestimmte Interaktionsstrukturen erzeugt werden. Relevant ist dies deshalb, da eine bloße Kenntnis über die technischen Voraussetzungen onlinebasierter Kommunikation nur wenig über die tatsächlichen Kommunikationspraktiken aussagt (vgl. Ryan & Mulholland 2014: 150) (s. Abschn. 7.5.1). Daran anknüpfend richtet sich in den darauffolgenden beiden Subkapiteln der Blick auf die jeweils Modus-typische Online-Eingebundenheit der Akteure. Der Fokus liegt
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
299
dabei insbesondere auf der Kommunikation mit jüngst hergestellten Kontakten (s. 7.5.2 zu Modus I u. 7.5.3 zu Modus II); wurde in Abschnitt 7.3.2 doch bereits die onlinebasierte Kommunikationsfacette von langjährigen Beziehungen angesprochen.
7.5.1
Materiale und handlungspraktische Gestalt onlinebasierter Vernetzung79 (Modus I+II)
“The personalization, portability, ubiquitous connectivity, and imminent wireless mobility of the Internet all facilitate networked individualism as the basis of community” (Wellman & Haythornthwaite 2002: 34) (s. Abschn. 3.1). Aussagen wie diese spiegeln sich auf empirischer Ebene auch in der vorliegenden Arbeit anhand der von den Interviewten beschriebenen Handlungs- und Vernetzungspraktiken. Dies führt – bildlich gesprochen – zu einer Vorstellung, in welcher die Akteure unter Nutzung ihrer portablen internetfähigen Geräte kontinuierlich in eine sie umgebende Datenund Kommunikationswolke eingebunden sind. In der Literatur werden ein solcher Zustand bzw. dessen Voraussetzungen oftmals auch unter dem Begriff des „nomadicity“ (Kleinrock 1996; Liegl & Bender 2016; Sutherland & Jarrahi 2017: 97:95) subsumiert. Die technischen Voraussetzungen für die Arbeits- und Mobilitätspraktiken Digitaler Nomaden sind also bereits gegeben (vgl. Liegl 2011: 183; Merkel 2012: 15). Wie diese jedoch von den Interviewten im Konkreten genutzt und angewendet werden, gilt es noch zu eruieren. Sutherland und Jarrahi merken daher folgerichtig an: „Learning to work as a digital nomad means learning to navigate and leverage this information infrastructure“ (Sutherland & Jarrahi 2017: 17). Diesem Aspekt wird im Folgenden nun auf Basis des empirischen Materials nachgegangen. Im Fokus stehen dabei Facetten des technischen Equipments sowie onlinebasierte Vernetzungs-, Kommunikations- und Präsentationspraktiken der mobilen Akteure.
7.5.1.1 Materialisierung onlinebasierter Eingebundenheit Wie sich voranstehend bereits abzeichnete, bildet die Orientierung an Zugangsmöglichkeiten zu einer (stabilen) Internetverbindung ein wesentliches einflussstiftendes Element auf die Handlungspraktiken der Befragten sowie deren Ortsauswahl (vgl.
79 Bewusst wird in diesem Subkapitel von einer Vernetzung anstelle von Eingebundenheit gesprochen, da insbesondere die Schnittstelle von Technologie und Mensch im Fokus steht. Dadurch soll die technische Komponente unterstrichen werden. In den Folgekapiteln sowie in der Zusammenfassung von diesem Kapitel wird die Verbindung technischer Geräte als Bestandteil der persönlichen Netzwerke der Interviewten nochmals explizit reflektiert.
300
7
Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
z. B. 7.2.2.1); bildet diese doch das Fundament zur Ausübung ihrer Onlinearbeit. Ausgehend von der hohen Relevanz des Kriteriums Internetzugang, erscheint es dementsprechend wenig verwunderlich, wenn die Befragten etwaige aufkommende Verbindungsprobleme beklagen. Exemplarisch zeigt sich dies an folgender Erfahrung von Owen: O: “I had really a rough time in Vietnam. […] [T]he internet went down for around three weeks. (I: Laughter) Ja (laughter). And and and it wasn´t down locally. There was a/ there was a/ so the way the interent x-system works is like a big tree, right? So the/ this big trunk that goes to Vietnam and it was ah ah chewed by sharks, the official story. I do not really know what happend. BUT anyway this main internet cable went down. So the internet works like/ and this was really annoying cause things like facebook worked fine. Because facebook must have their own cable or something, right? Like/ But but doing sending a file to/ a FTP to my server is in the United States. You know, it was going point five eh kilobytes per second and it wa/ wasn´t even working, right? (I: Mhm.) So, and like three weeks you know, is hard to like a/ clients “hey can you change this thing on a website?” on a this prob/ you know, whatever “change this button?”, you know. And it would take me two hours to change this button and which take five minutes, right? And than, it becomes like how bill this/ I can´t bill this whole two hours to the client for changing this button, right? And so it was cutting into my profits. And like/ this was a really, really (..) terrible time (laughter)” (Owen, A. 14–20).
Deutlich wird hier, inwiefern Verbindungsprobleme einen unmittelbaren Einfluss auf die Arbeitspraktiken Digitaler Nomaden nehmen können und inwiefern Betroffene als Konsequenz mit finanziellen Einbußen zu kämpfen haben80 . Ein weiteres zentrales Element der Arbeits- und allgemeinen Handlungspraktiken Digitaler Nomaden bildet deren Laptop. Auch dieser Aspekt deutete sich in den vorangegangenen Kapiteln bereits an. Bei einer genaueren Betrachtung der entsprechenden Narrationen fällt jedoch auf, dass die Befragten ihr Arbeitsgerät – das Laptop – meist nur beiläufig erwähnen. Dementsprechend bilden Sätze wie bspw. von Joshua, keine Seltenheit: „I went to this coffee shop in Seoul […] sitting in this coffee shop working on my laptop“ (A. 221). Eine mögliche Erklärung für diese Beobachtung könnte eine mittlerweile etablierte Selbstverständlichkeit der Interviewten im Umgang mit ihrem Laptop sein. Was sich jedoch im Rahmen der Interviewverläufe als auffällig erweist, ist dass die Befragten unter Reflexion ihrer Netzwerkzeichnungen ihre onlinebasierte Eingebundenheit explizit machen. Was also in der Narration beiläufig bleibt, wird auf Ebene der Visualisierung hervorgehoben (s. Abschn. 5.3). In Abbildung 7.17 sind hierzu zwei Beispiele aufgeführt. 80 Weshalb
Owen Vietnam nicht verlassen hat, bleibt im Interview unklar.
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
NWK Jay
301
NWK Anna & Mathéo
(Quelle: Eigene Darstellung)
Anmerkung: Bei den ausgewählten Darstellungen handelt es sich um Ausschnie aus den jeweils final visualisierten Netzwerkkarten.
Abbildung 7.17 Visualisierung onlinebasierter Vernetzung in Netzwerkkarten
In beiden der exemplarisch aufgeführten Netzwerkkartenausschnitte zeigt sich, dass Symbole, welche stellvertretend für portable onlinefähige Geräte, Internetverbindungen oder Onlinetools stehen, unmittelbar neben Ego – also dem Interviewpartner – platziert sind. In Jays Beispiel zeigt sich dies anhand seines Symbols mit der Beschriftung „Connectivity“. Darüber hinaus gehen von diesem weitere Verbindungen aus. Diese führen zu einem Familienmitglied, einem Startup sowie zwei Auftraggebern81 . Aufgrund dieser visuellen Anordnung kann das Symbol – Jays „Connectivity“ – als Dreh- und Angelpunkt für die Kommunikation mit Kunden, Firmenpartnern, Mitarbeitern und Verwandten betrachtet werden. Ein anderes Beispiel bietet die von Anna und Mathéo gemeinsam visualisierte Netzwerkkarte. Auch dort fällt auf, dass die Symbole „skype“, „Computer“ und „Internet“ unmittelbar neben Ego platziert sind. Als Begründung für diese Anordnung erläutert Anna für bspw. das Symbol „skype“ Folgendes: „It´s super close (laughter). […] Because I use it a lot and it makes me feel happy to skype with my friends. Because it makes me feel close to my friends. So it´s important to me and it makes me be close to my friends. Jap, I put it there“ (Anna, A. 11–13). Durch den Einsatz der technischen Hilfsmittel wird es für Anna folglich möglich, emotionale Nähe zu geographisch weit entfernten Personen herzustellen (s. hierzu auch Abschn. 7.3.2). Exemplarisch wurde mit den hier aufgeführten Beispielen die Materialisierung onlinebasierter Vernetzung skizziert. Sind es doch die neuen Technologien, die
81 Aus dem Interviewkontext geht hervor, dass Jay nicht in einem Angestelltenverhältnis ist. Dementsprechend kann Employer hier als Auftraggeber verstanden werden (s. auch Abschn. 5.4.2).
302
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
es den Interviewten beim Öffnen ihres Laptops oder ihres Smartphones ermöglichen, neben ihrem physischen Aufenthaltsort einen weiteren Möglichkeitsraum zu betreten (vgl. Liegl 2011: 183; Rainie & Wellman 2014: 65–74).
7.5.1.2 Onlinebasierte Vernetzungs-, Kommunikations- und Präsentationspraktiken Wie die Befragten ihre portablen Geräte und Onlinetools schließlich einsetzen, zeigt ein Blick auf konkrete von den Interviewten beschriebene Alltagssituationen. Für eine Veranschaulichung wurden hierfür Beispiele zu allgemein vernetzten Mobilitäts-, Kontakt- und Arbeitspraktiken ausgewählt. So erklärt bspw. Paulina, wie sie sich bei Ankunft an einem für sie neuen Ort zurechtfindet: P: “And I knew that I’m going to discover the things along the way […]. I knew that everything, almost everything is on the internet so if I need anything to find out how it works, I can just go along the way and, and figure the things. So, yeah, yeah” (Paulina, A. 66).
Das Internet bzw. ein entsprechend internetfähiges Gerät bildet folglich Paulinas treuen Begleiter. So ist bspw. vorstellbar, dass benötigte Informationen (wie bspw. zu einer bestimmten Wegstrecke, der Menükarte eines Restaurants oder den Öffnungszeiten öffentlich zugänglicher Waschsalons) mittels Smartphone und jederzeit nachgeschlagen werden können. Ein solches Beispiel zeigt sich im Gespräch mit Ricardo. Über seine Erfahrung bei der Suche nach einem bestimmten Coworking Café in Chiang Mai erzählt er Folgendes: R: “In this café that I was talking about, in, in here close to Kaweh82 . I think it’s called forty two Degrees Coffee but it’s really hard to find on Google. It’s really hard. They’re new and they’re not on their listing yet so, but it’s, it’s a cool café.” I: “So, if it’s not on the listing, how did you find out about it? (Laughter).” R: “I found out about it, because this Christian guy, he knows it, because he doesn’t drink coffee, so he, he would always come to, to this café and didn’t, he didn’t have much to eat, much to consume, so he found out about that place and invited me there. And, the first time, it was really hard for him to give me the directions, you know, because it’s hard to, kind of, find places here. So, he was, he just said to me, “Go to Calais Café, and then do this, do that, and you’ll find it” (Ricardo, A. 76–78).
Wie die Sequenz zeigt, assoziiert Ricardo eine Wegbeschreibung unmittelbar mit dem Nachschlagewerk in „Google“. Ist dies – wie im Beispiel beschrieben – nicht 82 Bekanntes
Coworking Café.
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
303
möglich, führt dies zu einem Rückgriff auf für Ricardo ungewöhnliche Mittel. Um das von ihm gesuchte Coworkig Café ausfindig machen zu können, ist er auf die Informationen des ortskundigen Christian angewiesen. Ein Umstand, den Ricardo als „really hard“ umschreibt und demzufolge vermutlich auch als ungewöhnlich bewertet. Weiter zeigen die empirischen Beispiele, dass die Befragten neben Spontanrückgriffen auf Onlinedienste auch gezielte Vernetzungspraktiken unternehmen. Im Allgemeinen lassen sich die Handlungsstrategien dabei in (1) massentaugliche und (2) individuelle Kommunikationsmuster unter Einzelpersonen unterteilen. Für (1) Erstere dienen insbesondere Foren und Social Media-Netzwerke sowie personalisierte Onlineprofile als unerlässliche Hilfsmittel. Ohne Letzteres – also die Erstellung eines persönlichen onlinebasierten Profils – wird außerdem oftmals die Teilnahme und somit auch das Mitwirken und Diskutieren innerhalb von Onlineforen, -Portalen oder -Netzwerken nicht möglich. Dies gilt bspw. auch für die Nutzung des Sozialen Netzwerks Facebook. Einmal angemeldet eröffnet sich für die Teilnehmer eine interaktive und vielschichtige Kommunikationsplattform83 . So erzählt bspw. Joshua: „I had all these Facebook photos and showed them84 all these places I’d went“ (Joshua, A. 92). Und Isabella berichtet: “[F]riends post photos and it almost makes me cry how much I miss it” (Isabella, A. 206). Exemplarisch zeigen die beiden Beispiele, inwiefern es Joshua und Isabella folglich gelingt, mittels ihrer Onlineprofile und den von Facebook bereitgestellten Vernetzungsfunktionen mit ihren Freunden in Kontakt zu bleiben (ohne dabei jedem einzelnen kontinuierlich Nachrichten senden zu müssen); Erlebnisse können onlinebasiert geteilt und somit scheinbar auch zum Transport von Gefühlen beitragen. Ein weiteres Beispiel, wie mittels Facebook soziale Kontakte nicht nur zu bestimmten Freunden, sondern auch zu einer Vielzahl von Personen aufrechterhalten werden können (vgl. Rainie & Wellman 2014: 139 f.), zeigt Raiks Erfahrung. Er erklärt: R: „Also für mich is Facebook super wichtig. Das hätt ich auch nie gedacht, als ich mich mal bei Facebook angemeldet hab. Damals hab ich das so als irgendwas Komisches angesehen. Aber inzwischen weiß ich das total zu schätzen. (I: Aha.) Äh, so in Kontakt
83 Das Konzept der Onlineplattform Facebook bietet die Möglichkeit, Textnachrichten zu versenden, Fotos und Videos zu veröffentlichen, Onlinelinks zu teilen, Posts von Freunden zu kommentieren sowie Angaben zu Beziehungsstatus, Wohnort, Religionszugehörigkeit oder Berufstätigkeit transparent zu machen (vgl. Rainie & Wellman 2014: 140 f.) (s. hierzu auch Abschn. 3.1). 84 Bezugnehmend auf Freunde.
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zu sein mit tausenden von Leuten. (.) Also man trifft sich85 und bleibt irgendwie doch in Kontakt. Und das is cool. […] Ja. (10) [Eintragung Facebook in NWK] Na ja, ich würd das sogar, wenn ich ehrlich bin, sogar fast schon dahin tun [Repositionierung Facebook von mittlerem in inneren Kreis in NWK], weil (I: Ja.) das is n richtiger Kommunikationskanal“ (Raik, A. 242–250).
Mittels Facebook gelingt es Raik folglich, mit einer Vielzahl weltweit dispers verteilter Personen in Kontakt zu bleiben. Ein Rückgriff auf das Soziale Netzwerk erscheint dabei in Anbetracht seiner mobilen Lebensführung, welche durch vielfältige flüchtige Kontakte geprägt ist, nur logisch. Kann er doch so Begegnungen onlinebasiert aufrechterhalten, welche andernfalls im Sande verlaufen wären. Verbindlichkeiten, wie bspw. regelmäßige Telefonate o. ä. entfallen dabei. Ganz ähnlichen Regeln folgt die Onlinepräsentation einer Person mittels Blogs. Auch dort können Fotos, Videos oder Texte veröffentlicht werden. Darüber hinaus nimmt der Autor meist die Rolle eines Experten für eine bestimmte Thematik ein, und präsentiert dem Leser mit Hilfe seines Blog persönliche Erfahrungen, Eindrücke, Meinungen und/ oder allgemeine Informationen. Wie bereits besprochen, machen sich dieses Format auch einige der Interviewten zu Nutze, um eine onlinebasierte Geschäftsidee aufund auszubauen (bspw. um ein Produkt zu bewerben, Coachings anzubieten o. ä.) (s. hierzu auch Abschn. 5.4.1). Kristin gehört bspw. zu jenen Personen. Mit ihrem „Surfblog für Frauen“ (A. 292) und der dort online bereitgestellten Expertise verfolgt sie das Ziel, Einkommen zu generieren86 . Hierfür bedarf es wiederum einer möglichst großen Anzahl an Lesern – oftmals auch „Follower“ (Isabella, A. 195) genannt. Diesen Prozess beschreibt Kristin wie folgt: „Und bin dabei halt momentan einfach noch die Community87 aufzubauen. (I: Mhm.) Also mehr Klicks, mehr Leser“ (Kristin, A. 50–52). Dass es hierfür strategischen Geschicks bedarf, erklärt bspw. Isabella (ebenfalls Bloggerin): „[Y]ou can’t just blog into a vacuum, you’ll never get anywhere. You have to comment on other people’s sites and you have to guest post and it’s very collaborative“ (Isabella, A. 194). Auf diese Weise gelingt es den Autoren nicht nur, ihren Blog und somit ihre Person zu bewerben, sondern auch unmittelbares Feedback von Lesern zu erhalten. Isabella erklärt weiter: 85 Angenommen wird, dass Raik mit diesem Satz Folgendes ausdrücken will: „[M]an trifft sich [und verabschiedet sich wieder; Anm. A.M.] und bleibt irgendwie doch in Kontakt“ (Raik, A. 244). 86 Geld wird dabei meist durch Kooperationen mit Werbepartnern und der Veröffentlichung von Werbeanzeigen erzielt – so meine Beobachtungen während des Feldaufenthalts. Je mehr Leser ein Blog hat, desto attraktiver wird dieser für Werbepartner. Darüber hinaus verfolgt Kristin das Ziel, einen Onlineratgeber zu verkaufen (vgl. A. 74–76). 87 Blogleser, Follower.
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
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I: “I’ll put on here as well, I’m going to call that followers [Eintragung followers in NWK]. It’s probably, maybe not the best word but by that I mean the people that read my blog and comment regularly, and when I post something on Facebook 88 , there’s always maybe, I don’t know, twenty to fifty people that I’m pretty certain are going to, um, have a supportive or encouraging word. Um, so those people that I know but also people that I don’t know that send me emails89 saying, “Oh, it’s so inspiring what you do” like, “Keep doing it” like, “How do I do this, how do I go here”, and I think that’s important for me because then it validates what I’m doing […] so it’s very nice to get that feedback and to know that if, in any way, my crazy journey can inspire people to get out there and start living life a bit more then that’s great. That, that helps a lot” (Isabella, A. 195).
Wird von den Interviewten hingegen eine (2) Kommunikation mit einer bestimmten Einzelperson forciert, greifen diese auf andere Onlinekanäle zurück. Von einer solchen Vorgehensweise berichtet bspw. Raik: R: „WhatsApp, Line, sonstwas. (I: Ah ja, okay, mhm.) (.) Also hier in Asien benutzen ja alle Line, aber das find ich irgendwie, na, je nachdem, wo ich grad bin. (I: Ja.) “Und so weiter” schreib ich mal. WeChat, was auch immer [Eintragung Whatsapp Line Wechat in NWK]“ (Raik, A. 252–256).
Interessant ist an Raiks beschriebener Strategie insbesondere, dass sich zeigt, inwiefern die Akteure sowohl über eine gewisse Kompetenz im Umgang mit onlinebasierten Kommunikationskanälen, als auch über ein Wissen, wo auf der Welt auf welches Medium zurückgegriffen werden kann, verfügen bzw. verfügen müssen. So ist der von Raik benannte Chatkanal „WhatsApp“ im Allgemeinen in Europa und den USA, „Line“ in Teilen von Asien und „WeChat“ in China bekannt bzw. zugelassen. Im Kontext ihrer geographischen Mobilität werden die Interviewten zu Koordinatoren ihrer Onlinekommunikation. Dass sich diese Notwendigkeit nicht immer als einfach erweist, äußert bspw. Isabella. Sie erzählt: I: “And there’s this other one called Line which is like WhatsApp for, I think, yeah, so people add each other on that as well, which to be honest just stresses me out. They’re like, “Get Line” and I’m like, “I, I already have like seven fucking social media channels. People just come at me through all these different mediums, I do not need another one”, but of course I got it. Um (..), very easy persuaded” (Isabella, A. 225). 88 In der Regel haben Blogger eine Facebook-Seite, welche auf ihren Blog verweist und über neue auf dem Blog zu lesende Beiträge etc. informiert. 89 In der Regel werden auf einem Blog Kontaktdaten des/ der Autor(en) angegeben. Dies bietet die Möglichkeit zu einer Kontaktaufnahme via Email.
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Letzten Endes verfügt Isabella zum Zeitpunkt des Interviews also über acht verschiedene Chat- und Social Media-Kanäle. Wendet sich der Blick nun von privater hin zu arbeitsbezogener Kommunikation, wird schnell deutlich, dass auch hier entsprechende Kommunikationskompetenzen für ein Gelingen onlinebasierter Zusammenarbeit an vorderster Stelle stehen. Darüber hinaus bildet sich ab, dass das Thema Akzeptanz eine ebenso wichtige Rolle spielt. Denn äußern sich Kunden, Auftraggeber oder Kooperationspartner skeptisch gegenüber der Vorstellung einer onlinebasierten Zusammenarbeit, bei gleichzeitiger geographischer Mobilität des Gegenübers, scheint ein Gemeinschaftsprojekt zum Scheitern verurteilt. Diesem Aspekt scheinen sich die Befragten bewusst zu sein. Um entsprechende Kunden jedoch nicht zu verlieren, werden die Interviewten daher kreativ. Von solch einer Erfahrung berichtet bspw. Owen. Um seinen tatsächlichen Aufenthaltsort verschleiern zu können, verfolgt er folgende Strategie: O: “As long as there is internet I can work from anywhere. […] [M]y clients in Vancouver, […] if they would be like, “hey let´s have a meeting, let´s meet for coffee”. I would say, “oh I can´t meet for coffee, let´s do online”. And I kind ah had the program to do videoconferencing instead of meeting me for coffee. Cause that way I could leave and h/ doesn´t matter, you know. (I: Mhm.) Ehm. And I didn´t actually lea/ when I left I didn´t tell any of my clients that I was leaving. (laughter) Cause it doesn´t actually affect them. Sooo (laughter) (I: Okay.) Because the problem is, if you tell them, they come and excuses you why. Oh we need you here till this comes up. (I: Mhm.) Mentally blocked/ because a lot of my clients do like, older, they don´t really (..) you know what I mean? The internet isn´t really ehm isn´t really foundation on there. I don´t know. They are not internet-natives, right?” (Owen, A. 2–8).
