Traktat über Verträge: Zweisprachige Ausgabe 9783787339563, 9783787339556

Der Franziskaner Petrus Iohannis Olivi war einer der umstrittensten und schöpferischsten Denker des 13. Jahrhunderts. Se

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German Pages 238 [377] Year 2021

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Traktat über Verträge: Zweisprachige Ausgabe
 9783787339563, 9783787339556

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Philosophische Bibliothek

Petrus Iohannis Olivi Traktat über Verträge Lateinisch – Deutsch

PETRUS IOHANNIS OL IVI

Traktat über Verträge

Übersetzt von Peter Nickl Herausgegeben, eingeleitet und mit einer Bibliographie versehen von

Giuseppe Franco

Lateinisch – Deutsch

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PH I LOS OPH I S CHE BI BLIOTHEK BAND 746

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN  978-3-7873-3955-6 ISBN eBook  978-3-7873-3956-3

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Accademia di Ipazia e. V. und der Internationalen Stiftung Humanum (Lugano). © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2021. Alle Rechte ­vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: mittelstadt 21, Vogtsburg-Burkheim. Druck und Bindung: Beltz, Bad Langensalza. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­ papier, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

I N HA LT

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Die Wirtschaftsethik von Petrus Iohannis Olivi  . . . . . . . . . . . .

IX

1. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 1.1 Studienjahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XI 1.2 In Kontroversen verstrickt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 1.3 Die Pariser Zensur von 1283 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XVII 1.4 Vorläufige Rehabilitierung und letzte Lebensjahre . . . . . . . . . XX 1.5 Posthume Anklage und Verurteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIV 1.6 Das Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVII

Entstehung, Datierung und Struktur des Tractatus de contractibus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX 2.1 »Entdeckung« und Titel des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXX 2.2 Abfassung und Einheit des Textes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXIII 2.

3. Historisch-soziale und intellektuelle Kontexte . . . . . . . . . . XXXVII 3.1 Ökonomisches Denken im Mittelalter und die

Wiederentdeckung des Aristoteles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXXVIII 3.2 Kanonistik und Zivilrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XL 3.3 Olivis intellektuell-praktisches Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLII 3.4 Das scheinbare Paradox und die innere Kontinuität zwischen Armut und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XLV 4. 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

Ökonomische Auffassungen und begriffliche Neuerungen . . . L Preis und Wert: Die individuelle Güterbewertung . . . . . . . . . . LII Gerechter Preis und die gemeinschaftliche ­Güterbewertung . . LVII Ethische Legitimität des kaufmännischen Handels . . . . . . . . . LX Usura, interesse und capitale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXII Restitution, unrechtmäßige Gewinne und turpe lucrum . . . LXVIII

5. Kritische Würdigung, Wirkungsgeschichte und Aktualität . . . LXXI 5.1 Die historiographische Debatte zu Olivis ­ökonomischem

Denken und zur franziskanischen Wirtschaftsethik . . . . . . LXXII

VI

Inhalt

5.2 Rezeptionslinien und ökonomische Ideengeschichte . . . . . LXXXV 5.3 Die Aktualität des franziskanischen wirtschaftsethischen

Paradigmas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

6.

C

Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . CV

Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . CXI

PETRUS IOHANNIS OLIVI

Traktat über Verträge

Erster Teil De empcionibus et vendicionibus / Über Käufe und Verkäufe. 2 Zweiter Teil De contractibus usurariis / Über wucherische Verträge . . . . . . 56 Dritter Teil Dubia circa materiam contractuum / Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 Vierter Teil De restitucionibus / Über Rückerstattungen . . . . . . . . . . . . . . . . 142

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

VO RWO RT

D

er Tractatus de contractibus des Franziskanertheologen ­Petrus  Iohan­nis Olivi, der als einer der brillantesten Denker des 13.  Jahrhunderts gilt, wurde etwa 1293–1295 in Narbonne verfasst. Nach mehr als 700 Jahren wird dieser Text nun zum ersten Mal ­einem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht, und man wird feststellen, dass er nichts an Aktualität eingebüßt hat. Das Werk ist Teil einer intellektuellen Tradition und entstammt einer grund­ legen­den historischen Epoche, die zum Aufbau der europäischen Zivilisation und zur Entwicklung der ökonomischen Begrifflichkeit in entscheidender Weise beigetragen hat. Die Vorarbeiten für die vorliegende deutschen Ausgabe wurden im Jahre 2016 begonnen. Die Gewährung interner Fördermittel der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt unterstützte die Erstellung einer Teilübersetzung des Traktats. Die historisch-theoretische Analyse des Textes und die Untersuchung der Olivi’schen Ideen wurde mir durch ein von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung gefördertes Feodor-Lynen-Forschungsstipendium ermöglicht. Bei dieser Arbeit, der ich mich von August 2017 bis Januar 2019 widmete, hat mich Prof. Dr. Loris Sturlese (Università del Salento / Italien) ­betreut. Mein herzlicher Dank gilt der Humboldt-Stiftung für die Gewährung des Stipendiums; Herrn Professor Sturlese möchte ich ganz besonderen Dank aussprechen für die angenehme und fruchtbare Zusammenarbeit, für seine wertvollen Ratschläge und nicht zuletzt für seine liebenswürdige Ermutigung, die mich auf meinem akademischen Bildungs- und Denkweg in Deutschland und Italien stets begleitete. Ebenso gilt mein Dank den Kolleginnen und Kollegen der Università del Salento für die ertragreichen Gespräche während der Zeit unserer Zusammenarbeit, Gespräche, die bis heute andauern. Zu tiefem Dank bin ich meinem langjährigen Kollegen Prof. Dr. Peter Nickl verpflichtet. Unsere Zusammenarbeit war sehr kon­

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Vorwort

struk­tiv, und er war stets bereit, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Sehr hilfreich war auch seine professionelle und punktgenaue deutsche Übersetzung des lateinischen Textes. Prof. Dr. Sylvain Piron danke ich dafür, dass er mir den von ihm edierten lateinischen Text zur Verfügung gestellt hat. Dem Felix Meiner Verlag und insbesondere Herrn Marcel Simon-­ Gadhof danke ich für die freundliche verlegerische Betreuung und für die Aufnahme dieses Bandes in die Reihe »Philosophische Bi­ blio­thek«. Der Druck wurde aus uneigennützigem Interesse an der Förderung des Verständnisses von Geld durch die Accademia di Ipazia e. V. sowie die Internationale Stiftung Humanum (Lugano) bezuschusst. Beiden Institutionen gilt mein herzlicher Dank. Mein besonderer Dank gilt Dagmar Niemann für ihre Bereitschaft, das Korrekturlesen dieser Einleitung zu übernehmen: Ohne ihre Unterstützung wäre die Herausgabe dieses Bandes nicht möglich gewesen. Ein wertschätzender Dank gilt Herrn Prof. Dr. Martin Rhonheimer für seine intellektuelle Freundschaft und den angenehmen Gedankenaustausch. Ihnen allen wünsche ich die Fortsetzung unseres Gespräches! Andrano, Ferragosto 2020

D I E W I RT S C HA F T SE T H I K VO N P E T RU S IO HA N N I S O L I V I

Fiorella Retucci gewidmet 1.  Leben und Werk Petrus Iohannis Olivi (1248–1298) war als Theologe und Philosoph einer der größten Gelehrten des 13. Jahrhunderts und einer der originellsten Denker der franziskanischen Tradition. Wegen seiner rigorosen Interpretation des franziskanischen Armutsgelübdes und der evangelischen Vollkommenheit, die er durch die Idee des usus pauper veränderte, sowie wegen seiner apokalyptisch-eschatologischen Geschichtstheologie gehörte er zu den einflussreichsten, aber auch umstrittensten franziskanischen Theologen. Während seines Lebens und nach seinem Tod wurde er mehrfach der Häresie verdächtigt, als Mystiker betrachtet, als Sektengründer angeklagt und Disziplinarmaßnahmen unterworfen; seine Schriften wurden verboten und verbrannt, seine Lehren wurden Prüfungen unterzogen und mit der Zensur belegt; seine Anhänger wurden als gefährliche Ketzer-Inspiratoren verfolgt. Nach seinem Tod waren Olivis Ansichten auch weiterhin Anlass zu Auseinandersetzungen, wie die magna et longa et scandalosa disceptatio über die Armutsfrage zwischen den Brüdern der Kommunität und den Spiritualen vor der päpstlichen Kurie in Avignon bezeugt, die sich von 1309 bis 1312 hinzog. Posthum wurde 1326 sein monumentales Werk Lectura super Apoca­ lypsim (Olivi 2015; 2017) verurteilt. In die Geschichte ist Olivi als derjenige eingegangen, der durch seine Forderung nach einer strengen Auslegung des Armutsgelübdes den Franziskanerorden beinahe gespalten hätte. Wegen der verschiedenen Anklagen und Verurteilungen ist er als »das bestgehütete Geheimnis des 13. Jahrhunderts« bezeichnet worden (Lewis 2002, S.  659). In den Jahrzehnten nach seinem Tod und auch in späteren Jahrhunderten waren die Vor­

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Die Wirtschaftsethik von Petrus Iohannis Olivi

urteile gegen ihn als angeblichen Ketzer so stark, dass viele Theologen, die sich in ihren Schriften auf ihn bezogen, seinen Namen gar nicht erwähnten. Olivi war jedoch ein faszinierender Autor, der in seinem Jahrhundert eine intellektuelle Wende vollzog, die durchaus mit der des Dominikaners Thomas von Aquin (Piron 2018, S.  160–161) zu vergleichen ist. Man kann ihn mit Recht als einen »eigenständigen, gewiss streitbaren und in mancherlei Hinsicht kontroversen, keinesfalls aber extremistischen Intellektuellen« (Hoffarth 2016, S.  64) charakterisieren. Olivi als Person und seine Wirkung haben die inneren Angelegenheiten und die Entwicklung des Franziskaner­ ordens geprägt; beides war für die theologischen und philosophischen Aus­einan­der­setzungen des 13. bzw. 14. Jahrhunderts bahnbrechend. Olivi war nicht nur Zeitzeuge, sondern bei vielen Ereignissen und in vielen Diskussionen auch aktiv, und als Protagonist war er dann auch selbst Opfer. Seine Spiritualität und sein Denken waren für viele ein Bezugspunkt, aber auch ein Zeichen des Widerspruchs. Die Faszination, die er als Intellektueller und als Franziskanerbruder verströmte, wurde kritisiert, führte aber schließlich zur Erneuerung seines Ordens und der Kirche. Olivis Ansichten sind geprägt durch seine eindeutig kritische Haltung, scharfsinniges Denken und den Willen zur Innovation (Suarez-­Nani 2016, S.  107–110). Er war »ein franziskanischer Querkopf« (Kobusch 2005) und ein »schöpferischer Denker« (Burr 1984, S.  82). Nicht zufällig war er auf mehreren Gebieten ein genialer Neuerer, beispielsweise in Metaphysik, Erkenntnistheorie, Psychologie, Ekklesiologie, Eschatologie, Jurisprudenz und Wirtschaftsethik (Jansen 1921; Simoncioli 1956; Bettoni 1959; Burr 1993; Boureau  /  Piron 1999; Schmucki 2009; Toivanen 2013; Società Internazionale di Studi Francescani 2016). Er hat die zeitgenössischen Diskussionen durch viele Themen bereichert, etwa durch die Betonung der menschlichen Willensfreiheit und der Verbindung zwischen Körper und Seele, die Begründung der Impetus-Theorie und des ökonomischen Kapitalbegriffs sowie die Verteidigung der Idee des usus pauper. Olivis Ideen sind ein spannendes Kapitel im philosophischen, theolo-

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gischen und ökonomischen Denken des Mittelalters, das noch nicht vollständig geschrieben ist; es hat durchaus das Potential, zukünftige Forschungen zu beflügeln. Es wäre zu wünschen, dass Olivis Wirkungsgeschichte und sein ideengeschichtlicher Einfluss auf damalige und spätere Denktraditionen umfassend rekonstruiert würden, da sie die Stationen einer wechselhaften Geschichte charakterisieren.

1.1 Studienjahre Olivi wurde um 1248 in Sérignan (Languedoc) bei Béziers in Südfrankreich geboren.1 Er trat vermutlich 1259 im Alter von ca. zwölf Jahren in den Orden der Minderbrüder in Béziers ein. Um 1268 studierte er in Paris, wo er einige Vorlesungen von Bonaventura hörte und zum Schüler angesehener Theologen wie Wilhelm de la Mare, Johannes Peckham und Matthäus von Aquasparta wurde. Der Aufenthalt in Paris und die dortige intellektuelle Atmosphäre ermöglichten es ihm, sich mit den zeitgenössischen Debatten und den lebhaften Auseinandersetzungen der magistri des franziskanischen und des dominikanischen Ordens vertraut zu machen, war doch Paris zu jener Zeit der Schauplatz intellektueller Neuerungen, bei denen große Theologen wie Bonaventura da Bagnoregio und Thomas von Aquin eine Rolle spielten. Olivis forma mentis ist geprägt durch die damaligen Lehrkonflikte, die durch die Wiederentdeckung und Verbreitung der Schriften des Aristoteles verursacht worden waren. Bei diesen Kontrover1  Franz Ehrle (1886; 1887) ist eine erste grundlegende Biographie zu Olivi zu verdanken. Aufgrund der Quellenlage und des aktuellen Forschungsstandes bleibt jedoch die Rekonstruktion von Olivis Leben und Werk lückenhaft; einige Fragen sind nicht endgültig zu beantworten. Eine umfassende Biographie-Untersuchung hat David Burr (1976) erarbeitet und in weiteren Publi­ kationen um einige Aspekte ergänzt (Burr 1989; 1993; 2001). Für eine eingehende Analyse der Geschichte der Zensur und der Verurteilungen Olivis vgl. Piron 2006 a. Ein biographischer Abriss und ein Überblick finden sich in: Vian 1989; Schmucki 2009, S.  27–37; Piron 2020 a; 2020 b.

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Die Wirtschaftsethik von Petrus Iohannis Olivi

sen ging es um verschiedene Themen: um Rezeption und Einfluss der arabischen Philosophie an der Sorbonner Universität zu Paris; um die Verwendung des aristotelischen Denkens in der christlichen Welt; um das Wissenschaftsverständnis der Theologie oder auch um das Verhältnis zwischen Theologie und Metaphysik. Diese Debatten führten 1277 zu der berühmten Pariser Verurteilung von Lehrthesen des radikalen Aristotelismus und des Averroismus sowie anderer philosophischen Ideen (Flasch 1989; Bianchi 1990; Piché 1999; Whitehouse 2016). In diesem Umfeld bildeten sich Olivis eigene Ansichten, wobei die Treue zu Franz von Assisi und zur evangelischen Armut ebenso eine Rolle spielte wie das augustinisch-bonaventurianische Denken und das apokalyptisch-eschatologische Denken des bedeutenden kalabresischen Abtes Joachim von Fiore. Zu Olivis Zeit war es üblich, dass die Brüder, die zum Studium nach Paris geschickt worden waren, in ihre Provinzen zurückkehrten, wo sie als lectores wirkten, ehe sie wiederum nach Paris gingen, um den Grad eines baccalaureus oder magister zu erlangen (Burr 1989, S.  38). Es scheint allerdings nahezu ausgeschlossen, dass Olivi in den 1270er Jahren in Paris das Baccalaureat erlangte; dieser Titel wurde üblicherweise jenen verliehen, die die Sententiae von ­Petrus Lombardus gelesen hatten. Es gibt nämlich für den Zeitraum von Olivis Aufenthalt in Paris keine Hinweise darauf, dass er Sentenzen Vor­lesungen gehalten hat. Sicherere Beweise für seinen Sentenzen-­ Kommentar beziehen sich auf die Jahre 1287/1289, als er in Florenz lebte (Burr 1976, S.  6; Piron 2010, S.  29–30). Es gibt überdies Indizien, dass Olivi nach dem Abschluss des ersten theologischen Studienzyklus von 1267–1271 bis ca. 1274 zum studium generale in Paris blieb und dort im Auftrag bzw. auf Wunsch von Bonaventura selbst als lector tätig war (Piron 2010, S.  31–33). In der ersten Hälfte der 1270er Jahre war Olivi dann auch als lector am franziskanischen Ordensstudium von Montpellier und/oder Narbonne t­ ätig. Den Magister-Titel erreichte er jedoch nicht; das berichtete er selbst, indem er vorgab, den Pariser Ambitionen aus Demut entsagt zu haben – pari­ sienses ambitiones perhorrescens (Olivi 1998, S.  46). Aber die Gründe für die versagte Erlangung des Magistertitels liegen möglicherweise

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in anderen Lebensumständen. Wahrscheinlich war Olivi die Gelegenheit, den Weg zum magisterium zu gehen, wegen mehrfachen Zweifels an seiner Orthodoxie verbaut. Es gab wiederholt Anklagen durch einen seiner Mitbrüder sowie Zensur und Verurteilungen von Seiten der Ordensleitung, was die Erlangung des Titels zunächst ­belastete, dann erschwerte und schließlich unmöglich machte.

1.2  In Kontroversen verstrickt Eine der ersten Auseinandersetzungen mit den Oberen des Franziskanerordens wurde 1278 ausgelöst, als Olivi wegen einiger Quaestio­ nes zur Mariologie – und vielleicht auch wegen anderer Texte zum Tauf- und Ehesakrament – vor Hieronymus von Ascoli angeklagt wurde, der von 1274–1279 Generalminister war und später Papst Nikolaus IV. wurde. Der Generalminister ordnete die Vernichtung der betreffenden Quaestiones an, allerdings nicht aus theologischen Gründen, sondern weil er Olivi auf die Probe stellen wollte (Pirons Einleitung zu: Olivi 1998, S.  41–42). Olivi fügte sich seinem Urteil und willigte ein, seine betreffenden Schriften zu verbrennen. Diese Umstände hatten jedoch für Olivi noch keine negativen Auswirkungen. Ihm wurde sogar von seinem Provinzialminister Bermond d’Anduze der Auftrag erteilt, mit dem neuen Ordensgeneral Bona­ grazia di San Giovanni in Persiceto an den Vorbereitungsarbeiten (Burr 1989, S.  39; Olivi 1972, S.  159) der eingesetzten Kommission zur Verfassung der Bulle Exiit qui seminat mitzuarbeiten, die Papst Nikolaus III. dann am 14. August 1279 erließ. Diese Bulle war als päpstliche Stellungnahme grundlegend für die komplexe Interpretation des franziskanischen Armutsverständnisses und für die Einhaltung der Regula des Heiligen von Assisi; sie zielte darauf ab, die theoretischen Grundlagen und die Lebenspraxis des Franziskanerordens ebenso wie die franziskanischen Besitzrechte zu ordnen (Elizondo 1963; Feld 2007, S.  458–463; Mäkinen 2001, S.  95–102). Die Feindseligkeiten gegenüber Olivi hatten allerdings ältere Wurzeln und sind während seines Aufenthaltes in Paris auf einen

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gewissen Bruder Ar. zurückzuführen, wie Olivi ihn in der Epistola ad fratrem R. bezeichnet (Olivi 1998). Über diesen Bruder Ar. ist sehr wenig bekannt. Möglicherweise handelt es sich um Arnaldus Galhardi, einen Franziskaner und lector, der aus derselben Provinz stammte wie Olivi, nämlich aus dem Languedoc. Arnaldus war ­einige Jahre älter als Olivi und wahrscheinlich sein Rivale in Bezug auf die Möglichkeit, zum studium nach Paris gehen zu dürfen. Arnaldus war erfolgreich und wurde ebenfalls Baccalaureus. Sein Name ist in einigen Zeugnissen überliefert, wo er als Olivis Gegner bezeichnet wird, und erscheint auch in einer universitären Predigtsammlung der Pariser Universität (Burr 1989, S.  39–42; Pirons Einführung zu: Olivi 1998, S.  37–39; Piron 2006 a, S.  318–323). Zwischen Olivi und Arnaldus, die beide vermutlich auch für eine gewisse Zeit im selben studium in Montpellier waren, entbrannte bereits vor 1274 eine erbitterte Kontroverse, die jahrelang andauerte. Es gab gegenseitige Anklagen zu verschiedenen theologischen und philosophischen Fragen, z. B. zur Armutsfrage, zur Frage über die Engellehre sowie zur Definition göttlichen Wissens und göttlicher Ideen (Piron 1999 a; 2020 b, § 23–28). Es scheint auch, dass der Drahtzieher hinter der Episode der disziplinarischen Maßnahmen des Generalministers Hieronymus von Ascoli gegen Olivi in Montpellier im Jahre 1278 Arnaldus selbst war. Diese anhaltende Rivalität zwischen den beiden Franziskanern hatte 1283 Olivis Zensur durch eine Pariser Kommission zur Folge (Piron 2006 a, S.  317–319; 2020 a, § 43–48). Die Ursache der Gegnerschaft zwischen Arnaldus und Olivi war nicht nur ein Konflikt zwischen zwei Intellektuellen, sondern im Grunde eine Auseinandersetzung über die franziskanische Armutsfrage, deren wunder Punkt der usus pauper war. Die Franziskaner stimmten weitgehend darin überein, dass die Regula und das Armutsgelübde die Verpflichtung beinhalteten, sowohl auf individuelles wie auch auf gemeinschaftliches Eigentum zu verzichten. Die heikle Frage war, ob der usus pauper, d. h. der arme Gebrauch der Güter, der sich nur auf das Lebensnotwendige beschränken sollte, als ein wesentlicher Bestandteil des franziskanischen Armutsgelübdes zu betrachten sei. Die besondere Kontroverse um den usus pau­

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per, die zwischen 1279–1283 im Franziskanerorden und vor allem in den Konventen des Languedoc in Südfrankreich ausgetragen wurde, zog sich bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts hin und spitzte sich bisweilen dramatisch zu (Burr 1985; 1989; Lambert 1961; Miethke 1969, S.  348–427; 2012). In diesem Armutsstreit ging es um die richtige Auslegung der ­Regula des Franz von Assisi sowie um die theoretischen Grundlagen und praktischen Auswirkungen des von ihm hinterlassenen Armuts­ ideals, also um den Nutzen und Besitz von irdischen Gütern, aber auch um die Identität des Franziskanerordens und um seine Rolle in Kirche und Gesellschaft. An diesem Streit beteiligten sich nicht nur Theologen und Obere des Franziskanerordens, sondern auch kirchliche Autoritäten. Es war ein Streit, der sogar Päpste zu praktischen Eingriffen und zum Verfassen von Bullen veranlasste. Olivis Idee des usus pauper spielte darin eine maßgebliche Rolle. Der Streit wurde mit zunehmender Aggressivität ausgetragen und hatte später auch politische Konsequenzen. Innerhalb des Franziskanerordens verursachte er Spaltungen, wobei es zunächst zwei Hauptrichtungen gab: einerseits die Brüder der Kommunität, die für eine laxere Interpretation der Regula standen; andererseits die Spiritualen (Burr 2001), die sich für eine rigorosere Interpretation einsetzten und Olivis Vorstellungen folgten. Olivi war jedoch nie der Führer der Spiritualen im strengen Sinne des Wortes, sondern nur einer ihrer bedeutendsten Vertreter und ihr Inspirator (Flood 1971; Manselli 1976 a; Vian 1989, S.  31–42).2 Es bildeten sich dann noch Gruppen innerhalb der Spiritualen, die einem starken Extremismus anhingen, so dass sie als Ketzer verdrängt wurden. Im Laufe der Jahre eskalierte der Streit und führte sogar zu Aufständen gegen die Ordensleitung und die kirchlichen Obrigkeiten, auch zu heftigen Reaktionen und 2  »Olivi war also nicht der Führer der Spiritualen, sondern zweifellos die Persönlichkeit, die ihre Sehnsucht nach Erneuerung im Orden und in der Kirche am besten vertrat und dann ihr Drama in den Wechselfällen des Lebens und nach dem Tod erlebte.« (Vian 1990, S.  10). Im Folgenden stammen alle Übersetzungen von Zitaten aus nicht-deutscher Sekundärliteratur von mir.

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disziplinären Maßnahmen von Seiten der Franziskaneroberen und der Amtskirche bis hin zu Unterdrückung und Verfolgung der Spiritualen und der provenzalischen Laienbewegung der sogenannten Beginen (Manselli 1959; Burnham 2008; Unger 2005). In seinen Quaestiones de perfectione evangelica und vor allem in den Quaestiones VIII und IX (Olivi 1989 a; 1992 a), die Olivi um 1279 verfasste, beschäftigte er sich mit der Frage der höchsten Armut und der evangelischen Vollkommenheit sowie mit dem Eigentumsverzicht. Er verteidigte den usus pauper, den er als verpflichtenden Bestandteil des franziskanischen Gelübdes ansah. Olivis Ansicht zum usus pauper wurde von seinem Gegner Arnaldus während einer öffentlichen Auseinandersetzung in Montpellier angegriffen, worauf Olivi mit seinem Tractatus de usu paupere (Olivi 1992 b), den er 1280–1282 schrieb, heftig reagierte.3 So zog die Armutskontroverse immer weitere Kreise und erreichte sogar die franziskanischen Oberen, vor allem das Generalkapitel, das zu Pfingsten des Jahres 1282 in Straßburg tagte. Dieses Generalkapitel erließ Bestimmungen über die spezifische Ordensausbildung und setzte sich für die Verteidigung der lehrmäßigen Orthodoxie des Ordens ein. Zu den verschiedenen Beschlüssen und Definitiones gehörte auch eine Anordnung, die die Untersuchung der »verdächtigen Meinungen« (Fussenegger 1933, S.  137) der fratres der Provinz Provence einleitete. Als Reaktion auf diese Maßnahme legte Arnaldus Galhardi dem Generalminister Bonagrazia über den Provinzialminister Arnaud de Roquefeuil 3  In seinem Tractatus de usu paupere schreibt Olivi: »novissime vero diebus […] quosdam novos pseudo apostolos eiusdem [sc. b. Francisci] predicte regule professores qui audent publice astruere et dogmatizare et in scolis suis sollempniter determinare quod usus pauper seu moderatus nullo modo cadit sub professione et voto regule nostre.« (Olivi 1992 b, S.  89). Nach Piron (2006, S.  320) soll Arnaldus Galhardi der Gesprächspartner und Gegner sein, der im Tractatus de usu paupere angesprochen wird; dessen vierter Teil (Olivi 1992 b, S.  129–142) soll der Widerlegung von Arnaldus’ Kritiken gewidmet sein. Diese Identifizierung war auch bereits von Joseph Koch (1930 b, S.  500– 502) vorgeschlagen worden. Vorsichtiger ist hingegen Burr (1989, S.  49–51), der in ­Arnaldus nicht Olivis spezifischen Gegner sieht.

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eine Liste mit 19 verdächtigen, angeblich irrigen Thesen von Olivi vor. Dieser antwortete mit einer Gegenanzeige und stellte aus den Schriften seines Gegners eine Liste mit 32 falschen Sätzen zusammen (Pirons Einführung zu: Olivi 1998, S.  34; Piron 2006 a, S.  321; Burr 1989, S.  40; Burrs Einführung zu: Olivi 1992 b, S.  XI–XIV), die er dann als Grundlage für die Ausarbeitung seiner Impugnatio (Olivi 1505 b) gegen Arnaldus benutzte, eine Schrift, die er gegen Ende des Jahres 1282 verfasste.

1.3  Die Pariser Zensur von 1283 In der Folge beantragte Bonagrazia eine Prüfung von Olivis Auffassungen: Er setzte eine Pariser Theologenkommission ein und ließ seine Schriften einsammeln. Die siebenköpfige Kommission bestand aus vier magistri (Drogo de Pruvinis, Johannes von Wales, Simon de Lens und Arlotto von Prato) und drei baccalaurei (Richard von Mediavilla, Johannes von Murrovalle und Aegidius de Bensa) des ­Pariser studium. Sie hatte die Aufgabe, die Anklagen gegen Olivi auf der Basis einer gründlichen Untersuchung seiner Schriften zu prüfen. Am Ende ihrer Arbeit fertigte die Kommission am 19. Mai 1283 ein Schriftstück an, die sogenannte Littera septem sigillorum (Fus­ sen­egger 1954). Dieser Brief der sieben Siegel, der von allen Zensoren unterzeichnet und mit ihrem Amtssiegel versehen war, enthielt 22 richtige Sätze, die die Kommission als Korrektur und Gegenthese ebenso vielen irrigen Thesen Olivis gegenüberstellte. Olivi wurde aufgefordert, im Herbst desselben Jahres in Avignon der Littera sep­ tem sigillorum zuzustimmen und seine Ansichten zu widerrufen. In seiner in Avignon vorgelegten Responsio (Olivi 1935 a) gab Olivi tatsächlich seine Zustimmung, jedoch nicht ohne Vorbehalte. Er wollte auch nach Paris reisen, um sich vor der Pariser Kommission in per­ sona zu verteidigen und seine Auffassungen zu erläutern, was ihm jedoch nicht erlaubt wurde. Das Pariser Schriftstück gab weitgehend die von Arnaldus erhobenen Vorwürfe gegen Olivi wieder. Genauer betrachtet ist das Do-

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kument formal und rechtlich fragwürdig, und zwar aus verschiedenen Gründen: Olivi wurde über das eingeleitete Verfahren nicht informiert; er erhielt keine Gelegenheit zur Klärung seiner Position, sondern wurde sogar gezwungen, dem Dokument zuzustimmen; zudem wurden im Verfahren die von Olivi erarbeiteten Thesen gegen Arnaldus nicht berücksichtigt. Die Littera septem sigillorum erreichte nicht die erwünschte Wirkung. Angesichts der Einwände, Gegenerklärungen und Demaskierungen, die Olivi in seiner avignonesischen Responsio präsentierte und geschickt vortrug, scheint es, dass die Pariser Zensoren das Dokument als »Fehlschlag« interpretierten und dass es »nicht mehr als gleichwertig mit der Ankündigung einer Zensur von Olivis Irrtümern dargestellt werden konnte«. (Piron 2006 a, S.  327–330, hier 330). Später war es möglicherweise Gerhard von Prato, der Sekretär des inzwischen verstorbenen Ordensgenerals Bonagrazia, der die Mitglieder der Pariser Kommission oder zumindest einige von ihnen dazu veranlasste, die Offensive gegen Olivi wieder aufzunehmen und eine neue Anklageschrift zu verfassen. Das Ergebnis war die Erstellung eines weiteren Dokumentes, des sog. Rotulus, der in den letzten Monaten des Jahres 1283 entstand. Im Rotulus sind etwa 50 Olivis Schriften entnommene Sätze enthalten.4 Olivi erinnerte später, dass jeder dieser Sätze am Rande mit einem negativen Urteil gekennzeichnet war, wie z. B. »falsch«, »häretisch«, »gefährlich«, »anmaßend« (Olivi 1935 b, S.  132). Der Rotulus wurde zusammen mit der Littera septem sigillorum an alle Konvente der Provence versandt. Es wurde zudem angeordnet, beide Texte vor allen Brüdern zu verlesen und Olivis Schriften bei denen, die sie besaßen, einzuziehen. 4 Der Rotulus ist nicht erhalten, aber sein Inhalt und seine Struktur lassen sich durch das von Olivi Anfang 1285 verfasste Rechtfertigungsschreiben (Olivi 1935 b) sowie durch einige von der Kommission verwendete Manu­ skripte rekonstruieren (Piron 2006 a). Eine Zusammenfassung und einen Vergleich der Olivi angeblich belastenden Thesen, die sich in den verschiedenen Dokumenten finden, die mit der Zensur zu tun haben, hat Piron (2006, S.  323–324) in einer Tabelle zusammengestellt.

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Auf diese Weise wurde es Olivi untersagt, zu lehren und zu schreiben; auch wurde ihm Einsicht in die Zensurdokumente verweigert. Es scheint auch, dass er eine noch härtere Strafe erhielt und inhaftiert wurde, was aus einer Anspielung seinerseits geschlossen werden kann (Olivi 1935 b, S.  403; dazu: Piron 2006 a, S.  331–332). Nach seiner Freilassung wurde Olivi möglicherweise vorübergehend dem Konvent von Nîmes zugewiesen. Erst in den ersten Monaten des Jahres 1285 hatte er wieder Zugriff auf die Zensurdokumente Littera und Rotulus und vermutlich auch auf seine eigenen Schriften. So konnte er noch vor Mai 1285 eine vollständigere Apologie verfassen (Olivi 1935 b), in der er seine Positionen verdeutlichte, die Kritik der Zensoren entkräftete und deren Zweideutigkeit aufzeigte. Dieses eingehende und sorgfältig ausgearbeitete Rechtfertigungsschreiben begann mit einem Gehorsamsbekenntnis Olivis gegenüber der römischen Kirche in Bezug auf Glaubensfragen. Dabei unterschied er zwischen Glaubensartikeln, die er als seine Verpflichtung betrachtete, und einfachen menschlichen und philosophischen Meinungen, denen man nicht unbedingt glauben musste. Olivi beklagte auch, dass er nicht von der römischen Kirche zensiert wurde, sondern von seinem eigenen Orden und von einer Kommission, die »die Grenzen ihrer Zuständigkeit überschritten hatte« (Burr 1976, S.  43). Olivi machte klar, dass er sich bereits bei dem früheren Bekenntnis in Avignon entschieden hatte, einige Thesen simpliciter et abso­ lute und andere sub distinctione anzunehmen (Olivi 1935 b, S.  134). Er kritisierte, dass seine Ordensoberen nicht einmal die Autorität über die philosophischen Thesen hätten, die als einfache Meinungsäußerungen anzusehen seien. Weiter machte er darauf aufmerksam, dass er in seinen Schriften verschiedene und manchmal einander widersprechende philosophische Ansichten erwähne, was aber nicht bedeute, dass er diese Ansichten teile. Er brachte sein Erstaunen darüber zum Ausdruck, dass die Pariser Kommission ein so unzulängliches und zu Missverständnissen führendes Verfahren durchgeführt habe. Er kritisierte, dass seine Zensoren Auszüge aus Texten entnommen hatten, die er privat zur eigenen intellektuellen Übung geschrieben habe. Und er formulierte, dass er die Maßnahme, den

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Rotulus in allen Konventen der Provence und vor allen Brüdern zu verlesen, als ein Zeichen der offenkundigsten und schrecklichsten Missbilligung seiner Person betrachte (Olivi 1935 b, S.  132).

1.4  Vorläufige Rehabilitierung und letzte Lebensjahre Nach 1285 war Olivi weiteren Vorwürfen ausgesetzt, erhielt aber auch eine vorläufige und »bittere Genugtuung der Rehabilitierung« (Lambertini  /  Tabarroni 1989, S.  81). Die Anklagen gegen ihn wurden vom Provinzialminister Arnaud de Roquefeuil wiederaufgenommen, der zusammen mit anderen Franziskanern versuchte, einen neuen Angriff gegen Olivi zu starten. Sie reichten eine Petition ein, in der sie Olivi als »Führer einer abergläubischen Sekte und als Säer der Zwietracht und Irrtürmer« (Burr 1976, S.  67) beschrieben. Nachdem Arlotto von Prato, der ein Mitglied der Pariser Kommission gewesen war, während des Kapitels in Mailand 1285 zum Ordensgeneral gewählt worden war, veränderte sich die Situation zu Olivis Gunsten. Vermutlich startete Arlotto ein Rehabilitierungsverfahren zugunsten Olivis mit dem Ziel der Aufhebung der Zensur. Er lud Olivi nach Paris ein, wo er sich persönlich verteidigen sollte. Aber der Generalminister starb ein Jahr nach seiner Wahl und erst beim nächsten Generalkapitel von 1287 kam es zu einer entscheidenden Wende in der Sache Olivi. Olivi selbst nahm am 25. Mai 1287 am Generalkapitel in Montpellier teil, wo er Gelegenheit hatte, seine These über den usus pau­ per zu erläutern und zu verteidigen. Sein Beitrag stieß während dieses Generalkapitels auf breiten Konsens; Matthäus von Aquasparta, der Olivis Lehrer in Paris gewesen war, wurde zum Ordensgeneral gewählt. Der neue Generalminister erkannte Olivis Rechtgläubigkeit an und widerrief die zuvor gegen ihn verhängten Sanktionen und Verurteilungen. Matthäus von Aquasparta trug weiter dazu bei, die Opposition zu beruhigen und die Anklage gegen Olivis Schüler auszusetzen. Er war kein Verfechter des extremen Rigorismus, sondern schätzte Olivis Haltung in Bezug auf den usus pauper. Als

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Zeichen der Wertschätzung, aber wahrscheinlich auch aus Vorsicht, beschloss Matthäus von Aquasparta, Olivi aus der Provence und aus den in seiner Umgebung entstandenen Feindseligkeiten zu entfernen und ihn als Lektor in das studium des Konvents von Santa Croce in Florenz zu schicken. Hier blieb Olivi von 1287 bis 1289. Olivis Person und sein exegetisches und spirituelles Werk haben in Italien ein großes Vermächtnis hinterlassen und auf viele Franziskaner und andere Denker einen ganz besonderen Einfluss ausgeübt. Dazu gehören Pietro de Trabibus und Ubertin von Casale. Durch den Letzteren erreichten Olivis Gedanken auch Angelo Clareno, der zur Zeit von Olivis Aufenthalt in Florenz im Gefängnis war, später aber ein treuer Anhänger des provenzalischen Franziskaners wurde. In Florenz setzte Olivi seine Tätigkeit als Lehrer und Autor fort; er stellte auch eine Verbindung zu den Spiritualen in Italien her, insbesondere zu denen in der Provinz der Marken. Er wurde zunehmend als geistlicher Führer verehrt, was auch erklärt, wieso seine Auffassungen und seine Manuskripte sich in den folgenden Jahrzehnten stark verbreiteten. Sein Armutsideal und seine Kritik an der ecclesia carnalis und an der kirchlichen Hierarchie kannte höchstwahrscheinlich auch der Dichter Dante Alighieri. Möglicherweise hatte Dante ihn in Florenz gehört. In der Divina Commedia erwähnt Dante ihn nie explizit, vermutlich aus Vorsicht, wegen der Verurteilung von Olivis Schriften. Dantes Werk ist jedoch von der franziskanischen Spiritualität beeinflusst und weist Spuren der Ideen von Olivi, Ubertin von Casale und Joachim von Fiore auf (Manselli 1965; Forni 1999; 2006 b; 2012; Benfell 2006). Im Mai 1289 wurde Raymond Gaufredi zum Ordensgeneral gewählt; er war ein Freund von Olivi und ein Verfechter seiner Ideen. Noch im gleichen Jahr berief er Olivi zurück in die Provence und ernannte ihn zum lector im studium von Montpellier. Zu dieser Zeit kam es zu neuen Kontroversen in der Armutsfrage. Die Diskussionen verstärkten innerhalb des Franziskanerordens die Polarisierung und die Gegensätze. Es ist nicht klar, inwieweit Olivi in diese Ereignisse verwickelt war; er entging jedoch der Zensur und weiteren Verurteilungen. Im Jahre 1290 beauftragte Papst Nikolaus IV., der

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frühere Generalminister Hieronymus von Ascoli, Raymond Gau­ fredi mit einer Untersuchung über die Brüder, denen vorgeworfen wurde, in der Provence ein Schisma zu verursachen. Der Auftrag wurde Bertrand de Sigotier anvertraut. Im Jahre 1292 wurden einige Brüder vom Generalkapitel von Paris für schuldig befunden und bestraft. Zu dieser Gruppe gehörte Olivi nicht; er musste aber während des Generalkapitels erneut seine Auffassung über den usus pauper verteidigen, was er erfolgreich tat, so dass seine Schriften wieder zirkulieren durften. Die Wahl von Pietro da Morrone zum Papst Coelestin V. im Jahre 1294 löste eine Welle des Optimismus aus; sie wurde auch von den Spiritualen mit Begeisterung und mit der Hoffnung auf Erneuerung begrüßt. Nachdem aber Coelestin V. am 13. Dezember 1294 abgedankt hatte und Bonifatius VIII . am 24. Dezember desselben Jahres Papst geworden war, änderte sich die Situation für die französischen und italienischen Spiritualen in den verschiedenen Gruppierungen erneut. Bonifatius VIII . ersetzte nämlich im Mai 1296 den Ordensgeneral Raymond Gaufredi durch Johannes von Murrovalle, der einer der magistri der Pariser Theologenkommission gegen Olivi gewesen war. Ein Jahr später wurde Arnaud de Roquefeuil wieder Provinzialminister von Südfrankreich (Burr 1989, S.  124–126). Bei den Spiritualen breitete sich ein Unbehagen aus, das einerseits als »entmutigte und trostlose Resignation« und andererseits als »offene Rebellion« (Vian 1989, S.  24) bezeichnet werden kann. Von einigen Vertretern der Spiritualen wurde weder die Gültigkeit von Coelestins päpstlichem Verzicht noch die Wahl des Bonifatius zum Papst anerkannt. Angesichts dieser tiefen Spaltung, die die Grundlagen des Franziskanerordens selbst untergrub, reagierte Olivi und schrieb noch vor der Absetzung von Raymond Gaufredi eine Quaestio, in der er sowohl den Verzicht Coelestins als auch die Wahl des Bonifatius als rechtlich legitim beurteilte (Olivi 1918 a, S.  340–366). In diesem Zusammenhang sandte Olivi am 14. September 1295 aus Narbonne, wohin er inzwischen versetzt worden war, einen Brief an Corrado da Offida (Olivi 1918 b, S.  366–373; dazu: Vian 1989, S.  218–225; Burr 1989, S.  112–124), einen der Hauptvertreter der

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Spiritualen der italienischen Provinz Marken. In diesem Brief ver­ urteilte Olivi den Extremismus und die Ausschreitungen der Rebellen unter den Spiritualen scharf, und er bat Corrado da Offida, die Aufständischen zu besänftigen. Außerdem forderte er von den rebellischen Spiritualen, die Wahl des Bonifatius als legitim anzuerkennen und dem neuen Papst strikten Gehorsam zu versprechen. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Olivi am Ordensstudium in Narbonne. Dort verfasste er auch seinen monumentalen Kommentar Lectura super Apocalypsim (Olivi 2015; 2017; dazu: Forni  /  Vian 2016). Dieser Kommentar ist die beliebteste, einflussreichste und umstrittenste Schrift von Olivi und ein Meisterwerk mittelalterlicher Exegese (Manselli 1976 a, 432). Die Schrift enthält eine eindringlich dargestellte Auslegung der Entwicklung der Kirchengeschichte und bietet, verbunden mit einer geschichtstheologischen Konzeption, eine eschatologische Reflexion (Manselli 1955; 1997; Burr 1993; Vian 2016), die ein wichtiger Schlüssel für die Interpretation von Olivis Verständnis von Armut und Reichtum ist. Durch den Einfluss der endzeitlichen Vorstellungen von Joachim von Fiore (Schlageter 1987 a; 1987 b) entwickelte Olivi eine Geschichts­ theologie, in der sowohl die Heilsgeschichte als auch die Weltgeschichte inkludiert wurden. Olivi unterteilte die Zeit des Alten Testamentes und die Zeit des Neuen Testamentes bzw. der Kirchengeschichte in sieben Perioden. Dabei sind die letzten drei Perioden der Kirchengeschichte von besonderer Bedeutung: Die fünfte Periode wurde als eine Phase der zunehmenden Verweltlichung der Kirche dargestellt. Es war eine lange Phase der condescensio, während der die Kirche mächtig und reich wurde; es war aber auch eine Phase der moralischen Schwäche und des Niedergangs, weil die mächtige und dem Luxus ergebene Kirche zu einem neuen Babylon wurde. Mit dem Auftreten von Franz von Assisi begann dann die sechste Periode, und die ist durch die Erneuerung der evangelischen Armut charakterisiert. Olivi bezeichnete seine eigene Zeit als Übergangsphase zwischen der fünften und der sechsten Periode, als eine Phase, in der sich Verfolgungen, Auseinandersetzungen zwischen Spiritualen und Kom-

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munität, das Aufkommen des Reiches des mystischen Antichristen und der Kampf zwischen der ecclesia spiritualis und der ecclesia car­ nalis ereignen. Danach wird es zum Durchbruch kommen und die siebte Periode des Friedens und der Beschaulichkeit wird anbrechen. Dem dialektischen Schema von sieben Perioden entspricht nach Olivi die Unterteilung der Weltgeschichte in drei Zeitalter, nämlich das des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Und das dritte Zeitalter, das mit Joachim von Fiore und Franz von Assisi anbrach, ist, so Olivi, zugleich die sechste und die siebte Periode der Kirchengeschichte, in denen die apostolische und evangelische Armut wiederbelebt wird, um zum vollkommenen Leben Christi zu gelangen. Olivi starb am 14. März 1298 im Konvent von Narbonne, wo er von Brüdern und Laien umgeben war, die ihn verehrt hatten. Sein Leichnam wurde vor dem Hochaltar der Klosterkirche beigesetzt; sein Grab wurde zum Wallfahrtsort und zu einer Stätte der Volksverehrung. Angelo Clareno berichtete später, dass an seinem Todestag so viele Pilger kamen wie bei dem Portiuncula-Ablass in Assisi.5

1.5  Posthume Anklage und Verurteilungen Bereits ein Jahr nach Olivis Tod wurde die Kontroverse um seine Person und seine Schriften während des Generalkapitels von Lyon im Jahr 1299 vom Ordensgeneral Johannes von Murrovalle wieder aufgegriffen. Olivis Lehren wurden verurteilt, seine Schriften eingezogen und verbrannt; diejenigen, die im Besitz seiner Bücher waren und diese nicht aushändigen wollten, wurden verfolgt und bestraft. Papst Bonifatius VIII. beauftragte den Augustiner Aegidius Romanus mit einer Widerlegung der Lectura super Apocalypsim, was aber zunächst nicht geschah (Vian 1989, S.  28). Während des Avignonesischen Papsttums unter Clemens V. fand die sog. magna disceptatio statt, die sich von 1309 bis 1312 (Burr 2001, S.  111–212; Lambert 1961, S.  197–214) hinzog und eine Fülle von 5  Vgl. den Brief vom 3. April 1313 in: Angelo Clareno 1980, S.  175.

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neuen und polemischen Schriften über den usus pauper und weitere Themen zur Folge hatte. In diese konfliktgeladene Debatte waren beide Flügel innerhalb des Franziskanerordens involviert, also die Spiritualen und die Kommunität. 1309 beschloss Papst Clemens V., Vertreter beider Gruppen in die Papstresidenz nach Avignon einzuladen und sie dort anzuhören, in der Absicht, die den Orden zerreißenden Diskussionen zu beenden und eine Lösung zu finden. In dieser Streitfrage über die Armut, die die Chronik des Franziskanerordens als longa et scandalosa disceptatio de observantia regu­ lae6 bezeichnete, stellte sich die Kommunität gegen die Spiritualen, die zu Olivis Thesen standen. Die Kommunität dagegen kritisierte eine Liste von Sätzen, die Olivi zugeschrieben wurden. Ubertin von Casale reagierte heftig und argumentierte leidenschaftlich gegen diese Anklage; er betonte, dass Olivi die betreffenden Thesen nie unterstützt habe. Erst auf dem Konzil von Vienne (1311/12) kam es zu ­einem vorläufigen Ergebnis dieser langwierigen Auseinandersetzung und zu einem Kompromiss. Clemens V. verurteilte einige Thesen zu philosophisch-theologischen Themen und zur Frage des Verhältnisses von Seele und Körper, allerdings ohne Olivis Namen zu nennen (Vian 1989, S.  28–30; Bettoni 1959, S.  370–379; Simoncioli 1956).7 Nach der Wahl von Papst Johannes XXII., der im offenen Konflikt mit Kaiser Ludwig dem Bayern stand, begann die härteste und blutigste Phase der Verfolgung und Unterdrückung der Spiritualen (Horst 1996; Wittneben 2003). Die Armutsdebatte erhielt auch politische Akzentuierung und Kontur. In den Jahren 1317 oder 1318 ließ der Papst Olivis Grab zerstören; sein Leichnam wurde exhumiert und an einem verborgenen Ort beigesetzt (Burr 1989, S.  194) oder, wie einige Zeugnisse vermuten lassen, Olivis Asche wurde ver6 Chronica XXIV Generalium Ordinis Minorum, Quaracchi  /  Firenze 1897, S.  457–458. 7  In diesem Zusammenhang wurde Aegidius Romanus beauftragt, eine Liste von Olivis falschen Thesen zu erstellen, von denen einige auf dem Konzil von Vienne verurteilt wurden: Aegidius Romanus 1934; dazu: Koch 1935.

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streut (Vian 1989, S.  26). Da die Spiritualen sich für die welt­lichen Machtansprüche Ludwigs des Bayern einsetzten und gegen die päpstliche Weltherrschaft aufbegehrten, versuchte Johannes XXII ., die Ausbreitung dieser radikalen Gruppierung durch Verfolgung zu verhindern. Auf diese Weise hoffte er, seine Macht durchzusetzen. 1317 erließ er die Bulle Quorumdam exigit, die den Spiritualen befahl, ihre Proteste zu beenden und ihrer Ordensleitung gehorsam zu sein. Am 7. Mai 1318 wurden sogar vier rebellische Spiritualenbrüder auf dem Marktplatz von Marseille verbrannt. Weiter ordnete Johannes  XXII . an, Olivis Apokalypse-Kommentar zu prüfen, und er beauftragte damit den Dominikaner Nikolaus de Albertis, den Kardinal von Ostia. Dieser setzte eine Theologenkommission von acht magistri ein. Auf dem Generalkapitel von Marseille im Jahre 1319 wurde die Lektüre von Olivis Schriften unter dem Generalat von Michael von Cesena erneut untersagt. 1322 berief Michael von Cesena das Generalkapitel in Perugia ein. Es sprach sich für die absolute Armut Jesu Christi und der Apostel aus. In ähnlicher Weise wie in der Bulle Exiit qui seminat formuliert, argumentierte auch das Generalkapitel, dass Christus und die Apostel keine Eigentumsrechte hatten, sondern nur den simplex usus facti, d. h. den einfachen faktischen Gebrauch der Güter ohne Rechtsanspruch. 1323 griff Papst Johannes XXII. mit der Bulle Cum inter nonnullos drastisch in die Auseinandersetzung ein mit der Absicht, dem Armutsstreit ein Ende zu setzen. Er wies die Auffassungen der Spiritualen und die Stellungnahme des Generalkapitels von Perugia zurück. Er lehnte die These, dass Christus und die Apostel weder persönliches noch gemeinschaftliches Eigentum gehabt hätten, ebenso als häretisch ab wie die Behauptung, dass sie keinerlei Gebrauchsrecht – ius utendi – hätten. Dadurch widerrief er die Ordensregelung und die Armutslehre seines Vorgängers Nikolaus III . In der Folge verurteilte Johannes XXII . im öffentlichen Konsistorium von 1326 die Lectura super Apocalypsim (Piron 2006 a, S.  336– 373). Letztendlich war dies aber die einzige Schrift von Olivi, die formell verurteilt wurde. Sie war »eine symbolische Schrift und ein Flaggenwerk sowohl für diejenigen, die sie verurteilten, aber auch

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für diejenigen, die sie trotz allem und mit dem Risiko einer Gefängnisstrafe weiterhin lasen und kopierten«. (Vian 1989, S.  27.) In der Nacht vom 26. auf den 27. Mai 1328 flüchtete Michael von Cesena zusammen mit anderen Franziskanern, darunter der Philosoph und Theologe Wilhelm von Ockham und der Jurist Bonagratia von Bergamo, aus Avignon; sie alle schlossen sich in Pisa Kaiser Ludwig dem Bayern an. Etwa 150 Jahre später zog Papst Sixtus IV., ein Franziskaner, Olivis Verurteilung zurück, so dass seine Schriften wieder gelesen werden durften. 1.6  Das Werk Da eine Darstellung von Olivis Gesamtwerk mitsamt der schwierigen chronologischen Einordnung seiner Schriften (Piron 1999; 2020 a; 2020 b; ferner auch 1999) den Rahmen dieser Einleitung sprengen würde, sollen im Folgenden einige Hinweise genügen. Olivis mehrfache Verurteilungen sind ein Tatbestand, der bis heute nicht ohne Wirkung auf die Erforschung seines Denkens und auf die Möglichkeiten zur Edition seiner Werke geblieben ist. Wegen der Zensur seiner Werke und wegen des Häresie-Verdachtes blieb Olivi nach seinem Tod »ein verfänglicher Name, den es zu verbergen galt« (Vian 1990, S.  13). Doch wurden viele seiner Schriften von seinen Anhängern und sogar von seinen Gegnern aufbewahrt oder kopiert, so dass sie überliefert wurden und uns teilweise vorliegen. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Olivi-Forschung dank einer kritischen Edition und infolge der Übersetzung vieler seiner Schriften intensiviert, wodurch eine lebhafte theoretische, historiographische und philologische Debatte ausgelöst worden ist, die weiter anhält. Reichhaltige Studien haben auch zu einem besseren Verständnis seines Denkens beitragen.8 Allerdings stehen die Übersetzung 8  Ein umfassender Überblick zur Handschriftensammlung findet sich in: Ciceri 1999. Zum thematischen Forschungsstand und zur Werkausgabe Olivis vgl. Schönberger u. a. 2011 und die Beiträge in: Pietro di Giovanni Olivi: Opera edita et inedita, Grottaferrata 1999. Zur Orientierung in der immer um-

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und Edition weiterer Texte und Quaestiones immer noch aus. Im deutschen Sprachraum fehlt bis heute eine umfassende Studie zu Olivis Leben und Werk; in der internationalen wissenschaftlichen Community fehlt eine gründlichere Untersuchung seiner Wirkungsgeschichte. Olivi, der doctor speculativus des 13. Jahrhunderts, war ein sehr fleißiger und produktiver Autor. Die quantitative Fülle seiner Schriften ist erstaunlich, wenn man sie mit der Gesamtheit seiner Lebensjahre vergleicht. Sein umfangreiches Œuvre umfasst philosophische, theologische, exegetische, geistliche, ordenstheologische und ökonomische Schriften und Quaestiones: »Die Faszination von Olivi besteht gerade in diesen komplexen und vielfältigen Aspekten einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, die sich nicht auf einen einzigen Bereich beschränkt […], sondern sie alle im Lichte seiner franziskanischen Erwartung erfüllt.« (Vian 1990, S.  15.) Unter den zahlreichen Werken sind neben den bereits erwähnten Schriften – Verteidigungsschreiben, Briefe, Apokalypse-Kommentar, Quaestiones de perfectione evangelica – vor allem die gesammelten quodlibetalen Disputationen (Olivi 2002) und seine biblischen Kommentare (Vian 1999; Schlageter 2016) zu nennen. Erwähnenswert ist auch seine philosophische programmatische Schrift De perlegendis philosophorum libris (Olivi 1941), in der er gegen eine unkritische Übernahme aristotelischen Denkens Stellung bezog und darauf hinwies, dass man bei der Übernahme der weltlichen und heidnischen Philosophie in die christliche Theologie vorsichtig sein müsse. Von großer Bedeutung ist auch die Summa Quaestionum super Sententias, auch Quaestiones super Sententias oder einfach Summa fangreicher werdenden Sekundärbibliographie vgl. die folgenden Sammlungen in chronologischer Reihenfolge: Gieben 1968; Olivi 1989 b, S.  48–61; Boureau  /  Piron 1999, S.  389–400; König-Pralong u. a. 2012. Insbesondere zu Olivis ethisch-ökonomischen Auffassungen vgl. Franco 2017. Hilfreich ist auch die elektronische Zeitschrift »Oliviana« (https://oliviana.revues.org/), die sich unter anderem der Edition und den Übersetzungen von Olivis Texten sowie Forschungsarbeiten zu seinem Denken und zur Geschichte der Spiritualenbewegung widmet.

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genannt, die von Olivi selber oder von einem seiner Schüler in Olivis letzten Lebensjahren zusammengestellt wurde, während er selbst mit der Überarbeitung seiner Schriften begann. Dieses lückenhaft erhaltene und inzwischen teilweise edierte Werk enthält eine systematische Sammlung von Olivis Quaestiones, die per modum sum­ mae zusammengefasst wurden (Doucet 1935; Schmucki 2009, S.  46). Es ist in vier Teile gegliedert, ähnlich der Ordnung der Sentenzen von Petrus Lombardus. Die Bestimmung der inhaltlich ursprünglichen Teile dieser Summa und die Zuordnung der zu jedem Teil gehörenden Quaestiones sind in der historiographischen Debatte nicht endgültig geklärt (Koch 1930 a; Doucet 1935; Heynck 1956; Bartoli 1999, S.  457–460; Maranesi 2002). Erst kürzlich wurde ein umfassender, plausiblerer Rekonstruktionsversuch vorgelegt (Piron 2020 a; 2020 b). Die vollständige Edition der erhaltenen Texte wird mit Sicherheit das Verständnis des Gesamtbildes von Olivi wie auch der theologischen und philosophischen Diskussionen des 13. Jahrhunderts bereichern und erhellen. Von der Summa ist dann der eigene Kommentar von Olivi zu den vier Sentenzenbüchern von Petrus Lombardus zu unterscheiden (Commentarius super Sententias bzw. Commentarius in quattuor libros Sententiarum); die Redaktionsarbeit daran ist wohl während Olivis Aufenthalt in Florenz 1287–1289 anzusetzen. Von diesem Text sind nur einige Auszüge und Fragmente9 erhalten, in denen auch einige Quaestiones zu ökonomischen Fragen enthalten sind (Piron 2012 d). Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass auf Olivis letzte Lebensphase in Narbonne die Abfassung einiger spiritueller Schriften zurückgeht, die man üblicherweise als opuscula (Manselli 1976 b; Vian 1989, S.  145–150; Flood 1999) bezeichnet. Diese Texte erfreuten sich beim Laienpublikum großer Verbreitung und wurden in die damalige Volkssprache übersetzt. Sie liegen teilweise ediert (Manselli 1959, S.  274–290) und übersetzt vor (Olivi 1989 b, S.  151–192; Olivi 2011; 2013), und es gibt inzwischen ein neues Forschungsinteresse 9 Olivi, Commentarius in quattuor libros Sententiarum, Padova, Biblioteca Universitaria, cod.  637, fol.  Ir–Xv; cod.  2094, fol.  179 v–207 r.

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daran (Montefusco 2012; 2016; Montefusco  /  Piron 2016). Dagegen steht eine Gesamtstudie noch aus, in der die Bedeutung Olivis als geistlicher Lehrer und Autor sowie sein Einfluss auf die Gattung der spirituellen Literatur der folgenden Jahrhunderte rekonstruiert und gewürdigt wird.

2.  Entstehung, Datierung und Struktur des Tractatus de contractibus Unter allen Werken Olivis hatte sein Tractatus de contractibus10 ein ganz besonderes und sehr komplexes Schicksal. Diese originelle Abhandlung des außergewöhnlichen Denkers aus dem Languedoc verdient aus moraltheologischer, wirtschaftsethischer und rechtlicher Perspektive besondere Aufmerksamkeit. Hier soll zunächst die Geschichte der Entdeckung und Edition dieses Textes kurz nacherzählt werden, ehe Fragen zur Abfassung und zum Vorhandensein einer formalen Einheit geklärt werden.

2.1  »Entdeckung« und Titel des Werkes Bereits 1887 wies Franz Ehrle, damals Präfekt der Vatikanischen Bi­ bliothek, in einer grundlegenden Studie über Olivis Leben und Werk auf den Tractatus emptionum et venditionum et de usura hin (Ehrle 1887, S.  462). Während Dionisio Pacetti 1936 an der Vorbereitung des Katalogs der privaten Bibliothek des Bernhardin von Siena arbeitete, entdeckte er unter den vorhandenen Bänden im Besitz des Predigers von Siena ein Manuskript von Olivis Tractatus, das mit handgeschriebenen Anmerkungen und Unterstreichungen versehen war (Pacetti 1936, S.  526). Beim Verfassen seiner Sermones bzw. sei-

10  Es werden im Folgenden die Abkürzungen »Traktat« oder »Tractatus« anstelle von »Tractatus de contractibus« verwendet.

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ner Traktate De Restitutionibus und De contractibus et usuris11 hatte Bernhardin Olivis Text wörtlich und fast vollständig übernommen, ohne allerdings dessen Namen zu nennen. Auf Bernhardins Schriften griff dann auch Antoninus von Florenz, ein Dominikaner, zurück, so dass Olivis Denken anonym auch in dessen Summa theolo­ gica (1740) einfloss. Pacetti hat dann 1953 nachgewiesen, dass Olivi der Autor des Tractatus war. Dieses Werk, das ohne Titel und Autorennamen überliefert wurde, ist in früheren Ausgaben und entsprechend den in den Inventaren und Katalogen verwendeten Titeln in drei Teile gegliedert: De emptionibus et venditionibus; De contractibus usurariis; De restitutionibus. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Schrift überwiegend Tractatus de contractibus genannt und auch so zitiert. Dieser Brauch geht auf den Titel zurück, den Bernhardin von ­Siena in einer Rubrik des in seinem Besitz befindlichen Manuskriptes verwendete, um Olivis Werk zu bezeichnen. Die diesbezügliche Überschrift hat folgenden Wortlaut: Incipit tractatus de contractibus se­ cundum Petrum Ioannis.12 Diese Formulierung passt gut zum spezifischen Inhalt des Traktats und erlaubt es, das Werk rückblickend als »Prototyp zahlreicher Traktate De contractibus« (Piron 2012 b, S.  31–32) zu betrachten, die sich insbesondere in der Zeit der Spätscholastik verbreiteten. Nach der Entdeckung des Traktats nahm in den 1970er Jahren das Interesse an Olivis ökonomischem Denken zu und sorgte in der Wissenschaftswelt für besondere Aufmerksamkeit (Franco 2017). 1977 edierte Amleto Spicciani den ersten Teil des Tractatus (Olivi 1977). 1980 folgte die vollständige lateinische Textausgabe von Gia­ como Todeschini (Olivi 1980 b) und einige Jahre später auch eine 11  Bernhardin von Siena, De restitutionibus (Sermones 33–40 aus dem Quadragesimale de christiana religione (Sermones 35–40), in: Opera omnia, Bd.  I, Quaracchi  /  Firenze 1950, S.  400–532; ders., De contractibus et usuris (= Sermones 32–45 aus dem Quadragesimale de evangelio aeterno), in: Opera omnia, Bd.  IV, Quaracchi  /  Firenze 1956, S.  117–416. 12  Siena, Biblioteca Comunale degli Intronati, cod.  U. V. 6, fol.  295 r.

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vollständige Übersetzung ins Italienische (Olivi 1990). 2012 publizierte Sylvain Piron eine neue kritische lateinische Edition, zusammen mit einer französischen Übersetzung (Olivi 2012). Diese Ausgabe ist mit einem dokumentierten textkritischen Apparat und mit wertvollen kommentierenden Anmerkungen im Anhang versehen. Sie enthält auch eine Auswahl von ergänzenden Texten Olivis, die sich mit wirtschaftlichen Themen befassen und mit dem Tractatus in Verbindung stehen. Pirons kritische Edition des lateinischen Textes, die im vorliegenden Band wiederabgedruckt ist, hat inzwischen als Grundlage für die Übersetzungen des Tractatus ins Englische, Spanische und Portugiesische gedient. Der Textgliederung von Piron folgend sind auch in der vorliegenden deutschen Ausgabe die drei Teile des gesamten Tractatus in vier Textteile gegliedert13: Der erste Teil (De emptionibus et vendi­ tionibus) enthält sieben Fragen zu Kauf- und Verkaufs-Verträgen und zur Tauschgerechtigkeit; der zweite Teil (De contractibus usu­ rariis) enthält eine lange Quaestio, die sich mit wucherischen Verträgen befasst; der dritte Teil (Dubia circa materiam contractuum), der ein Anhang und eine Erweiterung des vorherigen Teils ist, enthält die Klarstellung und Behandlung weiterer spezifischer Fälle und bestimmter Vertragsarten mit wucherischer Absicht; der vierte Teil (De restitutionibus) behandelt die Kriterien und Regeln für die allgemeine Rückerstattung von unrechtmäßig erworbenen Gewinnen bzw. Gütern. Bei diesen Regeln handelt sich z. B. um die Höhe des zu erstattenden Betrags, die haftenden Personen, Zeitpunkt, Ort sowie Art und Weise der Rückerstattung. Dieser Teil schließt dann mit ­einer weiteren Quaestio über wucherische Verträge.14 13  Die Verweise auf die vier Textteile werden mit I–IV gekennzeichnet und auch so zitiert. Die Nummerierung der Abschnitte folgt Sylvain Pirons Ausgabe. Ein Beispiel: Der Verweis mit der Abkürzung »III, 21« würde sich auf Abschnitt 21 des dritten Textteils des Tractatus de contractibus beziehen. 14  Die Teile von De contractibus usurariis und De restitutionibus wurden 1556 von dem Augustiner Fabiano Chiavari in Rom zusammen veröffentlicht, aber dem Augustinermönch Gerhard von Siena zugeschrieben, der in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts lebte. Der Text dieser römischen Ausgabe

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2.2  Abfassung und Einheit des Textes Die Forschungsergebnisse und Rekonstruktionen von Sylvain Piron haben ergeben, dass Olivi eine erste Redaktion des Tractatus etwa 1293–1294 beim Ordensstudium in Narbonne vornahm, wohin er wahrscheinlich nach dem Generalkapitel zu Pfingsten 1292 versetzt worden war. Diesen Text hat Olivi selbst noch einmal überarbeitet, als er eine Generalrevision des Korpus seiner Schriften vornahm (Piron 2012 b, S.  27–43). Um die Entstehung und Natur des Tractatus aufzuklären, ist es zweckmäßig, den Text im Zusammenhang mit Olivis Lehrtätigkeiten und seinen Quodlibeta (Olivi 2002), also der literarischen Gattung der Quaestiones quodlibetales, in Verbindung zu bringen (Piron 1998, S.  290–292; 2012 b, S.  33–39). Die erste Abfassung des Tractatus fand wohl statt, nachdem Olivi die Quaestiones de perfectione evangelica geschrieben hatte, also nach seinem Aufenthalt in Florenz von 1287–1289, da er im dritten Teil des Tractatus (IV, 60) einige Fragen aus seinem Sentenzenkommentar erneut aufgriff, der in Florenz entstanden war.15 Seine Quodlibeta verfasste Olivi Jahr für Jahr etwa ab 1289/1290; damit angefangen hatte er zunächst in Montpellier und sie dann in Narbonne fortgeführt. Im Tractatus verweist er auf einige Quaestiones aus seinen Quodlibeta, in welchen er sich bereits mit wirtschaftlichen Fragen befasst hatte. Dabei handelt es sich um die Quaestio 1616 und die Quaestio 1717 aus dem ersten Quodlibet. Der Tractatus diskutiert auch einige der von Olivi bereits im vierten Quodlibet behandelten Themen, ohne das jedoch zu erwähnen. Piron hat auch herausgewurde 1587 in Viterbo in der Ausgabe von Maurizio Terzi verwendet und dann mit einigen kleinen Änderungen 1626 von Angelo Vanzi in seine Bologna-Ausgabe aufgenommen. Die Ausgabe von Vanzi wurde 1671 erneut nachgedruckt (Spicciani 1990 b, S.  223–231; Olivi 2012, S.  77–78). 15 Olivi, Commentarius in quartum librum Sententiarum, Padova, Biblioteca Universitaria, cod.  637, d.  16, a.  21 (fol.  IXr–Xr). Die parallele Stelle findet sich in Olivis Tractatus IV, 60; dazu: Piron 2012 d. 16 Olivi, Quodlibet I, 16, in: Olivi 2002, S.  55–57. Vgl. infra IV, 21. 17 Olivi, Quodlibet I, 17, in: Olivi 2002, S.  58–63. Vgl. infra III, 64.

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funden, dass einige Auffassungen im fünften Quodlibet bestimmte Thesen des Tractatus voraussetzen, so dass chronologisch das fünfte Quodlibet zeitlich nach oder parallel zum Traktat anzusetzen ist.18 Aufgrund dieser Indizien ist also die erste Fassung des Tractatus zwischen dem vierten und fünften Quodlibet entstanden, d. h. etwa 1293/1294. Piron stützte sich auch auf die Entdeckung neuer Manuskripte und insbesondere auf einen Kodex, der im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts von John Maynesford in Oxford19 kopiert worden war. Der Forscher konnte ebenfalls aufklären, dass es sich bei diesem letztgenannten Manuskript, das im Vergleich zu anderen verfügbaren Handschriften einige Ergänzungen enthält20, um die bisher einzige Kopie einer von Olivi selbst überarbeiteten und ergänzten Fassung des Tractatus aus den Jahren 1295/1296 handelt. Was die Quaestiones quodlibetales bzw. Quodlibeta angeht, so waren das öffentliche Disputationen, die nicht nur vor akademischen Zuhörern, sondern auch vor einem Publikum, das nicht zur Universitätsgemeinschaft gehörte, ausgetragen wurden (Glorieux 1935; Bazàn 1985; Schabel 2006). Im Mittelalter waren sie Höhepunkte in der Reihe der akademischen Aktivitäten und erhielten an der Universität Paris im 13. Jahrhunderts ihre etablierte Form. Sie wurden zweimal im Jahr zu hohen Feiertagen abgehalten, meist in der Advents18  Ähnliche bzw. parallele Formulierungen betreffen die folgenden Texte: Quodlibet IV, 1–2 (infra II, 71); Quodlibet IV, 17 (infra IV, 47–49); Quodlibet IV, 19 (infra IV, 6); Quodlibet IV, 20 (infra IV, 28); Quodlibet V, 14 (infra IV, 6). Dazu: Piron 2012 b, S.  36–37. 19  Oxford, Bodleian Library, Bod.  52, fol.  61 r–100 v. 20  Eine der neuen Stellen, die dem De usuris hinzugefügt wurden (infra III, 35–52), betrifft einen spezifischen moralischen casus. Dieser casus, der bereits in der römischen Ausgabe von 1556 von Chiavari als Anhang zum quartum dubium von De usuris veröffentlicht wurde, ist im sienesischen Kodex, der sich in der Bibliothek des Bernhardin befindet, nicht vorhanden. Dazu hat Pacetti die Hypothese aufgestellt, dass diese Stelle ursprünglich zu Olivis Tractatus gehörte und in der Manuskripttradition vorhanden war, die den Herausgebern des 16. Jahrhunderts zur Verfügung stand (Pacetti 1953, S.  456–457). Der betreffende casus wurde in getrennten Veröffentlichungen sowohl von Spicciani (1976 b, S.  250–253) als auch von Todeschini ediert (Todeschini 1980, S.  108–111).

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und Fastenzeit. Eines ihrer Hauptmerkmale war, dass die Quod­libetQuaestio von jedem Anwesenden (a quolibet) vorgebracht und zu jedem Thema (de quolibet) gestellt werden konnte. Die akademischen Lehrer, die ein Quodlibet durchführten, mussten über ungewöhnliche Kompetenzen verfügen. Die Disputationes boten Gelegenheit, unter Kollegen und Studenten nicht nur über kontroverse philosophische und theologische Fragen zu diskutieren, sondern auch über moralische Problemfälle sowie über wirtschaftliche, politische und soziale Themen. Gegen Ende des 13. Jahrhunderts verbreiteten sich die Übungen der Quodlibeta auch in den provinziellen Studienhäusern der Bettel­ orden, wo sie auch eigene Anwendungsformen annahmen. Die Franziskaner selbst führten den Brauch ein, diese Veranstaltungen außerhalb des universitären Kontextes abzuhalten. Sie wandten sich nicht nur an Studenten und Brüder in der Ausbildung, sondern auch an ein breites Laienpublikum (Piron 2006 b). Seit dem 13. Jahrhundert stellte die Sammlung und die verschriftlichte Ausformung von Quodlibeta eine weit verbreitete Gattung der scholastischen Literatur dar und wurde zu einem Mittel der Verbreitung der Ideen und Lehren eines Theologen. Die Disputationes wurden im Hinblick auf ihre Veröffentlichung überarbeitet; in den meisten Fällen stammten sie aus Mitschriften von Studenten oder Assistenten des Lehrers, der sie seinerseits, wenn auch nicht immer, noch weiter ausarbeitete. Was die formale und literarische Komposition und die einheit­ liche Struktur des Tractatus betrifft, so fällt auf den ersten Blick und bei der Lektüre des Textes ein Mangel an Homogenität auf. Dem überlieferten Text fehlen tatsächlich der Prolog, eine Zusammenfassung und ein Schluss. Insbesondere der erste Teil, De emptionibus et venditionibus, weist keinen organischen Aufbau der erörterten Fragen auf. In diesem Teil, wie bereits Spicciani in seiner Edition anmerkte, werden die Fragestellungen ex abrupto diskutiert und behandelt. Der Text setzt zudem voraus, dass der Adressat mit den Grundlagen der zu untersuchenden Probleme vertraut ist. Diese Vorgehensweise weist auf den »gelegentlichen und nicht endgültigen Charakter« dieses Teiles bzw. des gesamten Traktats hin und legt

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nahe, dass Olivi den Text wahrscheinlich »zu verschiedenen Zeiten« verfasst hat (Spicciani 1977, S.  184). Demgegenüber betonte Todeschini, dass die Darstellung der ethisch-ökonomischen Probleme im Traktat »der Aneinanderreihung von vereinzelten und aneinandergereihten quaestiones« (Todeschini 1980, S.  41) folgt, woraus sich eine fragmentierte Darstellung ergibt. In diesem Zusammenhang wurde von Julius Kirshner und Kimberly Lo Prete die These vertreten, dass Olivis Tractatus kein einheitliches Werk ist, sondern aus drei einzelnen Abhandlungen besteht, die als »kleinere Arbeiten« zu betrachten seien (Kirshner  /  Lo Prete 1984, S.  250–251; Langholm 1992, S.  353–354). Trotz dieser Bedenken schließen die beiden Historiker nicht aus, dass der Tractatus »als ein abgeschlossenes literarisches Ergebnis« angesehen werden kann und Olivi ihn »in der Stille seines eigenen Studiums verfasst hat« (Kirshner  /  Lo Prete 1984, S.  251). Es ist durchaus möglich, dass die schriftliche Form des Werkes auf Olivis gelegentliche mündliche Lehren oder öffentliche quodlibetale Disputationen zurückgeht (Kirshner  /  Lo Prete 1984; S.  250–253; Spicciani 1977, S.  182–185). Es sind genau die Struktur und die literarische Form einer quodlibetalen Disputation, die den Aufbau des Tractatus und die Darstellung der Themen erklären. Solche Disputationen folgten in der Tat keiner systematischen Durchführung und behandelten »die komplexesten Kerne der behandelten Themen«, wobei vorausgesetzt wurde, dass »den Teilnehmern an der Debatte der Kontext bekannt war, in den sie sie richtig einordnen mussten« (Spicciani 1971, S.  171). Ähnlich argumentiert auch Piron: Er meint, dass der Tractatus wahrscheinlich auf Disputationen oder Vorlesungen zurückgehe, die Olivi zu ethischen Fragen bei Wirtschafts- und Handelsaktivitäten gehalten habe. Möglicherweise hielt Olivi die behandelten Probleme für so wichtig oder die erörterten Themen weckten wegen ihrer Aktualität das Interesse der Öffentlichkeit in einem solchen Maße, dass er sich entschloss, seine Disputationen in einem selbständigen Werk zusammenzuführen, das systematischer war als die gelegentlichen quodlibetalen Fragen. Es bleibt daher eine überzeugende Hypothese, dass der gesamte Tractatus oder Teile davon aus

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bereits disputiertem und vorgetragenem Material entstanden sind, die dann von einem Studenten oder Assistenten von Olivi schriftlich festgehalten wurden, und dass der Text anschließend von Olivi selbst noch überarbeitet wurde: »Eine solche Gestaltungsmethode würde es uns erlauben, den geringen Grad an literarischer Verfeinerung des Textes zu verstehen.« (Piron 2012 b, S.  41.) Gleichzeitig sollte man die Kritik an den formalen Aspekten des Textes etwas abschwächen. Tatsächlich enthält das Werk »Übergangsformulierungen zwischen seinen verschiedenen Abschnitten« und »fast jeder Abschnitt verweist auf vorangegangene Abschnitte« (Piron 2012 b, S.  30). Wegen der stilistischen Ähnlichkeiten der Textteile, der internen Verweise und Olivis späteren Ergänzungen kann man die Frage, ob es überhaupt eine einheitliche Konzeption des gesamten Tractatus gibt, bejahen. Olivis Überarbeitungen zeigen, dass er anscheinend beabsichtigte, seinem Werk »einen homogeneren Charakter zu verleihen« (Piron 2012 b, S.  33).

3.  Historisch-soziale und intellektuelle Kontexte Um die Tragweite von Olivis Tractatus zu verstehen und um dem Ziel näherzukommen, Bedeutung und Inhalt des Textes besser einzuordnen, sind einige methodologische Prämissen notwendig: Olivis theologisch-philosophisches Projekt sollte als Ganzes betrachtet werden, und die verschiedenen intellektuellen Kontexte müssten ebenso erläutert werden wie der sozial-historische Zusammenhang, in dem der Text und Olivis Auffassungen verortet sind.21 Dabei ver21  Auf der methodologischen Ebene gilt nach wie vor der von Raoul Manselli (1983) gebotene Gesamtüberblick über das mittelalterliche Wirtschaftsdenken, in dem er auf meisterhafte Weise Olivis Denken in den Rahmen der verschiedenen Kontexte der mittelalterlichen westlichen Kultur stellt. Zu engeren Kontextualisierungen von Olivis Tractatus vgl. Piron 1998; 2001; 2012 a; 2012 b. Zur weiteren Einbettung und Gesamtdarstellung des mittelalterlichen Wirtschaftsdenkens vgl.: Langholm 1992; Kaye 1998; 2014; Todeschini 2002; 2005; Evangelisti 2016 a; Wood 2002.

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dient Olivis Armutsverständnis besondere Beachtung, da es einer der theologischen Hauptschlüssel zum Verständnis seiner ökonomischen Auffassungen ist. Weiter ist die Fragestellung bedeutsam, ob bei Olivi zwischen Armuts- und Reichtums-Verständnis ein Para­ dox oder eine Kontinuität besteht.

3.1  Ökonomisches Denken im Mittelalter und die Wiederentdeckung des Aristoteles Zunächst einmal ist zu bedenken, dass es im Mittelalter keine Wirtschaftsanalyse als selbständige Reflexion oder als Teil eines systematischen Wissens- und Theorienbestandes gab: »Die mittelalterliche Haltung gegenüber der wirtschaftlichen Realität« ist »insbesondere und vor allem eine Haltung des moralischen Urteils«, die »außerhalb jeder modernisierenden und folglich anti-historischen Behandlung« erfasst werden muss (Manselli 1983, S.  818–819). Die im Mittelalter als oeconomica bezeichnete Disziplin ist einer der drei Teilbereiche der praktischen Philosophie (Ethik, Wirtschaft und Poli­tik), die infolge der Unterteilung der philosophischen Disziplinen auf der Grundlage des Schriftenkorpus von Aristoteles eingeführt wurde. Die Teildisziplin oeconomica wurde verstanden als Lehre über die richtige Art und Weise, ein Haus und die Familienbeziehungen zu führen; sie enthielt jedoch keine Diskussion über ökonomische Fragen wie Kreditwesen oder Handel, Wucher und gerechten Preis. Vielmehr finden sich solche Überlegungen vor allem in Schriften von Theologen; sie wurden in Beichtsummae, in theologischen Summae oder in einzelnen Quaestiones behandelt (Lambertini 2017, S.  1536–1538), in denen ökonomische Diskurse in der entsprechenden Terminologie formuliert wurden. Raoul Manselli folgend ist festzuhalten, dass das mittelalterliche Wirtschaftsdenken in die Sphäre der Moraltheologie und der Kanonistik fiel und also ein Thema für Theologen und Juristen war. Auf der einen Seite untersuchte die Moraltheologie die moralische Absicht, die zum wirtschaftlichen Handeln treibt, und diskutierte, wie

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sündhaft oder nicht sündhaft wirtschaftliche Aktivitäten seien; auf der anderen Seite gab es die Kanonistik, die mehr auf die formale Analyse von Verträgen und auf die Rechtmäßigkeit wirtschaftlicher Handlungen achtete und die Frage untersuchte, ob alles mit kanonischen Vorschriften in Einklang gebracht werden könne. In diesem doppelten Register blieben die Prinzipien der Moraltheologie zwar »statisch und stabil«, wogegen die rechtlich-ökonomischen Analysen flexibler und »anfälliger für Veränderungen und Anpassungen« (Manselli 1983, 820) waren. Ein entscheidender Impuls für die Auseinandersetzung mit wirtschaftlichen Fragen war in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Übersetzung der Werke des Aristoteles ins Lateinische (um 1240–1260), insbesondere die der Nikomachischen Ethik und der ­Politik. Diese Texte verbreiteten sich in Universitätskreisen und in den Studienhäusern der Bettelorden und führten zu einer ganzen Reihe verschiedenster Kommentare. Aristoteles’ Werke, die großen Einfluss auf Theologen wie Albertus Magnus und Thomas von Aquin hatten, regten scholastische Theologen dazu an, über wirtschaftliche Probleme nachzudenken und dabei rationale und nicht nur theologische Argumente zu verwenden (Manselli 1983, S.  843–847). Das aristotelische Denken bietet den Theologen »eine Sprache und einen logischen Rahmen« sowie Ideen, um die ökonomische Wirklichkeit zu beschreiben (Ceccarreli 2011, S.  285). Die Abfassung von Olivis Traktat erfolgte etwa fünfzig Jahre nach der ersten vollständigen Übersetzung von Aristoteles’ Nikomachischer Ethik durch Robert Grosseteste (Aristoteles 1972). Olivi, der »in seinen Werken gründliche Kenntnis des aristotelischen Schrifttums bekundet« (Grabmann 1936, S.  76), setzte sich kritisch mit den Auffassungen des Stagiriten auseinander (Burr 1971; Suarez-Nani 2010 a; König-Pralong 2010; Mensa i Valls 2010; Whitehouse 2012), und auch im Tractatus hob er sich von einigen ökonomischen Ideen des antiken Vorbildes auf originelle Weise ab.

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3.2  Kanonistik und Zivilrechtslehre Die Zeit vom 12. bis zum 13. Jahrhundert war in Europa eine durch tiefgreifende kulturelle, gesellschaftliche, sozio-ökonomische und religiös-politische Änderungsprozesse gekennzeichnete Epoche. In dieser Zeit der Umbrüche gewann der Fernhandel immer mehr an Bedeutung: Kredit- und Geldwirtschaft entfalteten sich, die Märkte wurden zu Anziehungspunkten in den Städten, die Kaufleute spielten im Wirtschaftsleben, aber auch in Politik und Gesellschaft eine immer wichtigere Rolle. Es entstanden die ersten Formen einer neuen Bürgergesellschaft, was jedoch mit massiven sozialen Verwerfungen einherging. All diese Phänomene warfen Fragen darüber auf, ob bestimmte wirtschaftliche Vorgehensweisen und Handels­aktivi­ täten erlaubt waren, Fragen, mit denen sich Beichtväter, Vertreter der Bettel- und Predigerorden, Theologen und auch ein Franziskanermönch wie Olivi konfrontiert sahen. Theologen und Juristen setzten sich mit diesen sozio-ökonomischen Sachverhalten auseinander und versuchten, auf der Grundlage intellektueller Reflexion sowie praktischer Tätigkeit Lösungen und Antworten zu finden. Die in ständigem Wandel begriffene soziale und ökonomische Wirklichkeit passte jedoch bald nicht mehr zur moralisch-theologischen Lehre, was einen »tiefen Riss im Gewissen der Gläubigen« (Manselli 1983, S.  819) und der Kaufleute zur Folge hatte. Die kanonistische Gesetzgebung der Kirche und die theologische Reflexion jener Zeit blieben angesichts einer sich ständig verändernden Realität endgültige Antworten schuldig; vor allem konnten sie dem Tempo der Veränderungen meist nicht folgen. Es gab noch keine einheitliche Lösung bei der Bewertung der neu auftauchenden sozialen und ökonomischen Verhaltensweisen (Kirshner  /  Lo Prete, 1984, S.  249–250). In diesem Zusammenhang ist auch zu bedenken, dass die wirtschaftlichen Aktivitäten sowohl von Theologen als auch von Kaufleuten als Teil der christlichen Lehre und des mittelalterlichen christlichen Weltbildes wahrgenommen wurden. Wirtschaftliches Handeln war ein integraler Bestandteil menschlichen Handelns und

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wurde somit auch als ein Segment christlichen Handelns betrachtet. Sowohl die Reflexion der Theologen als auch die praktischen Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte wurden als vom gleichen religiösen Geist durchdrungen betrachtet; sie waren in den gemeinsamen Zusammenhang der societas christiana eingebettet. Wenn sich Händler beispielsweise für neue Formen von Gewinn und für neue Handels­ praktiken interessierten, dann waren sie auch darauf bedacht zu erfahren, ob ihre Aktivitäten moralisch erlaubt waren oder ob sie Gefahr liefen, der Sünde des Wuchers zu verfallen. Theologen, Kanonisten und Juristen bemühten sich, ihrerseits die neuen Probleme zu verstehen, und sie verpflichteten sich, die moralische Legitimität und die Rechtmäßigkeit bestimmter Praktiken zu erklären, um den Wirtschaftsakteuren (Heils)Sicherheit zu geben (Manselli 1983, S.  818–819; Spicciani, 2017, S.  12; 18). Im 12. und 13. Jahrhundert gab es eine lebhafte intellektuelle Debatte über die Entwicklung der kanonistischen Lehren (Brundage 1995; Helmholz 2013); man versuchte, christliche Reflexion und Moraltheologie in kanonische Vorschriften zu übersetzen. So entstanden eine ganze Reihe von Rechtsquellen, die Disziplinarmaßnahmen enthielten und ökonomische Fragestellungen aufgriffen. Unter diesen Texten, die Olivi kannte und auf die er sich auch im Tractatus direkt und implizit bezog, sind das Decretum Gratiani und die Decretales von Papst Gregor IX. zu nennen; außerdem die Werke bekannter Kanonisten, wie zum Beispiel der Apparatus in quinque libros Decretalium von Sinibaldo de Fieschi (1570), dem nachmaligen Papst Innozenz IV.; die Summa confessorum des Dominikaners Raimund von Peñafort (1603); die Glosse des Wilhelm von Rennes zur Summa Raymunds; und die Summa aurea von Heinrich von Susa (1570), genannt Hostiensis. Neben der Reflexion von Kanonisten wurde die Tradition des Zivilrechts weiterentwickelt und das römische Recht wieder aufgenommen. Das geschah insbesondere durch die Kodifikation des justinianischen Corpus Iuris Civilis, die bereits im 11. und 12. Jahrhundert durch die Rechtsschule von Bologna erfolgt war (Cortese 2000; Grossi 1995). Auch dieser theoretische Kontext ist im Zusammen-

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hang mit Olivi zu beachten. Angesichts der Komplexität der westlichen Gesellschaft boten Tradition und Reichtum des römischen Rechtes eine Vielzahl von Analyseinstrumenten und unterschiedlichen Fällen, die die Zivilrechtler kreativ aufgriffen und weiterentwickelten, um die verschiedenen Vertragsarten analysieren zu können, die im Mittelalter entstanden und Verbreitung fanden (Petit 2016). Und es war gerade das wechselseitige, zum Teil auch konfliktreiche Verhältnis zwischen kanonischem Recht und Zivilrecht, durch das die Reflexion über die Vertragslehre und über die formellen Rechtsbeziehungen sich verfeinerte, so dass neue Lösungen angeboten und neue Prinzipien formuliert werden konnten. Beide Rechtstraditionen drängten auf neue begriffliche Klarstellungen und regten auch dazu an, darüber nachzudenken, inwieweit bestimmte Wirtschaftsund Vertragspraktiken moralisch rechtmäßig oder formal gültig waren (Manselli 1983, S.  841–843). Die Kanonistik und die Zivilistik bieten also interessante Per­ spektiven zur Betrachtung von Olivis Auffassungen. Er selbst war mit beiden Rechtstraditionen vertraut und in der Lage, kompetent damit umzugehen, denn zu seiner Zeit war das Languedoc eine durch die Tradition des römischen Rechts stark geprägte Region. Als Theologe hatte er eine breite kanonistische Ausbildung erworben, und im Tractatus stellte er auch weitreichende Fähigkeiten dafür unter Beweis, Fragen des Zivilrechtes zu behandeln und anzuwenden (Piron 2012 b, S.  49–55).

3.3  Olivis intellektuell-praktisches Projekt Der Tractatus ist nicht eines von Olivis Hauptwerken. Er kann jedoch nicht als eine untergeordnete Schrift betrachtet werden, sondern er muss in den Gesamtzusammenhang von Olivis theologisch-intellektuellem Projekt eingeordnet und verstanden werden (Burr 1971; Flood 1973; Piron 2010; König-Pralong 2011; Suarez-Nani 2016). Dieses Projekt mit einer dreifachen, nämlich spekulativen, exegetischen und praktischen Orientierung, basiert auf Olivis Auffassungen zu

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Armut, Freiheit und geschichtstheologischer Enderwartung. Das wesentliche Merkmal dieses Projektes besteht in der Ausarbeitung einer Spiritualität, die darauf abzielt, die sapientia christiana in der Kultur der Zeit wiederherzustellen und dem christlichen Volk das Heil zu sichern. Um genau diesen Aspekt und die zentralen Linien von Olivis Denken zu erfassen, um Wesen und Zweck des Traktats zu verstehen, aber auch, um die Adressaten dieses Werkes identifizieren zu können, sollte man Olivis letzte Lebensjahre berücksichtigen. Er verbrachte sie ab 1292 vor allem im Ordenshaus von Narbonne; hier widmete er sich pastoralen Tätigkeiten und der Abfassung seiner geistlichen Schriften, der opuscula. Diese sowohl in lateinischer als auch in provenzalischer Fassung überlieferten Schriften richten sich an »ein säkulares und außerklösterliches Publikum« (Montefusco 2012, § 21). Sie haben das Ziel, einen Weg zu Frömmigkeit, geistlicher Führung und moralisch-religiöser Bildung anzubieten. Im Tracta­ tus kommt, zusammen mit der »praktisch-geistlichen Textkonstellation« (Montefusco 2012, § 23), die praktische Ausrichtung von Olivis intellektuellem Projekt voll zum Ausdruck. Wenn er auch eine andere Betonung aufweist, so teilt der Traktat mit den opuscula nicht nur die Adressaten und den praktischen Zweck, sondern auch einen verhältnismäßig geringen Grad an literarischer Gestaltung. Der »soziale Horizont« (Piron 2012 b, S.  43) des Tractatus ist Olivis heimatliches Bas-Languedoc in Südfrankreich, ein Gebiet, das durch intensive Handelsaktivitäten, Wollexporte, Textilproduktion und zunehmenden Geldverkehr gekennzeichnet war.22 Olivi kannte die merkantilen Aktivitäten seiner Zeit; er war damit sowohl während seiner Aufenthalte in den Ordenshäusern in Paris, Montpellier, Narbonne und Florenz als auch auf seinen Reisen in Frankreich und Italien in Berührung gekommen. Aber es war vor allem die sich um 22  Zum historisch-sozialen und wirtschaftlichen Kontext von Olivis Trac­ tatus sowie zu den Aktivitäten der Franziskaner im Languedoc und in der Provence vgl.: Rogoziński 1982; Biget 1984; Reyerson 1985; 2002; Larguier 1999; Chiffoleau  /  Lenoble 2016.

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Narbonne herum entwickelnde Laien- und Stadtgesellschaft, die den kognitiven, sozialen und geographischen Zusammenhang des Trac­ tatus herstellt (Montefusco 2016, S.  191–192; Larguier 1999, S.  266– 268) und die Olivi zu praktischen und theoretischen Reflexionen über wirtschaftliche Aktivitäten drängte. Der Tractatus wandte sich an ein breites Publikum, bestehend aus Klerikern, Franziskanern, Beichtvätern und Laien. Er hatte die Ausbildung der Franziskanerbrüder im Blick und ihre geistliche Betreuung der Kaufleute; deshalb enthielt er Anweisungen zur praktischen Durchführung der Beichte und der Predigt (Kirshner  /  Lo Prete 1984, S.  248–249; Piron 1998, S.  293–294; ferner Prodi 2000). Olivis Trac­ tatus ist »nicht nur als Ausdruck seines Anliegens anzusehen, die herkömmliche kirchliche Lehre über bestimmte moralisch-ökonomische Praktiken zu vermitteln, sondern auch als sein Versuch, die dieser Lehre zugrundeliegenden allgemeinen Prinzipien zu erläutern, damit die franziskanischen Brüder angesichts neuer Formen wirtschaftlichen Verhaltens im Beichtstuhl angemessene Urteile formulieren könnten«. (Kirshner  /  Lo Prete 1984, S.  248–249). Das Werk ist jedoch kein Beichthandbuch im engeren Sinne, da die scholastischen Summae confessorum nicht die begrifflichen Analysen und die theoretischen Überlegungen enthielten, die sich in Olivis Traktat finden (Piron 2012 b, S.  42). Neben der praktischen und auf Ausbildung angelegten Ausrichtung beinhaltet der Traktat auch eine solide theoretische Argumentation, die Olivis breit angelegte intellektuelle Bestrebungen bezeugt und es erlaubt, den Text als ein »Ideen­ gebäude von hohem Niveau« (Piron 1998, S.  295) zu bezeichnen. Gleichzeitig zielte Olivis intellektuelles Projekt darauf ab, die damalige Stadtelite und die Gesellschaft allgemein mit der Kirche und den christlichen Werten zu versöhnen (Biget 1984, S.  90; Montefusco 2012, § 7–8; § 28). Es berücksichtigte die »religiösen Bestrebungen der Bürger, deren Handlungen zunehmend im Widerspruch zu den kirchlichen Normen standen«. (Piron 2012 b, S.  42; Piron 1998, S.  294.) Olivi wollte die christliche Weisheit in der Kultur wiederbeleben, weshalb er versuchte, die Distanz zwischen der hierarchisch geordneten institutionellen Kirche und dem christlichen

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Volk zu überwinden (Vian 1989, S.  42–45). Seine Absicht, den Gläubigen im Volk näher zu kommen, spiegelt sich auch auf sprachlicher Ebene wider, indem er Begriffe gebrauchte, die aus der provenzalischen bzw. italienischen Volkssprache stammten. Für dieses »Eindringen« volksprachlicher Ausdrücke in die lateinischen Schriften der Scholastik gibt es in Olivis exegetischen Kommentaren sowie in seinen geistlichen und pastoralen Werken viele Beispiele (Montefusco  /  Piron 2016, § 34–37). Diese Vorgehensweise war zu Olivis Zeit nicht besonders verbreitet; es handelt sich da um eine originelle Methodik, die in seinem theologischen Denken begründet war (Montefusco 2016, S.  190–191) und von besonderen theoretischen Annahmen ausging. In den Volkssprachen bildete sich zunehmend ein ökonomisches Vokabular, dessen sich Olivi bei der konzeptionellen Erfassung der sozialen Wirklichkeit bediente. Ein Beispiel dafür ist der Begriff capitale. Bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts war dieses Wort in notariellen Urkunden und Handelsverträgen, die im westlichen Mittelmeerraum ausgestellt worden waren, weit verbreitet. Es war auch in Norditalien und insbesondere im toskanischen und florentinischen Sprachgebrauch etabliert (Montefusco  /  Piron 2016, § 36; Pirons Anmerkung in: Olivi 2012, S.  346).

3.4  Das scheinbare Paradox und die innere Kontinuität zwischen Armut und Reichtum Es mag ein Paradox sein, dass der Franziskaner Olivi, Theoretiker des usus pauper und Verteidiger der höchsten Armut, auch ein profunder Kenner der Handelstätigkeiten des 13. Jahrhunderts war, und zwar in einem solchen Maße, dass er eine ausdifferenzierte Betrachtung wirtschaftlicher Sachverhalte hervorbringen konnte und dazu in seinem Tractatus eine ganze Reihe von Problemen und Begriffen bearbeitete, was im Folgenden noch genauer dargelegt werden wird. Es stellt sich die spannende Frage, wie sich Olivis positive Haltung in Bezug auf die Handelsaktivitäten und die Legitimität des

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Gewinnstrebens sowie sein Verständnis des Kapitalbegriffs mit seiner leidenschaftlichen Verteidigung der absoluten Armut und des usus pauper vereinbaren ließ. In der historiographischen Debatte der letzten Jahrzehnte haben einige Wissenschaftler begonnen, dem engen Zusammenhang zwischen der Armutsreflexion und der Entstehung eines wirtschaftlichen Lexikons in Olivis Quaestiones de perfectione evangelica23 stärkere Aufmerksamkeit zu widmen. Die genannten Schriften sind Teil der ständig wachsenden Textproduktion des 12. bis 14. Jahrhunderts, die dazu beitrug, die im Gange befindliche ökonomische Reflexion zu kodifizieren sowie wirtschaftliche und soziale Prozesse zu verbalisieren und zu konzeptualisieren (Todeschini 1976; 1977; 1998; 2001). In diesen Texten kommt es immer wieder vor, dass Ideen aus der Wirtschaftswelt mit theologischer Bedeutung unterlegt wurden, oder es wurden theologische Begriffe bei der Bildung eines wirtschaftlichen Vokabulars verwendet (Todes­chini 2002, S.  104–120; 1992, S.  183–187; 2001). In den Quaestiones de perfectione evangelica verteidigte Olivi das franziskanische Ideal der evangelischen Vollkommenheit. Weiter ging er der Frage nach, was die theologische und juristische Verfassung der Armut sei. Olivi war sich der gesellschaftlichen und ökonomischen Implikationen des Armutsideals durchaus bewusst, weshalb er vor Kritik der damaligen Zustände in der Kirche und im Franziskanerorden nicht zurückschreckte. Im Hintergrund stand immer die Frage, wie evangelische Vollkommenheit im Franziskanerorden und in einer Gesellschaft gelebt werden könne, die durch 23  Von besonderer Bedeutung sind die Quaestiones de perfectione evan­ gelica VIII, IX, X und XVI (Olivi 1980 a; 1989 a; 1992 a; 1994), die eine systematischere Untersuchung aus wirtschaftsethischer Sicht verdienen würden. Einige erste Überlegungen finden sich in: Langholm 1992, S.  347–353; To­ des­chini 1999, S.  228–229; 2004, S.  88–100; Ceccarelli 2003, S.  181–255; Piron 1996; 2001. Auch Olivis exegetische Arbeiten und seine Schriften, die rechtliche Fragen behandeln oder Aspekte der franziskanischen Ordenstheologie, enthalten Stellen, in denen wirtschaftliche Sachverhalte betrachtet werden. Diese Schriften warten geradezu darauf, durch zukünftige Forschungen erschlossen zu werden.

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Besitz, kommerzielle Revolution und zunehmende Finanzaktivitäten geprägt war. In der Quaestio VIII de perfectione evangelica unterschied Olivi grundsätzlich zwei Formen von dominium bzw. herrschaftlicher Beziehung zu den materiellen Dingen. Die erste Form ist die altissima paupertas, also die vollkommene Armut, die Olivi als die höchste Form des Verhältnisses zu den zeitlichen Gütern betrachtete (Hödl 1968). Diese Lebensform implizierte nicht nur den Eigentumsverzicht und die Aufgabe aller Herrschaftsrechte, sondern auch die Beachtung des usus pauper (Olivi 1989 a, S.  125; 168). Die zweite Form von dominium, also der Herrschaft über die Dinge bzw. des Verhältnisses zu ihnen, ist jene, die durch das Privat- oder Gemeineigentum verwirklicht wird. Diese Art von dominium war im Vergleich zur höchsten Vollkommenheit der evangelischen Armut eine unvollkommene Herrschaftsform; sie kam im Eigentumsbesitz und der Aneignung von Gütern zum Ausdruck. Bedeutungsvoll und folgenreich für seine spätere Reflexion im Tractatus war Olivis Auffassung des freiwilligen Charakters der Entscheidung für die Armut bzw. für den Reichtum: das bedeutet, dass die menschliche Willensfreiheit zugrunde gelegt wird. Gerade aus dem Freiheitsbegriff (Olivi 2006; Simoncioli 1956; Nickl 2010; Parisoli 2007; Schmucki 2009) heraus rechtfertigte Olivi nämlich die freiwillige Entscheidung für die altis­ sima paupertas, aber auch die Entscheidung, etwas zu besitzen und sich anzueignen. Olivis Gedanken über die Armut stehen in engem Zusammenhang mit dem entgegengesetzten Begriff des Reichtums, der auch eine Art Ergänzung ist. Um das Armutsgelübde theologisch zu verteidigen, betrachtete Olivi auch die Bedeutung von Armut in rechtlicher und wirtschaftlicher Hinsicht; er analysierte die verschiedenen ökonomischen Ausdrucksformen von Reichtum und Armut und die Unterscheidung zwischen Eigentum (dominium), Nutzungsrecht (usus iuris), faktischem Gebrauch (usus facti) und dem armen Gebrauch (usus pauper) von Gütern. Seine Armutskonzeption öffnete Olivi den Weg zum Verständnis der Logik von Profit, Geld, Preisbildung und dem sozialen Nutzen kaufmännischer Aktivitäten.

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In den Quaestiones de perfectione evangelica definierte Olivi einer­ seits die Bedingungen für die freiwillig Armen, die sich für den sta­ tus perfectionis und das Ideal der evangelischen Vollkommenheit entscheiden. Andererseits präsentierte er die Armut als das Modell eines tugendhaften Umgangs mit dem Reichtum für diejenigen, die sich für den Besitzstand bzw. den status imperfectionis entscheiden. Die Idee des usus pauper kennzeichnet das hermeneutische Vorverständnis, in dem Olivis ökonomischer Diskurs beginnt. Armut als Nachahmung Christi wird zu einem erkenntnistheoretischen Prinzip, zu einer Methode, um die ökonomische Wirklichkeit zu erkennen, und zu einem Instrument, um die Dinge zu beherrschen. Es war die Logik des usus pauper, die Olivi das analytisch-epistemologische Instrumentarium an die Hand gab, um die verschiedenen individuellen Bedürfnisse zu verstehen, den Wert und den Nutzen der Dinge zu analysieren und unter bestimmten Bedingungen den Besitzstand und die Aktivitäten derjenigen anzuerkennen, die sich freiwillig für das Eigen­ tum entscheiden (Todeschini 2002, S.  119–128; Speelmann 2016). Für diejenigen, die den Besitz wählten, schloss der usus pauper den Gebrauch von Reichtum nicht aus; er wurde lediglich zum Werkzeug, um den geeigneten Gebrauch der Güter zu messen. Der usus pauper implizierte für den Reichtumsstand auch den Verzicht auf einen egoistischen Besitz der Dinge sowie auf die statische Aneignung von Gütern. Stattdessen legitimierte er eine bestimmte Verwendung der Gelder, die auf Produktivität ausgerichtet sein und dem Gemeinwohl und der Gesellschaft dienen sollte. Die franziskanische Armutsidee war somit eine Kritik an der Anhäufung von Reichtum und wurde zu einem Instrument der besseren Verteilung von Reichtum mit dem Ziel des sozialen Nutzens (Todeschini 2005, S.  179–181). Auf diese Weise wird das scheinbare Paradox zwischen Armut und Reichtum aufgelöst, weil die Franziskaner nicht gegen den Reichtum an sich waren, sondern die These vertraten, dass »die Armut hilft, das wahre Gesicht des Reichtums zu entdecken« (­Todisco 2008, S.  353–354). Die Armut wird zu einer Art »Lupe« (Todisco 2008, S.  350) und zum Leseschlüssel für den franziskanischen Wirtschaftsdiskurs. Ar-

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mut war nicht »eine allgemeine geistige Haltung der Entfernung von weltlichen Gütern, sondern auch eine soziale und rechtliche Norm« (Capitani 2000, S.  4). Demzufolge bedeutete freiwillige Armut nicht den Ausschluss aus der sozialen Welt als Folge einer überweltlichen Askese, sondern implizierte in der Praxis Solidarität, Befreiung und soziale Integration. Die Idee der evangelischen Vollkommenheit zielte ab auf ein neues, auf den Prinzipien von Gemeinschaft, Brüderlichkeit und Solidarität beruhendes Gesellschaftsmodell, das zu einer »gemeinschaftlichen und friedfertigen Gesellschaft« führen sollte – ad communem et pacificam societatem (Olivi 1989 a, S.  98–101). Olivi maß dem Franziskanerorden bei der Erneuerung der Kirche eine heilsgeschichtliche Bedeutung bei. Die altissima paupertas war nicht nur Ausdruck einer inneren Disposition, sondern wurde zu einem praktischen und wirksamen Projekt zur Erneuerung der Gesellschaft (Schlageter 2010, S.  230). Hier zeigt sich, dass Olivis eschatologische Perspektive und sein Endzeit-Bewusstsein mit seinem Armutsverständnis eng verknüpft waren. Wenn man diese Verbindung versteht, kann man besser nachvollziehen, wieso die Leistungen der franziskanischen Armutsbewegung zur Auseinandersetzung mit ökonomischen Fragen sowie zur ethischen Bändigung der wirtschaftlichen Verhältnisse führten. Dank dieser Verknüpfung gelang »ein echter Durchbruch zur Sozialethik« (Schallenberg 2013, S.  207): Die eschatologische Endzeiterwartung wurde zum Antrieb, die evangelische Armut zu fördern und sich an der Gestaltung menschenwürdiger und gerechter gesellschaftlicher Verhältnisse aktiv zu beteiligen. Die Hinwendung zu den Armen in der Nachfolge Christi und das Streben nach Verbesserung der Lebensverhältnisse wurden zu ethischen und sozialen Faktoren, die sich in aktive Nächstenliebe verwandelten und Sozialethik hervorbrachten: »Diese Perspektive ist die wiedergewonnene Zentralperspektive Gottes; sie ermöglicht eine neue eschatologische Ethik. Ethik vollzieht sich im Angesicht der Ewigkeit, oder anders: Existenzialethik entfaltet sich als ­Sozial- und Institutionenethik und dies im Horizont der Eschatologie – jetzt und hier ist die letzte Stunde des Handelns.« (Schallenberg 2013, S.  208.)

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Die Tatsache, dass die theologische Reflexion über den usus pau­ per die Möglichkeit einer wirtschaftlichen Analyse eröffnete, ist bei Olivi kein Paradoxon, sondern eine »Heterogenese der Ziele« der franziskanischen Armutsreflexion, die »zur Möglichkeit der Existenz einer politischen Ökonomie des späten Mittelalters geführt hat« (Capitani 1987, S.  XVI–XVII). Hier kam es zur Verwirklichung der Einheit zwischen wirtschaftlicher Reflexion und Ethik. Dabei handelte es sich nicht um »rein ökonomisches Wissen« oder um eine »soziologistische Perspektive«, sondern um die sozialen und wirtschaftlichen Folgen »eines anthropologischen und theologischen Kerns, ohne den der gesamte Diskurs undurchsichtig und wenig effektiv ist. Die Wirtschaft ist nur innerhalb der Ethik denkbar« (Todisco 2008, S.  350). Letzten Endes muss festgestellt werden, dass es sich bei Olivis Überlegungen nicht um ein Paradox handelt, sondern dass zwischen dem theologischen Armutsverständnis und der sozio-ökonomischen Reichtumsfrage ein innerer Zusammenhang und damit eine Kontinuität besteht (Lambertini 2012, S.  521; 2000, S.  40–41; ferner Little 1978).

4.  Ökonomische Auffassungen und begriffliche Neuerungen Der Tractatus ist einer der »herausragendsten Texte der wissenschaftlichen Reflexion über die mittelalterliche soziale Praxis« (Piron 1998, S.  290). Obwohl dem Werk kein Anspruch auf Vollständigkeit zugesprochen werden soll, legt es Zeugnis ab von der Art und Weise, wie zu Olivis Zeit die zur Diskussion stehenden Themen aufgegriffen und behandelt wurden. Der Text zeichnet die verschiedenen intellektuellen Kontexte des Mittelalters nach und greift die Erfahrungen der sozialen und wirtschaftlichen Wirklichkeit auf, die die Franziskaner durch Beichte und Predigt machten. Olivi fügte sie in das Geflecht seiner Argumente ein und berücksichtigte sie im Zusammenhang mit den gestellten Fragen und bei der Lösung der verschiedenen von ihm untersuchten Fälle. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er die Bedürfnisse und Herausforderungen der neuen auf-

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strebenden gesellschaftlichen Protagonisten, der mercatores, als In­ sider betrachten konnte. Im Traktat wird er gleichsam zum Sprecher, der die damaligen sozialen und wirtschaftlichen Phänomene erklärt. Die im Tractatus erläuterten Auffassungen können von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet werden: 1) Aus moraltheologischer Sicht, was Olivis eigentliche und prioritäre Absicht ist. Seine Leitperspektive war es, moralische Normen zu formulieren und bestimmte ökonomische Praktiken als ethisch erlaubt anzuerkennen oder als unrechtmäßiges Verhalten zu enthüllen. 2) Aus der Perspektive der kanonistischen und zivilistischen Rechtslehre, was es Olivi erlaubte, Prinzipien sowie Denk- und Vorgehensweise zu übernehmen, mit denen er formal-juristische Analysen durchführen und Verträge nach bestimmten Typologien einordnen konnte. 3) Vom Gesichtspunkt des ökonomischen Denkens aus, wie es von Olivi damals wahrgenommen wurde. Olivis Zugang zeichnet sich ansatzweise durch eine »Interpretationsanstrengung der ökonomischen Wirklichkeit« aus (Spicciani 1977, S.  135) und durch »ein Verständnis der wirtschaftlichen Realität iuxta propria principia« (Spicciani 1990 a, S.  32); erst danach unterwarf er diese einem moralischen Urteil oder einer theologischen Rechtfertigung. Im Lichte dieser Perspektiven kann man besser verstehen, warum einige grundlegende ökonomische Ideen damals innovative und gewagte Lösungen waren, die Olivi zu verdanken sind und die die Originalität seines Denkens ausmachen. Olivis Schärfe liegt sowohl in den Implikationen der franziskanischen Armut, aber auch »in der rigorosen Wiederverwendung von Begriffen, die in seinen theologisch-philosophischen Fragen über den Willen und die Zeit sowie in der Analyse des Verhältnisses zu den Dingen geschmiedet wurden« (Piron 1998, S.  294). Seine analytische Fähigkeit führte ihn außerdem dazu, einige traditionelle Auffassungen aufzugeben und zu widerlegen. Im Folgenden werden einige innovative Gedanken von Olivi sowie ihm wichtige Themen dargestellt. Dabei handelt es sich um die Entwicklung einer ausgearbeiteten wirtschaftlichen Werttheorie im Zusammenhang mit der Frage nach dem gerechten Preis; um den

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freiwilligen und voluntaristischen Charakter des Vertragsabschlusses; um die besondere Anerkennung der ethischen Qualität und sozialen Nützlichkeit des kaufmännischen Berufs sowie die Legitimation des Gewinns; um die theoretisch-systematische Verwendung des Kapitalbegriffs; um die Überwindung der aristotelischen Auffassung der Sterilität des Geldes durch die originelle Unter­schei­ dung zwischen dem bloß sterilen Geld und dem fruchtbaren und gewinnbringenden Geld, von Olivi capitale genannt; um die Widerlegung des scholastischen Argumentes des Zeitverkaufs, womit die Auffassung vom Wucherzins als Zeitdiebstahl überwunden wurde; dagegen verteidigt Olivi den ökonomischen Wert der Zeit, was ­einer »echten Revolution« gleichkam (Capitani 1993, S.  482), die voller Konsequenzen war; um die Unterscheidung zwischen der verbotenen usura und dem rechtmäßigen interesse sowie zwischen dem sündigen Wucherer und dem gerechten christlichen Kaufmann; und schließlich im Zusammenhang mit der Restitutionslehre um die Unterscheidung zwischen den unrechtmäßigen Gewinnen per se und den rechtmäßigen Gewinnen, die aus moralisch schändlichen Handlungen stammen.

4.1  Preis und Wert: Die individuelle Güterbewertung Ein wichtiges und im 13. Jahrhunderts viel disputiertes Thema war die Frage nach dem gerechten Preis (Baldwin 1959), mit dem sich Olivi in De emptionibus et venditionibus ausführlich befasst.24 Zentral ist Olivis ethische Zielsetzung, wie er ganz deutlich bei der Formulierung der ersten Frage zu erkennen gibt: »Ob Sachen erlaubterweise und ohne Sünde für mehr, als sie wert sind, verkauft oder für weniger gekauft werden dürfen« (infra I, 2). In seiner Antwort geht Olivi auf den wirtschaftlichen Wert der Güter ein und stellt fest, dass sie auf dreifache Weise beurteilt werden. 24  Einige Ausführungen in diesem Abschnitt sind aus Franco  /  Nickl 2018 übernommen und unter Einbezug von Spicciani 1990 a erweitert worden.

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Olivi unterscheidet drei Wertbestimmungsfaktoren, nämlich die »Nützlichkeit« der Dinge, die »Seltenheit und Schwierigkeit ihrer Beschaffung« und das »Wohlgefallen des Willens« (infra I, 9–11; dazu: Spicciani 1990 a; Marazzi 1990, S.  23–60; Kaye 2014, S.  114–123). Diese drei Kriterien werden von Bernhardin von Siena am Rande seines Olivi-Manuskriptes, die er in seinen Sermo 35 wörtlich aufnahm25, virtuositas, raritas und complacibilitas genannt. Es geht um drei Ausdrücke, die den Historikern des ökonomischen Denkens gut bekannt sind. Nach Olivi ist eine Sache aufgrund ihrer Nützlichkeit (virtuositas) wertvoller als eine andere, da sie aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse mehr oder weniger geeignet ist; so sei beispielsweise ein Weizenbrot als Nahrungsmittel mehr wert als ein Gerstenbrot oder ein starkes Pferd mehr wert als ein Esel. In zweiter Linie hängt der wirtschaftliche Wert einer Sache von ihrer raritas ab, d. h. von ihrer Knappheit bzw. Seltenheit und der Schwierigkeit ihrer Beschaffung, wodurch ihr Preis und ihr Wert steigen; z. B. ist Getreide in Zeiten von Hungersnot teurer und wertvoller als in Zeiten des Überflusses. Der dritte wertbestimmende Faktor besteht in dem beneplacitum voluntatis oder der complacibilitas, d. h. im willentlichen und subjektiven Wohlgefallen am Besitz der Sache und bei ihrem Gebrauch, etwa wenn jemand ein Pferd im Vergleich mit einem anderen bevorzugt, weil diese Person das eine Pferd für schöner hält als das andere. Die Einführung der complacibilitas als Wertfaktor einer Sache ist charakteristisch für Olivi; sie stellte im Vergleich zu früheren Auto­ ren eine Neuheit dar und gleicht einer modernen Werttheorie. Sie brachte ein subjektives Element in die Wertanalyse, so dass die Wertbestimmung einer Sache von einer Entscheidung des individuellen Willens abhängt. Die complacibilitas brachte die Idee der individuellen Präferenz und der subjektiven Nützlichkeit ins Spiel. Dagegen bezieht sich die virtuositas auf die objektiven Eigenschaften einer 25  Bernhardin von Siena, Sermo XXXV, a.  1, c.  1, in: De contractibus et usuris, S.  190–191.

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Sache, d. h. auf ihren objektiven Nutzwert. Nach Olivi steigt und fällt der wirtschaftliche Wert einer Sache proportional zu ihrer Nützlichkeit. Er stellt auch fest, dass es keinen genauen und immer gültigen Wert einer Sache geben kann und dass unterschiedliche Preise für dieselbe Sache verlangt werden können, vorausgesetzt, dass: 1) der Wert einer Sache im Einklang mit der Bewertung steht, die mit Blick auf die Nützlichkeit und auf das wahrscheinliche Urteil menschlicher Einschätzung veranschlagt werde; und 2) dass diese Einschätzung sich innerhalb der Grenzen einer gewissen Bandbreite – sub aliqua latitudine – bewege (infra I, 9–13). Eine genaue und exakte (punctualiter) Festlegung des gerechten Preises ist also nach Olivi nicht möglich. Seine Bestimmung ergibt sich vielmehr aus einer abwägenden Schätzung, die einer Bandbreite (latitudo) bzw. Schwankung unterliegt und verschiedene Grade hat (infra I, 12; 74; 76). Olivi behauptet, dass das Überschreiten dieser Grenzen nicht immer eine Todsünde darstelle, es sei denn, die Abweichung sei zu groß. Deshalb bemüht er sich, die Grenzen und das Überschreiten der latitudo genauer zu bestimmen. Dabei hält er sich an das zivilrechtliche Kriterium der laesio enormis, wonach ein Handelsvertrag ungültig war, wenn der Preis um mehr als die Hälfte vom gerechten Preis abwich. Bei Überschreitung dieser Grenze ergibt sich für Olivi die moralische Pflicht zur Rückerstattung und die ernsthafte Frage, ob hier die Sünde der Ungerechtigkeit vorliege (infra I, 14; IV, 32). Olivi geht jedoch noch weiter und behauptet, dass dies der Fall sei, wenn der Betrogene von diesem Überschreiten nichts wisse; wenn dagegen der Betrogene freiwillig seine Zustimmung zu einem solchen Vertrag mit ungünstigen Bedingungen gegeben habe, sei der Vertrag rechtlich gültig und die Vertragsverpflichtungen seien deshalb zu beachten (infra I, 15). Aus Olivis Ausführungen folgt, dass der gerechte Preis eine regulative Funktion für die Praxis hat. Von zentraler Wichtigkeit ist darüber hinaus, dass Olivi die Bedeutung der Übereinstimmung des Willens der Vertragspartner für die Preisvereinbarung hervorhebt. Er unterstreicht damit die freiwillige Dimension des Vertrages sowie die Rolle des freiwilligen Konsenses für die Gültigkeit eines

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Vertragsabschlusses wie des wirtschaftlichen Handelns im Allgemeinen (Spicciani 1990 a, S.  38–40; Piron 1998, S.  295; Lambertini 2017, S.  1547; Marazzi 1990, S.  38–42). Diese Auffassung lässt sich im Lichte der Ansichten interpretieren, die Olivi bereits in seinen Quaestiones de perfectione evangelica geäußert hatte. Hier erarbeitet er, dass sowohl die Entscheidung für den Stand der Armut als auch die für den Besitzstand ihren Ursprung in der Willensfreiheit haben und freiwillig angenommen werden sollen. Das franziskanische Armutsgelübde sei für den freiwillig Armen eine verbindliche Verpflichtung. Die Idee, dass das Armutsgelübde so etwas wie ein Vertrag sei, wurde von Olivi als Modell für alle Vertragsverhältnisse gesehen, aus denen sich gegenseitige Verpflichtungen für Kontrahenten ergaben, die freiwillig einen Vertrag abschlossen (Ceccarelli 2003, S.  221–238; Piron 2001, S.  107–115). Somit wird bei Olivi nicht nur von freiwilliger Armut gesprochen, sondern auch von freiwilligem Eigentum (Grossi 1972, S.  27–42; Piron 2001, S.  114; 1992, § 5–6) bzw. von wirtschaftlichem Voluntarismus (Ceccarelli 2003, S.  227– 228; Evangelisti 2016 a, S.  141–146, Todeschini 2002, S.  89–131; 2004, S.  72–107). In diesem Zusammenhang soll auch erwähnt werden, dass Olivi im Tractatus einen Gedankengang vertieft und sich einer Terminologie (latitudo; gradus) bedient, die er bereits in seinen theologischen Schriften über die Armutsfrage verwendet hatte, um die veränderliche Wertbestimmung der Dinge und die Vorstellung über die Breite des usus pauper zu charakterisieren. Im Mittelpunkt der Einwände, die gegen Olivis Idee des usus pauper erhoben wurden, standen die Kritik an seiner Auffassung von der Unbestimmtheit des franziskanischen Gelübdes und die Frage, wie der arme und eingeschränkte Gebrauch der Güter zu verstehen sei, was in der Praxis weite Interpretationsspielräume zuließ (Olivi 1992 b, S.  89–90). Olivis Antwort war, es sei nicht möglich, die Grenzen des usus pauper mit Exaktheit zu definieren und festzustellen, wann er verletzt werde. Er betonte auch, dass die Einhaltung der Regula nicht in ­einem absoluten Sinn zu verstehen sei, sondern den Umständen und besonderen Bedürfnissen der freiwillig Armen angepasst werden müsse

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(Olivi 1992 a, S.  45–47). Um die Vorstellung der Bandbreite und der Flexibilität des usus pauper auszudrücken und den Gedanken zu verteidigen, dass dessen Grenzen nicht präzise bestimmt werden könnten, verwendete Olivi das unterschiedlich interpretierte Wort latitudo (Piron 2001, S.  125–128; Kaye 1998, S.  123–127; Lambertini 2017, S.  1546–148), das mit der philosophischen Idee der Tugend in Verbindung steht.26 Dies ist eine Terminologie, die Olivi der aristotelischen Tradition entnommen hatte, nach der die Tugend als das richtige Maß zwischen zwei Extremen bzw. zwischen zwei gegensätzlichen Verhaltensweisen verstanden wurde (Piron 2001, S.  115–120; Todeschini 1999, S.  224–229). In ähnlicher Weise wies der usus pauper auf ein tugendhaftes Verhalten hin, das den Gebrauch der Güter nur auf das vernünftigerweise Lebensnotwendige beschränkte. Der arme Gebrauch stellte eine regulative Idee dar, die eine Vielfalt von Anwendungen ermöglichte und Schwankungen zuließ (Olivi 1992 a, S.  31; 1994, S.  338). Olivi machte auch deutlich, dass nicht jede Abweichung vom usus pauper zur Todsünde führte, weil es verschiedene Grade des usus pauper gebe. Der usus pauper konnte je nach den Umständen mehr oder weniger perfekt oder streng eingehalten werden; eine kleine Abweichung, wie das Essen von Huhn oder das Trinken von Wein, stellte nach Olivi nur eine lässliche Sünde dar und konnte mit dem usus pauper vereinbar sein. Er mahnte jedoch, dass der Gebrauch der Güter zu einer Todsünde werde, wenn sich übermäßiger Gebrauch und dauernde Abweichungen vom usus pauper entfernen und zum usus dives führen, d. h. zu einem reichen Gebrauch der Dinge (Olivi 1992 a, S.  37; 1992 b, S.  134).

26  So schreibt Olivi in seinem Tractatus de usu paupere: »[…] et maxime cum decentiam pauperis usus seu medium eius debite circumstantiatum non omnino ponamus in puncto immo in quadam latitudine diversos in se gradus habere, nisi forte isti cum stoicis velint non esse gradus in virtutibus.« (Olivi 1992 b, S.  144).

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4.2  Gerechter Preis und die gemeinschaftliche ­Güterbewertung Im ersten Teil des Traktats setzt Olivi der individuellen Güterbewertung und der Preisfestlegung eine Grenze, indem er die Rolle gemeinschaftlicher Kriterien, nämlich die allgemeine Schätzung und Bewertung durch die Gemeinschaft – communis taxacio et esti­ macio (infra I, 26) – miteinbezieht (Marazzi 1990, S.  61–80; Kaye 2014, S.  58–66). Er behandelt die Frage, ob ein Preis, um gerecht zu sein, nur nach dem Nutzwert für den Käufer bzw. für den Empfänger ­einer Leistung festgelegt werden könne, d. h. nach einem subjektiven Nutz- und Gebrauchswert. Er geht darauf unter der Perspektive der Tauschgerechtigkeit ein, die auf der Gleichwertigkeit der getauschten Dinge bzw. der Gleichheit von Preis und Wert eines Gutes basiert. Olivi weist darauf hin, dass die individuellen Preisvorstellungen oft vom Wert einer Sache abwichen und dass jedes Individuum andere Vorstellungen vom Preis einer Sache haben könne. Neben der Subjektivität und der Unbestimmtheit der Güterbewertung besteht nach Olivi eine weitere Schwierigkeit darin, dass bei Vertragsverhandlungen beide oder einer der Kontrahenten einen größeren Gewinn anstrebten. Eine rein individuelle Güterbewertung könne deshalb bei der Bestimmung des gerechten Preises zu einem Dilemma führen und zu der absurden Situation, dass ein unverhältnismäßig hoher Preis zu zahlen sei. Olivi verdeutlicht diese Ansicht anhand einiger Beispiele. Als Ausgangspunkt nimmt er die Notlage eines sterbenden Menschen, dem durch ein Arzneimittel oder eine Heilpflanze oder durch einen Becher Wasser geholfen werden könnte (infra I, 21; I, 24). In diesen Fällen würde der Wert der fraglichen Sache für den kranken Menschen der Nützlichkeit entsprechen, den diese für ihn hat, nämlich der Wiederherstellung der unschätzbaren Gesundheit und der Bewahrung vor dem möglichen Tod. Olivi weist die Idee zurück, dass der Verkäufer der Güter, die dem kranken Menschen die Wiederherstellung seiner Gesundheit brachten, vom Empfänger einen der Heilung gleichwertigen, also unschätzbaren Preis verlangen könne.

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Olivi stellt in Abrede, dass der subjektive Nutzwert der Güter eine taugliche Grundlage für die Festsetzung des Preises eines lebensnotwendigen Gutes sei; anhand seines Beispiels zeigt er, dass der Wert des menschlichen Lebens wirtschaftlich nicht quantifizierbar und mithin unschätzbar ist. Wenn man Olivis Beispiel des lebensrettenden Bechers Wasser nimmt, kann man sich vorstellen, dass ein Verkäufer, den ein maßloses Gewinnstreben antreibt, dafür einen Preis verlangen würde, der, bezogen auf den unschätzbaren Wert des Lebens für den Empfänger, unbezahlbar wäre. Genau solche tadelnswerten Gewinnabsichten und Verhaltensweisen seien zu vermeiden, sagt Olivi, weil sie die Existenz der Gemeinschaft selbst gefährden und Gefühle wie Mitleid und mitmenschliche Solidarität beschädigen würden. Für Olivi war der Endzweck – ratio finalis – der von Menschen getätigten Kaufgeschäfte die Realisierung des Gemeinwohls (infra I, 24–25). Letztendlich war Olivi der Ansicht, dass die Preisfestlegung für ein Gut im Hinblick auf die Gesellschaft zu bemessen sei und zu berücksichtigen habe, inwieweit dieses Gut für das Gemeinwohl förderlich sei. Dafür solle die von der Zivilgesellschaft und von den Bürgern einer Gemeinschaft vorgenommene Schätzung beachtet werden, die nach vier Kriterien vorzunehmen sei: 1) die natürliche Ordnung der nutzbaren Dinge; 2) die innerhalb einer Gemeinschaft verfügbare Menge eines bestimmtes Gutes, also dessen Knappheit oder Überfluss sowie die Schwierigkeit seiner Beschaffung; 3) die Mühe und der Fleiß, die für die Herstellung und Bereitstellung eines Gutes aufgewendet werden müssen, und die Gefahr, der man sich dabei aussetzen muss; 4) die Rangordnung der Ämter und die damit verbundenen Würden. Damit berücksichtigt Olivi die Arbeitsleistung von Amtsträgern und rechtfertigt Lohnunterschiede, weil höhere Ämter meistens mehr Aufwand erfordern, weshalb Heerführer einen höheren Lohn verdienen als einfache Ritter. Die Heerführer seien besser zu bezahlen, weil ihre Leistungen eine höhere pericia und industria, d. h. mehr Erfahrung und Fachwissen, sowie einen größeren mentalen Einsatz verlangten als die der einfachen Ritter, ferner, weil diese Fähigkeiten durch langes, intensives, kostspieliges

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und risikoreiches Studieren erworben wurden und weil die dafür Geeigneten selten wären und es nur wenige von ihnen gebe (infra I, 27–34). Bei seiner Behandlung der Frage nach dem gerechten Preis formuliert Olivi sowohl subjektive als auch objektive Preisbestimmungsfaktoren. In seinen Ausführungen geht er von der sehr subjektiven Ebene des wirtschaftlichen Wertes zu der allgemeinen Perspektive über, die zu sehen ist, wenn man den gemeinschaftlichen Nutzen der Sache betrachtet. Das Subjekt wird nicht nur als ein Individuum betrachtet, das isoliert lebt, sondern als eine Person in ­einer Gesellschaft, die das Wohl der anderen in dieser Gemeinschaft beachten muss. Olivi zufolge sollte man sich bei der Preisfestlegung nach den gemeinschaftlichen Schätzungen richten, damit schädliches und inkorrektes Verhalten vermieden werde und keiner gegen das Gemeinwohl und die Zivilgesellschaft handele und dadurch den allgemeinen Nutzen und die allgemeine Gerechtigkeit beschädige. Folglich seien das Gemeinwohl (commune bonum) und die gesellschaftliche Wertschätzung (communis estimacio) die Grundlagen gerechter Vertragsverhandlungen in einer Gesellschaft. In diesem Zusammenhang stellt Spicciani fest, dass Olivi den Übergang von der individuellen zu einer überindividuellen, gemeinschaftlichen Güterbewertung vollzieht. Dieser Übergang ermöglicht die Überwindung der Schwierigkeiten, die sich aus dem Dilemma einer gnadenlosen, nicht auf den Menschen bezogenen Gleichwertigkeit der gehandelten Güter ergeben, was Olivi mit dem erwähnten Beispiel des Bechers Wasser veranschaulicht, der das Leben eines Menschen rettet und deshalb so viel wert ist wie ein Menschenleben. Dieser Wechsel der Perspektive beruht jedoch darauf, dass Olivi in gewisser Hinsicht den »modernen Marktbegriff« als Ort des Austausches einführt, ein Ort, an dem Angebot und Nachfrage aufeinanderstoßen und wo ganz konkret die Preisbildung stattfindet: »Ohne diese Hypothese im Hintergrund wäre es tatsächlich nicht möglich, die konstituierenden Bestimmungsfaktoren der Preise zu erfassen, die nur innerhalb der räumlich-zeitlichen

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Perspektive des Marktes ihre ökonomische Bedeutung gewinnen.« (Spicciani 1990 a, S.  43.)27

4.3  Ethische Legitimität des kaufmännischen Handels Eine besondere Rolle spielte für Olivi der Kaufmann, der im 13. Jahrhundert, wirtschaftlich gesehen, eine Neuheit darstellte und im Mittelpunkt der Beobachtung durch die damaligen Kulturträger stand. Der Traktat spiegelt nicht nur indirekt die »Ratlosigkeit« der Beichtväter wider, sondern auch die Zweifel der Kaufleute, die sich an franziskanische Beichtväter wandten, um sich hinsichtlich der moralischen Legitimität ihrer geschäftlichen Aktivitäten beraten zu lassen (Piron 1998, S.  294). Olivi beurteilt die Kaufleute bzw. die »unvollkommenen Menschen, die nach Gewinn gieren«, wohlwollend (infra I, 55). Er wollte das Verhalten dieser Unvollkommenen nicht verurteilen, sondern Bedingungen für die Rechtmäßigkeit ihres Handels aufstellen sowie moraltheologische Normen und zivilgesellschaftliche Regeln formulieren, an die sich die christlichen Kaufleute halten sollten, Regeln, die an ihren unvollkommenen Status angepasst waren. Olivi erkennt den geschäftlichen und gewinnbringenden Handel in dem Maße an, wie er im Kontext einer Ethik des Gemeinwohls steht. Zugleich bringt er mehrere Argumente zur positiven Rolle des Kaufmannes vor (I, 69–79). Nach Olivi ist der Kaufmann kein 27  Olivis Idee des gerechten Preises kann mit der modernen Marktpreistheorie, die auf dem Wettbewerbsprinzip und dem Gesetz von Angebot und Nachfrage beruht, verglichen oder in gewisser Hinsicht gleichgesetzt werden. Es sind jedoch auch Unterschiede zu berücksichtigen. Wie Piron hervorhebt, wurden mittelalterliche Märkte von politischen Behörden reguliert und kontrolliert, und die Verträge wurden öffentlich »[…] im Beisein mehrerer Zeugen geschlossen, deren Aufgabe es war, die Richtigkeit des Preises zu bestätigen. Der Wettbewerb ist also nur ein Aspekt der Regulierung dieser Märkte, der räumlich und nicht abstrakt zu verstehen ist; er ist nur ein Mittel zu politischen Zwecken.« Piron 2012 b, S 48–49.

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Sünder; vielmehr leistet er der Gesellschaft einen Dienst, indem er Güter herbeischafft. Die Legitimität des kaufmännischen Gewinns wird gerechtfertigt durch die Gefahren und Kosten sowie den Fleiß, die der Handel erfordert, sowie auch durch die kaufmännische Erfahrung und das Fachwissen (industria), das bei der Güter- und Preisbewertung eine Rolle spielt. Olivi bezeichnet die Kaufleute als vertrauenswürdige (honorabiles) und reiche (pecuniosi) Menschen; beide Eigenschaften gewährleisteten innerhalb der Gemeinschaft ihre Glaubwürdigkeit und führten zu ihrer Wertschätzung. Es seien diese Eigenschaften, ihr gesellschaftlicher Nutzen und die Risiken, die sie eingingen, wie etwa, dass sie ihr investiertes Kapital eventuell nicht zurückbekämen, die den Gewinn der Kaufleute rechtfertigten. Hinter diesen Ausführungen des Tractatus stehen die Auffassungen, die Olivi in seinen Quaestiones de perfectione evangelica formuliert hatte. Hier ist nicht nur von einem status perfectionis, sondern auch von einem status imperfectionis die Rede: Nach Olivi ist der Status des Reichtums, der verglichen mit dem der höchsten Armut ein unvollkommener sei, durchaus legitim, wenn ethische Normen beachtet würden. Olivi betont, dass auch für diejenigen, die Reichtum besitzen und Profite machen wollen, ein Weg des Heils möglich sei. Es seien gerade die freiwillig Armen, die den Unvollkommenen ein christliches und ethisch gesehen authentisches Modell des Wirtschaftens anböten (Olivi 1992 a, S.  53). Nach Olivi könnten auch die Kaufleute zu einer gerechten Gesellschaft gehören, zum Gemeinwohl beitragen und ein christliches Leben führen (Evangelisti 1998, S.  30; 131–136). Olivis Anliegen im Tractatus war, das ideale Bild des mercator christianus zu zeichnen und zu zeigen, dass dieser kein Wucherer war (Piron 1998, S.  294; 307–308; 2018, S.  161; Todeschini 2005, S.  177–181; Lambertini 2017, S.  1543). Der christliche Kaufmann wurde daher zum Hauptprotagonisten (Evangelisti 2016 a, S.  156; Todeschini 1999, S.  229) und zum geeignetsten Gesprächspartner im franziskanischen Wirtschaftsdiskurs (Olivi 1992 a, S.  7 7–78). Sein Beruf erfüllte bestimmte Voraussetzungen; er besaß technische Fähigkeiten, befand sich in einer sozialen und finanziellen Lage, die

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ihn vertrauenswürdig machte und rechtfertigte, dass er Gewinne realisierte. Seine kaufmännischen Aktivitäten waren ethisch erlaubt, weil sie sozial produktiv und von öffentlichem Nutzen waren. Der Kaufmann war eine positive Figur, denn anders als der Wucherer neigte er nicht dazu, Geld zu horten, sondern er strebte nach Profit, um das Geld dann in Umlauf zu bringen, wobei er als Ziel das Gemeinwohl und den Dienst an der Zivilgesellschaft im Auge hatte.

4.4  Usura, interesse und capitale Eines der umstrittensten und meistdiskutierten Probleme des Mittelalters war die Frage des Wucherverbotes (McLaughlin 1939; 1940; Noonan 1957; Siems 1992; Le Goff 1986). Olivi widmet sich im Teil II, De contractibus usurariis, mit einer mehrteiligen, sorgfältigen und überzeugenden Argumentation dem Nachweis, dass Wucher bzw. Geldverleih gegen Zins eine schwere Sünde sei, die die Bande jeder menschlichen Gemeinschaft zerstöre, den Glauben beseitige und letztlich in die Hölle führe. Seine Argumentation für das Verbot des Wuchers unterteilt er in fünf Beweisblöcke: sieben Argumente aus der Hl. Schrift; acht Argumente, die auf der Autorität der Kirchenväter und der Päpste basieren; sieben Argumente auf der Basis der Vernunft; sieben Argumente als phänomenologisch-moraltheologische Reflexion über die Sündhaftigkeit des Wuchers (das erste dieser Argumente ist dreigeteilt, also drei plus sechs Argumente); und schließlich noch neun Argumente als Entgegnung auf die neun Eingangsargumente, die, gemäß dem Aufbau der scholastischen Quaes­ tio, das Zinsverbot in Frage gestellt hatten. Zählt man alles zusammen, kommt man auf 40 Argumente, um die intrinsische Schlechtigkeit der Zinseinnahme zu untermauern. In der theologisch-kanonistischen Diskussion des 13. Jahrhunderts versuchte man immer wieder, mögliche Ausnahmen zu rechtfertigen, für die das Wucherverbot nicht galt. Eine sehr kontroverse Diskussion betraf vor allem die Frage, ob es trotz des Wucherverbotes zulässig sei, zwischen einer beliebigen Geldsumme als Darlehen

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und einem Darlehen zu unterscheiden, das aus einer Geldsumme bestand, aber bereits in Geschäfte investiert oder für eine gewinnbringende Handelstätigkeit bestimmt war. Eine solche Geldsumme schien tatsächlich in sich selbst eine legitime Gewinnerwartung zu besitzen. Einerseits war jeder Geldzuwachs, der vermittels eines Darlehens erlangt wurde, nichts anderes als Wucher und also eine Sünde; andererseits wurde die Entschädigung, die ein Kaufmann oder derjenige, der eine Investitionsabsicht hatte, verlangte, um sein eigenes Geld aus einem Geschäft zu ziehen oder in andere Handels­ tätigkeiten zu investieren, als interesse bezeichnet, ein Ausdruck, der aus dem römischen Recht stammte (Spicciani 1990 b, S.  85–86). Also war usura das, was für das Darlehen (quidquid sorti accedit) kraft des Darlehens selbst verlangt wurde, also alles, was über das geliehene Geld hinaus als Rückzahlung zu entrichten war. Interesse (= id quod interest) dagegen stand für Entschädigung bzw. Entgelt und fand seine Rechtfertigung nicht in dem Darlehen als solchem, sondern in einem dem Darlehen extrinsischen Sachverhalt, der dem Darlehensgeber einen ökonomischen Schaden verursachte, für den der Darlehensnehmer ihn entschädigen sollte. Unter den extrinsischen Titeln des interesse findet man in der mittelalterlichen Terminologie das damnum emergens, d. h. der konkret erlittene Schaden für den Darlehensgeber, der entsteht, weil dieser nicht über die verliehene Summe verfügen kann; das lucrum cessans, der entgangene Gewinn, der entsteht, wenn der Darlehensgeber zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses eine alternative Investitionsmöglichkeit gehabt hätte, auf die er verzichtete, obgleich sie ihm Vorteile und Gewinnmöglichkeiten gebracht hätte; und schließlich das periculum sortis, die Gefahr des Kapitalverlustes, wenn etwa der Darlehensnehmer seinen Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen kann. In diesem Kontext bewegen sich auch Olivis Überlegungen. Trotz seiner Kritik am Wucherzins, den er hauptsächlich als Verletzung eines Darlehensvertrages (mutuum) betrachtet, charakterisiert er Vertragsarten und Geschäftspraktiken, die er nicht als wucherisch verurteilt. Zu diesem Zweck führt er die originellste begriffliche Neuerung des Traktats ein und schafft freie Bahn für einen nachhal-

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tigen Gedanken: seine originelle Formulierung und systematische Verwendung des Kapitalbegriffes (Rode 2016; Kaye 1998, S.  117–127; 2014, S.  56–75) unterscheidet zwischen dem bloß sterilen Geld (sim­ plex pecunia) und dem fruchtbaren und gewinnbringenden Geld; letzteres nennt er capitale. Durch diese damals revolutionäre Theo­ rie stellt Olivi die zu seiner Zeit herrschende aristotelische Vorstellung in Frage, dass Geld lediglich ein Tauschmittel sei; er anerkennt die Legitimität der Handelsgeschäfte und sieht den Mehrwert – v­ alor superadiunctus – des Kapitals (infra III, 59–64). Jedoch würde man Olivis Neuerung in anachronistischer Weise interpretieren, wenn man ihn als »einen der offensichtlichsten Verteidiger des italienischen Kapitalismus« (Kirshner 1972, S.  81) bezeichnen würde. Es lohnt sich, sich Olivis bahnbrechende Unterscheidung genauer anzuschauen und anhand einer der bedeutendsten Stellen des Traktats zu veranschaulichen: Angenommen, jemand hat beschlossen, sein Getreide nicht zum aktuellen Zeitpunkt auf den Markt zu bringen, sondern es erst zu einem späteren Zeitpunkt zu verkaufen, wenn es voraussichtlich einen besonders hohen Preis erzielen wird, wenn es also einen höheren Wert haben wird. In dieser Situation tritt jemand an ihn heran mit der Bitte, ihm das Getreide schon jetzt zu verkaufen. Olivi meint (infra III, 62), für dieses Getreide dürfe der Besitzer, ohne den Vorwurf des Wuchers befürchten zu müssen, schon jetzt den zum späteren Zeitpunkt erwartbaren höheren Preis verlangen, denn: »das, was nach dem festen Vorsatz seines Besitzers dazu bestimmt ist [firmo proposito domini sui est ordinatum], einen wahrscheinlichen Gewinn abzuwerfen, hat nicht nur den Charakter des einfachen Geldes [simplicis pecunie] bzw. der einfachen Sache, sondern darüber hinaus noch eine gewinnträchtige Beschaffenheit [racionem seminalem lucri], die wir gemeinhin Kapital nennen, und daher muss nicht nur sein einfacher Wert erstattet werden, sondern auch der Mehrwert [valor superadiunctus].« (infra III, 63.) Nicht das einfache Geld, sondern das Kapital hat eine gewinnträchtige Beschaffenheit bzw. verspricht Gewinn. Und das Geld wird nur dann zum Kapital, wenn der Besitzer eine Investition beabsich-

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tigt oder schon getätigt hat. Diese Investition muss daher praktisch möglich sein. Auf diese Weise kritisiert Olivi einerseits die aristotelische Idee der Sterilität des Geldes; andererseits legitimiert er das Kapital als in ein Geschäft einbezogenes oder für einen Handel bestimmtes Geld, für dessen Verwendung dem Darlehensnehmer eine Entschädigung in Form eines interesse abverlangt werden könne. Die Gewinnträchtigkeit bzw. der potenzielle Gewinn führen dazu, dass der Preis für das »Kapital« höher ist als der Wert des einfachen Geldes. Die ratio seminalis lucri ist das, was das Kapital, verglichen mit dem einfachen Geld, mit einem valor superadiunctus, also ­einem Mehrwert, ausstattet. Das einfache Geld steht also dem Kapital gegenüber bzw. der einfache Wert dem Mehrwert. Zur Charakterisierung des Kapitalbegriffs verwendet Olivi einen Fachausdruck aus der stoischen Tradition, der auch bei Augustinus eine große Rolle spielt: ratio seminalis (Langholm 1992, S.  373). Michael Wolff hat überzeugend auf eine Parallele hingewiesen, die Olivis These vom valor superadiunctus bzw. von der ratio seminalis theoretisch stützt (Wolff 1994). Die erwähnte Parallele zum »Mehrwert«, der dem Kapital im Vergleich mit dem einfachen Geld innewohnt, findet sich in der Impetustheorie, die Olivi wohl als erster Scholastiker vertreten hat.28 Olivis Theorie löste die aristotelische Lehre der Wurfbewegung ab, indem sie erklärte, dass der geworfene Stein über eine ihm vom Werfenden mitgegebene Kraft, eben den impetus, verfüge, durch die er eine Zeitlang fliegen könne. Olivi definierte diese vermittelnde Kraft als virtus instrumentalis oder als ra­ tio seminalis; diesen Begriff verwendet er auch im Traktat. Die ratio seminalis, die das einfache Geld zu Kapital macht, sei vergleichbar mit dem impetus, der den an sich unbeweglichen Stein fliegen lasse. Im Einklang mit seiner Idee von Kapital rechtfertigt Olivi auch das interesse als eine ökonomische Praxis, die von der usura zu unterscheiden ist. Wie bereits erwähnt, wurde zu Olivis Zeiten in eini28 Olivi, Quaestiones in secundum librum Sententiarum, Bd.  I, Quaracchi  / Firenze 1922, S.  508–570, hier S.  563–564. Hier kommen die rationes seminales schon im Titel der Quaestio 31 vor.

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gen streng begründeten Ausnahmefällen wegen der genannten extrinsischen Titel die Rechtmäßigkeit des »Zinsnehmens« anerkannt; wobei hier das Wort »Zins« im Sinne von Entschädigung für den entgangenen Gewinn oder den erlittenen Schaden im Fall der Insolvenz des Darlehensnehmers zu verstehen ist. Anerkannt und zulässig war auch eine Vereinbarung über das damnum emergens bei Abschluss eines Darlehensvertrags. Für große Kontroversen sorgte allerdings die Frage, ob es möglich sei, schon bei Abschluss des Vertrages eine Entschädigungsvereinbarung über das lucrum cessans festzulegen, weil ein solches Verhalten als wucherisch erschien. Olivi stellte sich also offen auf die Seite derjenigen, die eine solche Vereinbarung als zulässig anerkannten, wie z. B. Raymund von Peñafort, Wilhelm von Rennes und Heinrich von Susa. Olivis Lösungsansatz und seine Argumentation stützen sich konsequent auf seine Idee des Kapitalbegriffes (infra II, 51; III, 64). Er gibt dabei einige Bedingungen an, die erfüllt sein müssten, damit die abgeschlossene Vereinbarung über das lucrum cessans rechtmäßig sei: 1) Das Darlehen könne nur aus wohltätigen Gründen gewährt werden; 2) sei es notwendig, dass das geliehene Geld nicht aus einer einfachen Geldsumme, sondern aus Geld hervorgegangen sei, das bereits im Handel investiert oder für gewinnträchtige Handels­ aktivitäten bestimmt sei; und 3), dass dies in bestimmter Absicht und mit dem festen Vorsatz des Anlegers geschehe, dass also eine innere Disposition zu eigener Investitionstätigkeit gegeben sei. Olivi erkennt also die moralische und ökonomische Rechtmäßigkeit des interesse. Er geht auch über die damals vertretene Auffassung hinaus, indem er die bei der Absprache des Vertrages festgelegte Vereinbarung über das interesse lucri nicht mehr als eine Ausnahme vom kanonischen Wucherverbot betrachtet, sondern als eine ökonomische Wirklichkeit und als ein Verhalten, das sich grundlegend von der sündhaften usura unterscheidet (Spicciani 1990 b, S.  85–96). Die Grundlage der Unterscheidung zwischen der legitimen Idee des Kapitals und dem unerlaubten Wucherzins besteht nach Olivi in der Absicht, die hinter den Handlungen der Menschen steckt. Indem Olivi die Absicht in die ethische Beurteilung einbezieht, kann er zwi-

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schen usura und interesse unterscheiden. Die Absicht (propositum) hat in beiden Fällen eine unterschiedliche Konnotation: Im Falle der usura drückt sie den Willen zu wirtschaftlicher Spekulation aus; hinter dem interesse steckt dagegen eine moralisch verantwortliche menschliche Handlung, die mit dem Schaden, der eventuell erlitten wurde, verbunden ist (Spicciani 1990 a, S.  68). Olivis Kapitalbegriff hängt mit seinem Verständnis von der Zeit zusammen. Dieses Zeitverständnis erlaubt es ihm, sich von der damals vorherrschenden Lehre zu distanzieren, dass der Wucherzins unerlaubt sei, weil er auf einen Verkauf der Zeit hinauslaufe (infra III, 23–26). Nach dem klassischen Argument gegen Wucher­zin­ sen war Wucher Diebstahl und der Wucherer ein Zeitdieb, denn er machte die Zeit käuflich: Der Zinsnehmer verleiht Zeit, und er lässt sich die Zeit zwischen Verleih und Rückzahlung bezahlen. Dagegen gehöre die Zeit allein Gott und werde als Geschenk Gottes allen Menschen gegeben, weshalb sie nicht verkauft werden dürfe. Olivi übernimmt dieses traditionelle Argument nicht, weil er ­einen anderen Zeitbegriff verwendet. Er unterscheidet zwischen der Zeit, die allen gemeinsam ist, und der Eigenzeit der einzelnen Dinge. ­Dadurch kann er die Idee vertreten, dass die Zeit käuflich sei und dass sie bei einem Vertrag bzw. einem Darlehen berechnet werden solle. Um seine Rechtfertigung einleuchtender zu machen, fügt Olivi auch noch hinzu, dass die Zeit des Geldes nicht dem Darlehensgeber, sondern dem Darlehensnehmer gehöre. Das Zinsnehmen sei nicht deshalb unerlaubt oder unmoralisch, »weil in einem solchen Vertrag Zeit verkauft wird, sondern weil der Darlehensgeber vom Darlehensnehmer einen Preis für Zeit verlangt, die nicht ihm, sondern dem Darlehensnehmer gehört. Diese Interpretation erklärt sich aus der auch von Olivi geteilten mittelalterlichen Auffassung, wonach im Darlehen eine Eigentumsübertragung stattfindet, so dass das Geld nicht durch den Zinsnehmer, sondern durch die Zeit und Tätigkeit des Darlehensnehmers fruchtbar gemacht wird. Der Darlehensgeber hat deshalb kein Recht auf die Zeit des Schuldners.« (Lambertini 2017, S.  1542.)

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Auf der Grundlage seines Zeitverständnisses und seines Kapitalbegriffs rechtfertigt Olivi auch den Abzug, der bei einer vorzeitigen Begleichung der Schuld vorzunehmen sei (infra III, 26). Er ist der Auffassung, dass die Laufzeit eines Darlehens, die vertraglich verabredet worden sei, dem Recht auf die Verfügbarkeit von Geld gleiche. Deshalb argumentiert er, dass die vorzeitige Bezahlung der Schuld die Forderung nach einer Vergütung rechtfertige, weil der Schuldner auf sein Recht verzichte, über das geliehene Geld bis zu dem ihm gesetzten Rückzahlungstermin zu verfügen. Die betreffende Zeit, die einen subjektiven ökonomischen Wert habe, sei demnach ein Recht des Schuldners, dessen Vergütung in dem vorzunehmenden Abzug bestehe.

4.5  Restitution, unrechtmäßige Gewinne und turpe lucrum In De restitutionibus untersucht Olivi das Problem der Rückerstattung unrechtmäßiger Gewinne. Die Restitutionslehre war im kanonischen Recht die »Begleiterscheinung« (Kirshner  /  Lo Prete 1984, S.  277) zum Wucherverbot und regelte die Rückerstattung unrechtmäßig erworbener Gewinne und Güter, bevor der Schuldner die sakramentale Absolution empfangen konnte (Weinzierl 1936; Nelson 1947; Todeschini 2002, S.  133–185; Ceccarelli 2005; Jansen 2013, S.  24– 48). Die Restitutionspraxis unterstand nicht den kirchlichen Obrigkeiten, sondern auch zivilen Behörden. Olivi geht auf diese Frage ein, ohne allgemeine Regeln anzubieten; stattdessen verweist er darauf, dass die Regeln der Restitution von Region zu Region unterschiedlich seien, was er mit seinem Hinweis auf die Gewohnheiten und das geltende Zivilrecht in der Region Languedoc belegt (Piron 1998, S.  303–308; 2001, S.  122–124). Eine der Grundauffassungen des Teils IV De restitutionibus29 (in29  Zu Olivis Auffassungen in diesem Teil des Tractatus und zur Einbettung in der franziskanischen Tradition vgl. Ceccarelli 2003, S.  181–255, auf die in den folgenden Ausführungen Bezug genommen wird.

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fra IV, 15–23; ferner III, 21), ist Olivis Unterscheidung zwischen Gewinnen, die per se unrechtmäßig sind (wie etwa Wucher, Simonie und Diebstahl) und zurückerstattet werden müssen, und Fällen von turpe lucrum, d. h. von Gewinnen, die auf schändliche, unanständige und lasterhafte Weise erworben wurden (wie z. B. Prostitution, Schauspielerei und Glücksspiel) und die nicht zurückgegeben werden müssten, insofern sie aus gültigen Verträgen stammten (Ceccarelli 2003, S.  212). Um die Rechtmäßigkeit und die Nicht-Rückgabe solcher Gewinne zu verteidigen, die aus moralisch verwerflichen Praktiken und aus einer verdorbenen Wurzel (ex viciosa radice) stammten, argumentiert Olivi wie folgt: Er unterscheidet zwischen forma contractus und materia contractus. Das bedeutete, dass ein Vertrag, der in seiner Form fehlerhaft war, als nichtig zu betrachten sei; ein Vertrag dagegen, der seinem Inhalt nach – oder nach Ursache und Absicht und somit aufgrund der von ihm verursachten moralisch verwerflichen Handlung – fehlerhaft war, nicht als nichtig zu betrachten sei. Hier legt Olivi erneut ein wichtiges Element seiner voluntaristischen Konzeption vor, die bereits der Ausgangspunkt von De emp­ tionionibus und venditionibus gewesen war (infra I, 4) und sich wie ein roter Faden durch den gesamten Tractatus zieht, nämlich der freiwillige Charakter eines Vertragsabschlusses, der auf der gemeinsamen Absicht zweier freier Willen beruht. Ein frei abgeschlossener Vertrag impliziert gegenseitige Verpflichtungen und ist nach Olivi rechtsgültig, es sei denn, er wurde durch bestimmte Bedingungen beeinträchtigt wie z. B. Betrug und Zwang oder durch einen Mangel des vollen Vernunftgebrauchs und durch die Beeinträchtigung der freien Entscheidung. Solche Bedingungen heben Olivi zufolge tatsächlich den freien Willen auf und machen einen Vertrag formal ungültig (infra IV, 30). Also gilt für Olivi Folgendes: Durch das sündhafte Verhalten bei den erwähnten schändlichen Praktiken und durch deren lasterhafte Wurzeln, wie z. B. Geldgier oder unmoralischer Wille zu Prostitution oder Glücksspiel, würden die formelle Gültigkeit des Vertrages sowie die Rechtmäßigkeit der daraus erzielten Gewinne nicht untergraben.

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Wie Giovanni Ceccarelli akribisch erarbeitet hat, gibt es bei Olivi eine Unterscheidung zwischen sündhaftem Verhalten, das den internen Foren des moralischen Gewissens und der sakramentalen Beichte unterstellt ist, und dem Gewinn bzw. dem Gesetz, die dem externen Forum einer ökonomisch-rechtlichen Betrachtung unterliegen (Ceccarelli 2003, S.  192–193; 212–214). Bei schändlichen Handlungen wirken Sünde und Schuld sich nicht auf die Rückerstattung aus, da diese von den Vorschriften des externen Forums abhängt. Die Rückerstattung von auf lasterhafte oder schändliche Weise erworbenen Gütern und Gewinnen kann von Beichtvätern nur in Fällen verordnet werden, bei denen eine solche Rückerstattung durch kirchliches oder bürgerliches Recht als Strafe festgeschrieben ist, wie z. B. bei der Simonie (infra IV, 16). Allerdings muss nach Olivi vor der Absolution und der Vergebung der Sünden die Rückerstattung unrechtmäßiger Gewinne vonstattengehen, was wiederum die Voraussetzung für das Beichtsakrament ist. In einem Fall von unrechtmäßigem Gewinn kann der Beichtvater die Rückerstattung auferlegen, auch wenn eine solche Aufgabe nicht in seinem Entscheidungsbereich liegt; ist die Rück­ erstattung erfolgt, stellt sich der Sünder wieder beim Beichtvater vor, der eine Buße auferlegen kann, die nicht wie bei anderen Sünden in Form von Geld abgegolten werden kann (infra IV, 42; 44). Die Unter­scheidung zwischen unrechtmäßigen Gewinnen per se und verwerflichen Handlungen, die einen rechtmäßigen Gewinn schaffen, veranlasst Olivi zu der Feststellung, dass nicht jeder lasterhafte Vertrag zur Rückerstattung verpflichte, sondern nur derjenige, der das Recht zum gegenseitigen Vertragsschluss aufhebe (infra IV, 18). Daran anschließend kann Olivi dann auch behaupten, dass ein Gewinn, der aus einer verderbten Wurzel komme, nicht verderbt sei, außer ein solcher Gewinn selbst sei verderbt und unrechtmäßig erworben (infra IV, 23). Auch im vierten Teil des Tractatus fallen Olivis typische Vorgehensweise und einige wichtige Neuerungen auf. Der Autor untersucht mehrere Restitutionsfälle und zeigt dabei großes Verständnis für verschiedene Vertragsarten und Formen des Gewinnerwerbs.

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Dabei erneuert er die traditionellen Lehren des schändlichen Gewinns (turpe lucrum) und unrechtmäßig erworbener Gewinne (il­ licite acquisita). Er erweitert sogar die Kategorie der turpia lucra beispielweise um den Fall des Glücksspiels, das er im Unterschied zu den üblichen Auffassungen als Vertrag betrachtet. Er überwindet auch die traditionellen Ansichten über die illicite acquisita, indem er formuliert, dass z. B. ein rechtmäßig durch Handel erworbener Gewinn, der jedoch aus unrechtmäßigem Kapital wie etwa Wuchergeld und gestohlenem Geld stammt, nicht zurückgegeben werden muss. Nach Olivi ist der Wucherer zwar verpflichtet, die Wuchergewinne zurückzuerstatten, nicht aber das, was er durch die rechtmäßige Wiederverwendung der ursprünglich durch Wucher erzielten Gewinne verdient hat, weil der neue Gewinn dem Fleiß und der Tätigkeit des Handeltreibenden zu verdanken ist (infra IV, 19). Von methodologischem und inhaltlichem Belang ist der Unterschied zwischen materia contractus und forma contractus, denen gesonderte Analysebereiche zuzuordnen sind: einerseits das moralische Urteil über die den ökonomischen Praktiken zugrundeliegenden Handlungsabsichten; andererseits die rechtlich-ökonomische Analyse der formalen Rechtmäßigkeit der gegenseitigen Vertragsverpflichtungen (Ceccarelli 2003, S.  189–196; 208–215; Piron 2001, S.  131–138).

5.  Kritische Würdigung, Wirkungsgeschichte und Aktualität Nach dem inhaltlichen Überblick sollen nun die Interpretationsmodelle der immer noch anhaltenden historiographischen Debatte über Olivis ökonomische Auffassungen vorgestellt und kritisch gewürdigt werden. Deshalb soll zunächst die Frage behandelt werden, in welchem Sinne man bei den mittelalterlichen franziskanischen Theologen ganz allgemein von ökonomischem Denken sprechen kann. In einem zweiten Schritt soll auf die nachhaltige Wirkungsgeschichte von Olivis Tractatus hingewiesen werden, wobei zu untersuchen ist, welchen ideengeschichtlichen Einfluss seine ökonomischen Ideen auf spätere Autoren ausgeübt haben und welche Denk-

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traditionen indirekt auf ihn zurückgehen. Und zum Schluss soll die Aktualität von Olivis Wirtschaftsethik aufgezeigt und die franziskanische ökonomische Denktradition wieder bewusstgemacht werden; und darauf aufbauend sollen dann Anregungen formuliert werden, wie man in Zukunft unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung menschenwürdiger gestalten kann.