Deutlich wird hier, dass das, was aus Owens Perspektive gut zu funktionieren scheint – nämlich überall dort zu arbeiten, wo ihm eine Internetverbindung zur Verfügung steht und seine Kunden betreuen zu können – nicht von Jedermann geteilt wird. Owen versucht daher, den Reaktionen seiner Auftraggeber vorzubeugen und passt daher sein Handeln an die besagte Situation an. Wie wichtig in diesem Zusammenhang seine Onlinepräsenz wird, zeigt der nächste Interviewausschnitt: O: “Actually in Costa Rica and I was doing this/ setting up this like Webchat-Service for a client and when you log into it, it puts a flag next to your name. The place where you are. And the client said, why are you in Costa Rica? Because it says you are in Costa Rica (lacht). And I´m like ahhh. And I ended up by telling. So yah (laughter)” (Owen, A. 9).
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
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Wie die hier aufgeführten Beispiele exemplarisch zeigen, wird den Interviewten eine gewisse Kompetenz im Umgang mit Onlinemedien abverlangt. Denn: „Sites vary in their affordances, audiences and scope“ (Hogan 2008: 1). Andernfalls wäre die Koordination und Aufrechterhaltung der vielfältigen Kontakte im Kontext von Mobilität nicht denkbar. Darüber hinaus zeigt sich, dass einige der Befragten mit Vertrauensproblemen, bspw. seitens ihrer Klienten, hinsichtlich des Gelingens einer onlinebasierten Kommunikation oder Zusammenarbeit zu kämpfen haben. Wie die nachstehenden Ausführungen noch deutlicher zeigen werden, erscheint eine onlinebasierte Form des Austauschs unter Digitalen Nomaden hingegen als selbstverständlich.
7.5.2
Onlinebasierte Eingebundenheit und die Rolle von Reziprozität in sozialen Beziehungen zu Einzelakteuren (Modus I)
Einige der Interviewten entwickeln im Kontext ihrer Mobilität ein regelrechtes Online-Unterstützungsnetzwerk. Zentrales Merkmal ist dabei deren primär onlinebasierter Austausch, mittels dessen die Interaktionspartner bestimmte Expertisen, Erfahrungen oder persönliche Anliegen teilen. Gemein ist den Personen außerdem, dass sie neben einem gemeinsamen Interesse für Onlinearbeit auch ein geteiltes Verständnis für eine mobile Lebensführung hegen90 . Darüber hinaus entwickeln einige der Befragten eine sich intensivierende Beziehung zu ihren Onlinekontakten. Dies erinnert an die zuvor im Fall von Malte identifizierten Beziehungsmuster zu Hannes und Elli (s. Abschn. 6.1.5 zu Modus I). Wichtig ist für die Interviewten in diesem Zusammenhang, dass es sich um konkrete Interaktionspartner, welche nicht nach Belieben austauschbar sind, handelt. Ein solches Beispiel zeigt sich auch im Gespräch mit Kristin. Dementsprechend werden nachstehend einige Ausschnitte aus dem Interview mit ihr für eine Veranschaulichung herangezogen.
90 Während in Abschnitt 7.3 auf die Aufrechterhaltung langjähriger Beziehungen sowie auf die Herstellung und Intensivierung neuer Kontakte eingegangen wurde, wird in diesem sowie dem darauffolgenden Abschnitt (7.5.2 u. 7.5.3), insbesondere die Kontaktherstellung und ggf. Intensivierung entlang onlinebasierter Kommunikation besprochen. Mit dieser Vorgehensweise sollen sowohl Redundanzen minimiert als auch jene für die Befragten neu in Erscheinung tretenden Thematiken gesondert besprochen werden können.
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7.5.2.1 Onlinebasierte Beziehungen zu Einzelpersonen als Quelle von Unterstützung Neben ihren lokal verankerten Kontakten ist Kristin Mitglied in einer sogenannten Mastermind-Gruppe. Deren Teilnehmer lernten sich onlinebasiert kennen und üben darüber hinaus alle weiteren Aktivitäten gemeinsam onlinebasiert aus. Um nun Kristins Zugang zu der besagten Mastermind-Gruppe besser nachvollziehen zu können, bedarf es eines Einbezugs ihrer weiteren sozialen Netzwerkkontakte. Denn dabei zeigt sich, dass der Person Elli91 eine relevante Rolle zuteil wird. Den Kennenlernkontext der beiden schildert Kristin wie folgt: „Elli habe ich in Australien kennengelernt“ (Kristin, A. 582). Elli ist wie Kristin als Bloggerin tätig (vgl. A. 584). Schließlich ist es Elli, die Kristin auf einen freien Platz in einer Mastermind-Gruppe und wenig später auf einen freien Platz bei einem Workshop aufmerksam macht. Kristin erzählt: „Elli hatte mir vor drei/ ne vor vier Wochen geschrieben, dass sie in der Mastermind, ne/ „ey, da ist gerade was frei. Müsste für dich sehr interessant sein““ (Kristin, A. 903). Interessant ist diese Entwicklung insbesondere deshalb, da sich auch in diesem Fall – wie zuvor bei Malte – zeigt, inwiefern Elli aufgrund ihrer Erfahrung und Informationsweitergabe eine Broker-Funktion im Kontext von Kristins Netzwerkausbildung zuteil wird. Relevanten Input erfährt Kristin in bzw. für den onlinebasierten Raum folglich von jüngst kennengelernten Gleichgesinnten und nicht von langjährigen Bekannten (s. Abschn. 7.1.1). Weiter stellt sich nun die Frage, durch welche konkreten Charakteristika eine onlinebasierte Mastermind-Gruppe gekennzeichnet ist. Im Allgemeinen lässt sich zunächst festhalten, dass diese durch eine relativ geringe Teilnehmerzahl sowie durch regelmäßige Onlinetreffen mit den immer gleichen Personen charakterisiert ist. Die physischen Aufenthaltsorte der Mitglieder sind dabei nebensächlich. Dies zeigt bspw. folgende Aussage von Kristin: K: „Also zum Beispiel, ähm, du hast ja die Option/ dadurch, dass wir alle ortsunabhängig arbeiten hast du das Ding. Genau Elli ist in Australien. Ähm, ich bin - genau - aktuell auf Bali. Der andere ist gerade in Deutschland und der andere ist irgendwo wieder da und, ähm, wir haben so Mastermind-Gruppen über Skype-Calls“ (Kristin, A. 780).
91 Während des Feldaufenthalts sowie während meines Besuchs bei der von Malte erwähnten Workation auf Bali stellt sich heraus, dass es sich bei Elli um die gleiche Person handelt, welche sowohl von Malte als auch von Kristin benannt wurde. Malte hat Elli in Neuseeland kennengelernt (vgl. Malte, A. 241). Kristin hat Elli in Australien kennengelernt (vgl. Kristin, A. 582).
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
309
Ist ein gemeinsamer Termin – unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Zeitzonen –gefunden, wird mit Hilfe onlinebasierter Vernetzung das angesetzte Mastermind-Treffen umgesetzt. Hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung zeigt sich außerdem, dass trotz des informellen Charakters stets ein konkretes Diskussionsanliegen verfolgt wird. Kristin erklärt: K: „Also wir haben dann, ähm, das sind dann/ das ist eine kleine Gruppe. Das sind dann fünf bis sechs Leute. (I: Mhm) Hat gewisse Thema zum Übergriffen92 . Die, ähm, was lernen wollen und sich austauschen wollen über E-Books oder über Onlinemarketing oder wie, ähm oder über Amazon Verkäufe oder was auch immer und dann hast du einen Skype Call und, ähm, dann trifft man sich zu einer gewissen Uhrzeit, alle zusammen und tauscht sich aus und hat vielleicht ein paar/ hat Hausaufgaben, Projekte für gehabt oder, ähm, genau arbeitet sozusagen/ dann nutzt halt dann diese, die digitale Möglichkeit. Dennoch, ähm, irgendwie zusammen ohne sich zu sehen. Irgendwie zusammen was zu machen“ (Kristin, A. 782–786).
Trotz oder gerade wegen der onlinebasierten Kommunikationsform bedeutet dies folglich nicht, dass das Thema Verbindlichkeit zu vernachlässigen sei. Dies zeigt sich in dieser Sequenz bspw. anhand dessen, dass Kristin von Hausaufgaben spricht. Diese Strategie erinnert an die von Maximilian beschriebenen Handlungspraktiken während seines Workation-Aufenthalts. Was er in Form von abendlichen Gesprächen und Nachfragen zur täglichen Zielerreichung unter den Workation-Teilnehmern beschreibt (s. Abschn. 7.2.1), wird in diesem Beispiel in den onlinebasierten Raum verlagert. Weiter zeigt Kristins Erzählung, dass die Mastermind-Teilnehmer bewusst versuchen, ihre unterschiedlichen Expertisen in die Gruppe einzubringen und (mögliche) Synergien herzustellen: K: „[Z]um Beispiel, ich habe/ bin jetzt bei zum Beispiel erst sehr frisch drin. (I: Mhm) Ähm, wir hatten erst drei Gespräche, ähm, und der eine zum Beispiel davon sitzt in, ähm, sitzt in Bangkok. (I: Okay.) Und, ähm, der war zum Beispiel völlig, boah, wo ich mich ein bisschen vorgestellt habe, was ich halt vorher gemacht habe und war sofort ganz hellhörig, als er hörte, dass ich, ähm, aus dem Sale kommen. Also ich habe/ ich bin eine komplette/ also wenn ich was weiß, was ich im Schlaf kann und ich wahnsinnig wirklich, wahnsinnig gut drin bin, ist das im Sale. […] Und das fand er ganz, ganz spannend, weil er immer mal wieder mal oder auch vom Kunden oder irgendwie jemanden sucht/ ey, kann ich dann sogar mal eben was so Aufgaben an dich abgeben. Ich so, „du kann man gerne probieren“ (Kristin, A. 788–794).
92 Vermutlich will Kristin hier die übergeordnete Thematik eines jeden Treffens zum Ausdruck bringen.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Resümierend lässt sich an dieser Stelle zunächst festhalten, dass das Beispiel von Kristin zeigt, inwiefern es den Befragten, im Kontext ihrer geographischen Mobilität, gelingen kann, ein nachhaltig-beständiges onlinebasiertes Netzwerk aufzubauen. So entsteht eine Unterstützungsquelle, die unabhängig vom eigenen Aufenthaltsort mitgeführt werden kann. Als zentral erscheint dabei außerdem, dass an die Stelle von Konkurrenzgedanken ein Unterstützungswille rückt. Dies funktioniert wiederum nur, wenn die Gruppenmitglieder ein Verständnis für die Probleme der jeweils anderen entwickeln. Dementsprechend sind die Teilnehmer nicht nach Belieben austauschbar. Noch deutlicher wird dieser Aspekt im nächsten Abschnitt, wenn von den Interviewten neben onlinebasierten Treffen auch sogenannte „in-person“-Verabredungen (Rainie & Wellman 2014: 119) ins Auge gefasst werden.
7.5.2.2 Onlinebasierte Beziehungen und„in-person93“ Treffen Von einem möglichen in-person-Treffen mit einem der Mastermind-Teilnehmer (dieser bleibt im Interview ohne Namen) berichtet Kristin in folgender Sequenz: K: „Also oder, ähm, der auch sofort dann, ähm, mich dann auch gesagt, sofort eingeladen hat. Bitte melde dich, wenn du in Bangkok bist. Mache dich bemerkbar. Also dann sofort. Es ist ein ganz, ganz tolles, ähm ein ganz tolles Miteinander“ (Kristin, A. 794).
Vermutet wird, dass Kristins Interaktionspartner mit dieser Aussage auf die Realisierung eines gemeinsamen Arbeitstreffens o. ä. abzielt. Auch wenn der genaue Grund ungeklärt bleibt, wird doch deutlich, dass die beiden Parteien nicht als austauschbar gelten. Reziprozität, also der wechselseitige Austausch innerhalb einer Beziehung (vgl. Diaz-Bone 1997: 128 f.), bildet dabei einen grundlegenden Baustein des Beziehungsverhältnisses. Ihre Erfahrungen mit dieser Art von Austausch beschreibt Kristin auf einer verallgemeinernden Ebene wie folgt: „Wahnsinn. Also ein/ genau, diese Community, wenn man die Leute dann kennengelernt hat und ein ganz, ganz Großes, äh, ganz großer Zusammenhalt“ (Kristin, A. 796). Inwiefern sich dieser Umstand auch in den Beziehungsgeflechten der Interviewten manifestiert, zeigt ein entsprechender Ausschnitt aus Kristins Netzwerk in Abbildung 7.18. Ihre Darstellung beschreibt sie dabei wie folgt: „Überlege jetzt genau und ähm (6).
93 Der Begriff „in-person“ ist dem Sprachgebrauch von Rainie und Wellman (Rainie & Wellman 2014: 119) entlehnt. Im Allgemeinen kann dessen Verwendung stellvertretend für face-to-face-Begegnungen, jenseits von onlinebasierten Austauschformen, verstanden werden.
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
311
Elli in dem Sinne, denn Elli hat mich (..) hier [in die Mastermind Gruppe] rein gebracht und hier [Workshop Bali] reingebracht“ (Kristin, A. 901).
x
(Quelle: Eigene Darstellung)
Abbildung 7.18 Ausschnitt aus Kristins persönlichem Netzwerk zu Unterstützungsbeziehungen
Exemplarisch zeigt sich so, inwiefern onlinebasierte Kommunikation und inperson-Treffen in den persönlichen Netzwerken der Interviewten ineinander greifen und sich ggf. ergänzen können. Entsprechend des gemeinsam geteilten Interessensfokus geht von den Beziehungen, bspw. innerhalb einer Mastermind-Gruppe, eine sich wechselseitig unterstützende Funktion aus; wenngleich die Verteilung des Austauschs und gegenseitiger Unterstützung einer genaueren Analyse bedarf. Kann entlang des Beispiels doch angenommen werden, dass Kristin dem namenlosen Teilnehmer mit ihrem Expertenwissen mehr Hilfe anbieten kann als umgekehrt. Gleichzeitig kann jedoch vermutet werden, dass Kristin wiederum von anderen Teilnehmern Unterstützung erfährt. Durch das wechselseitige Beziehungsverhältnis und den kollegialen Austausch innerhalb der Gruppe – soviel kann an dieser Stelle gesagt werden – entsteht jedoch eine Verfestigung von deren Struktur.
7.5.3
Onlinebasierte Eingebundenheit und die Rolle von Validierung durch austauschbare Akteursvielzahl (Modus II)
Im Kontext ihrer Mobilität greifen die Interviewten auf vielfache Weise auf Onlinesuchmaschinen, Chatkanäle oder Onlineforen zurück – dies wurde voranstehend bereits besprochen (s. Abschn. 7.5.1). Unter Berücksichtigung weiterer Handlungspraktiken zeigt sich jedoch auch, dass einige der Befragten die besagten Onlinetools (nur) als ersten Einstieg für Kontaktaufnahmen nutzen, um etwaige Beziehungen später zu intensivieren (primär Modus I, s. bspw. Malte und dessen Beziehung zu
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
Hannes; Abschn. 6.1.3 u. 6.1.5). In anderen Erzählverläufen bildet sich hingegen ab, dass die Befragten im Rahmen ihrer Recherchearbeiten kein Interesse am Beziehungsaufbau zu anderen Personen hegen. Stattdessen bleiben ihre Onlineaktivitäten auf einer anonymen Ebene verhaftet. Das soll heißen, dass sie primär auf Onlinequellen zurückgreifen, mit welchen sie eine breite Masse von Personen, welche prinzipiell austauschbar sind, erreichen können (primär Modus II).
7.5.3.1 Vielzahl onlinebasierter Kontakte als austauschbare Informations- und Validierungsquelle Zu jenen Personen, welche sich onlinebasiert den Zugang zu einer Vielzahl von Personen bzw. deren Meinungen, Erfahrungen und Wissen zu Nutze machen, gehört Isabella. Exemplarisch erzählt sie bspw., wie sie nach Ankunft in der thailändischen Stadt Chiang Mai, für organisatorische Maßnahmen auf eine Facebookgruppe mit entsprechend lokalem Bezug zurückgreift: I: “So, logistically, I can solve problems quite easily on my own and the internet is a great resource. If I have a problem, I tend to google things first, reach out see online first to see if I can find my own answer, […] um, and then I might post to some Facebook groups for their help as well” (Isabella, A. 213).
Und weiter: I: “Okay. Um (…) er, I’d probably put (…) it’s just what, um, the Facebook groups in94 (.) because that’s like, you know, that’s how I found my bicycle, and that’s, yeah and I need a set of wheels to get around. […] So that’s how I found my bike” (Isabella, A. 241).
Am Beispiel von Isabellas Fahrradsuche zeigt sich exemplarisch, inwiefern diese das Wissen eines Kollektivs – also der Facebook-Gruppenmitglieder – nutzt, um an für sie relevante Informationen zu gelangen. Mit dem „post 95 “ in einer Facebookgruppe, also der Beschreibung ihres Anliegens innerhalb einer online-einsehbaren Gruppe gelingt es ihr, eine Vielzahl ortskundiger Personen zu erreichen. Selbst wenn nicht jeder der dortigen Mitglieder eine Antwort auf ihre Frage bereithält, kann doch angenommen werden, dass mit Höhe der Anzahl der Gruppenmitglieder die Wahrscheinlichkeit, einen geeigneten Hinweis zu erhalten, steigt – bspw. zu 94 Bezugnehmend
auf Visualisierung des Symbols Facebook in der Netzwerkkarte. soziale Netzwerk Facebook bietet seinen Nutzern eine Funktion, die es ermöglicht, mit einer Nachricht eine breite Masse von Personen zu adressieren. Wird bspw. innerhalb einer Facebook-Gruppe eine Nachricht (ein sog. Post) veröffentlicht, können alle Gruppenmitglieder den entsprechenden Text einsehen sowie darauf antworten. 95 Das
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
313
entsprechenden Verkaufsstellen in Chiang Mai. Reagieren mehrere Personen mit einer Nachricht auf ihre Frage und verweisen bspw. mit einer Empfehlung auf den gleichen Fahrradshop, erhält Isabella zugleich eine Validierung der neu gewonnenen Information. Diese Strategie funktioniert auch dann, wenn die Verfasserin eines sog. Posts selbst über keinerlei Ortskenntnisse verfügt bzw. keine lokalen Kontakte unterhält. Ein anderes Beispiel zeigt sich im Gespräch mit Sinan. Auch er macht sich das Wissen eines Kollektivs zu Nutze. In seinem Fall handelt es sich dabei um den Chatkanal #nomad (s. bspw. auch Gerrit in Abschn. 6.2.5.1). Interessant ist seine Vorgehensweise im Vergleich zu Isabellas Erzählung auch deshalb, da so transparent wird, inwiefern die Art der Informationsgewinnung je nach Medium variieren kann. Das soll heißen, dass in Facebook veröffentlichte Beiträge zeitlich uneingeschränkt bestehen bleiben, während in #nomad geführte Diskussionen nur temporär online einsehbar sind. Diesen Umstand sowie dessen Folgewirkungen beschreibt Sinan in der nachstehenden Sequenz: S: “[T]he point was you know on #nomad there are lots of people asking the same questions again and again and again and again again again and the history just dies and than and than those people are new/ […] I mean I was there, I was the one asking all those things. I don´t 96 know anything. And I got a lot of help from there. But now I´m here and I´m kind of tired of hearing the same stories again and again” (Sinan, A. 96–98).
Ähnlich wie Isabella profitiert also auch Sinan vom Wissen einer Vielzahl ihm unbekannter Personen sowie deren Bereitschaft, auf entsprechende Fragen Auskunft zu geben. Als charakteristisch bildet sich dabei ab, dass die jeweiligen Antwortgeber prinzipiell als austauschbar gelten. Verbindlichkeiten gegenüber Einzelpersonen werden nicht eingegangen. Ebenso wenig geht es dabei um die Einholung von persönlichen Ratschlägen, sondern vielmehr um eine möglichst breit gestreute und effektive Form der Informationsgewinnung.
7.5.3.2 Vielzahl onlinebasierter Kontakte und austauschbare in-person Treffen Auf ganz ähnliche Weise, wie sich die Interviewten für allgemeine Recherchezwecke Onlinetools zu Nutze machen, greifen einige der Befragten auch zur Kontaktierung einer Vielzahl von Personen und späteren Verabredung im lokalen Raum auf etwaige Mittel zurück. Von solch einer Vorgehensweise berichtet
96 Es kann angenommen werden, dass sich Sinan hier auf eine Situation in der Vergangenheit beziehen will.
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bspw. Isabella, als sie sich nach ihrer Ankunft in Chiang Mai auf Kontaktsuche zu Gleichgesinnten begibt. Sie erzählt: I: “Mm, so when I first came here [to Chiang Mai], I was like, okay, I got an apartment, I’ve got enough money to last a month, so now I just need friends. Um, so there’s like five or six different Facebook groups (..) and, um, they’re like Shanghai Digital Nomads and I think you join a few of them, and I just went through and joined every single one, and then I posted in every single one. I said, “Hey, I’m new. I just arrived here. I don’t know anyone. Who wants to go for a beer?” and that was it. And then that night I went out, and then the next night I went out, and the third night I went out” (Isabella, A. 218).
Mit der hier von Isabella beschriebenen Vorgehensweise gelingt es ihr, eine Vielzahl ihr zuvor unbekannter Personen zu kontaktieren – wie es scheint mit Erfolg. Die Einzelperson als solche ist dabei zunächst austauschbar. Auffällig ist außerdem, dass ihre Strategie stark an die zuvor vorgestellte Handlungsweise von Ricardo, der sich mittels #nomad für einen Jazz-Konzertbesuch in Chiang Mai verabredet (s. Abschn. 7.2.2), erinnert. Weiter zeigt sich in Isabellas Erzählung, dass sie die von ihr beschriebene Handlungsstrategie auf verschiedene Kontexte überträgt. Anekdotisch erzählt sie: I: “[M]y birthday meal last week, for example, I just put an event up97 and I said, you know, “Bring a friend”. […] literally like forty people turned up […] it was great. So, here it’s very fluid and everyone comes along and everyone gets involved” (Isabella, A. 219).
Wie das Beispiel zeigt, ergreift Isabella die Initiative, um ihren Geburtstag – trotz Aufenthalt in einer für sie neuen Stadt – nicht alleine feiern zu müssen. Auch wenn sie es nicht explizit ausspricht, liegt auch hier die Vermutung nahe, dass es sich bei ihren Gästen um andere Mobile respektive Digitale Nomaden handelt. Außerdem erinnert das hier von Isabella skizzierte Event an die von Gerrit beschriebene Barbecue-Veranstaltung in Chiang Mai. Auch dort waren eine Vielzahl anderer mobiler Onlinearbeiter anwesend (s. Abschn. 6.2.6.1). Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass ein Konsens unter den Facebook-Gruppenmitgliedern hinsichtlich der Kommunikationsform zu bestehen scheint. Andernfalls hätte Isabella keine Gäste an ihrem Geburtstag empfangen können. Ähnlich wie Isabella berichtet der Interviewpartner Joshua, zum Zeitpunkt des Interviews ebenfalls in Chiang Mai ansässig, Folgendes: “Facebook and Tinder are both tools like
97 Bezugnehmend
auf Funktion innerhalb von Facebook-Gruppe.
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for meeting people” (Joshua, A. 375). Darüber hinaus beschreibt er, wie er die Dating-Plattform Tinder auch zur Verabredungen freundschaftlicher Treffen nutzt: J: “[A] very useful tool is Tinder. […] [I]t’s like almost a useful tool just for making friends. And I almost think that Tinder should have something like, you know, to indicate you’re just looking for friends because it would just be really useful, um, in that case, and then have a ‘friend date’ or whatever. Um, but, yeah, like and I’ve talked to a few other people that have said the same thing that they’re just using Tinder to make friends, so it’s, for travelling, really useful” (Joshua, A. 138 u. 144).
Exemplarisch zeigen die beiden Beispiele, inwiefern sich je nach Anliegen ein Rückgriff auf bestimmte onlinebasierte Kommunikationskanäle als sinnvoll erweisen kann. Grundlegende Voraussetzung für die Realisierung eines tatsächlichen in-person-Treffens im lokalen Raum bilden dabei zwei Aspekte: Erstens die Anwesenheit einer Vielzahl von Gleichgesinnten vor Ort, sowie zweitens ein gemeinsam geteiltes Verständnis über die in den Onlinekanälen vorherrschenden Kommunikationspraktiken. So spiegeln sich lokale Infrastrukturen bzw. die lokale Anwesenheit anderer Gleichgesinnter auch in den onlinebasierten Praktiken der Interviewten wider; wurde unter Abschnitt 7.2.2 doch bereits gezeigt, inwiefern geographisch disperse Hubs (identifiziert als Cluster) von den Befragten ein gewisses Maß an Eigeninitiative und onlinebasiertes Kommunikationsgeschick zur Herstellung sozialer Kontakte fordern. Inwiefern aus den auf diese Weise vielzähligen realisierten und doch austauschbaren Kontakten nachhaltige Beziehungen zu Einzelpersonen entstehen, gilt es weiter zu beobachten (s. hierzu auch Abschn. 7.3.2). Basierend auf den Beispielen in diesem Kapitel kann jedoch angenommen werden, dass Events wie Isabellas Geburtstag zwar zur Knüpfung neuer Kontakte beitragen, jedoch nicht mit allen 40 Geburtstagsgästen eine innige Freundschaftsbeziehung entstehen wird. Die Gäste für die beschriebene Feier können daher als austauschbar betrachtet werden.
7.5.4
Zusammenfassung
Für einen allgemeinen Einblick in die onlinebasierte Alltagswelt der Befragten wurde in diesem Kapitel zunächst ein Blick auf deren alltäglichen Umgang mit internetfähigen Geräten und entsprechenden Onlinetools geworfen; bilden neue Technologien doch ein grundlegendes – wenn auch nicht ausschließliches – Handwerkszeug ihrer Handlungs- und Arbeitspraktiken im Kontext von Mobilität. Dabei wurde außerdem ersichtlich, dass alle der Interviewten nicht nur über sehr gute Kenntnisse im Umgang mit neuen Technologien verfügen, sondern diese auch als
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deren unerlässliche Alltagsbegleiter erscheinen. Laptop und Smartphone98 wird dabei ein zentraler Stellenwert zuteil. Denn insbesondere Ersteres ist „ihr Business, es ist der Ort, an dem sie arbeiten“ (Liegl 2011: 183). Ohne einen Internetzugang werden die portablen Geräte für die Akteure jedoch weitestgehend nutzlos. Ist eine Onlineverbindung jedoch hergestellt, bewegen sich die Befragten mit persönlichen Netzprofilen auf Social Media-Seiten, diskutieren in Onlineforen, beteiligen sich an Gesprächen in Chatkanälen oder kommunizieren mit Kunden. Deutlich bildet sich in diesem Zusammenhang außerdem jene Dimension ab, welche Urry als „communicative travel“ (2007: 47) benennt. Kommunizieren die Interviewten doch auf vielfältige Weise, sei es via Textnachrichten an Einzelpersonen, den Austausch von Bildern oder die Teilnahme an Gruppendiskussionen, onlinebasiert. Geographische Raumdistanzen spielen dabei keine Rolle (vgl. Pries 2010: 14). Dieser Aspekt bringt darüber hinaus eine weitere interessante Erkenntnis mit sich. Denn während Urry von „physiscal movement“ (2007: 47), womit er den Transport von Objekten aller Art meint, spricht, zeigt sich entlang des empirischen Materials, dass einige solcher Objekte mittlerweile onlinebasiert und somit in digitaler Form zugänglich sind; dementsprechend anstelle einer physischen Form der Fortbewegung onlinebasiert mobil sind. Hierzu zählt bspw. der Gebrauch von Google Maps (s. Felderfahrung in Abschn. 7.5), was in Printformat einer Straßen- oder Landkarte gleicht, an die Stelle von Aktenordner rücken Cloudspeicher (vgl. Makimoto 2013: 41) und VHS-Kassetten werden von Streamingdiensten wie Netflix abgelöst (s. empirisches Beispiel unter Abschn. 8.1.2). So gelingt es den Akteuren, eine weltweite onlinebasierte Eingebundenheit (vgl. Chua et al. 2011; Rainie & Wellman 2014; Wellman 2001), welche prinzipiell 24 Stunden, sieben Tage pro Woche (vgl. Rainie & Wellman 2014: 226 u. 228) und unabhängig des eigenen geographischen Aufenthaltsortes zugänglich ist (vgl. ebd.: 278), herzustellen. In den anschließenden beiden Abschnitten dieses Kapitels wurden die identifizierten onlinebasierten Handlungsmuster und Kommunikationsgewohnheiten der Akteure, entlang Modus-typischer Charakteristika vorgestellt. Der Fokus richtete sich dabei auf jüngst geknüpfte Kontakte99 . Dabei zeigte sich, dass auch hier Personen bzw. deren Handlungspraktiken, welche primär Modus I zugeordnet
98 Wenngleich die Interviewten nicht explizit auf ihr Smartphone verweisen, kann angenommen werden, dass diese sich im Rahmen ihrer Erzählungen zu bspw. der Suche von Wegstrecken (wie von Ricardo (A. 76–78) oder Paulina (A. 66) erwähnt), auf die Nutzung ihres Smartphnes beziehen. Ist dies in diesem oder ähnlichen Fällen doch weitaus handlicher als ein Laptop zu benutzen. 99 Die Beziehungspflege zu langjährigen Kontakten (bspw. zu Eltern) mittels onlinebasierter Kommunikation wurde in Abschnitt 7.3 thematisiert.
7.5 Onlinebasierte Eingebundenheit im Kontext von Mobilität
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werden können, sich durch einen reziproken Austausch mit konkreten Einzelpersonen, gegenseitiger Unterstützung sowie der Herstellung von Verbindlichkeiten und Nachhaltigkeit in sozialen Beziehungen auszeichnen. Akteursaktivitäten, die unter Modus II zusammengefasst werden können, sind hingegen durch eine Kommunikationsform gekennzeichnet, in welcher der Einzelne als austauschbar gilt. Jene Akteure, welche auf Onlineplattformen für Recherchezwecke zurückgreifen, wissen in der Regel, wonach sie suchen und machen sich das Wissen einer Vielzahl von Forenteilnehmern zu nutze. Die so ermittelten Informationen werden darüber hinaus durch die unterschiedlichen Chatdiskutanten validiert Die Einzelperson bleibt in diesem Zusammenhang weitestgehend anonym und austauschbar. Resümierend lässt sich festhalten: Unter Einnahme dieser moditypischen Perspektive wird transparent, dass sich das bereits auf geographischer Ebene identifizierte Muster auch im onlinebasierten Raum wiederholt (s. zu Modus I Abschn. 7.1.1 u. 7.2.1, zu Modus II Abschn. 7.1.2 u. 7.2.2). Gemein ist den Handlungsstrategien der ModiVertreter hingegen, dass sie onlinebasiert auf jüngst geknüpfte Beziehungen bzw. auf das Wissen ihnen zuvor unbekannter Personen für ihre Informationsgewinnung zurückgreifen. So wird erneut deutlich, dass neue anstelle von langjährigen Kontakten, die für die Interviewten relevanten Impulse bieten und als nicht-redundante Informationsquellen dienen (vgl. Granovetter 1995 [1974]) (s. auch Abschn. 7.2). Unter Reflexion bestehender Literatur erweist sich außerdem als auffällig, dass in Forschungsarbeiten zu anderen mobilen Personengruppen (s. Abschn. 4.1) die Dimension onlinebasierter Handlungspraktiken oftmals noch bzw. in jüngster Vergangenheit als eine sich entwickelnde Facette besprochen wird. Das soll heißen, dass in der Backpacker-Literatur bspw. von einer Transformation des Backpackers hin zum „Flashpacker“ (Jarvis & Peel 2010; Richards 2015: 341) gesprochen wird. Ein anderes Beispiel bietet die Aussage von Diminescu, welche der Migrationsforschung zugeordnet werden kann: „It is more and more common for migrants to maintain remote relations typical of relations of proximity and to activate them on a daily basis. The paradigmatic figure of the uprooted migrant is yielding to another figure: the connected migrant“ (Diminescu 2008: 565). Interessant sind Aussagen wie diese insbesondere deshalb, da sie zeigen, dass das, was für Digitale Nomaden längst als Selbstverständlichkeit gilt – nämlich kontinuierlich und unabhängig von ihrem Aufenthaltsort onlinebasiert vernetzt zu sein – in anderen Forschungsbereichen als Entwicklung unter Beobachtung steht.
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Empirisch-methodische-Zwischenreflexion: Persönliche Netzwerke im Erzählverlauf
Abschließend zu Kapitel 7 werden die bis dato vorgestellten Ergebnisse einer kurzen Reflexion unterzogen. Denn wie sich an einigen Stellen in den vorangegangenen Subkapiteln andeutete, gelangt die Analyse in der vorliegenden Arbeit auf Grundlage des erhobenen empirischen Datenmaterials hin und wieder an ihre Grenzen. Als Gründe erweisen sich hierfür insbesondere zwei Aspekte als besonders relevant: (1) Die noch junge Entwicklung des Digitalen Nomadentums im Allgemeinen sowie (2) die mit der Befragung eruierte persönliche Netzwerkeingebundenheit eines Akteurs. Hinsichtlich (1) Ersterem deutete sich bereits während des Feldforschungsaufenthalts (s. Abschn. 5.2.1) und später im Verlauf der Interviews an, dass dem Jahr 2014 eine zentrale Rolle in den Erzählverläufen zuteil wird. Gilt dieses doch als das Jahr der ersten ausgetragenen Digitalen Nomaden-Konferenz100 , der Veröffentlichung der Onlineplattform Nomad List101 und der Gründung des zugehörigen Chatkanals #nomad. Darüber hinaus ist seit jüngster Vergangenheit ein rasanter Anstieg an weltweiten Coworking-Angeboten zu verzeichnen (vgl. Foertsch 2013; 2015; 2017). Auf Akteursebene bedeutet dies wiederum, dass sich für die Interviewten ab besagtem Jahr neue Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten bieten, wie sie zuvor nicht vorhanden waren. Einige der Akteure nehmen diese dankend als zusätzliche Austauschmöglichkeiten (bspw. Gerrit und Raik) an. Andere erfahren so hingegen erste Impulse für ihren Aufbruch in eine ortsflexible Lebensführung (bspw. Malte und Kristin). Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch auch, dass viele der Befragten zum Zeitpunkt der Interviewdurchführung im Sommer 2015, auf eine erst junge Mobilitätsgeschichte zurückblicken. Der zweite oben angesprochene Punkt (2) ist auf die mittels des entwickelten Erhebungsinstruments erhobene Datengrundlage zurückzuführen. Denn soziale Netzwerke weisen im Allgemeinen keine „natürliche Begrenzung“ (Diaz-Bone 1997: 48; Herv. im Orig. nicht übernommen) auf. Übertragen auf das Forschungsinteresse in dieser Untersuchung bedeutete dies, einen Erzählstimulus, der die notwendige Offenheit und gleichzeitig die zur Beantwortung der Forschungsfragen relevanten Informationen zu Tage förderte, zu setzen (s. Abschn. 5.1.2). Daraus ergab sich die Herausforderung, abzuwägen, welche Akteure und Entitäten in die Erhebung der ego-zentrierten Netzwerke einfließen sollen. Denn anders als bspw. bei der Befragung von Schülern zu ihren Beziehungen zu Mitschülern ihrer Klasse, 100 Quelle Digitale Nomaden-Konferenz: http://www.dnx-berlin.de/DNX-Pressemitteilung. pdf. 101 Quelle Crunchbase u. Levels: https://www.crunchbase.com/organization/nomad-list; https://levels.io/product-hunt-hacker-news-number-one/.
7.6 Empirisch-methodische-Zwischenreflexion: Persönliche Netzwerke …
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mit welcher wiederum ein klar absteckbarer Erhebungsrahmen vorgegeben ist (vgl. Diaz-Bone 1997: 48; Jansen 2003: 69), ist die Zugehörigkeit relevanter Erhebungseinheiten nicht immer eindeutig. So auch in der vorliegenden Arbeit. Der explorativen Forschungshaltung folgend, wurde schließlich der Entschluss gefasst, die zu Befragenden selbst über die für sie relevanten Alteri im Kontext ihrer Mobilität entscheiden zu lassen – was ebenfalls als Stimuli betrachtet werden kann (vgl. Straus 2006: 485). Im Umkehrschluss bedeutet dies jedoch wiederum, dass ein konkreter Netzwerkausschnitt, nämlich der für die Interviewten im Kontext ihrer Mobilität als relevant geltend, erhoben wird. Dementsprechend ist vorstellbar, dass bspw. etwaige Schulfreunde aus der Vergangenheit, weitläufige Bekannte, ehemalige Arbeitskollegen, flüchtige Begegnungen o. ä. keine Berücksichtigung im Erzählverlauf finden102 . Als Resultat aus diesen beiden Umständen zeigte sich in den voranstehenden Ausführungen, dass die Befragten vielfach auf jüngst geknüpfte Beziehungen verweisen. Einige dieser Kontakte scheinen sich laut den Erzählverläufen zu intensivieren. Da jedoch viele der Interviewten auf eine relativ kurze Mobilitätszeit zurückblicken, sind auch die Beziehungen durch eine entsprechend junge Beständigkeit gekennzeichnet (s. Abschn. 7.3). Deren Nachhaltigkeit, bspw. über mehrere Jahre hinweg und im Kontext sich verändernder Lebensumstände (vgl. Rainie & Wellman 2014: 136), gilt es daher in weiteren Studien zu beobachten. Gleiches gilt für die von den Interviewten angesprochene mehrfache Rückkehr an drei bis vier weltweit verteilte Orte (s. Abschn. 7.4). Während Raik diese Praktik bereits umsetzt, gilt es weiter zu fragen, welche Rolle bspw. Digitalen Nomaden-Hubs in diesem Zusammenhang künftig zuteil werden wird. Etwa inwiefern Personen wie Raik Digitale Nomaden-Hubs als regelmäßige Anlaufstellen in ihre Mobilität langfristig integrieren werden. Werden diese Überlegungen außerdem unter einer weitläufigeren Kontextualisierung betrachtet, wird deutlich, dass erst durch die onlinebasierte Transparentwerdung des Themas Digitales Nomadentum die Ausbildung sozialer Beziehungen zwischen entsprechend Mobilen und/ oder Interessierten in Gang gerät (s. z. B. Abschn. 6.1.3, 7.4.2). Im Umkehrschluss erklärt dies die vielzähligen 102 Trotz dessen, dass diese existent und demzufolge Teil des sozialen Umfelds der Befragten
sind. Einen Hinweis auf solch einen Umstand findet sich bspw. in folgender Aussage von Kristin: „[I]ch würde kein Neuen [zur NWK] hinzufügen. […] Also es sind Menschen, die kenne ich, äh, 24 Stunden. (I: Mhm, Mhm.) In keiner Art und Weise, äh, würde ich sagen, dass ich sie kenne. Geschweige denn, dass sie mich kennen“ (Kristin, A. 670–674). Aus der Perspektive von Kristin wird den besagten Personen folglich keine relevante Rolle zuteil. Dennoch kann angenommen werden, dass erst durch die Möglichkeit zur Begegnung mit besagten Personen die Chance zur Herstellung neuer Kontakte entsteht.
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Mobilitätshandlungs- und Netzwerkmuster – Verdichtung durch …
jüngst geknüpften Beziehungen sowie den noch in den Kinderschuhen steckenden Entwicklungsverlauf des Phänomens. In gewisser Weise erwächst das Digitale Nomadentum so aus sich selbst heraus. Wird dieser Umstand auf die visuelle Ebene, also unter Hinzunahme der Netzwerkkarten, übertragen, zeigt sich ein weiterer interessanter Aspekt. Denn entlang der dort abzulesenden Reihenfolge der Akteursvisualisierung bildet sich ab, dass jüngste Beziehungen meist vor langjährigen Kontakten (bspw. zu Familienmitgliedern) im Erzählverlauf benannt werden (s. Abschn. 6.1, 6.2 o. 7.1). Dieser Umstand ist auf die Relevanzzuschreibung aus der Perspektive der Befragten im Kontext von deren Mobilität zurückzuführen. Denn wie besprochen, vermitteln neue Kontakte nicht-redundante und somit für die Interviewten relevante Informationen (vgl. Avenarius 2010a: 100; Borgatti & Lopez-Kidwell 2011: 42; Granovetter 1995 [1974]). Visuelle und narrative Ebene ergänzen sich dementsprechend. Im Rahmen wissenschaftlicher Auseinandersetzungen wurde die Reihenfolge von abzufragenden bzw. benannten Akteuren zwar bereits in Diskussionen aufgeworfen (vgl. Töpfer & Hollstein 2016: 271), an Literatur mangelt es bislang jedoch. Dementsprechend gilt es auch auf methodischer Ebene weitere Diskussionen zu führen. Im Allgemeinen wurde außerdem deutlich, dass es weiterer Langzeitbeobachtungen bedarf, um Aussagen über die Dauer einer mobilen Lebensführung als Digitaler Nomade treffen zu können. In der vorliegenden Arbeit deuteten sich potentielle Handlungsveränderungen, benannt als Modiwechsel, meist nur an. Bspw. als Joshua in Erwägung zieht, nach seinen auf eigene Faust organisierten Mobilitätsschritten an dem Programm Hacker Paradise teilzunehmen (s. Abschn. 7.2.3). Da Joshua bei dieser Überlegung seinen Blick jedoch in die Zukunft richtet, konnte zu dessen tatsächlicher Umsetzung nichts gesagt werden. Dementsprechend bleiben Fragen wie bspw. wann, ob überhaupt und unter welchen Umständen Modiwechsel in Erscheinung treten, offen. Ziel dieser kurzen Reflexion war es, die auf Basis der im Analyseprozess gewonnenen (Grenz-)Erkenntnisse festzuhalten und aufzuzeigen, inwiefern aus dem vorliegenden Datenmaterial sowohl Grenzen – die wiederum auf den Entwicklungsstand des Digitalen Nomadentums im Allgemeinen zurückzuführen sind – als auch weitere interessante Fragen hervorgehen.
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im Kontext von Mobilität und Netzwerkeingebundenheit
In diesem Abschnitt erfolgt mit Blick auf das Datenmaterial nun ein Perspektivwechsel (verglichen mit Kap. 6 und 7). Denn es rücken Elemente ins Betrachtungszentrum, welche von den Interviewten zwar implizit angesprochen, in den Erzählverläufen jedoch (meist) nicht im Detail erläutert oder reflektiert werden. Dies ist im Allgemeinen darauf zurückzuführen, dass es sich hierbei um Thematiken und Zusammenhänge handelt, welche nicht im unmittelbaren Interessens- oder Aufmerksamkeitsfokus der Befragten stehen. Hinsichtlich des Analyseblicks bedeutet dies, dass zunächst Elemente, welche auf der Makroebe (wie bspw. staatliche Bestimmungen) zu verorten sind bzw. deren Wechselwirkungen mit Akteursattributen und Handlungspraktiken1 , im Zentrum der Beleuchtung stehen (s. Abschn. 8.1). Anschließend werden unter Berücksichtigung aktueller Entwicklungen und dem sich um das Thema Digitales Nomadentum entwickelnden Diskurs, die Konstruktionsleistungen der Interviewten beleuchtet (s. Abschn. 8.2). Mit der unter dem Perspektivwechsel eingenommenen Betrachtungsweise wird das Ziel verfolgt, die Herausbildung einer mobilen Lebensführung, wie sie von den für diese Arbeit befragten Akteuren praktiziert wird, umfassend verstehen zu können.
8.1
Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
Eingangs wurde bereits besprochen, inwiefern die befragten Akteure, deren Mobilitäts- und Handlungspraktiken sowie deren jeweilige persönliche Netzwerkeingebundenheit nicht ohne eine Berücksichtigung historisch gewachsener 1 Im
allgemeinen Sprachgebrauch der Netzwerkanalyse kann zwischen drei Ebenen unterschieden werden: Die Mikroebene stellt den Einzelakteur, die Mesoebene Beziehungen und die Makroebene den weiteren sozio-strukturalen Kontext dar (vgl. Ryan & D’ Angelo 2018: 153). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_8
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
Rahmenbedingungen gedacht werden können (vgl. Cresswell 2010: 29; Emirbayer & Goodwin 2017: 321; Ryan & D’Angelo 2018: 154) (s. Abschn. 2.1.2 u. 3.4.2); findet Mobilität doch nicht in einem Vakuum, sondern stets eingebunden in soziale Netzwerke statt (vgl. Bilecen & Amelina 2018: 598; Bilecen et al. 2018: 1; Ryan & Mulholland 2014: 149). Hierzu zählen bspw. der gesetzgebende, politische und ökonomische Rahmen (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Mau 2007: 82 f.; Pachucki & Breiger 2010; Wellman 1999b: 34). Gleiches gilt für die unmittelbar mit den Akteuren verknüpften Attribute (vgl. Herz 2010: 43), wie bspw. deren Nationalität. Diese Aspekte nehmen wiederum Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsinitiativen respektive Agency der Akteure. Zu den Überlegungen der Zusammenführung der einzelnen Facetten in der nachstehenden Beschreibung ist in Abbildung 8.1 eine Übersicht skizziert.
Abbildung 8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
In den nachstehenden Subkapiteln wird zunächst das Verhältnis zwischen Akteursattributen und Rahmenstruktur besprochen (s. Abschn. 8.1.1). Anschließend werden mögliche Wechselwirkungen zwischen individuellen Akteursinteressen und der besagten Rahmenstruktur beleuchtet2 (s. Abschn. 8.1.2). Dabei wird sich zeigen, inwiefern Rahmenstruktur, Akteursattribute und Akteurshandeln im Kontext der Mobilität der Befragten ineinandergreifen und einen wesentlichen Einfluss auf deren Mobilitätsgestaltung nehmen (s. Abschn. 8.1.3). 2 Die
Vorstellung ausgewählter Aspekte erfolgt in Orientierung an den Interviewerzählungen und den dort aufgeworfenen Thematiken. Dementsprechend wird kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.