5.1  Die historiographische Debatte zu Olivis ­ökonomischem Denken und zur franziskanischen Wirtschaftsethik Die Entdeckung von Olivis Tractatus hat eine lebhafte und kontroverse Debatte ausgelöst. Sie dauert immer noch an, und es gibt eine Fülle von Interpretationen, die von verschiedenen hermeneutischen Voraussetzungen ausgehen und zu bestimmten Perspektiven führen, die dann als Grundlage für die Untersuchung von Olivis Denken dienen. Die Vielfalt der Auslegungen ist beträchtlich, was am inhaltlichen Reichtum des Traktats liegt, der ein großes Interpretationspotential besitzt. Zentrale Fragen der historiographischen Debatte der letzten Jahrzehnte sind beispielweise, ob und in welchem Sinn man überhaupt von ökonomischem Denken im Mittelalter oder von einer von Olivi beeinflussten franziskanischen ökonomischen Tradition sprechen kann und wie ganz allgemein die Leistungen dieses Denkens zu interpretieren und zu bewerten sind. Zu diesen Fragen gibt es verschiedene und zum Teil sehr gegensätzliche Positionen.30 Eine häufig vertretene, aber auch umstrittene These ist die verschiedener Wissenschaftler (Spicciani 1977; 1990 a; De Roover 1967; 1971; 1974; Langholm 1992, S.  345–373), die Olivi und die franziskanischen scholastischen Theologen aus historischer Sicht als Bahnbrecher der modernen ökonomischen Wirtschaftsanalyse sowie als 30  Zur Bestandsaufnahme der historiographischen Debatte und der verschiedenen Interpretationsparadigmen vgl. Capitani 1993; Todeschini 1994; 1996; Lambertini 2013; 2016; 2020; Toneatto 2011; 2012, S.  35–56; Lenoble 2015; Spicciani 2017. Zur bibliographischen Übersicht vgl. Franco 2017.

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Vorläufer des kapitalistischen Geistes betrachten oder auch als Erfinder bestimmter ökonomischer Begriffe. Die Vertreter dieser historiographischen Position, die man ganz allgemein als Vertreter eines antizipatorischen Ansatzes bezeichnen könnte, sind durch das Forschungsprogramm von Joseph Schumpeter ganz maßgeblich beeinflusst worden; sie gehen davon aus, dass der analytische Eigenwert des scholastischen ökonomischen Denkens von den theologischen Absichten und Motiven unabhängig ist, die eine solche Analyse veranlasst haben (Schumpeter, 2009, S.  115–154; De Roover 1957). Schumpeter würdigt vor allem die ökonomischen Errungenschaften der spanischen Spätscholastiker des 16. Jahrhunderts. Von den Autoren des 15. Jahrhundert schätzte er Antoninus von Florenz ganz besonders; er bezeichnet ihn als einen Denker, »dem man vielleicht als erstem eine umfassende Vision des Wirtschaftsablaufs zusprechen kann« (Schumpeter 2009, S.  141). Natürlich wusste Schumpeter noch nichts von Olivis Denken und nichts von der Abhängigkeit späterer Autoren von Olivi, wie etwa Bernhardin von Siena und Antoninus von Florenz, die Olivi viel verdanken. Schumpeter bezeichnet die Scholastiker als die »Begründer der wissenschaftlichen Wirtschaftsanalyse« (Schumpeter 2009, S.  143). Er sah bei den scholastischen Theologen die Vorwegnahme der subjektiven Wert-, Nutzen- und Entscheidungstheorie, die im 19. bzw. im 20. Jahrhundert durch die Österreichische Grenznutzenschule und die Österreichische Schule der Nationalökonomie systematisch entwickelt wurde. Schumpeter stellte auch fest, dass die Scholastiker bereits eine öko­ nomische Theorie sowie analytische Instrumente entwickelt hatten, also bestimmte Grundlagen, die im 19. Jahrhundert eine schnellere Entwicklung der Wirtschaftswissenschaft ermöglicht hätten, wenn diese Ideen nicht in Vergessenheit geraten wären. Zu den Vertretern des antizipatorischen Ansatzes gehört beispielsweise der norwegische Wirtschaftshistoriker Odd Langholm, der grundlegende Studien zum scholastischen Wirtschaftsdenken veröffentlicht hat (Langholm 1992; 1998; 2003). Er schreibt, dass Olivi »ein außergewöhnliches Verständnis für wirtschaftliche Zusammenhänge« gehabt habe. (Langholm 1992, S.  117.) Auf Langholm

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geht auch die Idee zurück, dass es eine »franziskanische Wirtschaftslehre« bzw. »eine spezifische franziskanische Tradition in der scholastischen Wirtschaftslehre« (Langholm, 1992, S.  35) gegeben habe. Langholm unternimmt es, die Stellungnahmen der mittelalterlichen Theologen zu wirtschaftlichen Fragen sowie ihre Formulierungen und die Theoretisierung ökonomischer Begriffe herauszuarbeiten. Zur Gruppe dieser nach Antizipationen suchenden Wissenschaftler gehören auch einige katholisch inspirierte Historiker (Fanfani 1933; 1934; 1942; Barbieri 1963; Höffner 1941), die in der mittelalterlichen christlichen bzw. franziskanischen Denktradition einen Präzedenzfall sehen, der ihrer Meinung nach für die Entstehung der Christlichen Sozialethik und der Katholischen Soziallehre fruchtbar und wegweisend gewesen sei. Darunter sind auch Autoren, die sich gegen die Interpretation der bekannten These von Max Weber über den Zusammenhang zwischen der Ethik des Calvinismus und der Entstehung des kapitalistischen Geistes wenden. Oreste Bazzichi (2010; 2013; 2015) z. B. vertritt die Ansicht, dass die Entstehung des Kapitalismus und der modernen Wirtschaftswissenschaft nicht im Protestantismus zu finden sei, sondern auf frühere katholische Traditionen zurückgehe, nämlich auf die mittelalterliche franziskanische Tradition und auf Olivis Denken. In diesem Zusammenhang soll klargestellt werden, dass auch Max Weber bewusst war, dass der Protestantismus nur eine und keineswegs die einzige Ursache für die Entstehung des kapitalistischen Geistes bzw. der modernen Wirtschaftsanalyse war. Weber bezeichnet die Ansicht, dass der kapitalistische Geist nur aus der Reformation entstanden sei, als eine »töricht-doktrinäre These«. Demgegenüber stellt er fest, dass wichtige Frühformen des modernen Kapitalismus älter seien als die Reformation und dass es schon früher »Wahlverwandtschaften« zwischen religiösen Bewegungen bzw. Gläubigen und den Ausprägungen des modernen kapitalistischen Geistes gegeben habe (Weber 2019, S.  75). Zumindest indirekt und dank der »kapitalfreundlichen theologischen Ethiker des Spätmittelalters« wie Antoninus von Florenz und Bernhardin von Siena kannte Weber auch einige Auffassungen von Olivi. (Weber

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2009, S.  56; 67; 185; 189–192.) Obwohl Webers Ausdruck vom »kapitalistischen Geist« vieldeutig und unbestimmt ist, wird sein Grundgedanke über die Wahlverwandtschaft zwischen religiösen mittelalterlichen Auffassungen und der Entstehung eines kapitalistischen Wirtschaftsdenkens von vielen als richtig anerkannt. Der Weberschen These erwächst durch die scholastischen Denker kein Widerspruch, sondern eine Bestätigung und Ergänzung (Höffner 1941, S.  176–177; Schefold 2011; 2018). Sie kann mit Recht verwendet werden, um den engen Zusammenhang zwischen der franziskanischen Ordensbewegung und den Ursprüngen einer marktwirtschaftlichen Reflexion in diesem Kontext zu bezeichnen und die Formulierung früher ökonomischer Begriffe zu erklären. Die anfängliche Begeisterung nach der Entdeckung und Edition von Olivis Tractatus beeinflusste auch die apologetische Titelwahl einiger Autoren, die in ihren Studien die Ansichten des antizipatorischen Ansatzes nicht teilten. In der italienischen Literatur kann man beispielsweise an die Verwendung von Formulierungen wie »Ein Traktat über franziskanische Volkswirtschaftslehre« (Todeschini 1980) oder »Eine politische Ökonomie des Mittelalters« (Capitani 1987) erinnern. Kürzlich hat Clément Lenoble (2015, S.  164–165) diese Titelwahl als »provokativ« bezeichnet, weil sie allzu dezidiert Position bezieht gegen den evolutorischen Ansatz des mittelalterlichen Denkens und gegen andere historiographische Positionen, wie z. B. die Idee einer Moralisierung der Wirtschaft durch die mittelalterlichen kirchlichen Institutionen sowie gegen die Idee, dass zwischen der scholastischen christlichen Moral und der wirtschaftlichen Realität ein Widerspruch bestehe. Unabhängig von Lenobles Interpretation gibt es einen Aspekt, der hervorgehoben werden soll: Selbst wenn sich die betreffenden Autoren letztendlich gegen die These wenden, dass man im mittelalterlichen Denken nach der Vorwegnahme von modernen ökonomischen oder katholisch-sozialethischen Auffassungen suchen sollte, so scheinen sie sich ursprünglich der Anziehungskraft dieser These nicht ganz entziehen zu können, da sie ebenfalls eine gewisse Art der Wirtschaftsanalyse in Olivis Tractatus sehen und dies auch noch anderen mittelalterli-

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chen Theologen zusprechen. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Der antizipatorische oder besser retrospektive Ansatz benötigt daher eine Präzisierung seiner Grenzen wie auch seiner legitimen Interessen (Capitani 1974 b; Spicciani 2017). Die Gefahr, in Olivis Traktat die Anfänge eines Prozesses zu sehen, der später zur Ökonomie als wissenschaftliche Disziplin führen wird, besteht darin, den historischen und intellektuellen Kontext dieses Textes sowie die Ziele des Autors, seine Gründe für seine Konzeption, seine Theologie und seine Stellung innerhalb des Franziskanerordens nicht weiter zu berücksichtigen. Auch der Anachronismus ist gefährlich, da er einen Wissenschaftler dazu verleiten kann, im mittelalterlichen Denken nach einer Antizipation zukünftiger Theorien zu suchen und dadurch der Vergangenheit die Kategorien und die Logik der Gegenwart aufzuerlegen. Natürlich ist es methodisch legitim, den Wert und die Kohärenz der Wirtschaftsreflexion des Mittelalters oder anderer historischer Epochen im Lichte einer umfassenderen und ausgereifteren späteren Wirtschaftsanalyse zu untersuchen und zu beurteilen, aber bei einem solchen Verfahren läuft man Gefahr, den historisch begründeten, tieferen Sinn und Zweck bestimmter Ideen nicht zu begreifen und ihre Distanz zu modernen Konzep­ tio­nen zu übersehen. Ferner besteht das Risiko, dass die Forschung a priori im Hinblick auf eine Theorie oder eine Lehre markiert wird, die man gerne vorlegen will oder bereits voraussetzt, und dann wird man zu dem Ergebnis gelangen, dass eine solche Theorie im mittelalterlichen Denken nicht gefunden wurde. Solche Vorgehensweisen werden der Aufgabe des Historikers und speziell des Mediävisten nicht gerecht, insofern sie das Risiko bergen, dass das mittelalterliche Denken seine historische Konkretheit verliert. Die mittelalterlichen ökonomischen Auffassungen und Begrifflichkeiten aus ihrem ursprünglichen moraltheologischen Kontext herauszulösen, ist höchst riskant, da diese infolge der Vernachlässigung des zeithistorischen Hintergrundes auf unzulässige Abstraktionen hinauslaufen. Auf jeden Fall ist Wissenschaftlern, die sich auf der Suche nach Wirtschaftstheorien oder Wirtschaftsanalysen des Mittelalters be-

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finden, bewusst, dass Olivi und andere mittelalterliche Theologen nicht in erster Linie darauf abzielten, eine autonome Beschreibung, Analyse und Erklärung der wirtschaftlichen Realität zu liefern. Ihr primäres Interesse war darauf ausgerichtet, zu einem moralischen Urteil über bestimmte wirtschaftliche Praktiken zu gelangen und eine Normierung dessen zu erreichen, was nach christlichen Vorstellungen erlaubt war oder eben nicht erlaubt war. Dennoch kann man feststellen, dass in diesen vorrangig ethisch betrachteten Belangen wirtschaftlicher Praktiken ökonomische Argumente erarbeitet wurden und dass daraus indirekt ökonomische Ideen und Formen einer rationalen ökonomischen Analyse entstanden (Lambertini 2019, S.  306–307).31 Langholm z. B. unterstreicht, dass die franziskanische wirtschaftliche Analyse auf Auslegungskriterien beruht, die aus der Armutsvorstellung der Franziskaner stammen (Langholm 1992, S.  117; 347–353). Schumpeter erklärt, dass die wissenschaftliche Methode der Scholastiker auch von einem normativen Element beeinflusst war: »Das Motiv der scholastischen Analyse war offensichtlich nicht reine wissenschaftliche Neugier, sondern der Wunsch zu verstehen, was sie vom moralischen Standpunkt zu beurteilen berufen waren. […] Und auch die Methode war strikt wissenschaftlich; insbesondere war sie völlig realistisch, da sie lediglich die Beobachtung von Tatsachen und deren Interpretation umfaßte. Es war die Methode des Ausarbeitens allgemeiner Prinzipien aus ›Fällen‹, ähnlich der Methode der englischen Jurisprudenz. Die Moraltheologie kam erst nach Abschluß der analytischen Arbeit zu Wort, um das Ergebnis unter eines ihrer Gebote zu subsumieren.« (Schumpeter 2009, S.  148–149.) 31  »Obwohl mittelalterliche Denker Prinzipien formuliert haben, die sich langfristig auf die wirtschaftliche Analyse auswirken werden, gehören diese Konzepte zu den verschiedenen Bereichen (religiöse, rechtliche, moralische usw.), in die sie eingebettet sind. Diese Ideen sind auch Nebenprodukte der Sprache, in der sie beschrieben werden, ein jahrhundertealtes Vokabular, das oft außerhalb aller wirtschaftlichen Belange Gestalt annimmt.« (Ceccarelli 2011, S.  283.)

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Innerhalb der historiographischen Debatte behaupten andere Forscher, dass die Bedeutung, die den wirtschaftlichen Positionen von Olivi zugeschrieben wird, übertrieben und überbewertet sei. Julius Kirshner und Kimberly Lo Prete haben z. B. in einer kritischen Auseinandersetzung mit Todeschinis Edition des Traktats die Originalität von Olivis Auffassungen im Vergleich mit damals zeitgenössischen oder etwas früheren Denkern heruntergespielt oder sogar deren Charakterisierung als wirtschaftliches Denken stricto sensu stark relativiert (Kirshner  /  Lo Prete 1984). Paradigmatisch ist die Posi­tion des Mittelalter-Historikers Jacques Le Goff, demzufolge man in jenen Jahrhunderten weder von einem spezifischen Wirtschaftsbereich noch von ökonomischen Theorien reden könne. Le Goff erhebt sogar den Vorwurf, dass »die Historiker, die den scholastischen Theologen oder den Bettelorden, insbesondere den Franziskanern, wirtschaftliches Denken zuschreiben, einen Anachronismus begehen« (Le Goff 2019, S.  233). So verstanden, betrachtet Le Goff Olivi als einen »atypischen Denker«; sein Tractatus bleibe eine »einzigartige« und »marginale« Abhandlung«, die »wenig Einfluss im Mittelalter hatte« und »eher den bizarren Aspekt eines ungewöhnlichen Denkens als einen allgemeinen, erklärten Standpunkt« darstelle (Le Goff, 2019, S.  126; 204). Der Auffassung von Le Goff kommt eine weitere historiographische Position sehr nahe, die bei scholastischen Theologen und zeitgenössischen kirchlichen Institutionen zwischen den christlichen Moralvorstellungen und der wirtschaftlichen Wirklichkeit entweder eine Kluft oder eine Übereinstimmung festzustellen meint. Dieser These zufolge ist die damalige theologische Reflexion durch den Versuch gekennzeichnet, wirtschaftliche Praktiken mäßigend einzuschränken oder sie ethisch anzuerkennen und zu legitimieren (Todeschini 1994, S.  69–84; Lenoble, 2015, S.  162–165). Solche Interpretationen gehen davon aus, dass es eine Interdependenz bzw. eine Art Logik von Ursache und Wirkung zwischen theologischem Denken und der Entwicklung der Marktlogik und der Handelswelt gegeben habe. Dabei wird die christliche Ethik entweder als rationale Rechtfertigung für die Förderung der entstehenden Handelsprozesse oder

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zumindest für die Anpassung daran betrachtet oder auch als eine begründete Überzeugung, die mit der neuen ökonomischen Welt in Konflikt stand (Le Goff 1956; 1986; 2019; Noonan 1957; Gilchrist 1969), da das christliche Denken die Gewinntendenz einschränkte und bestimmte Geschäftspraktiken wie den Wucher untersagte. Eine zugespitzte These findet sich in den Arbeiten von Oscar Nuccio (1984–1987; 2008): Das scholastische Wirtschaftsdenken habe zunächst vor allem im Dienste der Eigentumsinteressen der Kirche gestanden und müsse als historischer Gegenpol zu der entstehenden bürgerlichen Mentalität des säkularen Humanismus und des Rationalismus betrachtet werden. Zu den von Le Goff geäußerten Einwänden ist anzumerken, dass seine These von der mangelnden Originalität und Bedeutung von Olivis ökonomischem Denken in der historiographischen Debatte inzwischen überwunden ist, und zwar insbesondere dann, wenn man auch Olivis nachhaltige Wirkungsgeschichte berücksichtigt. Wie aus den Forschungen von Piron, Lambertini, Ceccarelli und anderen hervorgeht, sollte der Tractatus in breitere intellektuelle Zusammenhänge und in die Wirtschaftsauffassungen der franziskanischen und dominikanischen Traditionen eingeordnet werden, um richtig einzuschätzen, wo Olivis Denken seine Wurzeln hatte. Dieser kontextuelle Ansatz wird es möglich machen, Olivis Besonderheit sowie seine Kreativität und seinen Einfluss nicht zu leugnen, sondern tiefer zu erfassen. Tatsächlich übernahm Olivi aus den erwähnten Traditionen und Debatten den Interpretationsrahmen, und er benutzte das bereits vorhandene analytische und theoretisch-konzeptionelle Rüstzeug (Piron 2012 a, S.  20–23), um neue Konzeptionen zu entfalten, die merklich verschieden von denen seiner zeitgenössischen Autoren waren. Außerdem schuf er die inhaltlichen und methodologischen Voraussetzungen für Autoren der kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte. Daher sind Olivis Ideen als »Abkehr« von den üblichen Positionen seiner Zeit zu betrachten, wenn auch nicht als ein »wirklicher Bruch« (Piron 2012 a, S.  22–23). Seine Auffassungen können auch nicht als reine Anpassung an die neue Wirtschaftspraxis ver-

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standen werden oder, wie Manselli treffend formuliert hat, als ein »Nachgeben« (Manselli 1983, S.  843) in Bezug auf die drastischen und neuen merkantilen Forderungen. Es zeigt sich, dass Olivi für die ökonomische Wirklichkeit großes Verständnis hatte und der merkantilen Welt samt ihren Anforderungen und Bedürfnissen mit ungewöhnlicher Offenheit gegenüberstand. Was die Kritik an der angeblichen Überbewertung betrifft, so ist diese ein Risiko, das sich in der Forschung und bei der Bewertung eines einzelnen Autors wie Olivi oder einer bestimmten Tradition wie der franziskanischen verbergen kann. Olivis Tractatus mit seinen Neuheiten bietet keine erschöpfende und vollständige Übersicht über das scholastisch-ökonomische Denken, auch wenn es sich dabei um einen der repräsentativsten Texte des 13. Jahrhunderts handelt. Weiter ist zu bedenken, dass die franziskanische Tradition keine monolithische und einheitliche Konzeption darbot. Vielmehr handelte es sich um eine dynamische Tradition, in der es divergierende Vorstellungen gab, auch wenn bei ihren Vertretern gemeinsame Haltungen und Standpunkte zu finden waren. Die Gefahr einer Überschätzung liegt auch darin, die franziskanische Reflexion als allumfassend zu betrachten bzw. die mittelalterliche wirtschaftsethische Reflexion auf die christliche zu reduzieren (Capitani 1993). Überlegungen zum mittelalterlichen Wirtschaftsdenken sollten außerdem berücksichtigen, dass es neben der franziskanischen auch die dominikanische Tradition gab und dass neben der christlichen Wirtschaftsreflexion auch eine jüdische und eine islamische Reflexion entwickelt wurden, aus denen widersprüchliche Vorstellungen erwuchsen (Todeschini 1989; 2016; McMichael 2004; Ohrenstein  /  Gordon 2016). Wenn man einige Thesen aus der erwähnten historiographischen Debatte heranzieht und es vermeidet, ihre unterschiedlichen Ausprägungen und ihre ihnen jeweils eigenen bedeutungsvollen oder prägnanten Konnotationen einzuebnen, so scheint es, dass die Bewertung von Olivis Auffassungen und die des mittelalterlichen Denkens insgesamt zwischen zwei gegensätzlichen Polen schwankt. Einer­seits gibt es die retrospektive Position, die das scholastische Denken als Wiege des modernen Wirtschaftsdenkens und als Ur-

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sprung des Kapitalismus feiert und Olivis Denken überbewertet; andererseits gibt es die Position, die die Möglichkeit eines mittel­alter­ lichen Wirtschaftsdenkens verneint und Olivis Auffassungen relativiert, indem sie das mittelalterliche Denken befangen sieht in der Ablehnung der ökonomischen Wirklichkeit oder in deren ethischer Rationalisierung. Beide Positionen werden Olivi nicht gerecht, denn er war weder der ökonomische Pionier der modernen Wirtschaftsanalyse und des Kapitalismus noch enthielten seine Schriften eine Art Aufforderung zur reinen Anpassung an die damalige ökonomische Wirklichkeit, indem darin die damalige Handelstätigkeit moralisiert wurde. Olivis Tractatus entzieht sich diesem Denken in radikalen Alternativen, wenn auch einige Aspekte der genannten Interpretationen inhaltlich legitim und methodologisch interessant sind und zum Verständnis von Olivis Auffassungen beitragen können. Der oben kurz vorgestellte historiographische Weg und die Leitlinien der verschiedenen Forschungskontexte haben zu einem heute allgemein anerkannten Standpunkt geführt, auch wenn dieser unterschiedliche Akzentuierungen aufweist: Im Zusammenhang mit Olivi und den franziskanischen Theologen kann von einer »franziskanischen Ökonomie« mit einer eigenen »franziskanischen Haltung« und Wirtschaftsethik32 gesprochen werden (Lambertini 2013, S.  80; 2016, S.  172). Diese christliche Wirtschaftsethik wird durch verschiedene Faktoren gekennzeichnet, die beispielhaft bei Olivi zu finden sind, wobei die franziskanischen Prinzipien zu Kriterien für die Analyse von Vertragsbeziehungen und wirtschaftlichen Praktiken werden. Im Sinne von Max Weber kann man daher von einer Wahlverwandtschaft zwischen der anthropologisch-ethischen und theologisch-rechtlichen Konzeption des Franziskanerordens und dem von den franziskanischen Theologen erarbeiteten wirtschaftlichen Denken sprechen. Zu den Eigenschaften, die die franziskanische ökonomische Einstellung charakterisieren, gehören eine neue 32 Vgl. Capitani 1974 a; 1987; Spicciani 1976 a; Todeschini 1976; 1977; Langholm 1999; Veronesi 2009; Lambertini 2019; ferner auch Höffner 1941; Schlag 2013; Melé 2013.

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anthropologische Sensibilität, die die Franziskaner zu einer energischeren Integration in die damalige Gesellschaft führte; Aufmerksamkeit im Hinblick auf das städtische Leben mit seinen sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten und deren neu entstehenden Anforderungen; der Vorrang des Subjekts und seiner freien Willensentscheidung; eine neue Vorstellung vom Verhältnis zu den zeitlichen Dingen und zum Eigentum sowie die Unterscheidung zwischen usus und dominium; und schließlich die Anerkenntnis, dass Reichtum einen sozialen Nutzen in Hinblick auf das Gemeinwohl haben kann. Daher besteht »der vereinheitlichende Faktor« von Olivis Tractatus in dem »Versuch, innerhalb von franziskanischen Denkmustern eine christliche Sichtweise der Wirtschaft zu etablieren« (Ceccarelli 2016, S.  27). Dem wirtschaftsethischen Ansatz folgend gelangten das mittelalterliche Denken und damit auch Olivi und die franziskanischen Theologen »nicht zu einer autonomen Rechtfertigung der ökonomischen Wirklichkeit, sondern zu einer autonomen Betrachtung dieser Wirklichkeit, wenn auch immer in Funktion eines moralischen Urteils« (Spicciani 1976 a, S.  198–199; 2017, S.  17–18). Dies bedeutet, dass die mittelalterlichen ökonomischen Ideen »in ein Begriffssystem eingefügt« sind, »das nicht ökonomisch, sondern ethisch ist« und dass sie »als Ergebnis dem ethischen Urteil über eine wirtschaftliche Tätigkeit entspringen« (Capitani, 1974 b, S.  8–9). In seinem Tractatus folgt Olivi genau dieser Vorgehensweise. Im Rahmen der moralischen Beurteilung der wirtschaftlichen Realität stellt er wirtschaftsrechtliche Reflexionen über diese Realität bzw. über die Handels-, Vertrags- und Kredit-Praktiken als seinem eigentlichen Untersuchungsbereich an und führt eine Analyse durch, aus der wirtschaftliche Begriffe hervorgehen und ausformuliert werden. Am Beispiel des Kapitalbegriffs kann man zeigen, dass Olivis Anliegen vorrangig auf die Formulierung eines ethischen Urteils ausgerichtet ist. Doch enthält dieses moralische Urteil auch eine Analyse ökonomischer Sachverhalte und impliziert einen ökonomischen Inhalt. Bei seiner Definition von Kapital betont Olivi das subjektive Element moralischer Verantwortung und den Vorrang der Absicht.

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Dabei folgt er einem genauen moralisch-theologischen Kriterium: Eine Person muss tatsächlich den christlichen Willen und das Bewusstsein des Sittengesetzes besitzen, wenn sie das eigene Geld geschäftlich verwendet. Die Definition der Idee von Kapital ist eine »ethische Konzeptualisierung« und wird »tatsächlich im Hinblick auf die moralische Rechtfertigung von interesse geschmiedet« und »dennoch kann nicht geleugnet werden, dass diese Idee auch eine wirtschaftliche Bedeutung hat« (Spicciani 2017, S.  11; 22–23). Die Rechtfertigung der wirtschaftlichen Realität und das mittelalterliche Wirtschaftsdenken stellen eine ethische Konzeptualisierung des Wirtschaftslebens dar; sie ist heteronom, weil sie einer modernen ökonomischen Auffassung fremd ist, die auf der reinen utilitaristischen Logik beruht. Ovidio Capitani hat betont, dass die Reflexion der Scholastiker und ihre Rationalisierung dennoch dazu beigetragen haben, »die Grundlagen einer wirtschaftlichen Analyse zu schaffen«. Durch das ethische System und die Analyse der wirtschaftlichen Zusammenhänge wurde von Kanonisten und scholastischen Theologen »zunächst einmal ein grundlegendes Lexikon für die zukünftigen Betrachtungen der Ökonomen aufgebaut« (Capitani, 1974 b, S.  8–9). Capitanis These wurde in den letzten Jahrzehnten von Giacomo Todeschini auf fruchtbare Weise systematisch weiterentwickelt, indem dieser sich für eine Erweiterung der Quellenarten mit Bezug zum mittelalterlichen ökonomischen Denken einsetzte (Todeschini 1976; 1977; 1994; 2002; 2004; siehe auch: Evangelisti 2016 a). Todes­ chini untersuchte heterogene und verstreute Quellen (wie Predigten, Mönchsregeln, biblische Kommentare, Summae für die Beichtväter, Sammlungen kanonischer Vorschriften, Kanonsammlungen von Konzilien, rechtliche Glossen und Kommentare, Kapitelakten der Bettelorden und päpstliche Bullen), die vorrangig nicht auf die Theoretisierung des ökonomischen Denkens ausgerichtet waren. Es handelt sich dabei um die Nutzung und Entschlüsselung von Quellen, die die Semantik eines ökonomischen Vokabulars zeigen und unbeabsichtigt Formulierungen ökonomischer Kategorien des westlichen ökonomischen Denkens aufweisen oder direkte Zeugnisse

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ökonomischer Zusammenhänge sind: »Weder Ideation des kapitalistischen Geistes aus katholischer Sicht also noch Vorwegnahme des Geburtsdatums der Wirtschaftswissenschaft. Vielleicht etwas be­unruhigen­der scheint mir in der Tat zu sein, dass die Annäherung der Franziskaner an den Markt zeigt, dass es die strengste christliche Religiosität als solche war, die einen Großteil des Vokabulars der westlichen Wirtschaft prägte […] Folglich waren die Franziskaner nicht die ersten Ökonomen, sondern vielmehr diejenigen, die das Auftreten von Ökonomen im christlichen Abendland der folgenden Jahrhunderte ermöglichten.« (Todeschini 2004, S.  7–8.) Zusammenfassend kann man festhalten, dass Olivis Tractatus und die Texte mittelalterlicher franziskanischer Denker nicht als Mittel zur reinen Theoretisierung, sondern als historische Zeugnisse der mittelalterlichen ökonomischen und politischen Wirklichkeit zu verstehen und zu lesen sind. Das bedeutet, dass zwar einerseits die ethisch-theologischen Voraussetzungen und die Zielsetzungen von Olivis Reflexion betrachtet werden sollten, dass aber andererseits auch die historischen Errungenschaften mit berücksichtigt werden müssen: Olivi und die scholastischen Theologen entwickelten eine wirtschaftliche Nomenklatur, die eine unverzichtbare Voraussetzung dafür war, dass man wirtschaftliche Zusammenhänge verstehen konnte.33 Es geht also, um es noch einmal pointiert zu formulieren, nicht darum, Olivi und die Franziskaner als Entdecker marktwirtschaftlicher Gesetze und sogar des Kapitalismus zu feiern oder sie als reine Vorläufer der modernen Wirtschaftsanalyse zu sehen; sondern es geht vielmehr um die Erforschung jenes ökonomischen Lexikons, das – nachdem es einmal erarbeitet worden war – durch 33 So schreibt in diesem Zusammenhang Spicciani: »Die Behandlung dieser Fragen sollte sich daher darauf beschränken, die ethischen Prämissen e­ iner Ausdrucksform wirtschaftlicher Tatsachen zu erfassen. Das heißt, die Geschichte des mittelalterlichen Wirtschaftsdenkens sollte zum einen den spezifisch ethischen Aspekt dieser Reflexion in seiner ganzen Breite untersuchen und zum anderen die formale Neuheit eines Lexikons und einer Sprache, die der durch ein ethisches Urteil bewerteten Wirtschaftswelt entnommen ist.« (Spicciani 2017, S.  12 unter Verweis auf Capitani 1974 b.)

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die Zeiten erhalten blieb, von späteren Traditionen übernommen wurde und dann sinnvollerweise in die Terminologie der modernen Wirtschaftswissenschaft einging, wodurch moderne Wirtschafts­ theo­rien möglich geworden sind. Das bedeutet, dass die mittelalterlichen ökonomischen Ideen zunächst in ihrem historischen Kontext zu erfassen sind und dass man dann erst untersucht, wie sie aufgegriffen und weiterentwickelt wurden und worin die Unterschiede zu modernen Auffassungen bestehen. Eine solche Perspektive rechtfertigt es, Olivis Denken und das der franziskanischen Theologen zum Gegenstand der Geschichte des ökonomischen Denkens zu machen und im Lichte ihrer späteren intellektuellen und ideengeschichtlichen Wirkung zu betrachten (Lenoble 2015, S.  178; Piron 2012 a, S.  24–26; ferner Parisoli 2008).

5.2  Rezeptionslinien und ökonomische Ideengeschichte Olivis Tractatus und die franziskanische Denktradition sind ein »Laboratorium« (Piron 2012 a, S.  25) von Begriffen des westlichen Wirtschaftsdenkens und ein »Denkreservoir« (Ceccarelli, 2016, S.  274) von Analysen und Konzepten für spätere Autoren und Traditionen. Die Erforschung der Wirkungsgeschichte des philosophischen und theologischen Denkens von Olivi steht in der internationalen Diskussion erst am Anfang (Lewis  /  Piron 2006; Suarez-Nani 2010 b; Ramis Barceló 2017, S.  44–62). Trotz der Verbote, die gegen seine Schriften ausgesprochen wurden und trotz der Ächtung seines Denkens weckt Olivi nach wie vor ein bemerkenswertes Interesse bei zeitgenössischen Autoren der franziskanischen Tradition (und nicht nur bei ihnen) bis zu Reformation und Neuzeit. Das bezeugt die intensive Verbreitung seiner Manuskripte insbesondere in Nord­ italien (Rusconi 1975; Forni 2016 a) und im iberischen und katalanischen Raum (Evangelisti 2016 b; Renedo Puig 2016), aber auch die Verwendung und Aufbewahrung seiner Schriften in den Bibliotheken zahlreicher Autoren und Wanderprediger wie Bernhardin von Siena und Johannes von Capistran (Sedda 2017); weiter auch eine

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Edition des 16. Jahrhunderts von Olivis Quodlibeta samt weiterer apologetischer Texte (Olivi 1505 a). Die massive Verbreitung seiner Schriften zeigt in der Tat, dass Olivi nie wirklich in Vergessenheit geriet; in vielen Texten der frühen Neuzeit wird er erwähnt oder wörtlich zitiert, selbst wenn man vermied, seinen Namen zu nennen. Dasselbe gilt für den Einfluss des ökonomischen Denkens, das in Olivis Tractatus de contractibus enthalten ist. In dieser Wirkungsgeschichte sind zwei Aspekte besonders zu berücksichtigen. Einerseits geht es um den starken direkten und indirekten Einfluss, den Olivis Ideen auf zeitgenössische Autoren sowie auf Denker der franziskanischen und dominikanischen Tradition des 14. und 15. Jahrhunderts ausübten. Dieser Einfluss zog als direkte praktische Umsetzung der wirtschaftsethischen Reflexion der franziskanischen Tradition eine gesellschaftliche Innovation nach sich, nämlich die Gründung der sogenannten Monti di Pietà (»Berge der Barmherzigkeit«); das sind Pfandleihgeschäfte, und darauf wird noch näher einzugehen sein. Andererseits gilt es zu zeigen, dass die von Olivi konzipierte Wirtschaftsethik und die von ihm erarbeiteten ökonomischen Begriffe dank der Vermittlung weiterer Autoren in der europäischen Geistesgeschichte eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bedeutende Spuren seiner Ideen und seiner Terminologie finden sich in ökonomischen und kulturellen Denktraditionen der nachfolgenden Jahrhunderte. Die paradigmatischen Phasen dieser Wirkungsgeschichte beginnen mit dem direkten oder indirekten, jedenfalls aber dauerhaften Einfluss, den Olivis Ansichten auf spätere franziskanische und dominikanische Traditionen ausübten. Dadurch wurde wiederum die deutsche spätscholastische Tradition geprägt, aber auch die spanische spätscholastische Schule von Salamanca und die italienische Tradition der Economia civile. Die Schule von Salamanca beeinflusste ihrerseits wiederum die Ideen der Naturrechtslehrer Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf sowie die Schottische Schule der Moralphilosophie und die Österreichische Schule der Nationalökonomie; ferner ist auch die deutsche Tradition der Sozialen Markwirtschaft hier zu erwähnen. Wegen dieser Einflussnahmen und Weiterentwicklungen kann man in einem weiten Sinn von der »Herkunft

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dieser Lehren« (Lenoble 2015, S.  177) und von »Olivis terminologischer Tradition« sprechen (Langholm 2009, S.  135). Eine umfassende Untersuchung über die Verbindungen zwischen den oben genannten wirtschaftsethischen und ökonomischen Traditionen im europäischen Raum liegt bisher nicht vor. Erst in den letzten Jahren hat sich in der historiographischen Debatte ein Interesse für eine nachhaltige Rezeptionsgeschichte entwickelt (Langholm 2009; Bazzichi 2015; Evangelisti 2016 b). Diese noch weitgehend unerforschte komplexe Wirkungsgeschichte eröffnet neue, fächerübergreifende Forschungsperspektiven. So sollten nicht nur Übernahme und Weiterentwicklung der ökonomischen Ideen von Olivi untersucht werden, sondern auch die Art und Weise, in der die von ihm verwendete analytische und theologisch-konzeptuelle Rahmung bei der Behandlung der wirtschaftlichen Wirklichkeit wiederaufgenommen wurde. Es werden daher im Folgenden skizzenhaft und programmatisch die wichtigsten Etappen dieser ideengeschichtlichen Rezeptionslinien vorgestellt. Der Einfluss auf die Franziskanische Schule und auf Antoninus von Florenz. Olivis Auffassungen wurden von verschiedenen franziskanischen Theologen übernommen; sie finden sich wahrscheinlich auch anonym in der (noch nicht erforschten) Manuskripttradition des 14.  und 15. Jahrhunderts. Einige Texte bezeugen, dass Olivis Ideen kontinuierlich präsent waren, wie z. B. seine Ansichten zur subjektiven Werttheorie und zum gerechten Preis sowie zur Produktivität des Geldkapitals. Fast dreißig Jahre nach Olivis Tod schrieb der franziskanische Generalminister Geraldus Odonis als Teil eines umfassenden Werkes einen ökonomischen Traktat: Der Liber de contractibus et restitutionibus et de sententia excommuni­ cationis war als Anleitung für Beichtväter und als Handbuch für die Lösung moralischer Fälle konzipiert. Darin gibt Odonis, der ein Gegner der Spiritualen und des Armutsverständnisses von Olivi war, fast vollständig und anonym De emptionibus et venditionibus sowie Teile aus De contractibus usurariis von Olivi wieder (Spicciani 1990 b, S.  237–241; Langholm 1992, S.  508–535; 2009, S.  134; Todes­

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chini 2002, S.  352–366; Ceccarelli  /  Piron 2009; Bazzichi 2015, S.  114– 117). Aus Olivis Wertlehre übernahm Odonis die Wertbestimmungsfaktoren von virtuositas, beneplacitum, raritas et difficultas.34 Auch in den Werken von Francesc Eiximenis (Mancinelli 2015; Lenoble 2015; R ­ enedo Puig 2016), sowie von Guillelmus de Rubione35 und Johannes de Bassolis36 (Evangelisti 2016 b) finden sich Jahrzehnte nach Olivis Tod Einflüsse seiner Ideen und Übernahmen seiner Formulierungen. Olivis wirtschaftsethische Gedanken wurden lange Zeit dem Franziskaner Bernhardin von Siena und dem Dominikaner Antoninus von Florenz zugeschrieben, beides Autoren, die in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts gehören. Das ist darauf zurückzuführen, dass Bernhardin, ohne Olivi zu nennen, viele Stellen aus dem Trac­ tatus wörtlich übernommen hat und dass dann Antoninus Olivis Ideen aus Bernhardins Sermones übernahm. In der historiographischen Debatte des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konzentrierten sich die Wissenschaftler auf das Denken von Antoninus, von dem sie annahmen, dass er eine größere Rolle gespielt habe als Bernhardin. Franz Xaver Funk (1869) wies auf die ökonomischen Ideen von Antoninus und Bernhardin hin, ohne sich jedoch mit der Frage zu befassen, wer von wem Ideen übernommen hatte. Antoninus wurde auch dank des Erfolges der Arbeit von Carl Ilgner (1904) als wichtigerer Autor betrachtet. Ebenfalls folgenreich war die Position von Schumpeter, der Olivis Ideen der Kapital­theo­rie und der Gewinnträchtigkeit des Geldes Antoninus zuschrieb (Schumpeter 2009, S.  141; 153). Dass die ökonomischen Auffassungen von Antoninus überbewertet und die Gedanken von Bernhardin vernachlässigt wurden, hatte seine Ursache in der spä34 Odonis, Liber de contractibus et restitutionibus, Biblioteca Comunale degli Intronati di Siena, Cod.  U. V. 8, q.  3, fol.  80 r. 35  Guillelmus de Rubione, Disputatorum in quatuor libros Magistri Sen­ tentiarum (Paris 1958), IV, d.  XVI, fol.  173 rb–176 rb. 36  Johannes de Bassolis, Collectio in quartum Sententiarum (Anges  /  Paris 1480), IV, d. XV, q.  2, fol.  115 vb–122 ra.

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ten Veröffentlichung einer kritischen Ausgabe seiner Werke (Bernhardin von S­ iena 1950–1965), in der auch Quellen genannt wurden, die Bernhardin benutzt hatte. Der Historiker Raymond de Roover war der erste, der auf Antoninus’ Abhängigkeit von Bernhardin (De Roover 1955, S.  166) sowie auf die Abhängigkeit des Bernhardin von Olivi hingewiesen hat (De Roover 1967, S.  19; 41–42). Durch die Entdeckung von Olivis Tractatus wurde ab den 1970er Jahren die angebliche Zentralität der wirtschaftsethischen Reflexionen von Bernhardin und Antoninus in Frage gestellt; ihre Abhängigkeit von Olivi ist inzwischen bereits zum großen Teil analysiert worden (Spicciani 1972, 1975; Todeschini 1977; Kirshner 1982; Piron 2012 c; Bazzichi 2015, S.  113–145; Sedda 2017). Bernhardin übernahm in seinen Traktaten De contractibus et usuris (1956) und De restitu­ tionibus (1950) Olivis Auffassungen bezüglich der Frage nach dem gerechten Preis und der Kapitaltheorie. Die Stelle über die Idee der Gewinnträchtigkeit des Geldes aus Olivis Tractatus, die zur Rechtfertigung des interesse für das lucrum cessans führte, ließ Bernhardin aus Vorsicht weg; stattdessen zitierte er die Formulierung aus Olivis Quodlibet I,17.37 Bernhardin gab auch weitere Stellen aus Olivis Tractatus wieder, die er jedoch Duns Scotus zuschrieb. Auch bei Antoninus fällt auf, dass er in seiner Summa theologica bzw. Summa moralis (1740) Bernhardins bzw. Olivis wichtige Stelle über die Unterscheidung zwischen einfachem Geld und Kapital wohl aus Vorsicht nicht übernahm, da diese Unterscheidung für die damals geläufige Idee des Wucherverbots hätte gefährlich werden können. Beide Autoren erkannten aber die Bedeutung der ökonomischen Ideen von Olivi und trugen zu deren Verbreitung bei. Ihr Verdienst ist es, dass Olivis Ideen nicht in Vergessenheit geraten sind; sie schufen die Bedingungen dafür, dass sie weitergegeben und verbreitet werden konnten.

37  Bernhardin von Siena, Sermo XLII, a. 1, c. 3, in: De contractibus et usu­ ris, S.  170.

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Die Franziskanische Wirtschaftsethik und die Einrichtung der Monti di Pietà. Die wirtschaftsethische Reflexion der franziskanischen Theologen und Olivis Gedanken fanden ab dem 15. Jahrhundert eine direkte praktische Umsetzung in Form einer sozialen Innovation, nämlich der Einrichtung der sog. Monti di Pietà (»Berge der Barmherzigkeit«), die als Frühformen der Sparkassen und somit des Kredit- und Bankenwesens verstanden werden können. Diese Institutionen wurden dank der Initiative der Franziskaner ab dem 15. Jahrhundert in italienischen Städten und später auch in anderen europäischen Ländern als Leihhäuser gegründet (Muzzarelli 2001; Meneghin 1986). Der erste urkundlich bekannte Mons entstand 1462 in Perugia, und im Jahre 1472 wurde in Siena die heute noch existierende Banca Monte dei Paschi di Siena als Monte di Pietà eingerichtet. Die in der deutschen Forschung bislang nur wenig bekannten und erforschten Montes pietatis (Holzapfel 1903; Skambraks 2017) wurden ursprünglich als Mittel zur Armuts- und Wucherbekämpfung konzipiert. Sie waren eine innovative gesellschaftliche Antwort auf die damals verbreitete Praxis des durch Zinswucher geprägten Geldverleihens. Es handelte sich um Pfandleihgeschäfte und kirchliche Leihanstalten, die armen Leuten Kredite und billige Darlehen gegen Pfand und niedrige Zinsen gewährten. Im praktischen Leben hatten sie als Finanz- und Wohltätigkeitseinrichtungen eine doppelte Funktion, da sie sowohl sozioökonomisch-politische bzw. sozialgeschichtliche als auch ethisch-theologische Aufgaben miteinander verbanden (Bazzichi 2011). Die gesellschaftlich innovative Wirksamkeit der franziskanischen Bewegung fand ihren Ausdruck auch darin, dass (Volks-)Predigten sehr wichtig wurden; vom 13. bis ins 15. Jahrhundert hinein hatten sie eine starke Wirkung auf städtische Bevölkerungskreise und auf das Kleinbürgertum (Schneyer 1969; Steer 1993; Hohlstein 2012). ­Einer der einflussreichsten Volks- und Wanderprediger des 15. Jahrhunderts in Norditalien war Bernhardin von Feltre (Bernardino da Feltre 1964). Er wandte sich in seinen Predigten gegen wucherischen Geldverleih durch Christen und Juden, und er war ein unermüdlicher Verbreiter und Gründer der Monti di Pietà, von

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denen etwa 30 auf seine Initiative zurückgehen. Seine Predigten sind aufschlussreiche Quellen und informieren über die damaligen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Zusammenhänge (Meneghin 1974). Bernhardins Erfolg hing vor allem mit der Rolle zusammen, die die Predigt damals als Massenmedium spielte; sie diente dem Wissenstransfer, war politisches Instrument und verbreitete christliche Verhaltensmodelle. Dank seiner großartigen Rhetorik und seiner Erzählfreude sowie seiner gestischen Inszenierung erreichte er mit seinen Predigten nicht nur die Menschen auf den Plätzen, sondern auch die Vertreter der städtischen Obrigkeit. Die franziskanischen Predigten hatten nämlich nicht nur eine pastorale Funktion, insofern sie das Evangelium verkündeten, die geistliche Erziehung der Zuhörer verbesserten und deren christliche Lebensgestaltung beeinflussten, sondern sie waren auch ein Mittel zur Bekämpfung sozialer Missstände. Außerdem waren sie ein wichtiges Kommunikationsmittel: Einerseits dienten sie dazu, zwischen dem theoretischen Wissen von Universitätsgelehrten und dem Erfahrungswissen praktischer Experten zu vermitteln, also sozusagen eine Brücke zu schlagen; andererseits ermöglichten sie durch ihren Einfluss auf die Einrichtung der Montes eine Institutionalisierung dieses Wissens (Skambraks 2017). Bernhardins Predigten rezipierten nicht nur das wirtschaftliche Wissen, das in der früheren franziskanischen Tradition entwickelt worden war, sondern auch die Expertise von Juristen, Kanonisten und Zivilisten seiner Zeit. So stützte sich die Gründung der Montes auf das Wissen maßgeblicher Experten, die juristische Gutachten (= Consilia) erstellten. In diesen Gutachten waren wirtschaftsethische Anweisungen enthalten, Argumente für und gegen die Rechtmäßigkeit der Zinsnahme und Ratschläge in Bezug auf die Gründung und Organisation der Montes. Zu diesen Texten, von denen einige auf Bernhardins Initiative hin verfasst wurden, denn er liebte es, sie auf seinen Reisen in der Satteltasche bei sich zu haben, zählten beispielsweise das Consilium von Fortunato Coppoli aus Perugia, das Consilium von Annius von Viterbo und das Defensorium

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von Bernardino de Bustis (diese und weitere Dokumente sind abgedruckt in: Meneghin 1966; Amadori 2007). Es muss auch betont werden, dass Bernhardins Predigten Auswirkungen auf die politische Praxis hatten. Er ebenso wie andere geschickte Prediger-Kommunikatoren griffen in den Ablauf des Stadtlebens ein und hatten bei politischen Verhandlungen sogar Einfluss auf städtische Herrscher. Diese franziskanischen Prediger wollten nicht nur belehren und ermahnen, sondern auch zum Handeln anregen, weshalb sie das Wort zu einem Instrument der politischen und gesellschaftlichen Intervention machten. Da sie beispielsweise Wucher verboten, kam es zu antijüdischen Ausschreitungen und in einigen Städten sogar zur Vertreibung der Juden. Bernhardin von Feltre etwa half häufig den Stadtbehörden, indem er ihre Politik unterstützte, wie z. B. den Kampf gegen Luxus und den unregulierten Konsum; andererseits kritisierte er die Obrigkeit aber auch, wenn diese den jüdischen Wucher nicht verbieten wollte (Muzzarelli 2005). Zur deutschen Spätscholastik. Wie Odd Langholm erwähnt, spielten die Vertreter der deutschen spätscholastischen Tradition des 15. Jahrhunderts bei der Überlieferung und Verbreitung von Olivis ökonomischer Werttheorie via Bernhardin von Siena und Antoninus von Florenz eine besondere Rolle (Langholm 2009, S.  135–136). In diesem Zusammenhang sind vor allem Gabriel Biel und Konrad Summenhart (Höffner 1941, S.  113–123; Ott 1966) zu nennen.38 Biel verwendet z. B. für wertbestimmende Faktoren die Ausdrücke utilitas, raritas und complacentia; Olivis Ausdruck inventionis dif­

38  An dieser Stelle muss auch Matthäus von Krakau, Theologieprofessor in Prag und Heidelberg, erwähnt werden, auf den sich Summenhart bezieht. Matthäus von Krakau verfasste einen umfassenden Traktat De contractibus (2000), der Auffassungen der franziskanischen Tradition implizit wiedergibt und reflektiert; er griff außerdem auf Heinrich von Langensteins Tractatus bipartitus de contractibus zurück (1484; dazu: Sommerfeld 1969; Langholm 2008), vor allem in Bezug auf Ansichten zur Zinsnahme und zur communis aestimatio (Nuding 2007, S.  103–104; 108–109).

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ficultas umschreibt er mit indigentia und difficultas acquirendi.39 Auch Summenhart verwendet utilitas, raritas und complacibilitas.40 Bei der Unterscheidung von ius und dominium sowie bei der Kritik am Wucher bezieht sich Summenhart mehrfach auf Antoninus und Bernhardin und übernimmt damit Olivis rechtliche und wirtschaftsethische Terminologie (Varkemaa 2012, S.  78–79; 187–188; Todeschini 2004, S.  191). Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass die deutsche spätscholastische Tradition des 15. bis 17. Jahrhunderts durch die Theologen der Jesuitenschule von Ingolstadt weitergeführt wurde (Wilczek 1994; 2003). Unter diesen Theologen, die Zeitgenossen der Reformation waren, spielte Johannes Eck eine besondere Rolle. Er war einer der erbittertsten Kritiker von Luther, entwickelte aber auch wichtige ›liberale‹ Auffassungen über die Legitimität der Zinsnahme bei Darlehen (Iserloh 1981; Pölnitz 1940; Assel 1946; Knoll 1933; 1967; Ziegelbauer 1987; Wurm 1997), denn bereits seit seiner Studienzeit bei Summenhart in Tübingen hatte er sich mit ethischen und wirtschaftlichen Fragen befasst. In der spärlichen Sekundärliteratur wird die Jesuitenschule von Ingolstadt als »Pflanzschule eines katholischen Kapitalismus« bezeichnet (Knoll 1933, S.  148). Unter den wichtigsten Vertretern dieser Schule sind Eck, der Jesuit Gregor von Valencia als sein Nachfolger sowie Adam Tanner, Franz Xaver Zech und Jakob Gretser zu nennen. Gregor von Valencia ist eine zentrale Figur, nicht so sehr wegen der Originalität seiner wirtschaftsethischen Beiträge, sondern eher, weil er in Salamanca studiert hatte und später von seinem Generaloberen nach Ingolstadt versetzt wurde, so dass er sozusagen zu einer Brücke zwischen der spanischen Spätscholastik und der deutschen Welt wurde. Völlig zu Recht wird er als »eifrigster und erfolgreichster Anhänger und Verteidiger Molinas« und als »Begründer der jesuitischen Zinsschule von Ingolstadt« (Knoll 1967, S.  331) bezeichnet. 39  Biel 1977, Collectorium, Bd.  I, S.  197–199. 40 Summenhart, De contractibus (Venedig 1580), III, 56, S.  264; dazu: Langholm 2009, S.  135–136; 2008, S.  505–567.

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Die Spanische Spätscholastik und die Schule von Salamanca. Die wirtschaftsethische Analyse der franziskanischen Tradition wurde im 16. und 17. Jahrhundert von den großen Theologen der spanischen Spätscholastik bzw. der Schule von Salamanca aufgenommen und weitergeführt (Höffner 1941; Chafuen 2003; Gordon 1975, S.  219–243; Langholm 1992; Melé 2013; Franco 2018; W. Weber 1959). Die spanischen Spätscholastiker rezipierten Olivis Auffassungen und Begrifflichkeiten teilweise durch direkte Kenntnis der Werke von Antoninus von Florenz und Bernhardin von Siena. Die Überlieferung von Olivis Terminologie ist vor allem den deutschen Spätscholastikern Biel und Summenhart zu verdanken. (Langholm 2008, S.  567; 2019, S.  135–137; Bazzichi 2015, S.  151–155.) Einige Vertreter der Schule von Salamanca teilten die Wertlehre des Antoninus; sie kannten auch seine Summa aus erster Hand und nahmen dadurch Olivis ökonomische Ideen auf. In Bezug auf die spanischen Spätscholastiker stellt Langholm fest: »Wenn die charakteristischen Olivischen Begriffe verwendet wurden, tauchten sie jedoch nicht isoliert auf, sondern in Kombination mit Wörtern und Ausdrücken, die aus anderen scholastischen Traditionen stammten.« (Langholm 2009, S.  136.) So findet sich beispielsweise bei Johannes Medina Olivis Terminologie der Werttheorie41, die dann wiederum fast wörtlich von ­Petrus von Aragon übernommen wurde.42 Luis de Molina, der Olivis Auffassungen dank der Überlieferung der franziskanischen und deutschen Scholastiker wie auch durch Antoninus von Florenz kannte und weiterverbreitete (Langholm 2009, S.  136–137; Evangelisti 2016 c, S.  115–136), schrieb eine systematische Reflexion über die Preisbildungsfaktoren.43 Bei ihm taucht zum ersten Mal das Wort concurrentia auf. Bei Johannes de Lugo finden sich Olivis Idee der 41 Medina, De restitutione et contractibus (Ingolstadt 1581), q.  31, S. 196. 42  Petrus von Aragon, In secundam secundae divi Thomae commentaria (Lyon 1596), q.  77, S.  438. 43 Molina, De Justitia et Jure. Tomus 2: De Contractibus (Mainz 1659), tr.  II, disp.  348, n.  3–4, 7–8; übers. Molina 1981, S.  167–182.

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Produktivität des Kapitals und seine Werttheorie; beides übernahm Johannes de Lugo von Molina44. Francisco de Vitoria formulierte in der Nachfolge von Summenhart und Antoninus eine subjektive Werttheorie, die den Faktoren Angebot und Nachfrage größere Bedeutung als den Produktionskosten beimaß45. Die Auffassungen der spanischen Spätscholastik beeinflussten ihrerseits den belgischen Jesu­iten Leonardus Lessius, da es starke Verbindungen zwischen seinen Ideen und denen von Molina und Medina gab (Decock 2009). Lessius stellt in seinem Werk De iustitia et iure fest, dass der bereits von Olivi vorgebrachte Gedanke über die Legitimität des lucrum ces­ sans allmählich zu einer »allgemeinen Lehre« (fere communis)46 der Theologen und Kanonisten geworden sei (Spicciani 1990 b, S.  47; 81). Hugo Grotius, Samuel von Pufendorf und die Schottische Schule der Moralphilosophie. Die wirtschaftlichen und ethischen Ideen der spanischen Spätscholastiker übten auf spätere Denkschulen einen besonderen Einfluss aus (Grice-Hutchinson 1952, S.  59–68; W. Weber 1959, S.  33–36; Chafuen 2003, S.  153–191; De Roover 1955; 1957; Roth­bard 2006, S.  127–133; Huerta de Soto 2007, 44–52; Bazzichi 2015, S.  151–161), etwa auf die beiden Naturrechtslehrer Hugo Grotius und Samuel von Pufendorf. Das zeigen viele Gemeinsamkeiten wie z. B. über die Geldtheorie, die Werttheorie und die Monopoltheorie (Schumpeter 2009, S.  165–169) oder auch über die Idee des Völkerrechtes (Höffner 1969, S.  325–326; ferner Höffner 1947). Die Werke von Grotius (1631) und Pufendorf (1672; 1673) dienten ihrerseits als Bindeglied zwischen der spanischen Spätscholastik und dem ökonomischen Denken der Schottischen Schule der Moralphilosophie (Stein 1982; Hutchison 1988; Young 2008; Saether 2017) von Gershom Carmichael, Adam Ferguson, Francis Hutcheson und Adam Smith. Carmichael, der erste Professor für Moralphilosophie 44  De Lugo, De iustitia et de iure (Lyon 1642), disp.  26, sec.  4, par.  41–44. 45 Francisco de Vitoria, De Justitia (Madrid 1934–35), tr.  II, qu.  7 7, 1, S.  117–118. 46 Lessius, De iustitia et iure (Lyon 1653), lib.  II, 20, dub.  XI, S.  211 b.

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an der University of Glasgow, benutzte für seine Vorlesungen Pufendorfs De Officio als Lehrbuch, das er mit seinen eigenen Anmerkungen versehen hatte. In Bezug auf die Werttheorie verwendete Carmichael eine Terminologie (acquirendi difficultas, indigentia, usus), die einen direkten Einfluss von Gabriel Biel und damit indirekt von Olivi nahelegt (Langholm 2009, S.  137–139; Moore  /  Silverthorne 2002, S.  106; Naldi 1993, S.  462). Die scholastische Terminologie und Pufendorfs Auffassungen wurden dann von Francis Hutcheson (1725/1756) übernommen und erreichten so dessen Schüler Adam Smith. Smith kannte die Werke von Grotius und Pufendorf, die Hutcheson in seinen Vorlesungen als Lehrbücher benutzt hatte (Scott 1937, S.  34, 112). In den Lectures on Justice, Theory of Moral Sentiments und in The Wealth of Nations von Adam Smith gibt es Verweise auf die beiden Naturrechtsdenker. Die Smith’schen Auffassungen zeigen Ähnlichkeiten mit den spätscholastischen Ideen (Chaufen 2003, S.  153–191); das gilt z. B. für seine utilitaristische Argumentation bei der Verteidigung des Eigentumsrechtes (Smith 1763, S.  8) und der Geldentwertung (Smith 1763, S.  188; 1776, S.  882). Smith erarbeitete eine Preistheorie, die auf die Terminologie der spätscholastischen Lehre zurückgriff: z. B. führte er in diesem Zusammenhang die Wörter »need«, »use«, »scarcity« und »desire« ein (Smith 1763, S.  176– 177; ferner De Roover 1955, S.  173). Auch bei der Frage nach dem gerechten Lohn berücksichtigte Smith, ganz so wie bereits vor ihm Olivi und Bernhardin von Siena, das Fachwissen, das für die Herstellung und Bereitstellung eines Gutes nötig war, sowie den Rang und die Würde der Ämter (Smith 1763, S.  100, 174–176; 1776, S.  142). Überdies kann man den Einfluss humanistischer Auffassungen im Smith’schen Denken nachweisen: Werte wie Vertrauen, Sympathie, Gegenseitigkeit oder Freundschaft bilden die Grundlage seiner Moralphilosophie (Bruni  /  Zamagni 2013, S.  105–111; Bazzichi 2015, S.  155–161). Diese Einflüsse belegen, dass sich sein Denken nicht auf den Horizont des reinen Utilitarismus und des Laissez-faire-Liberalismus reduzieren lässt, sondern dass sein Individualismus auch sozial-altruistische Motive einbezieht.

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Die Tradition der Zivilökonomie in Italien. Eine weitere Spur der scholastischen franziskanischen wirtschaftsethischen Tradition kann man in Italien wiederfinden. Hier ist die Tradition der Econo­ mia Civile (Zivilökonomie) von großer Bedeutung, die im 18. Jahrhundert die sozioökonomischen und zivilgesellschaftlichen Ideen des franziskanischen Denkens aufnahm und mit der italienischen Tradition des Bürgerhumanismus verband. Als Hauptvertreter sind hier die Äbte Ferdinando Galiani und Antonio Genovesi zu nennen, beide Gelehrte der subjektivistischen Schule von Neapel. Galiani ist vor allem die erste Ausarbeitung der modernen utilitaristischen Werttheorie zu verdanken. In seinem Buch Della moneta von 1751 tauchen Olivis wertbestimmende Faktoren wieder auf, nämlich utilità, rarità und fatica (Galiani 1751, I.2, S.  39–41; siehe Grice-Hutchinson 1952, S.  63–64, Langholm 2009, S.  134). Genovesi (1765) gilt als Gründungsvater der Zivilökonomie, die als Alternative zu einer rein individualistischen Sicht des Marktes verstanden wird. Ein besonderes Merkmal der Economia civile besteht darin, dass der Markt und die Wirtschaft als Orte verstanden werden, wo bürgerliche Tugenden wie Freundschaft, Gegenseitigkeit, Brüderlichkeit und Unentgeltlichkeit wichtig sind; für diese Schule sind sie ein integraler Bestandteil wirtschaftlicher Transaktionen (Bruni  /  Zamagni 2013; Franco  /  Habisch 2018). Die Spanischen Spätscholastiker als »Vorläufer« der Österreichischen Schule. Die spanische Spätscholastik wird auch von der Österreichische Schule der Nationalökonomie rezipiert (Rothbard 1976, S.  52– 74; 2006, S.  97–133; Chafuen 2003, S.  129–158; Huerta de Soto 2007; ferner Kauder 1965). Viele Ideen der Spätscholastiker, z. B. die subjektive Werttheorie, die Geldtheorie, die Idee der Dynamik des Marktes und der Konkurrenz sowie das Prinzip der Zeitpräferenzen, werden als »Ecksteine des Theoriegebäudes der Österreichischen Schule der Nationalökonomie« betrachtet (Huerta de Soto 2007, S.  48). Bereits Carl Menger, der Gründer der Österreichischen Schule, verwies auf den Theologen von Salamanca Diego de Covarrubias y Leyva, dem nach Menger die Erarbeitung der subjektiven Wertlehre zu verdan-

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ken sei (Menger 1871, S.  263). Auch Friedrich August von Hayek zitierte in seiner Rede anlässlich der Nobelpreisverleihung im Jahre 1974 Luis de Molina und Johannes de Lugo. Hayek bezeichnete die spanischen Scholastiker als »bedeutende Vorläufer der modernen Ökonomie« (Hayek 1974, S.  92); er nannte sie auch »unsere Vorläufer« (Hayek 2003, S.  23; 490) und unterstrich in diesem Zusammenhang insbesondere die Lehre des gerechten Preises, die er mit der Idee der Fehlbarkeit der menschlichen Vernunft verband (Hayek 2003, S.  23, 224, 536). Hayek zufolge entwickelten die Spätscholastiker »die Grundlagen einer eigenen Theorie der Entstehung und des Ablaufs spontan gebildeter sozialer Institutionen« (Hayek 1967, S.  180); ihre Auffassungen seien Ursprung und Wurzel des kapitalistischen Geistes (Hayek 2003, S.  490, 536; dazu Beltrán 1989, S.  8–11). In den letzten Jahren gab es eine lebhafte Diskussion über die Frage, ob die spätscholastischen Theologen als Vorläufer der Österreichischen Schule der Nationalökonomie des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet werden können, ob es also eine Konvergenz zwischen den liberalen Auffassungen der Spätscholastiker und denen der österreichischen Ökonomen gebe. Für Wilhelm Weber waren die spanischen Spätscholastiker die »bedeutenden Bahnbrecher der modernen Wissenschaften« (W. Weber 1962, S.  34); er stellte eine »überraschende Analogie« zwischen den zinstheoretischen Auffassungen der Spätscholastik und denen der Österreichischen Schule fest (W. Weber 1962, S.  34–38; 123–152). Schumpeter hielt sie für die »Vorläufer« der Österreichischen Schule und für die »Begründer der wissenschaftlichen Wirtschaftsanalyse« (Schumpeter 2009, S.  143; ferner De Roover 1957; Grice-Hutchinson 1983). In dieser Diskussion wurde auch auf die Gefahr einer solchen Vereinbarkeitsthese hingewiesen und hervorgehoben, dass sie das Risiko berge, entweder die spätscholastische Tradition auf einige bedenkliche Erscheinungen des libertären Denkens der Österreichischen Schule der Nationalökonomie zu reduzieren oder aber in der Spätscholastik ante litteram eine Vorwegnahme der liberalen Tradition des »Minimalstaates« bzw. der »begrenzten Regierung« zu sehen (Zanotto 2003; Costa 1999). Trotz dieser Interpretationsunterschiede kann man

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nicht ausschließen, dass die spätscholastischen Ideen in die moderne Wirtschaftsanalyse eingeflossen sind. Der Ordoliberalismus und die Soziale Markwirtschaft in der Bundes­ republik Deutschland. Als letzte Rezeptionsphase des scholastischen bzw. spätscholastischen ökonomischen Denkens muss noch der Ordoliberalismus berücksichtigt werden. Der ordnungs- und wirtschaftsethische Ansatz des Ordoliberalismus der Freiburger Schule bzw. der Sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland (Franco 2016; 2021) lässt sich ideengeschichtlich auf die ökonomischen Vorstellungen der Scholastik und auf den mittelalterlichen Ordo-Gedanken zurückführen. Der aus der christlichen Tradition hervorgegangene Ordo-Gedanke ist eine der Schlüsselkategorien der Freiburger ökonomischen Tradition. Dieser religiös-metaphysische und normative Begriff spiegelt sich in Walter Euckens »Denken in Ordnungen« sowie in dem Gedanken der Sozialen Marktwirtschaft wider, dass die Wirtschaftsordnung in die Gesellschaftsordnung integriert werden müsse. Mit dem scholastischen Ordo-Gedanken verbinden die Gründungsväter der Sozialen Marktwirtschaft, etwa Eucken (1940/1950, S.  239–241; 1952/2004, S.  372–374), aber auch Franz Böhm (1950, S.  XLVIII), Alfred Müller-Armack (1959, S.  564–568) und Wilhelm Röpke (1950, S.  33; 152–157), die Idee, dass die menschliche Freiheit gesichert und eine »funktionsfähige und menschenwürdige Ordnung der Wirtschaft, der Gesellschaft, des Rechtes und des Staates« gefunden werden müsse (Eucken 1940/1950, S.  239). Es ist vor allem das Verdienst des Ökonomen und katholischen Sozialethikers Joseph Höffner, eine Brücke zwischen der christlichen scholastischen Wirtschaftsethik und dem Ordoliberalismus bzw. der Sozialen Marktwirtschaft geschlagen zu haben. Höffner, der bei Eucken mit einer Arbeit zum Monopolproblem des 15. und 16. Jahrhunderts promovierte, wobei er insbesondere auf die Wirtschaftsethik der Schule von Salamanca einging (Höffner 1941), hat gezeigt, dass einige der ersten marktwirtschaftlichen Denktraditionen in vielerlei Hinsicht auf scholastische Theologen zurückzuführen sind und dass ihr Den-

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ken bereits Ansätze für die spätere Entwicklung der christlichen Gesellschaftslehre als eigenständige Disziplin enthielt (Franco 2018). Die Scholastik, insbesondere die Wirtschaftsethik der franziskanischen Tradition, stellt ein interessantes Kapitel der Geschichte des ökonomischen Denkens dar, ein Kapitel, dessen Forschungspotenzial bei weitem noch nicht ausgeschöpft ist. Marktwirtschaft ist mehr als ein Austausch von Gütern und Dienstleistungen. Sie ist vielmehr ein von geistesgeschichtlichen Traditionen und darin eingebetteten ethischen Leitvorstellungen geprägter kultureller und gesellschaftlicher Prozess. Die oben kurz vorgestellten Denktraditionen mit ihren jeweiligen Akzentuierungen und Divergenzen können als bedeutende und wirkungsmächtige Versuche betrachtet werden, den wirtschaftlichen Austausch und die ihn tragenden rechtlichen Institutionen in umfassender Weise sozialethisch und gesellschaftspolitisch zu gestalten. Gerade deshalb kann man sie als Ligaturen einer gemeinsamen europäischen Wirtschaftskultur verstehen. Sie basieren auf humanistischen und christlichen Werten und sind jeweils auf ihre Weise Ausdruck des gemeinsamen Strebens nach ­einer menschenwürdigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Die Rückbesinnung auf diese Ligaturen und Denktraditionen kann mithin bei den gegenwärtigen Herausforderungen Orientierung bieten (Franco  /  Habisch 2018).

5.3  Die Aktualität des franziskanischen ­wirtschaftsethischen Paradigmas Die Erforschung der Geschichte des mittelalterlichen ökonomischen Denkens ist nicht neutral, sondern wird unter Einbeziehung theoretischer Annahmen und unter Berücksichtigung des Einflusses der Gegenwart betrieben. Vor dem Hintergrund des historischen Kontextes und des Zusammenwirkens zwischen Theorie und Praxis können gewisse Lehren aus Olivis franziskanischer Tradition gezogen werden, die einen Zugang zur Bewältigung der Probleme der heutigen Zeit eröffnen. Die franziskanische Wirtschaftsethik und das

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franziskanische Armutsideal sind relevanter denn je. Sie sind auch unter veränderten sozio-ökonomischen Bedingungen nützlich: Sie können als ethische Orientierung dienen, theoretische und soziale Innovationen vorantreiben und ordnungspolitische Reformen initiieren (Couturier 2015; Bruni  /  Zamagni 2013; Zamagni 2009 a; 2009 b; Carbajo Núñez 2014; Piron 2018). Als normative Wissenschaft benötigt die Wirtschaftsethik eine solide Grundlage in wirtschaftlicher und ethischer Theorie. Dadurch, dass Sozialwissenschaft und Moraltheorie im frühen 19. Jahrhundert begannen, sich auseinanderzuentwickeln, ein Vorgang, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der positivistischen Wende der Sozialwissenschaft zum Abschluss kam, sind Ethik und Ökonomie heute völlig verschiedene Forschungsbereiche. Das hat zur Folge, dass die ethische Argumentation als Fremdkörper in die ökonomische Analyse eingeführt werden muss oder dass moralische Konzepte in rein ökonomischen Begriffen zu formulieren und neu zu interpretieren sind. Demgegenüber ist die Wirtschaftsethik von Olivi vor dem Hintergrund der franziskanischen Tradition ein sehr bedeutender und gelungener Versuch, das wirtschaftliche Verhalten und die wirtschaftlichen Institutionen von einem umfassenden ethischen Standpunkt aus zu analysieren, ein Versuch, der gegenwärtig zudem noch von höchster Aktualität ist. Im Hinblick auf die theoretischen Grundlagen der Wirtschaftsethik besteht die derzeitige besondere Relevanz der franziskanischen Wirtschaftsethik also in der Erarbeitung einer in normative Fragestellungen eingebetteten Wirtschaftsanalyse. Sie kann zur Kritik an zeitgenössischen Wirtschaftstheorien und ökonomischen Mentalitäten verwendet werden, z. B. zum Zweck der Korrektur e­ iner rein utilitaristischen Konzeption der Wirtschaft; oder sie kann gegen die Logik der reinen Gewinnmaximierung eingesetzt werden, die die ethische Reflexion ausklammert und die politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen ebenso vernachlässigt wie die moralischen Reserven, die die Marktwirtschaft braucht (Franco 2016; 2018) und die wesentliche Bestandteile der franziskanischen Wirtschaftsethik waren (Lenoble 2015, S.  178–180; Piron 2012 a, S.  24–26). Weiter kann

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das franziskanische Wirtschaftsdenken als Grundlage für eine kritische Bewertung der im gegenwärtigen akademischen Diskurs gängigen wirtschaftsethischen Paradigmen dienen, gleichgültig ob es sich um individualistische, deontologische oder metaphysische Denk­ richtungen handelt (Nass 2018; Aßländer 2021; Lütge 2013). Dabei könnte es als eine metatheoretische Perspektive betrachtet werden, um solche exemplarischen Modelle der Wirtschaftsethik im Hinblick auf die ihnen jeweils zugrundeliegende Wertebasis zu analysieren und ihre Auffassung zur Vereinbarkeit von dem, was den Menschen dient und was wirtschaftlich ist, unter die Lupe zu nehmen und das Verhältnis von ethischer und ökonomischer Rationalität zu bewerten. Selbst für die Probleme der Globalisierung eröffnet die franziskanische Ethik verschiedene Lösungen: Sie betont den Vorrang der Menschenwürde gegenüber dem Kapital und die soziale Verantwortung der Unternehmer; sie weist auf mögliche Formen von Mikrokrediten hin; sie unterstreicht die zentrale Bedeutung der Würde der Arbeit, und sie fördert eine neue Sensibilität für die Umweltproblematik (Carbajo Núñez 2014, S.  117–122). Das franziskanische Denken bietet ein anthropologisches und relationales Modell, das als normativer Rahmen für das globale Wirtschaftssystem fungieren könnte. Es könnte außerdem die Suche nach neuen Ideen für die gegenwärtige Wirtschaftswelt voranbringen, worauf Papst Franziskus in seiner jüngsten Reflexion (2015) hinwies und was auch in der christlichen Sozialethik betont wird (Heimbach-Steins  /  Schlacke 2019; Gabriel u. a. 2017). Eine franziskanische Wirtschaftsorientierung als Alternative zu zeitgenössischen Tendenzen, die auf Geiz und Gier beruhen, könnte einen christlichen Humanismus in die Wirtschaft hineintragen und eine Wirtschaft der Geschwisterlichkeit entstehen lassen, die auf das globale Gemeinwohl ausgerichtet ist. Dabei könnten auch Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz zusammengebracht werden. Die Franziskaner waren nämlich nicht nur Denker, sondern auch religiöse Unternehmer und geistliche Innovatoren in spätmittelalterlichen Zeiten des Umbruchs. Sie haben aus dem Geist der Armuts-

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bewegung eine neue sozio-ökonomisch-politische Ordnung erarbeitet und institutionelle Veränderungen bewirkt, die starke Auswirkungen auf Wirtschaft und Unternehmen hatten. Dabei spielte das franziskanische Verständnis des ehrbaren christlichen Kaufmanns, dessen Wirken von sozialem Nutzen ist, eine wichtige Rolle. Ähnliches ließe sich in die zeitgenössische Debatte über die Corporate Citizenship in der Zivilgesellschaft und im sozialen Unternehmertum einführen (Habisch  / Adaui 2010; Mion  / Adaui 2011). Aus der franziskanischen Weisheit könnten neue Formen des Wirtschaftens und des Sozialunternehmertums entwickelt werden, durch die der Markt zum Praxisfeld für Bürgertugenden sowie für ethisches und geistiges Engagement werden könnte. Das franziskanische Armutsideal ist eine geeignete Voraussetzung dafür, durch eine alternative Herangehensweise eine nachhaltigere Wirtschaftsform zu schaffen, in der soziale Ungleichheit und Exklusion reduziert werden. Außerdem liefert die franziskanische Wirtschaftsethik neue Perspektiven für die Zivilisierung des derzeitigen Finanz- und Wirtschaftssystems. Hier kommt auch die Aktualität der Monti di Pietà zum Ausdruck, die als Vorläufer der modernen Mikro-Kreditinstitutionen und ähnlicher Initiativen der Finanzethik betrachtet werden können und deren Ziel es heutzutage ist, den Armen und den Entwicklungsländern einen leichten Zugang zu Kapital und Krediten zu ermöglichen (Bruni  /  Zamagni 2013). Eine solche Art der Mikro-Finanzierung ist ein nützliches Modell, das zeigt, wie die Beziehung zwischen Krediten und Bürgern erneuert werden könnte, zum Schutz der Armen vor den Risiken des ­Wuchers. Der franziskanische Geist regt dazu an, eine Humanisierung der Wirtschaft in Gang zu setzen, die auf Gegenseitigkeit, Zusammen­ arbeit und Entwicklung der Solidarität im Gemeinschaftsleben beruht. Wenn man diese Beziehungswerte berücksichtigen will, bietet das franziskanische Denken eine neue Perspektive bei der Suche nach Möglichkeiten zur Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Staat, Markt und Gesellschaft. Die Idee des Marktes, so wie sie bei Olivi vorhanden ist und sich später auch in anderen Traditionen wie-

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derfindet, geht davon aus, dass Handelsbeziehungen in einem Kontext der Solidarität abgeschlossen werden und auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Im Zeitalter der Globalisierung ist es notwendig, die ursprüngliche Bedeutung von Prinzipien wie Gegenseitigkeit, Vertrauen und Gemeinwohl in Erinnerung zu rufen, denn das traditionelle Verhältnis zwischen Staat, Markt und Gesellschaft ist durch den technologischen Fortschritt in Frage gestellt und muss neu ausgehandelt werden. Moralisches Kapital, zivilgesellschaftliches Engagement und das ethische Verhalten von Führungskräften in Wirtschaft und Gesellschaft müssen daher zu Schlüsselprinzipien für die tägliche Praxis werden (Scherer  /  Palazzo 2008; ­Habisch  /  Schmid­ peter 2007; Franco 2020; 2021). Schließlich verdienen innerhalb der zeitgenössischen philosophischen Diskussion die Auffassungen von Giorgio Agamben eine besondere Erwähnung. Der italienische Philosoph hat in seinem »Homo-Sacer-Projekt« und insbesondere in seinen Büchern Herrschaft und Herrlichkeit, Höchste Armut und Der Gebrauch der Körper (Agamben 2010; 2016; 2020) eine originelle und stimulierende Wiederaufnahme der Weisheit erarbeitet, über die Olivi und die franziskanische Bewegung verfügten. Agamben zeigt analytisch, dass aus dem franziskanischen Armutsverständnis eine theologische Genealogie von ökonomischen, rechtlichen und politischen Sprachen und Ideen erwachsen ist, denen bei den heutigen Herrschaftsverhältnissen eine besondere theoretische und praktische Relevanz zukommt. Er interpretiert die franziskanische Ordensregel nicht in einem streng juristischen Sinne als eine zu beachtende Norm und nicht einmal als eine Ablehnung der Institutionen, sondern als eine neue Lebensform in der Welt. Im franziskanischen Erbe sieht er die Möglichkeit, diese neue Lebensform zu definieren: Zu ihr gehören eine Ontologie des Gebrauchs der Dinge und neue Ansichten zum Zusammenhang zwischen Theologie, Politik und Ökonomie und zur Bewältigung der aktuellen Herrschaftsformen. Agamben folgend, liegt die Aktualität der franziskanischen Konzeption nicht in der Abschaffung des Rechtes oder des Eigentums, sondern darin, von beiden Institutionen neuen Gebrauch zu machen, um dem Ge-

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meinwohl zu dienen. Er ist der Meinung, dass die in der franziskanischen Lebensform enthaltene Kraft es möglich mache, die Ideologie des unbegrenzten Wirtschaftswachstums, die globale Herrschaft des ökonomischen Paradigmas und damit auch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft und die Verdrängung des Politischen durch die Ökonomie zu destruieren.