8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
8.1.1
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Mobilität begünstigende Bedingungen: Zur Wechselwirkung von Akteursattributen und Rahmenstruktur
Zu jenen in den Interviews vielfach in Erscheinung getretenen Akteursattributen zählt sowohl die Nationalität der Befragten als auch deren (Aus)Bildungshintergrund3 . Bei Betrachtung von Ersterem gilt es außerdem zu berücksichtigen, dass mit der jeweiligen Nationalität einer Person immer auch die Beantragungsmöglichkeiten eines Visums bzw. Reisepasses verknüpft sind. In der vorliegenden Arbeit ist dieser Aspekt nicht zuletzt deshalb von besonderer Relevanz, da die Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätspraktiken ein zentrales Element der mobilen Lebensführung der Interviewten bilden. Je nach Staatsbürgerschaft können die Einreisebestimmungen für ein Land jedoch stark variieren. Dies zeigt ein Blick auf den Index des Global Passport Power-Rankings4 . So geht aus dem dort aufgeführten Ranking bspw. hervor, dass deutsche Staatsbürger 158 Länder ohne vorherige Visabeantragung oder mit Visa-on-arrival, also dem Erhalt eines Visums bei Ankunft in einem Land, bereisen können. Damit liegt Deutschland auf Platz eins des Index. Die Slowakei liegt hingegen bspw. auf Platz zehn und Brasilien auf Platz 175 . Diese Angaben machen bereits deutlich, inwiefern die Interviewten in Abhängigkeit ihrer Nationalität vor unterschiedliche Herausforderungen gestellt sind. Oder anders formuliert: Es zeichnet sich ab, inwiefern gesetzliche Regelungen die Mobilität der Akteure mitgestalten. Dementsprechend scheint es wenig verwunderlich, dass das Thema Reisepass unter den Interviewten ein vielfach diskutiertes Kriterium bildet. Ein solches Beispiel zeigt sich exemplarisch in der Konversation zwischen dem Interviewpartner Antoni mit polnischen Wurzeln und seinem Freund Sinan mit russisch-libanesischer Staatsbürgerschaft. Im Rahmen einer heiteren Diskussion (mit ironischem Unterton) geben sie ihre Meinung zur Tauglichkeit verschiedener Reisepässe wie folgt preis: A: “I would like to have more passports, but it’s/” 3 Das Attribut Geschlecht wird keiner gesonderten Betrachtung unterzogen. Hierfür erscheint
das vorliegende Datenmaterial in der qualitativ ausgerichteten Studie nicht repräsentativ. Vermutet werden kann jedoch, dass Geschlechtsunterschiede einen möglichen Einfluss auf die Handlungspraktiken der Interviewten nehmen. Diese Annahme resultiert aus Beobachtungen von Chatverläufen, in welchen Themen wie Sicherheit für Frauen im Kontext von Mobilität hin und wieder Erwähnung finden (vgl. z. B. in #nomad). 4 Quelle Passport Index: https://www.passportindex.org/byRank.php. 5 Alle Angaben beziehen sich auf das Jahr des Feldforschungsaufenthalts 2015. Für eine vollständige Auflistung aller Länder siehe: https://www.passportindex.org/byRank.php.
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
S: “You wanna have thai passport?” A: “(laughter) not really” S: “(laughter) Eyh it’s good you can go around south east asia (ironisch)/” A: “But it’s better than [a] lebanese [-Passport] (ironisch)” (Sinan und Antoni, A. 60– 64).
Wird zu diesem Dialog das Global Passport Power-Ranking als Kontextinformation hinzugezogen, zeigt sich, dass Personen mit Besitz eines thailändischen Reisepasses im Jahr 2015 eine visafreie Einreise in lediglich 72 Länder genehmigt wird6 ; dabei handelt es sich um deutlich weniger Länder wie bspw. für Personen mit einem deutschen Reisepass. Dies könnte die ablehnende Haltung von Antoni und Sinan gegenüber einem „thai passport“ erklären. Nachdrücklich unterstreicht Sinan: „I would never want to become Thai. Like have thai passport“ (Sinan, A. 54). Einen Gegenvorschlag macht hingegen Antoni, als er sagt: „I like I like UK passport as well, but not as my only passport“ (Antoni, A. 66). Der Passport-Index zeigt, dass im Jahr 2015 mit einem UK-Reisepass 157 Länder besucht werden konnten. Dies entspricht Platz zwei des Rankings7 . Neben der Relevanz eines entsprechend nutzbaren Passports für die Realisierung bestimmter Mobilitätsschritte wird entlang des Dialogs außerdem das Detailverständnis von Antoni und Sinan zum Thema Reisepass deutlich. Ein weiteres Beispiel diesbezüglich zeigt sich in folgendem – weiterhin heiterem – Konversationsausschnitt: A: “Oh Sinan it’s very easy to get a passport from Panama.” S: “NO yes y/ for polish people. Not for russian-lebanese (laughter).” A: “(laughter)” S: “You go pay 5000 bucks, something like that and you invest for a company.” A: “(laughter) Ja, ja. You have to spend one day a year on Panama.” S: “That’s a lot (lacht ironisch)”
6 Quelle
Passport Index History: https://www.passportindex.org/byHistoric.php. Der Global Passport Power Rank zeigt außerdem, dass für das Jahr 2015 ein polnischer Staatsbürger eine visafreie Einreise in 150 Ländern erhält. Eine Person mit einem libanesischen Reisepass erhält hingegen eine visafreie Einreise in lediglich 40 Länder. 7 Quelle Passport Index History: https://www.passportindex.org/byHistoric.php. Weshalb Antoni mehrere Reisepässe besitzen möchte, geht aus dem Interview nicht hervor. Angenommen werden kann jedoch, dass mit dem Besitz mehrerer Passports mehr (Mobilitäs)Möglichkeiten einhergehen.
8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
325
I: “(laughter)” A: “Not full (..) just for (laughter)/” S: “Land, grab a coffee and come back.” A: “Jup” (Sinan und Antoni, A. 70–79).
Exemplarisch zeigt sich auch hier, dass die Nationalität einer Person Einfluss auf die Beantragungsmöglichkeiten bestimmter Reisepässe und somit auch auf deren Mobilitätshandeln nehmen kann. Dieser Aspekt des Privilegs einer „citizenship of powerful nation-states“ (Benson 2015: 13) wurde auch in anderen Forschungsarbeiten zu Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätspraktiken als zentral identifiziert (vgl. Benson 2015; Croucher 2012); gilt also nicht nur für Digitale Nomaden als zentral. Darüber hinaus wird im angeführten Textauszug deutlich, dass es u. U. bestimmter finanzieller Mittel bedarf; alles Aspekte, über die Antoni und Sinan bestens Bescheid zu wissen scheinen – andernfalls wäre ein Dialog dieser Art nicht möglich. Wie oben erwähnt, bildet auch der (Aus-)Bildungshintergrund der Befragten bzw. deren Fachwissen eine grundlegende Voraussetzung zur Ausübung einer ortsflexiblen Lebensführung. Denn erst durch die Aneignung von konkreten Kenntnissen (bspw. dem Erlernen einer Programmiersprache) wird die Umsetzung onlinebasierter Arbeitstätigkeiten möglich. So berichtet bspw. Gerrit von einem Studium im Bereich „Softwareentwicklung“ (A. 26), Raik verdient sein Geld mit „AffiliateMarketing“ (A. 34), Ricardo arbeitet als „programmer“ (A. 2) und Joshua fokussiert sich auf die Entwicklung von „App[s]“ (A. 6) – alles Tätigkeiten, die ein entsprechendes Fachwissen voraussetzen. Die hinter diesen Tätigkeiten liegenden Kenntnisse gilt es jedoch nicht als starre Komponenten zu begreifen. Vielmehr können diese (z. T.) aktiv mitgestaltet werden (vgl. z. B. Fassmann 2003: 438). Inwiefern dies auch auf die in der vorliegenden Arbeit Interviewten zutrifft, zeigt bspw. die Entwicklung von Kristin: K: „Und habe halt mit, äh, mich komplett in WordPress8 und das alles hineingefuchst et cetera. […] Und habe [Name des Blogs] aufgesetzt. (.) Und hatte keine Ahnung von WordPress und hatte keine Ahnung von CU und ich hatte von nichts eine Ahnung“ (Kristin, A. 336 u. 348).
Kristins Beispiel ist deshalb besonders bezeichnend, da sie vor ihrer Arbeit als selbstständige Blogautorin in einem Angestelltenverhältnis im Sales-Bereich arbeitete 8 Web-Software
326
8
Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
(s. hierzu auch. Abschn. 7.3.1). Dementsprechend musste sie sich die notwendigen Kenntnisse für ihre Onlinearbeit erst aneignen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Sind die entsprechenden (Bildungs-)Voraussetzungen bzw. Zugangsmöglichkeiten geschaffen, entsteht die Möglichkeit zur Entkopplung der eigenen Arbeitstätigkeit von lokalen Arbeitsmarktbedingungen eines Landes. Die Sicherung einer finanziellen Einnahmequelle wird onlinebasiert und somit unabhängig des eigenen Aufenthaltsortes möglich.
8.1.2
Digitale Nomaden als Mobilitätsagenten: Zur Wechselwirkung von Akteurshandeln und Rahmenstruktur
In diesem Subkapitel stehen nun Akteurshandlungen im Vordergrund, welche in einem unmittelbaren Zusammenhang mit gesetzlichen, politischen oder ökonomischen Rahmenstrukturen stehen. Hierzu zählen folgende Aktivitäten: Der sog. Visarun, Mobilität und Arbeit in einer Grauzone, materieller Minimalismus, Steuerzahlungen und der Abschluss einer Krankenversicherung sowie individuelle Interessen9 , welche an lokale Gegebenheiten geknüpft sind. Erst genanntes, der Visarun, beschreibt im Allgemeinen das Verlassen eines Landes, um nur wenige Tage – manchmal auch nur wenige Stunden – später mit neu ausgestelltem Visum erneut einzureisen. Im Vordergrund dieser Landesgrenzen überschreitenden Mobilitätspraktik steht dementsprechend die Rückkehr an den vorherigen Aufenthaltsort des Akteurs. Von einer solchen Vorgehensweise berichtet bspw. Ricardo, als er über die Mobilitätspläne eines Freundes spricht: „Alex is actually in Vietnam. He’s doing a, er, a visarun […] He’ll probably soon be back“ (Ricardo, A. 156). Etwas ausführlicher als Ricardo stellt Gerrit die Herausforderung im Umgang mit gesetzlich begrenzten Aufenthaltszeiten dar. Hierbei bezieht er sich exemplarisch auf Thailand; dem Land seines Aufenthaltsortes zum Interviewzeitpunkt (s. Abschn. 6.2.5): G: „Ist nur immer diese, man kann drei Monate bleiben, dann Visa erneuern, dann wieder drei Monate bleiben. Und also Stempel erneuern und dann, ich habe jetzt eben Double Entry, das heißt, ich kann halt ein halbes Jahr bleiben. Und wenn ich, ähm, das jetzt habe, dann müsste ich zum Beispiel nach Laos gehen und mir wieder ein Double
9 Anders
als in Abschnitt 7.4 aufgezeigt, handelt es sich hierbei um Interessen, welche zwar ebenfalls mit lokalen Gegebenheiten in Zusammenhang stehen, deren Mehrwert sich jedoch nicht zwangsläufig in den alltäglichen Handlungen der Interviewten (wie bspw. der Suche nach einem Coworking Space) widerspiegelt.
8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
327
Entry holen. Und dann wieder zurückkommen und dann bleibe ich eben wieder ein Jahr, ähm, wieder ein halbes Jahr“ (Gerrit, A. 228).
Exemplarisch zeigt Gerrits Beispiel, inwiefern mit dem nötigen Wissen und den entsprechenden Mobilitätspraktiken ein einjähriger Aufenthalt in Thailand10 , ohne offizielle dortige Registrierung, erzielt werden kann. Implizit bildet sich dabei jedoch auch ab, dass eine solche Vorgehensweise nur mit entsprechender Staatsbürgerschaft möglich wird (s. Abschn. 8.1.1). Rahmenstruktur und Staatsbürgerschaft greifen dementsprechend ineinander und bestimmen über die tatsächlichen Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs. Wird diese Form der Aufenthaltsverlängerung darüber hinaus unter dem Aspekt betrachtet, dass die Interviewten an ihren jeweiligen Aufenthaltsorten stets die Ausübung ihrer onlinebasierten Arbeit verfolgen, zeichnet sich ein weiterer Aspekt ab, der sich bei der Datenanalyse als charakteristisch für die Mobilität der Befragten erwies. Diesen angedeuteten Umstand erläutert Ricardo unter Reflexion seiner eignen Mobilitätssituation sowie unter Vergleich zu anderen mobilen Lebensformen wie folgt: R: “Er, I think it’s, an expat trade is more of, he’s, an expat is more, it’s, it’s, er, an older term. So, it’s a, it’s, er, a concept that’s been there for a long time so there are institutional mechanisms to make it work. They have this permanent, kind of permanent visas and everything, while a digital nomad’s more like a, a grey area. We have, you have travel visas and, and, and we, kind of, work in this grey zone” (Ricardo, A. 210).
Interessant ist diese Beobachtung von Ricardo insbesondere deshalb, da sie darauf hindeutet, inwiefern die Mobilität Digitaler Nomaden, anders als die von Firmen Entsandten, (noch) durch keine Gesetzgebung o. ä. gerahmt wird. Den Worten von Ricardo folgend, führt dies zu einer Mobilitäts- und Arbeitspraktik in einer Grauzone. Auf ganz ähnliche Weise umschreibt auch Gerrit diesen Umstand. Anekdotisch erzählt er: G: „Ja, was auch ein gutes Ding in Thailand ist, die Visabedingungen. Also die sind halt relativ locker noch. Und die Poliz/ also es ist ja so, dass du, offiziell dürfte ich ja hier nicht arbeiten, weil ich auf einem Touri-Visum bin. (..) Und in keinem Land, das ist in jedem Land so. Ich dürf/ so n Ausländer da/ darf auch nicht nach Berlin kommen 10 Deutsche Staatsbürger können sich in Thailand für touristische Zwecke visafrei für 30 Tage aufhalten. Längere Aufenthalte müssen mit einem Non-Immigrant-Visa vor der Einreise beantragt werden (Quelle Auswärtiges Amt: https://www.auswaertiges-amt.de/sid_287AC8 374AE9816D567504D95D4E537F/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/ThailandSicherheit. html?nn=335940#doc335870bodyText3).
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8
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und da jetzt anfangen zu arbeiten. Selbst wenn der nicht für deutsche Firmen arbeitet, sondern auch für für ausländische Firmen. Das ist einfach, weil du n Touri-Visum bist. Und genauso bräuchtest du in Thailand, äh, ein Arbeitsvisum. Nur in Thailand sind die bis jetzt sehr lax. […] Also die, der Immigrationtyp, der Chef, der oberste, hat einfach mal auch im Interview gesagt, von wegen, wenn das, also ich habe, das Zitat nich. Aber von wegen, wenn die hier sind und von zu Hause aus arbeiten, ähm, und nicht für Thai-Firmen arbeiten. Und das hier auch nicht promoten, dann wird da sozusagen drüber hinweg geguckt. Ähm, und bis jetzt ist das auch der Fall“ (Gerrit, A. 230).
Auch dieses Beispiel zeigt, inwiefern gesetzliche Rahmenbedingungen die Handlungspraktiken der Akteure beeinflussen können. In diesem Fall bspw. hinsichtlich der Entscheidung(smöglichkeit) für einen längeren Aufenthalt in Thailand. Die nächste zu betrachtende Handlungspraktik wird unter dem Schlagwort materieller Minimalismus zusammengefasst. Der Blick richtet sich dabei sowohl auf (1) portable Besitztümer als auch auf den Umgang mit (2) ortsgebundenem materiellen Hab und Gut. Hinsichtlich (1) Ersterem wird bei einer Querbetrachtung der geführten Interviews deutlich, dass alle der Befragten mit geringem Gepäck reisen. Bspw. erklärt Owen: „I’m a minimalist nomad, actually have nothing, actually I have one backpack and that’s all my belongings (laughter). Which makes it super easy to just get up and go, you know“ (Owen, A. 11). Wie Owen selbst sagt, erscheint das Ablegen von materiellem Ballast unter der Perspektive vielfacher Ortswechsel nur als schlüssige Strategie. Dass es den Interviewten im Kontext ihrer Mobilität jedoch dennoch an nichts zu fehlen scheint, erläutert Sören aus seiner Erfahrung wie folgt: S: „[A]uch hier kann man sich überall Dinge oder egal wo man is du kriegst die Sachen die du ehm/ bleibn wir jetzt beim Pullover den kannst du sonst wo irgendwo wieder nachkaufn falls du wirklich mal dringend einen bräuchtest. Egal wo du bist. Ich hatte bisher noch nie Probleme. Klar muss man sich dann halt irgendwie einschränken, dann sieht der halt nicht toll aus (lacht) aber er erfüllt sein Zweck“ (Sören, A. 10).
Unter einer sich verändernden Perspektive bilden folglich praktische und nicht modische Kriterien das ausschlaggebende Argument für die Wahl neu anzuschaffender Besitztümer. Darüber hinaus geht aus der von Sören beschriebenen Handlungspraktik der Aspekt finanzieller Kaufkraft hervor. Dieser Punkt ist deshalb bemerkenswert, da er darauf verweist, dass das, was für Personen der einheimischen Bevölkerung u. U. nicht immer erschwinglich ist, für Digitale Nomaden als erwerbbar erscheint. Diese Strategie ermöglicht es Sören wiederum, sein Gepäckvolumen konstant zu halten. Er erzählt weiter: S: „[M]an merkt recht schnell was man wirklich unterwegs braucht und was useless ist. Und ich hab die Faustregel, alles was ich zwei, drei Wochen nicht anrühre und weiß
8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
329
das ichs definitiv/ also so n Pullover würd ich natürlich in kaltn Regionen oder wenn ich weiss das ich in kaltn Region bald wieder bin, dann behalt ich den schon noch, aber ansonstn alles andere kommt füht [kommt weg; pfeifft] rauß“ (Sören, A. 10).
Ähnliches, was für die Gepäckstücke im Allgemeinen gilt, spiegelt sich auch in den Nutzungsgewohnheiten der Akteure wider. Denn die multifunktionalen, immer kleiner werdenden und dadurch portablen Geräte (vgl. Rainie & Wellman 2014: 92) bieten mittlerweile große Speichervolumen, die für abwechslungsreiche Unterhaltung und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten sorgen können. Bspw. berichtet Daniel: „I bought a kindl11 for this trip. So I’m reading a lot more“ (Daniel, A. 11). So wird Daniel zufolge der Transport mehrerer Bücher in komprimierter Form möglich. Auf ähnliche Weise funktioniert bspw. auch der Serien-Streamingdienst Netflix. Dieser wird exemplarisch von Joshua erwähnt: „I’ll watch Netflix while I’m doing stretching or something in the morning“ (Joshua, A. 36). Während heute also weniger Dinge als solche transportiert werden müssen, ist dies nicht mit einem Verzicht an Auswahlmöglichkeiten gleichzusetzen. So zeigt sich erneut, inwiefern jüngste (technologische) Entwicklungen das Handeln der Interviewten beeinflussen können (s. hierzu auch Abschn. 7.5). Hinsichtlich des (2) zweiten genannten Punkts materieller Besitztümer, zeigen die Interviewerzählungen, dass die Befragten ganz unterschiedliche Strategien im Umgang mit ihrem Besitz entwickeln12 . Während sich manche der Akteure für einen vollständigen Verkauf ihres Hab und Guts entscheiden, wählen andere den Weg einer Zwischenvermietung. Exemplarisch zeigen dies die beiden nachstehenden Interviewausschnitte: S: „Ich hab ehm (..) vor mehr als einem Jahr, so 13, 14 Monaten oder so meinen Job gekündigt, hab Auto, Haus alles verkauft oder Haus hat ich nicht aber Appartment (lacht) und ehm hab alles verkauft, bin losgezogen“ (Sören, A. 4). K: „Alles in diesen drei Monate und Wohnung/ also ein Untermieter suchen. Alles und dann halt gleich/ ich habe ja ein Jahr lang mein Haus und Hof verkauft“ (Kristin, A. 530).
11 Bei einem Kindl handelt es sich um ein elektronisches Gerät in Buchformat, das die Speicherung mehrerer Bücher erlaubt. 12 Dieser Umstand ist immer auch in Abhängigkeit der Berufs- und Mobilitätserfahungen der Interviewten zu betrachten. Denn während bspw. Uniabsolventen lediglich eine kleine Wohnung (u. U. ein WG-Zimmer) räumen (wie bspw. Gerrit, A. 124), sind andere mit der Auflösung eines Hausstands konfrontiert (wie bspw. Kristin, A. 530). Darüber hinaus gilt es anzumerken, dass der Beibehalt einer Wohnung die Möglichkeit für eine potentielle Rückkehr vermutlich erleichtern vermag.
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Unabhängig von der letztendlich verfolgten Strategie zeigen die Handlungspraktiken, inwiefern sich die Interviewten von ortsbindenden Verpflichtungen (bspw. (Miets-)Wohnung) lösen und so den Weg für eine mobile Lebensführung ebnen. Einen weiteren, von den Befragten meist gemiedenen Themenkomplex bilden Erzählungen rund um das Thema Steuerzahlungen. Im Rahmen der Interviews äußerte sich dies dahingehend, als dass ich von einigen der Befragten bereits vor Beginn der Gespräche darum gebeten wurde, keine Detailfragen hinsichtlich dessen zu stellen. Um keine unangenehme Gesprächsatmosphäre zu schaffen, stimmte ich diesbezüglich gerne zu. Eine Ausnahme zeigt sich jedoch in Maltes Erzählung, als dieser Folgendes erwähnt: M: „[W]egen dem Gewerbe jetzt bald steht vielleicht die Entscheidung an, das mal irgendwie nach Hongkong, oder so, umzumelden. (.) Im Moment scheu ich mich noch so n bisschen vor dem Aufwand, äh, und irgendwie alles umzustellen und (..), ja, mich mit diesem (.)/ Mich mit dieser bürokratischen Sache zu beschäftign und irgendwie (.) da groß Zeit zu investieren. Äh, (.) ja, is n bisschen Schade wegen den Steuern. (..) Ja (.) Also da, ja, muss man noch ma guckn“ (Malte, A. 196).
Eine Gewerbeanmeldung, wie sie von Malte beschrieben wird, erscheint insofern als sinnvoll, als dass Hongkong als Sonderverwaltungszone mit geringen Besteuerungsauflagen bekannt ist13 . Für Malte würde dies (vermutlich) eine Verringerung seiner Steuerzahlungen bedeuten. Ein weiterer Punkt, von welchem die Befragten in Abhängigkeit ihrer Staatsangehörigkeit profitieren können, bildet das Thema (Auslands)Krankenversicherung. Bspw. erzählt Anna: A: “There is this one german website ehm which was really helpfull for my health insurance, international health insurance. This is, this is actually a pretty tough point when you go abroad for longer, because most health insurances are just for one year […]. This was like for me the only thing I wanted to plan, the health insurance” (Anna, A. 3).
Exemplarisch zeigt sich hier, inwiefern eine bestimmte Staatsangehörigkeit zu einer gesundheitlichen Absicherung im Ausland beitragen kann; eine Möglichkeit, die im Allgemeinen nicht für Jedermann zugänglich ist. Abschließend richtet sich der Blick auf individuelle Interessen der Interviewten, welche in einem unmittelbaren Wechselverhältnis mit den vorgestellten Rahmenbedingungen stehen. Die Perspektive liegt dabei sowohl auf einer (1) globalen als 13 Für detailliertere und stets aktualisierte Ausführungen siehe bspw. die Deutsche Auslandshandelskammer (Quelle: https://www.ahk.de/dienstleistungen/recht-steuern/).
8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
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auch (2) lokalen Ebene. Unter (1) Ersterem ist die Handlungspraktik zur Herstellung von sogenannter Geoarbitrage zu verzeichnen. Hierbei handelt es sich um eine Vorgehensweise, bei welcher der Akteur sein finanzielles Einkommen in einem einkommensstarken Land generiert, sich selbst jedoch in einem Land mit geringeren Lebenshaltungskosten aufhält14 . Von einer solchen Vorgehensweise berichtet bspw. Joshua, als er von folgender Beobachtung erzählt: J: “There [in Chiang Mai] is many more, um, bloggers than I thought. A lot of bloggers, which (.) completely makes sense, um, because blogging is way harder to make money from than software engineering. So, you want to live in a cheap place, makes sense” (Joshua, A. 233).
Und Ricardo berichtet aus eigener Erfahrung: R: “I began only freelancing at home (.) and, and I was at home working and paying a lot of money to work in Brazil, because São Paulo is a very expensive place for Brazil, and, and I just, I just thought, it makes no sense, that I should leave, and I start reading a lot about digital nomads” (Ricardo, A. 10).
Mit einem Aufenthalt in vergleichsweise günstigen Regionen und einem Beibehalt von bereits erworbenen Kunden, gelingt es den Akteuren, ihren finanziellen Output am Ende des Monats zu steigern, ohne mehr Arbeitsstunden investieren zu müssen. Hinsichtlich der (2) lokalen Ebene zeigt sich, dass sich verändernde Rahmenstrukturen, wie der Ausbau bestehender Internet-Infrastrukturen ein zentrales Einflusselement auf die Handlungspraktiken der Interviewten bilden (s. hierzu auch Abschn. 7.2 u. 7.4.1). Dieser Aspekt machte sich voranstehend bereits mehrfach bemerkbar – soll an dieser Stelle jedoch nochmals unter einer veränderten Perspektive besprochen werden. Ein geeignetes Beispiel bietet hierfür folgende Aussage von Owen: O: “So actually I have a bit of a system, wich is l/ like the main thing is to have backups. So it’s like/ and maybe when I went to Chiang Mai it’s like the place I rented, had a nice working desk, so I could work from there and had a good internet and also it was you know five min/ ten minutes walk to a Coworking Space. So it’s like if one of thos/ of one of those things doesn’t work, I have another option, right? […] That’s a very common Digital Nomad problem” (Owen, A. 21). 14 Es handelt sich um einen aus dem Wirtschaftsbereich entlehnten Begriff. Zunehmend lässt sich auf Digitalen Nomaden-Onlineforen jedoch beobachten, dass die Nutzer und Diskutanten von dem Begriff Gebrauch machen. Für eine ausführliche Erläuterung siehe bspw. im Beitrag: „Richtiges Timing als Erfolgsfaktor im Digital Business“ (vgl. Haug & Dannenberg 2013: 82).
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
Owen wählt seine Wohn- und Arbeitsplätze folglich bewusst in Abhängigkeit bestehender Internetangebote aus. Interessant ist dies im Rahmen der für dieses Kapitel eingenommenen Perspektive insbesondere deshalb, da so implizit (nochmals) deutlich wird, inwiefern solche Wahloptionen heute in zunehmend mehr Ländern möglich werden. Ricardo fasst diesen Umstand resümierend wie folgt zusammen: „I think that dig/ digital nomading wouldn’t be possible, like five or, or six years ago, maybe only in some very limited places, like around Europe, like around some-, somewhere, developing countries. But right now, you can go to, to Thailand […]“ (Ricardo, A. 228). Exemplarisch zeigen die aufgeführten Beispiele, inwiefern sich die Befragten bestehende Rahmenstrukturen sowohl zu Nutze machen, als auch, wie sie diese mit strategischem Geschick umgehen – die Interviewten werden so auf gewisse Weise zu Agenten ihrer eigenen Mobilität.
8.1.3
Die Welt als Handlungsraum: Zwischen Ressourcenzugang, -nutzung und -herstellung
Im Folgenden werden unter einer zusammenfassenden Perspektive die voranstehend vorgestellten Elemente hinsichtlich ihrer wechselseitigen Einflussnahme und Folgewirkungen für die handelnden Akteure sowie daraus resultierende Handlungsstrategien betrachtet. In Abbildung 8.2 ist hierzu eine Übersicht, entsprechend der im Material eruierten Elemente, aufgeführt. Um die Zusammenhänge der in Abbildung 8.2 aufgeführten Elemente besser nachvollziehen zu können, wird exemplarisch ein kurzes Gedankenexperiment, unter dem die aufgeführten Kategorien gebündelt werden, vorgenommen: Wie besprochen, bildet ein bestimmter (Aus-)Bildungshintergrund bzw. konkretes Fachwissen die Grundlage, um einer onlinebasierten Arbeitstätigkeit nachgehen und so finanzielles Einkommen generieren zu können. Dieses bildet wiederum die notwendige Voraussetzung für Ortsflexibilität. Gleichzeitig kann so eine Entkopplung der Arbeitstätigkeit des Akteurs von der jeweiligen ökonomischen Situation in einem Land sowie der dortigen Landessprache hergestellt werden; vorausgesetzt, der Akteur findet an dem von ihm ausgewählten Aufenthaltsort eine Internetverbindung vor. Dementsprechend wird deutlich, dass die Auswahl eines Aufenthaltslandes nicht vollständig unabhängig von lokalen Kriterien erfolgt; ist der Akteur aufgrund seiner Arbeit doch auf einen Internetzugang angewiesen. Dass die Arbeitsplatzauswahl mittlerweile einen weltweit ausgedehnten Umfang erreicht hat, ist nicht zuletzt auf die seit jüngster Zeit wachsenden Coworking-Angebote (vgl. Foertsch 2013; 2015; 2017) zurückzuführen. Ist die Entscheidung für einen Aufenthalt in einem
8.1 Rahmenstruktur – Akteursattribute – Akteurshandeln
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Abbildung 8.2 Ressourcenzugang, -nutzung und -herstellung
bestimmten Land getroffen, bspw. aufgrund der dortigen Wetterlage (s. Kristins Entscheidungsargument für einen Aufenthalt auf Bali in Abschn. 7.4.1.1) oder geringen Lebenshaltungskosten, gilt es, (wenn notwendig) ein Visum zu organisieren. Die Einreiseerlaubnis steht wiederum in Zusammenhang mit der Staatsbürgerschaft des Akteurs bzw. den entsprechenden gesetzlichen Regelungen eines Landes. Nicht jedem Interessierten ist daher ein Zutritt in ein Land in gleichem Maße möglich (vgl. Benson 2015: 13). Unabhängig vom letztendlich ausgewählten Aufenthaltsort ist es für einige der Akteure außerdem möglich, einen Versicherungsschutz im Krankheitsfall mit dem Heimatland (in Abhängigkeit von deren Staatsbürgerschaft) abzuschließen15 . Steuern werden je nach Anmeldung des eigenen Gewerbes im entsprechenden Land und unabhängig des Aufenthaltsortes des Akteurs gezahlt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Unter den genannten Voraussetzungen und den ausgebildeten Handlungspraktiken eröffnet sich für die Interviewten die Welt als Handlungsraum. Begleitet wird die Agency der Akteure dabei stets von potentiellen Einschränkungen, welche primär durch die Staatsangehörigkeit der Befragten und die damit in Zusammenhang stehende Ausstellung eines Reisepasses hervorgerufen werden (vgl. ebd.).
15 Diese Aussage basiert auf den Erzählungen der Interviewten. Inwiefern diese einer gesetzlichen Richtigkeit entspricht, muss im Einzelfall und in Abhängigkeit der Staatsbürgerschaft des Akteurs überprüft werden.
334
8.2
8
Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
Entwicklung – Benennung – Repräsentation
In diesem Kapitel liegt der Fokus auf (aus dem Material eruierten) Entwicklungslinien, welche zu einer allgemeinen Bekanntmachung des Phänomens des Digitalen Nomadentums und einer letztendlichen Adaptierung des Begriffs im Sprachgebrauch der Interviewten beitragen (s. Abschn. 8.2.1). Dabei wird sich auch zeigen, dass zwar ein gemeinsam geteiltes Grundverständnis über den Digitalen NomadenBegriff unter den Interviewten zu bestehen scheint, längst jedoch nicht alle auf diesen als Selbstbeschreibung zurückgreifen. Stattdessen werden andere Abgrenzungs- und Einordnungsversuche der eigenen Lebensführung unternommen (s. Abschn. 8.2.2). Abschließend richtet sich der Blick auf eine als Schlüsselelement identifizierte Kategorie – Selbstbestimmtheit16 – welche aus Perspektive der Befragten alle Lebensbereiche der Mobilen zu durchdringen scheint (s. Abschn. 8.2.3).
8.2.1
Begriffsentwicklung und Zuordnungsmöglichkeit
Wie sich voranstehend bereits mehrfach andeutete, spielt das Jahr 2014 eine zentrale Rolle für die Transparentwerdung des Begriffs des Digitalen Nomadentums bzw. des Digitalen Nomadens (s. Abschn. 5.2.1, 5.3.2.4 u. 7.4.2.2). So liegt auch Joshuas erste Auseinandersetzung mit dem Begriff zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht lange zurück. Er erzählt: J: “Um, I think it was around, either summer or fall of last year [2014], um, it was recent, uhm because I sort of always had this idea to, you know, go somewhere abroad and work from a computer and work remotely, but I didn’t have a term for it until I found digital nomad, and I’m like,“Okay, that fits”, yeah. Yeah” (Joshua A. 98).
Wie das Beispiel von Joshua zeigt, wird mit einer zunehmenden Präsenz des Begriffs auch eine Benennung des eigenen Tuns für die Interviewten möglich. Ähnlich wie Joshua ergeht es auch einigen der anderen Befragten. So erwähnt bspw. Dirk: „Ich war so am Rumsurfn aufm Handy […]. Dann hab ich das Wort auch zum erst Mal gehört“ (Dirk, A. 20) und Bianca ergänzt: „[Wir] wissen […] wirklich tatsächlich erst seit einem Jahr davon […] obwohl wirs ja schon seit zehn Jahrn irgendwie praktiziern. Das is echt crazy“ (Bianca, A. 19). Während die onlinebasierte (und u. U. ortsflexible) Ausübung einer Arbeitstätigkeit von den Interviewten also längst 16 Die Kategorie „Selbstbestimmtheit“ resultiert aus einem während des Analyseprozess vergebenen in-vivo Kode (vgl. z. B. Strauss & Corbin 1998: 50) (zu in-vivo Kode s. auch Abschn. 5.3.2.3).
8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation
335
praktiziert wird, mangelte es bislang an einer Verschlagwortung. Eine ähnliche Feststellung formuliert auch Altringer, als sie in ihrem Artikel Folgendes schreibt: „[L]ocation-independent finance professionals were living a lifestyle that looks a lot like digital nomadism before there was a term for it“ (2015: 6 f.). Basierend auf diesen Beobachtungen zeichnet sich ein weiterer relevanter Aspekt ab. Es wird deutlich, inwiefern für die Erarbeitung eines umfassenden Verständnisses zur Herausbildung bestimmter Mobilitätshandlungspraktiken sowie damit die in Zusammenhang stehenden Netzwerkveränderungen (vgl. Ryan & D’Angelo 2018: 150) eine Berücksichtigung von Kontextentwicklungen notwendig ist (vgl. Bilecen & Amelina 2018: 598; Cresswell 2010: 29). Ein Beispiel hierfür zeigte sich voranstehend bspw. in Abschnitt 7.4, als Raik von der Knüpfung neuer Sozialbeziehungen zu Digitalen Nomaden berichtete. Denn auch er nahm eine zeitliche Verortung der Ereignisse im Jahr 2014 vor. So zeigte sich, dass sich für Raik zu diesem Zeitpunkt neue Vernetzungsmöglichkeiten – nicht zuletzt aufgrund der aufkommenden Digitalen Nomaden-Angebote – eröffneten (s. Abschn. 7.4.2.2). Unter Rückerinnerung an seine ersten Berührungspunkte mit dem Digitalen Nomaden-Begriff erzählt er Folgendes: R: „Äh, den Begriff hab ich, glaub ich, zum ersten Mal vor’m/ vor’m Jahr 17 [2014] gehört oder so. (I: Okay, mhm.) Und dann dacht ich: Wow, das bin ja ich. (lächelt) Vorher war ich immer so der Einzige meiner Art. Also ich kannte zwar viele, die im Internet Geld verdienen und im Prinzip auch ortsunabhängig waren, aber niemanden, der das wirklich genutzt hat. Also, die gab’s zwar schon ab und zu, aber ich wusste gar nich, dass es so ne Bewegung gibt“ (Raik, A. 38–40).
Ähnlich wie im Fall von Joshua, Bianca und Dirk eröffnet sich also auch für Raik mit der begrifflichen Transparentwerdung eine sprachliche Verortungsmöglichkeit seiner Lebensführung. Ausschlaggebend für diese Zuordnung sind dabei die beiden Aspekte Onlinearbeit und geographische Mobilität. Darüber hinaus erscheint an Raiks Aussage interessant, dass ihm zufolge mittlerweile nicht nur Einzelpersonen, sondern eine ganze „Bewegung“ von mobilen Onlinearbeitern (von Paulina als „Community“ (A. 57) bezeichnet) ausgemacht werden kann. Eine solche Beobachtung machen auch Sutherland und Jarrahi. Das Resultat dieser Entwicklung subsumieren sie dabei unter dem Schlagwort einer „Digital Nomad Community18 “
17 Das
Interview wurde im Jahr 2015 geführt.
18 Unter dem von den Interviewten bzw. von Sutherland und Jarrahi beschriebenen Verständnis
einer Community wird der Perspektivwechsel zu Wellmans Verständnis einer „personal community“ (1979; 1988), welche zuvor entlang des Konzepts persönlicher Netzwerke besprochen
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8
Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
(2017). Hinweise für ein Wachstum der Anzahl von Digitalen Nomaden bestehen also; wenngleich diese bislang nicht in Form von Statistiken belegt werden können. Den Versuch einer definitorischen Annäherung an den Begriff des Digitalen Nomadens unternimmt der Interviewpartner Ben, Gründer einer Onlinegruppe, welche den Begriff Digitaler Nomade im Titel trägt19 (s. Abschn. 5.4.2). Ziel des Interviews mit ihm war es, mehr über den sprachlichen Entstehungshintergrund zu erfahren. Schnell wird dabei jedoch deutlich, dass auch ihm eine klare Zuordnung schwer fällt: B: „Also dieser Begriff is ja quasi entstandn in der ehm/ oder englishsprachigen Bloggersphäre Digital Nomad, aber es gibt ja keine klare Definition dafür. Nach wie vor nich, also ich kann jetzt die Definition von Wikipedia vorstelln und die als die ultimative aber jeder hat ne andere Interpretation letztendlich“ (Ben, A. 49).
Einmal mehr wird so deutlich, inwiefern das Phänomen des Digitalen Nomadentums noch in den Kinderschuhen steckt und eine begriffliche Zuordnung auch bei den Befragten noch Interpretationsspielraum aufwirft. Weiter erläutert Ben: B: „Für mich bedeutet das letztendlich nur, dass ich ehm ortsunabhängig bin, das heißt das ich jeder Zeit sagn kann ich geh jetzt woandrs hin. Dass ich das mache, muss es aber gar nicht heißen. […] [I]ch möchte diese Freiheit haben und meine Interpretation is eingentlich Digitaler Nomade gleich ortsunabhängiger Unternehmer oder -Selbständiger“ (Ben, A. 49).
Zunächst erweisen sich auch hier die beiden, bereits von Raik benannten Aspekte, Onlinearbeit und geographische Mobilität, als zentral. Einer quantifizierenden Logik lassen sich diese jedoch nicht unterziehen. Ausschlaggebend ist vielmehr das Kriterium selbstbestimmter Entscheidungsfreiheit. Diesem Argument wird im nachstehenden Abschnitt 8.2.3 nochmals ausführlicher nachgegangen.
8.2.2
Selbstpositionierung durch Abgrenzung
Während sich voranstehend zeigte, dass Personen wie Malte (s. Abschn. 6.1) oder Raik (s. Abschn. 8.2.1) den Begriff des Digitalen Nomadens für eine Selbstbeschreibung ihrer Person bzw. ihrer Lebensführung aufgreifen, sind andere Befragte wurde (s. Abschn. 3.1), deutlich. Sutherlands und Jarrahis Community-Verständnis kann im Allgemeinen auch als Gruppe oder u. U. Clique beschrieben werden. 19 Aus Gründen der Anonymität wird an dieser Stelle kein Quellenverweis angegeben.
8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation
337
weniger d’accord mit dessen Konnotation. Um die Herausforderungen einer definitorischen Zuordnung daher umgehen und dennoch eine Selbstverortung vornehmen zu können, nehmen viele der Befragten eine Abgrenzung ihrer eigenen Handlungspraktiken gegenüber den von anderen mobilen Gruppen vor. „Eine Positionierung kann [dabei] in Narrationen vollzogen werden, aber auch in Argumentationen oder in Differenzsetzungen“ (Wrana 2015: 130). Hierbei fällt im Fall der Befragten auf, dass diese in ihren Erzählungen keinen Bezug zu konkreten Akteuren aus ihrem persönlichen Netzwerk herstellen, sondern sich auf allgemein bekannte (im)mobile Personengruppen beziehen. Hierbei handelt es sich um (1) Touristen, (2) Backpacker, (3) Expatriates, (4) Migranten, (5) Blogger (als Digitale Nomaden), (6) ein in den Medien kursierendes Bild Digitaler Nomaden sowie (7) immobile Personen. Ein Beispiel für erstere, also eine Abgrenzung gegenüber den Handlungspraktiken von (1) Touristen, zeigt sich in folgender Aussage von Dirk zu seinem Aufenthalt auf der Insel Bali: D: „Also wir 20 machen ja kein Urlaub. Wir ham auch eigentlich noch ga:r nichts besichtigt oder so, was man ja auch machen könnte (.)“ (Dirk, A. 9).
Den Vergleich seiner Mobilitäts- und Aufenthaltspraktiken mit einer Urlaubsreise weist Dirk bestimmend zurück. Kurze Zeit später räumt er jedoch ein, bereits einen Ausflug zu einem der bekannten balinesischen Tempel unternommen zu haben. Als interessant erscheint dabei in seiner nachstehenden Erläuterung jedoch nicht das von ihm ausgewählte Besichtigungsziel als solches, sondern die Bewertung seines Ausflugs: D: „Ich bin gestern halt nach Tanah Lot gefahrn. Das is halt einer diesr Tempel im Meer. So n Postkartnmotiv. […] Da bin ich halt mim Scooter halt hingekachlt, war da und sah das ist eigentlich nur Tourikram. Es is voll mit Japanern und Chinesen und Händlern ohne Ende und (.) mh ok ich war da, ich hab meine Fotos gemacht und bin auch ganz schnell wiedr abgehaun weil das Scooter fahrn so viel Spaß gemacht hat (lacht)“ (Dirk, A. 9–10).
Diese Erfahrung führt Dirk zu folgender Entscheidung: D: „Da Nusa Dua das is halt auch so n ober Touriort […] und da gibt’s halt auch so viele Tempel eigentlich, die man hätte besichtign mü:ssn, wäre/ wenn man normaler Tourist wäre. Ham wir aber auch alles sein lassn. (..) Und als wir dann von da nach Canggu21 gezogn sind, da warn wir dann so/ solln wir nich endlich mal was besichtign 20 Einbezug
seiner Ehefrau Bianca. Küstenort.
21 Balinesischer
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
oder so (schmunzelt). Aber irgendwie NÖ. (I: Mhm.) Man könnte ja aber man muss es irgendwie nich weil man is ja nich DIE zwei Wochn so typisch im Urlaub wo man halt so alle Stationen die so typisch sind abfotografiert um zu sagn eh wir ham in Bali alles geshn. (..) Ne das is halt irgendwie n komplett anderes Leben“ (Dirk, A. 11).
Als zentral bildet sich hier – ebenso wie in vielen der anderen geführten Interviews – ab, dass sich der Faktor Zeit bzw. freie Zeiteinteilung als grundlegendes Charakteristikum für die Mobilität Digitaler Nomaden erweist. Denn anders als Touristen sind diese nicht darauf angewiesen, die gesamte Insel innerhalb des Zeitraums ihres Jahresurlaubs erkunden zu müssen; eine Praktik, die auch Dirk als wenig erstrebenswert erachtet. (Als andere Option hat sich unter Abschnitt 7.4 gezeigt, dass den Befragten stets die Möglichkeit offen steht, an einen liebgewonnenen Ort zurück zu kehren.) Eine weitere, vielfach von den Interviewten vorgenommene Abgrenzung, erfolgt gegenüber der Gruppe der (2) Backpacker. Sinan beschreibt seine Position diesen gegenüber bspw. wie folgt: S: “I mean backpacking I’m not saying it’s easy, that’s a another extreme. You are living on the lowest end of how much you earn” (Sinan, A. 90).
Der hier von Sinan beschriebene Reisealltag von Backpackern, bestritten mit einem geringen Budget, stimmt mit Beobachtungen überein die auch in bestehenden Forschungsarbeiten dokumentiert sind (vgl. Binder 2005: 102; 2009: 102; Welk 2009: 88). Parallelen zur Lebensführung Digitaler Nomaden sieht Sinan in diesem Zusammenhang jedoch nicht. Denn während Backpacker bspw. aufgrund von finanziellen Engpässen u. U. eine Verkürzung ihrer Reise vornehmen müssen22 (vgl. z. B. Binder 2005: 103), führen Digitale Nomaden ihre onlinebasierte Arbeit und somit ihre Einnahmequelle stets mit sich mit. Diesen Umstand skizziert Sinan wie folgt: S: “I don’t think any of us is doing this you know for instance. […] Ja, so like because they/ like that’s the thing, if you are an engineer, like/ programmer like we are than your rate usually tend to be high. E/ even if you are just freelancing for Europe. Europe is already high for for a local here. So you know for us spending everything from 500 to 1000 Dollar per month it’s not much a (.) deal breaker so s I I don’t care that much I just wanna have a good time when I’m living here. […] You wanna drink a coffee, want to parties, […] I don’t know, there are so many things, you want have 3G I don’t 22 Backpacker leben in der Regel von Erspartem oder nehmen temporäre lokale Arbeitstätigkeiten an. Letztere Möglichkeit variiert stark je nach Land. Während in Australien und Neuseeland mittlerweile eine regelrechte Backpacker Job-Infrastruktur entstanden ist (vgl. z. B. Cooper et al. 2009; Slaughter 2009: 176), ist dies in südostasiatischen Ländern nicht (oder nur in seltenen Ausnahmen) der Fall (vgl. Binder 2009).