6.  Zusammenfassung und Ausblick Das scheinbare Paradox zwischen Olivi als Verteidiger der rigorosen Armut und Olivi als Experte und Befürworter bestimmter Handels­ tätigkeiten wird im Lichte verschiedener Elemente überwunden.47 Von Bedeutung dafür ist die Einheit von theoretischer Reflexion und praktischer Orientierung in Olivis intellektuellem Projekt. Olivi erweist sich als ein Denker, der in der Lage ist, spekulative Theologie mit den konkreten und pragmatischen Anforderungen der ökonomischen Wirklichkeit zu vereinen. Sein Ansatz spiegelt die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen wider, wie sie sich an den mittelalterlichen Universitäten des 13. Jahrhunderts entwickelte. Ein weiterer wichtiger Faktor, der für die Überwindung des genannten Paradoxons spricht, ist das seelsorgerische Engagement bzw. die cura animarum; sie stand im Mittelpunkt der pastoralen Tätigkeiten der Franziskanerbrüder als geistliche Führer. Olivi lebte in einer Zeit großer sozialer und wirtschaftlicher Veränderungen; Urbanisierungsprozesse fanden statt, und die Gesellschaft wurde zunehmend durch die Kredit- und Geldwirtschaft geprägt. Das Phänomen der Akkumulation von Reichtum nahm Olivi wahr als etwas, das zum Leben Christi und zur evangelischen Vollkommenheit in krassem Gegensatz stand. Die Entscheidung für die Armut bot eine Antwort und eine Lösung dieses Konfliktes: Für die freiwillig Armen bedeutete Armut Verzicht auf Eigentum und auf alle damit verbun47  Ich danke Dr. Christian Hoffarth für einen Austausch zu dieser Frage­ stellung.

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denen Rechte; aber für diejenigen, die sich für den Besitzstand entschieden, bedeutete Armut Verzicht auf die reine Anhäufung des Reichtums und die Forderung, diesen Reichtum zum Zweck des Gemeinwohls zirkulieren zu lassen (Todeschini 2004, S.  68–71). Der scheinbare Widerspruch zwischen Armut und Reichtum wurde durch Olivis Voluntarismus überwunden, denn die Idee des freien Willens galt sowohl für die freiwillig Armen als auch für die freie Entscheidung der in der Wirtschaft agierenden Menschen. Zwischen Olivis ökonomischem Denken und seiner Armutstheologie gibt es eine Kontinuität. Es gibt also keinen »Widerspruch«, sondern eine »Einheit« zwischen Armuts- und Reichtumsfrage (Grossi 1972, S.  57). Armut und Reichtum sind zwei Seiten ein und derselben Medaille und zwei zusammengehörige Aspekte der Olivi’schen Reflexion. Es war ja die als Verzicht auf Besitz und Eigentumsrechte verstandene Armut, die zum franziskanischen Umdenken in Bezug auf Eigentum, Geld und materielle Güter führte (Todes­chini 2004). Die bewusste franziskanische Distanz zur Welt wurde mithin zum Innovationsantrieb und zum Auslöser dafür, sich um ein tieferes Verständnis des Wirtschaftslebens in der Gesellschaft zu bemühen. Da Olivi mit den Geschehnissen vertraut und im Sozialgefüge der damaligen Zeit verankert war, fühlte er sich verpflichtet, bestimmte ökonomische Praktiken zu analysieren, sie ethisch zu beurteilen und rechtlich zu legitimieren, um gleichzeitig den Christen einen Weg zum Heil zu sichern. Mit seiner Armutstheorie bot er seinen Zeitgenossen eine spirituelle und ethische Lebensform, die für alle Mitglieder der Gesellschaft praktikabel war. Dadurch wurde aus dem theologischen Prinzip der Armut das ethische Ideal christlicher und wirtschaftlicher Vervollkommnung (Todeschini 2004; 1999, S.  223; Delcorno 2016, S.  175–176). Um es mit den Worten von Paolo Vian auszudrücken: »Und gerade die Armut ist das Instrument, das es ermöglicht, in der Welt zu sein, ohne ihr anzugehören: Gerade weil Olivi arm ist und arm sein will, kann er von Kapital und Zinsen sprechen; er kann sich sogar jene Öffnungen für die Erfordernisse der Händlerschicht leisten, die mehr als ein Jahrhundert später der Vorsicht des Bernhardin von Siena

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und Antoninus von Florenz übertrieben erscheinen werden. Deshalb gibt es bei genauerem Hinsehen keinen Widerspruch, sondern eine innige, tiefe Kohärenz zwischen dem Verteidiger des usus pau­ per der Dinge und dem subtilen Analytiker der Mechanismen des Wirtschafts­lebens.« (Vian 1990, S.  17.) Olivi hat in seinem Traktat eine Sozialtheologie erarbeitet, die konzeptuelle und praktische Aspekte verbindet. Diese Sozialtheologie hat drei Reflexionsebenen oder besser: Man muss drei grundlegende methodische Schritte tun, um die Einheit seines Denkens nachzuvollziehen: 1) Theoretische Reflexion und wirtschaftliche Analyse. Vor dem Hintergrund seines theologischen Armutsverständnisses, seiner geschichtstheologischen Grundauffassung sowie seines philosophischen Freiheitsbegriffs behandelte Olivi verschiedene ökonomischen Fragen mit Intensität, Tiefe und Originalität. Er bot Lösungen an, die etliche bereits etablierte Lehren des 13. Jahrhunderts in Frage stellten. Olivi überwand z. B. das scholastische, auf dem unerlaubten Verkauf von Zeit basierende Prinzip des Wucherverbots und verteidigte den ökonomischen Wert der Zeit; er lehnte die Auffassung, dass Geld steril sei, ab und zeigte, dass es produktiv sein konnte; er führte die fruchtbare Unterscheidung zwischen usura und interesse bzw. zwischen dem sündigen Wucherer und dem gerechten Kaufmann ein. Olivi erweist sich als ein Wirtschaftsethiker, der bei der Behandlung ökonomischer Fragen fachkundig kanonistische, zivilistische, philosophische und theologische Perspektiven miteinander verknüpfte. Indem er das tat, wurde Olivis ganzheitliche Persönlichkeit als Theologe, Philosoph, Franziskaner und Jurist offenbar. Charakteristisch für seine Vorgehensweise ist, dass er die Probleme und die untersuchten Fälle nicht a priori bewertete oder gar verurteilte, sondern dass er sich bemühte, die ökonomische Wirklichkeit zu verstehen und die ihr zugrunde liegende Logik zu analysieren. Er nahm auch rechtliche Vertragspraktiken unter die Lupe und bewertete sie nicht nur als ethisch erlaubt, sondern auch als formal gültig. Um die

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wirtschaftliche Realität zu erfassen, bediente er sich einer rationalen Reflexion, was zur Kenntnis der dort vorherrschenden Mechanismen führte und zur Verfeinerung ökonomischer Begriffe. Um Olivis methodologischen Ansatz in wirtschaftsethischen Fragen zusammenfassend und treffend zu beschreiben, kann man auf die Formulierungen des Theologen Jakob Lainez zurückgreifen, der im 16. Jahrhundert der erste Jesuitengeneral nach Ignatius von Loyola war. Lainez hielt fest, dass die Behandlung wirtschaftsethischer Fragen schwierig sei, da sie eine interdisziplinäre Herangehensweise erfordere, bei der das Wissen der Kaufleute, der Theologen und der Juristen zusammenfließe. Folglich könne der am besten über die anstehenden Fragen urteilen, »der von den Kaufleuten durch tägliche und sorgfältige Beobachtung die Tatbestände und Geschäfte kennengelernt hat, aus der Heiligen Schrift und der Moralphilosophie die Grundsätze der göttlichen und natürlichen Billigkeit weiß, vom Rechtsgelehrten aber das erfahren hat, was sich aus den Gesetzen ergibt«.48 2) Ethisches Urteil und normative Betrachtung. Olivis ökonomische Ideen sind nicht das Ergebnis einer gezielten wirtschaftswissenschaftlichen Analyse im engeren Sinne des Wortes, sondern sie resultieren aus dem Kontext von theologischer Reflexion und ethischem Urteil über die ökonomische Wirklichkeit und das soziale Handeln der Christen, insbesondere der Kaufleute. Zentral blieb für Olivi dabei stets die Forderung, wirtschaftliche Fragen und ökonomisches Handeln auf gesellschaftliche und ethische Ziele hin auszurichten, etwa auf den Dienst an der Gemeinschaft. Er wollte sowohl eine Moral für den Einzelnen als auch eine Moral für die Gemeinschaft erarbeiten, um die gesellschaftlichen Beziehungen zu verbessern. Daher begründete er einen normativen Diskurs über die Reichtums- und die Geldfrage, der das Gemeinwohl im Auge hat. In Olivis Überlegungen ist die Forderung vorrangig, dass das Handeln 48 Lainez, Disputatio de usura variisque negotiis mercatorum (Genua 1553/1554), S.  229, zitiert nach Höffner 1941, S.  99.

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der Kaufleute gerecht sei. Im Kontext des christlichen Glaubens und unter Beachtung des Gerechtigkeitsprinzips gab er eine Antwort auf die Frage nach der Rechtmäßigkeit und ethischen Legitimität des kaufmännischen Gewinns sowie weiterer Handelstätigkeiten. 3) Praktisch-geistlicher Zweck. In seinen Beiträgen beschränkte sich Olivi nicht darauf, wirtschaftliche Phänomene zu verstehen und moraltheologische Urteile über die Legitimität bzw. Unzulässigkeit bestimmter wirtschaftlicher Prozesse und Verhaltensweisen abzugeben. Er formulierte auch Empfehlungen für die Tätigkeit der Beichtväter und gab Richtlinien für die christliche Praxis heraus. Darin wird seine Auffassung deutlich, dass nicht nur die freiwillig Armen, sondern auch die ein unvollkommenes Leben führenden Kaufleute zur Gestaltung einer gerechten christlichen Gesellschaft beitragen können, indem sie sich jeweils an bestimmte Regeln halten und bestimmten Verpflichtungen nachkommen. Das offensichtliche Modell dafür war das franziskanische Armutsverständnis, aber Olivi berücksichtigte auch die praktischen Erfordernisse und die religiösen Bedürfnisse der Kaufleute: Er verstand, dass sie Gewinne anstrebten, aber auch nicht der Sünde des Wuchers verfallen wollten. So zeigte er ihnen einen Weg zum Heil und zur moralischen Vervollkommnung, der realisierbar war, obgleich er ihrem unvollkommenen Status entsprach. Olivi war ein brillanter und revolutionärer Denker. Seine Beiträge zeigen, dass er durchaus ein Kind seiner Zeit und der franziskanischen Tradition war, aber auch ein Erneuerer, dessen Ideen und Analysen auf spätere Theologen und Denkschulen eine bleibende Wirkung ausübten. Das franziskanische Armutsverständnis hatte die theoretischen Voraussetzungen dafür bereitgestellt, dass Olivi und weitere Theologen des Franziskanerordens Vorstellungen vom Markt als Ort sozialer Begegnung und Interaktion entwickeln konnten; eine rein individualistische Sicht auf marktwirtschaftliche Prozesse wurde abgelehnt. Die für die franziskanische Auffassung zen­ trale Idee, dass die Wirtschaft ein Ort der Reziprozität und Gratuität

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ist, kann in der Tat noch heute als eine der wichtigsten geistigen Grundlagen der europäischen Wirtschaftskultur und ihrer Traditio­ nen betrachtet werden. Vor dem Hintergrund der zuletzt durch die Covid-19-Pandemie verursachten bzw. stärker ins Bewusstsein gerückten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Turbulenzen in der globalen Welt und angesichts aktueller Herausforderungen für die Europäische Union wie etwa Globalisierung, demographischer Wandel, Umweltproblematik und Digitalisierung, kommt der Rückbesinnung auf die franziskanische Denktradition eine ganz besondere Wichtigkeit zu. Das franziskanische Paradigma ist keineswegs ›vormodern‹, sondern es demonstriert, dass eine christlich begründete Wirtschaftsethik das moralische Fehlverhalten von Menschen und Institutionen analysieren und Handlungsempfehlungen formulieren kann, damit Verbesserungen erreicht werden, beispielsweise menschenwürdigere Arbeitsbedingungen und eine angemessenere Entlohnung für die Menschen, die das weitere Funktionieren unserer Gesellschaften sichern. Von Olivi und der franziskanischen Tradition kann man lernen, dass in Zeiten der Globalisierung auch funktional ausdifferenzierte Gesellschaften normativen Kriterien unterworfen werden sollten, dass wirtschaftliche Prozesse und die Gestaltung einer menschenwürdigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung an sozialen Zielen auszurichten sind und dass die Freiheit des Einzelnen von der Solidarität aller in einer sozial gerechten Gesellschaft abhängt. Ein solcher Ansatz gibt der Wirtschaftsethik auch heute noch ihre Aufgaben vor!

B I B L IO G R A P H I E

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P E T RU S IO HA N N I S O L I V I

Traktat über Verträge

〈 T R AC TAT U S D E C O N T R AC T I BU S  〉

〈 Pars prima:

De empcionibus et vendicionibus 〉 1  Circa vendicionum et empcionum contractus queruntur octo. 〈 Quaestio prima 〉

2  Primo queritur an res possint licite et absque peccato plus vendi quam valeant vel minus emi. 〈 Argumenta 〉

3  Et videtur quod sic, quia aliter fere tota communitas vendencium et emencium contra iusticiam peccaret, quia fere omnes volunt care vendere et pro vili emere. 4  Item, licitum est michi rei mee precium quod volo ponere, nec aliquod ius compellit me dare aut commutare rem meam, absque precio michi placito et a me pretaxato, sicut econtra nullus cogitur rem alterius emere ultra precium sibi placitum. Si ergo contractus vendendi et emendi est mere voluntarius, ergo taxacio precii venalium rerum erit mere voluntaria, ac per consequens sortietur ius et forum mere voluntarium, iuxta illud vulgare verbum: »tantum valet res quantum vendi potest«. 5  Item, secundum ordinem iuris et iusticie et caritatis, commune bonum prefertur et preferri debet bono privato; sed communi saluti hominum post lapsum expedit quidem ut taxacio precii rerum

T R A K TAT Ü B E R V E RT R ÄG E

Erster Teil: Über Käufe und Verkäufe 1  Zu den Kauf- und Verkaufsverträgen gibt es acht Fragen.

Erste Frage 2  Erstens fragt sich, ob Sachen erlaubterweise und ohne Sünde für mehr, als sie wert sind, verkauft oder für weniger gekauft werden dürfen.1

Argumente 3  Anscheinend ja, denn sonst würde fast die ganze Gemeinschaft von Verkäufern und Käufern gegen die Gerechtigkeit verstoßen, denn fast alle wollen teuer verkaufen und billig kaufen.2 4  Weiter: Ich darf den Preis, den ich für meine Sache will, ansetzen, und kein Recht zwingt mich, meine Sache zu geben oder zu tauschen, ohne dass der Preis mir genehm ist und von mir vorher festgelegt wurde – wie auch umgekehrt niemand gezwungen wird, die Sache eines anderen über dem ihm genehmen Preis zu kaufen. Wenn also der Kauf- und Verkaufsvertrag rein freiwillig ist, dann wird auch die Preis-Festlegung der verkäuflichen Dinge eine rein freiwillige sein, und folglich wird ihr Recht und ihr Markt rein freiwillig sein, nach dem üblichen Wort: »Eine Sache ist so viel wert, für wie viel sie verkauft werden kann.« 5  Weiter: Nach der Ordnung des Rechts, der Gerechtigkeit und der Liebe wird das Gemeinwohl dem privaten Wohl vorgezogen und muss ihm vorgezogen werden; aber für das allgemeine Heil der Menschen nach dem Sündenfall ist es allerdings besser, dass die

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De empcionibus et vendicionibus

v­ enalium non sit punctualis, nec secundum absolutum valorem rerum, sed pocius ex communi consensu utriusque partis, vendencium scilicet et emencium, libere pretaxetur. Hoc enim minora pericula peccati fraudum includit. Illud vero vix posset fieri sine peccato, quia punctualis et absolutus valor rerum vix alicui patet certitudinaliter et ad plenum, ergo etc. 〈 Ad oppositum  〉

6  Contra, fallere alios et intendere et conari ad ipsos fallendos est peccatum et contra rectum et naturalem appetitum hominum et contra fidelitatem amicicie et contra veritatis sinceritatem et iusticie, quia omnibus naturaliter displicet falli. Est autem de rectitudine divine legis et caritatis et iuris naturalis quod nulli faciamus quod nobis fieri, recto et naturali appetitu, nolumus. Falsitas autem et decepcio sive fraus que est in fallendo et in voluntate fallendi est contraria divine voluntati et illis dei legibus quibus vult nos esse fideles ac veraces ad omnes. Sed scienter vendens rem plus quam valeat fallit ut plurimum et fallere intendit emptorem, quia nullus emptor communiter vult aut presumitur emere rem velle precio pluri quam valeat. Et similiter, emens rem scienter minus quam valeat fallit et fallere intendit vendentem, quia omnes communiter volunt et presumuntur velle res suas vendere non minori precio quam valeant, ergo etc. 7  Item, iusticia commutativa consistit in reali equalitate seu equivalencia rerum commutatarum, sicut et iusticia reddendi unicuique

Über Käufe und Verkäufe

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Preis-Festlegung der verkäuflichen Dinge nicht genau erfolgt und auch nicht nach dem absoluten Wert der Dinge, sondern eher aus dem allgemeinen Konsens beider Parteien, nämlich der Verkäufer und der Käufer, frei im Voraus geschieht. Denn das bringt weniger Gefahr der Sünde des Betrugs mit sich. Jenes hingegen könnte kaum ohne Sünde geschehen, denn der genaue und absolute Wert der Dinge ist kaum irgendjemandem mit Gewissheit und vollständig bekannt, folglich etc.

Gegenargumente 6  Dagegen: Andere zu täuschen und es darauf anzulegen und zu versuchen, sie zu täuschen, ist eine Sünde und gegen das rechte und natürliche Streben der Menschen und gegen die Treue der Freundschaft und gegen die Aufrichtigkeit der Wahrheit und der Gerechtigkeit, denn allen missfällt es natürlicherweise, getäuscht zu werden. Nun gehört es aber zur Rechtheit des göttlichen Gesetzes, der Liebe und des Naturrechts, dass wir keinem etwas antun, von dem wir nach rechtem und natürlichem Streben nicht wollen, dass es uns angetan wird.3 Die Falschheit aber und die Täuschung bzw. der Betrug, der im Täuschen und im Willen zu täuschen liegt, ist dem göttlichen Willen und den Gesetzen Gottes entgegen, mittels derer er will, dass wir allen gegenüber treu und wahrhaftig sind. Wer aber wissentlich eine Sache zu einem höheren Preis verkauft, als sie wert ist, betrügt im Allgemeinen und legt es darauf an, den Käufer zu betrügen, denn gewöhnlich will kein Käufer eine Sache für einen höheren Preis kaufen (noch nimmt man an, er wolle es), als sie wert ist. Und entsprechend, wer wissentlich eine Sache für weniger kauft, als sie wert ist, betrügt den Verkäufer und legt es darauf an, ihn zu betrügen, denn alle wollen gewöhnlich (und man nimmt an, dass sie es wollen) ihre Sachen nicht zu einem geringeren Preis verkaufen, als sie wert sind, folglich etc. 7 Außerdem, die Tauschgerechtigkeit besteht in der realen Gleichheit bzw. Gleichwertigkeit der getauschten Dinge, wie auch

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De empcionibus et vendicionibus

quod suum est, vel quod sibi debetur, consistit in reali adequacione redditi ad debitum, ut scilicet non minus sed tantumdem reddas quantum debes. Ergo contra equitatem iusticie commutative est rem scienter vendere plus quam valeat, aut emere minus quam valeat. 〈 distinctiones  〉

8  Dicendum quod dupliciter sumitur valor rerum. Primo scilicet, secundum realem bonitatem sue nature et hoc modo mus vel formica valet plus quam panis, quia illa habent animam, vitam et sensum, panis autem non. Secundo modo sumitur in respectu ad usum nostrum, et hoc modo quanto aliqua sunt nostris usibus utiliora, tanto plus valent, et secundum hoc plus valet panis quam mus vel bufo. Quia autem actus vendendi et emendi ad usum humane vite ordinantur, et eciam sunt quidam usus, idcirco in eis valor ­rerum venalium sumitur et pensatur modo secundo, non primo. 9  Rursus sciendum quod huiusmodi valor seu usus rerum venalium et usualium tripliciter pensatur. Primo scilicet, secundum quod res ex suis realibus virtutibus et proprietatibus est nostris utilitatibus virtuosior et efficacior, et hoc modo optimus panis triticeus plus valet nobis ad esum quam ordiaceus, et fortis equus ad vecturam vel bellum quam asinus vel roncinus. 10  Secundo modo, secundum quod res ex sue invencionis raritate et difficultate sunt nobis magis necessarie, pro quanto ex earum penuria, maiorem ipsarum indigenciam et minorem facultatem habendi et utendi habemus, et secundum hoc, idem bladum plus valet

Über Käufe und Verkäufe

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die Gerechtigkeit, einem jeden das Seine bzw. das zu geben, was ihm zusteht, in der realen Angleichung des Gegebenen an das Geschuldete liegt, so dass du nämlich nicht weniger, sondern genauso viel gibst, wie du schuldest. Folglich ist es gegen die Gleichheit der Tauschgerechtigkeit, eine Sache wissentlich teurer zu verkaufen, als sie wert ist, oder billiger zu kaufen, als sie wert ist.

Unterscheidungen 8  Der Wert einer Sache wird auf zweifache Weise verstanden. Und zwar einmal nach der wirklichen Güte ihrer Natur, und auf diese Weise ist eine Maus oder eine Ameise mehr wert als ein Brot, denn diese haben eine Seele, Leben und Sinne, das Brot aber nicht.4 Zum anderen wird er mit Blick auf unseren Nutzen verstanden, und auf diese Weise ist etwas umso mehr wert, je nützlicher es für unseren Gebrauch ist, und in dieser Hinsicht ist das Brot mehr wert als eine Maus oder eine Kröte. Da aber die Akte des Verkaufens und des Kaufens auf den Bedarf des menschlichen Lebens hingeordnet sind und weil sie ihrerseits Bedürfnisse sind, so wird bei ihnen der Wert der verkäuflichen Sachen verstanden und gemessen auf die zweite Weise, nicht auf die erste. 9  Nun muss man [zweitens] wissen, dass ein derartiger Wert – der Gebrauch von Sachen, die man kaufen und gebrauchen kann – auf dreifache Weise beurteilt wird. Erstens nämlich, insofern die Sache infolge ihrer realen Qualitäten und Eigenschaften für unseren Nutzen wirksamer und effektiver ist, und auf diese Weise ist für uns ein sehr gutes Weizenbrot als Nahrungsmittel mehr wert als ein Gerstenbrot und ein starkes Pferd für Transport- oder Kriegszwecke [mehr wert] als ein Esel oder ein Klepper. 10  Zweitens, insofern die Sachen wegen ihrer Seltenheit und der Schwierigkeit ihrer Beschaffung für uns umso notwendiger sind, als uns aus ihrem Mangel ein größeres Bedürfnis danach und eine geringere Macht, sie zu haben und zu gebrauchen, erwächst, und demnach ist dasselbe Getreide zur Zeit von allgemeiner Teuerung und

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De empcionibus et vendicionibus

tempore communis caristie et famis seu penurie quam tempore quo multum abundat apud omnes, sic eciam quatuor elementa, scilicet aqua terra aer et ignis, sunt apud nos vilioris precii, propter eorum copiam, quam sit aurum vel balsamum, quamvis illa sint de se magis neccessaria et utiliora vite nostre. 11  Tercio, pensatur valor rerum secundum maius vel minus beneplacitum nostre voluntatis in huiusmodi rebus habendis. Uti enim, prout hic sumitur, est rem in facultatem voluntatis assumere vel habere, et ideo non modica pars valoris rerum utibilium pensatur ex beneplacito voluntatis, sive plus vel minus complacentis in usu huius vel illius rei, et in habendo illam rem ad votum; iuxta quod, unus equus est gracior uni et alius alteri, et unum ornamentum sive iocale uni, et aliud alteri, et hoc modo unus rem alteri vilem multum appreciat et reputat sibi preciosam et caram, et econverso. 12  Item, tercio sciendum quod huiusmodi pensacio valoris rerum usualium vix aut nunquam potest a nobis fieri, nisi per coniec­ turalem seu probabilem opinionem, et hoc non punctualiter seu sub racione et mensura indivisibili in plus et minus, sed sub aliqua latitudine competenti, circa quam eciam diversa hominum capita et iudicia differenter in estimando se habent, et ideo varios gradus et paucam certitudinem multamque ambiguitatem, iuxta modum opinabilium in se includit, quamvis quedam plus et quedam minus.

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Hunger bzw. Not mehr wert als zu einer Zeit, in der es alle in großem Überfluss haben. So haben auch die vier Elemente, nämlich Wasser, Erde, Luft und Feuer bei uns wegen ihrer Menge einen geringeren Preis als Gold oder Balsam, obwohl jene an sich für unser Leben notwendiger und nützlicher sind. 11  Drittens wird der Wert der Sachen beurteilt nach dem größeren oder kleineren Wohlgefallen, das unser Wille daran hat, derlei Sachen zu besitzen. Gebrauchen, wie es hier verstanden wird, ist nämlich, die Sache in die Macht des Willens zu bekommen bzw. zu haben, und daher wird ein nicht geringer Teil des Werts von Gebrauchsgegenständen nach dem Wohlgefallen des Willens beurteilt, ob er mehr oder weniger Wohlgefallen am Gebrauch dieser oder jener Sache findet, und daran, diese Sache nach Wunsch zu besitzen. Demgemäß ist das eine Pferd für den einen schöner und für den anderen ein anderes, und das eine Schmuckstück oder Kleinod für den einen, und ein anderes für einen anderen, und auf diese Weise bewertet der eine eine Sache, die für einen anderen wenig wert ist, hoch und hält sie für kostbar und teuer, und umgekehrt. 12  Ebenso muss man drittens wissen, dass ein derartiges Abwägen des Werts von Gebrauchsgegenständen kaum je oder niemals von uns erfolgen kann, es sei denn durch eine auf Vermutung oder Wahrscheinlichkeit gestützte Meinung, und das nicht exakt, d. h. unter einem Verhältnis und Maß, das nicht in mehr und weniger aufgeteilt werden kann, sondern unter einer angemessenen Bandbreite, hinsichtlich deren auch die verschiedenen Köpfe und Urteile der Menschen sich in der Einschätzung unterschiedlich verhalten. Und deshalb bringt es [das Abwägen] verschiedene Grade, wenig Gewissheit und viel Zweifel mit sich, entsprechend dem, was sich mut­maßen lässt – freilich manchmal mehr, manchmal weniger.

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〈 responsio  〉

13  Hiis ergo prenotatis, dicendum quod res non possunt licite vendi plus quam valeant, nec minus emi, pensato earum valore in respectu ad usum nostrum et ad probabile iudicium humane extimacionis mensurantis valorem infra limites latitudinis competentis. 14  Verumptamen in eorum limitum exitu non oportet semper esse peccatum mortale, nisi sit tantus et ita enormis quod in ipso contractu inequalitas et iniusticia equalitati et iusticie predominetur. Iuxta quod in lege civili cautum est, quod si emptor vel venditor ultra medietatem iusti precii defraudetur, quod contractus ille sit nullus et per iudices debeat irritari, quia quod res solum decem solidos stricte valens vendatur plus quam viginti solidis, excessus est aperte enormis. 15  Quod intelligo si defraudatus huiusmodi excessum ignoret, quia si sciens et advertens quantitatem excessus, consentit in talem precium et contractum, iam non est defraudatus. Quin pocius, sicut potest rem suam absque omni precio dare, sic si vult, potest eam pro sua centesima parte sui iusti precii dare, nec in hoc fit aliqua iniusticia sibi, nisi forte consensus eius ex tanta levitate et vicio sue voluntatis aperte vel presumptive procederet quod nullum aut insufficiens robur iuris et iusticie habere deberet, aut si ex tanta egestate vel alia necessitate compulsus hoc faceret quod a mere grata et gratuita voluntate non posset reputari exire, et quod secum sub tali modo contrahere non solum contra iusticiam, sed eciam contra caritatem et naturalem pietatem esset.

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Antwort 13  Dies vorausgeschickt, ist zu sagen, dass die Sachen nicht erlaubterweise über ihrem Wert verkauft werden dürfen und auch nicht unter ihrem Wert gekauft, nachdem ihr Wert mit Blick auf ­unseren Nutzen und auf das wahrscheinliche Urteil menschlicher Einschätzung veranschlagt wurde, die den Wert innerhalb der Grenzen einer entsprechenden Bandbreite bemisst. 14  Dennoch muss im Überschreiten dieser Grenzen nicht immer eine Todsünde liegen, es sei denn, dieses sei so groß und so ungeheuer, dass schon im Vertrag selbst die Ungleichheit und die Ungerechtigkeit gegenüber der Gleichheit und der Gerechtigkeit vorherrschen. Deswegen wird im Zivilgesetz5 sichergestellt, dass, wenn der Käufer oder der Verkäufer um mehr als die Hälfte des gerechten Preises betrogen wird, dieser Vertrag nichtig ist und durch die Richter für ungültig erklärt werden muss. Denn wenn eine Sache, die nur genau zehn Heller wert ist, für mehr als zwanzig Heller verkauft wird, ist das offenbar ein ungeheures Überschreiten. 15  Wobei ich unterstelle, dass der Betrogene von diesem Überschreiten nichts weiß; denn wenn er, um die Größe des Überschreitens wissend und sie sehend, in diesen Preis und Vertrag einwilligt, so wird er nicht mehr betrogen.6 Vielmehr, wie er seine Sache auch ohne jeden Preis weggeben kann, wenn er es so will, so kann er sie auch zum hundertsten Teil ihres gerechten Preises weggeben, und dabei geschieht ihm keinerlei Unrecht, es sei denn, seine Zustimmung ginge offensichtlich oder mutmaßlich aus so großem Leichtsinn und Willensmangel hervor, dass sie keinerlei oder nur unzureichende Rechts- (und Gerechtigkeits-) Kraft haben dürfte; oder wenn er es durch so großes Elend oder eine andere Notwendigkeit gezwungen täte, so dass man nicht annehmen könnte, es entspringe rein dem, was er frei und ungezwungen will, und dass mit ihm ­unter solchen Umständen einen Vertrag abzuschließen nicht nur gegen die Gerechtigkeit, sondern auch gegen die Nächstenliebe und das natürliche Mitgefühl verstieße.

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〈 ad argumenta  〉

16  Ad obiecta ergo utriusque partis respondendum Ad primum prime partis dicendum quod illud non est verum de communitate iustorum sed de sola communitate iniustorum et cupidorum. Iustus enim non vult contra iustum precium aliquid vendere vel emere, et perfecte iustus nichil penitus iniusticie ibi vult. Imperfecte a­ utem ­iustus non vult sibi iniusticiam iusticie predominantem et pro quanto aliquid iniusti precii ibi indebite vult, pro tanto aliquid de vicio iniusticie in se habet. 17  Ad secundum dicendum quod licet de iure non cogar rem meam vendere, cogor tamen in actu et contractu vendendi, formam et regulam iuris et iusticie observare, et ideo in actu vendendi non licet michi rei mee iniustum precium ponere et accipere, quia tunc non impono ut simpliciter mee, sed ut in alterum commutande. Huiusmodi autem imposicio efficaciter seu commutative includit accepcionem precii prevalentis; accipere autem prevalens inequalitatem includit. 18  Ad tercium dicendum quod si utriusque partis in tale precium vel taxacionem consensus non posset censeri involontarius, racione ignorancie et impericie, aut racione alicuius necessitatis ad hoc quodammodo compellentis, tunc racio bene procedit, verumque concludit, aliter autem non. Licet autem nostra estimacio in taxando rerum precium seu valorem non sit punctalis, nichilominus potest et debet illud sub congruis limitibus mensurari, alias excederet congruam et probabilem mensuram et regulam racionis. 19  Ad primum vero alterius partis, dicendum quod ubi ex libero et perito contrahencium consensu usualis rerum valor probabiliter

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Zu den Argumenten 16  Auf die Einwände beider Seiten ist also zu antworten. Zum ersten Einwand des ersten Teils ist zu sagen, dass das nicht wahr ist von der Gemeinschaft der Gerechten, sondern nur von der Gemeinschaft der Ungerechten und Gierigen. Der Gerechte will nämlich nicht etwas verkaufen oder kaufen, wenn es zum gerechten Preis in Widerspruch steht, und der vollkommen Gerechte duldet in diesem Punkt nicht die geringste Ungerechtigkeit. Der unvollkommen Gerechte aber will für sich nicht, dass die Ungerechtigkeit gegenüber der Gerechtigkeit vorherrscht, und insoweit er dort etwas an ungerechtem Preis ungebührlich will, insoweit hat er etwas vom Laster der Ungerechtigkeit in sich. 17  Zum zweiten ist zu sagen, dass, wenn ich auch rechtlich nicht gezwungen bin, meine Sache zu verkaufen, so bin ich doch gezwungen, im Akt und Vertrag des Verkaufs die Form und Regel von Recht und Gerechtigkeit zu beobachten, und daher ist es mir nicht erlaubt, im Akt des Verkaufens für meine Sache einen ungerechten Preis anzusetzen und anzunehmen, denn dann setze ich ihn nicht nur einfach als für meine Sache an, sondern als eine, die mit einem anderen getauscht werden soll.7 Ein solcher Preisansatz aber bringt es effektiv bzw. im Austausch mit sich, dass der höhere Preis genommen wird; einen höheren Preis zu nehmen bedeutet aber eine Ungleichheit. 18  Zum dritten ist zu sagen, dass, wenn die Zustimmung beider Seiten zu einem solchen Preis bzw. zur Preis-Festlegung nicht als unfreiwillig gelten könnte, auf Grund von Unwissen und Unerfahrenheit oder auf Grund irgendeiner Notwendigkeit, die gewissermaßen dazu zwingt, dann funktioniert das Argument und der Schluss ist wahr – andernfalls aber nicht. Denn wenn auch unsere Schätzung beim Festlegen des Preises bzw. Wertes der Dinge nicht genau ist, so kann und muss er nichtsdestoweniger innerhalb schicklicher Grenzen bemessen werden, sonst würde er das schickliche und annehmbare Maß und die Regel der Vernunft überschreiten. 19  Zum ersten Gegenargument aber ist zu sagen, dass, wo der übliche Wert von Sachen aus der freien und kundigen Übereinstim-

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estimatur et taxatur, neuter fallit comparem, nisi forte per accidens et preter intencionem, imo et contra suam intencionem quia, quantum est ex modo talis estimacionis talisque contractus, suo compari equalitatem servare intendit, licet aliquando propter incertitudinem estimandi contrarium contingere possit. 20 Ad secundum dicendum quod iusticia commutativa non consistit in reali equivalencia rerum secundum absolutum valorem suarum naturarum pensata, sed solum in equivalencia ad nostrum usum et utilitatem, modo superius dicto relata. 〈 Quaestio secunda  〉

21  Secundo queritur an secundum valorem utilitatis emencium vel quodcumque obsequium more conducticio recipiencium possit precium taxari; utpote si pocio vel herba medicinalis valet michi liberacionem a morte et ad restitucionem sanitatis impreciabilis, an dans iuste possit a me exigere precium sanacioni equivalens, sive impreciabile? 〈 argumenta  〉

22  Et videtur quod sic, quia sicut supra dictum est, valor et precium rerum venalium pocius pensatur in respectu ad nostrum usum et utilitatem quam secundum absolutum valorem suarum naturarum. 23  Item, equitas iusticie commutative est ut quantum utilitatis michi confers tantumdem tibi conferam.

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mung der Vertragschließenden glaubhaft geschätzt und festgelegt wird, keiner den Partner täuscht, es sei denn zufällig und unabsichtlich, ja sogar gegen die eigene Absicht. Denn insofern es an der Maßgabe einer solchen Schätzung und eines solchen Vertrages liegt, möchte jeder die Gleichheit mit seinem Partner bewahren, auch wenn wegen der Unsicherheit der Schätzung das Gegenteil herauskommen kann. 20  Zum zweiten ist zu sagen, dass die Tauschgerechtigkeit nicht in der realen Wertgleichheit der Dinge, beurteilt nach dem absoluten Wert ihrer Naturen, besteht, sondern lediglich in der Wertgleichheit im Blick auf unseren Gebrauch und Nutzen, wie weiter oben gesagt wurde.

Zweite Frage 21  Zweitens fragt sich, ob der Preis nach dem Nutzwert der Käufer bzw. derer, die mietweise irgendeine Leistung erlangen, festgelegt werden kann; z. B. wenn ein Heiltrank oder -kraut mir die Befreiung vom Tod und zur Wiederherstellung der unschätzbaren Gesundheit bringt, ob der Geber zu Recht von mir einen der Heilung gleichwertigen, d. h. unschätzbaren Preis verlangen kann.

Argumente 22  Anscheinend ja, denn wie oben gesagt wurde, wird der Wert und der Preis der käuflichen Dinge eher im Hinblick auf unseren Gebrauch und Nutzen beurteilt als nach dem absoluten Wert ihrer Naturen. 23  Ebenso, die Gleichheit der Tauschgerechtigkeit besteht darin, dass ich dir ebenso viel an Nutzen verschaffe, wie du mir verschaffst.

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〈 responsio  〉

24 Dicendum quod si precium rerum nostre vite necessariarum taxaretur secundum equivalenciam eius ad quod particulariter conferunt nobis, quodlibet talium precium esset quasi impreciabile. Nam, siphus aque scicienti, et si aquam non habeat morituro, valet in casu ipso infinitam substanciam auri et longe amplius. Quia ergo in contractibus civilibus et humanis, racio finalis est commune bonum omnium, idcirco equitas taxacionis preciorum fuit et est mensuranda per respectum ad commune bonum, prout scilicet expedit communi bono, quia nichil iniquius quam pro privatis et pro particularibus commodis communi et universali bono preiudicare. 25  Quia eciam in hoc ipso, particularis boni dissolucio forcius et diffusius continetur, quod et in proposito potest specialius enodari, quia si pro pugillo aque vel ignis michi summe necessarii, teneor tibi dare quantum valet vita ad quam michi confert, tunc eadem racione, in casu consimili, tu pro aque pugillo tantumdem teneberis michi dare, quod utique iniquum esset et intollerabile onus. Preterea hoc genus equitatis omnem pietatem et humanitatem radicitus enervaret, et precipue in casibus necessitatis maiori pietate et humanitate indigentibus. Absit autem quod virtuosa et vera equitas pietati et humane socialitati sic contrarietur. 〈 circumstancie communis taxacionis  〉

26  Sciendum ergo quod, quia precium rerum et obsequiorum est taxandum sub respectu ad ordinem boni communis, idcirco in huiusmodi est primo et principaliter attendenda communis taxacio et estimacio a communitatibus civilibus communiter facta; que qui-

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Antwort 24  Man muss sagen, dass, wenn der Preis der für unser Leben notwendigen Dinge nach der Gleichwertigkeit mit dem bemessen würde, was sie uns im Besonderen nützen, wäre der Preis für jedes von ihnen beinah unbezahlbar. Denn ein Becher Wasser ist für den Dürstenden, der, wenn er das Wasser nicht bekommt, stirbt, in diesem Fall so viel wert wie eine unendliche Menge Gold, ja weit mehr. Weil nun in den zivilen und humanen Verträgen der Endzweck das gemeine Wohl aller ist, deswegen war und ist die Billigkeit der Preisfestlegung zu bemessen im Hinblick auf das Gemeinwohl, insofern sie nämlich dem Gemeinwohl förderlich ist; denn nichts ist ungerechter, als für private und besondere Vorteile das allgemeine und globale Wohl zu beeinträchtigen. 25  Denn gerade darin liegt auch eine schlimmere und weiter reichende Abschaffung des Wohls des Einzelnen, was sich auch im vorliegenden Fall recht gut verdeutlichen lässt: Denn wenn ich für eine Handvoll Wasser oder Feuer, die mir höchst notwendig ist, dir so viel geben muss, wie das Leben wert ist, wozu sie mir nützt, dann wirst du, aus dem gleichen Grund, in einem vergleichbaren Fall mir für eine Handvoll Wasser genauso viel geben müssen. Das wäre eine durchaus ungerechte und untragbare Last. Außerdem würde diese Art von Gleichheit jedes Mitgefühl und jede Art von Menschlichkeit von Grund aus schwächen, vor allem in Notfällen, die besonders viel Mitgefühl und Menschlichkeit brauchen. Es darf also nicht sein, dass die tugend- und wahrhafte Billigkeit dem Mitgefühl und dem menschlichen Miteinander so sehr entgegensteht.

Umstände der allgemeinen Bewertung 26  Man muss also wissen, dass, weil der Preis für Dinge und Dienste im Hinblick auf die Ordnung des Gemeinwohls festzulegen ist, hierbei zuerst und vor allem die im Allgemeinen von Zivilgesellschaften vorgenommene Bewertung und Schätzung beachtet wer-

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dem in huiusmodi comprobatur quatuor circumstancias communiter observare. 27  Prima est quod observat quemdam naturalem ordinem rerum utibilium. Sicut enim quedam ipsarum sunt quasi materia et materialia aliorum, ut sunt elementa mixtorum, sic eciam eorum usus est in nobis vilior quam sit suorum nobilium mixtorum, sicut patet in usu aque respectu usus vini, et in usu terre respectu panis vel tritici. Sicut eciam quedam secundum suam naturam sunt cicius corruptibilia, aut male et dure ductibilia, quedam vero durabiliora et ductibiliora, sic et in nostris usibus quedam cicius consumuntur, ymo et quorumdam usus est ipsorum consumpcio, sicut patet in potu et cibo. Quedam vero sunt in suo usu durabiliora et ductibiliora sicut patet in usu equi et auri. 28  Rursus, sicut quedam sunt aliis naturaliter pulcriora et graciosiora, sic et usui nostre voluntatis nostrorumque sensuum sunt communiter complacibiliora sicut patet in coloribus tincturarum ac vestium et gemmarum et in odoribus aromatum et in sonis diversis musicorum vasorum. Quia ergo in hiis communis ordo nature concurrit cum communi ordine nostri usus, hinc est quod communis estimacio in preciis prefert* ultima premissis. 29  Secundo observat in hiis communem cursum copie et inopie seu paucitatis et habundancie. Unde et commune verbum est quod omne rarum carum est et preciosum, et quod nimia habundancia et familiaritas parit contemptum. Quanto enim rarius et difficilius aliquid adire possumus et habere, tanto supra nostram facultatem altius et admirabilius extimamus. Ardua enim nobis et insolita admiramur, et ideo ubi aurum vel triticum communiter multum habundant, non tanti precii extimantur sicut quando communiter grandis

*  Lesart der Codices ABC (M: praeferret), statt »prefertur«. Vgl. Sylvain Piron: Pierre de Jean Olivi, Traité des contrats, Paris (Les belles lettres) 2012, S.  112, zu Nr.  28, Z.  15.

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den muss. Es besteht Konsens, dass diese hierbei im Allgemeinen vier Umstände berücksichtigt. 27  Der erste: Sie berücksichtigt eine gewisse natürliche Ordnung der nutzbaren Dinge. Denn wie einige von ihnen gewissermaßen Materie und Material für anderes sind, wie die Elemente der zusammengesetzten Dinge, so ist auch ihr Nutzen für uns von geringerem Wert als der der daraus zusammengesetzten edlen Dinge, wie beim Gebrauch des Wassers gegenüber dem Gebrauch des Weines erhellt oder beim Gebrauch der Erde mit Rücksicht auf das Brot oder den Weizen. Denn so wie einige Dinge von Natur schneller verderblich sind oder schlecht und schwer formbar, einige aber dauerhafter und leichter formbar, so werden auch dadurch, dass wir sie benutzen, ­einige schneller verbraucht, ja bei einigen ist der Gebrauch identisch mit dem Verbrauch, wie man bei Speis und Trank sieht. Einiges aber ist im Gebrauch dauerhafter und formbarer, wie im Gebrauch eines Pferdes oder von Gold klar ist. 28  Weiter: So wie manche Dinge von Natur schöner und angenehmer sind als andere, so sind sie auch im Allgemeinen für den Gebrauch seitens unseres Willens und unserer Sinne wohlgefälliger, wie man bei den Farben der Tinkturen, der Kleider und der Edelsteine und beim Duft von Spezereien und bei den verschiedenen Klängen der Musikinstrumente sieht. Bei diesen stimmt nämlich die allgemeine Ordnung der Natur mit der allgemeinen Ordnung unseres Gebrauchs überein, daher gibt die allgemeine Wertschätzung in den Preisen den Letzteren den Vorrang gegenüber den anderen. 29  Zweitens berücksichtigt sie dabei den allgemeinen Trend, was Masse und Mangel bzw. Knappheit und Überfluss betrifft. Daher ist es auch ein allgemeiner Spruch, dass alles Seltene teuer8 und kostbar ist und dass zu große Fülle und Vertrautheit Geringschätzung bewirkt. Je seltener und schwieriger nämlich wir etwas erreichen und haben können, desto mehr halten wir es für unsere Möglichkeiten übersteigend und bewunderungswürdig. Denn wir bewundern das, was für uns schwierig und ungewöhnlich ist, und deshalb werden Gold und Weizen, wo sie im Allgemeinen im Überfluss da sind, nicht zu so hohem Preis veranschlagt, wie wenn im Allgemeinen

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inopia est ipsorum. Et idem est ubi communis copia vel inopia medicorum vel advocatorum aut pugilum vel fossorum. 30 Tercio, observat laborem ac periculum et industriam adductionis rerum vel obsequiorum. Nam merces vel operosa obsequia quo maiori labore et periculo communiter adducuntur vel fiunt, plus ceteris paribus in precio ponderamus. Unde et in terris que communiter plus distant a mercibus Francie vel ultra marinis, sunt communiter maioris precii. Ipse merces que eciam maiorem industriam exigunt, maioris precii communiter ceteris paribus extimantur. Et ideo fossori aut cesori lapidum, quamquam plus corpore laboranti, non tantum precium datur sicut architectori qui cum altiori pericia et industria, fossori aut cesori precipit et dictat agenda. Propter hoc eciam bladum est maioris precii quam herbe silvestres in medicinalibus efficaciores, quia non cum tanto et tam diuturno labore et industria excoluntur, nec cum tantis expensis eorum sufficiencia communiter optinetur. 31  Quarto observat communem gradum et ordinem officiorum et dignitatum eis annexarum. Unde et maiora stipendia dantur duci quam militi, et militi quam scutifero vel pediti, cuius racio est triplex. 32  Quarum prima ex predictis habetur, quod ad altiora officia debite exequenda exigitur maior pericia et industria et amplior sollicitudo mentalis, et eciam quia multo et diuturno studio ac experiencia et labore, multisque periculis et expensis communiter adquiritur pericia et industria talis, et eciam quia rari et pauci sunt ad hoc ydonei, et ideo in maiori precio reputantur.

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großer Mangel an ihnen herrscht. Und das gleiche gilt, wo es eine allgemeine Menge oder Not an Ärzten, Advokaten, Faustkämpfern oder Erdarbeitern gibt. 30  Drittens berücksichtigt sie die Mühe und die Gefahr sowie den Fleiß, womit die Dinge bzw. die Dienstleistungen bereitgestellt werden. Denn Waren oder beschwerliche Dienstleistungen bewerten wir, unter sonst gleichen Umständen, höher im Preis, wenn sie gewöhnlich mit größerer Mühe und Gefahr bereitgestellt bzw. erbracht werden. Daher haben sie auch in Gebieten, die generell von den französischen oder überseeischen Waren weiter entfernt sind, gewöhnlich einen höheren Preis.9 Die Waren, die auch mehr Aufwand erfordern, werden unter sonst gleichen Umständen gewöhnlich zu einem höheren Preis taxiert. Und daher wird dem Erdarbeiter oder dem Steinhauer, obwohl er körperlich mehr arbeitet, kein so hoher Preis bezahlt wie dem Baumeister, der mit überlegenerer Erfahrung und Fachwissen dem Erdarbeiter oder dem Steinhauer Befehle gibt und sagt, was zu tun ist. Deshalb ist auch das Getreide teurer als die medizinisch wirksameren Waldkräuter, denn sie werden nicht mit so großer und lang dauernder Arbeit und Mühe angebaut, noch bedarf es so großen Aufwands, um zu erreichen, dass sie zur Genüge vorhanden sind. 31  Viertens berücksichtigt sie den allgemeinen Rang und die Ordnung der Ämter und der damit verbundenen Würden. Daher erhält der Heerführer höheren Lohn als der Ritter und der Ritter mehr als der Schildträger oder Fußsoldat. Dafür gibt es einen dreifachen Grund. 32  Der erste ergibt sich aus dem Vorhergehenden, nämlich dass zur korrekten Führung höherer Ämter mehr Erfahrung und Fachwissen und ein größerer mentaler Einsatz erforderlich sind; auch weil solche Erfahrung und Fachwissen gewöhnlich durch vieles und langes Studieren, durch mühevolles Ausprobieren, durch viele Gefahren und Kosten erworben werden; und auch weil die dafür ­Geeigneten selten und wenige sind und ihnen daher höherer Lohn ­zuerkannt wird.

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33  Secunda racio est quia ad honorem et utilitatem civilis communitatis facit quod superiores reverencius et cumulacius in quadam sensibili superioritate et dignitate serventur, quamvis ipsi superiores, et precipue si sunt evangelici status, in se ipsis exemplar et opera humilitatis et sanctitatis debeant exhibere vel exercere pocius quam cultum temporalium. 34  Tercia racio est quia superiora officia ut sepius egent pluribus sumptibus. Dux enim exercitus ad totum exercitum et diversorum preliorum concursum debite gubernandum, pluribus eget quam quicumque inferiorum. 35  Predictis igitur quatuor circumstanciis communiter observatis, taxantur et taxanda sunt racionabiliter precia, iuxta quod tolerabilius et salubrius communitati expedit, omnibus hinc inde et ex omni parte pensatis. Singuli autem in suis singularibus contractibus vel exactionibus sumptuum debent sequi formam et regulam communium extimacionum et taxacionum, ne pars turpiter et irregulariter et inobedienter disconveniat* suo toti et ne quilibet pro libitu preiudicet utilitati communi, ac per consequens communi iusticie et pietati. 〈 ad argumenta  〉

36  Ad primum igitur in contrarium patet ex predictis, quia precium utibilium pensatur in respectu ad usum nostrum, sub ordine et respectu ad commune bonum et ad ipsius usum communem, non autem sub respectu sibi contrario vel nocivo. 37  Ad secundum dicendum quod quantum michi confers secundum racionem communis boni communiter extimancium, tantum tibi reddere debeo, non autem aliter propter raciones prefatas. Hoc

*  Lesart des Codex C (statt »disconveniant«). Vgl. Piron, S.  116, zu Nr.  35, Z.  20.

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33  Der zweite Grund ist, weil es zur Ehre und zum Nutzen der Zivilgesellschaft gehört, dass man die Oberen in einer merklichen Höherstellung und Würde hält, obwohl die Oberen selbst – besonders wenn es Geistliche sind – in ihrer Person eher ein Musterbild abgeben und Werke von Demut und Heiligkeit vollbringen sollen als den Kult zeitlicher Güter. 34  Der dritte Grund ist, dass die höheren Ämter meistens mehr Aufwand erfordern. Der Heerführer braucht nämlich, um das ganze Heer und die verschiedenen Kampfhandlungen ordentlich zu befehligen, mehr Mittel als irgendeiner seiner Untergebenen. 35  Wenn also die vier genannten Umstände im Allgemeinen berücksichtigt worden sind, können und müssen die Preise vernünftig festgelegt werden, je nachdem, was für die Gemeinschaft tragbarer und tauglicher ist, nachdem alles unter allen Gesichtspunkten erwogen wurde. Die Einzelnen aber sollen in ihren individuellen Verträgen oder beim Eintreiben von Kosten dem Modell und der Richtschnur der allgemeinen Schätzungen und Bewertungen folgen, damit nicht der Teil auf hässliche, ungeregelte und widerspenstige Art in Dissonanz mit seinem Ganzen steht und damit nicht ein jeder nach seinem Gutdünken dem allgemeinen Nutzen und folglich der allgemeinen Gerechtigkeit und Pietät Abbruch tut.

Zu den Argumenten 36  Zum ersten Gegenargument ist also aus dem vorher Gesagten klar, dass der Preis für die Gebrauchsgüter mit Rücksicht auf unseren Nutzen beurteilt wird, mit Hinordnung und Rücksicht auf das gemeinschaftliche Gute10 und auf dessen gemeinschaftliche Nutzung, nicht aber unter einer ihm entgegengesetzten oder schädlichen Hinsicht. 37  Zum zweiten ist zu sagen: Wie viel du mir nützt nach Maßgabe des Gemeinwohls, wie es im Allgemeinen veranschlagt wird, so viel muss ich dir zurückgeben, nicht aber auf andere Weise. Denn

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autem non esset equitas virtuose iusticie sed pocius iniquitas crudelis et inhumana. 〈 Quaestio tertia  〉

38  Ex predictis autem patet tercia questio hic querenda, an scilicet ex caristia seu inopia communi vel personali, possit precium rerum augeri. 〈 argumenta  〉

39  Posset enim argui quod non, ymo pocius minui, quia caritas et pietas et egencium necessitas tunc pocius exigit precium minui quam augeri. 40  Item, secundum hoc, qui tocius terre bladum congregat sibi, posset pro libitu augere precium eius et absque peccato quantamcumque inducere caristiam, quod nullo modo est concedendum, quia hoc est in apertum preiudicium et exterminium boni communis et eciam pietatis. 41  In oppositum vero est quia, ut superius est dictum, una de causis quare eadem res secundum se non meliorata pluris precii extimatur est eius inopia. Unde et communis penuria bladi caristiam eius inducit et caristia vocatur. 〈 responsio  〉

42  Dicendum quod communis inopia rei alicuius caristiam communem inducit. Primo quidem quia talium rerum a se alienacio est habenti difficilior et eius vendicacio est carior emptori vel possessori.

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das wäre nicht die Gleichheit der tugendhaften Gerechtigkeit, sondern eher eine grausame und unmenschliche Ungerechtigkeit.

Dritte Frage 38  Aus dem vorher Gesagten aber erhellt die dritte Frage, die hier zu stellen ist, nämlich ob aus Teuerung oder allgemeiner bzw. persönlicher Not der Preis der Dinge erhöht werden kann.

Argumente 39  Man könnte nämlich behaupten, dass nicht, ja dass er im Gegenteil eher vermindert werden kann, weil die Nächstenliebe, das Mitgefühl und die Not der Bedürftigen dann eher verlangt, den Preis zu senken, anstatt ihn zu erhöhen. 40 Außerdem könnte demzufolge, wer das Getreide der ganzen Erde für sich aufhäuft, nach Belieben dessen Preis erhöhen und ohne Sünde eine noch so hohe Teuerung herbeiführen. Das kann keinesfalls zugestanden werden, denn das ist zum offensichtlichen Schaden und Ruin des Gemeinwohls und auch der Solidarität.11 41 Für das Gegenteil freilich spricht, dass – wie oben gesagt wurde – einer der Gründe, weshalb dieselbe Sache, obwohl an sich nicht verbessert, zu einem höheren Preis veranschlagt wird, ihre Knappheit ist. Daher führt auch der allgemeine Mangel an Getreide dessen Teuerung herbei und wird Not12 genannt.

Antwort 42  Man muss sagen, dass die allgemeine Knappheit einer Sache eine allgemeine Teuerung nach sich zieht. Und zwar erstens, weil es dem, der solche Sachen hat, schwerer fällt, sich von ihnen zu trennen und der Anspruch darauf den Käufer bzw. den Besitzer teurer

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Secundo quia, si tunc precium non liceret augeri, hoc ipsum esset in preiudicium boni communis, quia habentes non sic prompte et communiter non habentibus et egentibus res huiusmodi vendere vellent, et ideo minus bene communi egestati provideretur. 43  Sed in specialibus egestatibus singularium personarum, hoc locum non habet, quin pocius in hoc deviaretur a communi taxacione boni communis. Utpote si modius tritici in terra ista venditur communiter pro decem libris, quod quis in eadem terra alicui ibidem egenti vendat tunc modium pro viginti libris, est aperta ­deviacio a taxacione communi, que est et debet esse exemplar et regula suarum parcium et suorum inferiorum. Si tamen aliquis suum bladum nulli pro illo tempore vendere decrevisset, sed ob egentis instanciam ducitur ad vendendum, tunc non immerito posset precium eius augere, sub modo tamen non sapiente usuram, et quod augmentum non sit racionabilem limitem et mensuram excedens. Ex hiis autem patet ad obiecta utriusque partis. 44  Si vero queras an liber qui in principio studii poterat vendi pro centum et in medio vel in fine non posset communiter vendi nisi pro quinquaginta, et tamen alicui illum ementi datur tunc pro centum, pro eo quod non potest tunc alium venalem invenire, an scilicet hoc fiat licite; aut an ager vel villa secundum communem extimacionem valens centum, posset licite emi pro quadraginta quia post publicam preconizacionem vel exposicionem, non invenitur illi qui voluerit amplius dare. 45  Dicendum quod si propter hoc recedatur aliquantulum a precio communiter dato vel extimato, non est simpliciter illicitum, quia huiusmodi cause plus vel minus vendendi aliquo modo procedunt

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zu stehen kommt.13 Zweitens weil, wenn man dann den Preis nicht anheben dürfte, gerade das zum Schaden des Gemeinwohls wäre, denn die Besitzenden würden nicht so schnell und umstandslos an diejenigen verkaufen wollen, die solche Dinge nicht haben und ihrer bedürfen, und daher würde der allgemeinen Not noch weniger abgeholfen. 43  Aber in besonderen Notfällen einzelner Personen trifft das nicht zu, vielmehr würde darin von der allgemeinen Einschätzung des Gemeinwohls abgewichen. Wenn z. B. ein Scheffel Weizen in diesem Land für zehn Pfund verkauft wird: wenn jemand in demselben Land einem, der dort Not leidet, dann den Scheffel für zwanzig Pfund verkauft, so ist das eine offensichtliche Abweichung von der allgemeinen Einschätzung, die Vorbild und Richtschnur ist und sein muss für seine Gebietsteile und seine Untertanen. Wenn trotzdem jemand beschlossen hätte, sein Getreide zu jenem Zeitpunkt niemandem zu verkaufen, aber auf dringendes Bitten eines Bedürftigen sich zum Verkauf bewegen ließe, so könnte er nicht ohne Grund den Preis dafür erhöhen, freilich in einer Art, die nicht nach Wucher riechen darf, und so, dass die Erhöhung eine vernünftige Grenze und ein vernünftiges Maß nicht überschreitet.14 Daraus aber ergibt sich die Antwort auf die Einwände beider Seiten. 44  Fragst du aber, ob ein Buch, das zu Beginn des Studiums für hundert hätte verkauft werden können und in der Mitte bzw. am Ende im Allgemeinen nur für fünfzig verkauft werden könnte, und trotzdem wird es jemandem, der es kauft, dann für hundert gegeben, weil er nämlich zu diesem Zeitpunkt kein anderes zum Verkauf findet – ob das also erlaubterweise geschieht; oder ob ein Feld oder ein Landgut, das nach der allgemeinen Schätzung hundert wert ist, erlaubterweise für vierzig gekauft werden könnte, weil man nach ­einer öffentlichen Ausrufung bzw. Bekanntmachung niemanden ­dafür findet, der mehr zu geben bereit wäre: 45 So ist zu sagen: Wenn deswegen der allgemein gegebene bzw. geschätzte Preis ein wenig unterschritten wird, so ist das nicht schlechthin unerlaubt, denn Gründe dieser Art, etwas teurer oder

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ex communi habitudine communitatis ad illa vel alia pro tempore illo, seu ex communi habitudine communis temporis et communis aptitudinis vel ineptitudinis ad vendicionem vel emptionem talium rerum; propter quod, in respectu ad talem casum, communiter extimantur pro tanto cadere a suo precio communi, absolute seu simpliciter extimato. 46  Si vero, absque omni tali vel consimili respectu ad communitatem, commune precium augeatur vel diminuatur, propter solam personalem impotenciam vel necessitatem emptoris vel venditoris, tunc est ibi peccatum et inequalitas manifesta, nisi forte minucio vel excrescencia sit ita parva, quod aut infra extremos limites communis precii includatur, aut quasi insensibiliter illos excedat, aut nisi per viam communis incanti seu communis proclamacionis dicatur ›ad tantum precium est‹. Tunc enim pro illo precio potest res illa emi, quamvis longe plus valeat, quia huiusmodi communis proclamacio seu incantacio habet vim communis taxacionis rerum venalium, nec ex ignorancia parcium potest ibi sic fraus intervenire, sicut in ­contractibus occultis. 〈 Quaestio quarta  〉

47  Quarto queritur an venditor teneatur emptori dicere vel pandere omnes defectus rei vendende. 48  Et videtur quod sic, quia aliter videretur fallere emptorem. Item si quis fatuo vel puero vel valoris seu precii rerum venalium omnino ignaro et inexperto, scienter venderet rem plus quam valet, peccaret et tenetur restituere illud superaugmentum; ergo eadem ­racione in proposito tenebitur ad idem.

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billiger zu verkaufen, ergeben sich irgendwie aus dem allgemeinen Verhältnis der Gemeinschaft zu diesen oder anderen Dingen zu dieser Zeit bzw. aus dem allgemeinen Verhältnis der Zeit im Allgemeinen und der Geeignetheit bzw. Ungeeignetheit im Allgemeinen solcher Dinge zum Verkauf oder Kauf. Deshalb schätzt man im Allgemeinen, im Hinblick auf einen solchen Fall, dass sie nur insoweit aus ihrem gewöhnlichen Preisrahmen fallen, als man diesen als absolut bzw. schlechthin ansetzt. 46  Wenn aber, ohne jeden solchen oder ähnlichen Hinblick auf die Gemeinschaft, der gewöhnliche Preis angehoben oder vermindert wird nur wegen der persönlichen Bedürftigkeit bzw. Notlage des Käufers oder Verkäufers, dann ist dort die Sünde und die Ungerechtigkeit offensichtlich; es sei denn, die Verminderung bzw. Anhebung sei so gering, dass sie sich entweder innerhalb der äußersten Grenzen des gewöhnlichen Preises hält oder diese fast unmerklich übersteigt oder dass auf dem Wege einer allgemeinen Versteigerung oder einer allgemeinen Bekanntmachung gesagt wird, »so viel kostet es«. Dann kann nämlich die Sache zu diesem Preis gekauft werden, auch wenn sie viel mehr wert ist, denn eine allgemeine Bekanntmachung bzw. Versteigerung dieser Art hat die Kraft einer allgemeinen Schätzung der käuflichen Dinge, und es kann hier auch nicht aus der Unkenntnis der Parteien ein Betrug unterlaufen, wie bei den Geheimverträgen.

Vierte Frage 47  Viertens fragt sich, ob der Verkäufer gehalten ist, dem Käufer alle Mängel der Kaufsache zu sagen bzw. offenzulegen.15 48  Anscheinend ja, denn sonst scheint er ja den Käufer zu täuschen. Ebenso: Wenn jemand einem Dummkopf oder einem Knaben oder einem, der vom Wert bzw. Preis von Kaufsachen überhaupt keine Ahnung hat, wissentlich eine Sache über ihrem Wert verkaufte, würde er sündigen; er ist verpflichtet, jenes Zuviel zurückzugeben; also wird er aus dem gleichen Grund im vorliegenden Fall die gleiche Pflicht haben.

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49  Ad illud, dicendum quod defectus illos, ex quibus emptor ultra iustum precium enormiter falleretur, tenetur venditor pandere sibi, si tamen eos novit vel probabiliter opinatur, et precipue ubi ex hoc aliquod grave periculum contingere posset emptori: ut pote si navis quam tu vendis talem defectum habeat, ex quo emptor cum ipsa navigans periculum naufragii incurrere potest; et idem est de occulto defectu equi ex quo miles, emens illum, in bello ruere habet; et idem est de defectu siruporum et medicinalium confectionum, quas pigmentarii seu apotecarii vendunt; tunc enim venditor tenetur restituere omne dampnum inde contingens. 50  Si vero nullum periculum inde imminet emptori, nec iustum precium exceditur in vendendo, aut saltem non nimis notabiliter, et emptor censetur in emendo satis industrius et res venalis sibi exponitur diligenter pro libitu examinanda, tunc venditor non tenetur defectus illos dicere sibi, et maxime ubi illos non celat, nisi solum ut de re habeat iustum precium suum, quia sepe contingit quod si emptor illos sciret, nollet sibi iustum precium rei dare. Videtur tamen quod perfecti viri esset pandere illos, preterquam in casu in quo eorum revelacio plus obesset simpliciter quam prodesset; obesset quidem plus caritati, aut emptori aut bono communi. 51  Ex predictis patet responsio ad obiecta. Fallere enim addit super celare et maxime sumptum modo predicto. Non enim omnis celator veritatis est fallax, nec eciam est simile de fatuo et puero et omnino ignaro sicut de viro satis gnaro et industrio.

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49  Hierzu ist zu sagen, dass der Verkäufer verpflichtet ist, jene Mängel offenzulegen, auf Grund deren der Betrug am Käufer weit über den gerechten Preis hinausginge – vorausgesetzt, dass er sie kennt oder mit Wahrscheinlichkeit vermutet, und vor allem, wo daraus eine schwere Gefahr für den Käufer entstehen könnte: z. B. wenn das Schiff, das du verkaufst, einen derartigen Defekt hat, dass der Käufer, der damit in See sticht, in die Gefahr eines Schiffbruchs geraten kann. Das Gleiche gilt vom verborgenen Mangel eines Pferdes, auf Grund dessen der Ritter, der es kauft, in der Schlacht zu Fall kommt. Ebenso beim Mangel von Sirup und Medizin, die die Salbenhändler und Apotheker verkaufen. In so einem Fall ist nämlich der Verkäufer verpflichtet, jeden daraus folgenden Schaden zu ersetzen. 50  Wenn aber dem Käufer keinerlei Gefahr daraus erwächst und auch der gerechte Preis beim Verkauf nicht überschritten wird (oder wenigstens nicht allzu merklich), und man annimmt, dass der Käufer hinlänglich Kauferfahrung hat, und die Kaufsache ihm offen präsentiert wird, so dass er sie nach Belieben sorgfältig untersuchen kann: dann ist der Verkäufer nicht verpflichtet, ihm diese Mängel zu sagen, vor allem, wo er sie nicht verheimlicht, es sei denn nur, um für die Sache ihren gerechten Preis zu erhalten; denn oft passiert es, dass der Käufer, wenn er um sie wüsste, ihm den gerechten Preis nicht mehr geben wollte. Dennoch scheint es, dass es die Sache eines vollkommenen Mannes wäre, sie zu offenbaren, außer in dem Fall, dass ihre Offenbarung schlechthin mehr schaden als nutzen würde; sie könnte nämlich der Nächstenliebe, dem Käufer oder dem Gemein­wohl mehr schaden. 51  Aus dem Gesagten ergibt sich die Antwort auf die Einwände. Zu täuschen fügt nämlich dem Verheimlichen etwas hinzu, vor allem, wenn man es in besagter Weise versteht. Denn nicht jeder, der die Wahrheit verheimlicht, ist ein Betrüger, und es ist nicht das Gleiche, ob es sich um einen Dummkopf und einen Knaben bzw. einen ganz und gar Unwissenden handelt oder um einen Mann, der hinlänglich kundig und erfahren ist.

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〈 Quaestio quinta  〉

52  Quinto queritur an illud, quod in predictis contractibus illicite et culpabiliter excedit iustum precium, sit, secundum deum vel iure divino, illius a quo fuit illicite acceptum. 〈 argumentum  〉

53  Et videtur quod sic, quia quidquid in contractibus est illicitum, et peccatum est contra ius divinum, et ita nullum robur optinet a iure divino, ymo pocius opponitur; ergo nullus excessus precii illicitus potest iure divino adquiri peccanti in illo. Contra, quia secundum hoc omnis illicitus excessus precii esset adquirentibus mortale peccatum, quia esset usurpacio rei aliene in quantum aliene. Tenetur eciam quilibet emptor vel venditor omnem talem excessum restituere et ita omnes qui hoc non restituunt peccant mortaliter. 〈 responsio  〉

54  Dicendum est quod non omnis excessus iusti precii est eius a quo est habitus et acceptus, quod ad presens quadruplici racione probatur. 55  Prima est ex respectu ad totam communitatem, quia quod ex consensu et statuto communi et pro communi omnium salute procedit, eo ipso optinet equitatem et robur iuris communis; sed communis consensus et consuetudo vult quod non omnis excessus in huiusmodi sit restituendus, et hoc ipsum expedit temporali paci et spirituali saluti communitatis, et parcium eiusdem. Paci qui-

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Fünfte Frage 52  Fünftens fragt sich, ob das, was in den genannten Verträgen ungerechter- und schuldhafterweise den gerechten Preis überschreitet, nach Gott bzw. göttlichem Recht demjenigen zusteht, von dem es ungerechterweise erlangt wurde.

Argument 53  Anscheinend ja, denn alles, was bei Verträgen ungerecht ist, ist auch eine Sünde gegen das göttliche Recht, und so erhält es keinerlei Kraft vom göttlichen Recht, ja es stellt sich ihm sogar entgegen. Also kann kein unerlaubter Preisüberschuss nach göttlichem Recht [von demjenigen] erworben werden, der dagegen sündigt. Im Gegenteil, demnach wäre jeder unerlaubte Preisüberschuss für diejenigen, die davon profitieren, eine Todsünde, denn es wäre die Aneignung einer fremden Sache als einer fremden.16 Jeder Käufer bzw. Verkäufer ist also verpflichtet, jeden solchen Überschuss zurückzuerstatten, und so begehen alle, die das nicht tun, eine Todsünde.

Antwort 54  Es ist zu sagen, dass nicht alles, was über den gerechten Preis hinausgeht, demjenigen zusteht, von dem es erhalten und erlangt wurde. Das wird nun mit vierfacher Begründung bewiesen. 55  Die erste ergibt sich aus dem Hinblick auf die ganze Gemeinschaft. Denn was aus allgemeiner Übereinstimmung und Festlegung und zum allgemeinen Heil aller hervorgeht, erlangt eben dadurch die Ausgewogenheit und Kraft des allgemeinen Rechts. Die allgemeine Übereinstimmung und Gewohnheit will aber, dass nicht jeder solche Überschuss zurückgegeben werden muss; das fördert den zeitlichen Frieden und das geistliche Heil der Gemeinschaft und ihrer Teile. Den Frieden: weil sonst endlose Klagen und Strei-

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dem, quia alias infinite querimonie et litigia ex huiusmodi orirentur. Spirituali vero saluti, quia cum difficilimum sit ab huiusmodi contractuum excessibus se totaliter preservare et maxime in hominibus imperfectis inhiantibus lucro, ex quibus et in quibus maior pars communitatis humane consistit, periculosissimum omnibus esset, si nichil huiusmodi excessuum sibi vendicare et retinere liceret. 56  Secunda est ex respectu ad providenciam dei, que utique infirmitati humane post lapsum primi hominis in pluribus condescendit, nec exigit ab ea quicquid est perfecte et integerrime et rectissime equitatis. Recta enim racio docet quod aliter est regendus et ducendus infirmus et aliter sanus, et hinc est quod non omne vicium in huiusmodi imputatur ad mortale. Constat autem ex Decalogo et ex aliis divine scripture locis, quod omnis rapina et furtum et omnis deliberativa et electiva usurpacio rei aliene invito domino est nobis mortale peccatum; ergo excessus in huiusmodi preciis venalis non est rapina vel furtum nec usurpacio rei aliene. 57  Tercia racio sumitur ex forma propria et racione contractus commutativi. Nam ex utriusque partis libero et pleno consensu inchoatur et ratificatur, ita quod emptor vult sibi plus rem emptam quam precium eius et venditor econverso. Uterque eciam ex pleno consensu alienat a se primum dominium rei sue, illud in alterum totaliter transferendo. Et si in aliquo preter intencionem et extimacionem propriam defraudatur, citra tamen excessum enormem lege divina vel humana prohibitum, vult nichilominus contractum mutuum esse ratum et firmum. Et si libere et expresse omni tali legi renunciaret, pro quanto pro sua temporali indempnitate facit, aliter sibi nichil reddere inde tenetur, quia iam non esset ibi enormis, ymo

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tereien daraus entstünden. Das geistliche Heil: da es äußerst schwierig ist, sich vollkommen vor solchen Vertragsverletzungen zu bewahren – und da es vor allem bei den unvollkommenen Menschen, die nach Gewinn gieren (aus denen und in denen der größere Teil der menschlichen Gemeinschaft besteht), für alle äußerst gefährlich wäre, wenn sie nichts von einem solchen Überschuss für sich be­ anspru­chen und behalten dürften. 56  Die zweite ergibt sich im Hinblick auf die göttliche Vorsehung, die der menschlichen Schwachheit nach dem Fall des ersten Menschen in den meisten Dingen möglichst entgegenkommt17 und von ihr nichts verlangt, was zur vollkommenen, vollständigsten und gerechtesten Billigkeit gehören würde. Die rechte Vernunft lehrt nämlich, dass ein Kranker anders zu lenken und zu führen ist als ein Gesunder18, und daher kommt es, dass nicht jeder Fehler in derlei Dingen als Todsünde anzurechnen ist. Es ist ja aus den Zehn Geboten und anderen Stellen der Heiligen Schrift bekannt, dass jeder Raub und Diebstahl und jede mit Überlegung und Absicht, gegen den Willen des Eigentümers erfolgte Aneignung einer fremden Sache für uns eine Todsünde ist; nun ist aber das Übermaß bei solchen Preisen bei verkäuflichen Dingen kein Raub, Diebstahl oder An­eignung einer fremden Sache. 57  Der dritte Grund wird aus der besonderen Form und dem Wesen des Vertrags auf Gegenseitigkeit genommen. Denn er beginnt und wird bestätigt durch die freie und volle Zustimmung beider Parteien, so dass der Käufer für sich die gekaufte Sache mehr will als deren Preis, und der Verkäufer umgekehrt. Beide geben ja aus voller Zustimmung die vorherige Herrschaft über ihre Sache auf und übertragen sie vollständig auf den anderen. Und wenn sie in irgendeinem Punkt gegen ihre eigene Absicht und Einschätzung betrogen werden – freilich diesseits eines durch göttliches bzw. menschliches Gesetz verbotenen ungeheuren Übermaßes –, wollen sie nichtsdestoweniger, dass der wechselseitige Vertrag gültig und bestandskräftig bleibt. Und wenn einer freiwillig und ausdrücklich auf jedes solche Gesetz verzichten wollte, insofern es seiner zeitlichen Schadloshaltung dient, so ist man ihm nichts schuldig, denn hier gäbe es kein

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forte nullus excessus, quia sicut potuit totum absque omni precio dare, sic potuit et pro semipleno precio vendere sive dare. 58  Quarta racio sumitur ex incertitudine humane estimacionis ad extimandum mere iusta precia pretaxanda et ad precise discernendum excessus et defectus iusti precii. Propter quod, nisi proprio aut communi iudicio censeatur aut censeri debeat pro enormi, nec sic respectu nostri iudicii recedit a moderancia iusti precii sub competenti latitudine mensurandi, quin infra ipsum aliqualiter includatur, sicut mustum vel vinum acerbum vel acetosum non sic recedit a specie vini, quin includatur in ipsa. 〈 ad argumentum  〉

59  Ad primum igitur in contrarium, dicendum quod in huius­ modi contractibus sunt duo precipue attendenda, scilicet affectus et extrinseca materia et actio ipsius contractus. Affectus autem, pro quanto scienter vult aliquam inequalitatem in proximum, ut scilicet in huiusmodi contractibus meliorem partem habeat quam ille, pro tanto habet aliquid de iniusticia, que si non est mortalis, sufficit aut per contricionem et penitencialem satisfactionem aut per ignem purgatorii, sicut cetera peccata venialia, expiari. 60  Licet autem exterior actio aut commutacio secundum veridicam extimacionem sui precii contineat aliquantulam inequalitatem, in respectu tamen ad commune statutum et ad condescensivam dei legem et ad liberum consensum contrahencium, non habet inequalitatem, ymo pocius benignam et concessoriam ac salutiferam equitatem, et ideo quantum ad hoc, tam divino quam humano iure robur optinet firmitatis.

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ungeheures, ja vielleicht überhaupt kein Übermaß mehr; denn wie er das Ganze ohne jeden Preis hergeben konnte, so konnte er es auch zum halben Preis verkaufen bzw. hergeben. 58  Der vierte Grund wird aus der Unsicherheit menschlicher Einschätzung genommen, die Preise im Voraus ganz gerecht festzulegen und die Über- und Unterschreitung des gerechten Preises genau zu erkennen. Deshalb, wenn sie nicht auf Grund des eigenen oder des allgemeinen Urteils für ungeheuer befunden wird oder befunden werden muss, weicht er nach unserem Urteil nicht so sehr vom Maß des gerechten Preises ab, der ja mit einer entsprechenden Bandbreite zu bemessen ist, so dass er noch irgendwie darunterfällt, wie der Most bzw. der saure oder nach Essig schmeckende Wein nicht so sehr von der Artbestimmung des Weins abweicht, dass er nicht darunterfiele.19

Zum Argument 59  Zum ersten Gegenargument also ist zu sagen, dass in solchen Verträgen vor allem zwei Dinge beachtet werden müssen, und zwar die innere Einstellung und die äußere Materie bzw. der Vertragsakt selbst. Die innere Einstellung hat nämlich, inwiefern sie wissentlich dem Nächsten gegenüber eine gewisse Ungleichheit will (dass man nämlich in solchen Verträgen einen besseren Teil bekommt als jener), insofern etwas von Ungerechtigkeit an sich. Wenn diese keine Todsünde ist, so genügt es, dass sie entweder durch Reue und eine Bußleistung oder durch das Fegefeuer gesühnt wird, wie die anderen lässlichen Sünden auch. 60  Wenn auch der äußere Akt oder Tausch nach der wahrhaften Schätzung seines Preises eine kleine Ungleichheit beinhaltet, so hat er doch im Hinblick auf die allgemeine Festlegung, auf das entgegenkommende göttliche Gesetz und auf die freie Übereinkunft der Vertragschließenden keine Unregelmäßigkeit an sich, sondern vielmehr eine wohlwollende, kompromissbereite und heilbringende Billigkeit, und daher erhält er insofern, sowohl durch göttliches wie menschliches Recht, Bestandskraft.

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61  Verumptamen propter pravam affectus et naturalis commutacionis inequalitatem, de perfectione equitatis et iusticie esset quod omnis talis excessus scienter factus redderetur defraudato, aut saltem pro anima illius pauperibus erogaretur, quia in hoc plus proficeret defraudato, nisi et ipse gravi inopia laboraret. 〈 Quaestio sexta  〉

62  Sexto queritur an emens rem quamcumque, ut eam immutatam et immelioratam pro maiori precio vendat, sicut communiter faciunt mercatores, peccet in hoc mortaliter. 〈 argumenta  〉

63  Et videtur quod sic, quia officium cuius omnis principalis actus et intencio totaliter super iniquitate fundatur videtur esse mortale, quia non solum continet nimiam peccati frequenciam, sed eciam causalem et radicalem habitudinem ad illud; sed tota principalis actio et intencio officii lucrative mercacionis est ad iniquitatem seu ad inequalitatem, idest ad merces vili precio et minus quam ­valeant emendas et care et plus quam valeant vendendas. 64  Item Crisostomus Super Mattheum super illud capituli 21, Et eiciebat omnes vendentes et ementes de templo, dicit quod per hoc Christus designavit quod mercator nunquam potest deo placere, »et ideo nullus christianus debet esse mercator, aut si voluerit esse, eiciatur de ecclesia«. Et paulo post »qui emit et vendit non potest esse sine periurio«; necesse est enim ut iuret quod tantum valet res quam

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61  Doch wegen der verwerflichen Ungleichheit in der Einstellung und im natürlichen Tausch würde es zur Vollkommenheit der Billigkeit und Gerechtigkeit gehören, dass jede solche wissentlich begangene Überschreitung dem Betrogenen zurückerstattet oder wenigstens zum Heil seiner Seele den Armen gespendet würde, denn damit wäre dem Betrogenen mehr geholfen, wenn er nicht gerade selbst schwere Not leidet.

Sechste Frage 62  Sechstens wird gefragt, ob derjenige, der irgendeine Sache kauft, um sie unverändert und unverbessert zu einem höheren Preis zu verkaufen – wie es die Kaufleute gewöhnlich tun –, damit eine Todsünde begeht.20

Argumente 63  (1. Einwand) Anscheinend schon, denn ein Geschäft, dessen hauptsächliches Tun und Streben ganz auf Ungerechtigkeit basiert, scheint [für das Seelenheil] tödlich zu sein, denn es beinhaltet nicht nur eine allzu große Häufigkeit der Sünde, sondern auch ein ursächliches und inhärentes Verhältnis zu ihr; nun aber ist das hauptsächliche geschäftliche Tun und Streben des gewinnbringenden Handels auf Ungerechtigkeit bzw. auf Ungleichheit aus, d. h. darauf, Waren billig und unter ihrem Wert zu kaufen und sie teuer und über ihrem Wert zu verkaufen. 64  (2. Einwand) Ebenso, Chrysostomos sagt in seinem Kommen­ tar über das Matthäusevangelium zu jener Stelle im 21. Kapitel: »Und er trieb alle Verkäufer und Käufer aus dem Tempel hinaus«21, dass Christus dadurch zu erkennen gab, dass ein Kaufmann niemals Gott gefallen kann »und deshalb kein Christ Kaufmann sein darf, wenn er es aber doch sein will, soll er aus der Kirche hinausgeworfen werden«. Und kurz darauf: »Wer kauft und verkauft, kann nicht ohne Meineid sein«; er muss nämlich schwören, dass die Sache, die er ver-

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vendit. Et post »ille non est negociator qui rem comparat, non ut ipsam vendat integram et immutatam, sed ut opus ex ea faciat. Ille enim non ipsam rem vendit, sed magis artificium suum, utpote faber comparat ferrum et facit ferramentum, sed ferrum illud non tantum valet quantum ferramentum, sed secundum opus ferramenti appreciatur. Qui autem comparat rem ut illam ipsam integram et immutatam vendendo lucretur, ille est mercator qui de templo dei eiciatur ». 65  Super illud eciam Matthei 22, Et abierunt alius in villam suam, alius ad negociacionem suam: »Duobus inquit verbis omne opus humanum conclusit, honestum scilicet et inhonestum. Honestum quidem est ville cultura, sicut ait Sapiens, Ne oderis rusticacionem et agriculturam ab altissimo creatam. Inhonesta vero res est apud deum negociacionis opus sive dignitatis sive milicie », idest honores gerere coarcervare. Hec Chrisostomus. 66  Item Ecclesiastici 27 dicitur Qui querit locupletari avertit ocu­ lum suum scilicet a iusticia et a deo, quod probans vel declarans subdit, quia sicut in medio compaginis lapidum palus figitur, sic inter medium vendicionis et emptionis angustiabitur peccatis, scilicet ille qui querit locupletari; sed mercator est talis, ergo etcetera. 67  Item Zacharie ultimo, pro plena expurgacione peccati promittitur quod non erit mercator ultra in domo domini excercituum in die illa.

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kauft, so viel wert ist. Und weiter: »Der ist kein Kaufmann, der eine Sache kauft, nicht um sie ganz und unverändert zu verkaufen, sondern um ein Werk aus ihr zu schaffen. Der nämlich verkauft nicht eigentlich die Sache, sondern eher sein Werk, wie z. B. der Schmied Eisen kauft und [damit] ein Werkzeug macht – jenes Eisen aber ist nicht so viel wert wie das Werkzeug, sondern wird nach dem Werk – dem Werkzeug – geschätzt. Wer aber eine Sache erwirbt, um daraus Gewinn zu schlagen, dass er sie als dieselbe ganz und unverändert verkauft, der ist ein Kaufmann, der aus dem Tempel Gottes hinausgeworfen werden soll«.22 65  Zu der Stelle im 22. Kapitel des Matthäusevangeliums, »der eine ging auf seinen Acker, der andere in seinen Laden«23, sagt er: »Mit zwei Worten hat er alle menschliche Arbeit zusammengefasst, nämlich die anständige und die unanständige. Anständig ist der Ackerbau, wie der Weise sagt: Sei nicht leichtfertig bei der schwe­ ren Arbeit auf dem Acker, denn von Gott ist sie zugewiesen.24 Eine un­anständige Sache aber ist vor Gott das Handeltreiben, sei es mit Würden, sei es mit Ämtern«, das heißt, sich darum bemühen, Ehren­ stellen anzuhäufen. So weit Chrysostomus.25 66  (3. Einwand) Außerdem heißt es im 27. Kapitel von Jesus Sirach: »Wer Geld anzuhäufen sucht, wendet sein Auge ab«26, nämlich von der Gerechtigkeit und von Gott. Um das zu beweisen bzw. zu erläutern, fügt er hinzu: denn »wie sich zwischen zwei Steine ein Pflock stecken lässt, so wird zwischen Verkauf und Kauf von Sünden bedrängt«, nämlich derjenige, der sich bereichern will. Ein solcher aber ist der Kaufmann, folglich etc. 67  (4. Einwand) Außerdem wird im letzten Kapitel von Sacharja für die vollkommene Reinigung von der Sünde versprochen, dass »kein Händler mehr an jenem Tag im Haus des Herrn der Heere sein wird«.27

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〈 responsio  〉

68  Dicendum quod non est necesse hic directe et per se includi peccatum, quamvis hoc sit valde rarum et difficile. Quod autem hoc de se sit licitum, triplici racione et duplici testimonio et auctoritate probatur. 69  Prima racio sumitur ex manifestis commodis et necessitatibus provenientibus communitati ex actu et officio mercandi, et simul cum hoc ex honerosis laboribus et periculis et expensis et industriis ac pervigilibus providentiis que exigit officium illud. 70  Constat enim quod multa desunt uni urbi vel patrie, que habundant in altera patria. Illi eciam qui in agricultura et ceteris mechanicis officiis aut publico regimine vel milicia occupantur, non possunt commode et oportune diversas terras adire, ad res quibus indigent emendas et exinde apportandas. Pauci enim habent ad hoc industriam et periciam competentem. Propter quod communitati expedit ut huic officio aliqui ad hoc industrii mancipentur, quibus utique aliquod lucri emolumentum debetur, quia secundum Apostolum I Corinthios 9, Nemo militat suis stipendiis unquam. Et eciam vix umquam inveniretur qui absque lucro vellet huic operi deservire. 71  Rursus mercatores huiusmodi suas pecunias, et eciam personas ac deinde merces ex sua pecunia emptas, multis periculis exponunt, nec sunt certi an de mercibus emptis suum rehabeant capitale. Si eciam non essent industrii in rerum valoribus et preciis et commoditatibus subtiliter extimandis, non essent ad hoc ydonei. 72  Item, nisi essent honorabiles et fide digni, non eis a diversarum terrarum gentibus, prout huic officio expedit, crederetur. Si

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Antwort 68  Man muss sagen: Nicht notwendigerweise wird hier direkt und an sich eine Sünde impliziert, obwohl das sehr selten und schwierig ist. Dass das [Handeltreiben] aber an sich erlaubt ist, lässt sich dreifach durch Gründe und zweifach durch Zeugnis und Autori­tät beweisen. 69  Der erste Grund ergibt sich aus den offenbaren Vorteilen und [der Deckung von] Bedürfnissen, die der Gemeinschaft aus der Aktivität und der Dienstleistung des Handels erwachsen, und gleichzeitig damit aus den schweren Mühen, Gefahren, Kosten, Fleiß und wachsamer Umsicht, die dieses Geschäft erfordert. 70  Es ist ja bekannt, dass einer Stadt oder einem Land vieles fehlt, woran in einem anderen Land Überfluss herrscht. Auch können die, die im Ackerbau und anderen handwerklichen Tätigkeiten oder in der Verwaltung oder im Kriegsdienst beschäftigt sind, nicht bequem und günstig in verschiedene Länder reisen, um die Dinge, die sie brauchen, zu kaufen und dann mitzubringen. Denn wenige haben das dafür erforderliche Fachwissen und die Erfahrung. Deshalb ist es für die Gemeinschaft nützlich, dass für diesen Dienst einige freigestellt werden, die dafür den nötigen Eifer mitbringen, denen freilich ein Vorteil in Form von Gewinn geschuldet wird, denn wie der hl. Paulus im 1. Korintherbrief, Kap.  9, sagt: »Wer leistet denn Kriegsdienst und bezahlt sich selber den Sold?«28 Es würde sich auch kaum jemand finden, der sich dieser Tätigkeit ohne Gewinn widmen wollte. 71  Weiter: Kaufleute dieser Art setzen ihr Geld und auch ihre Person und schließlich die mit ihrem Geld gekauften Waren vielen Gefahren aus, und dabei sind sie nicht sicher, ob sie durch die gekauften Waren ihr Kapital29 zurückbekommen. Wenn sie sich nun die sorgfältige Schätzung der Werte, Preise und Chancen nicht angelegen sein ließen, wären sie dafür nicht geeignet. 72  Außerdem: Wenn sie nicht ehrbar und vertrauenswürdig wären, würde ihnen nicht von den Völkern verschiedener Länder – wie es für dieses Geschäft nötig ist – geglaubt werden. Und wenn sie

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eciam non essent pecuniosi, non possent grandes et caras merces prout terris expedit providere. Ex hiis autem aperte concluditur quod lucrum predictis circumstanciis competens inde possunt et debent reportare. Ex quo ulterius sequitur quod, usque ad aliquam mensuram congruam, possunt suarum mercium precium adaugere. 73  Secunda racio est ex eo quod, salvo eorum racionabili lucro, omnes a quibus emunt et quibus revendunt possunt inde lucrum competens reportare, sicut assidua experiencia docet. Quia quod in una terra est habundans et vile, in alia terra est rarum et carum et neccesarium et postquam artifices aut agricole de suis artificiis venditis lucrum competens habuerunt, possunt inde mercatores cum aliorum commodis lucrum competens reportare. 74  Tercia racio est a pari seu equivalenti et simul cum hoc ex lati­ tudine iusti pretii divisibili in maius et minus. 75  A pari quidem, quia emptor propter suam emptionem non sit deterioris condicionis quam prius rei empte artifex vel possessor. Sed dato quod prius, eam scivisset aut potuisset tantumdem vendere, quantum postea vendidit eam emptor vel mercator, constat quod hoc sibi licuisset, nisi iustum et racionabilem precium notabiliter excessisset, ergo eadem racione licet hoc mercatori. 76  Ex latitudine vero, quia sicut ars et industria artificis sibi licite fit lucrosa, sic industria mercatoris in rerum valore et precio prudencius examinando et ad subtiliores minucias iustum precium perducendo, potest sibi licite valere ad lucrum, et maxime cum in hoc, salva latitudine iusti precii, aliis communiter prosit eciam in solo hoc quod per hoc addiscent subtilius pensare rerum precia et valores.

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kein Geld hätten, könnten sie nicht Waren in großen Mengen und zu hohen Kosten beschaffen, wie die Länder sie brauchen. Daraus aber folgt offensichtlich, dass sie einen den genannten Umständen angemessenen Gewinn daraus erlangen können und müssen. Woraus weiter folgt, dass sie, bis zu einem gebührenden Maß, den Preis ihrer Waren anheben können. 73  Der zweite Grund ergibt sich daraus, dass, unbeschadet ihres angemessenen Gewinns, alle, von denen sie kaufen und denen sie verkaufen, daraus ihren eigenen Gewinn erlangen können, wie die stete Erfahrung lehrt. Denn was in einem Land im Überfluss da und billig ist, ist in einem anderen Land selten, teuer und notwendig; und nachdem die Handwerker oder die Bauern den ihnen zustehenden Gewinn vom Verkauf ihrer Produkte erhalten haben, können daraus die Kaufleute einen entsprechenden Gewinn mit den Vorteilen für die anderen [die Käufer] erlangen. 74  Der dritte Grund ergibt sich vom Gleichen bzw. Gleichwertigen und gleichzeitig damit aus der Bandbreite des gerechten Preises, der teilbar ist in Mehr oder Weniger. 75  Vom Gleichen: denn der Käufer darf wegen seines Kaufs nicht in einer schlechteren Lage sein als der Hersteller oder Eigentümer der gekauften Sache vorher [war]. Angenommen aber, dieser hätte sie für ebenso viel verkaufen können, für wie viel sie nachher der Käufer oder Kaufmann verkauft hat, so steht fest, dass ihm das erlaubt gewesen wäre, es sei denn, er hätte den gerechten und vernünftigen Preis spürbar überschritten. Also ist das aus dem gleichen Grund auch dem Kaufmann erlaubt. 76  Aus der Bandbreite: denn wie Fertigkeit und Fleiß des Handwerkers für ihn zu Recht gewinnbringend sind, so kann auch der Fleiß des Kaufmanns, indem er Wert und Preis der Dinge besonders umsichtig prüft und den gerechten Preis bis ins kleinste Detail nachvollzieht, ihm zu Recht zum Gewinn verhelfen, und zwar vor allem deshalb, weil er damit, wenn die Bandbreite des gerechten Preises gewahrt bleibt, auch den anderen gewöhnlich nützt, und sei es auch nur darin, dass sie dadurch lernen, Preis und Wert der Dinge sorgfältiger zu beurteilen.

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77  Preterea varie opportunitates et occasiones ad res comodius vendendas et emendas habent in civilibus et temporalibus suum locum et manant ab ordine providencie dei, sicut et cetera temporalia bona, et ideo si ex hoc quis lucretur, ex dei dono provenit pocius quam ex malo, solum mensuram debitam non excedat. 78  Quarto convicitur hoc ex Scriptura, quia si hoc esset de se peccatum, saltem mortale, expresse hoc prohibuisset, et maxime cum fere totus mundus in hoc semper et publice occupetur, quod non facit nisi solum aliquando racione alicuius circumstancie, ut est mercari in sabbato vel in templo, in quo ipsum actum secundum se concedere videtur. Unde primo Esdre capitulo ultimo, prohibetur quod nullus inferret onus in die sabbati, et quod negociatores non venderent venalia in sabbato, et sic supponi et concedi videtur quod ceteris diebus ebdomade licet. Iacobi eciam 4, ubi primo corripitur vana spes et aspectio futurorum actuum et lucrorum, ex quo quidam vane dicunt cras vel post annum mercabimur et lucrum facie­ mus, non interdicitur lucrosa mercacio, ymo pocius concedi videtur, cum concedit prout prefato modo loquendi dicant, si deus voluerit, et si vixerimus, faciemus hoc vel illud. 79  Quinto convincit hoc auctoritas et ecclesie universalis, que mercatores sub congrua mensura lucrantes non dampnat, ymo iustificat, nisi alia crimina subsint.

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77  Außerdem haben in öffentlichen und weltlichen Angelegenheiten verschiedene Gelegenheiten und Anlässe, Dinge bequemer zu verkaufen und zu kaufen, ihren Platz, und diese entspringen der Ordnung der göttlichen Vorsehung, wie auch die übrigen zeitlichen Güter, und wenn daher jemand davon profitiert, so kommt es eher aus einer Gabe Gottes als vom Bösen, wenn er nur das gebotene Maß nicht überschreitet. 78  Viertens überzeugt man sich davon aus der Hl. Schrift. Denn wenn das an sich Sünde (wenigstens Todsünde) wäre, hätte sie es ausdrücklich verboten, vor allem, da fast alle Welt immer und in aller Öffentlichkeit damit beschäftigt ist. Denn sie verbietet es nur hin und wieder auf Grund irgendeines besonderen Umstands, wie z. B. am Sabbat oder im Tempel Handel zu treiben, wobei es scheint, dass sie [die Hl. Schrift] die Tätigkeit selbst an sich erlaubt. Daher wird im ersten Buch Esra30 im letzten Kapitel verboten, dass jemand eine Last am Sabbat trägt und dass die Händler Waren am Sabbat verkaufen. So scheint sie anzunehmen und zu bestätigen, dass es an den übrigen Tagen der Woche erlaubt ist. Auch im 4. Kapitel des Jakobusbriefs, wo zuerst die eitle Hoffnung getadelt wird und die Erwartung künftiger Aktivitäten und Gewinne, woraufhin einige prahlerisch sagen, »morgen oder in ­einem Jahr werden wir Handel treiben und Gewinne machen«31 – da wird der gewinnbringende Handel nicht verboten, sondern scheint vielmehr zugestanden zu werden, da sie [die Schrift] erlaubt, dass sie nach der oben erwähnten Redeweise sagen, »wenn der Herr will, und wenn wir noch leben, werden wir dies oder jenes tun«.32 79  Fünftens beweist das die Autorität auch der universalen Kirche, die die Kaufleute, die im gebührenden Maß Gewinne machen, nicht verurteilt, sondern rechtfertigt, wenn nicht andere Vergehen dahinterstecken.

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〈 ad argumenta  〉

80  Ad primum ergo in contrarium dicendum quod licet in commutacione mercatoria, secundum absolutam sui consideracionem, sit defectus perfecte adequacionis precii ad rem emptam vel venditam, non tamen in comparacione ad communem utilitatem rei publice et ad mercatorum pericula et onera superius tacta. Predictus eciam adequacionis defectus non sic recedit ab equalitate quin aliquo modo contineatur in ipsa, iuxta quod superius est ostensum. Non est eciam verum quod iustus mercator velit vendere rem omnino plus quam valeat, ita quod omnino recedat a latitudine seu ab extremis limitibus iusti precii, quamvis a perfecta et indivisibili ­racione sui medii recedat. 81  Ad secundum, dicendum quod aut Crisostomus loquitur ibi exaggerative, pro eo quod pauci sunt mercatores qui prefatam mensuram iusticie intendant in suis mercacionibus et observent, et qui multis aliis viciis ibi non peccent, aut absque dubio non est in hoc dicto sequendus. Nullam enim habet pro se racionem cogentem vel Scripture auctoritatem, et certe ex illo loco sacre Scripture non pot­ est hoc trahi, quia ibi Christus generaliter irruit contra omnes vendentes et ementes in templo, non autem oportet omnes fuisse mercatores, loquendo de eis iuxta formam communem. Propterea Augustinus dicit »quid Christus fecisset si invenisset in templo truphantes aut aliqua per se mala agentes, quando eciam huiusmodi de se licita sic inde reiecit«, in quo Augustinus aperte supponit illa de se esse licita. 82  Ad tercium, dicendum quod illud verum est de eo qui querit ultra mensuram et indebite locupletari. Loquitur eciam ibi de emptione et vendicione, non racione sui et ex se, sed racione cupiditatum et fraudum ac mendaciorum et periuriorum et multarum

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Zu den Argumenten 80  Zum ersten Einwand ist zu sagen: wenn es auch im kaufmännischen Verkehr, absolut gesehen, einen Mangel gibt in der vollkommenen Angleichung des Preises an die gekaufte bzw. verkaufte Sache, so doch nicht im Vergleich zum allgemeinen Nutzen des Gemeinwesens und zu den oben berührten Gefahren und Lasten, die die Kaufleute tragen. Auch der besagte Mangel der Angleichung weicht nicht so sehr von der Gleichheit ab, dass sie nicht doch in irgendeiner Weise darin enthalten wäre, wie oben gezeigt wurde. Es ist ja auch nicht wahr, dass ein richtiger Kaufmann die Sache durchaus für mehr verkaufen will, als sie wert ist, so dass er ganz und gar von der Bandbreite bzw. den äußersten Grenzen des gerechten Preises abwiche, auch wenn er vom vollkommenen und unteilbaren Maß seiner Mitte abweicht. 81  Zum zweiten ist zu sagen, dass Chrysostomus hier entweder übertreibend spricht, weil es nämlich wenige Kaufleute gibt, die sich in ihren Geschäften um das genannte Maß der Gerechtigkeit bemühen und es beachten und die dabei nicht in vielen anderen Lastern sündigen – oder es ist ihm ohne Zweifel in diesem Ausspruch nicht Folge zu leisten. Denn er hat keinen zwingenden Grund oder die Autorität der hl. Schrift für sich, und gewiss kann man aus jener Stelle in der hl. Schrift das nicht ableiten. Denn dort geht Christus allgemein auf alle los, die im Tempel verkaufen und kaufen, nicht alle aber müssen Kaufleute gewesen sein, wenn er von ihnen in allgemeiner Form spricht. Deshalb sagt Augustinus: »Was hätte Christus getan, wenn er im Tempel Betrüger oder Leute, die etwas an sich Schlechtes tun, gefunden hätte, wenn er sogar solche, die an sich Erlaubtes tun, so von dort vertrieb?«33 Damit nimmt Augustinus offensichtlich an, dass jenes an sich erlaubt sei. 82  Zum dritten ist zu sagen, dass das wahr ist von demjenigen, der sich über das Maß und ungebührlich bereichern will. Die Rede ist hier ja von Kauf und Verkauf nicht mit Rücksicht auf das, was sie eigentlich und an sich sind, sondern mit Rücksicht auf die Begehrlichkeiten, Betrügereien, Lügen, Meineide und die vielen Gelegen-

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occasionum mali huiusmodi contractibus de facili et multipliciter annexarum. 83  Ad quartum dicendum quod illud verum est loquendo de domo domini pro statu glorie eterne patrie, aut religionis evangelice vel ecclesiastice quantum ad suos observatores, aut de negociacionibus in loco sacro, solum oracionibus et sacris actionibus dedicato, non autem simpliciter et generaliter. 〈 Quaestio septima  〉

84  Septimo queritur an rebus suis venalibus falsas mixturas aut composiciones occulte addentes, sicut plerumque venditores vini qui aquam vino vendendo commiscent, aut sicut quidam piper vel zinzeber artificiose seu dolose humectant, aut suis mendaciis venalium valorem et precium ultra debitum exaggerantes et ob hoc amplius vendentes, mortaliter peccent et teneantur ad restitucionem precii defraudati. 〈 argumentum  〉

85  Et videtur quod sic quia Ysaie 1, inter criminales iniusticias, commixtiones huiusmodi computantur cum dicitur: argentum tuum versum est in scoriam, vinum tuum mixtum est aqua, ubi alia littera habet caupones tui et tabernarii tui miscent vinum aqua. Dicit eciam argentum versum in scoriam per commixtionem scilicet stanni vel plumbi. Unde paulo post subdit, et excoquam ad purum scoriam tuam et auferam omne stannum tuum. 86  Dicendum quod si tales propter huiusmodi commixtiones, ­ultra extremos limites iusti precii vendunt, tenentur restituere totum illud quod est supra iustum precium. Si autem non intendunt

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heiten zum Bösen, die mit Verträgen dieser Art leicht und vielfach verbunden sind.34 83  Zum vierten ist zu sagen, dass das wahr ist, wenn vom Haus des Herrn im Stand der Glorie der ewigen Heimat die Rede ist oder im Stand eines Ordens (im Sinn des Evangeliums bzw. der Kirche35) – in Bezug auf diejenigen, die ihm Folge leisten – oder vom Handel an heiligem Ort, der nur für Gebete und heilige Handlungen geweiht ist, nicht aber schlechthin und allgemein.

Siebte Frage 84  Siebtens fragt sich, ob diejenigen, die ihren Waren heimlich falsche Mischungen oder Zusätze beigeben (so wie die Weinverkäufer meistens den Wein beim Verkauf mit Wasser mischen oder wie einige den Pfeffer oder den Ingwer künstlich bzw. in trügerischer Absicht anfeuchten), oder ob diejenigen, die den Wert und den Preis ihrer Waren mit ihren Lügen über Gebühr anheben und daher zu teuer verkaufen, eine Todsünde begehen und gehalten sind, den durch Betrug erzielten Preis zurückzuerstatten.36

Argument 85  Anscheinend ja, denn bei Jesaja, im 1. Kapitel, werden Mischungen dieser Art zu den kriminellen Rechtsverstößen gezählt, wenn es heißt: »Dein Silber wurde zu Schlacke, dein Wein ist verwässert.«37 Eine andere Version hat dort: »Deine Gast- und Schenkwirte mischen Wein mit Wasser.« Er spricht auch von »zu Schlacke gewordenem Silber« wegen der Beimischung von Zinn oder Blei. Deshalb fügt er ein wenig später hinzu: »Deine Schlacken will ich mit Lauge ausschmelzen, all dein Blei schmelze ich aus.«38 86  Man muss sagen: Wenn solche wegen derartiger Mischungen jenseits der äußersten Grenzen des gerechten Preises verkaufen, müssen sie all das, was über den gerechten Preis hinausgeht, zurück-

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per hoc nisi iustum precium cicius aut forcius extorquere, tunc non tenentur ad restitucionem, si tamen certitudinaliter aut multum probabiliter sciunt se iustum precium non excedisse, quia si dubitant tenentur, pro eo quod de fraude sua sunt certi. 87  Sciendum eciam quod quedam sunt addiciones ficticie que in nullo valorem rei minuunt nec augent, et in talibus nullum est peccatum, si fiant sola intencione iustum et sobrium precium extorquendi. Alie vero sunt que virtutem et valorem rei notabiliter minuunt et sunt omnino contra proprias et communes intenciones emptorum, et in talibus puto mortaliter peccari, saltem in sua frequentacione, quamvis inde nichil ultra iustum precium habeatur. Si tamen minucio virtutis sit modica et precium iustum, tunc non puto esse nisi veniale peccatum. 88  Si vero instetur, sicut vini venditores aliquando instant et obiciunt nobis quod quilibet potest miscere quod vult rei sue, saltem antequam eam venalem exposuerit, ut est post vini preconizacionem, contra hos est quod constat quod lex et consuetudo communitatis est quod vinum purum vendatur, aut quod eius adaquacio publice exprimatur. Intencio enim et credulitas omnium emptorum est emere vinum purum, ergo contra utrumque horum fraudulenter incedunt. Licet eciam in sua re aliquid commiscere sit de se licitum, non tamen cum intencione et effectu illam aliis contra commune ius et contra eorum intencionem vendendi, quia tunc fit in preiudicium aliorum; alias in vino suo possent licite toxicum commiscere. 89  Rursus sciendum quod si venditor sit talis estimacionis aut fame in populo, aut tam perfecti status quod verbo eius stetur plus

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erstatten. Wenn sie aber dadurch nur erreichen wollen, dass sie den gerechten Preis schneller oder energischer herausholen, dann sind sie keine Rückerstattung schuldig – freilich nur, wenn sie mit Gewissheit oder mit großer Wahrscheinlichkeit wissen, dass sie nicht über den gerechten Preis hinausgegangen sind. Denn wenn sie dar­ über im Zweifel sind, sind sie dazu verpflichtet, insoweit sie ihres Betrugs gewiss sind. 87  Man muss auch wissen, dass es manche Pseudo-Zusätze gibt, die in keiner Weise den Wert der Sache vermindern oder vermehren. Dabei ist keine Sünde, wenn es nur mit der Absicht geschieht, den gerechten und lauteren Preis herauszuholen. Andere aber gibt es, die die Tauglichkeit und den Wert der Sache merklich vermindern und überhaupt den besonderen und den allgemeinen Absichten der Käufer entgegenstehen. Bei diesen wird, glaube ich, eine Todsünde begangen, vor allem, wenn es häufig geschieht, auch wenn dabei nichts über den gerechten Preis hinaus bezahlt wird. Ist allerdings die Minderung der Tauglichkeit nur geringfügig und der Preis gerecht, so liegt, glaube ich, nur eine lässliche Sünde vor. 88  Wird aber eingewendet – wie die Weinhändler gelegentlich einwenden und uns vorhalten –, dass jeder seiner Sache beimischen kann, was er will (zumindest bevor er sie zum Verkauf anbietet), wie es nach der öffentlichen Ausrufung des Weins vorkommt: so spricht gegen sie, dass es bekanntlich das Gesetz und die Gewohnheit der Gemeinschaft ist, dass der Wein rein verkauft wird oder dass seine Verwässerung öffentlich zum Ausdruck gebracht wird. Denn die Absicht und das Vertrauen aller Käufer geht dahin, reinen Wein zu kaufen; also verstoßen sie betrügerisch gegen beides. Zwar mag es auch an sich erlaubt sein, der eigenen Sache etwas beizumischen, aber doch nicht mit der Absicht und der Wirkung, sie anderen gegen das allgemeine Recht und gegen deren Absicht zu verkaufen. Denn dann geschieht es zum Schaden anderer; sonst könnten sie ihrem Wein auch erlaubterweise Gift beimischen. 89  Wiederum muss man wissen: Wenn ein Verkäufer beim Volk so hohe Wertschätzung oder Ruhm genießt oder einen so vollkommenen Stand, dass auf sein Wort mehr oder nicht weniger gehalten

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aut non minus quam iuramento aliorum, tunc vix est quin peccet mortaliter rei venalis precium mendaciter exaltando aut mendose dicendo quod ›tantum consistit michi‹ aut ›tantum potui inde habere‹; quia perinde est sicut si emptor committeret se fidei venditoris et hoc venditore acceptante et tandem* contra fidem acceptam et datam infideliter venderet ei sua. In quo quidem casu fraudem restituere teneretur et ultra peccaret mortaliter tanquam contra pactum date fidei agens. 90  Post hec ad contractus usurarios accedamus.

*  Lesart der Codices ABCM, statt »eamdem«. Vgl. Piron, S.  150, zu Nr.  89.

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wird als auf den Eid der anderen, dann lässt es sich kaum vermeiden, dass er eine Todsünde begeht, wenn er den Preis der Ware lügnerisch erhöht oder lügenhaft sagt: ›So viel kostet es mich‹ oder ›so viel hätte ich dafür bekommen können‹. Denn das ist gerade so, als ob der Käufer sich der Glaubwürdigkeit des Verkäufers anvertraute – und das mit Billigung des Verkäufers – und dieser ihm schließlich das Seine wider Treu und Glauben verkaufte. In diesem Fall müsste er freilich den Betrug wiedergutmachen, und außerdem beginge er eine Todsünde, da er gegen die Abmachung des gegebenen Worts verstößt. 90  Anschließend kommen wir zu den wucherischen Verträgen.

〈 Pars

secunda: De contractibus usurariis  〉 〈 Quaestio 8  〉

1  Octavo queritur an pro mutuo prestito accipere plus quam mutuatum est, sit contra ius naturale et divinum. 2  Et videtur quod non, quia constat quod mutuacio et res mutuo prestita aliquam commoditatem confert illi cui prestatur; ergo secundum naturalem equitatem potest huiusmodi commoditas precio extimari et recompensari. 3  Item iustum et equum est quod dampnum creditoris seu prestitoris sibi recompensetur a receptore sui mutui; sed prestitor, preter substanciam pecunie prestite, subtrahit sibi aliquem usum pecunie prestite qui sibi esset lucrosus, aut esse posset; ergo ultra substanciam pecunie prestite debet aliquo alio recompensari. 4  Item equum et licitum est servicium pro servicio et graciam pro gracia reddi, ac per consequens equum et licitum est hoc sub pacto firmari; ergo saltem poterit sub pacto firmari quod ille teneatur prestitori ad consimilem mutuacionem aut ad servicium vel beneficium sibi equivalens. 5  Item recepcio beneficii non adimit receptori potestatem dandi, nec prestitori licenciam recipiendi, ymo pocius auget; sed ante mutuum prestitum licebat prestitori sperare et recipere aliquid ab altero; ergo multo magis licet hoc sibi post prestacionem mutui. 6  Item dare pro gracia mutui sibi facti modica munuscula vel exennia quasi in nullo ledit dantem et est signum et opus gratitudi-

Zweiter Teil: Über wucherische Verträge 39 Achte Frage 1  Achtens fragt sich, ob es gegen natürliches und göttliches Recht ist, für ein Darlehen mehr zu erhalten, als gegeben wurde. 2  Anscheinend nicht: Denn bekanntlich bringt das Darlehen und die leihweise überlassene Sache demjenigen, dem sie geliehen wird, einen Vorteil; also kann gemäß der natürlichen Billigkeit ein Vorteil dieser Art nach seinem Geldwert geschätzt und vergolten werden. 3  Ebenso: Es ist gerecht und billig, dass der Schaden des Geldbzw. Leihgebers ihm vom Empfänger seiner Leihgabe erstattet wird. Der Leihgeber verzichtet aber, außer auf die Substanz des verliehenen Geldes, auch noch auf einen gewissen Gebrauch des verliehenen Geldes, der für ihn gewinnbringend wäre oder sein könnte: Also muss er über die Substanz des geliehenen Geldes hinaus mit etwas anderem entschädigt werden. 4  Ebenso: Es ist billig und recht, eine Leistung mit einer (Gegen-) Leistung und eine Gefälligkeit mit einer Gefälligkeit zu erwidern, und dementsprechend ist es auch billig und recht, darüber einen Vertrag zu schließen: also wird man doch vertraglich festlegen können, dass jener dem Leihgeber zu einem vergleichbaren Darlehen oder zu einer gleichwertigen Leistung oder Wohltat verpflichtet ist. 5  Ebenso: Der Erhalt einer Wohltat benimmt dem Empfänger nicht die Möglichkeit, zu geben, noch dem Leihgeber die Erlaubnis, zu empfangen, ja er erhöht sie noch. Aber vor der Hingabe des Darlehens war es dem Leihgeber erlaubt, etwas vom anderen zu erhoffen40 und zu erhalten: Also ist es ihm nach der Hingabe des Darlehens erst recht erlaubt. 6  Ebenso: Für die ihm zuteil gewordene Gefälligkeit des Darlehens ein bescheidenes Geschenk oder Präsent zu geben, schadet dem Gebenden mitnichten und ist ein Zeichen und Werk der Dank-

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nis et provocat mutuantem et alios ad graciam mutui libencius faciendam; ergo videtur quod saltem talia licet recipere ultra mutuum. 7  Item qua racione licet locare equum vel domum, sic quod ultra rem locatam recipiam aliquod precium pro locacione, eadem racione ut videtur licet locare bladum vel pecuniam ut ultra ipsam aliquod precium recipiam. 8  Item malum culpe nullatenus permittitur a deo tanquam bonum; sed fenerari, idest ad usuram prestare, ponitur in dei permissionibus, Deuteronomio 28, ubi dicitur Benedicet deus cunctis ope­ ribus manuum tuarum et fenerabis gentibus multis et ipse fenus a nullo accipies. 9  Item naturale iniustum nulli debet fieri, sed Deuteronomio 23 conceditur fenerari alieno ubi dicitur: non fenerabis fratri tuo ad usuram sed alieno ; ergo hoc non est naturale iniustum seu contra ius naturale. Et ad hoc ipsum facit verbum Ambrosii quod habetur Causa 14 q.  4: »ab illo exige usuram, cui nocere merito desideras; cui iure inferuntur arma, huic legitime inferuntur usure« et tandem infert »ergo ubi ius belli, ibi ius usure«. Constat autem quod iure belli non licet facere contra ius naturale, ergo etc. 10  Item si contractus usurarius est malus respectu prestitoris, erit et malus respectu receptoris mutui, tum quia tota vis contractus ex utriusque concordi consensu procedit, ac per consequens et malicia eius; tum quia velle quod alter mortaliter peccet ut ipse suam temporalem indigenciam suppleat, aut temporalem utilitatem cum illius peccato reportet, est pravum et impium, et maxime si ad hoc illum precibus suis instanter inducit.

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barkeit und spornt den Darlehensgeber und andere an, das Darlehen lieber zu geben: Also scheint es, dass man wenigstens solche [kleinen Geschenke] über das Geliehene hinaus empfangen darf. 7  Ebenso: Aus dem Grund, aus dem man ein Pferd oder ein Haus vermieten kann, so dass man über die vermietete Sache hinaus auch einen Mietpreis bekommt, aus demselben Grund kann man, wie es scheint, Getreide oder Geld vermieten, um darüber hinaus irgendeinen Lohn zu erhalten. 8  Ebenso: Das Übel der Schuld wird von Gott auf keinen Fall als etwas Gutes zugelassen; aber zu wuchern, das heißt Geld gegen Zins zu verleihen, findet sich unter den Dingen, die von Gott erlaubt werden, in Deuteronomium, Kap. 28, wo es heißt: »Der Herr segnet jede Arbeit deiner Hände. Du kannst vielen Völkern Geld gegen Zins ausleihen und und wirst selber bei niemandem Schulden machen.«41 9  Ebenso: Etwas, was von Natur aus ungerecht ist, darf niemandem angetan werden. Aber in Deuteronomium, Kap. 23 wird erlaubt, einem Fremden Geld gegen Zins zu leihen, wo es heißt: »Du darfst von deinem Bruder keine Zinsen nehmen, aber von einem Fremden«42: also ist das nicht etwas von Natur aus Ungerechtes bzw. gegen das Naturrecht. Und dazu passt auch das Wort das Ambrosius in Causa 14, Frage 4: »Von dem verlange Zinsen, dem du mit Recht schaden willst; der, gegen den mit Recht Waffen aufgefahren werden, dem werden mit Recht Zinsen auferlegt«, und schließlich fügt er hinzu: »Wo das Recht des Kriegs gilt, dort gilt auch das Recht der Zinsen«.43 Es steht aber fest, dass es kraft Kriegsrecht nicht erlaubt ist, etwas gegen des Naturrecht zu tun: also etc. 10  Ebenso: Wenn der wucherische Vertrag schlecht ist in Hinsicht auf den Darlehensgeber, wird er auch schlecht sein in Hinsicht auf den Darlehensnehmer: zum einen, weil die ganze Kraft des Vertrags aus dem übereinstimmenden Konsens beider hervorgeht, und folglich auch seine Schlechtigkeit; zum anderen, weil zu wollen, dass der andere eine Todsünde begeht, damit der eine seiner zeitlichen Not Abhilfe schafft oder einen zeitlichen Nutzen durch die Todsünde eines anderen davonträgt, verwerflich und frevelhaft ist; besonders, wenn man jenen durch ständiges Bitten dazu bringt.

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〈 Responsio  〉

11  Dicendum quod ex mutuo seu propter mutuum recipere aliquid plus vel prevalens est contra ius divinum et naturale. Et hoc patet primo auctoritate scripture. 〈 argumenta ex Scriptura  〉

12  Nam, Ezechiele 18 connumeratur hoc inter horrenda scelera morte eterna multanda ubi, multis sceleribus vitandis premissis, subditur: ad usuram non commodaverit et amplius non acciperit. Et post dicitur quod si vir iustus genuerit filium latronem et homicidam et adulterantem et ydolatrantem et ad usuram dantem et amplius accipientem, numquid vivet? Non, ymo cum universa hec detestanda fecerit, morte morietur. Et iterum post, inter consimilia subditur, si usuram et superhabundanciam non acceperit, etc. 13  Item in Psalmo 54 dicitur vidi iniquitatem et contradictionem in civitate, et labor in medio eius et iniusticia, et non defecit de plateis eius usura et dolus. 14  Item in Psalmo illo, Domine, quis habitabit in tabernaculo tuo, subditur quod innocens est qui non dedit pecuniam suam ad usuram. 15  Item Proverbiorum 28, qui congregat divicias usuris et fenore, liberali in pauperes, idest viro misericordi eas congregat, quasi dicitur, usurario auferentur et liberali dabuntur. 16  Item Exodo 22, usura dicitur esse oppressio pauperis ubi dicitur si pecuniam populo meo dederis pauperi qui habitat tecum, non

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Antwort 11  Man muss sagen: Aus einem Darlehen bzw. wegen eines Darlehens etwas mehr bzw. etwas von höherem Wert zu bekommen, ist gegen göttliches und natürliches Recht. Und das erhellt erstens aus der Autorität der Heiligen Schrift.

I. Argumente aus der Hl. Schrift 12  Denn bei Ezechiel wird das im 18. Kapitel zu den schrecklichen Verbrechen gezählt, die mit dem ewigen Tod zu bestrafen sind. Dort heißt es, nachdem von vielen Verbrechen die Rede war, die zu vermeiden sind: »Er leiht nicht gegen Zins, und er treibt keinen Wucher.«44 Und nachher wird gesagt, dass »wenn ein Mann einen Sohn zeugt, der gewalttätig wird« der auch Mörder, Ehebrecher und Götzendiener ist »und der gegen Zins leiht und Wucher treibt – soll der dann am Leben bleiben? Er soll nicht am Leben bleiben. Er hat alles diese Greueltaten verübt, darum muss er sterben.«45 Und wieder, weiter unten, wird unter Ähnlichem hinzugefügt: »Er nimmt keinen Zins und treibt keinen Wucher«46, etc. 13  Ebenso heißt es in Psalm 54: »In der Stadt sah ich Bosheit und Streit, und in ihrer Mitte Not und Unrecht, und von ihren Plätzen wichen nicht Wucher und List.«47 14  Ebenso, in jenem Psalm »Herrn wer darf Gast sein in deinem Zelt«, heißt es weiter unten, dass »unschuldig ist, wer sein Geld nicht auf Wucher ausleiht«.48 15  Ebenso, im Buch der Sprichwörter, Kap.  28: »Wer sein Vermögen durch Wucher und Zins vermehrt, sammelt für den, der freigebig gegen die Armen ist«49, d. h. für einen barmherzigen Mann, so als ob gesagt würde: es wird dem Wucherer weggenommen und dem Freigebigen gegeben werden. 16  Ebenso: In Exodus, Kap.  22, wird der Wucher eine Unterdrückung des Armen genannt, wo es heißt: »Leihst du einem aus meinem Volk, einem Armen, der neben dir wohnt, Geld, dann sollst

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urgebis eum quasi exactor nec usuris opprimes. Unde et in Psalmo de Messia dicitur quod ex usuris et iniquitate redimet animas eorum, tamquam scilicet ab oppressoribus iniustis et impiis. Propter quod usura a quibusdam vocatur morsura quia semper aliquem morsum indebitum trahit de rebus propriis aliorum. Constat autem quod impia oppressio pauperis est contra ius naturale. 17 Item, Levitico 25 dicitur ne accipias a fratre tuo usuras, nec amplius quam dedisti, et paulo post, pecuniam tuam non dabis ei ad usuram et frugum superhabundanciam non exiges. 18  Item, Neemia 5 dicitur, increpavi optimates et magistratus et dixi eis, usuras ne exigatis a fratribus vestris, et post centesimam pe­ cunie, frumenti, vini et olei, quam exigere solebatis ab eis, date pro illis. 〈 Obiectio  〉

19  Sed forte dicetur, sicut a quibusdam iudeis dicitur, quod accipere usuram non prohibetur in lege nisi solum a fratribus suis, idest a iudeis; ymo de aliis conceditur, Deuteronomio 23, sicut superius in arguendo est tactum. 20  Sed contra hoc est primo quia in pluribus auctoritatibus premissis, usure improbantur absolute et absque aliqua determinacione, sicut patet in verbis Ezechielis, Psalmiste et Salomonis. 21  Secundo quia si non sunt per se male, cum quandoque possint esse utiles recipienti mutuum, tunc prohibetur sola utilitas fratris et maxime cum pauci inveniantur faciles ad commodandum absque spe temporalis commodi. Si autem sunt per se male, tunc semper et ubique sunt male.

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du ihn nicht wie ein Steuereintreiber bedrängen und nicht mit Wucherzinsen bedrücken.«50 Daher wird auch im Psalm über den Messias gesagt, dass er »ihre Seelen von Wucher und Unrecht befreien wird«51, d. h. von ungerechten und gottlosen Unterdrückern. Deshalb wird der Wucher von einigen auch Biss genannt, weil er immer dem Eigentum der anderen einen unrechtmäßigen Bissen entzieht. Es steht nämlich fest, dass die gottlose Unterdrückung der Armen gegen das Naturrecht verstößt. 17  Ebenso, in Levitikus, Kap.  25, heißt es: »Von deinem Bruder sollst du nicht Wucher und Zins nehmen«, und kurz darauf: »Du sollst ihm weder dein Geld noch deine Nahrung gegen Wucher und Zins geben.«52 18  Ebenso, in Nehemia, Kap.  5, heißt es: »Ich tadelte die Vornehmen und die Beamten und sagte zu ihnen: Verlangt keine Zinsen von euren Brüdern«, und dann: »Erlasst ihnen den Zins für Geld, Getreide, Wein und Öl, den ihr von ihnen zu verlangen pflegtet.«53

Einwand 19  Aber vielleicht wird man sagen – wie von einigen Juden gesagt wird –, dass das Zinsnehmen im Gesetz nur mit Bezug auf die eigenen Brüder, d. h. die Juden, verboten wird. Mit Bezug auf die anderen wird es ja erlaubt, in Deuteronomium, Kap.  23, wie oben erwähnt wurde.54 20  Dagegen spricht aber erstens, dass im Großteil der vorausgeschickten Autoritäten der Wucher absolut und ohne irgendwelche Einschränkung getadelt wird, wie aus den Worten des Ezechiel, des Psalmisten und Salomons55 klar ist. 21  Zweitens, dass wenn er nicht an sich schlecht ist – da er manchmal für den, der ein Darlehen empfängt, nützlich ist –, dann wird nur ein Nutzen für den Bruder verboten, zumal sich nur wenige bereitfinden, etwas ohne die Hoffnung auf einen zeitlichen Vorteil zu borgen.56 Wenn es aber an sich schlecht ist, ist es immer und überall schlecht.

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22  Tercio quia naturalis proximitas et fraternitas est ad omnes homines, tam iure communis creacionis et divine ymaginis et univoce speciei humane, quam iure propagacionis ex eodem primo ­patre, scilicet Adam, quam secundum evangelium Christi in parabola Samaritani. 23  Quarto quia aut usurarius contractus in se continet absolute iniquitatem, aut equitatem. Si iniquitatem, ergo est per se apud omnes malum. Si equitatem, ergo non debuit prohiberi a fratre. 24  Quinto quia hoc preceptum non est cerimoniale. Cerimoniale enim est quod ex se nichil habet boni vel mali seu utilis vel dampnosi, sed solum fit ad significacionem vel ad determinacionem et observacionem aliquorum moralium. Constat autem quod in mutuo usurario et non usurario est invenire per se bonum vel malum. 〈 Auctoritates  〉

25  Secundo patet auctoritate sanctorum et pontificum romanorum. 26  Augustinus enim, In Psalmo 36, dicit: »si feneraveris hominem, idest si mutuum dederis a quo plus quam dedisti expectes, sive illud triticum sit, sive vinum, sive oleum, sive quodlibet aliud, fenerator es et in hoc improbandus, non laudandus«. 27  Item Augustinus, Ad Macedonium: »quid dicam de usuris quas eciam ipse leges et iudices reddi iubent? an crudelior est qui aliquid subtrahit vel eripit diviti quam qui trucidat pauperem fenore?«. 28  Item, libro De verbis Domini tractatu 25: »Nolite velle elemosinas de fenore et usuris facere.«

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22  Drittens, weil sich die natürliche Nähe und Brüderlichkeit auf alle Menschen erstreckt, sowohl durch das Recht der gemeinsamen Schöpfung, des göttlichen Bildes und der einheitlichen menschlichen Art als auch durch das Recht der Abstammung vom selben ersten Vater, nämlich Adam, als auch nach dem Evangelium Christi im Gleichnis vom Samariter.57 23  Viertens, weil ein wucherischer Vertrag entweder in sich absolut ungerecht oder gerecht ist. Wenn ungerecht: dann ist er an sich bei allen schlecht. Wenn gerecht: dann durfte er nicht mit Bezug auf den Bruder verboten werden. 24  Fünftens, weil es sich hier nicht um eine Kultvorschrift58 handelt. Eine Kultvorschrift ist eine, die nichts Gutes oder Schlechtes, Nützliches oder Schädliches an sich hat, sondern lediglich zur Ausgestaltung und Beobachtung bestimmter moralischer Vorschriften dient. Nun steht aber fest, dass sich im Darlehen gegen Zins und ohne Zins an sich Gutes bzw. Schlechtes findet.

II. Autoritäten 25 Zweitens59 erhellt es aus der Autorität der Kirchenväter und der Päpste. 26  Augustinus sagt nämlich in seinem Kommentar zu Psalm 36 : »Wenn du von einem Menschen Zinsen nimmst, d. h., wenn du ein Darlehen gegeben hast, von dem du mehr, als du gegeben hast, erhoffst – sei es Weizen oder Wein oder Öl oder was auch immer – : dann bist du ein Wucherer und dafür zu tadeln, nicht zu loben.«60 27  Ebenso, Augustinus, Brief an Macedonium : »Was soll ich sagen vom Wucher, dessen Wiedererstattung selbst Gesetze und Richter fordern? Oder ist etwa derjenige, der einem Reichen etwas entzieht oder entwendet, grausamer als der, der einen Armen durch Wucher ums Leben bringt?«61 28  Ebenso, im Buch Die Worte des Herrn, Traktat 25: »Wollt keine Almosen aus Zins und Wucher machen.«62

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29  Item Ieronimus Super Ezechielem, libro 6, dicit: »Putant quidam usuras tantum esse in pecunia, quod providens divina scriptura omnis rei aufert superhabundanciam ut plus non recipias quam dedisti.« 30  Item Ambrosius: »Plerique refugientes precepta legis cum dederunt pecuniam negociatoribus non in pecunia usuras exigunt, sed de mercibus eorum tamquam usurarum emolumenta percipiunt, cum lex dicat, neque usuras escarum accipies, neque omnium rerum.« 31  Item idem, libro De bono mortis: »si quis usuram accipit, rapinam facit, vita non vivit«. Et habentur hec in Decretis, causa 14 q. 3, 4 et 5, ubi et plura capitula conciliorum et romanorum pontificum contra usuras ponuntur. 32  Item Extra, De usuris, dicit Alexander III quod »crimen usurarum utriusque testamenti pagina condempnatur, nec super hoc dispensacionem aliquam posse fieri«. Et ibidem, Salernitano archiepiscopo respondet quod non solum usuras post interdictum ecclesie factas, sed eciam illas que antea tenebantur restituere, allegans verbum Augustini quod »non remittitur peccatum nisi restituatur ablatum«. 33  Item ibidem, Urbanus tertius querenti an in iudicio animarum ille censendus sit usurarius, qui ex proposito amplius accipiendi, absque tamen convencione, mutuat, aut qui propter datam dilacionem solucionis vendit plus merces suas, respondet: »quid, inquit, in hiis casibus tenendum sit, ex evangelio Luce manifeste cognoscitur, in quo dicitur Date mutum, nichil inde sperantes. Et ideo ad taliter accepta, restituenda in animarum iudicio sunt efficaciter inducendi«.

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29  Ebenso sagt Hieronymus in seinem Ezechielkommentar, im 6.  Buch: »Manche glauben, Wucherzinsen gibt es nur beim Geld. Dies voraussehend, verbietet die Hl. Schrift für alle Dinge einen Aufschlag, so dass du nicht mehr erhältst, als du gegeben hast.«63 30  Ebenso Ambrosius: »Sehr viele verlangen, wenn sie Kaufleuten Geld gegeben haben, Zinsen nicht in Geldform, sondern bekommen von deren Waren sozusagen Zinsvorteile64, während das Gesetz doch sagt: ›Du sollst weder für Speisen noch für irgendetwas Zinsen nehmen.‹«65 31  Ebenso, im Buch Der Tod, ein Gut: »Wenn jemand Zinsen annimmt, so begeht er Raub, das Leben ist nicht in Wahrheit in ihm.«66 Und das steht in den Dekreten [Gratians], Causa 14, qu.  3, 4 und 5, wo auch mehrere Kapitel von Konzilien und Päpsten gegen den Wucher angeführt werden. 32  Ebenso, im Liber Extra sagt Alexander III. im Kapitel Wu­ cherzinsen, dass »das Verbrechen des Zinsnehmens durch das Buch des Alten wie des Neuen Testaments verurteilt wird und dass es davon keinen Dispens geben kann«.67 Und an derselben Stelle antwortet er dem Erzbischof von Salerno, dass man nicht nur Zinsen, die nach Erlass des kirchlichen Verbots, sondern auch jene, die vorher gezahlt wurden, zurückerstatten müsse.68 Dabei führt er das Wort Augustins an, dass »die Sünde nicht nachgelassen [wird], wofern das Entwendete nicht zurückerstattet wird«.69 33  Ebenso, am selben Ort antwortet Urban III. einem, der fragt, ob bei der Beurteilung der Seelen für einen Wucherer zu halten sei, wer [etwas] leiht, im Vorsatz, mehr dafür zu erhalten – wenn auch ohne vertragliche Abmachung –, oder wer wegen eines [von ihm] gewährten Zahlungsaufschubs seine Waren teurer verkauft: »Wie man, sagt er, es in diesen Fällen halten soll, erkennt man klar aus dem Lukas-Evangelium, wo es heißt: Ihr sollt leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt.70 Und daher sind bei der Beurteilung der Seelen diejenigen, die auf solche Weise [Vorteile] erhalten haben, nachdrücklich dazu zu veranlassen, [sie] zurückzuerstatten.«71

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〈 Rationes  〉

34  Tercio patet hoc racione naturalis equitatis. Equitas enim est quod pro equali non exigatur plus quam equivalens seu equale; sed in proposito plus exigitur, quia constat quod nulla res valet plus quam seipsam, cum sibi ipsi in augmento et diminucione sit omnino equalis; ergo ex quo pro sextario tritici tanti precii redditur michi sextarius equalis mensure et precii, non potest amplius exigi absque aperta lesura equitatis et equalitatis. Et idem est de omnibus in quibus est prefixa mensura precii et appreciacionis. 35  Item aperta iniusticia est quod michi vendas rem meam et pro tempore quo iam aperte est mea, sed res mutuata est eius qui eam mutuo recipit. In hoc enim differt mutuum a locato et commodato. Unde et dicitur mutuum quia ›de meo fit tuum‹. Ergo usus rei mutuate et omnis utilitas ex ea proveniens, pro toto tempore pro quo est mutuata, est receptoris mutui, non traditoris. Ergo qui aliquem talem usum vel utilitatem illi vendit, vendit ei illud quod iam est illius. 36  Item vendere illud quod non est, aut eandem rem bis, est aperta iniquitas; sed hoc fit in contractu mutui usurarii, quia usus qui non differt a rei utibilis consumpcione vel alienacione est sic inseparabilis a substancia rei quod perinde est dare vel vendere eius substanciam quod dare vel vendere eius usum et econverso. Sed usus pecunie vel nummorum in quantum talium, aut usus bladi vel vini et olei et consimilium est idem quod eorum alienacio vel consump­ cio, ergo idem est huiusmodi res dare vel vendere quod dare vel ven-

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III. Vernunftgründe 34  Drittens erhellt das auf Grund der natürlichen Billigkeit. Die Billigkeit besteht nämlich darin, dass für das Gleiche nicht mehr als etwas Gleichwertiges bzw. Gleiches gefordert wird. Aber in diesem Fall wird mehr gefordert, denn es steht fest, dass keine Sache mehr wert ist als sie selbst, da sie sich selbst – auch bei Zu- und Abnahme – völlig gleich ist. Also kann, wenn mir für einen Sester72 Weizen, der soundso viel kostet, ein Sester von gleichem Maß und Preis zurückgegeben wird, nicht mehr gefordert werden ohne offensichtliche Verletzung der Billigkeit und Gleichheit. Und dasselbe gilt für alle Dinge, bei denen ein Maß für Preis und Wert im Voraus festgelegt ist. 35  Ebenso, es ist eine offensichtliche Ungerechtigkeit, wenn du mir meine Sache – und für die Zeit, in der sie offenkundig schon die meine ist – verkaufen willst. Denn die geliehene Sache gehört demjenigen, der sie als Darlehen erhalten hat. Darin unterscheidet sich nämlich das Darlehen vom Gemieteten und Geborgten. Daher sagt man auch Darlehen (mutuum), denn ›aus Meinem wird Deines‹ (de meo fit tuum).73 Also steht der Gebrauch der als Darlehen überlassenen Sache und jeder aus ihr fließende Nutzen – für die gesamte Zeit, für die das Darlehen gilt – dem Empfänger, nicht dem Geber des Darlehens zu. Wer also jenem einen solchen Gebrauch oder Nutzen verkauft, verkauft ihm etwas, was ihm schon gehört. 36  Ebenso, etwas, was es nicht gibt, oder dieselbe Sache zweimal zu verkaufen, ist eine offensichtliche Ungerechtigkeit. Das aber geschieht beim Vertrag über ein wucherisches Darlehen, denn der Gebrauch, der sich nicht vom Verbrauch bzw. der Veräußerung der nutzbaren Sache unterscheidet, ist so sehr von der Substanz der Sache untrennbar, dass ihre Substanz herzugeben bzw. zu verkaufen gerade so ist, wie ihren Gebrauch herzugeben bzw. zu verkaufen, und umgekehrt. Der Gebrauch des Geldes bzw. der Münzen als solcher oder der Gebrauch des Getreides bzw. des Weins und Öls und dergleichen ist identisch mit ihrer Veräußerung bzw. ihrem Verbrauch. Also ist es dasselbe, derlei Dinge herzugeben bzw. zu verkaufen, wie ihren Gebrauch herzugeben bzw. zu verkaufen,

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dere earum usum et econverso. Ergo cum ultra vendicionem rei, eius usus venditur, aut eadem res bis venditur, aut id quod non est venditur, et sumo hic vendere pro tradere aliquid pro equivalenti. Ex duabus autem racionibus predictis trahitur racio nominis usurarum, quia scilicet ibi venditur usus qui non differt a re et usus qui non est venditoris. 37  Item, vendere alteri eius propriam industriam et proprios actus est vendere ei suum, ac per consequens est iniustum; sed vendere utilitatem provenientem ex pecunia per solam mercativam industriam eius cui est mutuata, est ei vendere suam industriam et suos actus, ergo etc. Constat autem quod pecunia in quantum est precium rerum venalium, nullum lucrum confert nisi per industriam et actum mercantis, ergo ipsa in quantum talis non est pluri precio mutuabilis. 38  Item, constat quod pecuniam, in quantum est precium rerum venalium, nullus vendit vel cambit nisi iuxta precium quod habet in terra illa, utpote nullus vendit centum libras sterlingorum pro centum et duodecim libris sterlingorum. Quando eciam aliquis solvit alicui centum libras, ex actu talis solucionis nichil debetur solventi. Ergo qua racione, in actu vendendi vel solvendi, pecunia non valet plus quam seipsam, eadem racione, nec in actu mutuandi, et maxime cum usuraria mutuacio sit quasi quedam vendicio eius. Sume igitur quod horum duorum volueris, aut quod mutuacio sit simplex donacio, sic tamen quod tempore prefixo eius equivalens reddatur, aut quod sit vendicio, et neutro modo habebis quin sit aperte iniustum ex ea accipere plus quam ipsam. 39  Item de lucro incerto et contingente ac cum periculo perdicionis futuro, exigere certum lucrum, sine omni periculo cuius­cum­

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und umgekehrt. Wenn also über den Verkauf der Sache hinaus ihr Gebrauch verkauft wird, wird entweder dieselbe Sache zweimal verkauft, oder es wird verkauft, was es nicht gibt – wobei ich hier »verkaufen« verstehe als »etwas für etwas Gleichwertiges hingeben«. Aus den beiden angeführten Gründen aber leitet sich der Grund für den Namen Wucher her, denn hier wird ein Gebrauch verkauft, der nicht von der Sache verschieden ist, und ein Gebrauch, der nicht dem Verkäufer zusteht.74 37  Ebenso, einem anderen seinen eigenen Fleiß und seine e­ igene Tätigkeit zu verkaufen, heißt ihm das Seine zu verkaufen und ist folglich ungerecht: Aber den Nutzen zu verkaufen, der aus dem Geld nur wegen des kaufmännischen Fleißes dessen fließt, dem es geliehen wurde, heißt, ihm seinen Fleiß und seine Tätigkeit verkaufen, folglich etc. Es steht nämlich fest, dass das Geld, insofern es der Preis der verkäuflichen Dinge ist, keinerlei Gewinn einbringt, es sei denn durch den Fleiß und die Tätigkeit des Kaufmanns. Folglich ist es selbst als solches75 nicht zu höherem Preis verleihbar. 38  Es steht fest, dass niemand das Geld, insofern es der Preis der verkäuflichen Dinge ist, verkauft oder wechselt außer zu dem Preis, den es in jenem Land hat: So verkauft z. B. niemand 100 Pfund Sterling für 112 Pfund Sterling. Auch wenn jemand einem anderen 100 Pfund zahlt, wird aus dem Akt einer solchen Zahlung dem Zahlenden nichts geschuldet. Aus dem Grund also, aus dem das Geld beim Akt des Verkaufens bzw. Zahlens nicht mehr wert ist als es selbst, aus demselben Grund [ist es] auch beim Akt des Leihens [nicht mehr wert], zumal das wucherische Darlehen ja eine Art Verkauf des Geldes ist. Nimm also von den beiden, was du willst: entweder dass das Darlehen eine einfache Schenkung ist – freilich so, dass zu einer vorher bestimmten Zeit dessen Gegenwert erstattet wird; oder dass es ein Verkauf ist: So wirst du auf beide Weise nichts anderes herausbringen, als dass es offensichtlich ungerecht ist, daraus mehr zu erhalten als es selbst. 39  Ebenso, für einen unbestimmten und zufälligen Gewinn, der mit der künftigen Gefahr eines Verlusts einhergeht, einen bestimmten Gewinn zu fordern, ohne jede Gefahr irgendeines Verlusts oder

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que perdicionis vel dampni, est aperte iniustum, saltem quando illud lucrum per se non provenit ex re tradita pro lucro illo. Sed hoc fit in contractu usurario, propter quod in iure vocatur ›lucrum ­ultra sortem‹, idest ultra capitale et ultra dubiam et fortuitam sortem mercatorii lucri. 40  Item Aristoteles libro primo Politicorum capitulo 6, ubi agit de duplici pecuniativa, scilicet necessaria seu yconomica que ex fructibus et animalibus procuratur, et de non necessaria seu translativa que ex ipso numismate per usuram sue translacionis generatur, dicit quod hec secunda est iuste vituperata, quia non est secundum naturam et racionabilissime odio habetur. Constat autem quod Aristoteles in hoc sequtus est solum racionem naturalis equitatis et iuris. 〈 De malicia usure  〉

41  Rursus sciendum quod eius malicia, ultra prefatam naturalis equitatis lesuram, est in proximum vehementer impia et fraudulenta et omnis pietatis et gracie enervativa et venditiva et persone usurarie supra modum distorsiva et depravativa. 42  Est quidem in proximum impia et dolosa quia, sub specie pietatis et subsidii, paulative et a principio quasi insensibiliter serpit et serpendo pertingit usque ad totalem devoracionem temporalis substancie proximorum, prout multiplex experiencia docet. Preterea fingit se intendere pietatem, ubi solum aut principaliter proprium lucrum intendit. 43  Est eciam gracie venditiva quia, cum mutuum dare sit ex sua specie opus gracie, sicut est et simplex donacio, constat quod hic

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Schadens, ist offensichtlich ungerecht, wenigstens wenn jener Gewinn nicht an sich aus der Sache hervorgegangen ist, die für jenen Gewinn hingegeben wurde. Das aber geschieht im wucherischen Vertrag, weshalb er im Recht »Gewinn jenseits des Loses (ultra sortem)«76 genannt wird, das heißt, jenseits des Kapitals77 und jenseits des ungewissen und zufälligen Loses des kaufmännischen Gewinns. 40  Ebenso, im ersten Buch der Politik, Kapitel 6, sagt Aristoteles, wo es um die doppelte Kunst des Gelderwerbs geht, nämlich die notwendige bzw. hauswirtschaftliche (ökonomische), die aus Feldfrüchten und Tieren besorgt wird, und die nicht notwendige bzw. den Handel betreffende, die aus der Münze selbst, durch den wucherischen Handel mit ihr, entsteht: dass diese zweite zu Recht getadelt wird, denn sie ist nicht naturgemäß und wird aus guten Gründen gehasst.78 Es steht aber fest, dass Aristoteles darin nur der Einsicht in die natürliche Billigkeit und das natürliche Recht gefolgt ist.

IV. Über die moralische Verwerflichkeit des Wuchers 41  Nun muss man wissen, dass die moralische Verwerflichkeit des Wuchers, außer der besagten Verletzung der natürlichen Billigkeit, gegenüber dem Nächsten ungemein ruchlos und betrügerisch, Ruin und Ausverkauf jeder Solidarität und Gnade und für die Person des Wucherers über die Maßen verzerrend und verunstaltend ist.79 42  Der Wucher ist nämlich ruchlos und arglistig gegenüber dem Nächsten, weil er, unter dem Schein des Mitgefühls und der Hilfestellung, langsam und anfangs beinah unmerklich sich anschleicht und schlangengleich es bis zur völligen Vertilgung der zeitlichen Substanz seiner Mitmenschen bringt, wie vielfältige Erfahrung lehrt. Außerdem gibt er vor, es ginge ihm um Solidarität, wo er nur oder doch hauptsächlich den eigenen Gewinn im Sinn hat. 43  Er macht auch die Gnade zur Ware, denn wenn die Hingabe eines Darlehens seiner Art nach ein Werk der Gnade ist, wie es auch

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mutui gracia venditur et per vendendi frequenciam in usum et in officium ac negocium vertitur. Quanto autem vendicio gracie est magis contraria magisque comtemptiva gracie, tanto dedicare se ad illam maiorem et duriorem obicem gracie imprimit in abutentis ­affectu et vita. 44  Est eciam ipsius usurarii supra modum depravativa et primo quia generat infinitum ardorem questus et avaricie, quia secundum Aristotelem, primo Politicorum capitulo 6 finis usurarii est augmentacio pecunie. Appetitus autem finis, secundum eum ibidem, est infinitus. Propter quod beatitudinem appetimus quantum in infinitum maiorem cogitare possumus et quanto forcius et intensius possumus. Et hinc est quod ut dicit »amatores pecunie totam suam scienciam et industriam et potenciam ordinant ad lucrum pecunie«. Preterea quanto modus augendi pecunias est facilior ac certior et securior, tanto est amabilior et delectabilior studenti ad eorum augmentum, nisi virtute cohibeatur a tali excessu; sed modus augendi pecunias per usuras est pre ceteris facilior, ac certior et securior; ergo ad effectum succedendum est efficacior. 45  Secundo generat corrupcionem amicicie et societatis, quia usurarius in quantum talis neminem diligit nullique se associat nisi causa lucri. 46  Tercio est mater illegalitatis quia subtilissimos et dolosissimos contractus studiosissime excogitat, ut multiplicioribus viis ­fenus exerceat et lucra exaugeat. 47  Quarto tollit operositatem omnis debiti modi procurandi sibi licita et salubria lucra et pro tanto est mater desidie et ociositatis; ex hoc eciam ipso necessitat hominem ad indebitos modos lucrandi.

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die einfache Schenkung ist, so steht fest, dass hier die Gnade des Darlehens verkauft wird und wegen der Häufigkeit im Verkaufen zur Gewohnheit, zum Geschäft und zum Unternehmen verkommt. Je mehr nun der Verkauf der Gnade ihr entgegengesetzt und je mehr er die Gnade verachtend ist, desto mehr prägt das Sich-dem-WucherWidmen dem Gemüt und dem Leben dessen, der sie missbraucht, ein größeres und härteres Hindernis für die Gnade ein. 44  Er ist aber auch für den Wucherer selbst über die Maßen verderblich. Erstens, weil er eine unendliche Leidenschaft für Gewinn und Besitz entfacht – denn nach Aristoteles, im ersten Buch der ­Politik, Kapitel 6, ist das Ziel des Wucherers die Vermehrung des Geldes. Das Verlangen nach diesem Ziel nämlich ist, wie er dort sagt, unendlich.80 Deshalb verlangen wir nach der Glückseligkeit in dem Maß, wie wir sie uns ins Unendliche immer noch größer vorstellen können und so stark und intensiv wir können. Und daher kommt auch, wie er sagt, dass »die Liebhaber des Geldes ihr ganzes Wissen, ihren Fleiß und ihre Macht auf den Gelderwerb hinordnen«.81 Außer­dem, je leichter, gewisser und sicherer die Art der Geldvermehrung ist, um so beliebter und erfreulicher ist sie dem, der nach seiner Vermehrung strebt, wenn er nicht durch Tugend von einem solchen Vergehen abgehalten wird. Nun ist aber die Art der Geldvermehrung durch Wucher von allen die leichteste, gewisseste und sicherste: Also ist sie die effizienteste, um die Wirkung zu erreichen. 45  Zweitens verursacht er die Zerstörung von Freundschaft und Gesellschaft. Denn der Wucherer in seiner Eigenschaft als solcher liebt niemanden und geht mit niemandem eine Verbindung ein, ­außer wegen des Gewinns. 46  Drittens ist er die Mutter der Illegalität, denn er denkt sich mit höchstem Eifer die scharfsinnigsten und hinterlistigsten Verträge aus, um auf möglichst vielen Wegen Zinsgeschäfte zu machen und den Gewinn zu steigern. 47  Viertens beseitigt er das Bemühen um jede korrekte Art, sich erlaubten und gesunden Gewinn zu verschaffen. Daher ist er auch die Mutter von Nichtstun und Müßiggang. Eben deswegen aber ­nötigt er den Menschen zu unerlaubten Profitmethoden.

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48  Quinto causat nimium amorem huius vite et sexto desperacionem alterius vite sancte et beate, quia usurarius videt se non posse perduci ad illam nisi pro posse restituat omnes usuras, ac per consequens nisi se et heredes suos in multa paupertate relinquat et inhonorabilitate. 49  Ex hoc autem septimo causat dissipacionem catholice fidei, ut scilicet credat non esse aliam vitam, nec usuras esse peccatum, nec eterne dampnacionis iudicium se pro hiis aut pro aliis subiturum. Ex quo ulterius sequitur precipitacio in infernalem voraginem omnium scelerum et flagiciorum. Predicta autem non solum racione colligimus sed eciam experimentis assiduis nimium comprobamus. 〈 Responsiones ad argumenta  〉

50  Ad primum ergo in contrarium dicendum quod, sicut ex predictis patet, res mutuata non confert commoditatem differentem a rei consumpcione vel alienacione et ideo non est vendibilis alio precio ultra precium rei. Preterea commoditas eius est, ex sola racione mutuacionis, eius qui mutuum recipit aut ex eius industria vel suorum et ideo non debet illam emere quasi non suam, etc. 51  Ad secundum dicendum quod si prestitor erat prius ex pecunia prestita mercaturus, aut aliquod lucrum licitum ex ea solvendo vel emendo adquisiturus, aut dampnum aliquod sibi imminens licite salvaturus, et cum hoc sola pietate fraterne necessitatis et instancia precum inductus, tradidit suam pecuniam sub condicione quod teneretur sibi ad interesse prefati lucri et dampni, tunc licite exigitur

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48  Fünftens verursacht er eine zu große Liebe zu diesem Leben und sechstens das Aufgeben der Hoffnung auf das andere, heilige und selige Leben. Denn der Wucherer sieht, er kann dort nicht hinkommen, wenn er nicht, soweit es ihm möglich ist, alle Zinsen zurückerstattet – und folglich, wenn er nicht sich und seine Erben in große Armut und Schande bringt. 49  Daher aber verursacht er siebtens82 die Auflösung des katholischen Glaubens: Der Wucherer glaubt nämlich nicht mehr, dass es ein anderes Leben gibt und dass Wucher Sünde ist und dass er dafür und für anderes sich das Urteil der ewigen Verdammnis zuzieht. Daraus folgt weiter der Sturz in den höllischen Abgrund aller Verbrechen und Schandtaten. Das Gesagte aber folgern wir nicht nur theoretisch, sondern finden es auch durch ständige Erfahrung nur allzu sehr bestätigt.