8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation
339
know. So all of those if you start adding them up starts to to change all a bit. And that’s how creates differences for instance (..)” (Sinan, A. 90 u. 92).
Trotz der Nutzung günstiger Lebenshaltungskosten in Südostasien und dem so erzeugten Effekt von Geoarbitrage (s. Abschn. 8.1.2) zeigt Sinans Beispiel, dass sich die Handlungspraktiken Digitale Nomaden durch feine aber wesentliche Unterschiede von jenen der Backpacker-Gruppe differenzieren. Ähnliches gilt für den Aspekt der (3) Mobilitätsgeschwindigkeit (zu (3) Expatriates). Denn dabei zeigt sich, dass mit einer zunehmend andauernden Aufenthaltsdauer an einem Ort, eine Veränderung des selbst auferlegten Nomaden-Status der Interviewten einhergehen kann. Bspw. erzählt Sinan: „You know, I mean I’m here for three month and I’m gonna go to stay here for longer. So the more I stay, the more it makes me an expat“ (Sinan, A. 51). Eine ähnliche Auffassung wird auch von anderen Interviewpartnern vertreten. Bspw. erzählt Ricardo: „I think (..) I think an expat trade is like a more permanent nomad. Maybe they, they do travel, they do change places but not so often“ (Ricardo, A. 210). Und Sören erläutert: S: „[M]an [kann] auch nicht alle Digitaln Nomadn über ein Kamm schern. Das funktioniert nicht. Das hab ich immer wieder gemerkt. Wie gesagt ich hab unterschiedlichste Charaktere getroffen die online halt auch arbeiten, Digitale Nomaden SIND, oder ich hab viele EXPATS getroffn. Sprich Leute die in Chiang Mai in Thailand oder in Hanoi viel in Hanoi auch leben und ehm online arbeitn und dann (.) ja ehm im Prinzip ihr Geld generiern und das/ das/ das is so n Leben, man lebt dort. Und ehm (.) ja, Auswanderer, Expats“ (Sören, A. 2).
Das Kriterium Sesshaftigkeit bzw. die Häufigkeit von Ortswechseln kann folglich als Maßstab (begrifflicher) Zuordnungen dienen. Während (3) Expatriates meist durch einen längeren (oftmals mehrjährigen) Aufenthalt in einem Land definiert sind (vgl. z. B. Fechter 2007; Meier 2009; von Dobeneck 2010), trifft dies auf Digitale Nomaden nicht zu. Onlinearbeit scheint dementsprechend nicht als alleiniges Kriterium auszureichen, um als Digitaler Nomade gelten zu können. Festzuhalten gilt: Mit zunehmender Sesshaftigkeit erfolgt eine begriffliche Verortung als Expatriate, wenngleich die von den Befragten gewählte Mobilitätsgeschwindigkeit variieren kann. So erklärt bspw. Ben: „Also im Grunde ehm bin ich weit entfernt von jemandem der eh permanent rei/ eh reist“ (Ben, A. 49). Anknüpfend an dieses Argument erscheint außerdem interessant, dass keiner der Befragten eine Selbstbeschreibung als (4) Migrant vornimmt. Vermutet wird hinsichtlich dessen, dass dies
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
mit der mit dem Begriff des Migranten meist negativen Konnotation einhergeht23 . Unterstrichen wird diese Annahme durch in bestehender Literatur geführte Auseinandersetzungen. So zeigt sich bspw., dass „privileged movers“ (Croucher 2012: 4) die Bezeichnung als Immigrant ablehnen oder unter Schlagworten wie bspw. „Lifestyle Migrants“ (Benson 2015; Benson & O’Reilly 2016a) oder „residential tourists“ (Mantecón & Huete 2011) aufgeführt werden. In der vorliegenden Arbeit erklärt Sinan diesen Umstand bspw. wie folgt: S: “[I]mmigrants are does who want to integrate in the culture, want to learn it, want to become something, so if I’m going to france right now and I want to become french. Want to become an immigrant. But I will get the passport and all those kind of things. Immigrated to this new country” (Sinan, A. 56).
Mit einer Migration verbindet Sinan folglich die Integration in ein neues kulturelles und gesellschaftliches Umfeld. Ein Aspekt, der weder für Expatriates (vgl. Fechter 2007; Meier 2009; von Dobeneck 2010) noch für Digitale Nomaden als zutreffend erscheint. Wichtiger als die Mobilitätsgeschwindigkeit erscheint hingegen ein bestimmtes Mindset. Dieses Argument wird bspw. von Mathéo betont. In seiner nachstehend aufgeführten Äußerung bezieht er sich dabei auf die Gruppe der (5) Blogger, welche seines Erachtens nach die harte Arbeit hinter dem eigenen Onlinebusiness oftmals unterschätzen würden: M: “You can’t just throw of your job and buy tickets, go somewhere, open a blog and be rich (laughter). It’s not like that. I don’t want to support that fake dream […]. It’s not be/ start a blog, get like famous, that’s bullshit” (Mathéo, A. 9).
Und weiter: M: “All the Bloggers I see, they always talking to me about this guy24 with/ writing this book eh working only five hours a week. […] But this guy, it’s just it’s not NO-ONE, you know, it’s a true entrepreneur and he invest money in his business. He explains it in his book. He explains all/ because I’m working four hours per week, is because he he pays someone else for doing the job. He invest money on what you are doing” (Mathéo, A. 10).
23 Siehe hierzu auch den Artikel „Why are white people expats when the rest of us are immigrants?“ (Koutonin 2015) aus The Guardien. Dort wird die sprachliche Hierarchisierung der beiden Begriffe Expatriates und (Im)Migranten herausgestellt und diskutiert. 24 Bezugnehmend auf Tim Ferris (s. hierzu auch Abschn. 7.1.2).
8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation
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Der alleinige Wunsch, ortsflexibel leben und onlinebasiert arbeiten zu können, reicht folglich nicht aus, um ein erfolgreiches und finanziell ertragreiches Business führen zu können. Vielmehr bedarf es strategischer Handlungsansätze; Arbeit wird dabei zum eigenverantwortlichen Projekt (s. Abschn. 4.1.1). Darüber hinaus wird an Mathéos Aussage deutlich, wie er durch seinen vertretenen Standpunkt seine eigene Arbeitstätigkeit als Webdesigner gegenüber dem (scheinbar) kursierenden Image von Bloggern positioniert. Dementsprechend wird transparent, inwiefern eine Abgrenzungshaltung auch unter einigen der Digitalen Nomaden hergestellt wird. Weiter richtet sich der Blick auf den (6) in den Medien kursierenden Diskurs zu Digitalen Nomaden. Dabei zeigt sich entlang der Interviewerzählungen, dass die Befragten mit den dort präsentierten Facetten jedoch keineswegs einverstanden sind. So erörtert bspw. Sinan seine Meinung gegenüber der vielfach beworbenen Vorstellung eines lockeren Strandlebens wie folgt: S: “Lots of people are reading that JA you can go and work from the beach. Which you should not do actually because it’s bad for your computer […]. And if you are by the beach you wanna swim. Why do you wanna work? Just work at home. […] Ja, but but so lot’s of people read this and they were, they just think it’s an easy lifestyle and just wanna go over there and just go” (Sinan, A. 82, 84 u. 90).
Das medientaugliche Bild eines Onlinearbeiters und die realen Arbeitspraktiken stimmen Sinan zufolge also weder überein noch werden Strandarbeitsplätze von den Befragten als wünschenswert proklamiert. Eine ähnliche Meinung vertritt auch Isabella. Sie erzählt: I: “I think it sounds really glamorous and it sounds like you’ll just be sipping cocktails and sending a few emails but probably I spend more hours here [in Chiang Mai] on my writing my website than I would do if I was in an office in the UK” (Isabella, A. 302).
Arbeit bildet folglich – unabhängig vom Aufenthaltsort – ein grundlegendes Element des Alltags Digitaler Nomaden. Dieser Aspekt ist u. a. deshalb besonders interessant, da in bestehenden Forschungsarbeiten Dauerreisenden ein Image des „[H]ängengeblieben[en]25 “ (Vetter 2009: 42) attestiert wird; eine Vorstellung, mit der sich Digitale Nomaden nicht identifizieren wollen. Hingegen zeigen die Beispiele, dass die Befragten konkrete Vorstellungen von dem zu haben scheinen, als was sie sich nicht sehen – also bspw. als Backpacker, Migrant etc. Ein Rückgriff auf den Begriff des Digitalen Nomadens erfolgt in den meisten Fällen jedoch ebenfalls mit Bedacht. Denn selbst wenn sich die Interviewten mit der Bezeichnung und der 25 Vetter
unter Bezugnahme auf Binder (vgl. Vetter 2009: 42).
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dahinter stehenden Konnotation identifizieren können – wie bspw. Malte der zuvor sagte: „[W]ürd ich mich eigentlich als Digitalen Nomaden bezeichnen“ (A. 337, s. Abschn. 6.1) oder Raik der feststellt: „[D]as bin ja ich.“ (A. 40, s. Abschn. 8.2.1) und daraus schlussfolgert: „Also ich find dieses/ dieses Digitale Nomadendasein is so schon was, was Identität stiftet in ner gewissen Weise“ (A. 264) – erscheint für (7) immobile Personen oder ältere Generationen meist unklar, um was es sich bei einem Digitalen Nomaden handelt. Dies geht bspw. aus folgender Aussage von Isabella hervor: I: “I guess it’s what people are. They work online. I think it’s the future. I think the internet has changed a lot of things and it would be very easy for someone our parents age to say, “Oh, well, you need a job”, or, “You need this or you need that” and then you will work until you retire and have a pension. Well, the world’s not like that anymore” (Isabella, A. 300).
Und Bianca berichtet, inwiefern sie mit Verständnisproblemen zu kämpfen hat: B: „Also was mir auch sehr oft durch/ festgestellt hab, das hat jetzt gar nich mal so viel mit dem Digitalen Nomadentum zu tun, sondern allein/ schon allein damit, dass du selbstständich bist. […] wenn du dann mit, äh, Freunden, äh, Bekannten zusammen sitzt, die halt ihren normalen Job haben, äh, ne Festanstellung, und dann kommst du mit deinem Problemen als Selbstständiger um die Ecke, mit Steuererklärung und hier und da und überhaupt undsoweiter, dann, äh, verstehn die dich nicht! Ja? Also die/ die könn überhaupt gar nich deine Probleme nachvollziehn. Also ob es nun Krankenversicherung is oder, äh, was auch immer! Ja?“ (Bianca, A. 274–276).
Und weiter: B: „Und, äh, bei den Digitalen Nomaden is es dann noch/ natürlich noch ma potensiert, weil, äh, dieses, äh/ dieser Wunsch nach reisen und/ und, äh, nich immer Routine haben zu wollen, ähm, da einfach zusammen kommt“ (Bianca, A. 276).
Der hier von Isabella und Bianca skizzierte Umstand hat zur Folge, dass die Interviewten den Begriff Digitaler Nomade nur selektiv verwenden. So erklärt bspw. Antoni: „Like if a somebody elses eh is also doing the same thing I guess I will use Digital Nomad“ (A. 107). Gegenüber anderen vermeidet er den Begriff hingegen: „I like like talk with my family or with my my the people I work with, I wouldn’t say like, oh I’m a Digital Nomad now. I guess I would say, you know I do freelance work on the internet and I travell or whatever ehm (..)“ (A. 107). Exemplarisch deuten die aufgeführten Aussagen darauf hin, inwiefern die Praktiken Digitaler Nomaden längst nicht in der breiten gesellschaftlichen Masse als
8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation
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angekommen und anerkannt gelten. Um so wichtiger erscheint es für einige der Interviewten, Orientierung und Zugehörigkeit bei anderen Personen mit ähnlichen Interessen und Einstellungen respektive anderen Digitalen Nomaden oder der sich entwickelnden Digitalen Nomaden-Community (vgl. Altringer 2015; Sutherland & Jarrahi 2017) zu finden. Resümierend lässt sich jedoch festhalten, dass die Befragten ihre ganz eigenen Positionierungsbeschreibungen entwickeln. Bis dato erscheinen dabei Abgrenzungspraktiken, anstelle von definitorischen Bestimmungen, als dominierend. Diesen Entwicklungsstrang gilt es in den kommenden Jahren und somit in weiteren Forschungsarbeiten zu verfolgen26 .
8.2.3
Selbstbestimmtheit als Schlüsselelement
Abschließend wird in diesem Subkapitel der Blick auf eine als Schlüsselelement identifizierte Kategorie – benannt als Selbstbestimmtheit – gerichtet. Dabei wird sich zeigen, inwiefern diese verschiedene Lebensbereiche der Interviewten durchdringt27 und wie die Befragten ihre errungene Flexibilität bewerten. Mit der Loslösung von einem (ortsgebundenen) Angestelltenverhältnis und einer damit oftmals in Zusammenhang stehenden Transformation der Tätigkeit (s. hierzu auch Abschn. 7.3.1) ist Arbeit nicht mehr nur eine bloße finanzielle Einnahmequelle, sondern wird zum Projekt eigener selbstbestimmter Entfaltungsmöglichkeiten (s. Abschn. 4.1.1). Von solch einer Erfahrung berichtet bspw. Sören, als er sagt: S: „[D]urch die Selbständigkeit hab ich ne Selbstverwirklichung. Also ich kann mich beruflich selbst verwirklichen. Und hab da auch ehm viel mehr Spielraum“ (Sören, A. 17). 26 Inwiefern die Befragten ein Begriffsverständnis oder eine Bedeutungszuschreibung aufgrund ihrer persönlichen Netzwerkeingebundenheit und dort vertretenen Meinungen entwickeln, kann in der vorliegenden Arbeit nur bedingt beantwortet werden. Entlang der beiden Fallvorstellungen von Malte (als Stellvertreter für Modus I) und Gerrit (als Stellvertreter für Modus II) zeigte sich zwar, dass Malte den Begriff des Digitalen Nomadens als Selbstbeschreibung nutzt, Gerrit den Begriff im Erzählverlauf hingegen unbeachtet lässt und jeweils Bezüge zu den entsprechenden Netzwerkmustern deutlich werden. Die Übertragung des Erkenntnisgewinns auf andere Fälle scheint aufgrund der Datenlage hingegen schwierig. Daher ist hinsichtlich dessen denkbar, dass in weiteren Studien nochmals explizit nach Zusammenhängen zwischen Netzwerkeingebundenheit und Identitätskonstruktionen gefragt wird. 27 Zu vergessen gilt es dabei nicht, dass die Akteure weiterhin in soziale Netzwerkstrukturen eingebunden sind. Selbstbestimmtes Handeln findet entsprechend eingebunden statt. Dies wurde eingangs zu Kapitel 8 und Abschnitt 8.1 angesprochen.
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Und weiter: S: „Wie gesagt, ich fühl mich deutlich besser. Das liegt daran, dass ich mich jetzt beruflich weiterentwickeln kann. Wenn man selbständig ist ehm hat man auch, dann ehm (.) wie soll ich das erklärn? Man hat die Existenzangst die unglaublich bestärkend ist. Und das positiv“ (Sören, A. 17).
Selbstbestimmtheit im Sinne von Selbstverantwortung kann – unter den richtigen Umständen – laut Sören folglich zur Energiequelle werden. Dass dies jedoch nicht zwingend in Zusammenhang mit einer Reduktion der täglich abzuleistenden Arbeitsstunden steht, zeigt Sörens weitere Erklärung: S: „[I]ch ehm arbeite recht viel mittlerweile und selbst das Arbeiten tut mir gut. Es is bei Weitm nich so als/ ja als wie vor keine Ahnung eh anderhalb Jahrn als ich im Büro gesessn hab. Da war Arbeit im Prinzip ja, das typische Hamsterrad. […] Man war immer kaputt, man war immer fertig nach der Arbeit und man hat im Prinzip aufs Wochenende ge/ hingearbeitet. Und nach dem Wochenende war, hat man wieder aufs nächste Wochenende hingearbeitet. Das war dieses Hamsterrad im Prinzip“ (Sören, A. 17).
Und weiter: S: „Ich hab vielmehr Energie auch. (I: Ja?) Auch das ich, ja sonst wenn du halt morgens um acht im Büro sein musst und um 17 Uhr rauß (..) du warst platt danach. Danach wollt ich auch gar nich mehr großartig was machen. Aber mittlerweile is so das ich mir dann aussuchen kann, ok jetzt mach ich einfach mal zwei Stunden lang nichts oder ehm hab jetzt zwei Stunden morgens gearbeitet hab dann keine Lust mehr zu arbeiten. Arbeite dann aber dafür den andern Tag 12 Stunden und das macht mir nichts aus. (.) Und ehm ja das is/ ja ja unglaublich viel Energie“ (Sören, A. 18–20).
Folglich wird nicht die Stundenanzahl als solche, sondern eine selbstbestimmte Einteilung der Arbeitszeit zum Schlüssel des Erfolgs. Besonders dramatisch umschreibt Owen diesen Umstand: O: “I guess one question is/ I was like, when I go back to Canada and work in a company/ I mean like quit the nomad life, freelance life I would rather die. (laughter) Just like/ because I worked the cubical life in a software company so I need to go eight hours every day. And it’s/ I don’t wanna/ I don’t see any rational reason why I wanna give/ like what is it (..) two thirds of your life. Right? To some company that/ when you don’t have control and don’t have the flexibility to work” (Owen, A. 21).
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Neben dem Streben nach einer flexiblen Zeiteinteilung erscheinen die Aussagen der Interviewten auch dahingehend interessant, als dass sich zeigt, inwiefern sich die Einstellung der Interviewten zu traditionellen Angestelltenverhältnissen zu ändern scheint. Joshua umschreibt diesen Aspekt bspw. wie folgt: „The, I think the idea of, um, ending the day at like five or six, for example, that’s sort of standard in the Western world“ (A. 314). Seine Erfahrung in Chiang Mai bzw. im Austausch mit anderen mobilen Onlinearbeitern ist hingegen eine andere: „Some people will work from like nine AM to ten PM, but because they sort of have that consistent work, any leisure that they want to have if they want to go out with friends or go eat or whatever, that’s just during that time and that’s, that’s great […]“ (Joshua, A. 315). Arbeit wird dabei zum Gegenentwurf von Präsenzzeit. Dass mit mehr Flexibilität Arbeit außerdem effektiver gestaltet werden kann, zeigt folgende Aussage von Raik: R: „Also ich lass mich gern auch so im Tag treiben. Ich find das gut, wenn ich so 90 Minuten irgendwo arbeite und dann was ganz anderes mach. (I: Okay.) Manche mögen das ja gern, sich fünf Stunden am Schreibtisch zu vergraben und dann/ das kann ich nich […]. Ich merk das dann so. Also für mich is so die optimale Konzentrationsspanne ne Stunde oder 90 Minuten“ (Raik, A. 360–362 u. 364).
Mit der so gewonnenen neuen Form der Tagesgestaltung wird es den Interviewten darüber hinaus möglich, auch andere Aktivitäten in ihren Alltag zu integrieren. Sportliche Praktiken spielen dabei häufig eine wichtige Rolle. So berichtet bspw. Joshua: J: “I am now just trying to spend a lot of time stretching out, doing yoga like things, um. So, I am trying to make that my morning routine and after, um, probably around (.) eleven or noon, uh, I’ll go to the cowork space and I will work” (Joshua, A. 213).
Paulina betont hingegen ihre aktive Wochenendgestaltung: P: “Uh, and I take one day off. That’s usually during the weekend (laughter) and that’s the time when I drive out of Ubud and see some, just to spend time. Either I go scuba diving or snorkeling or biking or, or something, to do some activity to like reset” (Paulina, A. 255).
Entlang der Beispiele bildet sich folglich auch im Bereich der Freizeitgestaltung ab, inwiefern diese ebenso effektiv gestaltet wird; nicht zuletzt um anschließend in einen erneuten effektiven Arbeitsmodus übergehen zu können. Rosa spricht in diesem Zusammenhang auch von der Herstellung von sogenannten „lebensweltlichen
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Rahmenstruktur und Konstruktionen Digitalen Nomadentums im …
Entschleunigungspotenziale[n] und -oasen“ (Rosa 2013: 276; Herv. im Orig. nicht übernommen) und meint damit im Allgemeinen die Herstellung von eben solch effektiven Auszeiten, um daraus wiederum Kraft für erneute Effektivitätssteigerungen schöpfen zu können. Als zentral für Digitale Nomaden gilt dabei, dass sie diese Arbeitspausen ebenfalls selbstbestimmt herstellen. Während nun also deutlich wurde, inwiefern die Interviewten nach einer Umstrukturierung traditioneller Arbeitspraktiken streben, stellt sich gleichzeitig die Frage, weshalb es einer geographischen Mobilität bedarf. Eine Antwort findet sich hierzu exemplarisch bei Raik: R: „Also, ich/ ich wollte irgendwie acht Wochen nach Asien fahren, hab ich dann auch gemacht. Und dann war ich wieder in Deutschland und dann dacht ich: Warum eigentlich? Weil, das war immer noch irgendwie März oder so und viel zu kalt. Und dann bin ich/ Gleich n Monat später hab ich mir jetzt erst mal ne Wohnung gemietet und bin ja viel länger hier geblieben“ (Raik, A. 76).
Laut Raik gibt es folglich keinen Grund, an einem Ort zu bleiben28 . Auch Kristin vertritt diese Meinung. Anfangs kostet sie ihre Erkenntnis jedoch noch Überwindung. Und so fragt sie sich selbst: K: „[G]ibst du das auf gerade für diese, für diese Freiheit und Sehnsucht, die du aber gerade hast, mehr am Meer leben zu können und ortsunabhängig arbeiten kön/ Selbstbestimmter zu leben, machst du das alles wirklich?“ (Kristin, A. 122, 124 u. 126).