Antwort auf die Eingangsargumente 83 50  Zum ersten Gegenargument ist also zu sagen – wie aus dem oben Gesagten klar ist –, dass die geliehene Sache keinen Vorteil gewährt, der von ihrem Verbrauch oder ihrer Veräußerung verschieden wäre. Daher kann dieser nicht zu einem anderen Preis, über den Preis der Sache hinaus, verkauft werden. Außerdem steht der Vorteil demjenigen zu, der das Darlehen empfängt – allein schon auf Grund des Darlehens oder auf Grund seines Fleißes (bzw. dem seiner Leute), und daher muss er ihn nicht kaufen, als ob er nicht schon der seine wäre, etc. 51  Zum zweiten ist zu sagen: Wenn der Leihgeber vorher mit dem geliehenen Geld Handel treiben oder irgendeinen erlaubten Gewinn damit erwerben wollte (durch Zahlung oder Kauf) oder e­ inen ihm drohenden Schaden in rechtmäßiger Weise abwenden und wenn er, nur durch das Mitgefühl mit dem in Not geratenen Bruder und durch die Inständigkeit seiner Bitten dazu bewogen, ihm sein Geld überlassen hat mit der Bedingung, dass er ihm den Ausgleich84 des besagten Gewinns oder Schadens85 schuldig sei: dann wird recht-

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et accipitur aliquid ultra pecuniam mutuatam, non tamen aliquid prevalens prefate pecunie in quantum iam quasi habebat in se vim et valorem prefati interesse. Sed quando hiis exclusis mutuatur, tunc non potest dici quod prestitor ex racione mutui se dampnificet in aliquo prevalenti simplici et absoluto precio pecunie mutuate, et ideo ex hoc non potest licite amplius exigere. 52  Ad tercium dicendum quod pro gracia impensa non potest iuste exigi amplior gracia, aut aliud quam gracia. Si enim exigatur ex debito iusticie, tunc gracia non est gracia, sed pocius vendicio vel commutacio. Licet ergo prestitor possit, cum postmodum eguerit, consimilem mutui graciam exigere per modum gratitudinis et gracie, pocius quam per modum venalis iusticie, non sequitur ex hoc quod de re mutuata possit aliquod precium superabundans exigere. Quia ergo ad consimilem mutuacionem prestitori sub pacto astringi derogat gracie que competit mutuo ex sua specie, ideo dicunt quidam talem contractum esse illicitum. 53  Alii vero dicunt esse licitum quamvis tunc non sit ita perfecte gratuitum. Quorum racio est quia pactum hoc nullam penitus inequalitatem includit, sed pocius meram equalitatem, et ultra pro tanto aliquam graciam pro quanto ille prius mutuum tradit antequam consimile mutuum sibi fiat. Quicquid autem sit de hoc, constat quod talis prestitor nichil ex hoc restituere tenetur, nisi solam pecuniam sibi postmodum mutuatam, nisi coegisset illum ad eam sibi mutuandam in dispari casu, in quo scilicet sequens probabiliter plus dampnificaretur in prestando tunc mutuum quam primus pre-

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mäßig etwas über das geliehene Geld hinaus verlangt und empfangen – allerdings nicht etwas, das dem besagten Geld als besonderer Wert anhaftete, so als ob es sozusagen schon in sich die Kraft und den Wert des besagten Nutzens hätte. Wenn aber unter Ausschluss von dergleichen geliehen wird, dann kann man nicht sagen, der Darlehensgeber erleidet auf Grund des Darlehens Schaden wegen eines besonderen Wertes, der über den einfachen und absoluten Wert des geliehenen Geldes hinausginge, und daher kann man dafür nicht mehr verlangen. 52  Zum dritten ist zu sagen, dass für eine geleistete Gefälligkeit nicht mit Recht eine weitere Gefälligkeit verlangt werden kann oder etwas anderes als eine Gefälligkeit. Denn wenn sie aus der Pflicht der Gerechtigkeit gefordert wird, dann ist die Gefälligkeit nicht mehr Gefälligkeit,86 sondern eher Kauf oder Tausch. Auch wenn nun der Darlehensgeber, wenn er nachher in Not gerät, ein entsprechendes Gefälligkeitsdarlehen verlangen kann – eher in der Weise der Dankbarkeit und des Dankes als in der Weise kaufmännischer Gerechtigkeit: so folgt daraus nicht, dass er aus dem Verleih der Sache irgendeinen darüber [d. h., die Rückgabe, P. N.] hinausgehenden Preis verlangen kann. Weil es also der Gefälligkeit, die das Darlehen seiner Art nach darstellt, Abbruch tut, sich dem Darlehensgeber vertraglich zu einem vergleichbaren Darlehen zu verpflichten: deshalb sagen ­einige, ein solcher Vertrag sei unerlaubt.87 53  Andere aber sagen, es sei erlaubt, auch wenn es [das Darlehen] dann nicht so ganz unentgeltlich ist. Ihr Argument ist: dass dieser Vertrag ja überhaupt keine Ungleichheit beinhaltet, vielmehr nichts als Gleichheit, und außerdem noch eine gewisse Gefälligkeit insofern, als jener das Darlehen ja früher gibt, noch bevor ihm ein entsprechendes Darlehen zuteilwird.88 Wie auch immer es sich damit verhalten mag: Fest steht, dass ein solcher Darlehensgeber nichts dafür zurückgeben muss, außer bloß das Geld, das ihm nachher geliehen wurde – es sei denn, er hätte jenen gezwungen, ihm das Geld in einer nicht vergleichbaren Situation zu leihen, in der nämlich der künftige Darlehensgeber wahrscheinlich bei der Überlassung des Darlehens einen größeren Schaden davontrüge als der vorige. Dann

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stitor. Tunc enim exigeret ab eo non solum mutuacionem sue priori equalem sed et prevalentem. 54  Consimiliter autem est de eo qui mutuat alteri sub pacto quod »non molat nisi in molendino prestitoris, supposito quod non plus sibi constet molere in illo molendino quam in alio. Quamvis enim iste det suam libertatem molendi in aliis molendinis propter mutuum sibi factum, quia tamen omnibus pensatis non plus in aliquo alio sibi obest, idcirco prestitor non tenetur ex hoc sibi restituere aliquid temporale«; sicut nec dato quod mutuet ei sub pacto quod ille roget patrem suum ut diligat eum, aut eciam sub pacto quod roget episcopum ut det sibi vel alteri prebendam. Licet enim hic sit symonia, non tamen est ibi usura. Unde et videtur dicendum quod quando illud quod pro mutuo sub pacto exigitur non habet proprie racionem precii rerum venalium, quod ex hoc non committitur proprie usura, et si est ibi aliquod vicium, non est omnino eiusdem speciei. 55  Ad quartum dicendum quod aliud est recipere amplius per modum mere gracie et absque aliqua fraude et impuritate usure, et aliud recipere illud per modum debiti et cum impuritate usure. Quantum autem ad primum, non fit quis impotencior ex mutuo prestito, ymo potencior. Quantum ad secundum, fit impotencior triplici ex causa. 56  Prima est quia non immerito presumitur quod debitor mutui non mere gratis reddat amplius, sed ut iterum in futuro consimile mutuum, si eguerit, sibi fiat ab illo, aut quia veretur prestitoris offensam si sibi ultra reddicionem mutui nichil impendat. 57  Secunda est quia qui recipiunt amplius aut se sperant recepturos de facili in suis mutuis, incidunt in lucri usurarii intencionem

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würde dieser nämlich von ihm nicht nur ein Darlehen verlangen, das seinem vorigen gleich, sondern das noch mehr wert wäre. 54  Ganz ähnlich aber ist es bei dem, der einem anderen leiht unter der Bedingung, »dass er nur in der Mühle des Darlehensgebers mahlt, vorausgesetzt, es kostet ihn nicht mehr in dieser Mühle zu mahlen als in einer anderen. Denn obwohl dieser seine Freiheit, in anderen Mühlen zu mahlen, wegen des ihm gewährten Darlehens aufgibt – da ihm dennoch, wenn man alles erwägt, er keine sonstige Einbuße erleidet: deshalb ist der Darlehensgeber nicht verpflichtet, ihm dafür irgendetwas Zeitliches zu erstatten«.89 Das wäre genauso wenig der Fall, wenn er ihm ein Darlehen gäbe unter der Bedingung, dass jener seinen Vater bäte, ihn zu lieben, oder auch unter der Bedingung, dass er den Bischof bäte, ihm oder einem anderen eine Pfründe zu geben. Das wäre dann zwar Simonie, Wucher aber wäre es nicht. Und daher muss man wohl auch sagen: Wenn das, was unter einer Bedingung für das Darlehen verlangt wird, nicht eigentlich den Tatbestand eines Preises für käufliche Dinge erfüllt, dann wird dabei nicht eigentlich Wucher begangen. Und wenn es da ein Laster gibt, so gehört es überhaupt nicht zu derselben Art. 55  Zum vierten ist zu sagen: Eines ist es, mehr zu empfangen in der Weise einer reinen Gefälligkeit, ohne jeden Betrug und ohne jede Unreinheit des Wuchers, ein anderes, es zu empfangen in der Weise einer Schuld und mit der Unreinheit des Wuchers. Was das Erste angeht: so wird jemand aus dem gewährten Darlehen nicht unvermögender, sondern vielmehr vermögender. Was das Zweite ­angeht: so wird er unvermögender, aus dreifachem Grund. 56  Erstens, weil man nicht zu Unrecht annimmt, dass der Schuldner des Darlehens nicht völlig freiwillig mehr zurückgibt, sondern damit er in Zukunft wiederum ein vergleichbares Darlehen von jenem erhält, wenn er es braucht; oder weil er fürchtet, beim Darlehensgeber in Ungnade zu fallen, wenn er es sich außer der Rückgabe des Darlehens nichts kosten lässt. 57  Zweitens, weil diejenigen, die bei ihren Darlehen mehr zurück­ erhalten oder hoffen, mühelos mehr zu bekommen, in die Absicht und Begier nach wucherischem Gewinn hineinschliddern und folg-

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et cupiditatem, ac per consequens in crimen usure. Ad tale ergo periculum penitus precavendum, plus tenentur vitare recepciones munusculorum post prestacionem mutui quam si numquam talibus aliquid prestitissent. 58  Tercia est propter speciem mali exempli et propter periculum proprie infamie, quia prestitor amplius recipiens de facili creditur esse usurarius et sic in amplius recipiendo alios deedificat et seipsum infamat. 59  Sciendum tamen quod quidam nimium exaggerantes verbum Christi Luce 6 dicentis Date mutuum nichil inde sperantes, putaverunt quod nullo modo liceat prestitori aliquid amplius sperare aut recipere. Quod autem Christus hoc non intellexerit, in Lectura super Lucam ostenditur. Sicut enim ex verbis Christi ibi premissis patet, Christus ibi loquitur de perfectione mutui supererogatorii, sive sit supererogacio consilii evangelici, sive sit supererrogacio christiani precepti transcendentis iusticiam et graciam gentilium ad invicem. Illi enim faciunt graciam mutui non ex caritate dei nec ex spe eterni premii, sed in omnibus bonis que faciunt, totam spem suam statuunt in vita ista et contra talem spem loquitur Christus, cum ait nichil inde sperantes. Preterea non simpliciter dicit nichil sperantes, sed ni­ chil inde, idest ex ipso contractu mutui, ut scilicet nulla spes usuraria nullumque usurarium pactum, vere vel interpretative seu expresse vel tacite, ibi intercedat. 60  Ad quintum patet ex dictis. Quod vero dicit quod dare huiusmodi munuscula provocat prestitorem ad ulteriorem graciam iterum mutuandi, pocius posset dici quod provocat eum ad talem gra-

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lich ins Verbrechen des Wuchers. Um nun dieser Gefahr gründlich vorzubeugen, müssen sie die Annahme kleiner Geschenke nach der Hingabe des Darlehens mehr vermeiden, als wenn sie solchen Leuten niemals etwas geliehen hätten.90 58  Drittens, weil man ein schlechtes Beispiel zu sehen gibt und sich selbst in die Gefahr eines üblen Leumunds bringt: Denn der Darlehensgeber, der mehr zurückbekommt, wird leicht für einen Wucherer gehalten – und so, wenn er mehr zurückerhält, demoralisiert er die anderen und bringt sich selbst ins Gerede. 59 Indes muss man wissen, dass einige, indem sie das Wort Christi aus dem Lukas-Evangelium, 6. Kapitel, wo es heißt, Ihr sollt leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt, überinterpretierten, meinten, es sei dem Darlehensgeber auf keine Weise erlaubt, mehr zu erhoffen oder zu bekommen.91 Dass Christus das aber nicht [so] gemeint hat, wird im Kommentar zum Lukas-Evangelium gezeigt.92 Wie nämlich aus den dort vorausgeschickten Worten Christi klar ist, spricht Christus da über die Vollkommenheit des supererogatorischen (über die moralische Pflicht hinausgehenden) Darlehens – sei es die Supererogation des evangelischen Rats93, sei es die Supererogation des christlichen Gebots, das die Gerechtigkeit und die Gefälligkeit, die die Heiden einander erweisen, übersteigt. Diese erweisen nämlich die Gefälligkeit eines Darlehens nicht aus Liebe zu Gott, noch aus Hoffnung auf ewigen Lohn, sondern in allem, was sie Gutes tun, setzen sie ihre ganze Hoffnung in dieses Leben. Und gegen diese Hoffnung spricht Christus, wenn er sagt, wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Außerdem sagt er ja nicht einfach nichts erhoffen, sondern nichts dafür; das heißt, aus dem Darlehensvertrag selbst, so dass dort nämlich keine wucherische Hoffnung und keine wucherische Bedingung ins Spiel kommt – sei es wirklich, der Auslegung nach, ausdrücklich oder stillschweigend. 60  Die Antwort auf das fünfte Argument ist aus dem Gesagten klar. Was es aber sagt: dergleichen kleine Geschenke zu geben, spornt den Darlehensgeber an zu weiterer Gefälligkeit, wieder ein Darlehen zu gewähren, so könnte eher gesagt werden, dass es ihn dazu anspornt, eine solche Gefälligkeit zu verfälschen in die ver-

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ciam corrumpendam in distortam intencionem usure. Non tamen est negandum quin sic gratis et pure possint dari et recipi, quod non sit ibi vicium usure. 61  Ad sextum dicendum quod in re locata sive conducta, differt eius usus et fructus a rei consumpcione vel alienacione, sicut patet in vectura seu equitacione equi, aut in habitacione domus conducte. Utilitas eciam talis usus non provenit ex solo actu et industria utentis sed eciam ex virtuali efficacia rei utilis. 62  Unde et si in rebus mutuatis detur vera racio locacionis et consimilis rei usus locate, tunc ultra ipsam licite amplius exigitur. Utpote si floreni aurei ex sua inspectione vel deportacione valerent aliquibus morbis sicut faciunt alique gemme, aut si absque sui consumpcione essent aliquibus obsequiis utiles sicut sunt aurei vel ­argentei sciphi, possent utique licite locari et cum ipsis precium locacionis recipi. 63  Unde et si quis pecuniam in saccis sigillatam alicui locet ut ab ipsum visitantibus dives esse credatur et amplius honoretur vel timeatur, aut ut ex sola presentacione eius aliquod periculum vel detrimentum evitet, tunc ultra ipsam licite recipietur precium sue locacionis quia talis locacio non fuit mutuacio nec eius usus fuit consumpcio aut alienacio eius. 64  Ad septimum dicendum quod in illa permissione sumitur generaliter fenerari pro mutuare, et hoc pocius prout sonat in habitum seu potestatem mutuandi quam prout sonat in actum. Est enim sensus quod in tantum habundabis quod omnibus poteris mutuum prestare et non egebis quod tibi prestetur.

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kehrte Absicht des Wuchers. Allerdings ist nicht zu leugnen, dass sie [die kleinen Geschenke] so unentgeltlich und ehrlich gegeben und empfangen werden können, dass es dabei nicht zum Laster des Wuchers kommt. 61  Zum sechsten ist zu sagen, dass in der ver- oder gemieteten Sache sich deren Gebrauch und Ertrag von ihrem Verbrauch bzw. ihrer Veräußerung unterscheidet, wie bei einem Zug- oder Reitpferd klar ist oder beim Bewohnen eines Miethauses. Auch kommt die Nützlichkeit eines solchen Gebrauchs nicht allein aus der Tätigkeit und dem Fleiß des Nutzers, sondern auch aus der möglichen Wirksamkeit der nützlichen Sache.94 62  Wenn daher bei geliehenen Sachen im Grunde eine Vermietung und ein [dieser] entsprechender Gebrauch der Sache vorliegt, dann wird über sie selbst hinaus noch etwas verlangt. Wenn z. B. Goldgulden durch das Anschauen oder Tragen gegen irgendwelche Krankheiten hülfen, wie es einige Edelsteine tun, oder wenn sie, ohne verbraucht zu werden, für irgendwelche Zeremonien taugten, wie silberne oder goldene Becher, so könnten sie durchaus zu Recht vermietet werden, und für sie könnte man [bei der Rückgabe auch noch] einen Mietpreis erhalten. 63  Wenn daher jemand einem anderen in Säcken versiegeltes Geld vermietet, damit seine Besucher ihn für reich halten, ihn noch mehr ehren und fürchten oder damit er durch dessen bloße Zur­ schau­stellung irgendeine Gefahr oder einen Schaden vermeidet, dann wird über es selbst hinaus zu Recht ein Mietpreis dafür empfangen, denn eine solche Vermietung war kein Darlehen, noch war sein Gebrauch sein Verbrauch oder seine Veräußerung.95 64  Zum siebten ist zu sagen, dass in jener Erlaubnis allgemein [der Ausdruck] »Geld gegen Zins leihen« für »ein Darlehen gewähren« verwendet wird, und das wohl eher im Sinn eines Habitus bzw. der Fähigkeit, ein Darlehen zu gewähren, als im Sinn der tatsächlichen Ausführung. Gemeint ist nämlich: Du wirst so viel Überfluss haben, dass du allen etwas leihen kannst und es nicht nötig haben wirst, dass man dir etwas leiht.

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65  Ad octavum dicendum quod non fenerari fratri est ibi positum preceptorie tamquam iustum naturale. Quod vero subditur, sed alieno, est ibi positum permissorie, ea scilicet racione qua minora mala permittuntur ne fiant peiora, iuxta quod et repudiacio uxoris fuit permissa in lege. Ne enim essent fures aut in suos fratres usurarii, permissum est eis posse usuras exigere ab alienis. 66  Vel, tam ad hoc quam ad sequens verbum Ambrosii, potest dici quod aliud est sub exteriori specie usure non aliena sed propria exigere et quasi redimere aut debitam iusticiam auctoritate debita in alios exercere, et aliud realiter pactum usure facere. Lex ergo potuit iudeis primum iuste concedere de gentilibus quorum terra fuit iudeis a deo data, aut de quibuscumque aliis quos iuste et secundum deum poterant expugnare et, depauperare et exterminare. Hos enim poterant usuris, sicut et aliis iustis penis opprimere. 67  Et consimiliter, si quis tua iniuste usurpat et non potes illa rehabere nisi sub forma usure, licet tibi secundum iura canonica sub tali forma recuperare tua, nisi ex tali specie activum scandalum aliquibus administres. Nam multa de se licita sunt propter tale scandalum evitanda. 68  Ad nonum dicendum quod sicut eadem actio respectu agentis potest esse mala et respectu pacientis vel consulentis bona et meritoria, quando scilicet ille non consulit ea, nisi solum in quantum bonam et propter bonum, sic recipere mutuum ad usuram potest esse licitum, licet sic prestare sit malum, quia recipienti potest per se et absolute displicere illa usura et potest consentire in solam reddicio-

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65  Zum achten ist zu sagen: Dem Bruder nicht gegen Zins zu leihen, wird dort im Sinn einer Vorschrift, als etwas von Natur aus Gerechtes, bestimmt. Dass jedoch hinzugefügt wird »aber einem Fremden«, ist dort im Sinn einer Erlaubnis bestimmt; und zwar aus dem Grund, aus dem kleinere Übel erlaubt werden, damit nicht schlimmere entstehen, so wie im Gesetz auch die Verstoßung der Ehefrau erlaubt war.96 Damit sie nämlich nicht zu Dieben oder Wucherern an ihren Brüdern würden, wurde ihnen erlaubt, von den Fremden Zinsen fordern zu können. 66  Oder aber man kann – sowohl zu diesem [eben behandelten] als auch zum folgenden Wort des Ambrosius – sagen: Eines ist es, unter dem äußeren Anschein des Wuchers nicht Fremdes, sondern Eigenes zu verlangen und gleichsam auszulösen oder ein ­einem zustehendes Privileg mit gebührender Autorität anderen gegenüber geltend zu machen, und etwas anderes ist es, wirklich einen Wuchervertrag abzuschließen. Das Gesetz konnte ja den Juden von Rechts wegen zunächst hinsichtlich der Heiden (deren Land den Juden von Gott gegeben worden war) – oder hinsichtlich aller anderen – einräumen, dass sie sie rechtens und mit göttlicher Billigung belagern, plündern, vernichten konnten.97 Diese konnten sie also [auch] mit Wucher sowie mit anderen gerechten Strafen bedrücken. 67  Und ebenso: Wenn jemand zu Unrecht das Deine in seinen Besitz bringt und du kannst es nur unter der Form des Wuchers wiederbekommen, dann darfst du nach dem Kirchenrecht das Deine [auch] unter einer solchen Form98 wiedererlangen, wenn du nicht anderen durch einen derartigen Anblick aktiv99 Anlass zum Ärgernis gibst. 68  Zum neunten ist zu sagen: So wie ein und dieselbe Handlung mit Blick auf den Handelnden schlecht und mit Blick auf den sie Erleidenden bzw. den darum Bittenden gut und verdienstvoll sein kann – wenn dieser nämlich nur deshalb um sie bittet, insofern sie gut ist und wegen eines Guten: so kann die Annahme eines Darlehens auf Zins erlaubt sein, auch wenn das Gewähren [eines solches Darlehens] schlecht ist. Denn dem Empfänger kann dieser Zins an sich und schlechthin missfallen, und doch kann er lediglich seiner

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nem eius absque hoc quod consenciat in acceptacionem usurarum in quantum est viciosa. Et tunc licet contractus mutui usurarii sit ex utriusque consensu, non est tamen a consensu istius in quantum est viciosus nisi solum per accidens. 69  Secundum enim Augustinum, aliud est bene uti malo, aliud male uti bono. Nam bene uti malo non est malum sed bonum, et ideo bene uti malo usurarii bonum est. Utitur autem bene qui pro sua necessitate mutuum querens et absque usura habere non valens, eam dat, non illius vicio delectatus sed sola propria necessitate compulsus sive inductus. Qui autem absque racionabili necessitate hoc facit, secundum sentenciam quorundam doctorum peccat, quia tunc malo alterius male utitur. 70  Si eciam aliquem nolentem mutuum simpliciter prestare, nec eciam sub usura tamquam timens et fugiens crimen usure, iste pro sua necessitate ad prestandum sub usura inducat, videtur quibusdam non immerito quod ille mortaliter peccet, quia talis non bene utitur malo illius in eo preexistente sed pocius incitat et inducit illum ad malum quod nondum habebat. Pocius autem debuit se permittere mori quam aliquem inducere ad peccandum, saltem mortaliter. 71  Et ideo aliud est accipere ad usuram ab eo qui ex se voluntarius sit vel est ad usuram, et aliud ab eo quem oportet induci ad illam. Sicut et aliud est recipere iuramentum per ydola factum ab ydolatra nolente aliter iurare aut aliud iuramentum firmum non reputante, et aliud inducere ipsum non solum ut iuret sed eciam ut per ydolam iuret. Hoc enim est criminosum, primum autem secundum Augustinum in Epistola ad Publicolam est licitum.

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Bezahlung zustimmen, ohne dass er dem Annehmen von Zinsen, insofern es ein Laster darstellt, zustimmt. Und obwohl der Vertrag eines wucherischen Darlehens aus dem beiderseitigen Konsens entsteht, so doch nicht aus dem Konsens des Empfängers in Bezug darauf, dass er lasterhaft ist – es sei denn nur beiläufig.100 69  Nach Augustinus101 ist es nämlich eine Sache, das Schlechte gut zu brauchen, eine andere, das Gute schlecht zu brauchen. Denn das Schlechte gut zu brauchen ist gut, und daher ist es gut, das Schlechte, das der Wucherer tut, gut zu brauchen. Denn gut braucht es, wer aus seiner Not heraus um ein Darlehen bittet und, da er es ohne Zins nicht bekommen kann, diesen gibt – nicht, weil er Freude am Laster jenes [Wucherers] hätte, sondern einzig, weil er durch seine Notlage dazu gezwungen bzw. veranlasst ist. Wer das aber ohne nachvollziehbare Not tut, sündigt nach dem Urteil einiger Gelehrter, weil er dann das Schlechte eines anderen schlecht gebraucht. 70  Wenn allerdings einer jemanden, der einfach kein Darlehen gewähren will, nicht einmal auf Zins, weil er die Sünde des Wuchers fürchtet und vor ihr flieht, aus seiner Not heraus dazu veranlasst, ihm [Geld] auf Zins zu leihen, so meinen einige nicht zu Unrecht, dass jener eine Todsünde begeht. Denn ein solcher braucht nicht das in jenem schon präexistierende Schlechte gut, sondern vielmehr regt er ihn an und verleitet ihn zu einem Schlechten, das er noch nicht [in sich] hatte. Eher noch hätte er zulassen müssen, selber zu sterben, als einen anderen zur Sünde zu verleiten, wenigstens, wenn es eine Todsünde ist. 71  Und deshalb ist es eine Sache, [ein Darlehen] anzunehmen gegen Zins von einem, der von sich aus schon den Willen dazu hat, und eine andere, es von einem [anzunehmen], der erst dazu angestiftet werden muss. Wie es auch eine Sache ist, einen Heiden, der nicht auf andere Weise schwören will oder einen anderen Eid nicht für gültig hält, bei einem Götzen schwören zu lassen, und eine andere, ihn nicht nur dazu zu bringen, dass er schwört, sondern sogar dazu, dass er bei einem Götzen schwört. Das ist nämlich moralisch verwerflich, das Erstere aber ist nach Augustinus, im Brief an Publi­ cola, erlaubt.102

〈 Pars

tertia: Dubia circa materiam contractuum  〉 1  Ex predictis patent aut patere possunt quedam dubia circa materiam usurarum. 〈 Primum dubium  〉

2  Primum est quod non potest per se contingere nisi circa mutuum. 3  Hoc enim patet ex suprascripta racione naturalis inequalitatis usure, quia scilicet in usura ultra vendicionem rei, venditur usus rei qui vel non differt ab ipsa, aut non addit ei novam commoditatem. Hoc autem non potest contigere nisi in rebus mutuabilibus vel mutuatis, sicut patet per singulos contractus alios discurrendo. 4  Preterea per usuram venditur emptori, gracia mutui, illud quod racione mutui factum est emptoris, aut aliquid consequens mutuum quod est proprium receptoris mutui. 5  Sed contra hoc esse videtur quia vendens equum vel pannum plus quam probabiliter valeat aut plus quam alias venderet, quia non statim solvitur ab emptore, sed expectat solucionem per aliquod tempus, censetur esse usurarius, ergo in contractu vendicionis pot­ est esse usura. 6  Item, emens equum vel bladum vel fructus agri iam seminati minori precio quam probabiliter valeat, vel quam alias tunc esset empturus seu habiturus pro eo quod solvit precium prius quam recipiat rem emptam, dicitur etiam usurarius, ergo in contractu emptionis potest esse vicium usure.

Dritter Teil: Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen 1  Aus dem Gesagten werden einige Fragen zum Thema Wucher klar oder können klar werden.

Erste Klarstellung 2  Die erste ist, dass Wucher an sich nur im Kontext eines Dar­ lehens vorkommen kann. 3  Das ist nämlich klar aus dem oben genannten Grund der natürlichen Ungleichheit des Wuchers. Im Wucher wird ja, über den Verkauf der Sache hinaus, der Gebrauch der Sache verkauft, der von ihr selbst nicht verschieden ist oder ihr keinen neuen Vorteil hinzufügt. Das kann aber nur vorkommen bei Sachen, die als Darlehen überlassen werden können bzw. wurden, wie klar wird im Durchgang durch die anderen Verträge im Einzelnen. 4  Außerdem: Durch den Wucher wird dem Käufer dank des Darlehens das verkauft, was auf Grund des Darlehens dem Käufer schon zuteilwurde, oder etwas, was sich aus dem Darlehen ergibt und dem Darlehensempfänger gehört. 5  Dagegen zu sprechen scheint aber: Wer ein Pferd oder Stoff für mehr verkauft, als es wahrscheinlich wert ist, oder für mehr, als er sonst dafür nähme, weil er nicht sofort vom Käufer bezahlt wird, sondern einige Zeit auf die Zahlung wartet, gilt als Wucherer103 – also kann es im Kaufvertrag Wucher geben. (1. Fall) 6  Ebenso: Wer ein Pferd oder Getreide oder Ackerfrüchte, die schon gesät sind, für weniger kauft, als sie wahrscheinlich wert sind, oder für weniger, als er sie sonst zu dem späteren Zeitpunkt kaufen oder bekommen würde, weil er nämlich bezahlt, bevor er die Kaufsache erhält, wird ebenfalls Wucherer genannt – also kann es im Kaufvertrag das Laster des Wuchers geben. (2. Fall)104

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7  Item, emens agrum sub tali condicione quod, post quinque vel septem annos, illum pro eodem precio restituat venditori, videtur usuram committere non computando fructus quinque vel septem annorum in precio capitalis. 8  Item, cambium est contractus differens a contractu mutui; sed in cambio contingit plerumque usura, ut si quis mille sterlingos tradit alicui ultra mare ut sibi citra reddatur pecunia prevalencior aut totidem sterlingi in terra ubi plus valent. 〈 Responsio  〉

9  Dicendum quod in predictis aut consimilibus, non intercidit usura nisi pro quanto intercidit ibi aliqua racio mutui. 10  Nam in primo casu, venditor quasi mutuat emptori precium rei empte quem, statim cum ipsam recipit, solvere ex vi emptionis tenetur, et ideo per quamdam racionem mutui retinet precium quod mox erat solvendum. Et quia propter tale mutuum venditor amplius accipit, ideo intercidit ibi usura. Si autem absque omni dilacione et expectacione solucionis venderet sibi rem pro precio adhuc ampliori quam fuerit principale precium cum superadiuncta usura, non fuisset ibi peccatum usure sed solum peccatum iniusti precii seu iniuste vendicionis. 11  In secundo eciam casu, emptor per quamdam racionem mutui tradit precium venditori, ante recepcionem rei empte, quia constat quod ex natura emptionis et vendicionis aut commutacionis, non tenetur precium rei empte tradere antequam rem emptam recipiat. Nam omnes commutaciones tenentur sibi invicem ad paria et pariter. Quia ergo propter racionem mutui ibi intercidentem, quasi

Klarstellung weiterer Fragen

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7  Ebenso: Wer einen Acker unter der Bedingung kauft, dass er ihn nach fünf oder sieben Jahren dem Käufer zum selben Preis zurückgibt, scheint Wucher zu begehen, weil er die Früchte der fünf oder sieben Jahre beim Preis des Kapitals nicht mitrechnet. (3. Fall) 8  Ebenso: Der Geldwechsel ist ein Vertrag, der sich vom Kaufvertrag unterscheidet; aber beim Geldwechsel kommt meistens Wucher vor – wenn z. B. jemand einem anderen tausend Sterlinge nach Übersee schickt, damit er hier eine wertvollere Währung105 [dafür] bekommt oder ebenso viele Sterlinge in einem Land, wo sie mehr wert sind. (4. Fall)

Antwort 9  Es ist zu sagen, dass in den genannten (und ähnlichen) Fällen kein Wucher stattfindet, es sei denn, insofern hier irgendeine Form von Darlehen stattfindet. 10  Denn im ersten Fall leiht der Verkäufer dem Käufer quasi den Preis der gekauften Sache, die er, sobald er sie erhält, kraft Kauf(vertrag)s sofort bezahlen muss. Und daher setzt er auf Grund einer Art von Darlehen(svertrag) die Bezahlung aus, die sofort hätte geleistet werden müssen. Und weil der Verkäufer wegen dieses Darlehens mehr bekommt, deshalb findet hier Wucher statt. Würde er aber ohne jeden Aufschub und Warten auf die Zahlung ihm die Sache für einen noch höheren Preis verkaufen als der ursprüngliche Preis zuzüglich des Wucherzinses, dann gäbe es hier nicht die Sünde des Wuchers, sondern lediglich die Sünde des ungerechten Preises bzw. des ungerechten Verkaufs. 11  Auch im zweiten Fall entrichtet der Käufer dem Verkäufer den Preis auf Grund einer Art Darlehen, vor dem Empfang der gekauften Sache. Bekanntlich muss er ja aus der Natur des Kaufs und Verkaufs bzw. Tauschs den Preis für die Kaufsache nicht entrichten, bevor er die Sache erhält. Denn alle Tauschgeschäfte verpflichten gegenseitig zu Gleichem und in gleicher Weise. Weil er (der Käufer) nun wegen des dabei eintretenden Darlehenscharakters einen Teil des für die gekaufte Sache geschuldeten Preises quasi als Preis

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pro precio mutui accipit seu retinet aliquam partem debiti precii rei empte, idcirco intercidit ibi usura. 12  In tercio vero casu, si emptor agri intencione simplici illum emit, paratus illum semper retinere si venditor noluerit agrum re­ emere, non est ibi usura quia nulla intervenit ibi racio mutui, sed solum emptio pura et simplex. Si tamen sub specie emptionis, precium agri mutuare intendit, et propter tale mutuum lucrifacere annuos fructus agri, tunc est ibi usura. De huiusmodi autem dolosa intencione presumitur, quando emptor agri consuevit exercere usuras aut huiusmodi emptiones, aut quando precium quod tunc datur modicum est respectu valoris rei. Per contrarias vero circumstancias presumitur de simplici intencione. In iudicio tamen anime standum est in hiis consciencie confitentis se puram et simplicem intencionem habuisse. 13  In quarto eciam casu, si sit ibi pura et sola racio cambii, non cadit usura, utpote si prefatos sterlingos intendebat Romam deferre et ibi cambire et inveniens campsorem ultra mare habentem tabulam cambii Rome et tradit eos sibi tamquam cambiens eos Rome, ac per consequens ad forum cambii Rome, tunc si nichil aliud hic intendit, non est ibi usura licet plus valeant Rome quam ultra mare. Si tamen ex hoc quod prius eos tradit quam Rome recipiat precium cambii eorum, intendit lucri aliquid adquirere, tunc prior tradicio induit racionem mutui et est ibi usura. 14  Consimiliter eciam est in emente pannum vel equum pro mille solidis ab aliquo, qui est eidem mox id ipsum revenditurus pro nongentis, quia primus dominus panni vel equi tradit sibi illos nongentos, ipse vero nichil solvit tunc primo domino rei. Patens enim

Klarstellung weiterer Fragen

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für das Darlehen erhält bzw. zurückbehält, darum findet hier Wucher statt.106 12  Im dritten Fall aber, sofern der Käufer des Ackers diesen in aufrichtiger Absicht kauft, bereit, ihn immer zu behalten, wenn der Verkäufer den Acker nicht wieder zurückkaufen möchte: dann gibt es hier keinen Wucher, weil hier kein Darlehenscharakter stattfindet, sondern nur der reine und einfache Kauf. Wenn er aber – unter dem Vorwand des Kaufs – beabsichtigt, den Preis des Ackers als Darlehen zu geben und für dieses Darlehen die jährlichen Erträge als Gewinn einzustreichen, dann gibt es dort Wucher. Eine solche betrügerische Absicht ist anzunehmen, wenn der Käufer des Ackers Wucher zu treiben oder solche Käufe zu tätigen pflegte oder wenn der Preis, der da gegeben wird, im Vergleich mit dem Wert der Sache zu bescheiden ist. Aus den gegenteiligen Umständen aber lässt sich eine aufrichtige Absicht annehmen. In der Beurteilung der Seele jedoch muss man sich bei diesen Dingen an das Gewissen desjenigen halten, der bekennt, er habe eine reine und aufrichtige Absicht gehabt. 13  Auch im vierten Fall handelt es sich nicht um Wucher, wenn es dabei einzig und allein um das Anliegen des Geldwechsels geht: Wenn z. B. jemand die besagten Sterlinge nach Rom zu bringen und dort zu wechseln beabsichtigte, in Übersee107 einen Wechsler findet, der einen Wechseltisch in Rom hat und er sie diesem übergibt, so als würde er sie in Rom wechseln und folglich zu den Geldmarktbedingungen in Rom – wenn er dabei nichts anderes im Auge hat, gibt es hier keinen Wucher, auch wenn sie in Rom mehr wert sind als in Übersee. Doch wenn er aus dem Umstand, dass er sie eher hergibt, als er in Rom ihren Gegenwert erhält, irgendeinen Gewinn hinzuzuerwerben trachtet, dann nimmt die vorherige Übergabe den Charakter eines Darlehens an, und es findet hier Wucher statt. 14  Ganz ähnlich verhält es sich auch bei demjenigen (A), der einem anderen (B) Stoff oder ein Pferd für tausend Schilling abkauft und ebendiesem (B) alsbald genau dasselbe für neunhundert zurückverkauft: Denn der erste Inhaber (B) des Stoffs oder Pferdes übergibt ihm (A) die neunhundert Schilling, dieser (A) aber zahlt dann dem ersten Inhaber (B) der Sache nichts.108 Es ist nämlich of-

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est quod, ideo secundus revendit primo pro minori precio, quia sub quadam racione mutui pocius quam sub reali veritate solucionis tradit sibi nongentos solidos, propter quod in huiusmodi contractu est vere usura. 15  Si quis tamen, absque intencione sic reemendi rem a se vendendam et absque fraude usure, vendidisset equum vel pannum pro mille, et tandem ab emptore simpliciter volente illud cuicumque revendere, reemat illud minori precio, non est hic usura. Posset tamen ibi esse peccatum iniusti precii et nichilominus posset huius­ modi reempcio sic circumstanciari quod non esset ibi peccatum iniuste minoracionis precii. 〈 Secundum dubium  〉

16  Secundum dubium ex predictis patens est quod si venditor non statim solvendus, propter huiusmodi expectacionem arcet seu auget precium, non tamen extra summum limitem iusti precii sed in summo ipsius, ita quod quantumcumque solucionem ampliori tempore gratis seu ex pacto expectaret, numquam ob hoc ultra strictum et summum limitem iusti pretii aliquid accipere. Non est ibi usura secundum sentenciam doctorum, quia propter expectacionem non accipit plus iusto precio rei quam vendit, quamvis non faciat graciam remissionis precii, quam libenter faceret si statim solveretur. Aliud est enim non facere graciam aliam pro eo quod facit graciam expectacionis et aliud propter hoc simpliciter excedere iustum precium. 17  Quidam vero ultra hoc dixerunt quod mercator in vendendo merces suas potest precium sic taxare quod, pensatis expensis om-

Klarstellung weiterer Fragen

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fensichtlich, dass der zweite [Inhaber] (A) dem ersten (B) deshalb zu einem niedrigeren Preis zurückverkauft, weil dieser ihm die neunhundert Schilling eher auf Grund des Darlehenscharakters als im Sinn einer Bezahlung gibt. Deshalb liegt bei einem solchen Vertrag in der Tat Wucher vor.109 15  Wenn jedoch jemand ohne die Absicht, die von ihm zu verkaufende Sache auf diese Weise wieder zurückzukaufen, und ohne wucherischen Betrug das Pferd oder den Stoff für tausend verkauft hat und es am Ende vom Käufer, der das einfach – wem auch immer – wiederverkaufen will, für einen geringeren Preis zurückkauft, so findet hier kein Wucher statt. Freilich könnte hier die Sünde des ungerechten Preises vorliegen, trotzdem könnten die Umstände des Rückkaufs auch so gestaltet werden, dass dabei keine Sünde ungerechter Preisminderung vorliegt.

Zweite Klarstellung 16  Die zweite Klarstellung, die aus dem Gesagten offenbar wird, ist: dass ein Verkäufer, wenn er nicht sofort bezahlt werden muss und infolge dieser Erwartung den Preis hält110 oder erhöht – aller­ dings nicht über die Höchstgrenze des gerechten Preises hinaus, sondern auf dessen höchster Höhe, so dass, wie sehr er auch längere Zeit, gratis oder auf Grund einer Vereinbarung, auf die Bezahlung wartet –, deshalb doch niemals etwas über die strikte und höchste Grenze des gerechten Preises hinaus erhält. Hier liegt, nach der Meinung der Gelehrten, kein Wucher vor, denn auf Grund des Wartens erhält er nicht mehr als den gerechten Preis für die Sache, die er verkauft, obwohl er nicht das Entgegenkommen eines Preisnachlasses erweist, den er gern gewähren würde, wenn er sofort bezahlt würde. Eines ist es nämlich, nicht noch eine Gunst zu erweisen, da er ja schon die Vergünstigung des Aufschubs gewährt, ein anderes, deshalb schlichtweg den gerechten Preis zu überschreiten. 17  Einige aber haben darüber hinaus gesagt, dass der Kaufmann beim Verkaufen seiner Ware den Preis so festlegen kann, dass er,

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nibus ac laboribus et periculis circa merces suas factis vel fiendis, lucretur duos vel quatuor solidos in libra, et ideo in expectacione solucionis potest usque ad hoc augere precium mercium quas vendit, ut pensata huiusmodi expectacione, cum ceteris circumstanciis lucretur finaliter duos vel quatuor solidos in libra, idest in re que omnibus pensatis consistit sibi viginti solidos. Horum autem racio est quia ex quo mercator pro communi aliorum utilitate exponit se laboribus, ac periculis et expensis, iustum est ut inde reportet l­ucrum competens officio. 18  Contra hoc autem arguitur primo, quia dato quod mercator merces valoris centum librarum emisset pro mille libris aut quomodocumque expendidisset in eis mille libras vel duo milia, tunc secundum positionem predictam posset eas licite vendere sic quod ultra mille vel duo milia librarum, lucretur in qualibet libra duos vel quatuor solidos, quod patenter est irracionabile. 19  Secundo, quod quantumcumque pro suis expensis vel laboribus debeat lucrum aliquod reportare, non tamen pro expectacione solucionis in quantum habet racionem mutui, quamvis expensas quas postmodum in requirendo expectatam solucionem faceret, posset exigere pro interesse. 20  Tercio quia dato quod in terra vel tempore summe caristie suas merces maximo precio emisset, numquam propter hoc in loco vel tempore in quo merces ille sunt vilis pretii, posset illas vendere maximo precio, saltem propter expectacionem solucionis? Absit. 21  Ex omnibus ergo premissis, potes advertere quod ubi nulla penitus intervenit racio mutui, nulla potest esse usura. Unde si est ibi vicium, est vicium aliud ab usura. Et ideo quicumque aliquid ab altero recipit, nichil dando illi nisi tempore solucionis, vel reddicionis accepti, non committit usuram aliquid lucrando racione talis accepti,

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bei Berücksichtigung aller Auslagen, Arbeiten und Gefahren, die betreffs seiner Ware entstanden sind oder noch entstehen, zwei oder vier Schilling pro Pfund Gewinn machen kann. Und daher kann er beim Warten auf die Zahlung den Preis der Waren, die er verkauft, so weit erhöhen, dass er, bei Berücksichtigung eines solchen Aufschubs, schließlich zwei oder vier Schilling pro Pfund gewinnt, d. h. bei einer Sache, die ihn bei Berücksichtigung von allem zwanzig Schilling kostet.111 Der Grund dafür ist: Weil der Kaufmann zum allgemeinen Nutzen der anderen Strapazen, Gefahren und Kosten auf sich nimmt, ist es nur gerecht, dass er daraus einen dieser Dienstleistung entsprechenden Gewinn einfährt. 18  Dagegen wird aber erstens eingewandt: Angenommen, der Kaufmann hätte Waren im Wert von hundert Pfund für tausend Pfund gekauft oder er hätte (wie auch immer) dafür tausend oder zweitausend Pfund aufgewandt – dann dürfte er sie nach besagter Position so verkaufen, dass er über die tausend oder zweitausend Pfund hinaus pro Pfund zwei oder vier Schilling Gewinn macht, was offenbar unvernünftig ist. 19  Zweitens: Sosehr er auch für seine Aufwendungen und Mühen irgendeinen Gewinn einfahren muss, so doch nicht für den Zahlungsaufschub, insofern er Darlehenscharakter hat, obwohl er die Ausgaben, die er nachher beim Eintreiben der aufgeschobenen Zahlung machen würde, als Ausgleichszahlung verlangen könnte. 20  Drittens: Angenommen, er hätte seine Waren in einem Land oder einer Zeit höchster Not zu einem sehr hohen Preis gekauft, könnte er sie deshalb niemals an einem Ort bzw. zu einer Zeit, wo diese Waren im Preis billig sind, zu einem hohen Preis verkaufen – wegen eines Zahlungsaufschubs aber doch? Gewiss nicht. 21  All dem vorher Gesagten kann man entnehmen: Wo es überhaupt keinen Darlehenscharakter gibt, kann es keinen Wucher geben. Wenn also dabei etwas lasterhaft ist, so ist es ein anderes Laster als der Wucher. Und daher: Wer auch immer etwas von einem anderen empfängt und ihm dabei nichts gibt, sondern erst zur Zeit der [vereinbarten] Zahlung oder der Rückgabe des Empfangenen, begeht keinen Wucher, wenn er etwas verdient auf Grund des so Emp-

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ut puta si racione custodie depositi sibi traditi, aliquid lucri accipiat, aut quia absque periculo et labore deportacionis de una terra in aliam reddit illud deponenti vel eius equivalens, ut cum episcopus vadens Romam deponit in Montepessulano mille marcas alicui mercatori habenti tabulam pecunie Rome, accipit ille ab episcopo decem libras ut prefatas mille reddat sibi Rome indempnes. Quamvis enim hic sit turpe seu indecens lucrum, pro eo quod iste mercator absque periculo et expensis et absque labore deportacionis facit eas episcopo in Roma haberi, et eciam antequam reddat potest ex sibi traditis in Montepessulano mercari atque lucrari, nichilominus nulla est hic usura, cum ipse nichil mutuaverit episcopo antedicto, nec tenetur ad restitucionem decem librarum, quia vere servivit episcopo in aliquo equivalenti, quamvis hoc fecerit absque suo periculo et labore, et ideo indecencia lucri talis non continet simpliciter in­ iusti­ciam, ymo pocius quamdam equalitatem. 〈 Tercium dubium  〉

22  Tercium dubium ex predictis patens est quod tempus currens pro receptore mutui, idest tempus mutuacionis, non potest vendi receptori mutui quin a vendente fiat ibi usura pro eo quod, ex natura mutui, tempus illud non est prestitoris sed pocius receptoris. 23  Ex hoc autem non sequitur quod nullum tempus possit licite vendi absque usura; quin pocius, per locum ab oppositis, sequitur quod tempus proprium venditoris possit licite vendi, si temporalem utilitatem temporali precio appreciabilem in se includat. Et ideo, si

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fangenen. Wenn z. B. jemand auf Grund der Aufbewahrung eines ihm anvertrauten Guts einen Gewinn erlangt oder weil er ohne Gefahr und Mühe des Transports von einem Land ins andere die Sache oder ihren Gegenwert dem Deponierenden aushändigt – wenn z. B. ein Bischof, der nach Rom fährt, in Montpellier tausend Mark bei einem Kaufmann hinterlegt, der einen Wechseltisch in Rom hat und dieser vom Bischof zehn Pfund bekommt, damit er ihm die besagten tausend [Mark] in Rom ohne Verlust aushändigt. Denn obwohl es hier einen unschönen bzw. unschicklichen Gewinn gibt, weil dieser Kaufmann ohne Gefahr und Ausgaben und ohne die Mühe des Transports veranlasst, dass der Bischof sie in Rom bekommt, und er auch, bevor er sie abgibt, mit dem ihm überlassenen Geld in Montpellier Handel treiben und Gewinn machen kann, so gibt es nichtsdestotrotz hier keinerlei Wucher, da er dem besagten Bischof nichts geliehen hat. Und er ist auch nicht zur Rückgabe der zehn Pfund verpflichtet, da er tatsächlich dem Bischof einen gleichwertigen Dienst erwiesen hat, obwohl er das ohne eigene Gefahr und Mühe getan hat. Und daher enthält die Unschicklichkeit eines solchen Gewinns schlechthin keine Ungerechtigkeit, ja vielmehr eine gewisse ­Gleichheit.

Dritte Klarstellung 22  Eine dritte Klarstellung, die aus dem Gesagten hervorgeht, ist: Die Zeit, die für den Darlehensempfänger läuft, d. h. die Laufzeit ­eines Darlehens, kann dem Darlehensempfänger nicht verkauft werden, ohne dass dabei seitens des Verkäufers Wucher stattfindet; und zwar deswegen, weil auf Grund der Natur des Darlehens diese Zeit nicht dem Darlehensgeber, sondern vielmehr dem Darlehensnehmer gehört. 23  Daraus folgt aber nicht, dass gar keine Zeit rechtens ohne Wucher verkauft werden kann. Vielmehr folgt daraus, nach dem locus ab oppositis112, dass die Zeit, die einem als Verkäufer113 gehört, mit Recht verkauft werden kann, sofern sie einen mit einem zeitlichen Preis bewertbaren zeitlichen Nutzen beinhaltet. Und daher, wenn

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quis debet tibi centum libras solvere post tres annos, ita quod antea non tenetur, potest tibi vendere tempus illud, paciscendo tecum quod det tibi mox octoginta et propter tempus trium annorum inter­ currens retineat sibi seu adquirat viginti. 24  Quod vero contra a quibusdam arguitur, quod tempus est res omnibus communis, tale autem non debet vendi quasi sit proprium venditoris, dicendum quod hic non agitur de tempore, prout est omnibus quid commune, sed pocius de proprio tempore rei proprie, et prout respectu alicuius rei, est de iurisdictione vel de iure huius vel illius, iuxta quod annus equi michi comodati ad annum est eo ipso de meo iure, et consimiliter tres anni pecunie quam non teneor solvere usque post tres annos sunt quoad hoc mei iuris, propter quod et possum vendere valorem ipsius. Si enim nichil valeret, non pluris esset teneri ad mox solvendum quam teneri ad solvere usque post tres annos et non ante. 25  Si vero adhuc obicias quod, qua racione pecunia mutuata nichil ultra se habet valoris vendibilis, eadem racione nec pecunia ad tres annos solvenda, et ideo vendere tempus eius viginti libras videtur esse usura, dicendum quod hic non venditur pecunia, sed tempus solucionis quod utique est venditoris. Econtra vero tempus mutuate pecunie non est prestitoris sed receptoris, usque scilicet ad terminum sibi prefixum et ideo non potest sibi vendi. Si autem is qui tibi debet centum solvere post tres annos, mutuaret tibi octoginta et ex hoc vellet sibi dari vel relinqui reliqua viginti, tunc utique esset usura, quia tunc venderet tibi tempus pecunie sic mutuate. Quamvis autem pecunia ex se non valeat plus seipsa, ex utentis tamen facul-

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jemand dir 100 Pfund nach drei Jahren zahlen muss, so dass er vorher dazu nicht verpflichtet ist, kann er dir diese Zeit verkaufen, indem er mit dir vereinbart, dass er dir sofort 80 gibt und wegen der inzwischen vergehenden Zeit von drei Jahren 20 für sich behält bzw. erwirbt. 24  Was aber dagegen von manchen Leuten vorgebracht wird, dass die Zeit eine allen gemeinsame Sache sei, eine solche aber nicht verkauft werden dürfe, als sei sie Eigentum des Verkäufers:114 dazu ist zu sagen, dass es sich hier nicht um die Zeit handelt, insofern sie etwas allen Gemeinsames ist, sondern vielmehr um die eigene Zeit der eigenen Sache, und insofern sie [die Zeit] hinsichtlich ­einer bestimmten Sache von Rechts wegen dem und dem gehört; so wie das Jahr eines Pferdes, das mir für ein Jahr ausgeliehen wurde, eben deswegen mir gehört, so gehören auch entsprechend drei Jahre ­eines Geldes, das ich nicht zahlen muss, bis die drei Jahre um sind, insofern mir. Deshalb kann ich auch den entsprechenden Wert verkaufen. Wenn sie [die Zeit] nämlich nichts wert wäre, wäre die Verpflichtung, sofort zu bezahlen, nicht von höherem Wert als die Verpflichtung, nach drei Jahren (und nicht vorher) zu zahlen. 25 Wenn du aber außerdem noch einwendest, dass aus dem Grund, dass das geliehene Geld zusätzlich nichts an verkäuflichem Wert hat, aus eben demselben Grund auch nicht das nach drei Jahren zu zahlende Geld, und dass es daher Wucher zu sein scheint, die Zeit dieses Geldes für 20 Pfund zu verkaufen: so ist zu sagen, dass hier nicht das Geld verkauft wird, sondern die Zeit bis zur Zahlung, die jedenfalls dem Verkäufer115 gehört. Die Zeit des geliehenen Geldes wiederum gehört nicht dem Darlehensgeber, sondern dem Empfänger, und zwar bis zum ihm gesetzten Termin, und daher kann sie ihm nicht verkauft werden. Wenn aber derjenige, der dir nach drei Jahren 100 Pfund zahlen muss, dir 80 borgen würde und daraufhin verlangte, dass man ihm die übrigen 20 gäbe bzw. überließe, dann wäre es auf jeden Fall Wucher, denn dann würde er dir die Zeit des so geborgten Geldes verkaufen. Obwohl zwar das Geld von sich aus nicht mehr wert ist als es selbst, erlangt es dennoch durch die Fähigkeit und den Fleiß des

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tate et industria adquirit aliquem valorem aut potest adquirere, et ideo ille usus ac facultas utendi potest ab eo, cuius ille usus est, vendi. 26  Si vero ex hoc arguas contra quod cum habens centum libras habeat facultatem utendi eis vel possidendi eas, non solum pro tribus annis, sed eciam pro toto tempore futuro, ergo eque bene poterit vendere hanc facultatem futuri temporis, sicut facit prefatus debitor qui non tenetur eas solvere ante tres annos, dicendum quod hic et ibi non est eadem racio nec consimilis, quia habens pecuniam non potest ea in quantum habet racionem precii seu numismatis uti, nisi mutuando vel pro re altera commutando; utrobique autem currit futurum tempus pro eo cui mutuatur vel commutatur, nec in commutando emitur vel apreciatur ultra simplicem vim precii sui. Prefatus autem debitor, dum solvit octoginta, nichil mutuat, sed pocius solvit debitum suum, sed de hoc quia solvit ante tempus debitum vult aliquod precium, quod non potest dici precium mutui, cum nichil mutuet, sed solum potest dici precium anterioracionis solucionis. Quia autem hec anterioracio est precio extimabilis, ideo potest licite vendi. 〈 Quartum dubium  〉

27  Quartum dubium ex predictis patens est cuiusmodi incertitudo aut periculum excludit usuram et cuiusmodi non. 28  Quandocumque enim capitale alicui traditum est tradenti certum, ita quod semper in omnem eventum est totum sibi reddendum, tunc non sufficit incertitudo lucri. Unde si dicat ›trado tibi decem solidos michi omnino reddendos; et si inde lucratus fueris,

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Nutzers einen gewissen Wert (oder kann ihn erlangen), und daher kann jener Gebrauch und die Fähigkeit zur Nutzung von dem, der diesen Gebrauch hat, verkauft werden. 26  Wenn du aber hieraus dagegen einwendest, dass derjenige, der 100 Pfund hat, die Fähigkeit hat, sie zu nutzen bzw. zu besitzen – nicht nur für drei Jahre, sondern auch für die ganze zukünftige Zeit: also könnte er diese auf die zukünftige Zeit bezogene Fähigkeit ebenso gut verkaufen wie der obengenannte Schuldner, der sie erst nach drei Jahren zahlen muss –, so ist zu sagen, dass es hier und dort nicht dieselbe Angelegenheit ist und auch keine vergleichbare. Denn derjenige, der das Geld hat, kann es, insofern es den Charakter ­eines Preises oder einer Münze hat, nur gebrauchen, indem er es [jemandem] leiht oder gegen eine andere Sache eintauscht. In beiden Fällen aber läuft die künftige Zeit für den, dem geliehen oder mit dem getauscht wird, und im Tauschen wird nicht [etwas] gekauft oder bewertet über den einfachen Inhalt seines Preises hinaus. Der besagte Schuldner aber gibt kein Darlehen, wenn er die 80 [Pfund] zahlt, sondern zahlt vielmehr seine Schulden. Aber dafür, dass er seine Schulden vorzeitig zahlt, will er eine Vergütung, die man nicht als Preis für das Darlehen bezeichnen kann, da er ja kein Darlehen gibt, sondern man kann sie nur als Vergütung für die Antizipation der Zahlung bezeichnen. Weil aber diese Antizipation preislich veranschlagt werden kann, kann sie auch rechtens verkauft werden.

Vierte Klarstellung 27  Die vierte Klarstellung, die sich aus dem Gesagten ergibt, ist: welche Ungewissheit bzw. Gefahr den Wucher ausschließt und welche nicht. 28 Immer nämlich, wenn Kapital, das jemandem übertragen wurde, für den Anleger sicher ist, so dass es ihm immer, bei jedem Ausgang [der Unternehmung], ganz zurückgegeben werden muss: so reicht die Ungewissheit des Gewinns nicht. Daher, wenn er sagt: »Ich gebe dir zehn Schilling, die du mir ganz zurückgeben musst;

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dabis michi tantum de lucro vel quantum tibi placebit; si vero nichil lucratus fueris, nichil michi dabis nisi solum capitale‹, hic est aperte usura quantum ad totum illud quod de lucro ultra capitale accipit. 29  Non enim sufficit quodcumque periculum capitalis, utpote si quis mercatori navigaturo per mare tradat centum, sic quod si navis cum capitali periclitetur, non teneatur mercator sibi reddere capitale; si tamen in mercando amiserit, semper reddet sibi totum capitale, et si lucratus fuerit habebit partem lucri, hic enim est usura, sicut dicitur Extra, De usuris, Naviganti. 30  Si quis eciam mutuans alteri centum marcas, velit inde aliquid ultra habere, quia non sunt sibi ita secure sicut si eas semper haberet in archa, ymo mutuando multis periculis amittendi eas exponit, non excusatur propter tale periculum ab usura. 31  Predictorum autem racio radicalis est quia periculum tollens usuram debet apud lucrantem ex eo includere dominium et usum rei periclitantis. Dominium quidem, quia ex re sua ut sua debet lucrari, non autem ex re ut iam est alterius. Usum vero, quia usus rei ex quo lucrum provenit debet mediate vel immediate esse lucrantis. Quandocumque autem in ipso actu mercandi, periculum mercium vel pecunie nullo modo, respectu actus mercandi, spectat ad primum traditorem pecunie vel mercium, sed solum ad illum cui sunt tradite, tunc eo ipso earum usus et dominium quoad actum illum mercandi spectat ad solum illum cuius periculo currunt. Res enim perditur domino suo. Perdere enim proprie idem est quod amittere rem suam.

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und wenn du daraus Gewinn erzielt hast, gibst du mir von dem Gewinn, soviel wie du möchtest; wenn du aber keinen Gewinn erzielt hast, gibst du mir nur das Kapital«: so liegt hier offensichtlich Wucher vor, was all das betrifft, was er vom Gewinn über das Kapital hinaus bekommt. (1. Fall) 29  Es reicht nämlich nicht jede beliebige Gefahr für das Kapital. Wenn z. B. jemand einem Kaufmann, der eine Reise übers Meer antritt, 100 anvertraut, so dass, wenn das Schiff mitsamt dem Kapital in Gefahr gerät, der Kaufmann nicht verpflichtet ist, ihm das Kapital zurückzuerstatten – wenn er es aber im Handel verliert, er ihm immer das ganze Kapital zurückgeben muss, und wenn er [der Kaufmann] Gewinn erzielt hat, er [der Kapitalgeber] einen Teil des Gewinns bekommt: so liegt hier allerdings Wucher vor, wie es im Liber Extra, im Kapitel »Wucherzinsen«, Kanon »Naviganti«, heißt.116 (2.  Fall) 30  Auch wenn jemand einem anderen 100 Mark leiht und daraus etwas über [das Darlehen hinaus] haben will, weil sie ihm nicht so sicher sind, wie wenn er sie immer im Geldkasten hätte, und er sie ja, indem er sie verleiht, vielerlei Gefahr, sie zu verlieren, aussetzt: wegen einer solchen Gefahr wird er nicht vom Vorwurf des Wuchers freigesprochen. (3. Fall) 31  Der eigentliche Grund aber für das eben Gesagte ist: Die Gefahr, die den Wucher beseitigt, muss bei demjenigen, der aus ihr Gewinn zieht, Eigentum und Gebrauch der gefährdeten Sache be­ inhalten. Eigentum: denn er muss aus seiner eigenen Sache als seiner eigenen Gewinn ziehen, nicht aber aus der Sache, insofern sie schon einem anderen gehört. Gebrauch: denn der Gebrauch der Sache, aus dem der Gewinn hervorgeht, muss mittelbar oder unmittelbar bei dem liegen, der den Gewinn macht. Wann auch immer aber in der Handelsaktivität selbst die Gefahr für die Waren bzw. für das Geld auf keine Weise (was die Handelsaktivität betrifft) beim Übergeber des Geldes bzw. der Waren liegt, sondern nur bei dem, dem sie übergeben wurden, dann liegt deren Gebrauch und Eigentum eo ipso, was die Handelsaktivität angeht, nur bei dem, auf dessen Gefahr sie laufen. Eine Sache geht nämlich ihrem Eigentümer verloren. Denn verlieren ist eigentlich dasselbe wie seine Sache einbüßen.

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32  Constat autem quod in primo casu, capitale non currit ad periculum primi tradentis. Quamvis autem in secundo casu currat ad periculum eius quamdiu est in itinere vel in mari, et sic pro illo tempore currat ut sua, in actu tamen et usu mercandi et commutandi, currit ad solum periculum mercatoris cui est tradita. Et ideo respectu illius actus et usus est solum istius. Et ideo per talem actum soli isti lucratur, sicut et soli isti perditur. 33  In hoc eciam casu est ut sepius alia racio usure, quia primus traditor pecunie non acciperet supra se periculum maris aut itineris, nisi probabilius presumeret partem suam cum toto hoc periculo esse tuciorem et utiliorem sibi quam mercatori, pro eo quod rarius in mari vel in itinere amittuntur quam per usum mercandi seu commutandi. 34  Periculum autem tertii casus non differt realiter a racione mutui et mutuacionis, seu saltem est sic sibi inseparabiliter annexum quia non plus habet de racione vendibilis quam habet mutuum in quantum mutuum, et ideo perinde est lucrari ex hoc periculo quod lucrari ex solo actu mutui. Preterea per hoc periculum non tollitur ius indempnitatis ipsi prestitori, quia receptor sibi tenetur ad omnimodam indempnitatem et ad reddendum plene equale. Iniquum autem est ipsum ad reddendum amplius obligari. 〈 Casus  〉

35  Si vero ponatur casus qui in quibusdam terris inter mercatores sepe contingit, in quo quidem capitale currit in mercando ad periculum tradentis, ita quod quidquid ille in mercando inde vel alio modo inculpabili perditur, amittitur ei qui tradit capitale; lucrum tamen est ei fixum et certum, quia mercator cui traditum est illud capitale emit

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32  Es steht aber fest, dass im ersten Fall das Kapital nicht auf die Gefahr des ersten, der es brachte, läuft. Obwohl es nun im zweiten Fall auf dessen Gefahr läuft, solange es unterwegs bzw. auf See ist, und so für diese Zeit als seines läuft, so läuft es doch im Akt und in der Ausübung des Handelns und Tauschens nur auf die Gefahr des Kaufmanns, dem es übergeben wurde. Und im Hinblick auf diesen sind Akt und Ausübung nur die seinen. Und daher profitiert durch einen solchen Akt nur er, wie auch nur er [dadurch] verliert. 33  Auch in diesem Fall gibt es, wie öfters, einen anderen Grund für Wucher: denn der erste Geldgeber würde das Risiko der Seefahrt oder der Reise nicht auf sich nehmen, wenn er nicht annähme, dass sein Anteil trotz all dieser Gefahr für ihn sicherer und nutzbringender wäre als für den Kaufmann, weil seltener etwas auf See oder unter­wegs verlorengeht als in der Praxis von Handel und Tausch. 34 Das Risiko des dritten Falls aber unterscheidet sich im Grunde nicht wirklich vom Darlehen und Borgen bzw. es ist mit ihm mindestens so untrennbar verbunden, dass es im Grunde nicht mehr feilbietet als das Darlehen als solches, und daher heißt aus diesem Risiko Gewinn zu ziehen dasselbe, wie allein aus dem Akt des Darlehens Gewinn zu ziehen. Außerdem wird durch dieses Risiko dem Darlehensgeber das Recht auf Schadloshaltung nicht weggenommen, weil der Empfänger ihm in jeder Hinsicht zur Schadloshaltung verpflichtet ist und dazu, etwas vollkommen Gleichwertiges zu erstatten. Es ist aber unrecht, diesen zu einer darüber hinaus­ gehenden Erstattung zu verpflichten.

Ein Fall 117 35  Nimmt man nun den Fall an, der in einigen Gegenden häufig unter Kaufleuten vorkommt, bei dem zwar Geld im Handel auf die Gefahr des Anlegers läuft, so dass, was auch immer jener [der Kaufmann] im Handel dabei oder auf andere Weise ohne Schuld verliert, für den verloren geht, der das Kapital zur Verfügung stellt; der Gewinn aber ihm dennoch fest und gewiss ist, weil der Kaufmann, dem

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totum* futurum lucrum predicti capitalis, tanto precio quantum probabilitas futuri lucri potest ante proventum lucri racionabiliter extimari. Videtur quibusdam hic esse usuram quadruplici racione. 36  Prima est, quia qui illud quod non est in aliquo suo causaliter vendit, ac si esset causaliter in illo, seu proventurum ex illo, eandem inequalitatem committit que reperitur in contractu usure sicut in prima racione de usuris probatum est superius, scilicet quod ibi venditur id quod non est ac si esset aut quia quod non est suum venditur quasi suum, sed prefatum lucrum non provenit causaliter ex predicto capitali, sed pocius ex mercantis industria et actu. 37  Secunda racio est quia capitale illud videtur hic fraudulenter quasi sub racione mutui lucrativi tradi, pocius quam sub racione capitalis pro tradente in mercaciones ducendi. Constat enim quod ex tunc nullum lucrum sequencium mercacionum adquiritur traditori capitalis, sed pocius eius ductori vel mercatori. Ergo non habet racionem capitalis mercativi respectu primi traditoris, sed s­ olum ­respectu mercatoris. Ergo respectu primi tenet solum racionem mutui prestiti. 38  Tercia racio est quia lucrum vel precium quod a mercatore datur traditori capitalis, datur utique sibi pro illo capitali in mercaciones educendo**. Constat autem quod illud capitale in hora sue tradicionis non valet nisi seipsum, et saltem non valet tunc illud lucrum seu precium quod ex mercacionibus ex ipso fiendis nullo modo trahitur, nec est educendum. Quis autem dubitet quod illud lucrum quod ante omnem mercacionem rerum ex illo capitali fiendam datur

*  Wir folgen hier der Lesart von Fabiano Chiavari in seiner 1556 in Rom erschienenen (fälschlich dem Gerhard von Siena zugeschriebenen) Ausgabe des Tractatus. Piron, S.  212, Nr.  35, Z.  10 hat »causam futurum lucrum«, vgl. aber ebd., zu Nr.  35, Z.  10. Die Formulierung »totum futurum lucrum« kehrt wieder in Nr.  46 und Nr.  48. **  Lesart von Chiavari. Vgl. Piron, S.  214, zu Nr.  38.

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jenes Kapital übertragen wurde, den ganzen künftigen Gewinn aus besagtem Kapital gekauft hat, zu einem Preis, wie er vernünftigerweise vor dem Eintritt des Gewinns veranschlagt werden kann. Einigen scheint hier Wucher vorzuliegen, aus vierfachem Grund. 36  Der erste ist: Wer etwas verkauft, was nicht ursächlich in etwas enthalten ist, das ihm gehört, als ob es ursächlich darin wäre oder aus diesem hervorgehen würde, begeht denselben Verstoß gegen die Gleichheit, der sich im wucherischen Vertrag findet, wie im ersten Vernunftgrund zum Wucher oben gezeigt wurde118: nämlich dass dort verkauft wird, was es nicht gibt, als ob es existierte, oder dass etwas, was einem nicht gehört, verkauft wird, als ob es einem gehörte – nun erwächst aber der besagte Gewinn nicht ursächlich aus dem erwähnten Kapital, sondern vielmehr aus dem Fleiß und der Tätigkeit des Handeltreibenden. 37  Der zweite Grund ist: Dieses Kapital scheint betrügerischerweise quasi als gewinnbringendes Darlehen übertragen zu werden, anstatt vielmehr als Kapital, das für den Anleger im Handel eingesetzt werden soll. Es steht aber fest, dass von jeher kein Gewinn aus den folgenden Handelsaktivitäten für den Kapitalgeber erworben wird, sondern vielmehr für den, der es in den Handel bringt bzw. für den Kaufmann. Folglich hat es den Charakter des Handelskapitals nicht mit Bezug auf den ersten Anleger, sondern nur mit Bezug auf den Kaufmann. Also hat es mit Bezug auf den ersten lediglich den Charakter des Darlehens. 38  Der dritte Grund ist: Der Gewinn bzw. Preis, der vom Kaufmann dem Kapitalanleger gegeben wird, wird ihm ja gegeben, damit dieses Kapital in Handelsaktivitäten zum Einsatz gebracht werden kann. Es steht aber fest, dass dieses Kapital zur Stunde seiner Übergabe nur seinen eigenen Wert hat, wenigstens besitzt es zu dieser Zeit nicht den Wert oder Preis, der aus den Handelsaktivitäten, die dadurch bewirkt werden sollen, [noch] auf keine Weise gezogen wird, noch aus ihm herausgeholt werden kann. Denn wer wollte daran zweifeln, dass dieser Gewinn, der noch vor jedem Waren­ umschlag, der durch jenes Kapital erst entstehen soll, vom Kaufmann dem Kapitalanleger gegeben wird, nicht aus einem Handels-

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a mercatore traditori capitalis, non provenit ex aliqua mercacione ipsius? Videtur ergo quod illud lucrum sit omnino usurarium. 39  Quarta racio est quia, dato quod mercator qui emit futurum lucrum capitalis sibi traditi nichil mercetur ex illo capitali, tunc tenebitur reddere totum capitale indemne, et ultra hoc totum precium emptionis lucri futuri. Si ergo hoc est usurarium, ergo in forma predicti contractus potest intercidere usura. 〈 responsio  〉

40  Aliis vero videtur quod in predicto contractu nulla sit usura, nisi forte fieret ex aliqua speciali et fraudulenta intencione usure, ita quod illud capitale non esset vere secundum rem traditum pro capitali, sed pocius pro mutuo et ad usurarium lucrum. Quod autem aliter non esset ibi usura, probant primo ex tribus hic concurrentibus. 41  Quorum primum est periculum ipsius capitalis, quod in tota mercacione ex eo fienda, et eciam simpliciter, currit hic ad periculum traditoris, non autem ad periculum mercatoris, nisi ex sua culpabili negligencia vel malicia perderet illud. Constat autem quod capitale illi debet lucrari ad cuius periculum vadit simpliciter. 42  Secundum est appreciabilis valor probabilitatis seu probabilis spei lucri ex capitali illo per mercaciones trahendi. Ex quo enim hec probabilitas habet aliquem valorem, aliquo precio temporali appreciabilem, potest licite illo precio vendi. 43  Tercium est quia, ex quo ista probabilitas minori precio venditur, quam lucrum ex mercacionibus capitalis credatur suo tempore

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geschäft des Letzteren stammt? Es scheint also, dass dieser Gewinn ganz und gar wucherisch ist. 39  Der vierte Grund ist: Angenommen, der Kaufmann, der den zukünftigen Gewinn aus dem ihm übertragenen Kapital gekauft hat, erhandelt aus diesem Kapital nichts – dann muss er das ganze Kapital unbeschadet herausgeben und darüber hinaus den ganzen Kaufpreis für den zukünftigen Gewinn. Wenn das nun wucherisch ist, so kann in der Form des besagten Vertrages Wucher stattfinden.

Antwort 40 Anderen119 scheint es, dass es im besagten Vertrag keinerlei Wucher gibt, es sei denn, aus einer besonderen und betrügerischen Absicht, Wucher zu begehen – so dass dieses Kapital nicht wirklich und tatsächlich als Kapital, sondern vielmehr als Darlehen und zu einem wucherischen Gewinn übergeben worden wäre. Dass es ansonsten aber hier keinen Wucher gäbe, zeigen sie erstens aus drei hier zusammentreffenden Bedingungen. 41  Deren erste ist die Gefahr für das Kapital selbst, das bei dem ganzen Handel, der dadurch bewirkt werden soll, und zwar schlechthin, hier auf die Gefahr des Anlegers läuft, nicht aber auf die Gefahr des Kaufmanns – es sei denn, er würde es aus schuldhafter Nachlässigkeit bzw. Arglist verlieren. Es steht aber fest, dass das Kapital für denjenigen Gewinn bringen muss, auf dessen Gefahr es schlechthin läuft. 42  Die zweite [Bedingung] ist der abschätzbare Wert der Wahrscheinlichkeit bzw. der wahrscheinlichen Hoffnung, aus diesem Kapital durch Handel einen Gewinn zu ziehen. Daraus nämlich, dass diese Wahrscheinlichkeit einen Wert hat, der durch einen zeitlichen Preis taxierbar ist, kann sie mit Recht zu diesem Preis verkauft werden. 43  Die dritte [Bedingung] ist: Da diese Wahrscheinlichkeit zu einem geringeren Preis verkauft wird, als schätzungsweise der Gewinn aus den Handelsaktivitäten mit dem Kapital zu seiner Zeit sein

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futurum et valiturum, constat quod in eius vendicione semper creditur probabiliter quod emptor eius sit finaliter lucraturus, seu plusquam in emendo dederit habiturus. Ergo tam capitale quam principale et finale lucrum capitalis currit hic ad periculum traditoris. Ergo hic nulla est penitus usura. 44  Secundo probant hoc a simili, vel ab equivalenti, quia dato quod ille qui suum proprium capitale est per se in mercaciones ducturus, vendat alteri probabilitatem lucri inde futuri, sub pacto quod ita fideliter ducet illud sicut si non vendidisset illud, constat quod in tali condicione nulla est usura, quia nec hic potest cogitari aliqua racio mutui; sed iste casus non differt a primo, quoad periculum capitalis, nec quoad vendicionem probabilis lucri, sed solum quoad actum mediatum vel immediatum mercandi; ergo non plus est usura in primo casu quam in secundo. 45  Tercio probant hoc ex hoc quod sicut infra tangetur de capitali violenter prestito vel detento, potest absque peccato usure exigi interesse probabilis lucri, pro eo quod ille cuius est capitale vere extimatur in tanto dampnificatus a violento detentore vel exactore sui capitalis quod vere et inficte erat in mercaciones ducturus; ergo predictum interesse probabilis lucri, quodammodo causaliter et quasi seminaliter continebatur in predicto capitali in quantum capitali, alias enim non posset licite exigi; sed in supradicto casu, nichil venditur nisi predictum interesse probabilis lucri, prout causaliter continebatur in capitali in quantum capitale, idest in quantum vere et inficte est in mercaciones fiendas deputatum et destinatum. Ergo hic non est peccatum usure.

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und wert sein wird, so steht fest, dass bei deren Verkauf immer als wahrscheinlich angenommen wird, dass ihr Käufer schließlich [davon] profitieren wird, d. h. mehr haben, als er beim Kauf gegeben hat. Folglich läuft hier sowohl das Kapital als auch der hauptsächliche und endgültige Gewinn aus dem Kapital auf die Gefahr des Anlegers. Also gibt es hier überhaupt keinen Wucher. 44  Zweitens zeigen sie das durch einen ähnlichen bzw. gleichwertigen Fall. Denn angenommen, derjenige, der sein eigenes Kapital für sich in den Handel bringen möchte, verkauft einem anderen die Wahrscheinlichkeit des daraus erwachsenden Gewinns, unter der Bedingung, dass er es so getreu handhabt, als ob er diesen nicht verkauft hätte: so steht fest, dass es unter dieser Bedingung keinerlei Wucher gibt, denn hier kann man sich auch keinerlei Darlehenscharakter denken. Aber dieser Fall unterscheidet sich nicht vom ersten: weder, was die Gefahr für das Kapital betrifft, noch den Verkauf des wahrscheinlichen Gewinns, sondern nur, was den mittelbaren oder unmittelbaren Handelsakt angeht. Also gibt es im ersten Fall nicht mehr Wucher als im zweiten. 45  Drittens zeigen sie es aus dem, was weiter unten120 zum gewaltsam geliehenen bzw. vorenthaltenen Kapital berührt werden wird: Ohne die Sünde des Wuchers kann der [entgangene] Vorteil121 eines wahrscheinlichen Gewinns verlangt werden, weil derjenige, dem das Kapital gehört, als von demjenigen, der es ihm mit Gewalt vorenthält bzw. von ihm eintreibt, wirklich als insoweit geschädigt beurteilt wird, als er wahrhaft und ungeheuchelt vorhatte, es im Handel einzusetzen. Folglich war der besagte Vorteil des wahrscheinlichen Gewinns gewissermaßen ursächlich und quasi wie ein Samen im besagten Kapital als Kapital enthalten, denn sonst könnte er nicht mit Recht verlangt werden. Aber in dem oben genannten Fall wird nichts verkauft, außer dem besagten Vorteil des wahrscheinlichen Gewinns, insoweit er ursächlich im Kapital als Kapital enthalten war, d. h. insoweit es wahrhaft und ungeheuchelt für Handelsaktivitäten, die [damit] in Gang gebracht werden sollten, vor­ gesehen und bestimmt war.

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46  Quarto probant hoc ex simili contractu in locacionibus concurrente. Detur enim quod aliquis tradat equum suum alicui, pacto ut usque ad annum conducat eum aut in preliis vel vecturis, et tandem vir, cui equus est sic traditus, emat totum futurum lucrum annue conductionis equi. Sicut enim hoc licite emi potest, sic eadem racione et probabile lucrum capitalis licite potest emi. 47  Sequendo ergo posicionem istorum, ad primum in contrarium dicendum quod non venditur hic quod non est, aut non suum ut suum, nec idem bis, quia capitale in quantum capitale, idest in quantum est lucrativis mercacionibus destinatum, addit quandam lucrativam racionem supra racionem simplicis pecunie eiusdem quantitatis, que non est sic mercacionibus destinata, et ideo hic pot­ est vendi racio predicti capitalis in quantum talis, ultra precium simplicis pecunie. Sicut enim valor simplicis pecunie est tradentis, sic et valor predicte capitalitatis. Ex quo patet quod hic venditur illud quod erat suum, et vendit valorem differentem a primo. 48  Ad secundum dicendum quod predictum capitale, post prefatum contractum, habet vere racionem capitalis respectu primi tradentis, quamvis ex tunc lucrum eius finale non adquiratur sibi, pro eo quod adhuc ita ducitur ad totum periculum eius, sicut et si sibi soli adquireret totum finale lucrum. Quod autem ita sit, ostendo per exemplum indubitabile. Dato enim quod aliquis sub firmo iuramento et instrumento det alicui totum futurum lucrum sui capitalis, quod ipse per se est ad illius alterius lucrum fidelissime et sub iuramento ducturus, numquid ex hoc illud capitale est vere ipsius du-

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46  Viertens zeigen sie es auch aus einem ähnlichen Vertrag, der bei Vermietungen vorkommt. Denn angenommen, jemand übergibt einem anderen sein Pferd unter der Bedingung, dass er es für ein Jahr mietet, sei es für den Krieg, sei es für den Transport, und schließlich kauft der Mann, dem das Pferd auf diese Weise übergeben wurde, den ganzen zukünftigen Gewinn aus der Jahresmiete des Pferdes. Denn wie dieser rechtens gekauft werden kann, so kann aus demselben Grund auch der wahrscheinliche künftige Gewinn aus einem Kapital rechtens gekauft werden.122 47  Wenn man nun der Position der letzteren folgt, so ist zum ersten Gegenargument123 zu sagen: Es wird hier nicht verkauft, was es nicht gibt; oder das, was einem nicht gehört, als gehörte es e­ inem; und auch nicht dasselbe zweimal. Denn das Kapital als Kapital, d. h. insoweit es für gewinnträchtige Handelsaktivitäten bestimmt ist, fügt dem Charakter des einfachen Geldes derselben Menge, das nicht auf diese Weise für den Handel bestimmt ist, eine gewisse gewinnträchtige Beschaffenheit hinzu. Und daher kann hier der Charakter des besagten Kapitals als eines solchen als Aufschlag auf den Preis des einfachen Geldes verkauft werden. Denn wie der Wert des einfachen Geldes demjenigen gehört, der es anlegt, so auch der Wert des besagten Kapitals. Von daher ist also klar, dass hier etwas verkauft wird, was ihm gehörte, und dass er einen Wert verkauft, der sich vom ersten unterscheidet. 48  Zum zweiten ist zu sagen: Das besagte Kapital hat nach diesem Vertrag in der Tat den Charakter des Kapitals mit Bezug auf den, der es zuerst angelegt hat (obwohl ihm daraufhin nicht der endgültige Gewinn erworben wird), weil es ja immer noch so auf sein ausschließliches Risiko läuft, als ob es auch nur ihm allein den ganzen endgültigen Gewinn erwürbe. Dass dem aber so ist, mache ich durch ein unbezweifelbares Beispiel deutlich. Denn angenommen, jemand gibt einem anderen, durch Eid und Urkunde bekräftigt, den ganzen zukünftigen Gewinn aus seinem Kapital, das er selbst zum Gewinn jenes anderen mit höchster Zuverlässigkeit und unter Eid zum Einsatz bringen wird: Ist in diesem Fall dies Kapital nicht wahrhaft dessen, der es selber managt und nur den Gewinn daraus her-

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centis et solum lucrum eius dantis? Certum est quod sic. Patet ergo quod non est de substanciali racione capitali quod semper lucrum suum adquirat ei cuius est capitale. 49  Vel propter contenciosos distingui potest hec proposicio qua dicitur ›hoc capitale est huius vel illius‹, quia per genitivum potest designari habitudo cause finalis aut cause possessorie et dominative. Primo modo potest dici quod capitale est illius cui lucrum adquiritur, idest ad eius utilitatem finaliter ordinatum. Secundo autem modo est solum illius, cuius dominio et autoritate et periculo ducitur, et hoc modo est solius primi tradentis. 50  Rursus potest adhuc et aliter responderi, quia finale lucrum capitalis potest dupliciter sumi seu considerari, primo scilicet prout causaliter et probabiliter presupponitur contineri in ipso capitali, secundo prout in seipso finaliter provenit et existit. Primo modo adquiritur soli primo tradenti, propter quod tamquam sibi iam adquisitum et suum, venditur ab ipso et emitur ab altero, propter quod fit ut modo secundo sit ipsius emptoris. Et est simile huius in eo qui vendit archam quam est facturus: talis enim utique vendit rem suam et fabricam suam quamvis, cum in effectu existit, non sit eius sed emptoris. 51  Ad tercium dicendum quod predictum capitale in hora qua venditur eius probabile lucrum, valet plus quam valeat sola sua racio secundum quam est simplex pecunia absque racione capitalis. Non autem valet plus seipso, prout utramque racionem in simul habet actu. Quod vero dicitur, quod scilicet lucrum seu precium quod ex ipso ante omnem eius mercacionem habetur, non est ex eius mercacionibus futuris eductum vel educendum, dicendum quod ymo causaliter, seu equivalenter aut prevalenter, ex ipso educitur pro quanto

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gibt? Gewiss ist es so. Es ist also klar: Es gehört nicht zum substantiellen Charakter des Kapitals, dass es seinen Gewinn immer für den erwirbt, dem das Kapital gehört. 49  Oder es kann, um die Hartnäckigen zu überzeugen, der Satz differenziert werden: ›Dieses Kapital ist dieses oder jenes‹, denn durch den Genitiv kann das Verhältnis der Zweckursache oder der besitzenden und beherrschenden Ursache bezeichnet werden. Auf die erste Art kann gesagt werden, dass das Kapital dessen ist, für den der Gewinn erworben wird, d. h. final hingeordnet auf dessen Nutzen. Auf die zweite Art aber ist es nur dessen, unter dessen Herrschaft, Vollmacht und Gefahr es zum Einsatz kommt, und auf diese Art gehört es nur dem ersten Anleger. 50  Es ist aber auch eine andere Antwort möglich: denn der endgültige Gewinn aus dem Kapital kann in zweifacher Hinsicht genommen bzw. betrachtet werden. Erstens, insofern man annimmt, er sei ursächlich und wahrscheinlich im Kapital selbst enthalten, zweitens, insofern er am Ende in sich selbst entsteht und existiert. Auf die erste Weise wird er nur dem ersten Anleger erworben, weswegen er, gleichsam als wäre er schon für ihn erworben und der seine, von ihm verkauft und vom anderen gekauft wird; daraus ergibt sich, dass er auf die zweite Weise dessen Käufer gehört. Das ist so ähnlich, wie wenn einer eine Truhe verkauft, die er erst noch herstellt: denn der verkauft seine Sache und seine Kunst, obwohl sie, sobald sie in Wirklichkeit existiert, nicht mehr ihm, sondern dem Käufer gehört. 51  Zum dritten ist zu sagen: Das besagte Kapital ist zu dem Zeitpunkt, zu dem der wahrscheinlich aus ihm zu ziehende Gewinn verkauft wird, mehr wert, als es nur seine Qualität als einfaches Geld124, ohne die Qualität als Kapital, wert ist. Es ist deshalb aber nicht mehr wert als es selbst, da es ja über beide Qualitäten zugleich wirklich verfügt. Was nun gesagt wird: Der Gewinn bzw. Preis, den man ­daraus schon vor jedem Handel bezieht, sei nicht aus den künftigen Handelsgeschäften herausgeholt bzw. herauszuholen – dazu ist zu sagen: Er wird vielmehr ursächlich, bzw. im Sinn eines angemessenen oder vorrangigen Wertes, aus ihm herausgeholt, insofern man

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scilicet futurum lucrum suarum mercacionum iam quasi esse in ipso presupponitur, et tamquam iam presuppositum venditur et emitur. Et certe ipse emptor, cum sit in arte mercandi et lucrandi industrius et voluntarius, non emeret illud lucrum nisi bene averteret illius emptionem probabiliter sibi esse lucrosam. 52  Ad quartum dicendum quod secus est si illud fieret ex consensu vel consciencia tradentis primi. Tunc enim eo ipso videretur illam pecuniam tradere non sub racione capitalis, idest non ad mercandum, sed pocius sub racione mutui usurarii. Quando autem hoc fit preter consensum et conscienciam tradentis, tunc nichil ex hoc contra eum potest inferri, ymo potius potest inde sumi argumentum ad propositum quia, dato quod ille qui accepit alicuius capitale ad mercandum, ut per mercaciones primo tradenti lucretur, et tandem iste absque consensu tradentis desinat illud ducere in mercaciones, constat quod iste tenebitur traditori solvere non tantum capitale, sed eciam probabile lucrum, tanto tamen excepto quanto plus valet probabile lucrum absque periculo capitalis quam valeat cum periculo capitalis. 〈 Quintum dubium  〉

53  Quintum dubium ex predictis patens est quod ius futuri temporis seu ius rerum aut reddituum pro futuro tempore potest licite minus emi quam si omnes ille res essent tunc simul presentes et simul tradite ipsi emptori, et secundum hoc quanto ius futurorum protenditur in longinquiora futura, tanto ceteris paribus potest minori precio emi.

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voraussetzt, dass der künftige Gewinn aus den Handelsaktivitäten ihm schon quasi innewohnt, und als ein so bereits vorausgesetzter wird er verkauft und gekauft. Und gewiss würde der Käufer seinerseits, der ja in der Kunst des Handelns und des Profitmachens eifrig und aus freien Stücken mittut, diesen Gewinn nicht kaufen, wenn er nicht zu gut wüsste, dass sich dieser Kauf wahrscheinlich für ihn lohnt. 52  Zum vierten ist zu sagen: Anders ist es, wenn das mit Zustimmung und Mitwissen des ersten Anlegers geschähe. Dann nämlich schiene er eo ipso dieses Geld nicht als Kapital, d. h. zum Handel­ treiben, sondern vielmehr als wucherisches Darlehen zu übergeben. Wenn es aber ohne Zustimmung und Mitwissen des Anlegers geschieht, dann kann man daraus nichts gegen ihn vorbringen, ja im Gegenteil lässt sich daraus ein Argument für unsere These gewinnen. Denn angenommen, derjenige, der von einem anderen Kapital für den Handel bekommen hat, um durch Geschäfte für den ersten Anleger Gewinn zu machen, bringt es dann doch, ohne die Zustimmung des Anlegers, gar nicht mehr in den Handel, so steht fest, dass er dem Geldgeber nicht nur das Kapital, sondern auch den wahrscheinlichen Gewinn wird zahlen müssen – freilich unter Abzug dessen, was der wahrscheinliche Gewinn ohne die Gefahr für das Kapital mehr wert ist als mit der Gefahr für das Kapital.125

Fünfte Klarstellung 53  Die fünfte Klarstellung, die sich aus dem Gesagten ergibt, ist: Das Recht an der zukünftigen Zeit bzw. das Recht auf Sachen oder Einkünfte für eine zukünftige Zeit kann erlaubterweise für weniger gekauft werden, als wenn alle diese Dinge jetzt gleichzeitig präsent und dem Käufer gleich ausgehändigt worden wären. Und demzufolge kann, in je fernere Zukünfte sich ein Recht auf zukünftige Dinge erstreckt, es – bei sonst gleichen Umständen – zu einem desto geringeren Preis gekauft werden.

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54  Huius autem racio est quia in hiis in quibus ius rei seu super rem differt a re ipsa aut ab actuali possessione ipsius, potest ipsum ius emi et tradi, quamvis res ipsa non sit, aut non tradatur actu, sicut patet de iure futurorum fructuum agri quod potest emi agro non empto, nec fructibus ipsius existentibus actu. 55  Constat autem quod ius et actualis possessio rei presentis plus valet ceteris paribus quam solum ius rei future, aut quam solum ius absque actuali possessione non statim tradita vel tradenda. Certitudo eciam rei presentis et presencialis possessionis eius maior et prestancior est quam certitudo rei future aut quam certitudo future possessionis rei presentis, propter quod non immerito potest prima plus vendi et secunda licite minus emi. 56  Et hinc est quod emens annuos redditus centum librarum ad decem annos pro quingentis libris mox solvendis, non est ex vi absoluta contractus usurarius; et tamen esset si mutuaret nunc quingentos usque ad decem annos sic quod quolibet anno redderentur sibi centum aut quod ultimo anno redderentur sibi quingente duplicate, idest mille libre; quia in primo casu non est contractus mutui sed emptionis quia vere tunc emitur et traditur ius futurorum reddituum decennalium, et ideo non est ibi anterioracio solucionis habens racionem mutui, sed pocius est ibi actualis solucio rei seu iurisdictionis actualiter empte et tradite; quamvis si hoc fieret intencione usuraria et in fraudem usurarum esset ibi, non ex vi contractus sed racione talis intencionis, usura. 57  Huiusmodi autem fraus inesse presumitur quando huiusmodi redditus, eciam sub prefata forma, venduntur longe minori precio

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54  Der Grund hierfür aber ist: Bei den Dingen, bei denen das Recht der Sache bzw. auf die Sache sich von der Sache selbst oder von deren aktuellem Besitz unterscheidet, kann das Recht selbst gekauft und übertragen werden, obwohl die Sache selbst nicht aktuell da ist oder übergeben wird – so wie es auch offenbar ist beim Recht auf künftige Ackerfrüchte, das man kaufen kann, ohne den Acker selbst zu kaufen und ohne dass dessen Früchte bereits aktuell existieren. 55  Es steht nämlich fest, dass das Recht einer gegenwärtigen Sache und deren aktueller Besitz (bei sonst gleichen Umständen) mehr wert ist als nur das Recht einer zukünftigen Sache oder als nur das Recht, ohne dass sogleich der aktuelle Besitz übergeben wird bzw. übergeben werden muss. Denn die Gewissheit der gegenwärtigen Sache und ihres gegenwärtigen Besitzes ist größer und wertvoller als die Gewissheit einer künftigen Sache oder als die Gewissheit des künftigen Besitzes einer gegenwärtigen Sache. Deshalb kann die erste mit vollem Recht teurer verkauft und die zweite rechtens billiger gekauft werden. 56  Und daher kommt es, dass, wenn einer, der jährliche Einkünfte von 100 Pfund für zehn Jahre für 500 Pfund kauft, die sofort zu zahlen sind, er rein vom Wesen des Vertrages her kein Wucherer ist. Freilich wäre er das, wenn er jetzt 500 für zehn Jahre so verliehe, dass ihm jedes Jahr hundert oder dass ihm im letzten Jahr zweimal 500, d. h. 1000 Pfund erstattet würden: denn im ersten Fall ist es kein Darlehens-, sondern ein Kaufvertrag, weil dabei wirklich das Recht auf in der Zukunft liegende Einkünfte für zehn Jahre gekauft und übertragen wird, und daher gibt es hier keine Antizipation der Zahlung mit Darlehenscharakter, sondern vielmehr gibt es hier die aktuelle Zahlung einer Sache bzw. einer Forderung, die aktuell gekauft und übertragen wird. Wenn das allerdings in wucherischer Absicht und mit dem Ziel wucherischen Betrugs geschähe, so gäbe es hier Wucher, nicht aus dem Wesen des Vertrages, sondern auf Grund ­einer solchen Absicht. 57  Ein Betrug dieser Art ist anzunehmen, wenn solche Einkünfte, auch unter der besagten Form, zu einem weit niedrigeren Preis ver-

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quam deberent, aut quam venderentur si iustus emptor et iusti precii repentinus solutor tunc inveniretur. Presumitur enim tunc quod non solum sit ibi racio iniusti precii, sed eciam quod ibi sit fraudulenta intencio, quasi anterioracionis solucionis venditori egenti ut ex hoc longe minori precio habeatur quam alias haberetur. Et maxime hoc presumitur si talis emptor solitus sit exercere usuras aut tales contractus impios et iniustos. 58  Attamen quantum est de absoluta vi et forma contractus, non plus est ibi usura quam in eo qui emit equum vel castrum valoris centum marcarum pro decem marcis quas confestim solvit, sicut et confestim accipit equum vel castrum. Non eciam est illic peccatum iniusti precii si proventus reddituum non sunt omnino certi sed possunt probabiliter periclitari sicut possunt fructus et proventus agrorum. Dato eciam quod sint certi eo modo quo futuri redditus possunt esse certiores, adhuc possunt in tantum minori precio emi quam ius reddituum mille librarum primo anno habendarum, in quantum plus valet ius proximorum reddituum mille librarum quam ius remociorum. 〈 Sextum dubium  〉

59  Sextum dubium ex predictis patens est quod is qui violenter prestat potest exigere interesse dampni et probabilis lucri. 60  Cuius racio est quia huius violentacio multum aufert de racione mutui et pocius est dominativa exactio vel tirannica rapina; dominativa quidem, quando rex vel communitas ex causa iusta cogit

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kauft werden, als sie es müssten, oder als sie verkauft würden, wenn gleich ein gerechter Käufer und sofortiger Zahler des gerechten Preises gefunden würde. Dann ist nämlich anzunehmen, dass hier nicht nur der Tatbestand des ungerechten Preises vorliegt, sondern auch eine betrügerische Absicht, gewissermaßen einer Zahlungsvorwegnahme an einen in Not geratenen Verkäufer, um [die Sache] dadurch zu einem weit niedrigeren Preis zu bekommen, als zu dem sie sonst zu bekommen wäre. Und das ist vor allem anzunehmen, wenn ein solcher Käufer üblicherweise Wucher treibt oder mit derartig gottlosen und ungerechten Verträgen arbeitet.126 58  Und doch liegt hier, rein von Wesen und Form des Vertrages her, nicht mehr Wucher vor als bei dem, der ein Pferd oder eine Burg im Wert von 100 Mark für zehn Mark kauft, die er unverzüglich bezahlt, so wie er auch Pferd oder Burg unverzüglich erhält. Es liegt dort auch nicht die Sünde des ungerechten Preises vor, wenn der Eintritt der Einkünfte ganz und gar nicht gewiss ist, sondern sie wahrscheinlich [sogar] einer Gefahr ausgesetzt sind, wie auch die Früchte und Erträge der Äcker es sind. Auch wenn man annimmt, dass sie gewiss sind – in der Art und Weise, wie zukünftige Einnahmen einigermaßen gewiss sein können –, können sie immer noch zu einem umso geringeren Preis gekauft werden im Vergleich zum Recht auf die Einkünfte, die [schon] im ersten Jahr aus einem Betrag von 1000 Pfund zu erzielen wären, als das Recht auf die nächsten Einkünfte aus den 1000 Pfund mehr wert ist als das Recht auf die weiter entfernten.

Sechste Klarstellung 59  Die sechste Klarstellung, die sich aus dem Gesagten ergibt, ist: Wer gezwungenermaßen leiht, kann einen Ausgleich127 für den Schaden und den wahrscheinlichen Gewinn verlangen. 60  Der Grund hierfür ist: Dass man ihm Gewalt angetan hat, hebt den Charakter des Darlehens weitgehend auf und stellt vielmehr eine hoheitliche Eintreibung bzw. tyrannischen Raub dar. Hoheitlich nämlich, wenn der König bzw. die Gemeinschaft mit einem

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aliquem civem ad prestandum bladum vel pecuniam suam; tirannica vero quando hoc fit absque iusta et racionabili causa. Et idem est quando ultra terminum mutui a prestitore prefixum eius debitum detinetur ipso invito. Si tamen tali detentori concedat detencionem talem sub aliquo precio sive lucro, tunc eo ipso committit usuram, quia ex tali concessione sortitur pocius racionem voluntarii mutui quam invite detencionis. Si vero in primo contractu mutui imposita esset pena detentori ultra terminum sibi prefixum, iuste posset exigi, si tamen pena imposita esset absque dolosa intencione usurarii precii sive lucri, utpote ex eo quod prestitor probabiliter credit et sperat quod receptor mutui penam illam incurrat. 61  Verumptamen super predicto interesse volunt quidam quod non debet exigi interesse lucri quod ex pecunia violenter prestita vel detenta probabiliter factum esset, sed solum interesse omnis dampni quod prestitori ex hoc provenisset. Attamen doctores contrarium tenent, pro eo quod amissio talis lucri quedam dampnificacio fuit huiusmodi prestitoris, et ideo eo ipso quod potest iuste exigere interesse dampni, potest iuste exigere equivalens dampnificacionis talis lucri. Quia tamen capitale violenter detentum non potuit prestitori isti* perdi aut periclitari, sicut poterat in mercando aut negociando, idcirco tantum debet sibi de probabili lucro subtrahi quantum prefata certitudo preponderat incertitudini et periculo quod circa capitale et lucrum potest in mercacionibus contingere. 62  Ex hoc eciam patet quod quando quis, ex gracia speciali, prestat vel vendit bladum in tempore quo communiter minus valet,

*  Die Lesart »isti« der Codices ABC scheint hier plausibler als »iuste«. Vgl. Piron, S.  230, zu Nr.  61, Z.  9. Auch einige Zeilen weiter oben sah sich Olivi veranlasst, den gezwungenen, also uneigentlichen Geldverleiher, mit einem relativierenden Zusatz zu versehen (»huiusmodi prestitoris«).

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gerechten Grund einen Bürger zwingt, sein Getreide oder sein Geld zu verleihen; tyrannisch aber, wenn das ohne gerechten und vernünftigen Grund geschieht. Und dasselbe gilt, wenn dem Verleiher gegen seinen Willen das Geschuldete über den für die Rückgabe des Darlehens festgesetzten Termin hinaus vorenthalten wird. Wenn er jedoch so einem Inhaber eine solche Verzögerung der Rückgabe zu einem bestimmten Preis bzw. Gewinn gestattet, dann begeht er eo ipso Wucher, denn auf Grund eines solchen Zugeständnisses bekäme sie eher den Charakter eines freiwilligen Darlehens als den ­einer ungewollt verzögerten Rückgabe. Wäre hingegen im ersten Darlehensvertrag dem Vorenthaltenden eine Strafe für die Terminüberschreitung auferlegt worden, könnte sie mit Recht gefordert werden – freilich nur, wenn die Strafe ohne die arglistige Absicht ­eines wucherischen Preises bzw. Gewinns auferlegt worden wäre, etwa derart, dass der Verleiher es für wahrscheinlich hält und hofft, dass der Darlehensempfänger sich diese Strafe zuzieht. 61  Gleichwohl meinen einige zum besagten Ausgleich, dass der Ausgleich für den Gewinn, der mit dem gezwungenermaßen geliehenen bzw. vorenthaltenen Geld wahrscheinlich bewirkt worden wäre, nicht gefordert werden kann, sondern nur der Ausgleich für jeden Schaden, der dem Ausleiher daraus erwachsen wäre.128 Aber dennoch vertreten die Gelehrten das Gegenteil129, weil nämlich der Verlust dieses Gewinns doch eine Art Schädigung für einen solchen Verleiher war. Und daher kann er aus eben dem Grund, aus dem er mit Recht einen Schadensausgleich verlangen kann, mit Recht [auch] den Gegenwert für die Schädigung durch diesen [entgangenen] Gewinn verlangen. Doch weil das gezwungenermaßen vorenthaltene Kapital diesem Entleiher nicht verlorengehen bzw. in Gefahr geraten kann, wie das in Geschäft und Handel der Fall gewesen wäre, so muss ihm vom wahrscheinlichen Gewinn so viel abgezogen werden, wie die besagte Sicherheit die Unsicherheit und die Gefahr überwiegt, der das Kapital und der Gewinn im Handel ausgesetzt sind. 62  Daraus wird auch klar: Wenn jemand – aus besonderer Gefälligkeit – zu einer Zeit, zu der es im Allgemeinen weniger wert

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quod tamen firmiter proponebat servare et vendere in tempore communiter et probabiliter magis caro, potest inde precium exigere, quod in hora prestacionis vel vendicionis probabiliter creditur affuturum in illo tempore magis caro, sic tamen quod aliquem certum diem illius temporis determinate prefigat, quia ipse non erat illud venditurus nisi in aliquo uno die, et eciam quia si ipse, de uno mense vel ebdomada posset ex post facto sibi eligere diem in quo plus valuisset, nimium pinguis fieret sors ipsius. Alias taxandum erit precium secundum quod diucius et communius valuit in mense illo, aut precio mediocri inter carius et minus carum illius mensis. 63  Causa autem quare sub tali precio potest illud vendere vel commutare est, tum quia is cui prestat tenetur sibi ad probabiliter equivalens, seu ad preservandum ipsum a dampno probabilis lucri; tum quia illud quod in firmo proposito domini sui est ordinatum ad aliquod probabile lucrum, non solum habet racionem simplicis pecunie seu rei, sed eciam ultra hoc quamdam racionem seminalem lucri quam communiter capitale vocamus, et ideo non solum debet reddi simplex valor ipsius, sed eciam valor superadiunctus. 64  Item ex hoc patet quod quando aliquis pecuniam de qua firmiter mercari proponit, prestat alicui ex sola pietate et necessitate illius, sub tali pacto quod quantum consimilis summa apud talem equivalentem mercatorem lucrabitur vel perdet, tantum ipse lucretur vel perdat, non committit usuram sed pocius facit aliquam graciam, salva tamen indempnitate sua, sicut in quadam questione de quolibet plenius est ostensum.

Klarstellung weiterer Fragen

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ist, Getreide verleiht oder verkauft, das er vorhatte aufzubewahren und zu einer Zeit zu verkaufen, zu der es im Allgemeinen und wahrscheinlich teurer ist: so kann er infolgedessen den Preis verlangen, der zum Zeitpunkt des Darlehens bzw. des Verkaufs mit Wahrscheinlichkeit für aktuell gehalten wird in jener teureren Zeit130; aller­dings so, dass er einen gewissen Tag in jener Zeit im Voraus bestimmt festlegt – weil er es ja auch nur an einem bestimmten Tag verkauft hätte und auch weil, wenn er sich aus einem Monat oder einer Woche im Nachhinein den Tag aussuchen könnte, an dem es am meisten wert gewesen wäre, sein Anteil zu fett würde. Man wird also den Preis anders festlegen müssen: je nachdem, wie lang und allgemein er in jenem Monat gegolten hat, oder zu einem mittleren Preis zwischen dem höchsten und dem niedrigsten jenes Monats. 63  Der Grund aber, warum er es [das Getreide] zu diesem Preis verkaufen oder tauschen kann, ist einerseits: der, dem er es leiht, ist ihm zu einer mit Wahrscheinlichkeit gleichwertigen Leistung verpflichtet bzw. dazu, ihn vor dem Verlust eines wahrscheinlichen Gewinns zu bewahren; andererseits: das, was nach dem festen Vorsatz seines Besitzers dazu bestimmt ist, einen wahrscheinlichen Gewinn abzuwerfen, hat nicht nur den Charakter des einfachen Geldes bzw. der einfachen Sache, sondern darüber hinaus noch eine gewinnträchtige Beschaffenheit,131 die wir gemeinhin Kapital nennen, und daher muss nicht nur sein einfacher Wert erstattet werden, sondern auch der Mehrwert.132 64  Ebenso wird daraus klar: Wenn jemand Geld, mit dem er fest vorhat, Handel zu treiben, aus purem Mitleid und wegen dessen Not einem anderen leiht, unter der Bedingung: soviel ein gleichwertiger Betrag bei einem vergleichbaren Kaufmann an Gewinn oder Verlust einbringen wird, genau so viel möchte er selber gewinnen oder verlieren –, so begeht er keinen Wucher, sondern erweist eine Gefälligkeit, wobei freilich seine Schadloshaltung gewährleistet sein muss, wie in einer Frage aus den Quodlibeta ausführlicher gezeigt wurde.133

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〈 Septimum dubium  〉

65  Septimum sue declaracionis radicem ex predictis sumens est quod quandocumque cum ceteris contractibus aliqua racio mutui commiscetur, si racione illius mutui fiat in illis contractibus pocior condicio prestitoris quam mutuantis ab illo, est ibi semper pro tanto usura, pro quanto ob racionem mutui veri vel interpretativi fit pocior condicio prestitoris. 66  Et ex hoc patet lata ianua ad multos casus usurarios discernendos et ad eorum intricaciones propter variam commixtionem ipsorum cum ceteris contractibus dissolvendas*. Et pro gracia horum subdamus ad presens septem casus. 〈 Primus casus  〉

67  Primus est »de hiis qui emunt oves vel boves a pauperibus vel divitibus, quas non habent, et sciunt vel credunt eos non habere« et pro hac emptione dant aliquam summam pecunie et ut quasi iam a venditore illa animalia accepissent, »locant ea venditori pro certa annua pensione, est usura si prestitor ex hoc aliquid lucrari debeat ultra summam pecunie quam primo dedit«. 〈 Secundus casus  〉

68  Secundus casus est »de hiis qui locant boves ad medietatem pro certis sextariis bladi, eo pacto quod si moriantur vel deteriorentur, conductor subeat medietatem periculi, si autem meliorentur habeat medietatem commodi«. Quia enim primus sub specie locacionis quasi mutuat seu commodat boves suos, ideo in locacione

*  Mit einigen anderen Codices erscheint hier die weibliche Endung richtiger – das Bezugswort ist »intricaciones«. Vgl. Piron, S.  234, zu Nr.  66, Z.  3.

Klarstellung weiterer Fragen

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Siebte Klarstellung 65  Die siebte [Klarstellung], die den Grund ihrer Erklärungskraft aus dem Gesagten bezieht, ist: Wenn auch immer bei anderen Verträgen irgendein Darlehenscharakter im Spiel ist und wenn auf Grund dieses Darlehens die Stellung des Verleihers besser wird als die desjenigen, der sich von ihm Geld leiht, dann liegt dort immer insoweit Wucher vor, als wegen des wirklichen oder anzunehmenden Darlehenscharakters die Stellung des Verleihers besser wird. 66  Und daraus ergibt sich auch der Zugang, um viele Wucherfälle zu unterscheiden und um deren Verwicklungen wegen ihrer diversen Vermischung mit anderen Verträgen zu entwirren. Und um derentwillen fügen wir für den Augenblick sieben Fälle an.

1. Fall 67  Der erste Fall betrifft »diejenigen, die Schafe oder Kühe von Armen oder Reichen kaufen, die diese [gar] nicht haben, wobei sie wissen oder glauben, dass sie sie nicht haben« – und für diesen Kauf geben sie ihnen einen gewissen Geldbetrag, und als hätten sie vom Verkäufer bereits diese Tiere erhalten, »vermieten sie sie dem Verkäufer zu einem bestimmten jährlichen Mietzins: das ist Wucher, wenn der Darlehensgeber daraus einen Gewinn erhalten soll über die Geldsumme, die er zuerst gegeben hat, hinaus«.134

2. Fall 68  Der zweite Fall betrifft »diejenigen, die Rinder zur Hälfte mieten für einige Sester135 Getreide, unter der Bedingung: wenn diese sterben oder schwächer werden, soll der Mieter die Hälfte der Gefahr tragen, wenn sie aber gedeihen, soll der Vorteil zur Hälfte ihm gehören«.136 Weil nämlich der erste unter dem Vorwand der Miete quasi seine Rinder ausleiht bzw. zur Verfügung stellt, wird in der

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pocior condicio datur ei et conductori deterior, quia vix aut nunquam potest conductor habere tantum commodum de melioracione bovis, quantum potest habere dampnum de morte ipsius, nisi sextaria que pro conductione dimidii bovis dantur, sufficienter equivaleant conductioni dimidii bovis; puta, si bos ad arandum pro anno sufficienter pro quatuor sextariis conducatur, quod dentur duo sextaria pro dimidio bovis. 69  Nam in prefato casu fuit duplex contractus, unus scilicet emptionis medietatis bovis, propter quod illa medietas vadit ad periculum susceptoris, secundus contractus est conductionis alterius medietatis. Si ergo pro expectacione solucionis precii emptionis prime medietatis non ultra iustum gravetur precium conductionis secunde medietatis, nulla est ibi usura, nec eciam iniustum precium. 70  »Si eciam locator apponit predictum pactum quia timet quod conductor nimis gravaret bovem, si de huiusmodi pacti periculo non timeret, firmiterque proponit quod si bos sine culpa conductoris pereat, nichil de illo periculo exiget ab eodem, tunc non peccat, nisi forte propter scandalum eorum qui eius rectam intencionem nesciunt«. 71  Si vero arguatur in suprascripto casu non esse usuram quia »conductor potest simul in se suscipere periculum et casus fortuitos rei conducte quantum est de natura contractus, respondetur quod in prefato casu non tantum est contractus locacionis et conductionis, sed eciam contractus societatis in periculo ac melioracione et deterioracione bovis«. Contractus autem societatis exigit equalitatem proportionis, ut scilicet quantum ego in societate do vel facio, tantum proportionaliter inde recipiam. Si ergo propter mutuum michi factum pars mea societatis deterioretur, est ibi pro tanto usura.

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Miete ihm eine bessere Position und dem Mieter eine schlechtere gegeben, weil der Mieter kaum je oder nie einen so großen Vorteil vom Gedeihen des Rindviehs haben, wie er vom Tod desselben an Schaden erleiden kann – es sei denn, die Sester, die als Miete für das halbe Rind gegeben werden, sind ein hinreichender Gegenwert für die Miete des halben Rinds; angenommen – wenn vier Sester genügen, um ein Rind für ein Jahr zum Pflügen zu mieten – dass zwei Sester für die Hälfte des Rinds gegeben werden. 69  Denn im besagten Fall gab es zwei Verträge: nämlich einen zum Verkauf des halben Rinds, weshalb die eine Hälfte auf die Gefahr des Empfängers geht; der zweite Vertrag betrifft die Miete der anderen Hälfte. Wenn nun für den Zahlungsaufschub der ersten Hälfte der Mietpreis für die zweite Hälfte nicht über den gerechten Preis hinaus erhöht wird, so liegt hier keinerlei Wucher vor und auch kein ungerechter Preis. 70  »Wenn aber der Vermieter die genannte Bedingung hinzufügt, weil er fürchtet, dass der Mieter den Ochsen zu sehr belasten würde, wenn er sich nicht vor der Gefahr aus dieser Bedingung fürchtete, und fest vorhat, nichts von ihm aus dieser Gefährdungsklausel zu fordern, falls der Ochse ohne Schuld des Mieters eingeht: so sündigt er nicht, es sei denn etwa wegen des Anstoßes, den die nehmen, die seine rechte Absicht nicht kennen«.137 71  Wenn aber im obigen Fall eingewandt wird, es sei nicht Wucher, weil »der Mieter bezüglich der Mietsache gleichzeitig für Gefahr und höhere Gewalt haftet, insofern es zur Natur des Vertrags gehört, so wird geantwortet: im besagten Fall liegt nicht nur ein Mietvertrag vor, sondern auch ein Gesellschaftsvertrag hinsichtlich der Gefahr, des Gedeihens und der Schädigung des Ochsen«.138 Ein Gesellschaftsvertrag aber verlangt Verhältnisgleichheit, nämlich dass ich für das, was ich in der Gesellschaft gebe oder mache, ebenso viel proportional wieder bekomme. Wenn also wegen eines mir gewährten Darlehens mein Anteil an der Gesellschaft eine Verschlechterung erfährt, so liegt hier insoweit Wucher vor.

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〈 Tertius casus  〉

72  Tercius casus est »de ovibus vel quibuscumque animalibus que traduntur ad crementum, vel ad creys vulgariter loquendo, quod solet fieri tribus modis. 73  Primo scilicet ut sit ibi contractus tantum societatis, ut cum quis habens viginti capita ovium, init societatem cum alio habente totidem et communicant ad invicem ipsas oves et earum periculum et emolumentum et expensas circa custodiam et pastum earum et aliquando ultra hoc paciscuntur quod de earum fetibus reparentur capita moriencia vel de earum velleribus et pellibus emantur alia ad gregem augendum«. 74  Secundo potest fieri ut sit ibi »tantum contractus conductionis, ut si habens viginti capita tradit ea alicui custodienda et pascenda sub certa mercede pecunie vel participacione proventuum gregis, sic tamen quod dominus retinet sibi periculum illorum capitum«. In utroque autem horum casuum, quia nulla intervenit racio mutui, nulla potest esse usura, quamvis si in huiusmodi pactis esset alterius condicio deterior vel melior, posset ibi esse vicium iniusti precii. 75  Ex eadem autem racione non est usura in contractu dotacionis sponse in quo aliqui redditus vel usufructus traduntur marito usquequo dos tota sibi solvatur, sic quod fructus vel redditus percepti non computentur in sortem seu in solucionem dotis. Tradicio enim illorum reddituum non habet ibi racionem mutui, sed pocius recompensacionem quamdam sublevacionis oneris coniugalis, que proveniret ex dote soluta. Unde et interim stat vice dotis et quasi pro dote. 76  Si tamen ponatur quod vir vendat alicui illos redditus pro precio tocius dotis sibi mox solvendo, sic quod si pater sponse det post

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3. Fall 72  Der dritte Fall sind »die Schafe oder welche Tiere auch immer, die zur Aufzucht übergeben werden, bzw. zum creys, wie man in der Volkssprache sagt, was auf drei Weisen zu geschehen pflegt. 73  Erstens so, dass hier nur ein Gesellschaftsvertrag vorliegt, so dass, wenn jemand zwanzig Schafe139 hat, er mit einem anderen eine Gesellschaft eingeht, der ebenso viele hat, und sie legen die Schafe selbst zusammen, als auch die damit verbundene Gefahr, die Einnahmen und Ausgaben für deren Hütung und Futter, und manchmal vereinbaren sie darüber hinaus, dass sie mit deren Jungen diejenigen, die sterben, ersetzen oder mit deren Wolle und Fellen andere kaufen zur Vermehrung der Herde«.140 74  Zweitens kann es so geschehen, dass hier vorliegt »nur ein Mietvertrag: wenn z. B. jemand, der zwanzig [Schafs-]Köpfe hat, sie einem anderen übergibt, um sie zu hüten und zu weiden, zu einem vereinbarten Lohn in Geld oder gegen die Beteiligung am Zuwachs der Herde – allerdings so, dass der Eigentümer die Gefahr für diese Köpfe bei sich behält«.141 In beiden Fällen nun kann kein Wucher vorliegen, da es hier keinerlei Darlehenscharakter gibt, wenn allerdings bei solchen Verträgen die Position des einen schlechter oder besser wäre, könnte hier die Sünde des ungerechten Preises vor­ liegen. 75  Aus dem gleichen Grund liegt kein Wucher vor beim Vertrag über eine Mitgift, in dem dem Ehemann einige Einkünfte oder Nutzungsrechte übertragen werden, bis ihm die ganze Mitgift bezahlt wird, und zwar so, dass die erhaltenen Nutzungen bzw. Einkünfte nicht zum Anteil bzw. der Bezahlung der Mitgift mitgerechnet werden.142 Denn die Übertragung dieser Einkünfte hat hier nicht den Charakter eines Darlehens, sondern eher den eines gewissen Ausgleichs zur Erleichterung der Lasten aus dem Ehestand, wie sie sich aus der Bezahlung der Mitgift ergäbe. Daher steht sie inzwischen stellvertretend für die Mitgift und quasi für sie. 76  Angenommen aber, der Mann verkauft diese Einkünfte einem anderen zum Preis der ganzen Mitgift, die ihm alsbald zusteht, und

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longum tempus emptori reddituum prefatam dotem, non computando emptori redditus perceptos in sortem, videbitur emptor committere usuram, quia non potest dici quod per sublevacionem oneris coniugalis percepit redditus illos, sicut potest dici de marito sponse. Posset tamen dici quod si ex amicicia sponsi et absque fraude usure emit redditus illos modo predicto, quod ultra mille libras prius in emptione datas, poterit inde tantum percipere, quantum ius et possessio mille librarum datarum prevalet iuri futurorum reddituum per plures annos ascendencium usque ad mille libras iuxta formam et regulam superius datam de emptione iuris annorum reddituum futurorum decem annorum. 77  Tercio, supradictus contractus potest fieri ut simul concurrat ibi »contractus mutui et contractus societatis, ut cum quis habens viginti capita tradit extimata alicui, puta pro viginti solidos, ita quod teneatur ei reddere medietatem precii, scilicet decem solidos, quicquid postmodum contingat de ovibus. Tunc enim perinde est ac si creditor dedisset ei decem solidos mutuo per quos emptis decem capitibus contraxisset societatem cum creditore habente decem alia capita, ita quod sint communia et ipsi sint socii in periculo et proventibus. Et si contemplacione mutui gravet creditor debitorem in contractu prefate societatis, est ibi pro tanto usura«. 〈 Quartus casus  〉

78  Consimilis autem usura est si quis tradat mercatori centum ­libras, sic quod medietas currat ad periculum mercatoris et alia ad

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zwar so, dass, wenn der Vater der Braut dem Käufer der Einkünfte die besagte Mitgift [erst] nach langer Zeit gibt und dem Käufer die anteilig erhaltenen Einkünfte nicht anrechnet: so scheint der Käufer Wucher zu begehen, denn es kann nicht gesagt werden, dass er jene Einkünfte zur Erleichterung der Lasten aus dem Ehestand erhalten hat, wie es vom Ehemann der Braut gesagt werden kann. Man könnte freilich sagen, wenn er aus Freundschaft mit dem Ehemann und ohne betrügerischen Wucher diese Einkünfte auf besagte Weise erworben hat: dass er über die 1000 vorher beim Kauf gegebenen Pfund hinaus daraus so viel erwerben kann, wie Recht und Besitz der 1000 gegebenen Pfund das Recht auf künftige Einkünfte überwiegt, die über mehrere Jahre bis auf 1000 Pfund ansteigen, nach der oben143 gegebenen Form und Regel für den Kauf des Rechts auf die zukünftigen jährlichen Einkünfte für zehn Jahre. 77  Drittens kann der genannte Vertrag auch so funktionieren, dass hier gleichzeitig stattfinden »ein Darlehensvertrag und ein Gesellschaftsvertrag, z. B. wenn jemand, der zwanzig [Schafs-]Köpfe hat, sie zu ihrem Schätzpreis – etwa für zwanzig Schilling – einem anderen übergibt, und zwar so, dass dieser ihm den halben Preis, nämlich zehn Schilling – erstatten muss, was auch immer nachher mit den Schafen geschieht. Dann ist es nämlich ebenso, wie wenn ein Geldgeber ihm zehn Schilling als Darlehen gegeben hätte, mit denen er, nachdem er [damit] zehn Köpfe gekauft hat, einen Gesellschaftsvertrag mit dem Geldgeber geschlossen hätte, der noch zehn andere Köpfe hat: so dass sie (die Köpfe) gemeinschaftlich und die beiden Gesellschafter sind in Gefahr und Zugewinn. Und wenn in Betracht des Darlehens der Geldgeber den Schuldner im Gesellschaftsvertrag bedrängt, so liegt hier insoweit Wucher vor«.144

4. Fall 78  Ganz ähnlich ist es Wucher, wenn jemand einem Kaufmann 100 Pfund übergibt: so, dass die eine Hälfte auf die Gefahr des Kaufmanns läuft und die andere auf die Gefahr des Anlegers, und

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periculum tradentis et tandem utrique equaliter lucrentur et perdant. Tunc enim perinde est ac si medietatem currentem ad periculum mercatoris sibi mutuasset et racione talis mutui, mercator nullum salarium habeat de sua industria et opere, quo relinquam medietatem pro tradente in mercaciones deducit. Et ideo perinde est ac si mercatori cui quinquaginta libras mutuasset diceret: ›trado tibi alias quinquaginta et propter mutuum quod tibi feci, duc eas michi absque aliquo stipendio‹, cum tamen talibus pro stipendio quarta pars lucri soleat assignari, absque hoc quod in capitalis perdicione absque sua culpa facta nichil penitus perdant. 〈 Quintus casus  〉

79  Item, consimilis usura est si quis mutuat alteri centum solidos cum quibus ludat cum eo, sic tamen quod racione talis mutui periculosior sors ludi detur ei cui mutuum illud est factum. Tunc enim tantum est ibi de usura quantum preponderat maioritas illius periculi. 〈 Sextus casus  〉

80  Item, consimilis sed peior usura est »cum quis certa capita ovium tradit, certo precio extimata, et sub eo pacto contrahit societatem quod de proventibus recipiat totum precium antequam alius aliquid de proventibus percipiat, vel sub tali pacto quod de fetibus reparentur capita casu mortua, antequam alius aliquid de proventibus percipiat, quod est quasi tradere oves immortales«. Si tamen post predictam perceptionem precii ovium aut cum reparacione ea-

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schließlich sollen beide in gleicher Weise gewinnen und verlieren. Es ist dann nämlich genauso, wie wenn dieser ihm die auf die Gefahr des Kaufmanns laufende Hälfte geliehen hätte und der Kaufmann auf Grund dieses Darlehens überhaupt keinen Lohn für seinen Fleiß und seine Tätigkeit bekäme, mit der er die andere Hälfte für den Anleger in den Handel bringt. Und daher ist es genauso, wie wenn dieser dem Kaufmann, nachdem er ihm 50 Pfund geliehen hätte, sagte: »Ich gebe dir noch 50 dazu, und wegen des Darlehens, das ich dir gewährt habe, bring sie für mich in den Handel ohne weiteren Lohn« – wo man doch solchen [Kaufleuten] den vierten Teil des Gewinns zuzuteilen pflegt, und zwar ohne, dass sie beim Verlust des Kapitals, wenn er ohne ihre Schuld eintritt, irgendetwas verlieren.

5. Fall 79  Ebenso: Ganz ähnlich ist es Wucher, wenn jemand einem anderen 100 Schilling gibt, mit denen dieser mit ihm spielt, und zwar so, dass auf Grund dieses Darlehens demjenigen, dem das Darlehen gewährt wurde, der risikoreichere Spielanteil gegeben wird. Es liegt dann nämlich insoweit Wucher vor, als der Zuwachs dieses Risikos ausschlaggebend ist.145

6. Fall 80  Ebenso: Ein ganz ähnlicher, aber schlimmerer Fall von Wucher ist es, »wenn jemand [einem anderen] eine gewisse Anzahl Schafsköpfe, die zu einem bestimmten Preis geschätzt sind, übergibt und unter der Bedingung einen Gesellschaftsvertrag abschließt, dass er den ganzen Preis für den Zuwachs erhält, bevor der andere etwas von dem Zuwachs bekommt – oder unter der Bedingung, dass durch die Jungen die durch Zufall verstorbenen Köpfe ersetzt werden, bevor der andere etwas von dem Zuwachs bekommt, was fast so viel heißt, wie unsterbliche Schafe übergeben«.146 Wenn jedoch nach dem Erhalt des Geldes für die Schafe oder bei ihrer Ersetzung durch

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rum de fetibus, contractus societatis sic fieret quod, quantum levat ovium pastus et pastoralis custodia, tanto melior fieret porcio societatis in recipiente et custodiente ac pascente oves, tunc non esset ibidem usura nec peccatum iniusti precii. 〈 Septimus casus  〉

81  Septimus casus est cum quis, sub specie commutacionis bladi pro blado, ante messes, tradit alteri bladum vetus ut in messibus recipiat novum et prevalens; ideo autem dico prevalens, quia si illud vetus usque ad messes servatum tantum probabiliter valuisset quantum novum pro illo receptum, non esset ibi usura sed pocius equalitas, quamvis prestitor ex hoc reportaret aliquam utilitatem renovacionis sui bladi, ob quam causam posset diucius conservari. Si enim absque tuo dampno et preiudicio ego consequor aliquam utilitatem, non ex hoc sum iniustus aut iniuriosus. Si tamen ante messes erat venditurus illud vetus sed mutuavit alteri ob preces eius, tunc debet aut potest inde habere equivalens precio quod tunc inde habuisset si illud tunc temporis vendidisset.

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die Jungen der Gesellschaftsvertrag so geschlossen würde, dass der Gesellschaftsanteil bei demjenigen, der die Schafe aufnimmt, hütet und weidet, um so viel besser würde, als das Hüten der Schafe und das Futter an Aufwand verlangt: dann läge dort kein Wucher vor und auch nicht die Sünde des ungerechten Preises.

7. Fall 81  Der siebte Fall ist: Wenn einer, unter dem Vorwand, Getreide gegen Getreide zu tauschen, vor der Ernte einem anderen altes Getreide gibt, um bei der Ernte neues und wertvolleres zu erhalten. Ich sage aber »wertvolleres«, denn: wenn das alte, bis zur Ernte aufbewahrte, wahrscheinlich genauso viel wert gewesen wäre wie das neue, das er dafür erhalten hat, dann gäbe es hier keinen Wucher, sondern vielmehr Gleichheit, obwohl der Darlehensgeber daraus ­einen gewissen Nutzen – den der Erneuerung seines Getreides – zöge, aus welchem Grund es länger aufbewahrt werden könnte. Denn wenn ich, ohne dich zu schädigen oder zu benachteiligen, einen gewissen Nutzen erlange, füge ich dir deswegen weder ein Unrecht noch eine Kränkung zu. Doch wenn er jenes alte [Getreide] vor der Ernte verkaufen wollte, es aber auf dessen Bitte hin einem anderen geliehen hat, dann soll und kann er dafür einen Preis erhalten, der demjenigen äquivalent ist, den er damals dafür erhalten hätte, wenn er es zur damaligen Zeit verkauft hätte.147

〈 Pars

quarta: De restitucionibus  〉 1  Post hoc igitur de restitucionibus usurarum aliquid breviter disseramus, et occasione huius de restitucionibus aliquid generaliter perstringamus, et tangantur ad presens quatuor. 2  Primo scilicet, quid vel quantum sit restituendum? Secundo, a quo sit restituendum? Tercio, cui? Quarto, quo tempore et loco et modo, an scilicet totum statim vel successive, aut in loco in quo manet is cui restitucio fieri debet, aut pro loco et tempore debitori vel creditori magis opportuno; et que impossibilitas vel necessitas excusat a restitutione simpliciter vel ad tempus? 〈 Primus articulus, prima regula  〉

3  Quantum ad primum, quid scilicet restituendum est, prima generalis regula est quod omne alienum vel quod alteri iure debetur est restituendum, sive debitor hoc licite vel illicite habuerit. Propter quod omne perditum ab alio est ab inventore restituendum perdenti tamquam alienum, ex quo scit, aut si dat competentem operam scire potest quis rem illam amisit. Et esto quod talis non reperiatur, debet secundum quosdam ab inventore pauperibus erogari pro illius anima cuius res fuit. Nescio tamen an ad hoc secundum necessario obligetur.

Vierter Teil: Über Rückerstattungen 148 1  Danach wollen wir nun kurz über die Rückerstattung von Wucherzinsen handeln, und bei dieser Gelegenheit etwas über Rück­ erstattungen im Allgemeinen sagen. Dabei sollen zunächst vier Hauptpunkte berührt werden. 2  Erstens: Was oder wie viel muss rückerstattet werden? Zweitens: Von wem muss rückerstattet werden? Drittens: wem? Viertens: zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Art und Weise – nämlich das Ganze sofort oder nach und nach; oder an dem Ort, wo derjenige sitzt, an den die Rückerstattung erfolgen muss, oder an einem Ort und zu einer Zeit, die für den Schuldner oder den Gläubiger günstiger sind; und welche Unmöglichkeit bzw. Notlage entbindet von der Rückerstattung[spflicht], schlechthin oder für eine gewisse Zeit?

Erster Hauptpunkt, erste Regel 3  Was das erste angeht, nämlich: was zurückgegeben werden muss, so ist die allgemeine Regel: alles, was fremd ist bzw. was von Rechts wegen einem anderen geschuldet wird, muss zurückgegeben werden – sei es, dass der Schuldner es rechtmäßig oder unrechtmäßig bekommen hat.149 Deshalb ist alles, was von einem anderen verloren wurde, vom Finder dem Verlierenden als etwas Fremdes150 zurückzugeben, da er ja weiß – oder, wenn er sich die entsprechende Mühe gibt, wissen kann –, wer die Sache verloren hat. Und sollte dieser nicht gefunden werden, so soll sie, wie einige meinen, vom Finder den Armen gespendet werden, zum Seelenheil dessen, dem die Sache gehörte.151 Ich weiß freilich nicht, ob die Verpflichtung zu diesem zweiten Punkt verbindlich ist.

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De restitucionibus

〈 Secunda regula  〉

4  Secunda regula est quod unusquisque tenetur restituere totum dampnum ad cuius totalitatem est cooperatus, sic quod probabiliter presumatur quod absque hac cooperacione dampnum illud non contigisset. Tenetur, inquam, nisi per reliquos cooperatores, iuxta proporcionem sue cooperacionis restitucio fiat. Et si tota fiat ab illo, tunc quilibet alius cooperator tenebitur ei ad tantum quantum sua parcialis cooperacio parcialiter et proporcionaliter reddere debebat. Si autem non est cooperatus in totum sed solum in aliquam partem, non tenetur restituere, nisi solam illam partem. 5  Censetur autem quis cooperari non solum facto sed eciam verbo et nutu ac scripto vel signo incitativo et inductivo et animativo seu confortativo et consultivo ac suasivo et adortativo seu preceptorio vel comminatorio aut permissorio vel deprecatorio vel falsa advocacione et allegacione aut falsa incriminacione et testificacione. Is eciam qui ex officio suo tenetur alterum defendere vel preservare a dampno, si ex notabili negligencia vel incuria aut impericia officio suo notabiliter indebita, contingat notabiliter dampnificari illum cui sic tenetur, debet sibi restituere dampnum, puta si hoc contingat propter impericiam vel negligenciam advocati vel iudicis vel, principis vel medici aut naute vel architectoris vel consimilium in officiis suis et sibi debitis. Cuius racio est non solum quia tenentur talia precavere, sed eciam quia eorum negligencia vel impericia habet quamdam efficacem causalitatem dampnificacionis illorum iuxta modum quo privacio est causa privacionis. 6  Item scienter conservans aut scienter emens furtum iam factum aut indebite impediens illud reddi, cooperator censetur et ideo ad re-

Über Rückerstattungen

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Zweite Regel 4  Die zweite Regel ist: Ein jeder muss den ganzen Schaden ersetzen,152 zu dessen Gesamtheit er beigetragen hat, und zwar wenn mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, dass dieser Schaden ohne diese Mitwirkung nicht eingetreten wäre. Er muss es, sage ich, wenn nicht durch die übrigen Beteiligten, nach dem Anteil ihrer jeweiligen Mitwirkung, Ersatz geleistet wird. Und wenn der ganze Ersatz von ihm geleistet wird, dann schuldet jeder andere Beteiligte ihm so viel, wie seine anteilige Mitwirkung anteilig und verhältnismäßig zu ersetzen schuldig war. Hat er aber nicht zum Ganzen, sondern nur zu einem gewissen Teil beigetragen, so muss er nur diesen Teil ersetzen. 5  Als Beteiligung gilt aber nicht nur die Tat, sondern auch das mündliche, gestische, schriftliche Zeichen des Ansporns, der Anstiftung, Ermunterung oder Bestätigung, des Rats, der Überredung, Aufforderung, Vorschrift, Drohung, Erlaubnis, der dringenden Bitte  – oder auch fehlerhafter Rechtsbeistand, falsche Verdächtigung oder falsche Anschuldigung und Zeugenaussage. Auch derjenige, der von Amts wegen einen anderen verteidigen oder vor ­einem Schaden bewahren muss, muss – wenn es wegen einer auffälligen Nachlässigkeit, Unachtsamkeit oder Unerfahrenheit, die mit seinem Amt offenbar unvereinbar sind, dazu kommt, dass der, dem er auf diese Weise verpflichtet ist, empfindlich geschädigt wird –, ihm den Schaden erstatten:153 angenommen, das geschieht wegen der Un­erfahren­heit bzw. Nachlässigkeit eines Rechtsanwalts oder ­eines Richters, eines Fürsten oder eines Arztes oder eines Seemanns, eines Architekten oder von vergleichbaren Leuten in ihrem Aufgabenbereich und dem, was sie ihm schuldig sind. Der Grund hierfür ist nicht nur, dass sie verpflichtet sind, solches zu verhüten, sondern auch weil ihre Nachlässigkeit bzw. Unerfahrenheit eine gewisse Wirkursächlichkeit hat für die Schädigung der Betreffenden, in der Weise, wie ein Mangel Ursache eines Mangels ist.154 6  Ebenso: Wer wissentlich etwas bereits Gestohlenes aufbewahrt oder wissentlich kauft oder rechtswidrig verhindert, dass dieses zurückgegeben wird, gilt als Beteiligter und ist daher zur Rückgabe

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De restitucionibus

stitucionem tenetur. Subditus tamen obediens suo regi in bello iniusto, quod tamen subditus credit esse iustum aut non est certus esse iniustum, nec habet condignam racionem quare debeat esse certus, non tenetur rapta vel demolita restituere, quia per se facit quod respectu eius est iustum, per accidens vero, quod est respectu regis, iniustum. Propter quod Augustinus dicit quod in tali casu militem excusat ordo obediendi. 7  Intellige autem predicta de dampnis reparabilibus seu restituibilibus. Nam hominis occisio vel membri eius mutilacio non est eidem restituibilis. Expense tamen quas in suorum vulnerum sanacione fecisset, possunt et debent restitui sibi. Servus eciam domino occisus potest et debet restitui domino, per dacionem vel empcionem alterius servi aut precium competens empcioni. 〈 Tercia regula  〉

8  Tercia regula est quod dampnificacio in eo quod nondum erat suum aut sui iuris, non est sibi illud necessario restituendum. Puta si alicui empturo equum vel castrum in quo multum lucraretur, ego verbis dissuasoriis impedio huiusmodi empcionem antequam sit facta; aut si alicui cui testator vult sua bona vel partem eorum legare vel dare, ego impedio legari vel dari, non teneor ex hoc aliquid restituere sibi, quamvis eciam hoc maliciose fecerim, cuius racio est quia per hoc non abstuli sibi aliquid suum nec feci auferri.

Über Rückerstattungen

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verpflichtet.155 Allerdings ist ein Untergebener, der seinem König in einem ungerechten Krieg Gehorsam leistet (den freilich der Unter­ gebene für gerecht hält oder von dem er [zumindest] nicht sicher ist, dass er ungerecht ist, und jedenfalls keinen hinlänglichen Grund hat, sich dessen sicher zu sein), nicht verpflichtet, Geraubtes oder Zerstörtes zu erstatten: denn an sich (per se) ergibt sich, dass es im Hinblick auf ihn gerecht ist, zufällig (per accidens) aber, dass es im Hinblick auf den König ungerecht ist. Deshalb sagt Augustinus, dass in einem solchen Fall der Befehl, zu gehorchen, den Soldaten entschuldigt.156 7  Verstehe aber das Gesagte von den wiedergutzumachenden bzw. zu ersetzenden Schäden. Denn die Tötung eines Menschen oder die Verstümmelung einer seiner Gliedmaßen kann man ihm nicht ersetzen. Ausgaben jedoch, die er für die Heilung seiner Wunden aufgewendet hätte, können und müssen ihm ersetzt werden.157 Auch ein dem Herrn getöteter Sklave kann und muss dem Herrn ersetzt werden, sei es durch Hingabe oder Kauf eines anderen Sklaven oder durch den entsprechenden Kaufpreis.158

Dritte Regel 8  Die dritte Regel ist: Eine Schädigung in dem, was ihm noch nicht gehörte oder worauf er noch keinen Anspruch hatte, ist dem Betreffenden nicht notwendigerweise zu ersetzen. Nimm an: Wenn ich jemanden, der ein Pferd oder eine Burg kaufen will, wobei er ­einen großen Gewinn machen würde, mit abratenden Worten daran hindere, noch bevor dieser Kauf abgeschlossen wurde; oder wenn ich verhindere, dass jemandem, dem ein Erblasser seine Güter oder einen Teil davon vermachen oder geben will, [diese] vermacht bzw. gegeben werden, so bin ich deswegen nicht verpflichtet, ihm etwas zu erstatten, auch wenn ich es böswillig getan habe. Der Grund hierfür ist: Dadurch habe ich ihm nicht etwas von dem Seinigen weggenommen, noch habe ich veranlasst, dass es [ihm] weggenommen wird.

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De restitucionibus

9  Multo minus autem teneor ei quem impedivi ne sibi ecclesiastica prebenda daretur, aut cui eam absque falsi criminis imposicione feci iam datam auferri per eum per quem secundum iura divina et canonica vere potuit sibi auferri, sicut utique potest per ­papam, quia pro futuro tempore pro quo sibi aufertur, nondum erat sic sua vel sui iuris, quin salvo sibi iure divino posset sibi auferri. Preterea ius illud pocius est spirituale et commune et a potestate superioris dependens quam sit corporale et restituibile et proprium possidentis. 10  Si vero instetur quod violenter detinens rusticum ne operas suas faciat, tenetur ei ad salarium quod amittit, et consimiliter impediens aucupem vel piscatorem a capcione avium vel piscium, que sunt communis iuris, nisi racione ripe vel terre que sunt specialium dominorum, tenetur eis ad dampnum eis datum, dicendum quod hec non sunt similia primis casibus quia hic aufertur rustico et ­aucupi suus proprius usus, qui erat utique sui iuris. Aufertur eciam et fructus in eorum usu causaliter et quasi seminaliter contentus, impediuntur* eciam ab hiis que eis competunt de iure communi. 11  Si vero arguat quis quod qua racione dans causam predictorum dampnorum tenetur restituere dampna, eadem racione abscidens alicui manus aut pedes tenetur ei restituere omnia temporalia que ex usu predictorum membrorum acquireret si non fuissent sibi abcissa; ad quid enim plus teneor tibi restituere fructus quos ex agro tuo habuisses, nisi me cooperante illud iniuste perdidisses, quamvis ego fructus illos non perceperim?

*  Codex D hat »impeditur«; »impendiuntur« scheint ein Schreibfehler zu sein. Vgl. Piron, S.  254, Z.  4 und Anm. zu Nr.  10.

Über Rückerstattungen

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9  Noch viel weniger bin ich dem gegenüber in der Pflicht, den ich daran gehindert habe, dass er eine kirchliche Pfründe159 erhält; oder dem gegenüber, dem ich eine schon gegebene – ohne ihn mit einer falschen Beschuldigung zu belasten – habe wegnehmen lassen durch denjenigen, durch den sie ihm nach göttlichem und kirchlichem Recht tatsächlich weggenommen werden konnte, wie es jedenfalls durch den Papst geschehen kann160: denn für die zukünftige Zeit, für die sie ihm weggenommen wird, war sie nicht so die seine (bzw. hatte er nicht diesen Rechtsanspruch), dass sie ihm nicht ohne Verletzung göttlichen Rechts weggenommen werden könnte. Außerdem ist dieses Recht eher geistlich und allgemein und von der Macht des Vorgesetzten abhängig als körperlich und erstattungsfähig und ausschließlich seinem Inhaber gehörig. 10  Wird aber eingewendet: Wer einen Bauern davon abhält, dass er seine Arbeiten macht, ist ihm den Lohn schuldig, den er verliert – und entsprechend, wer einen Vogelfänger oder einen Fischer am Fang von Vögeln oder Fischen hindert, die gemeinen Rechts161 sind (außer auf Grund des Rechts auf Ufer oder Land, die bestimmten Eigen­tümern gehören162) –, muss den ihnen erwachsenen Schaden ersetzen: so ist zu sagen, diese Fälle sind den erstgenannten nicht ähnlich, denn hier wird der Bauer und der Vogelfänger an seiner eigenen Tätigkeit gehindert, auf die er jedenfalls einen Rechts­anspruch hatte. Es entgeht [ihnen] auch der Gewinn, der in ihrer Tätigkeit ursächlich und sozusagen samenhaft163 enthalten ist; auch wird ihnen vorenthalten, was ihnen vom gemeinen Recht her zusteht. 11  Wenn aber jemand meint: Aus dem Grund, aus dem derjenige, der den Anlass für die genannten Schäden gibt, verpflichtet ist, die Schäden zu erstatten, aus demselben Grund ist derjenige, der einem anderen die Hände oder die Füße abschneidet, verpflichtet, ihm alle zeitlichen Güter zu erstatten, die er aus dem Gebrauch der besagten Gliedmaßen erwürbe, wenn sie ihm nicht abgeschnitten worden wären – wozu bin ich denn noch mehr dazu verpflichtet, dir die Früchte zu erstatten, die du aus deinem Acker hättest haben können, wenn du sie nicht ungerechterweise mit meiner Mitwirkung ver­loren hättest, obwohl ich diese Früchte nicht erhalten habe?

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12  Ad hoc potest ex consideracione duplici responderi. Primo scilicet quia in hiis et consimilibus multum est attendenda approbata consuetudo omnium preteritorum et presencium et precipue sanctorum, quia talis magnam vim causalitatis habet in iure humano; non autem reperitur quod dampna lucri quod truncati vel cecati fecissent, sic fuerunt restituta et debere restitui iudicata, sicut reperitur de superioribus dampnis datis. 13  Secundo, quia truncacio membrorum non aufert immediate causam lucri propinquam et quasi actualem, sed pocius causam remotam et magis potencialem quam actualem, et ideo truncator membrorum pocius aufert posse seu potenciam ad lucrandum, quam aufert actum lucrativum seu actualem causam lucri, nisi solum pro quanto actus non actualiter sed potencialiter continebatur in membris. Sicut autem rapiens equum vel pecuniam non tenetur restituere quicquid dominus per illam posset esse lucratus, sed solum illa que per hoc esset probabiliter lucraturus ex eo quod iam erat actualiter ad lucra huiusmodi ordinatus et dedicatus, sic nec in proposito tenetur restituere ea que posset esse lucratus. 14  Si vero dicas quod iste truncatus esset iam mechanicus et mechanicis lucris et officiis mancipatus, tunc oportet dici quod vel truncator tenetur ei restituere tantum quantum ponderat probabilitas talis lucri, aut quod sicut primo dictum est, communis consuetudo hoc non restituendi ipsum excusat, que forte introducta est quia ut sepius huiusmodi probabilitas pro tota vita truncati est nimis incerta tantique ponderis seu precii, quod vix restitui posset, saltem a com-

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12  Darauf kann auf Grund einer zweifachen Überlegung geantwortet werden. Erstens, dass in diesen und ähnlichen Fällen sehr die bewährte Gewohnheit aller vergangenen und gegenwärtigen [Menschen] und vor allem der Kirchenväter zu beachten ist, denn diese hat im menschlichen Recht eine große Kraft der Ursächlichkeit.164 Es findet sich aber [darin] nicht, dass die Gewinneinbußen, die die Verstümmelten oder Geblendeten erlitten hätten, so ersetzt worden wären (und für ersatzpflichtig beurteilt worden wären), wie es sich bei den oben angegebenen Schadensfällen findet. 13  Zweitens, dass die Verstümmelung der Glieder nicht unmittelbar die nächste und quasi aktuelle Ursache für den Gewinn aufhebt, sondern eher die entfernte und mehr potentielle als aktuelle Ursache. Und daher beseitigt derjenige, der die Glieder verstümmelt, eher das Können bzw. die Fähigkeit zum Gewinnerwerb, als dass er den gewinnbringenden Akt bzw. die aktuelle Ursache des Gewinns wegnähme – es sei denn nur insoweit, als der Akt nicht aktuell, sondern potentiell in den Gliedern enthalten war. Denn wie derjenige, der ein Pferd oder Geld raubt, nicht all das erstatten muss, was der Eigentümer damit hätte erwerben können, sondern nur das, was er wahrscheinlich damit erworben hätte, weil er schon aktuell auf dergleichen Gewinn ausgerichtet und eingestellt war, so ist er auch in diesem Fall nicht verpflichtet, das zu erstatten, was dieser hätte ­gewinnen können. 14  Sagst du aber, dieser Verstümmelte war vorher ­Handwerker und verdiente sein Geld mit handwerklichen Dienstleistungen, dann muss man sagen: Entweder muss der Urheber der Verstümmelung ihm so viel ersetzen, wie die Wahrscheinlichkeit eines solchen Gewinns wiegt, oder (wie unter erstens gesagt wurde) die allgemeine Gewohnheit spricht ihn davon frei, das zu ersetzen. Diese ist vielleicht eingeführt worden, weil meistens eine derartige Wahrscheinlichkeit für das ganze Leben des Verstümmelten zu ungewiss ist und eine solche Belastung bzw. einen so hohen Preis darstellt, dass sie kaum zu erstatten wäre, mindestens vom Durchschnitt des gemeinen Volks. Ich glaube freilich, dass der Urheber der Verstüm-

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munitate vulgi. Credo tamen quod dives truncator teneatur alere a se truncatos, si alimonia egent. 〈 Quarta regula  〉

15  Quarta secundum quosdam est quod omne turpiter et indecenter ac viciose adquisitum est restituendum seu a se reiciendum, utpote si symoniace aut meretricio vel ystrionatu aut ludo aut quocumque turpi modo mercandi seu lucrandi fuerit acquisitum. Adduntque ad hoc quod omne lucrum ex tali radice viciosa per quamcumque subsequentem mercacionem vel empcionem proveniens est restituendum; puta si de pecunia furtiva vel usuraria emi merces vel agros ex quibus sum postmodum multa lucratus, teneor ut dicunt omnia restituere. Quorum racio est quia quicquid ex viciosa radice provenit est totum infectum et viciosum. 16  Sed istis a magnis contradicitur, et credo quod vere, nisi solum ubi per iura canonica vel civilia est huiusmodi restitutio* in ­penam criminum imposita et statuta, sicut est in simoniace acquisitis. Horum autem racio est quia aliud est contractum esse in sua forma viciosum et nullum, et aliud in sua materia vel causa motiva seu effectiva, non tamen in sua intrinseca forma. Quamvis autem in contractu mercedis pro meretricio sit materia meretricii viciosa, et voluntas ad meretricium et ad contractum sue mercedis movens, forma tamen contractus habet in se aliquid veri iuris, quia sicut meretrix concedit lenoni corpus personaliter et naturaliter ac civiliter suum, sic ille pro corpore meretricis sibi concesso dat aliquid vere suum.

*  Lesart von Codex D und der Ausgabe von Fabiano Chiavari, Rom 1556 (statt »reiectio«). Vgl. Piron, S.  258, Z.  7 und Anm. zu Nr.  16, Z.  7.

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melung, wenn er reich ist, die von ihm Verstümmelten ernähren muss, wenn sie dessen bedürfen.

Vierte Regel 15  Die vierte Regel, gewissen Leuten zufolge,165 ist: Alles, was auf schändliche, unanständige und lasterhafte Weise erworben wurde, muss zurückgegeben und abgelehnt werden – z. B. wenn es durch Simonie166, Prostitution, Schauspielerei, Glücksspiel oder sonst eine schändliche Art, Handel zu treiben bzw. Geld zu verdienen, erworben wurde. Und sie fügen noch hinzu, dass jeder Gewinn, der sich aus einer solchen verdorbenen Wurzel durch irgendeinen darauffolgenden Handel oder Kauf ergibt, zurückerstattet werden muss – angenommen, ich habe von gestohlenem oder durch Wucher erlangtem Geld Waren oder Äcker gekauft, aus denen ich nachher großen Gewinn gezogen habe, so muss ich, wie sie sagen, alles zurückgeben. Ihre Begründung ist: Alles, was aus einer verdorbenen Wurzel herstammt, ist [davon] ganz infiziert und verdorben. 16  Doch wird diesen von großen [Magistern] widersprochen,167 und ich glaube zu Recht, es sei denn lediglich dort, wo eine solche Rückerstattung durch kirchliches oder bürgerliches Recht zur Strafe für ein Vergehen auferlegt und festgesetzt wurde, wie es der Fall ist bei Dingen, die durch Simonie erworben wurden. Der Grund hierfür aber ist: Eines ist es, wenn der Vertrag in seiner Form fehlerhaft und nichtig, und ein anderes ist es, wenn er es in seinem Inhalt oder seiner Beweg- bzw. Wirkursache ist, nicht jedoch in seiner inneren Form. Denn obwohl im Lohnvertrag für die Dienstleistungen einer Dirne der Inhalt fehlerhaft ist, und so auch der Wille, der sie zu diesem Gewerbe und zum Vertrag über ihren Lohn motiviert, hat doch die Form des Vertrags etwas von wirklichem Recht in sich; denn wie die Dirne dem Zuhälter den Körper zur Verfügung stellt, der persönlich, natürlich und bürgerlich ihr gehört, so gibt dieser für den ihm überlassenen Körper der Dirne [auch] etwas, was wirklich ihm gehört.

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17  Si autem licitum est michi dare meum gratis, multo magis licitum est michi dare aliquid pro alio michi concesso, quamvis michi illud impie concedatur, et maxime ex quo aliqua temporalis utilitas, sive vere sive secundum eius iudicium et beneplacitum, inde provenit danti. Si eciam ludens posset mere gratis rem suam dare, multo magis potest hoc sub fortuita sorte ludi, quamvis cupiditas ad ludum movens sit aliquando et ut sepius viciosa. Sic, licet cupiditas movens ad emendum agros vel merces sit viciosa, non propter hoc sequitur quod empcio sit de se viciosa. 18  Propterea non omnis viciositas contractus obligat ad restitucionem, sed solum illa que aufert ius ad invicem contrahendi, sicut patet in eo qui clandestine vel ex prava voluntate et intencione contrahit coniugium aut homagium cum aliquo rege. Si ergo iure divino vel humano non aufertur alicui iurisdictio vel potestas dandi aliquid meretrici pro locacione corporis sui, aut ystrioni pro suo ystrionatu, aut colludenti pro fortuita et infraudulenta victoria ludi, non oportet ex aliis superannexis viciositatibus sui iuris quamdam equalitatem et licenciam anullari. Quamvis autem alique leges civiles quondam edite fuerint contra nimium et nimis improbum ludum, hodie tamen per contrariam consuetudinem abolite reputantur, quod patet quia repetenti perdita per ludum in foro civili et iudiciali non daretur actio nec sentencia restitucionis sibi fiende. 19  Improbant eciam illud quod predicti addunt, scilicet quod omne mercatorie lucratum ex pecunia furtiva vel usuraria est restituendum. Arguunt enim contra hoc tripliciter, primo scilicet ex parte eius cui restitucio fieret. Cum enim illi ius pecunie sibi furate

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17  Wenn es mir aber erlaubt ist, das Meine umsonst herzugeben, so ist es mir erst recht erlaubt, etwas zu geben für etwas anderes, das mir zugestanden wurde, auch wenn es mir auf verwerfliche Weise zugestanden wird – und ganz besonders dann, wenn daraus dem Geber irgendein zeitlicher Nutzen erwächst, sei es in Wahrheit oder nach seinem Urteil und Wohlgefallen. Wenn auch ein Glücksspieler seine Sache vollkommen gratis hergeben könnte, kann er das noch viel mehr unter dem zufälligen Los des Spiels, obwohl die zum Spiel bewegende Geldgier gelegentlich und wie [es sogar] häufiger [vorkommt] fehlerhaft ist. So folgt, auch wenn die zum Kauf von Äckern und Waren bewegende Geldgier fehlerhaft ist, deswegen nicht, dass der Kauf an sich fehlerhaft ist. 18  Deshalb verpflichtet nicht jeder fehlerhafte Vertrag zur Rückerstattung, sondern nur derjenige, der das Recht zum gegenseitigen Vertragsschluss aufhebt, wie klar ist bei demjenigen, der heimlich oder aus böser Absicht und Zielsetzung eine Ehe eingeht oder einen Lehnseid mit einem König abschließt. Wenn einem aber durch göttliches oder menschliches Recht nicht die zivilrechtliche Grundlage bzw. die Macht genommen wird, einer Dirne etwas zu geben für die Vermietung ihres Körpers oder einem Schauspieler für seine Schauspielerei oder einem Mitspieler für den zufälligen und nicht betrügerischen Sieg beim Glücksspiel, so darf man nicht wegen anderer darüber hinaus damit verbundener Mängel eigenen Rechts168 eine bestimmte Gleichheit und Erlaubtheit annullieren. Denn obwohl einst einige Zivilgesetze gegen übermäßiges und allzu unanständiges Spiel erlassen wurden, gelten sie doch heute als durch entgegengesetzte Gewohnheit abgeschafft. Das ist klar: denn einem, der das beim Spiel Verlorene vor einem Zivilgericht zurückfordern wollte, würde keine Klage gestattet, noch erginge ein Urteil über eine ihm zustehende Rückerstattung. 19  Sie kritisieren auch das, was die zuvor Genannten hinzufügen, nämlich, dass jeder durch Handel mit gestohlenem oder Wuchergeld erzielte Gewinn zurückzugeben sei. Dagegen argumentieren sie dreifach, und zwar erstens von Seiten dessen, an den die Rückerstattung zu geschehen hätte. Da nämlich dessen Anspruch auf das ihm

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vel per usuras extorte sit semper de iure inamissibile et indempne et currat ad periculum furis vel usurarii mercantis ex ea, tunc totum lucrum ex tali capitali inamissibili procedens proveniret modo usurario ei cui fuit sublata. Cum eciam pecunia illa non lucretur nisi per mercantis industriam et actum in quibus nichil iuris habet ille cui pecunia fuit extorta, patet quod modo usurario consequeretur lucrum illud ex ea. 20  Secundo arguunt ex parte consimilis furis vel usurarii nichil mercantis vel lucrantis ex pecunia tali. Constat enim quod iste ad tantumdem restituendum tenetur ad quantum ille qui inde lucratur. Si ergo ille qui inde lucratur tenetur restituere capitale cum suo lucro, ergo et ille qui nichil inde lucratur tenetur restituere equivalens capitali et lucro. 21  Tercio arguunt ex parte interesse dampni et probabilis lucri quod inde probabiliter fecisset is cui est furata. Ad hoc enim restituendum omnis fur tenetur, sive ex furto lucretur mercative, sive non. Supra autem equalitatem esset, quod is cui est furata amplius inde consequeretur. Nam restitucio prefati interesse sufficienter sibi restituit totum dampnum. An autem de usuris debeat necessario restitui interesse dampni vel non, tetigi in quadam questione de usuris facta in quodam quolibet. 22  Si vero obicias quod equus furto sublatus quantumcumque et quantiscumque expensis a fure melioratus est restituendus, ergo eadem racione et pecunia furata cum toto suo lucro, dicendum quod licet in iudicio civili et exteriori equus talis sit restituendus, de equi-

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gestohlene bzw. durch Wucher abgepresste Geld immer von Rechts wegen unverlierbar und unbeschädigt bleibt und [dieses] auf die Gefahr des Diebs oder des Wucherers läuft, der damit Handel treibt, so würde der ganze Gewinn aus einem solchen unverlierbaren Kapital auf wucherische Weise demjenigen zugutekommen, dem das Geld weggenommen worden war. Da auch dieses Geld Gewinn erzielen kann nur durch den Fleiß und die Tätigkeit des Handeltreibenden, worauf der, dem das Geld abgepresst worden war, keinerlei Anspruch hat, so ist klar, dass er den Gewinn daraus auf wucherische Weise erlangen würde. 20  Zweitens argumentieren sie von Seiten eines vergleichbaren Diebes oder Wucherers, der mit solchem Geld nichts erwirbt bzw. gewinnt. Denn bekanntlich ist dieser dazu verpflichtet, ebenso viel zurückzuerstatten wie jener, der daraus Gewinn erzielt. Wenn also derjenige, der daraus Gewinn erzielt, verpflichtet ist, das Kapital samt seinem Gewinn zu erstatten, dann wäre auch derjenige, der daraus keinen Gewinn erzielt, verpflichtet, das dem Kapital und dem Gewinn entsprechende Äquivalent zu erstatten. 21 Drittens argumentieren sie von Seiten des Ausgleichs des Schadens und des wahrscheinlichen Gewinns, den derjenige, dem das Geld gestohlen wurde, wahrscheinlich damit gemacht hätte. Denn diesen zu ersetzen ist jeder Dieb verpflichtet, ob er nun aus dem gestohlenen Gut einen Handelsgewinn erzielt oder nicht. Über die Gleichheit aber ginge es hinaus, wenn der, dem Geld gestohlen wurde, daraus noch mehr erhielte. Denn die Erstattung des besagten Ausgleichs ersetzt ihm hinlänglich den ganzen Schaden. Ob aber bei Wuchergeschäften notwendig auch ein Schadensausgleich zu leisten ist oder nicht, habe ich in einer Frage über den Wucher in einem »Quodlibet«169 behandelt. 22  Wenn du aber einwendest, dass das durch Diebstahl entwendete Pferd zurückgegeben werden muss, wie sehr und mit wie viel Aufwand auch immer es vom Dieb hochgepäppelt wurde – also aus demselben Grund auch das gestohlene Geld mit seinem ganzen Gewinn: so ist zu sagen, dass – auch wenn ein solches Pferd nach zivilrechtlicher und äußerer Beurteilung zurückzugeben ist – dennoch

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tate tamen iuris naturalis et consciencie est quod iste reddat furi interesse racionabilium expensarum per quas equus est melioratus, nisi pro quanto per civile iudicium esset inflictum furi illi in penam. 23  Quod vero dicitur quod omne procedens ex radice viciosa est viciosum, falsum est, nisi procedat ex illa in quantum est viciosa. Alias triticum genitum ex semine furtivo haberet naturam tritici viciosam, et homo natus ex adulterio non haberet veram naturam hominis et speciem sed adulterinam, quod patenter est falsum quia speciem tritici vel hominis non trahit ex vicio seminis sed ex bona natura ipsius. Et ex consimili causa est quod si quis emit rem furtivam et ex bona fide ac publice et in publico foro et postmodum venit in noticiam domini rei, non tenetur emptor sibi illam reddere donec ab ipso vel alio reciperet precium quod pro illa re solvit, quia non emit illam rem quasi a fure, sed quasi a vero domino et sub circumstantiis legitime empcionis. 〈 Quinta regula  〉

24  Quinta regula est quod omnis pena a iudice iuste sentenciata est restituenda, non autem antequam sit sentenciata, nisi ex causa alia deberetur aut nisi in iure esset simpliciter statutum eam solvi, quamvis a nullo speciali iudice sentenciaretur. Alias enim pene iuris positivi non intelliguntur esse simpliciter inflicte sed solum ordinate ut per iudices ordine iudiciario infligantur. Alias omnis homicida, quantumcumque occultus, peccaret mortaliter non restituendo om-

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die Billigkeit des Naturrechts und des Gewissens fordern, dass der Betroffene dem Dieb den Ausgleich für die sinnvollen Ausgaben, durch die das Pferd in einen besseren Zustand versetzt wurde, leistet; mit Ausnahme dessen, was dem Dieb ggf. durch das zivilgerichtliche Urteil als Strafe auferlegt wurde.170 23  Was aber gesagt wird: alles, was aus einer verderbten Wurzel kommt, ist verderbt – das ist falsch, es sei denn, es geht aus ihr hervor, insofern sie verderbt ist. Denn sonst hätte der aus einem gestohlenen Samen entsprossene Weizen eine verdorbene Weizen-Natur und der aus einem Ehebruch geborene Mensch hätte keine wahre Menschen-Natur und -Art, sondern eine ehebrecherische, was offensichtlich falsch ist, denn die Artnatur des Weizens oder des Menschen bezieht dieser nicht aus einem Mangel des Samens, sondern aus dessen guter Natur. Und aus einem ganz ähnlichen Grund gilt: Wenn jemand eine gestohlene Sache kauft – gutgläubig, öffentlich und auf dem öffentlichen Markt –, und nachher erhält er Kenntnis vom Eigentümer der Sache: so muss der Käufer sie ihm nicht zurückgeben, bis er von diesem selbst oder von einem anderen den Preis erhält, den er für diese Sache bezahlt hat. Denn er hat die Sache nicht sozusagen von einem Dieb gekauft, sondern sozusagen vom wahren Eigentümer und unter Umständen eines legitimen Kaufs.