Weiter zeigt sich, dass mit der Entscheidung für eine geographisch mobile Lebensführung zugleich eine Distanz zu alten Gewohnheiten und Sozialbeziehungen hergestellt wird. Von einer solchen Erfahrung berichtet bspw. Sören: S: „Ich bin echt so froh dass ichs gemacht hab. Sonst wär ich immer noch hier eh immer noch dort (lacht) […]. Ja in jeglicher Hinsicht mein Leben komplett in der eigenen Hand. Ich hab kein einzigen Bezugspunkt mehr wo ich irgendwie, mich vor irgendjemand rechtfertigen muss. Seis jetzt vorm Arbeitgeber oder seis vor meiner Familie, seis vor mein Freundn seis vor ehm ja nur vor mir selber“ (Sören, A. 25).
Durch die geographische Mobilität gelingt es Sören folglich, sich etwaigen Kontrollen (von Personen welche u. U. kein Verständnis für dessen Handeln aufbringen 28 Gründe für den längeren Aufenthalt an einem Ort könnten jedoch die Herstellung von Geoarbitrage (s. Abschn. 8.1.2) oder Kopräsenz zu anderen Digitalen Nomaden (s. Abschn. 6.1 u. 7.2) sein.
8.2 Entwicklung – Benennung – Repräsentation
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(können) (s. Abschn. 7.3.1.1)) zu entziehen. Stattdessen erfährt er im Kontext seiner Mobilität neue Impulse. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass selbstbestimmte Arbeit und selbstbestimmte geographische Mobilität aus Perspektive der Interviewten zu einer selbstbestimmten Lebensführung führen. Im Fokus steht dabei eine Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Befragten. Anders als Lebensstilmigranten (vgl. Benson 2016; Gustafson 2016; Nudrali & O’Reilly 2009; Schellenberger 2011), die auf der Suche nach „a better way of life“ (O’Reilly & Benson 2016: 3) an einem Ort ihrer Wahl dauerhaft (oder im Rahmen eines Pendler Rhythmus) verweilen, steht für Digitale Nomaden die Möglichkeit zur selbstbestimmten Ortsauswahl und somit auch zu selbstbestimmten Ortswechseln im Vordergrund (s. hierzu auch Abschn. 7.4). Weiter zeichnet sich unter Verglich mit der Literatur zu Backpacker-Mobilität ab, dass deren Mobilitätspraktiken meist innerhalb eines zuvor definierten Zeitraums stattfinden: „[Z]eitgenössische Backpacker [wollen] in ein ‘normales’ Leben zurückkehren“ (Vetter 2009: 36). Darüber hinaus wird die Auslandserfahrung von Backpackern im späteren Lebenslauf zum Synonym für Sprachkompetenz, Flexibilität oder Selbstständigkeit (vgl. Binder 2005: 125). Binder bezeichnet diese Entwicklung daher als „Qualifizierungstourismus“ oder „Globalisierungstourismus“ (ebd.: 139). Ähnliches gilt für bspw. innereuropäische Austauschprogramme. Auch in diesem Kontext wird davon gesprochen, dass junge Menschen „ein Bewusstsein für die Bedeutung von Mobilität für ihre eigene berufliche Entwicklung“ (Altissimo et al. 2017) ausbilden. Die empirischen Beispiele in der vorliegenden Arbeit zeigen hingegen, dass sich die Handlungspraktiken und Argumentationsstränge Digitaler Nomaden bislang zu keiner der erforschten Mobilitätsformen zuordnen lassen. Diese entsprechend junge Entwicklung spiegelt sich daher auch in den Vorstellungen der Interviewten, wie bspw. Ricardos Anmerkung zeigt: „But the thing is that most people, er, are too comfortable to, to change their lives like drastically, going to another country and trying a drastically different lifestyle, um, but I am comfortable with that. I like changing everything, you know, it’s, it’s good” (Ricardo, A. 52). Was für andere also noch die Ausnahme zu sein scheint, präsentiert Ricardo als Selbstverständlichkeit und sich selbst dementsprechend als Vorreiter eines sich entwickelnden „lifestyle“.
Teil IV Schlussbetrachtung und Diskussion
In diesem Teil der Arbeit erfolgt in einer Schlussbetrachtung eine Zusammenfassung der voranstehend vorgestellten empiriebasierten Erkenntnisse. Dabei werden die unter der eingenommenen Forschungsperspektive erarbeiteten zentralen Ergebnisse diskutiert und Bezüge zu bestehenden Forschungsarbeiten hergestellt. Abschließend werden in Form eines Ausblicks weitere Forschungsbedarfe aufgezeigt, wodurch gleichzeitig die Grenzen der vorliegenden Untersuchung transparent gemacht werden.
9
Digitales Nomadentum als Lebensstil
Mit der vorliegenden Untersuchung wurden empiriebasierte Einblicke in die noch junge Entwicklung der Lebensführung weltweit mobiler und onlinebasiert arbeitender Personen, respektive Digitaler Nomaden (vgl. Müller 2016), wie sie bislang noch nicht zugänglich waren, gewährt. Wenngleich nach dem für die vorliegende Arbeit durchgeführten Feldforschungsaufenthalt im Sommer 2015 einige wenige Publikationen anderer AutorInnen erschienen, zeigt sich doch, dass diese primär auf onlinebasierte und/oder quantitative Daten zurückgreifen1 . Für die vorliegende Forschungsarbeit wurde hingegen eine explorative Vorgehensweise gewählt, bei der die Akteure an ihren ausgewählten Destinationen getroffen und narrative Interviews in Kombination mit ego-zentrierten Netzwerkkarten geführt wurden. So gelang es – entsprechend dem unter Forschungsfrage eins formulierten Anliegen – den Facettenreichtum des Phänomens des Digitalen Nomadentums aus Perspektive der Befragten einzufangen und – entsprechend Forschungsfrage zwei – ein grundlegendes Verständnis für die Umsetzung einer mobilen Lebensführung als Digitaler Nomade zu entwickeln. Um dabei nicht auf einer metaphorischen Ebene verhaftet zu bleiben, wurde für die Durchführung der Studie das Konzept persönlicher Netzwerke – nach Wellman „personal community“ (1988) – herangezogen. Denn es wurde der Annahme gefolgt, dass Mobilität nicht in einem Vakuum, sondern eingebunden in sozialen Netzwerken stattfindet (vgl. Bilecen et al. 2018: 1; Cachia & Jariego 2018: 112; Massey et al. 1993: 448). So gelang es zu beleuchten, unter welchen strukturalen Bedingungen Mobilität möglich oder gehemmt bzw. inwiefern diese von den Akteuren mitgestaltet wird. Außerdem wurde es mit dem gewählten 1 Reichenberger
(2017) sowie Sutherland und Jarrahi (2017) nutzen Informationen aus Onlineforen oder Skypeinterviews. Altringer (2015) hält sich für ihre Recherchen zwar in der balinesischen Stadt Ubud auf, verweist in ihrem Artikel jedoch auf onlinebasierte Blogbeiträge und Ergebnisse aus einer quantitativen Befragung. Auf Letzteres gewährt sie außerdem nur sehr wenige Einblicke (s. Abschn. 4.1.2). © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 A. K. Müller, Transnationale Mobilität und persönliche Netzwerke Digitaler Nomaden, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31856-7_9
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Digitales Nomadentum als Lebensstil
Ansatz möglich, die Netzwerkeingebundenheit einer Person unabhängig von deren Aufenthaltsort oder anderen nahräumlichen Zuordnungsmaßnahmen zu erfassen. D. h., dass auch soziale Beziehungen, welche sich über Landesgrenzen hinweg erstrecken, sowie daraus resultierende transnationale Netzwerkverflechtungen (vgl. Glick Schiller et al. 1992), in die Untersuchung einfließen konnten. Hinsichtlich der etwaigen Vielschichtigkeit von Mobilität sowie den daraus hervorgehenden Beziehungscharakteristika wurde der Blick für ein plurales Verständnis von Mobilität (vgl. Urry 2007) geöffnet; wurde doch vermutet, dass Digitale Nomaden neben ihrer geographischen Mobilität zumindest aufgrund ihrer Arbeitstätigkeit auch auf onlinebasierte Weise mobil sind (vgl. Liegl 2011). Als interessant erweisen sich diese Aspekte nicht nur aufgrund der im Material identifizierten weltumspannenden Beziehungsmuster und den damit in Zusammenhang stehenden Handlungspraktiken der Interviewten, sondern auch aufgrund des aktuellen Forschungsstands. Denn mittlerweile wurden Mobilitäts- und Migrationsphänomene zwar vielfach netzwerkanalytisch untersucht (vgl. z. B. Dahinden 2010a; Fuhse 2008; Gamper & Fenicia 2013), im Dunkeln bleibt dabei jedoch meist die Frage, wie Mobilität hergestellt wird, bspw. inwiefern bestimmte Netzwerkstrukturen Mobilität fördern oder hemmen und wie diese u. U. verändert werden müssen2 . Diesem Umstand wurde in der vorliegenden Arbeit entgegengetreten, indem ein Konzept entwickelt wurde (s. Abschn. 5.1.2), mit Hilfe dessen persönliche Netzwerke im Erzählverlauf als Prozess abgebildet und nachvollzogen werden konnten.
9.1
Mobilität beyond the nation-state3 als Normalität
Wie entlang der Beispiele transparent wurde und wie allgemein nur unschwer zu erkennen ist, wird die Herausbildung einer Lebensführung, wie sie von den Befragten in der vorliegenden Arbeit praktiziert wird, wesentlich durch den Ausbau bestehender Transport-, Internet- und Kommunikationsinfrastrukturen (vgl. z. B. Pries 2010: 14; Rainie & Wellman 2014: 1) sowie der mittlerweile stark ansteigenden Anzahl weltweiter Coworking-Angebote (vgl. Foertsch 2013; 2015; 2017) begünstigt. Darüber hinaus nehmen neue Technologien Einfluss auf die Ausübung traditioneller Arbeitstätigkeiten und tragen zu einem Wandel von bestehenden 2 Allgemeine
Hinweise zur Relevanz einer Berücksichtigung von Netzwerkveränderungen finden sich z. B. bei Ryan und D‘Angelo (2018). 3 Für die Überschrift dieses Kapitels wurde die Entscheidung zur Nutzung eines englischsprachigen Begriffs getroffen. Denn dieser spiegelt, meiner Ansicht nach die im Kapitel vorzustellenden Inhalt treffender als eine deutsche Übersetzung (bspw. jenseits oder außerhalb des Nationalstaates) wider.
9.1 Mobilität beyond the nation-state als Normalität
353
Arbeitsabläufen bei. Dies zeigt sich anhand von Arbeitsaufgaben, wie bspw. der Programmierung von Webseiten, Grafikdesign, Onlinemarketing und Vertrieb oder Autorenarbeiten. So rückt an die Stelle von physischer Büropräsenz die Arbeit im onlinebasierten Raum (vgl. Liegl 2011; Sørensen 2002). Nicht zuletzt aufgrund von Entwicklungen dieser Form wird es möglich, Arbeit vom Aufenthaltsort einer Person als entkoppelt betrachten zu können; wenngleich sich diese Aussage nicht auf alle Arbeitsbereiche übertragen lässt, wird bspw. an Berufe aus dem Bereich der Pflege gedacht. Für Digitale Nomaden eröffnet sich – mit den entsprechenden Kenntnissen im Umgang mit Onlinearbeit und einem Laptop im Gepäck – hingegen die Möglichkeit, ihre finanzielle Einnahmequelle unabhängig von lokalen Gegebenheiten, wie bspw. der ökonomischen Situation in einem Land, zu sichern. Darüber hinaus entscheiden sie über Wahl und Dauer des Aufenthalts an einem Ort, in Abhängigkeit von Visaregularien und Einreisebestimmungen, weitestgehend selbst. Aus geographischer Sicht entsteht so ein Mobilitätsmuster, welches weder als Pendlermobilität noch als zirkuläre Mobilität oder als einmaliger Migrationsschritt beschrieben werden kann. Stattdessen zeigt die Empirie, dass die Mobilität der Befragten entlang mehrdirektionaler Bahnen verläuft. Dabei integrieren sie Besuche bei Freunden und Familienmitgliedern in ihren Herkunftsländern ebenso wie Aufenthalte an ihnen zuvor unbekannten Orten in ihrem geographischen Mobilitätshandeln. Unabhängig von der Mobilitätsgeschwindigkeit oder der Dauer des Aufenthalts an einem Ort präsentieren die Interviewten ihre freiwillig gewählte Form von Mobilität als zentrales Element ihrer Lebensführung. Dabei machen sie sich die Welt als Handlungsraum zunutze. Der Überwindung nationalstaatlicher Grenzen schreiben sie im Rahmen ihrer alltäglichen Lebenswelt in erster Linie jedoch nur eine untergeordnete Rolle zu; unterhalten diese doch über zum Teil weite geographische Distanzen hinweg soziale Beziehungen aufrecht, navigieren sich durch onlinebasierte Räume unabhängig ihres Aufenthaltsortes oder arbeiten Landesgrenzen überschreitend zusammen. Der Nationalstaat als solcher erlangt in den Erzählungen der Interviewten erst dann an Relevanz, wenn es um mit diesem unmittelbar in Zusammenhang stehende Leistungen, wie bspw. den Abschluss einer Versicherung im Krankheitsfall, den Erwerb einer Einreiseerlaubnis oder die Herstellung von Geoarbitrage geht. Hinsichtlich dessen zeigte das Datenmaterial, dass die Befragten über vielerlei Detailkenntnisse verfügen und sich so durch die Welt manövrieren. An ihre Grenzen gelangen jedoch auch sie, wenn die Gesetzeslage eine Einreise aufgrund der Staatsangehörigkeit einer Person nicht oder nur eingeschränkt vorsieht (vgl. Benson 2015; Croucher 2012). So wird an dieser Stelle das Privileg einiger Personen, in der vorliegenden Arbeit meist aus Europa oder
354
9
Digitales Nomadentum als Lebensstil
Nordamerika, deutlich. In jedem Fall präsentieren sich die Akteure als aktive Gestalter ihrer Lebensführung und eine weltumspannende Mobilität erscheint in diesem Zusammenhang als Normalität.
9.2
(Transnationale) Mobilität(en) und persönliche Netzwerke
Eine Verortung der persönlichen Netzwerkeingebundenheit Digitaler Nomaden erscheint anhand von geographischen Eckpunkten – wie vermutet (s. Abschn. 4.2) – als wenig sinnvoll. Denn anders als in bestehenden Untersuchungen zu Beziehungsgeflechten im Rahmen ausgewählter Nationalstaaten (vgl. z. B. Bojarczuk & Mühlau 2018; Reisenauer 2014; Schellenberger 2011), hat sich entlang des Datenmaterials gezeigt, dass sowohl die Befragten der vorliegenden Arbeit (Ego), als auch einige ihrer Referenzpersonen (Alteri) ihre Aufenthaltsorte – in mehr oder weniger regelmäßigen zeitlichen Abständen – stetig ändern. Die Netzwerkbeziehungen der Interviewten weisen daher zwar dennoch einen transnationalen Charakter auf, doch lässt sich dieser nicht anhand von festgelegten nationalstaatlichen Zuordnungen verorten. Auch wenn unter diesem Aspekt auf den ersten Blick der Anschein entstehen kann, als würden Digitale Nomaden eine Mobilität unabhängig äußerer Einflüsse praktizieren, haben die Interviewerzählungen doch gezeigt, dass diese stets in soziale Netzwerkverflechtungen eingebunden sind. Im Rahmen dieser entwickeln die Akteure sowohl ihre ganz eigenen Wünsche, Ideen und Vorstellungen von einer ortsflexiblen Lebensführung, werden zugleich jedoch von bestehenden Netzwerkstrukturen beeinflusst oder nehmen im Kontext ihrer Mobilität Einfluss auf deren strukturale Ausgestalt. So entstehen wiederum Netzwerkmechanismen, durch welche die Akteure erst entsprechend handlungsfähig werden. Hinsichtlich dessen konnten im Datenmaterial zwei Mobilitätshandlungsmodi, erarbeitet an der Schnittstelle von Struktur und Agency, eruiert werden. Die so gewonnenen zentralen Erkenntnisse werden nachstehend in einer kondensierten Darstellung nochmals aufgegriffen und besprochen.
9.2.1
Zwischen Aufbruchsstimmung und Fortführung
Mehrfach zeichnete sich in den voranstehenden Ausführungen bereits ab, dass ein Großteil der für die vorliegende Arbeit Interviewten auf eine noch junge Mobilitätsgeschichte zurückblickt und in diesem Zusammenhang auf das Jahr 2014 verweist (s. insb. Abschn. 8.2.1). Ebenso lassen sich Entwicklungen, wie bspw. die erstmals
9.2 (Transnationale) Mobilität(en) und persönliche Netzwerke
355
abgehaltene Digitalen Nomaden-Konferenz (DNX)4 , die Veröffentlichung der Onlineplattform Nomad List und des Chatkanals #nomad5 oder die Sichtbarwerdung von Blogbeiträgen (s. Abschn. 6.1.3.4 u. 7.1.2.1) auf das Jahr 2014 datieren. Insbesondere Letzteres dient für einige der Akteure als Inspirationsquelle oder Impulsgeber6 . Denn erst durch diese wurden sie auf die Thematik Digitales Nomadentum aufmerksam. Darüber hinaus nutzen sie die jüngst entstandenen Möglichkeiten, um sich mit Blogautoren zu vernetzen, auf Events, wie der DNX oder Workations persönliche Beziehungen aufzubauen und ggf. zu intensivieren sowie um Bestätigung für das eigene Vorhaben, eine ortsflexible Lebensführung zu führen, zu erfahren (Modus I; der Lebensstilhersteller). Andere hingegen greifen auf die neuen Quellen als Recherchetools, ohne persönlichen Bezug zu Einzelpersonen, zurück (Modus II; der Lebensstilnutzer). Trotz dieser unterschiedlichen Annäherungs- und Nutzungsweisen ist beiden Strategien jedoch gemein, dass ihnen die onlinebasiert zugänglichen Informationen, Erfahrungsberichte, Fotos etc. oder persönlichen Gespräche ein Bild davon vermitteln, wie bspw. eine Lebensführung als Digitaler Nomade oder der Aufenthalt an einem bestimmten Ort aussehen kann. Demzufolge entsteht eine Form von Mobilität, die Urry als „imaginative travel“ (2007: 47) bezeichnet; also eine Vorstellung über eine mobile Lebensweise, ohne selbst physisch mobil sein zu müssen. Weiter zeigt sich anhand dessen außerdem auch, dass die interviewten Akteure auf Ressourcen zurückgreifen können, wie sie vor wenigen Jahren noch nicht verfügbar waren. Die aus diesem Umstand resultierenden Entwicklungen gilt es weiterhin zu beobachten. Gleiches gilt für die Frage, inwiefern kurzzeitig Mobile eine Lebensführung als Digitaler Nomade fortführen7 .
9.2.2
(Re)Produktion (in)stabiler Routinen
Im Allgemeinen finden sich Digitale Nomaden auf lokaler Ebene in einem sich – mehr oder wenig stetig – verändernden sozialen Umfeld wieder; bedingt nicht zuletzt
4 Quelle
DNX: https://www.dnxfestival.de/.
5 Quelle Crunchbase u. Levels: https://www.crunchbase.com/organization/nomad-list; https://
levels.io/product-hunt-hacker-news-number-one/. 6 Im Umkehrschluss kann die Herausbildung etwaiger Plattform als eine Reaktion auf eine aufkeimende Nachfrage (bspw. durch interessierte Leser) gedeutet werden. 7 Wenngleich keiner der Interviewten in der vorliegenden Arbeit von einem geplanten Mobilitätsende spricht. Dieser Umstand ist nicht zuletzt auf den Samplingprozess, in welchem Rückkehrer in eine erneut sesshafte Lebensführung keine Berücksichtigung fanden, zurückzuführen (s. Abschn. 5.4).
356
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Digitales Nomadentum als Lebensstil
aufgrund ihrer eigenen geographischen Mobilität. Der Wechsel von Aufenthaltsorten ist dabei jedoch keineswegs als ungewollt zu bewerten. Stattdessen trägt dieser wesentlich zum Aufbruch sich einschleichender Routinen bei. Hinsichtlich der konkreten Umsetzung Landesgrenzen überschreitender Mobilitätsschritte verfolgen die Befragten im Allgemeinen zwei Strategien. Personen, deren Handlungsmuster primär unter Modus I subsumiert werden können, suchen den persönlichen Dialog mit erfahrenen mobilen Onlinearbeitern, Workation-Organisatoren oder Coworkingund Coliving-Betreibern; tragen diese doch wesentlich dazu bei, dass die Akteure die für sie relevante (Internet-)Infrastruktur sowie andere Gleichgesinnte vor Ort antreffen und somit eine sanfte Ankunft am neuen Aufenthaltsort erleben können. Personen, deren Handlungen Modus II zugeordnet werden können, setzen hingegen auf das Wissen von einer Vielzahl ihnen unbekannter Personen, welches sie mittels Onlinechats erfragen. Gemein ist beiden Strategien, dass die Akteure bereits vor ihrer Ankunft an einem für sie unbekannten Ort über gewisse Detailinformation zu den lokalen Gegebenheiten verfügen. Dies zeigte sich an Aussagen, wie sie bspw. von Gerrit formuliert wurde: „Also bevor ich zum Beispiel in Chiang Mai bin, wusste ich vieles über Chiang Mai“ (A. 140) (s. Abschn. 6.2.5.1). Sätze wie diese veranschaulichen außerdem, wie es den Interviewten mit ihren Vorgehensweisen gelingt, etwaigen unliebsamen Überraschungen vorzubeugen. Weiter haben die Erzählverläufe gezeigt, dass die Befragten sich häufig auf den Weg zu Digitalen Nomaden-Hubs machen. Dort angekommen, halten sie sich meist in Coworking Spaces und Coworking Cafés (Modus I u. II) oder u. U. in Coliving-Häusern (primär Modus I) auf. Als zentral erweisen sich diese deshalb, da die dort angebotene Internetinfrastruktur nach Ankunft eine sofortige Fortsetzung der eigenen Arbeitstätigkeit, die Kontakthaltung mit Kunden oder Kollegen und die Kommunikation mit Freunden und Familienmitgliedern ermöglicht. (Gleiches gilt dementsprechend auch für Orte, welche über Coworking-Angebote verfügen, unter Digitalen Nomaden im Allgemeinen jedoch als weniger bekannt gelten; wenngleich diese einen geringen Anteil in den Erzählverläufen der Interviewten einnehmen.) Routinen können dementsprechend innerhalb kürzester Zeit hergestellt werden. Landeskultur oder -sprache werden dabei (zunächst) zur Nebensache. Leitendes Kriterium für die Auswahl eines Aufenthaltsortes bildet daher fast immer die jeweils lokal vorzufindende Internetinfrastruktur. Weiter wird es den Akteuren während eines Aufenthalts an einem Digitalen Nomaden-Hub (unabhängig von dessen Ausgestalt als Knoten oder Cluster) möglich, auf andere Gleichgesinnte zu treffen und in ein soziales Umfeld von Personen mit ähnlichen Interessen einzutauchen. Coworking Spaces oder vergleichbare Angebote dienen folglich im Kontext einer sich stetig verändernden lokalen sozialen Umwelt der Interviewten als stabilitätsstiftende Anlaufstellen.
9.2 (Transnationale) Mobilität(en) und persönliche Netzwerke
357
Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Akteure über bestimmte Freizeitpraktiken, wie bspw. dem Besuch von Stammtischen, Parks, Kinos oder Restaurants, morgendlichen Jogaeinheiten oder anderen sportlichen Aktivitäten, Routinen – an ihnen bekannten oder unbekannten Orten – herstellen. Ähnliches gilt für die onlinebasierte Umwelt der Befragten. Neben Austausch mit Vertrauten wird es ihnen mit Hilfe von Streamingdiensten, wie Netflix möglich, 24/7 und unabhängig ihres Aufenthaltsortes Nachrichten, Filme oder Serien in ihrer jeweiligen Muttersprache zu verfolgen. So kann auf liebgewonnene Gewohnheiten auch in der Fremde zurückgegriffen werden. Jeder weitere Landeswechsel trägt wiederum dazu bei, neue Impulse zu erfahren und etwaigen auftretenden (lokal gebundenen) Routinen vorzubeugen.
9.2.3
Zur Stärke schwacher Beziehungen
Der Titel dieses Subkapitels ist dem theoretischen Konzept Granovetters bzw. dessen gleichnamigen Aufsatz „The strength of weak ties“ (1973), also die Stärke schwacher Beziehungen, entlehnt. Gewählt wurde diese Kapitelbezeichnung, da sich entlang des empirischen Datenmaterials vielfach abbildete, dass schwache bzw. jüngst geknüpfte Beziehungen eine zentrale Rolle im Kontext der Mobilität der Interviewten spielen und sich wie ein roter Faden durch die Erzählverläufe ziehen. Sind es doch eben diese, welche die für die Interviewten relevanten Impulse bieten. Dies gilt – wie oben erwähnt – für Bereiche, wie die Interessensentwicklung am Thema Digitales Nomadentum, die Erlangung spezifischer Informationen oder ggf. die Entwicklung von Arbeitskollaborationen. Auf lokaler Ebene, ähnlich wie im Rahmen der Nutzung onlinebasierter Chatkanäle, zeigt sich die Rolle schwacher Beziehungen am eindringlichsten anhand der von den Interviewten beschriebenen Aufenthalten an Digitalen Nomaden-Hubs. Diesen wird dabei die Rolle eines Aktivitätsfoci, also einem Ort des sozialen Austauschs unter Gleichgesinnten (vgl. Feld 1981), zuteil. Für die Akteure bedeutet dies, die Möglichkeit zu erlangen, innerhalb kürzester Zeit Kontakte zu zunächst unbekannten Personen, welche jedoch ähnliche Interessen und eine ähnliche Einstellung gegenüber Onlinearbeit und geographischer Mobilität teilen, herstellen zu können. Anfänglich sind die entsprechenden Beziehungen folglich durch einen schwachen Charakter gekennzeichnet. Wie die Beispiele außerdem gezeigt haben, handelt es sich dabei häufig – wenn auch nicht ausschließlich – um Kontakte zu Personen aus Europa oder Nordamerika. Der jeweils lokal ansässigen Bevölkerung wird eine nur untergeordnete Rolle zuteil. Als attraktiv erweist sich das Eintauchen in ein soziales Umfeld mit einer Vielzahl von anderen Digitalen Nomaden für die
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Digitales Nomadentum als Lebensstil
Interviewten, neben der Chance der gemeinsamen Freizeitgestaltung, insbesondere aufgrund des so vorzufindenden Wissenspools. Verfügt doch jeder der Onlinearbeiter über eine gewisse Expertise. Je nach Fokus kann diese für die Interviewten u. U. von Interesse sein. Treffen zwei zuvor einander unbekannte Onlinearbeiter aufeinander, entsteht die Möglichkeit, Wissen, welches für den jeweils anderen als neu erscheint (vgl. Avenarius 2010a: 100), auszutauschen; eine Situation, die mit langjährigen Bürokollegen hingegen als unwahrscheinlich gilt. Denn Granovetter zufolge sind es schwache Beziehungen, welche die Vermittlung neuer Informationen gewährleisten (vgl. Granovetter 1973: 1364 ff.); dies spiegelte sich auch in der Empirie entsprechend wider (bspw. anhand der während Gerrits Südamerikaaufenthalt entstandenen Kooperationsarbeit mit Taya. Beide kannten sich zuvor nicht, verfügten jedoch jeweils über Expertisen, deren Zusammenführung zur Entwicklung einer neuen App-Idee führten (s. Abschn. 6.2.4)). Darüber hinaus hat sich in diesem Zusammenhang auch die Relevanz der spezifischen Kombination des Aufenthaltsortes, einem Hub, und der dortigen Möglichkeit zur Ausbildung vielfältiger schwacher Beziehungen gezeigt. Denn durch den Austausch und ggf. der Neukombination von Ideen und Erfahrungen kann der Grundstein zur Entstehung potentieller Innovation gelegt werden (vgl. Burt 1992; Granovetter 1973). Ähnliches ist mit langjährigen Freunden aufgrund eines Mangels an neuen Impulsen dementsprechend nicht denkbar.
9.2.4
Netzwerkoptimierung durch Homophiliestreben
Im Verlauf der Erzählungen der befragten Akteure zeichnete sich weiter ab, dass neben der Ausbildung schwacher Beziehungen die Entwicklung beständiger Verbindungen zu ausgewählten Kontakten für die Interviewten mindestens genauso wichtig ist. Dieses Muster spiegelt sich in allen Beziehungsbereichen wider. So zeigt sich mit erneutem Blick auf die oben angesprochene Thematik zur Bildung etwaiger Arbeitskollaborationen, im Material, dass das Fundament einer potentiellen Kooperation unter jüngst einander kennengelernten Personen stets auf einer anfänglichen gemeinsamen kopräsenten Zeit an einem Ort bzw. einer gemeinsamen Mobilität beruht. Denn erst so entsteht die Möglichkeit für ein besseres Kennenlernen und der Entwicklung einer „Vertrauensbasis“ (Gerrit, A. 146). In diesem Zusammenhang entwickelt sich in der jeweiligen Beziehung außerdem ein reziproker und multiplexer Charakter. Denn an die Stelle von Assessment-Centern und Bewerbungsgesprächen rückt die Entwicklung einer freundschaftlichen Beziehung und daran anknüpfend ggf. eine Zusammenarbeit. (Innovation wird im Rahmen sich intensivierter, respektive starker Beziehungen umgesetzt (vgl. Avenarius 2010a:
9.2 (Transnationale) Mobilität(en) und persönliche Netzwerke
359
106).) Ist die Beziehung einmal gefestigt, sind auch getrennte Aufenthaltsorte kein Hindernis für deren Aufrechterhaltung. Ähnliches gilt für den Aufbau von Freundschaftsbeziehungen mit jüngst kennengelernten Personen. Auch diese basiert auf einer anfänglich kopräsenten Zeit. Als nachhaltig gestaltet sich diese dann, wenn die Interaktionspartner ein gemeinsames Interesse teilen (neben Onlinearbeit und geographischer Mobilität kann dies bspw. auch ein Hobby, wie Tauchen sein). Hinsichtlich langjährigen Freundschaftsbeziehungen oder nicht freiwillig gewählten Beziehungen, wie bspw. zu Familienmitgliedern (vgl. Laireiter & Lettner 1993: 105) verhält es sich anders. Besteht nicht ohnehin ein gemeinsames Interesse an Onlinearbeit und/oder geographischer Mobilität, bedarf es zumindest einer Akzeptanz über die Mobilitätsentscheidung von Ego, um die Beziehung nachhaltig aufrechterhalten zu können. Andernfalls zerbricht der Kontakt. Wobei die Pflege der Verbindung zu Familienmitgliedern von den Interviewten nicht nur gewünscht, sondern auch aktiv forciert wird. Dies äußert sich bspw. im Rahmen sich verändernder Kommunikationsgewohnheiten. Kontakte werden dabei nicht seltener, sondern erfolgen nunmehr onlinebasiert, bspw. mit Hilfe von „Familien-WhatsApp“ (Gerrit, A. 300), „Instagram-Account“ oder „Skype-Konto“ (Kristin, A. 480) (vgl. Urry 2007: 47). Als interessant erweist sich in diesem Zusammenhang außerdem, dass sich entlang des Datenmaterials zeigte, dass onlinebasierte Kommunikationsformate mit der Elterngeneration der Befragten in einigen Fällen erst noch eingeübt werden müssen. Unter Digitalen Nomaden erscheint ein solcher Austausch hingegen längst als selbstverständlich. Weiter zeigte sich auch auf geographischer Ebene, dass die Interviewten durch ihr Mobilitätshandeln den Kontakt zu ausgewählten Personen pflegen; begeben sie sich doch – in mehr oder weniger regelmäßigen zeitlichen Abständen – für persönliche Besuche an die jeweiligen Aufenthaltsorte (sei es in ihrem Herkunftsland oder in anderen Drittländern) ihrer Referenzpersonen. Außerdem erhalten sie in einigen Fällen selbst Besuch an ihren Aufenthaltsorten. So entsteht jeweils ein ego-zentriertes Netzwerk mit weltweit disperser Ausdehnung. Aufgrund der Beständigkeit bestimmter Beziehungen und der Vielschichtigkeit der Kontaktpflege kann diesen außerdem ein transnationaler Charakter attestiert werden. Das Gefühl von Zugehörigkeit entsteht für die Akteure dabei nicht über festgelegte geographische Eckpunkte, sondern über die im Netzwerk beschriebenen sozialen Beziehungen. Dabei wird Mobilität in Kombination mit mehreren „Homebase[s]“ (Raik, A. 60) und dort anwesenden Personen, anstelle von Sesshaftigkeit, von den Akteuren zum „Bezugssystem“ (Malte, A. 529) gemacht. Geographische Mobilität, aber auch vielfältige onlinebasierte Mobilitätsformen (vgl. Urry 2007: 47) wie Skypebasierte Kundenbetreuung, Telefonate mit Familienmitgliedern, das Teilen von Fotos mit Freunden, die Nutzung von Chatkanälen zur Informationsgewinnung,
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Digitales Nomadentum als Lebensstil
der Konsum von Filmen via Streamingdienst oder das cloudbasierte Abrufen von Dokumenten (vgl. Makimoto 2013: 41) bilden dabei die grundlegenden Bestandteile eines fortwährenden Zustands, der nicht mit einer einmaligen Ankunft an einem Ort vergleichbar ist; dennoch entsteht für die Akteure nicht per se ein Zustand der Orientierungslosigkeit. Werden die persönlichen Netzwerke der Befragten nun abschließend einer Gesamtbetrachtung unterzogen, zeigt sich, dass diese hinsichtlich ihrer nachhaltig beständigen Beziehungen durch eine Homophilietendenz charakterisiert sind; weisen doch alle Beziehungen – unabhängig der zwischen den Personen liegenden geographischen Distanzen – einen gewissen Mehrwert für Ego auf oder ähneln diesem hinsichtlich seiner Interessen. Unliebsame Bürokollegen oder Nachbarschaftskontakte ebenso wie ortsbindende Paarbeziehungen finden darin keinen Platz. Wobei sich anhand von Letzterem am eindringlichsten die Notwendigkeit zur Auflösung von Beziehungen, welche sich für eine ortsflexible Lebensführung als hinderlich erwiesen, zeigte. So erfahren die persönlichen Netzwerke schließlich eine Optimierung; wesentlich mitgestaltet durch die Interessen von Ego. Resümierend lässt sich festhalten, dass entlang der Analyse des für die vorliegende Arbeit erhobenen empirischen Datenmaterials transparent gemacht werden konnte, wie eine Lebensführung als Digitaler Nomade erst unter den identifizierten Netzwerkstrukturen bzw. -veränderungen sowie den damit in Zusammenhang stehenden Handlungspraktiken umgesetzt werden kann.
9.3
Zur Rolle des „Mindset“
Wird der Versuch zur Einordnung des Digitalen Nomadens in bestehende Literatur unternommen, wird schnell ersichtlich, dass es sich hierbei um ein schwieriges Unterfangen handelt; wurde entlang der empirischen Beispiele doch deutlich, dass sich Digitale Nomaden bspw. nicht etwa wie „Berufsnomaden“ (Vorheyer 2013) und „Expatriates“ (Fechter 2007) aus Gründen lokal gebundener Arbeitstätigkeiten oder Unternehmensentsendungen an einen konkreten Ort begeben. Auch sehen sie anders als viele „global nomads“ (Richards & Wilson 2009), „Backpacker“ (Welk 2009) oder „Flashpacker“ (Jarvis & Peel 2010) davon ab, ihre Mobilität ausschließlich im Rahmen eines zuvor definierten Zeitraums auszuüben und die im Ausland verbrachte Zeit anschließend als Zusatzqualifikation in Bewerbungsgesprächen zu verkaufen (vgl. Binder 2005: 122). Ebenso wenig scheinen die Mobilitätsorientierungen Digitaler Nomaden mit jenen von „Lifestyle Migrants“ (Benson & O´Reilly 2016a) vergleichbar. Wenngleich beide auf der Suche nach „a better way of life“ (Benson & Osbaldiston 2016) zu sein scheinen, ziehen Digitale
9.3 Zur Rolle des„Mindset“
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Nomaden doch keine erneute Sesshaftigkeit in Betracht. Stattdessen bilden die beiden Aspekte, auf unbestimmte Dauer und bei Wunsch Landesgrenzen überschreitend mobil sein sowie der eigenen Arbeitstätigkeit onlinebasiert nachgehen zu können, zunächst die Grundpfeiler der allgemeinen Handlungscharakteristika Digitaler Nomaden – so auch das bis dato propagierte Bild in Medienberichten (vgl. z. B. Abendblatt 2017; Hart 2015; Mohnapril 2017; Wadhawan 2016). Den Aussagen der für die vorliegende Arbeit Interviewten folgend, wurde jedoch auch ersichtlich, dass eine Lebensführung als Digitaler Nomade nicht entlang einer quantifizierenden Logik von Mobilitätsschritten oder Arbeitsstunden definiert werden kann. Vielmehr erweist sich die Möglichkeit, selbstbestimmt über das eigene Tun – sofern dies im Rahmen der zuvor beschriebenen Netzwerkstrukturen umsetzbar ist – entscheiden zu können, als zentral. Dieses Argument zieht sich durch verschiedene Aktivitätsbereiche der Befragten und äußert sich in einer bestimmten Haltung – oder wie Paulina es nennt: einem „Mindset“ (A. 57) – gegenüber der eigenen Lebensvorstellung. Hinsichtlich der Arbeitstätigkeit bedeutet dies, nicht nur mehr Eigenständigkeit und Kreativität zu erlangen (vgl. Florida 2014; Krämer 2014: 36; Müller-Schneider 2008: 308 f.), sondern auch, dass Arbeit zu einem Bestandteil von „Selbstverwirklichung“ (Sören, A. 17) wird. Gleichzusetzen ist dieser Aspekt daher keineswegs mit der primären Forcierung einer Reduktion von Arbeitsstunden. Diese sollen jedoch möglichst effektiv und daher entsprechend individueller Aufmerksamkeitsspannen genutzt werden können. Auszeiten werden ebenso effektiv, bspw. in Form von sportlichen Aktivitäten, gestaltet. Die auf eigenen Wunsch ausgewählten Aufenthaltsorte bieten dafür (je nach Saison) das geeignete Umfeld. Weiter tritt an die Stelle einer Wohnadresse mit eigenem Klingelschild materieller Minimalismus und die Möglichkeit – die „Freiheit“ (Ben, A. 49, Kristin, A. 122) –, einen Ort jederzeit verlassen oder bei Wunsch erneut aufsuchen zu können. Summieren lassen sich diese von den Interviewten beschriebenen Facetten sowie das damit einhergehende Werteverständnis gegenüber der eigenen Lebensführung unter dem Schlagwort des Digitalen Nomadentums – wird dem Sprachgebrauch der Interviewten gefolgt. So bildet sich zudem die Benennung eines „lifestyle“ (Ricardo, A. 52, Sinan, A. 90) – eines Lebensstils – heraus, welcher entlang der Handlungspraktiken der Akteure sowie durch deren Konstruktionsleistungen seinen Ausdruck findet. Gleichzeitig entsteht durch die Verschlagwortung für die Befragten eine Möglichkeit der Verortung des eigenen Tuns.
Ausblick
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Auch wenn sich bereits auf Basis der gesammelten und voranstehend beschriebenen Erkenntnisse erahnen lässt, dass die Charakteristika des Digitalen Nomadentums sowie die Facetten der Handlungspraktiken mobiler Onlinearbeiter in ihrer Entwicklung noch nicht am Ende sind und dementsprechend weitere Explorationen notwendig machen, möchte ich an dieser Stelle doch auf einige konkrete Forschungsanliegen – sowohl method(olog)ischer als auch inhaltlicher Natur – hinweisen; deuteten sich diese doch voranstehend zum Teil an. So erscheint es hinsichtlich der noch jungen Entwicklung des Digitalen Nomadentums bspw. naheliegend, dem Gegenstand in einer Langzeituntersuchung zu begegnen; nicht zuletzt, um Aussagen über die Nachhaltigkeit einer Lebensführung als Digitaler Nomade machen zu können. Denkbar ist unter einer netzwerkanalytischen Perspektive außerdem ein verstärkter Einbezug der jeweiligen Referenzpersonen (Alteri) der Befragten in der Erhebung. So könnte die Thematik aus mehreren Perspektiven beleuchtet werden, bspw. aus Sicht der Elterngeneration oder Auftraggeber. Hinsichtlich weiteren Forschungsbedarfs ist eine genauere Analyse zu potentiellen Veränderungen im Kontext sich verändernder Lebensphasen, bspw. durch die Geburt eines Kindes (vgl. Rainie & Wellman 2014: 136; Wellman et al. 1997) notwendig. Mögliche Fragen, die in diesem Zusammenhang auftreten können, sind etwa: Inwiefern wirken sich die jeweiligen Ereignisse auf die Handlungspraktiken der Akteure aus? Ändern sich die geographischen Mobilitätsentscheidungen der Personen im Kontext solcher Entwicklungen? Welche Rolle spielt dabei das soziale Umfeld? Weiter erscheint eine gezielte Analyse von Identitätskonstruktionen in Abhängigkeit der persönlichen Netzwerkeingebundenheit der Mobilen interessant. Denn etwaige Zuschreibungen als Digitaler Nomade deuteten sich in der vorliegenden Arbeit anhand einiger Beschreibungen der Befragten zwar an, gleichzeitig wurde jedoch auch transparent, dass die Begriffsverwendung in einigen
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Fällen selektiv erfolgt (s. insb. Abschn. 8.2). Um Einblicke in die weiteren Entwicklungsverläufe zu erhalten, erscheinen gezielte dahingehende Nachfragen daher lohnenswert. Darüber hinaus erscheint es unter einer kontextualisierenden Beobachtung notwendig, die Entwicklung lokal verankerter sowie onlinebasierter Digitale Nomaden-Angebote unter einer Fokussierung auf deren Einfluss auf das Handeln der Akteure, zu verfolgen. Gemeint ist damit bspw. das seit Jahresbeginn 2018 von Thailand angebotene „Smart Visa1 “. Die Empfänger eines solchen Visums sind dazu befähigt, sich für vier Jahre ohne weitere Antragstellungen im Land aufhalten zu dürfen. Ziel dieses Angebots ist es, die Tore nach Thailand für Träger von neuem Wissen, wie etwa Onlinearbeitern oder u. U. Investoren, zu öffnen. (Zu reflektieren gilt es jedoch, inwiefern in diesem Zusammenhang auf Akteursebene von einer nomadischen Lebensführung gesprochen werden kann.) Ein anderes interessantes Angebot geht von Estland aus. Dort ist seit 2015 der Erwerb einer sogenannten „e-Residency2 “ (im dt. etwa: virtueller Wohnsitz) möglich. Diese ist nicht mit einer Staatsbürgerschaft vergleichbar, ermöglicht es dem Besitzer jedoch, ein Unternehmen unabhängig einer lokalen Meldeadresse vollständig onlinebasiert zu gründen, zu registrieren und zu verwalten sowie Services der estnischen Regierung (wie bspw. die Verwendung einer digitalen Signatur um Dokumente unterzeichnen zu können) zu nutzen. Unter Berücksichtigung von Entwicklungen dieser Art gilt es zu fragen, welche möglichen Folgewirkungen mit den neuen Bestimmungen für die lokal ansässige Bevölkerung einhergehen. Was bedeutet die Entstehung von einer Vielzahl von Coworking-Angeboten innerhalb kürzester Zeit für ein Stadtviertel? Entstehen künftig Arbeitskollaborationen zwischen den aus dem Ausland kommenden Digitalen Nomaden und einheimischen Kreativarbeitern? Ein weiterer interessanter Forschungsstrang für künftige Studien gilt außerdem dem gezielten Vergleich der Mobilitäts- und Arbeitsverläufen von Personen aus Ländern aus dem globalen Norden mit jenen aus dem globalen Süden. Denn ein Blick in aktuelle Onlineforen und soziale Onlinenetzwerke zeigt, dass mittlerweile auch Personen aus bspw. Bangladesch (im Sample der vorliegenden Arbeit nicht vertreten) Interesse an einer Lebensführung als Digitaler Nomade äußern3 . Meist – so der Anschein in den Diskussionsforen – finden diese jedoch keinen geeigneten Zugang bzw. Einstieg. Deren Teilnahme an Onlineforen deutet jedoch darauf hin, dass diese mittels einer Lebensführung als Digitaler Nomade (u. U.) einen Weg aus ihrem Geburtsland 1 Quelle
Interactive Associates: https://www.interactivethailand.com/thailand-smart-visa-4year-application/. 2 Quelle Republic of Estonia E-Residency: https://e-resident.gov.ee/; Wireless Life EResidency https://wirelesslife.de/e-residency-estland/. 3 Quelle Facebookgruppe Digital Nomad Community: https://www.facebook.com/groups/187 597644752998/.
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zu suchen scheinen. Die Motivation, das eigene Herkunftsland zu verlassen und diesen Schritt als Chance zu begreifen, um schlechte ökonomische Bedingungen oder politische Unsicherheiten hinter sich lassen zu können, deutete sich in der vorliegenden Arbeit explizit nur im Gespräch mit Sinan an. Über die aktuelle Situation im Libanon sowie seinem damit in Zusammenhang stehenden Empfinden erwähnt er: „I don´t come from a western country. So I mean in Libanon we have ISIS, we are near Syria, than we have Israel […] the coutry [Libanon] is not developed. […] I didn´t want to be in an environment like this. […] [N]ot worrying about surviving the next day” (Sinan, A. 201). Anknüpfend an Aussagen wie diese treten weitere Fragen auf, etwa, inwiefern eine Lebensführung als Digitaler Nomade als Ausweg aus politisch- oder ökonomisch unsicheren Regionen in Erscheinung treten könnte. Überlegungen wie diese gilt es entlang weiterer Untersuchungen zu konkretisieren.
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