Fünfte Regel 24  Die fünfte Regel ist: Jede Strafe, die von einem Richter durch ein rechtens gefälltes Urteil verhängt wurde, ist zu erlegen – allerdings nicht, bevor das Urteil ergangen ist; es sei denn, sie würde aus einem anderen Grund geschuldet oder im Recht wäre einfach festgesetzt, dass sie zu zahlen sei, obwohl von keinem speziellen Richter ein Urteil gefällt wurde. Denn zum einen geht man davon aus, dass die Strafen des positiven Rechts nicht einfach auferlegt sind, sondern nur angeordnet, damit sie durch Richter nach der Gerichtsordnung auferlegt werden. Zum anderen würde sonst jeder Mörder, wie gut er sich auch versteckt hätte, eine Todsünde begehen, wenn er nicht

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nia sua curie et non offerendo se iudici ad suspendium quod leges statuunt homicidiis. 〈 Sexta regula  〉

25  Sexta est quod omne adquisitum a dante per errorem persone cui datur, quia scilicet dans credit alteri dare, est restituendum danti, vel illis ad quos dantis intencio ferebatur; utpote si solis infirmis sancti Antonii vel talis hospitalis intendebat dare, non autem eorum questoribus, nisi solum sicut baiulis et ministris, est illis infirmis vel pauperibus restituendum. 26  Error autem condicionis fortune, utpote quia is cui datur a dante creditur esse pauper et tamen est dives, obligat ad dandum alicui pauperi, nisi iste interim fiat pauper et sic retineat sibi ut vere egenti. Error vero quo is cui datur creditur esse sanctus vel bonus et non est, aut missam celebraturus et non facit, si receptori constat de precisa intencione dantis, quod scilicet nullo modo aliter daret, obligat secundum quosdam vel ad reddendum aut ad sufficienter supplendum per se vel per alios intencionem dantis, quorum racio est quia totum ius donacionis procedit a voluntate et intencione dantis. 27  Alii vero dicunt quod ex quo isti persone simpliciter dat et dare intendit, quamvis non subsit causa propter quam dare intendit, nichilominus donacio manet, nisi causa illa non solum esset causa motiva sive finalis sed eciam condicio dandi, ut sit sensus: ›do tibi si es bonus vel si hoc facis et aliter non‹. Hoc autem probant per si-

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seine ganze Habe der Kurie zurückgibt und sich nicht dem Richter zum Erhängen anbietet, was die Gesetze für Mord fest­setzen.171

Sechste Regel 25  Die sechste ist: Alles, was erworben wird von einem Gebenden durch einen Irrtum in der Person, der gegeben wird – weil nämlich der Gebende glaubt, einem anderen zu geben –, muss dem Gebenden rückerstattet werden bzw. denjenigen, auf die sich die Absicht des Gebenden bezog; z. B. wenn er nur den Kranken des heiligen Antonius bzw. eines bestimmten Hospitals geben wollte, nicht aber deren Almosensammlern, es sei denn nur als Dienern und Helfern: so ist es den Kranken und Armen zurückzuerstatten. 26  Ein Irrtum aber in der Vermögenslage – z. B. weil derjenige, dem gegeben wird, vom Gebenden für arm gehalten wird, während er doch reich ist – verpflichtet dazu, [die Gabe] einem Armen [weiter] zu geben: es sei denn, dieser [der irrtümlich Begünstigte] wird inzwischen arm, so soll er [die Gabe] für sich behalten als ein wahrhaft Bedürftiger. Ein Irrtum aber, bei dem man glaubt, derjenige, dem gegeben wird, sei heilig und gut, und er ist es nicht – oder er werde die Messe feiern, und er tut es nicht: Wenn der Empfänger von der genauen Absicht des Gebenden wusste, dass er nämlich andernfalls auf keine Weise gäbe, so verpflichtet er (der Irrtum) einigen zufolge172 entweder zur Rückgabe oder dazu, hinlänglich selber oder durch andere der Absicht des Gebenden nachzukommen. Ihre Begründung ist: Das ganze Recht der Schenkung geht vom Willen und der Absicht des Gebenden aus. 27  Andere aber sagen: Da er (der Gebende) dieser Person einfach gibt und zu geben beabsichtigt, so bleibt, auch wenn der Grund, weswegen er geben will, nicht vorliegt, nichtsdestoweniger die Schenkung bestehen; es sei denn, der Grund wäre nicht nur Bewegbzw. Zielgrund, sondern auch die Bedingung für das Geben, so dass der Sinn wäre: ›Ich gebe dir [etwas], wenn du gut bist oder das [und das] tust, und sonst nicht‹. Das aber beweisen sie durch ein ähnli-

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mile quia si quis dat Petro centum marcas quia credit eum esse vel fuisse suum vel patris sui amicum, quamvis secundum rem non sit vel fuerit, tunc non tenetur Petrus restituere illas, et tamen teneretur si dans diceret: ›do tibi eas si es vel fuisti amicus meus et non aliter‹. 28  Primi vero dicunt hoc non esse simile quia in primo casu dans intendebat dare deo et cultui eius pocius quam homini. Intendebat eciam per hoc sibi vel suis procurare spiritualia bona a quibus iniuste fraudatur usquequo sibi illa spiritualia bona suppleantur seu restituantur. 〈 Septima regula  〉

29  Septima est quod omne acquisitum a dante non habente legitimam auctoritatem dandi illud quod de facto dedit, est restituendum illi apud quem spectabat auctoritas dandi vel dispensandi, et ideo acquisitum a servo vel monacho, subdito et consimilibus est restituendum, nisi ex certis circumstanciis probabiliter presumatur aut presumi debeat eos super hoc habuisse auctoritatem expresse vel presumptive concessam. Si autem habuit auctoritatem dandi sed nonnisi egenti et ex causa debita, tunc debet datum restitui aut causa illa suppleri, ut cum laicus dives et ob solam causam ditandi recipit ab episcopo vel curato vel abbate, ecclesiastica vel monastica bona, aut cum meretrix egens ob meretricium illa recipit ab eisdem; que quidem ex quo penitet et indiget, supplet licitam causam dandi, sicut et dives si fiat inops aut si det illud inopi. 30  Ad hanc autem regulam possunt reduci omnes defectus dantis vel contrahentis qui auferunt ei plenam et liberam racionem dandi

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ches Beispiel: Wenn jemand dem Peter 100 Mark gibt, weil er glaubt, dieser sei sein Freund (oder sei es gewesen) oder der seines Vaters, obwohl er es tatsächlich nicht ist oder war, dann muss Peter sie nicht zurückgeben, und doch müsste er es, wenn der Gebende sagte: ›Ich gebe sie dir, wenn du mein Freund bist oder warst, und sonst nicht‹. 28  Die Ersteren aber sagen, das sei nicht vergleichbar, denn im ersten Fall beabsichtigte der Gebende eher Gott und seiner Verehrung zu opfern anstatt einem Menschen. Er wollte dadurch auch sich und den Seinen geistliche Güter erwerben, um die er ungerechterweise betrogen wird, bis ihm diese geistigen Güter zuteil bzw. erstattet werden.173

Siebte Regel 29  Die siebte ist: Alles, was von einem Geber erworben wird, der nicht die rechtmäßige Vollmacht hat, das zu geben, was er tatsächlich gab, muss demjenigen zurückgegeben werden, dem die Vollmacht, zu geben bzw. zu spenden, zustand. Und daher ist etwas, was von einem Diener oder einem Mönch, von einem Untergebenen und Ähnlichen erworben wurde, zurückzugeben; es sei denn, aus bestimmten Umständen lässt sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen (oder muss angenommen werden), dass diese eine ausdrücklich oder mutmaßlich eingeräumte Vollmacht hierzu hatten. Wenn er aber nur die Vollmacht hatte, lediglich einem Bedürftigen und aus einem triftigen Grund zu geben, dann muss das Gegebene zurückerstattet werden oder jenem Grund entsprochen werden: z. B. wenn ein reicher Laie nur aus dem Grund, noch reicher zu werden, von e­ inem Bischof, einem Seelsorger oder einem Abt kirchliche oder klösterliche Güter bekommt oder wenn eine arme Dirne sie von ebendiesen für ihre Dienstleistungen erhält. Wenn diese freilich Reue zeigt und ihrerseits in Not gerät, liefert sie einen Rechtfertigungsgrund für die Gabe nach, wie auch der Reiche, wenn er mittellos wird oder wenn er das [Empfangene] einem Mittellosen gibt. 30  Auf diese Regel aber lassen sich alle Mängel in der Person des Gebenden bzw. Vertragschließenden zurückführen, die ihm die

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vel contrahendi, ut est defectus pleni usus racionis et liberi arbitrii aut ignorancia, vel coactio aut quecumque iracundia vel passionalis subitacio, tollens liberam et plenam voluntatem dandi vel contractus alios faciendi. 〈 Octava regula  〉

31  Octava est quod omnis usurpacio, seu indebita exactio novorum censuum aut pedagiorum, vel collectarum aut novarum iurisdictionum aut quarumcumque rerum contra ius rectum et approbatum aut contra consuetudines approbatas vim iuris habentes, est simpliciter restituenda. Usurpacio autem esse censetur, non solum si aperte inducta sit violenter, sed eciam si per aliquid occultam vim violencie habens, sicut et sepius habent preces vel questus regum apud subditos suos. Omnis eciam fraudator boni communis seu publice rei, quamvis nullum in speciali ledat, tenetur ad restitucionem dampni per fraudem dati. Unde illi qui omnes nummos grossiores fundunt, reliquendo solos minutos eiusdem speciei, tenentur restituere reipublice dampnum quod inde provenit ei, et si nesciatur que communitas sit dampnificata, dandum est pauperibus vel cultui ­divini pro bono communi. 〈 Nona regula  〉

32  Nona est quod omnis manifestus et notabilis excessus et defectus extra extremos limites iusti precii in contractibus empcionis et vendicionis vel locacionis aut ceterarum commutacionum factus est

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volle und freie Befugnis zu geben bzw. einen Vertrag abzuschließen, rauben – wie der Mangel des vollen Vernunftgebrauchs und der freien Entscheidung oder Unwissenheit oder Zwang oder irgendein Zornesausbruch oder eine [sonstige] plötzliche leidenschaftliche Erregung, die den freien und vollen Willen zu geben oder andere Verträge zu schließen aufhebt.

Achte Regel 31  Die achte ist: Jede widerrechtliche Aneignung oder ungebührliche Einziehung von neuen Abgaben oder Wegegeldern oder von Beiträgen oder von neuen Gerichtsbarkeiten oder von was auch immer – gegen gerechtes und bewährtes Recht oder die bewährten Gewohnheiten, die Rechtskraft haben – ist schlicht und einfach zurückzugeben. Als widerrechtlich aber gilt eine Aneignung nicht nur, wenn sie offensichtlich mit Gewalt veranlasst wurde, sondern auch durch irgendetwas, bei dem das Wesen der Gewalt verborgen ist, wie es häufig der Fall ist bei Bitten oder Klagen von Königen bei ihren Untertanen. Denn jeder, der am Gemeinwohl bzw. am Gemeinwesen Betrug verübt, muss den durch den Betrug entstandenen Schaden ersetzen, auch wenn er niemanden im Besonderen schädigt. Daher müssen diejenigen, die alle größeren Münzen einschmelzen und nur die kleineren derselben Art im Umlauf lassen, dem Gemeinwesen den Schaden ersetzen, der ihm daraus entsteht; und wenn man nicht weiß, welche Gemeinschaft geschädigt wurde, muss man für die Armen bzw. die Gottesverehrung geben, zum Nutzen der Allgemeinheit.

Neunte Regel 32 Die neunte ist: Jedes offenbare und merkliche Über- und Unter­schreiten, das über die äußersten Grenzen des gerechten Preises hinausgeht und das bei Verträgen über Kauf und Verkauf oder Miete oder sonstigen Austausch vorkommt, muss rückerstattet wer-

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restituendus, nisi sit factus ex expressa consciencia et voluntate fraudati. Notabilis autem secundum leges humanas est quando excedit medium iusti precii, communiter seu racionabiliter extimati. 〈 Secundus articulus, primo  〉

33  Quantum autem ad secundum principale, a quo scilicet sit restitucio facienda, sunt quinque ad presens notanda. Primum est generale et ex superius manifestum, scilicet quod ab omni qui secundum regulas superiores est debitor, nisi res sit reddita vel soluta ab eo ad quem devenerat, aut ab aliquo predictorum cooperatorum ad quem res non devenit. Huic autem secundo debent ceteri cooperatores proporcionaliter contribuere seu conreddere. 〈 Secundo  〉

34  Secundo specialiter videndum est, an is cui debetur possit de rebus debitoris restituere debitum sibi ipsi, saltem quando est dis­ pensator rerum debitoris vel quando aliqua res debitoris ad ipsum per aliam viam licite devenit. Dicunt autem quidam quod non, quia secundum iura, nullus debet esse iudex in propria causa et ideo debet sibi per alium adiudicari. Alii dicunt quod in duobus ultimis casibus hoc licite potest, aliter autem non, propter periculum scandali fraterni et proprie infamie qua posset credi fur, et eciam propter periculum proprium, quia si per testes probaretur, posset tamquam fur puniri.

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den, es sei denn, es geschah mit ausdrücklichem Bewusstsein und Willen des Betrogenen. Merklich aber heißt, nach menschlichen Gesetzen: Wenn es die Hälfte des gerechten Preises übersteigt, so wie er allgemein oder vernünftigerweise geschätzt wird.

Zweiter Hauptpunkt, erstens 33  Was aber den zweiten Hauptpunkt angeht, nämlich von wem die Rückerstattung zu tätigen ist, so sind zunächst fünf Bemerkungen zu machen. Die erste ist allgemein und aus dem oben Gesagten klar: nämlich von jedem, der nach den obigen Regeln Schuldner ist – es sei denn, die Sache ist von demjenigen, an den sie gekommen war, zurückgegeben bzw. bezahlt worden oder von einem der genannten Beteiligten, an den die Sache nicht gekommen ist.174 Diesem Letzteren aber müssen die übrigen Beteiligten ihren verhältnismäßigen Beitrag bzw. ihren Anteil an der Rückgabe leisten.

Zweitens 34  Zweitens muss man im Besonderen schauen, ob derjenige, dem geschuldet wird, sich das Geschuldete aus dem Besitz des Schuldners selbst erstatten kann, wenigstens wenn er der Vermögensverwalter des Schuldners ist oder wenn irgendeine Sache des Schuldners auf einem anderen Weg rechtens an ihn gekommen ist. Einige sagen aber, dass nein, denn nach den Rechtsnormen darf niemand Richter in eigener Sache sein,175 und daher muss ihm das Geschuldete durch einen anderen zugesprochen werden. Andere sagen, dass das in den beiden letzten Fällen mit Recht geschehen kann, sonst aber nicht: wegen der Gefahr, einem Bruder Ärgernis zu geben und der Gefahr eigener Schande, insofern man für einen Dieb gehalten werden könnte, und auch wegen der eigenen Gefahr, denn wenn er durch Zeugen überführt würde, könnte er wie ein Dieb ­bestraft werden.

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De restitucionibus

35  Est eciam illicitum propter preceptum iuris positivi, manans ab ordine divini iuris, ne scilicet liceat unicuique raptori vel furi dicere: ›ego non rapui sed solvi michi quod debebatur‹, et ne discordie nascerentur si preter ordinarium superiorum iudicium seipsum de rebus alterius unusquisque solvere posset. Et quia unusquisque in se solvendo de facili extimaret plus debito precium rei sibi debite, et iterum faciliter extimaret minus debito precium rei a se accepte de qua se solveret, ideo est a iure inhibitum. Ex quo tamen quis se sic solvisset, non tenetur ad restituendum nisi pro quanto plus debito accepisset. 36  Ad illud vero quod eciam contra duos casus ultimos affirmatur, videlicet quod nullus debet esse iudex in propria causa, dicendum quod hoc intelligitur respectu iudicii ordinarii et communis et ultra hoc in dubiis in quibus est merito requirenda sentencia superioris. Quando autem dispensator alicuius domini solvit sibi ipsi sicut et aliis debita que suus dominus debet sibi, non facit hoc ut iudex alicuius cause litigiose et in ordinario iudicio proposite, sed solum facit hoc tamquam rectus dispensator. Is vero ad quem res licite devenit facit hoc tamquam iustus detentor usquequo suum debitum sibi reddatur. 37  Si vero instes quod si dispensatori probabiliter constat dominum non sibi commisisse dispensacionem solucionis talis debiti, dicendum quod nisi expresse eam sibi interdixerit, potest ex communi iure presumere et sentire sibi esse commissam, ex quo certus est quod iure divino et humano res solvenda sibi debetur a domino suo.

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35  Es ist auch unerlaubt wegen einer Vorschrift des positiven Rechts, das aus der Ordnung des göttlichen Rechts entspringt, damit es nämlich nicht einem jeden Räuber oder Dieb erlaubt ist zu ­sagen: ›ich habe nicht geraubt, sondern mir nur selbst bezahlt, was mir geschuldet wurde‹, und damit nicht Streitigkeiten entstehen, wenn ein jeder am ordnungsgemäßen Urteil der Oberen vorbei sich selbst vom Besitz eines anderen zahlen könnte. Und weil ein jeder beim Bezahlen seiner selbst den Preis der ihm geschuldeten Sache leicht über Gebühr hoch einschätzen würde und wiederum den Preis der von ihm empfangenen Sache, mit der er sich bezahlen sollte, über Gebühr niedrig einschätzen würde, deshalb ist es vom Recht verboten. Wenn aber jemand sich trotzdem auf diese Weise bezahlt hätte, so ist er nur zur Rückgabe dessen verpflichtet, was er über das Geschuldete hinaus erhalten hätte. 36  Darauf aber, was auch gegen die beiden letzten Fälle behauptet wird, nämlich dass niemand Richter in eigener Sache sein darf, so ist zu sagen: Das versteht sich mit Hinblick auf das ordnungsgemäße und allgemeine Urteil und darüber hinaus in zweifelhaften Fällen, in denen mit Recht der Urteilsspruch eines Höherstehenden einzuholen ist. Wenn aber der Verwalter eines Herrn sich selbst wie auch anderen die Schulden zahlt, die sein Herr bei ihm hat, so tut er das nicht wie der Richter in einer Streitsache, die in einem ordnungsgemäßen Prozess verhandelt wird, sondern er tut es nur wie ein gerechter Verwalter. Derjenige aber, an den die Sache rechtens gekommen ist,176 tut das wie ein rechtmäßiger Besitzer, bis das ihm Geschuldete erstattet wird. 37  Wendest du aber ein: wenn der Verwalter mit Wahrscheinlichkeit weiß, dass der Herr ihm die Verwaltung einer solchen Schuld nicht aufgetragen hätte,177 so ist zu sagen: wenn er sie ihm nicht ausdrücklich verboten hat, kann er nach allgemeinem Recht annehmen und meinen, sie sei ihm aufgetragen, da er ja sicher ist, dass nach göttlichem und menschlichem Recht die zu zahlende S­ ache ihm von seinem Herrn geschuldet wird.

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De restitucionibus

〈 Tercio  〉

38  Tercio videndum est an male accepta vel quomodocumque per peccatum ablata debeant restitui a debitore, secundum iudicium sui prelati vel confessoris, et an si aliter restituerit, iterum si illi iudicaverint restituere teneatur. 39  Ad primum dicunt plures quod sic, et aliqui dicunt hoc de secundo. Quorum racio est quia talis forefactor tenetur ad duo, scilicet ad reddendum ablata et ad satisfaciendum de proprio peccato quod in male auferendo commisit. Principalis autem pars huiusmodi satisfactionis est quod stet in hoc superioris vel confessoris iudicio et mandato, et ideo si solum hoc faciat ex propria voluntate, nondum integre satisfecit. 40  Rursum quoad incerta dicunt quod, cum huiusmodi incerta sint pro animabus eorum quibus debentur danda, ac per consequens eo ipso sunt ad divinum cultum et ad sublevacionem pauperum ordinata. Solus autem ecclesiasticus prelatus sit rector et moderator divini cultus et pater pauperum ac dispensator rerum divino cultui communiter ordinatarum, ergo secundum eius iudicium sunt incerta debita restituenda. 41  Quibusdam vero videtur quod licet hoc sit congruum, quando de pia et provida dispensacione prelati presumitur aut est racionabiliter presumendum, non tamen est de precepto iuris divini, quamvis hodie ex communi consuetudine pape et episcoporum videatur esse iuris positivi preceptum sive statutum. Unde nullus communiter intromittit se de incertis absque commissione ipsorum. 42  Quod autem non sit absolute ex divino precepto probatur dupliciter. Primo sic quia nullum speciale dei preceptum super hoc reperitur. Quod enim Numeri, 5 dicitur quod si quis per negligenciam

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Drittens 38  Drittens muss man sehen, ob unredlich Erhaltenes oder irgend­ wie sündhaft Weggenommenes vom Schuldner nach dem ­Urteil seines kirchlichen Vorgesetzten oder Beichtvaters erstattet werden muss oder ob er, wenn er es auf andere Weise ersetzt hat, wiederum erstatten muss, wenn diese ihn dazu verurteilen. 39  Zum Ersten sagen mehrere, dass ja, und einige sagen das zum Zweiten. Ihre Begründung ist: Ein solcher Übeltäter muss zweierlei, nämlich das Weggenommene zurückgeben und Genugtuung leisten für sein Vergehen, das er beim unstatthaften Wegnehmen begangen hat. Diese Genugtuung aber besteht hauptsächlich darin, dass er sich hierbei dem Urteil und Gebot des Oberen bzw. des Beichtvaters fügt. Daher hat er keine vollständige Genugtuung geleistet, wenn er das nur aus eigenem Willen tut. 40  Was wiederum unklare Rückgabeverpflichtungen angeht, so sagen sie: Da dergleichen für das Seelenheil derjenigen, denen geschuldet wird, zu geben ist, ist es folglich eo ipso für die Gottesverehrung und die Linderung der Armut bestimmt. Es ist aber nur der kirchliche Vorgesetzte der Leiter und Lenker der Gottesverehrung und der Vater der Armen und der Verwalter der üblicherweise für den Gottesdienst bestimmten Dinge: also sind unklare Schulden nach seinem Urteil zu erstatten.178 41  Einigen aber scheint es, obwohl das plausibel ist, wenn man von der frommen und umsichtigen Verwaltung des kirchlichen Vorgesetzten ausgeht (oder vernünftigerweise davon ausgehen muss), dass das trotzdem nicht zu den Vorschriften göttlichen Rechts gehört, obwohl es heute nach allgemeiner Gewohnheit des Papstes und der Bischöfe eine Vorschrift bzw. ein Statut des positiven Rechts zu sein scheint. Daher mischt sich normalerweise niemand in unklare Schuldverhältnisse ein, ohne von diesen dazu beauftragt zu sein.179 42  Dass es aber nicht unbedingt zu den Vorschriften göttlichen Rechts gehört, wird auf zweifache Art bewiesen. Erstens, weil keine besondere göttliche Vorschrift hierüber zu finden ist. Was nämlich in Numeri, Kap.  5, steht – wenn jemand aus Nachlässigkeit oder Un-

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De restitucionibus

seu ignoranciam alienum acceperit, reddet ipsum caput et ultra hoc quintam partem ei in quem peccavit. Si autem non fuerit qui reci­ piat, dabit domino et erit sacerdotis, non est validum ad probandum hoc idem debere in novo testamento servari, tum quia lex illa erat cerimonialis, ac per consequens et in nova lege evacuata; tum quia hodie in foro consciencie nullus cogitur ultra hoc reddere quintam partem; tum quia ibidem subditur quod preter predicta offerat arietem pro peccato, ad quod nullus hodie tenetur; tum quia secundum illam legem possent sacerdotes nostri omnia incerta propriis usibus applicare quia ibi dicitur quod sint sacerdotis; tum quia secundum illam legem non plus spectarent ad episcopum quam ad quemlibet simplicem sacerdotem; tum quia rex vel aliqua communitas posset de communi consensu populi statuere quod omnia huiusmodi incerta essent regis vel communitatis, quod utique non possent, si iure divini precepti essent sacerdotis. 43  Secundo probatur quia licet prelati sint dispensatores r­ erum ecclesiasticarum ecclesie iam datarum, non propter hoc sequitur quod sint dispensatores omnium que secundum deum sunt in divi­num cultum vel in pauperes eroganda sed* solum pro tanto in divinum cultum ordinata. Secundum hoc enim essent dispensatores omnium illorum superfluorum que divites ex divino precepto pauperibus dare tenentur, et iterum omnium que quis apud se vovit pauperi­bus erogare, quod nullus concedit. 44  Quicquid autem sit de hoc, credo quod si forefactor iam de facto restituit certa certis et incerta divino cultui dedit prout expediencius erat animabus eorum quibus debebantur, non tenetur ite-

*  Lesart von Codex O (statt »et«). Vgl. Piron, S.  278, Anm. zu Nr.  43, Z.  22.

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wissenheit fremdes Gut erhalten hat, »soll er das, was er schuldet, voll ersetzen und dem, an dem er schuldig geworden ist, noch ein Fünftel dazu geben. Wenn aber niemand da ist, der es in Empfang nehmen könnte, so soll er es dem Herrn geben, und es soll dem Priester gehören«180 –, so gilt das nicht, um zu beweisen, dass eben dasselbe auch im Neuen Testament zu beachten ist. Zum einen, weil es eine Kultvorschrift181 war und folglich im Neuen Gesetz seine Gültigkeit verloren hat. Zum anderen, weil heute vor dem Forum des Gewissens niemand gezwungen wird, darüber hinaus noch ein Fünftel zu geben. Außerdem, weil es an derselben Stelle weiter heißt, dass er außer dem Genannten einen Widder für seine Sünde opfern soll, wozu heute niemand verpflichtet ist.182 Weiter, weil nach diesem Gesetz alle unsere Priester alle zweifelhaften Schulden für ihren eigenen Nutzen einsetzen könnten, weil es dort heißt, sie sollen »dem Priester gehören«. Ebenso, weil sie nach diesem Gesetz nicht mehr dem Bischof als jedem beliebigen einfachen Priester zuständen. Schließlich, weil der König oder irgendeine Gemeinschaft durch allgemeine Zustimmung des Volkes beschließen könnte, dass alles derlei Zweifelhafte dem König bzw. der Gemeinschaft gehören soll, was sie durchaus nicht könnten, wenn es kraft göttlicher Vorschrift dem Priester gehörte. 43  Es wird zweitens bewiesen: Obwohl die kirchlichen Vorgesetzten Verwalter bereits vorhandenen kirchlichen Vermögens sind, folgt daraus nicht, dass sie Verwalter all dessen sind, was Gott zufolge für den Gottesdienst oder für die Armen auszugeben ist, sondern nur insoweit es für den Gottesdienst bestimmt ist.183 Sonst wären sie nämlich Verwalter all des Überflüssigen, was die Reichen nach göttlicher Vorschrift den Armen geben müssen, und wiederum all dessen, was einer sich fest vorgenommen hat, für die Armen auszugeben – keiner räumt das ein. 44  Wie immer es damit auch bestellt sein mag – ich glaube: Wenn der Übeltäter in der Tat schon die unzweifelhaften Schulden den unzweifelhaften Gläubigern erstattet und die zweifelhaften für die Gottesverehrung gegeben hat, so wie es für die Seelen derjenigen, denen diese Schulden zustanden, am nützlichsten war, so ist er nicht gehal-

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De restitucionibus

rum restituere illa, nec potest ad hoc cogi per confessorem vel alium superiorem, nisi quatenus potest ab eis sibi imponi condigna penitencia pro suo peccato, que preter quod premissum est, non debet hic esse plus pecuniaria quam in ceteris peccatis, scilicet avaricie vel homicidii aut consimilium. Potest eciam prelatus sic cogere restituentem, ut certificet eum de debita restitucione certorum et incertorum per eum facta, si forefacta eius erant publice nota. Alias in foro sacramentalis confessionis seu consciencie potest confitenti credere, pro se et contra se. 45  Et quidam econtra dicunt quod restitutor debet, aut saltim pot­est, sibi et ei pro cuius salute restitucionem facere tenetur, cavere quod confessor vel prelatus nequeat restituenda sibi vel alteri retinere, nisi solum prout magis expedit saluti illorum pro quibus sunt danda. Et ideo, ut dicunt, potest eciam illis invitis sic facere, quod ipse sit presens quando tam per eum quam per superiorem in simul dabuntur pauperibus pro animabus illorum pro quibus dari debent. 46  Predicta autem non intelligo de habentibus solum ministerium questorum vel nunciorum seu portitorum elimosinarum que dantur infirmis et pauperibus hospitalis sancti Antonii vel alicuius alterius. Si enim racionabiliter presumatur quod isti elemosinas non redderent pauperibus quibus sunt date, tucius est quod elemosine per furtum vel per aliam viam prefatis pauperibus sublate et debite, per alios fideles nuncios reddantur, quia primi questores seu portitores non sunt sic generales et potestativi dispensatores elemosinarum illarum sicut sunt rectores ecclesie super res ecclesiasticas,

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ten, das ein zweites Mal zu erstatten – und er kann dazu auch nicht durch den Beichtvater oder einen anderen Oberen dazu gezwungen werden, es sei denn, insofern ihm von ihnen eine angemessene Buße für sein Vergehen auferlegt werden kann. Diese darf, abgesehen von dem, was vorausgeschickt wurde, hier nicht geldförmiger sein als bei anderen Sünden, wie z. B. Habgier, Mord oder ähnliche. Der kirchliche Vorgesetzte kann aber dann den Betreffenden zwingen, ihm eine Bescheinigung über die von ihm getätigte geschuldete Rück­erstattung der unzweifelhaften und der zweifelhaften Schulden vorzulegen, wenn dessen Übeltaten öffentlich bekannt waren. Ansonsten kann er dem, der im Forum der sakramentalen Beichte oder seines Gewissens ein Bekenntnis ablegt, Glauben schenken, sowohl zu seiner Ent- wie zu seiner Belastung. 45 Allerdings halten einige dagegen: Der Rückerstatter muss, oder kann wenigstens, für sich und für den, zu dessen Gunsten er die Rückerstattung leisten muss, sicherstellen, dass der Beichtvater oder Prälat nicht das, was rückerstattet werden muss, für sich oder einen anderen zurückhält (außer lediglich insoweit es dem Heil derer, für die es gegeben werden muss, förderlicher ist). Und daher, wie sie sagen, kann er es auch gegen deren Willen so machen, dass er selber anwesend ist, wenn sowohl durch ihn wie durch einen Oberen gleichzeitig den Armen gegeben wird für die Seelen derjenigen, für die gegeben werden muss. 46  Das Gesagte beziehe ich aber nicht auf diejenigen, die nur den Dienst der Almosensammler versehen oder der Boten oder Überbringer der Almosen, die den Kranken und Armen des St. Antonius-Hospitals oder irgendeines anderen gegeben werden. Denn wenn begründeterweise anzunehmen ist, dass diese die Almosen nicht den Armen brächten, denen sie gegeben wurden, dann ist es sicherer, dass die Almosen, die durch Diebstahl oder auf anderem Wege den besagten Armen weggenommen wurden – und die ihnen [doch] zustehen –, durch andere zuverlässige Boten zugestellt werden; denn die ersten Almosensammler oder Überbringer sind keine so allgemeinen und mächtigen Verwalter dieser Almosen, wie es die Leiter der Kirche mit Bezug auf die kirchlichen Güter sind oder wie

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vel sicut abbas super res monasticas. Standum est enim prefixe intencioni dancium elemosinas illas. Standum est eciam expresse voci questorum qui non querunt illa dari sibi sed infirmis et pauperibus talis hospitalis, quamvis pro quanto in hoc fideliter pro pauperibus laborant possint inde sumere necessarium victum suum, non tamen ultra mensuram sui laboris aut intentionem* dancium. 〈 Quarto  〉

47  Quarto videndum an corratorii aut notarii usurarum aut quilibet eorum teneantur restituere illas usuras, si principales usurarii non restituunt illas. Et dicendum quod illi corratorii qui solum stant et agunt pro eo qui vult recipere mutuum ab usurario non tenentur. Qui vero stant pro parte et lucro usurarii tenentur, si tamen sic sunt cooperati ad hoc quod absque eorum cooperacione illa usuraria prestacio non esset facta. Inter precipuos autem cooperatores censendi sunt principes qui in favorem usurariorum cogunt reddi usuras, aut ex quorum indebito favore potencius usuras exercent. Notarii vero qui scienter faciunt cartas de debito usurarum ac si sit debitum legitimum et absque usura, tenentur reddere usuram acceptam, quia eorum instrumentum est efficaciter cooperatum ad hoc ut usurario solvatur usura. Si vero in nota seu instrumento facta est expressa mencio de usura, tunc non tenentur, quia tunc non cooperantur, nisi ubi esset consuetudo per talia instrumenta cogere debitores ad solvendas usuras usurariis.

*  Lesart der Codices ABC (statt »intencionis«). Vgl. Piron, S.  282, Anm. zu Nr.  46, Z.  11.

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der Abt mit Bezug auf die klösterlichen Güter. Man muss sich nämlich an die vorher festgelegte Absicht derer halten, die diese Almosen geben. Halten muss man sich auch an die ausdrückliche Rede der Almosensammler, die nicht betteln, damit ihnen etwas gegeben wird, sondern den Kranken und Armen dieses Hospitals – obwohl sie, insoweit sie getreu für die Armen arbeiten, davon das für ihren Lebensunterhalt Nötige nehmen können, freilich nicht über das Maß ihrer Arbeit oder die Absicht der Gebenden hinaus.

Viertens 47  Viertens muss man sehen, ob die Makler oder die Notare von Wuchergeschäften (oder wer auch immer von ihnen) diese Wucherzinsen erstatten müssen, wenn die hauptsächlichen Wucherer keine Rückerstattung leisten. Und man muss sagen, dass diejenigen Makler, die nur in Erscheinung treten und handeln für denjenigen, der von einem Wucherer ein Darlehen erhalten möchte, dazu nicht verpflichtet sind. Diejenigen aber, die auf der Seite des Wucherers und seines Gewinns stehen, sind dazu verpflichtet – freilich nur, wenn sie so dazu beigetragen haben, dass ohne ihre Mitarbeit das wucherische Darlehen nicht zustande gekommen wäre. Zu den hauptsächlichen Beteiligten sind aber die Fürsten zu zählen, die zugunsten der Wucherer dazu nötigen, dass Zinsen gezahlt werden, oder mit deren ungebührlicher Begünstigung sie ihre Wuchergeschäfte mit noch mehr Macht ausüben. Die Notare aber, die wissentlich Schriftstücke ausstellen über die Zinsschuld, als ob es eine rechtmäßige Schuld und frei von Wucher wäre, müssen die erhaltenen Zinsen zurückzahlen, denn ihre Urkunde war wirksam daran beteiligt, dass dem Wucherer Zinsen bezahlt wurden. Wurden aber in der Aufzeichnung bzw. der Urkunde die Zinsen ausdrücklich erwähnt, dann sind sie dazu nicht verpflichtet, weil sie dann nicht beteiligt sind – es sei denn, es besteht dort die Gewohnheit, durch solche Urkunden die Schuldner dazu zu zwingen, den Wucherern die Zinsen zu zahlen.

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48  Item ministri usurariorum qui absque omni inductione tradunt eorum pecuniam ad usuram, nec postmodum coactive exigunt eam, non tenentur secundum quosdam restituere nisi solum illa que sibi ipsis de usuris retinuissent. Illi vero qui per iudicia vel litigia coactiva eas exigunt, tenentur, quia isti efficaciter cooperantur, primi vero sunt solum quasi vasa intermedia, ita quod absque istis iste usure fierent et darentur. 49  Quidam tamen distinguunt hic de ministris, quia quidam sunt ad utilitatem officii usurarii destinati, ita quod apud eos residet quasi principalis auctoritas domini sui et istos debent teneri. Quidam vero sunt ad solam actualem et manualem tradicionem mancipati, ita quod ipsi non taxant precium usurarum, nec cum eis contrahitur pactum de usura, quamvis ipsis presentibus et pecuniam tradentibus fiat. Et tales non tenentur propter causam predictam, licet mortaliter peccent. 〈 Quinto  〉

50  Quinto sciendum quod uxor et familia usurarii nichil habentis nisi de usuris, tenentur restituere quicquid inde pro suo victu vel stipendio vel quocumque aliter acceperunt. Si tamen aliqua habet que non sunt empta vel habita de usuris, tunc si dos uxoris fuit ibi prius quam usure, potest et debet inde solvi, eciam dato quod vir eius non habeat sufficenciam ad solvendum usuras. Familia tamen non debet inde vivere vel solvi, nisi dominus habeat aliquid ultra sufficenciam ad solvendum usuras, nisi sicut dictum est de uxore

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48  Ebenso sind, nach Meinung einiger, die Diener der Wucherer, die ohne jede [diesbezügliche] Neigung deren Geld zu einem Wuchergeschäft bringen und es nachher auch nicht mit Zwang eintreiben, nicht zur Rückerstattung verpflichtet – bis auf das, was sie ggf. für sich selbst von den Zinsen zurückbehalten. Diejenigen aber, die sie durch Prozesse eintreiben oder durch Streitereien, mit denen sie Druck ausüben, sind dazu verpflichtet, weil sie wirksam daran beteiligt sind. Die Ersteren aber sind sozusagen nur Zwischengefäße, so, dass auch ohne sie diese Wucherzinsen vereinbart und gezahlt würden. 49  Einige aber machen hier einen Unterschied bei den Dienern, denn manche sind für den Dienst des Wuchergeschäfts abgestellt, so dass bei ihnen beinah die hauptsächliche Macht ihres Herrn liegt: und diese müssen verantwortlich gemacht werden. Manche aber sind nur für die aktuelle und manuelle Übergabe [des Geldes] angestellt, so dass diese den Zinssatz nicht festlegen. Auch wird der Wuchervertrag nicht mit ihnen abgeschlossen, obwohl es in ihrer Gegenwart (sie sind ja die Überbringer des Geldes) geschieht. Und diese werden aus besagtem Grund nicht zur Verantwortung gezogen, obwohl sie eine Todsünde begehen.184

Fünftens 50  Fünftens muss man wissen, dass die Ehefrau und das Gesinde des Wucherers, der ja nichts hat, was nicht vom Wucher ist, alles das rückerstatten müssen, was sie davon für ihren Lebensunterhalt oder als Lohn oder wofür auch immer bekommen haben. Hat er aber etwas, was nicht durch Wucher gekauft bzw. in seinen Besitz gekommen ist, so kann und muss, wenn die Mitgift der Ehefrau früher da war als die Wucherzinsen, sie daraus bezahlt werden, auch wenn ihr Mann nicht genug hat, um die Wucherzinsen (zurückzu)zahlen. Das Gesinde aber soll gleichwohl nicht davon leben oder bezahlt werden, es sei denn, der Hausherr hat mehr, als er braucht, um die Wucher­ zinsen (zurückzu)zahlen – wenn er nicht, wie von der Ehefrau des

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domini, prius suo famulo debuisset, quam recepisset tot usuras quas solvere impotens esset. 51  Et idem debet intelligi de principibus qui ab usurariis accipiunt collectas vel munera. Quando tamen accipiunt ab eis precium certum, quia favorabiliter eos permittunt facere usuras in terra sua, tunc semper debent illud aut reddere defraudatis si usurarius non sit potens solvendum*, aut dare pauperibus. 〈 Sexto  〉

52  Sexto sciendum quod si quis accipit filiam raptoris vel usurarii in uxorem qui nichil habeat nisi reddendum, tunc secundum quosdam dotem quam inde cum filia accipit non tenetur reddere, si non crassa sed probabili ignorancia est ductus, quia scilicet credebat socerum non esse usurarium, aut preter illam dotem habere sufficiencia ad solvendum. 53  Tu vero dic quod ex quo scit quod dos accepta erat necessaria ad solvendum et iam alia debita reddi, non potest talem dotem bona consciencia retinere, si certi sunt hii quibus primitus debebatur, quia de rebus aliorum nullatenus secundum deum potuit illa dotari. Si tamen uxor eius non pateretur eam reddi, tunc forte sufficit illi, quod ipse non participet de bonis illis.

*  Lesart des Codex O (statt »solvendo« oder »in solvendo«). Vgl. Piron, S.  286, Anm. zu Nr.  51, Z.  9.

Über Rückerstattungen

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Hausherrn gesagt wurde, schon bei seinem Diener Schulden hatte, bevor er so viele Wucherzinsen einnahm, dass er sie nicht mehr zurückzahlen konnte. 51  Und dasselbe muss für die Fürsten gelten, die von den Wucherern Beiträge oder Geschenke annehmen. Wenn sie freilich einen festen Preis von ihnen nehmen, weil sie ihnen gnädigerweise erlauben, in ihrem Land Wucher zu treiben, so müssen sie das immer entweder den Betrogenen rückerstatten, wenn der Wucherer zahlungsunfähig ist, oder den Armen geben.

Sechstens 52  Sechstens muss man wissen: Wenn jemand die Tochter ­eines Räubers oder eines Wucherers zur Frau nimmt, der nichts hat, was er nicht zurückgeben müsste, dann ist er, einigen zufolge, nicht verpflichtet, die Mitgift, die er deshalb zusammen mit der Tochter bekommt, zurückzugeben, wenn er sich nicht von krasser, sondern von glaubhafter Unwissenheit hat leiten lassen – weil er nämlich glaubte, der Schwiegervater sei kein Wucherer oder er habe außer der Mitgift noch genug, um [Wucherzinsen] (zurückzu)zahlen.185 53  Du aber sag: Auf Grund der Tatsache, dass er weiß, die erhaltene Mitgift wäre für die Zahlung einer Schuld notwendig gewesen, und um bereits aufgelaufene andere Schulden zu zahlen – so kann er diese Mitgift nicht guten Gewissens behalten, wenn feststeht, wem zuerst geschuldet wurde. Denn nach göttlichem Recht konnte die Braut keinesfalls aus fremdem Vermögen mit einer Mitgift ausgestattet werden. Sollte freilich seine Gattin nicht zulassen, dass die Mitgift zurückgegeben wird, so reicht es vielleicht für ihn, dass er sich an diesem Vermögen nicht beteiligt.186

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De restitucionibus

〈 Tertius articulus, primo  〉

54  Quantum ad tercium principale, scilicet cui sit facienda restitucio, sciendum primo quod domino vel principali dispensatori a quo res fuit habita vel sublata aut legitimis heredibus domini seu successoribus primi dispensatoris, et si plures sunt heredes, unicuique secundum proporcionem sue hereditarie porcionis. Si tamen dominus non habet sensum et auctoritatem dispensandi res suas, tunc reddi debet eius tutori vel curatori aut cuicumque cuius in hoc casu intersit gerere curam eius. Si eciam iusto bello vel iusto edicto imperiali seu ecclesiastico, ille cui res est sublata privaretur iure rehabendi simpliciter vel ad tempus, tunc posset diferri solucio simpliciter vel ad tempus. 55  Si vero queras quid fiet quando episcopo iam defuncto cui et cuius tempore res sue ministracionis fuit sublata, vel ab ipso commodata, dic quod si fecit legitimum testamentum de omnibus mobilibus sue administracionis commissis, tunc reddi debet executoribus sui testamenti, vel legatariis suis si prioris execucio iam cessavit. Aut si hoc in suo testamento vel legato non continetur, reddendum est successori, quia dispensacio omnium a priori non dispensatorum spectat ad successorem ipsius. Immobilia vero secundum ius canonicum reddenda sunt successori.

Über Rückerstattungen

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Dritter Hauptpunkt, erstens 54  Was den dritten Hauptpunkt betrifft, nämlich: wem ist die Rückerstattung zu leisten – so muss man zuerst wissen: dem Eigentümer bzw. dem Hauptverwalter, von dem man die Sache bekommen hat bzw. dem sie entwendet wurde, oder den rechtmäßigen Erben des Eigentümers bzw. den Nachfolgern des ersten Verwalters; und wenn es mehrere Erben sind, einem jeden einzelnen nach Maßgabe seines Erbanteils. Wenn allerdings der Eigentümer nicht das Urteilsvermögen und die Kompetenz hat, um sein Vermögen zu verwalten, dann ist die Rückerstattung an seinen Vormund oder seinen Kurator zu leisten oder wem auch immer, dem es in diesem Fall obliegt, für ihn Sorge zu tragen. Auch wenn durch einen gerechten Krieg oder ein gerechtes kaiserliches oder kirchliches Edikt derjenige, dem eine Sache weggenommen wurde (schlichtweg oder auf Zeit), des Rechts, die Sache zurückzubekommen, beraubt würde, so könnte die Rückgabe schlichtweg oder auf Zeit verschoben werden. 55  Fragst du aber, was geschehen soll, wenn ein Bischof schon verstorben ist, dem zu seiner Zeit ein Gegenstand seiner Verwaltung weggenommen oder der von ihm selbst verliehen wurde, so sag: Wenn er ein rechtmäßiges Testament über alle bewegliche Habe, die seiner Verwaltung anvertraut war, gemacht hat, dann muss die Rückgabe an seine Testamentsvollstrecker erfolgen bzw. an seine Vermächtnisnehmer, wenn die Vollstreckung des Ersteren schon aufgehört hat. Oder wenn das in seinem Testament oder Vermächtnis nicht enthalten ist, muss die Rückgabe an seinen Nachfolger gehen, denn die Verwaltung all dessen, worüber vom Vorgänger nicht verfügt wurde, steht seinem Nachfolger zu. Unbewegliche Habe aber muss, nach kirchlichem Recht, dem Nachfolger zurückgegeben ­werden.187

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De restitucionibus

〈 Secundo  〉

56  Secundo sciendum quod si res fuit habita ab usurario de quo constat quod quicquid habet est de usuris, et quod totum est necessarium ad solvendum, reddi debet eidem, nisi per superiores iudices res eius essent restitucioni sentencialiter iudicate. Et idem est de quocumque qui secundum iura humana racionabiliter edita titulum dominii habet in rebus, quamvis tantum vel amplius debeat inde aliis. Secus vero est in fure vel in raptore et consimilibus, qui nullo iure titulum veri dominii consequuntur in rebus. 57 Quidam tamen de rebus usurarii distinguunt quod si res ­habita per usuram extat adhuc eadem specie et numero apud eum cui ab usurario est tradita, quod tunc non debet eam reddere usurario sed ei cuius fuit si novit illum. Si vero est alia numero debet usurario reddi. Prime tamen sentencie magis adhereo, quia eciam si ille a quo usurarius rem habuit per usuram eam sibi sola auctoritate propria reacciperet, puniretur hodie tamquam fur vel raptor. Si tamen contrarium ius vel contraria consuetudo esset in regione vel regno, tunc non esset prefato usurario reddenda, sed illi a quo habuit eam, si sciretur aut sciri posset. 〈 Tercio  〉

58 Tercio sciendum quod ceteris paribus, priora debita sunt primo solvenda hiis quibus primo debentur, cuius racio patet ex primitate obligacionis et debiti. Posteriora vero debita preferuntur

Über Rückerstattungen

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Zweitens 56  Zweitens muss man wissen: Wenn man eine Sache von einem Wucherer erhalten hat, von dem bekannt ist, dass alles, was er hat, vom Wucher stammt und dass alles notwendig ist, um Rückerstattung zu leisten, so muss sie ihm zurückgegeben werden – es sei denn, seine Sachen seien von einem höheren Gericht per Beschluss der Rückerstattung zugesprochen.188 Und ebenso ist es bei einem jeden, der nach vernünftig erlassenen menschlichen Rechtsnormen einen richtigen Eigentumstitel an den Sachen hat, obwohl er daraus so viel oder noch mehr anderen schuldet. Anders aber ist es beim Dieb oder dem Räuber und dergleichen, die mit keinerlei Recht den Titel eines wahren Eigentums an den Sachen erlangen. 57  Einige aber unterscheiden bei den Sachen des Wucherers, ob die durch Wucher erhaltene Sache noch in derselben Art und Zahl bei demjenigen existiert, dem sie vom Wucherer übergeben wurde: denn dann muss er sie nicht dem Wucherer zurückgeben, sondern dem, dem sie gehörte (wenn er ihn kennt). Ist sie aber der Zahl nach eine andere, muss sie dem Wucherer zurückgegeben werden. Allerdings halte ich es mehr mit der ersten Meinung: denn auch wenn derjenige, von dem der Wucherer die Sache durch Wucher erhalten hat, sie ganz eigenmächtig wieder in seinen Besitz brächte, so würde er heutzutage als Dieb oder Räuber bestraft. Sollte aber in dem Gebiet oder dem Reich ein entgegengesetztes Recht oder eine entgegengesetzte Gewohnheit herrschen, dann wäre [die Sache] nicht dem besagten Wucherer zurückzugeben, sondern dem, von dem er sie erhalten hat, wenn man von ihm Kunde hat oder haben könnte.

Drittens 58  Drittens muss man wissen, dass bei sonst gleichen Umständen die früheren Schulden zuerst denen zu zahlen sind, denen sie zuerst geschuldet werden. Der Grund hierfür ist offensichtlich aus dem Vorrang der Verpflichtung und der Schuld.189 Denn die späteren

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De restitucionibus

in solvendo, aut propter pignus a creditore habitum, aut propter probabiliorem necessitatem et pietatem alterius eorum quibus debentur, aut propter actionem privilegiatam sicut fiscus et uxor in dote preferuntur ceteris privilegium non habentibus; quod eciam debetur racione tutele vel depositi, prius est solvendum quam illud quod debetur ex aliis actionibus non privilegiatis. Ubi autem sunt paria privilegia personarum aut actionum in simul et equaliter est eis satisfaciendum, nisi de aliquo illorum probetur quod sit alteri preferendus secundum legem pacti vel scripti vel usus approbati. 〈 Quartus articulus  〉

59  Quantum autem ad quartum principale, scilicet quo tempore, loco et modo sit restituendum. 〈 De tempore restitucionis  〉

60 Sciendum primo quoad tempus quod debita ex maleficio, utpote ex rapina et furto, sunt mox et semper pro posse solvenda, nisi ab eo cui debentur non coacta sed spontanea dilacio habeatur. In reliquis vero solvendis, attendende sunt circumstancie contractuum vel pactorum aut interveniencium iuramentorum certum tempus prefigencium. In hiis autem, non sic tenetur debitor usque ad extremam neccessitatem se mox omnibus spoliare, vendendo valencia centum pro decem sicut in primis, quia non est presumendum

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Schulden werden beim Bezahlen vorgezogen – entweder, weil der Gläubiger ein Pfand hat, oder wegen der glaubwürdigeren Bedürftigkeit und dem Mitgefühl mit einem von denen, denen geschuldet wird, oder wegen eines privilegierten Anspruchs, wie der Fiskus und die Ehefrau bei der Mitgift den übrigen, die kein Privileg haben, vorgezogen werden. Auch was auf Grund einer Vormundschaft oder eines Depositums geschuldet wird, ist früher zu zahlen als das, was aus anderen, nicht privilegierten Ansprüchen geschuldet wird. Wo aber gleiche Privilegien von Personen oder Ansprüchen vorliegen, ist ihnen gleichzeitig und in gleichem Maße Genüge zu leisten – es sei denn, bei einem von ihnen wird bewiesen, dass er den anderen vorzuziehen ist auf Grund der vertraglichen Regelung, sei diese nun schriftlich abgefasst oder in der Praxis bewährt.

Vierter Hauptpunkt 59  Was aber den vierten Hauptpunkt angeht, nämlich zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Art und Weise die Rückerstattung zu erfolgen hat?

1. Der Zeitpunkt der Rückerstattung 60  Erstens, was den Zeitpunkt betrifft, muss man wissen: was auf Grund einer Übeltat, wie z. B. Raub und Diebstahl, geschuldet wird, ist sofort und immer, soweit möglich, zu zahlen190 – es sei denn, der, dem geschuldet wird, gewährt freiwillig (nicht gezwungen) ­einen Aufschub. Bei den übrigen Fällen muss man die Umstände der Verträge bzw. Abmachungen oder der inzwischen gegebenen Versprechungen, die eine bestimmte Zeit festlegen, beachten. In diesen Fällen aber muss sich der Schuldner nicht bis zur äußersten Armut sofort aller Dinge entledigen, indem er, wie bei den vorigen [Schuldverhältnissen auf Grund einer Übeltat] etwas, was 100 wert ist, für zehn verkauft. Denn es ist nicht anzunehmen, dass ein wohlwollen-

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De restitucionibus

quod iuris et equitatis benignitas interpretari velit impie aut nimis dure contractus mutui vel empcionis aut consimilium que pro utilitate mutuum recipientis aut pro utriusque contrahentis communi commoditate sunt excogitata. In hiis tamen preferenda est par necessitas vel dampnificacio creditoris, pari vel minori necessitati seu dampnificacioni debitoris. Hoc enim dictat et exigit racio beneficii et gratitudinis, que beneficio et benefactori debetur. Dictat eciam hoc equitas qua iustum est ex suis et sibi debitis dominum prius et pocius sustentari quam alium ex eisdem. 61  Rursus sciendum quod omnimoda impossibilitas reddendi excusat simpliciter si habeatur plenum et firmum propositum de reddendo si posset et statim cum posset. Et consimiliter impossibilitas excusat ad tempus. 62  Ulterius sciendum quod quandocumque res temporalis non potest restitui absque evidenti periculo dampni incomparabiliter prevalentis rei debite, ut est periculum mortis aut scandali aut mortalis peccati aut gravissime infamie, tunc perinde est ac si debitor esset impossibilis ad restituendum. Et ideo si aliquis ex falsa accusacione vel testificacione fecit aliquem perdere agrum vel mille marcas et non habet bona unde restituat, nec potest per contrariam testificacionem illi reddere sua, quin subeat apertum periculum mortis aut quin inde grave scandalum paucorum vel plurium consequatur, non peccat mortaliter hoc non faciendo, solum plene doleat de commisso, et eciam de hoc quod non habet facultatem ydoneam ad reddendum. 63  Et idem est de eo qui non potest restituere omnia sine notabili periculo prostitucionis filiarum suarum aut latrocinative evagacio-

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des Verständnis von Recht und Billigkeit die Darlehens- oder Kaufoder ähnliche Verträge, die zum Nutzen des Darlehensempfängers oder zum gemeinschaftlichen Vorteil beider Vertragschließenden erdacht wurden, rücksichtslos oder mit maßloser Härte interpretieren möchte. In diesen Fällen ist jedoch eine gleiche Notlage bzw. Schädigung des Gläubigers einer gleichen oder geringeren Not bzw. Schädigung des Schuldners vorzuziehen. Das aber fordert und gebietet im Grunde die Wohltat und die Dankbarkeit, die der Wohltat und dem Wohltäter geschuldet wird. Das fordert auch die Billigkeit, auf Grund deren es gerecht ist, dass das, was einem gehört und geschuldet wird, zuerst und bevorzugt dem Unterhalt des Eigentümers dient, als dem eines anderen.191 61  Außerdem muss man wissen, dass jede Art von Unmöglichkeit der Erstattung schlechthin entschuldigt, wenn der volle und feste Vorsatz besteht, die Erstattung zu leisten, wenn und sobald es möglich ist.192 Und entsprechend entschuldigt die Unmöglichkeit auch in Betreff des Zeitpunkts. 62  Weiterhin muss man wissen: Immer dann, wenn ein zeitliches Gut nicht rückerstattet werden kann ohne die evidente Gefahr ­eines Verlusts, der unvergleichlich schwerer wiegt als die geschuldete Sache, wie z. B. die Gefahr des Todes oder des Ärgernisses oder e­ iner Todsünde oder einer überaus gravierenden Schande, dann ist es gerade so, wie wenn dem Schuldner die Rückerstattung unmöglich wäre. Und wenn daher jemand wegen einer falschen Anschuldigung oder einer falschen Zeugenaussage einen anderen seinen Acker oder 1000 Mark verlieren lässt und keine Güter hat, um Ersatz zu leisten, und auch nicht durch eine gegenteilige Zeugenaussage diesem das Seine wieder verschaffen kann, ohne dass er sich offensichtlich in Todesgefahr begibt oder ohne dass daraus ein schweres Ärgernis für wenige oder für mehrere folgt: so begeht er, wenn er das nicht tut, keine Todsünde. Er soll nur über das Begangene von tiefer Trauer erfüllt sein und auch darüber, dass er keine geeignete Möglichkeit der Rückerstattung hat.193 63  Und ebenso ist es bei demjenigen, der nicht alles abbezahlen kann ohne die merkliche Gefahr, dass seine Töchter Prostituierte

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De restitucionibus

nis filiorum, pensatis diligencius omnibus circumstanciis morigeracionis eorum. Tunc enim, iudicio et moderamine viri sapientis, potest aliquid cum dolore animi retineri. 〈 De filio adulterino  〉

64  Idem est eciam de uxore cuius adulterinus filius de bonis mariti nutritur et hereditatur, cui nequaquam consuli debet quod revelet hoc viro suo, ymo pocius inhiberi, cuius racio est quadruplex. 65  Prima est ex periculo scandali viri et amicorum eius quibus revelaretur. Nam non solum ex hoc apud se turbarentur, sed eciam vix ex tunc possent cum ipsa pacem et amiciciam et concordem societatem habere. Secunda est ex sui ipsius diffamacione. Nam uxor prius bone fame existens, suam bonam famam sibi per hoc auferret et se ipsam pessime diffamaret. Tercia est ex periculo mortis uxoris et sue spurie prolis. Nam probabiliter posset timere quod occideretur a viro vel ab aliquo eius propinquo sive amico et idem periculum esset de adultero suo. Quarta est quia nec vir nec filius nec iudex publicus teneretur mulieri hoc revelanti credere, nisi probet per signa infallibilia dictum suum, aut per violentas probaciones, aut per ydoneos testes, nec ex solo eius dicto potest filium talem exheredare. 66  Adducitur eciam ex hiis racio quinta, quia maritus longe plus in hoc dampnificatur quam nutriendo et hereditando filium non suum quem extimat esse suum et a quo creditur esse suus. Constat enim quod huiusmodi mutua extimacio, paternitatis scilicet et fi-

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oder seine Söhne Räuber werden, wenn man alle Umstände ihrer Sozialisation sorgfältig erwägt. Dann kann nämlich, nach Urteil und Anordnung eines weisen Mannes, etwas – wenn auch mit leiderfülltem Gemüt – behalten werden.

Der Fall des Sohnes aus einem Ehebruch 194 64  Ebenso ist es bei einer Ehefrau, deren Sohn aus einem Ehebruch stammt und vom Hab und Gut ihres Ehemannes ernährt und [sogar] zum Erbe eingesetzt wird. Ihr darf man keineswegs raten, das ihrem Mann zu offenbaren,195 vielmehr muss man sie daran hindern. Der Grund hierfür ist vierfach. 65  Der erste ist: wegen der Gefahr des Ärgernisses für ihren Mann und dessen Freunde, denen es offenbart würde. Denn sie würden deswegen nicht nur ihrerseits in Unruhe geraten, sondern könnten daraufhin auch kaum mit ihr Frieden, Freundschaft und harmonische Gesellschaft haben. Der zweite ist: wegen der üblen Nachrede, von der sie betroffen wäre. Denn die Ehefrau, die vorher in gutem Ruf gestanden hat, würde sich dadurch ihres guten Rufs berauben und sich selber auf übelste Weise in Verruf bringen. Der dritte ist: wegen der Todesgefahr für die Ehefrau und ihren unehelichen Sprössling. Denn sie könnte glaubhaft fürchten, von ihrem Mann oder von einem seiner Angehörigen oder Freunde getötet zu werden,196 und die gleiche Gefahr bestände für ihren Liebhaber. Der vierte ist: Weder der Mann noch der Sohn, noch der öffentliche Richter müsste der Frau, die das enthüllt, glauben, es sei denn, sie beweist ihre Aussage durch untrügliche Zeichen oder durch schlagende Beweise197 oder durch geeignete Zeugen – denn allein auf Grund ihrer Aussage kann sie diesen Sohn nicht enterben. 66  Es lässt sich auch noch ein fünfter Grund anführen: denn der Ehemann würde damit weit mehr geschädigt, als wenn er einen Sohn, der nicht der seine ist, den er aber und der sich für den seinen hält, ernährt und als Erben einsetzt. Denn bekanntlich ist eine solche gegenseitige Wertschätzung, nämlich der Vater- und Sohn-

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liacionis, est maior et propinquior causa colligancie et amicicie aut complacencie et congaudencie patris ad filium et in filio et econverso quam sit sola veritas corporalis generacionis absque tali extimacione. Nam tali extimacione omnino amota, sic per omnia se habet pater ad proprium filium sicut ad extraneum et econverso. 67  Dentur ergo duo viri quorum unus firmiter credit et creditur esse pater predicti filii, et non est, alter vero nec credit nec creditur, et tamen est. Queritur quis illorum duorum plus boni vel gaudii ac iuris et presidencie habeat in prefato filio, et indubitanter experimur quod incomparabiliter plus* habet putativus quam verus. Nam filius eciam secundum deum non tenetur obedire nec filialem reverenciam exhibere vero sed putativo. Nec verus tenetur pater illum tamquam filium diligere nec pro filio habere, putativus autem tenetur. 68  Preterea valde ignominiosum est viro quod vel sibi vel alii reveletur uxorem eius prolem de adulterio concepisse. Unde longe honorificencius et iocundius et gloriosus est viro, quod hoc omnino celetur, eciam sibi. Vides ergo quantum boni uxor revelans crimen proprium aufert patri putativo, certe fere tantum quantum si auferret sibi verum filium et pro vero filio habitum. Si tamen apud maritum et alios esset primo super hoc gravis suspicio impressa et fortis sic suspicandi occasio, et ex certis ac sufficientibus causis potest et debet vehementer et valde probabiliter credi quod nichil de tribus periculis suprascriptis hic subsequetur aut accrescet sed pocius minuetur, et iterum cum hoc firmiter presumitur quod filius voluntarie

*  In den Codices A und C sowie von der Hand des Bernhardin von Siena in Codex B ergänzt. Vgl. Piron, S.  298, Anm. zu Nr.  67, Z.  11.

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schaft, ein mächtigerer und näher liegender Grund des Zusammenhalts und der Freundschaft oder des Wohlgefallens und des Sich-aneinander-Freuens von Vater und Sohn, als es die bloße Wahrheit der körperlichen Zeugung ohne eine solche Wertschätzung wäre. Fiele nämlich diese Wertschätzung ganz und gar weg, so verhielte sich der Vater zu seinem eigenen Sohn wie zu einem Fremden, und umgekehrt. 67  Es seien zwei Männer gegeben, von denen der eine fest glaubt (und man hält ihn auch dafür), er sei Vater des besagten Sohns – er ist es aber nicht; der andere hingegen glaubt nicht, es zu sein (und man hält ihn auch nicht dafür) – und doch ist er es. Es fragt sich, wer von den beiden mehr Gutes und mehr Freude an dem genannten Sohn und mehr Befugnisse und Autorität ihm gegenüber hat – und ohne Zweifel machen wir die Erfahrung, dass der vermeintliche Vater unvergleichlich mehr hat als der wirkliche. Denn auch nach göttlichem Gebot muss der Sohn nicht dem wirklichen Vater gehorchen und seine kindliche Ehrerbietung erweisen, sondern dem vermeintlichen. Und auch der wirkliche Vater muss diesen nicht wie einen Sohn lieben und ihn auch nicht für seinen Sohn halten – der vermeintliche Vater aber muss es. 68  Außerdem ist es sehr schimpflich für einen Mann, dass ihm oder einem anderen enthüllt wird, dass seine Frau ein Kind aus ­einem Ehebruch empfangen hat. Daher ist es bei weitem ehrenhafter, erfreulicher und rühmlicher für den Mann, dass das vollkommen verheimlicht wird, auch ihm selbst. Du siehst also, um wie viel Gutes die Ehefrau, die ihr Vergehen enthüllt, den vermeintlichen Vater bringt – gewiss beinah ebenso viel, wie wenn sie ihm den wahren und für den wahren Sohn gehaltenen Sohn wegnähme. Wenn freilich bei dem Ehemann und bei anderen sich zunächst ein diesbezüglicher schwerer Verdacht abzeichnete und ein triftiger Anlass, so zu argwöhnen, und aus gewissen und hinreichenden Gründen nachdrücklich und mit großer Wahrscheinlichkeit geglaubt werden kann und muss, dass nichts von den drei oben beschriebenen Gefahren folgt oder hinzukommt, sondern eher gemindert wird – und wenn wiederum fest angenommen wird, dass der Sohn freiwillig auf

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cedet bonis mariti, tunc solum revelari deberet aut posset, sed vix ista concurrunt et rarissime presumendum est quod concurrant. Attamen uxor salvo iure humano et absque sua infamia potest et debet de sua dote et ceteris bonis suis indempnem facere virum et legitimam prolem eius. 69  Si vero queratur an dato quod talis filius ex verbis matris credat se esse spurium, teneatur reddere bona que a marito matris habuit ceteris filiis aut heredibus mariti, dicendum quod si indubitanter hoc credit et racionem credendi habet, tenetur secundum deum sed non iure humano. Si tamen non habet sufficientem racionem et causam credendi, tunc non tenetur reddere ex quo per se vel per alterum sibi claret, quod non habet condignam racionem credendi, puta quia mater prediligit prolem aliam viri sui, aut quia presumitur ipsum vel eius uxorem odire, aut quia est fatua et levis sensus, nec constat ipsam esse vel fuisse certam quod hunc concepit non de viro sed de adultero; non enim hoc omni adultere* semper est certum. 70  Item quoad tempus restitucionis, sciendum quod in considerando quantum debet reddi seu quanta in mutuo fuit usura, semper recurrendum est ad tempus in quo facta fuit mutuacio usuraria, prout refertur ad tempus solucionis pro quo facta est, ut verbi gracia: ›Tradidi tibi modium bladi in Paschate, solvendum secundum precium quod valebit in Pentecoste, vel quod tempore tradicionis creditur probabiliter valiturum in Pentecoste; tunc quicquid plus usurario modo accepero, debeo reddere et non amplius neque minus,

*  Lesart der Ausgabe von Fabiano Chiavari, Rom 1556 (statt »hoc cum omni adultero«). Vgl. Piron, S.  300, Anm. zu Nr.  69, Z.  16.

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die Güter des Ehemanns verzichtet: nur dann müsste oder könnte es enthüllt werden. Aber diese Bedingungen finden kaum gleichzeitig statt, und man darf nur höchst selten annehmen, dass sie es tun. Aber dennoch kann und muss die Frau – ohne menschliches Recht zu verletzen und ohne sich in üblen Ruf zu bringen – aus ihrer Mitgift und ihrem sonstigen Vermögen den Mann und seine rechtmäßigen Nachkommen entschädigen. 69 Wenn aber gefragt wird, ob – angenommen, dieser Sohn glaubt infolge der Worte seiner Mutter, er sei unehelich – er die Güter, die er vom Ehemann der Mutter erhalten hat, den übrigen Söhnen oder Erben des Ehemanns zurückgeben muss, so ist zu sagen: Wenn er das ohne jeden Zweifel glaubt und Grund hat, es zu glauben, so muss er es – nach göttlichem, nicht nach menschlichem Recht. Hat er allerdings nicht hinreichend Grund und Ursache, es zu glauben, dann besteht keine Pflicht zur Rückgabe, da ihm ja durch sich oder durch einen anderen klar ist, dass er keinen angemessenen Grund hat, es zu glauben – z. B. weil die Mutter eine Vorliebe für die anderen Kinder ihres Mannes hat oder weil man annimmt, dass sie ihn oder seine Frau hasst, oder weil sie oberflächlich und leichtsinnig ist und weil auch nicht feststeht, dass sie selbst sicher ist oder war, dass sie ihn nicht von ihrem Mann, sondern von ihrem Liebhaber empfangen hat – das ist nämlich nicht immer für jede Ehebrecherin gewiss. 70  Ebenso muss man, was die Zeit der Rückerstattung angeht, wissen: Bei der Überlegung, wie viel rückerstattet werden muss bzw. wie hoch der Wucher-Anteil bei dem Darlehen war, so muss man immer auf den Zeitpunkt zurückgehen, zu dem das wucherische Darlehen stattgefunden hat, insoweit es Bezug nimmt auf den Zeitpunkt der Bezahlung, für den es vereinbart wurde: etwa z. B.: ›Ich habe dir einen Scheffel Getreide zu Ostern gegeben, zu zahlen zum Preis, den er an Pfingsten kosten wird, bzw. von dem man annimmt, dass er ihn zum Zeitpunkt der Übergabe wahrscheinlich zu Pfingsten kosten wird. Was ich dann auf wucherische Weise mehr erhalten haben werde, muss ich zurückgeben, und nicht mehr und nicht weniger, und das sowohl, wenn er (der Scheffel Getreide) zu Pfings-

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et hoc sive plus quam accepero valeat, sive minus valuerit in Pente­ coste‹. 〈 De loco restitutionis  〉

71  Secundo quantum ad locum, sciendum quod si ille cui reddendum est sit ita longe quod plus incomparabiliter expendet reddens in faciendo illud deportari quam valeat res reddenda, aut si probabiliter timetur de periculo, quod scilicet res finaliter non perveniat ad illum cui debetur, tunc non oportet illud mitti, maxime si res reddenda sit parvi precii et precipue si per licitam viam fuit habita vel accepta et si debitor non fuit culpabilis de mora reddendi. 72  In hoc autem casu tutum esset rem sigillatam apud alium a se in aliquo tuto loco deponere, reddendam illi si veniret, aut cum competens oportunitas mittendi adesset. Quod quidem pro tanto est tucius pro quanto quis ex hoc apud se fit certior quod absque dolo, firmum et indilatum habet propositum ad reddendum, ita quod quantum est ex se, nullatenus est in mora reddendi. Si autem multum probabiliter creditur amodo non rediturus* nec de cetero opportunitatem mittendi vel reddendi adesse, potest dari pro salute ipsius, nisi timeat quod si rediret, posset illud in foro iudiciali ab ipso repetere et rehabere. 73  Quantas autem expensas teneatur quis facere pro mittendo, limitandum est boni et discreti viri iudicio, debite pensantis proporcionem valoris rei mittende et quantitatis expensarum et probabilium periculorum. In quo quidem iudicio semper debet preferri incommoditas seu dampnificacio creditoris quia differtur sibi so-

*  »Redditurus« scheint ein Schreibfehler zu sein. Vgl. Piron, S.  302, Nr.  72, Z.  18.

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ten mehr, als auch wenn er weniger wert ist, als ich erhalten haben werde‹.198

2. Der Ort der Rückerstattung 71  Zweitens, was den Ort angeht, so muss man wissen: wenn der, an den die Rückerstattung zu erfolgen hat, so weit weg ist, dass der Rückerstattende für den Transport dieser Sache unvergleichlich mehr aufwendet, als die zurückzugebende Sache wert ist – oder wenn mit Wahrscheinlichkeit eine Gefahr zu befürchten ist, nämlich dass die Sache schließlich doch nicht bei demjenigen ankommt, dem sie geschuldet wird – dann muss diese Sache nicht geschickt werden, vor allem, wenn sie nicht viel wert ist, und zumal, wenn sie auf rechtmäßigem Weg erlangt bzw. empfangen wurde und wenn dem Schuldner der Aufschub der Rückerstattung nicht vorgeworfen werden kann. 72  In diesem Fall aber wäre es sicherer, die Sache versiegelt bei einem anderen an einem sicheren Ort zu hinterlegen, um sie jenem zurückzugeben, wenn er kommen sollte oder wenn sich eine passende Gelegenheit zum Versand böte. Das ist freilich umso sicherer, als jemand dadurch zu erkennen gibt, dass er ohne List und ohne Aufschub den festen Vorsatz hat, die Sache zurückzugeben, so dass er, soweit es an ihm liegt, sich keinesfalls in Verzug befindet. Ist aber mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass er (der Gläubiger) von nun an nicht mehr zurückkommen wird und ansonsten auch keine Versand- bzw. Rückgabegelegenheit besteht, so kann die Sache für dessen Seelenheil gegeben werden – es sei denn, er (der Schuldner) fürchtet, falls dieser zurückkehrte, könnte er die Sache gerichtlich von ihm zurückfordern und wiedererlangen. 73  Die Höhe der Versandkosten aber, die jemand auf sich nehmen muss, ist zu begrenzen nach dem Urteil eines rechtschaffenen und verständigen Mannes, der den Wert der zu verschickenden Sache, die Höhe der Kosten und die wahrscheinlichen Gefahren im angemessenen Verhältnis gegeneinander aufwiegt. In diesem Urteil muss freilich immer der Nachteil bzw. die Schädigung des Gläubi-

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lucio rei sue, quam incommoditas et dampnificacio debitoris quam consecuturus est in expensis. Si tamen ex iure communi vel ex pacto privato, non tenerer tibi rem vel censum reddere nisi in tali castro vel terra, tunc non tenerer tibi mittere longius ad meas expensas. 74  Si vero queratur an debita vel forefacta incerta quoad personas vel heredes eorum, non autem quoad loca ipsorum unde sunt rapta vel aliter habita, debeant dari pauperibus vel ecclesiis aut monasteriis aut ceteris piis causis in solis illis locis, dicendum quod si rapta erant communitatis illius loci, tunc quodammodo scitur persona quia talis communitas gerit vicem quasi certe persone. Si vero ad singulos singulariter spectabant, sic quod vel omnes vel maior pars loci fuerint dampnificati, adhuc debent reddi communitati que consistit in toto vel in parte maiori. Si vero spectabant sic ad singulos quod restituendo communitati quasi nichil aut modicum prodesse presumitur ipsis aut eorum heredibus, tunc licet congruum sit dari illud piis causis in loco illo pro salute illorum, non tamen est necessarium, ubi eque bene potest dari alibi pro salute illorum, quin pocius si alibi datum plus prodest animabus illorum, melius est alibi dari. 〈 De modo reddendi  〉

75  Tercio quantum ad modum reddendi, est primo sciendum quod omne debitum quod a creditore libere indulgetur vel datur, pro reddito vel soluto habetur. Huiusmodi autem indulgencie sunt ali-

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gers mit höherer Priorität berücksichtigt werden, weil sich ja die Bezahlung seiner Sache verzögert, als der Nachteil und die Schädigung, die auf den Schuldner bei seinen Ausgaben zukommen. Wenn ich jedoch nach allgemeinem Recht bzw. nach privater Abmachung dir die Sache bzw. die Abgabe nur in dieser Stadt oder diesem Land zu leisten hätte, dann müsste ich sie dir auch nicht auf meine Kosten weiterschicken. 74  Wird aber gefragt, ob Schulden bzw. rechtswidrig erworbene Güter, bei denen die [anspruchsberechtigten] Personen bzw. deren Erben ungewiss sind, nicht aber die Gegend, wo sie geraubt oder auf andere Weise erlangt wurden, den Armen oder den Kirchen oder Klöstern oder für sonstige fromme Anliegen nur an diesen Orten gegeben werden sollen, so ist zu sagen: Wenn sie einer Gemeinschaft dieses Ortes geraubt worden waren, dann kennt man auf irgendeine Art und Weise die Person, weil diese Gemeinschaft gewissermaßen die Stelle einer bestimmten Person einnimmt. Wenn sie (die Schulden oder Güter) aber einzelnen einzeln zustanden, der Schaden aber alle oder den größten Teil am Ort betraf, muss man sie mehr noch der Gemeinschaft zurückgeben, die in der Gesamtheit oder im Großteil besteht. Wenn sie aber einzelnen so zustanden, dass man annimmt, eine Erstattung an die Gemeinschaft brächte ihnen oder ihren Erben fast gar keinen oder nur einen geringen Nutzen, dann ist es – obwohl es schicklich wäre, das für fromme Anliegen an diesem Ort für deren Seelenheil zu geben – dennoch nicht notwendig, wenn es ebenso gut anderswo für ihr Seelenheil gegeben werden kann. Ja es ist sogar besser, es anderswo zu geben, wenn es, anderswo gegeben, ihren Seelen mehr nützt.

3. Die Art und Weise der Rückerstattung 75  Drittens, was die Art und Weise der Rückerstattung angeht, muss man erstens wissen, dass jede Schuld, die vom Gläubiger freiwillig erlassen bzw. gegeben wird, als erstattet bzw. bezahlt gilt. Ein derartiger Schuldenerlass aber geschieht bisweilen fast gezwunge-

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quando quasi coacte sive invite; puta, si propter metum vel verecundiam aut quia desperatur de solucione aut quia ab eo cui indulgetur speratur prestari aliquod mutuum simplex vel usurarium. Idcirco ad hoc quod debitor sit apud deum de huiusmodi indulgentiis plene tutus, debet sic solucionem, quantum est ex parte sua, exequi, aut se ad illam ita disponere quod constet sibi tam de suo firmo proposito ad reddendum, si creditor remittere nollet, quam de debiti vere libera et gratuita remissione seu donacione facta ab eo cui debebatur. 76  Quia vero indulgencie non plene gratuite plus solent fieri usurariis aut dominis terrarum a subditis quibus plura debent, aut quibuscumque potentibus quos creditores formidant, si ad eorum peticionem non remittant eis debita sua, idcirco in huiusmodi casibus et consimilibus forcius exigitur quod totum debitum aut pignus equivalens primo libere tradatur illi cui debetur. Et si ex quo illud plene in sua facultate habuerit, ab eo petatur et detur, et hoc tali modo petendi ex quo nichil contra gratuitam dacionem presumi queat, tunc secure poterit retineri, alias vero non, nisi per aliqua signa sufficiencia constet de plene gratuita dacione seu remissione. 77  Secundo sciendum quod quando debitum non potest reddi, domino ipso sciente, absque periculo infamie vel mortis vel scandali, tunc sufficit quod reddatur sibi ipso inscio, aut sic quod nesciat debitorem nec causam pro qua debebatur; utpote quod per debitorem vel alium sibi reddatur dicendo quod quidam debitor eius hoc sibi reddit. 78  Sed numquid sufficiet si reddat illud sibi non sub specie debiti sed quasi sub specie doni? Dicendum quod si predicta pericula aliter

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nermaßen bzw. widerwillig: angenommen, aus Furcht oder Scham oder weil die Hoffnung auf Bezahlung aufgegeben wird oder weil man hofft, man werde von dem, dem die Schuld erlassen wird, ein einfaches oder verzinsliches Darlehen erhalten. Deswegen muss der Schuldner, damit er vor Gott hinsichtlich eines solchen Schulden­ erlasses ganz sicher ist, die Bezahlung, soweit es auf ihn ankommt, so ausführen bzw. sich so darauf einstellen, dass dem Gläubiger ebenso sein fester Vorsatz, die Rückerstattung zu leisten, bekannt wird, falls dieser doch nicht darauf verzichten wollte, wie [dem Schuldner]199 der wahrhaft freiwillige und uneigennützige Erlass bzw. die Schenkung der Sache seitens dessen, dem sie geschuldet wurde. 76 Weil aber ein nicht völlig uneigennütziger Schuldenerlass mehr gegenüber Wucherern oder Grundbesitzern von Seiten ihrer Untergebenen, denen sie mehreres schulden, vorzukommen pflegt oder gegenüber irgendwelchen Mächtigen, die die Gläubiger fürchten, wenn sie ihnen auf ihre Bitte hin nicht ihre Schulden erlassen: deshalb ist es in derlei und ähnlichen Fällen umso mehr erforderlich, dass zuerst die ganze Schuld oder ein gleichwertiges Pfand demjenigen freiwillig übergeben wird, dem geschuldet wird. Und wenn das, nachdem er es vollkommen in seiner Macht hat, von ihm erbeten und gegeben wird, und das auf eine Art zu bitten, aus der man nichts gegen eine uneigennützige Schenkung annehmen kann, dann darf man es ruhig behalten, sonst aber nicht – es sei denn, durch hinreichende Zeichen steht die völlig uneigennützige Schenkung bzw. der Schuldenerlass fest.200 77  Zweitens muss man wissen: Wenn das Geschuldete nicht mit Wissen des Eigentümers ohne Gefahr für den guten Ruf oder das Leben oder eines Ärgernisses zurückgegeben werden kann, so reicht es, dass es ihm ohne sein Wissen zurückgegeben wird, oder so, dass er weder den Schuldner kennt noch den Grund, weswegen geschuldet wurde – z. B. dass es ihm durch den Schuldner oder jemand anderen zurückgegeben wird, wobei man sagt, dass einer seiner Schuldner ihm das zurückgibt. 78  Reicht es aber, wenn er es ihm nicht als Geschuldetes, sondern quasi als Geschenk zurückgibt? Wenn er die genannten Gefahren

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vitare non potest, sufficit, sic tamen quod ex modo donandi nullam graciam dolose reportare intendat, quin pocius, si aliter posset, preeligeret illud reddere per modum solucionis, aliter non sufficit. 〈 De contractibus usurariis quaestio duplex  〉

79  Quoniam autem in superioribus sepe tangitur quod ex sola intencione usuraria contrahitur peccatum usure et debitum restituendi, quamvis forma contractus fuerit de se licita et usure vicio carens, idcirco ad huiusmodi pleniorem evidenciam, queratur an hoc ita sit; et an econverso forma contractus sit usuraria, ut cum quis tradit mercatori centum marcas, sub pacto et cum instrumento, quod reddat sibi dimidium vel duas partes lucri absque omni periculo capitalis; intendit tamen apud se firmiter quod quicquid de capitali debite mercando perderetur sibi et non mercatori perdatur. An inquam talis sit usurarius et an teneatur reddere quicquid inde acceperit? 〈 Argumenta primae quaestionis  〉

80  Quod autem primus non teneatur reddere probatur, primo per simile, quia intendens alienum rapere vel furari, quod tamen est vere suum, licet hoc ipse ignoret, non tenetur illud sic raptum restituere ex quo didicit illud esse suum. Percuciens eciam non clericum quem tamen credit esse clericum, non est excommunicatus. Inten-

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nicht auf andere Weise vermeiden kann, reicht es – allerdings so, dass er nicht aus der Art und Weise des Schenkens listig irgendeine Vergünstigung zu erlangen beabsichtigt, sondern vielmehr, wenn er anders könnte, es vorzöge, es in der Art einer Bezahlung zurück­ zugeben – sonst reicht es nicht.

Doppelte Frage über Wucherverträge 79  Weil aber im oben Gesagten oft erwähnt wurde, dass die Sünde des Wuchers allein schon durch die Absicht des Zinsnehmens entsteht und damit die Schuld der Rückerstattung, auch wenn die Form des Vertrages an sich rechtens und ohne Mangel war, so wird, um hier zu größerer Klarheit zu kommen, gefragt, ob dem so sei. Und umgekehrt: ob, wenn die Form des Vertrages wucherisch ist – wenn z. B. jemand einem Händler 100 Mark gibt, unter der Bedingung und mit schriftlicher Bestätigung, dass dieser ihm dafür die Hälfte oder zwei Drittel des Gewinns gibt, ohne jede Gefahr für das Kapital; bei sich hält er aber an dem Vorsatz fest, dass das, was bei pflichtgemäßem Handel verloren gehen sollte, für ihn und nicht für den Händler verloren sein sollte. Ist so jemand, sage ich, ein Wucherer, und muss er zurückerstatten, was er daraus erhalten hat?

Argumente der ersten Frage 80  Dass aber der Erstere nicht zur Zurückgabe verpflichtet ist, wird bewiesen: Erstens durch einen ähnlichen Fall, denn wenn jemand beabsichtigt, fremdes Gut zu rauben oder zu stehlen, was indes wirklich das Seine ist, auch wenn er selber das nicht weiß, so muss er das auf solche Weise Geraubte nicht zurückerstatten, sobald er erfahren hat, dass es ihm gehört. Auch wer einen Nicht-Kleriker schlägt, den er allerdings für einen Kleriker hält, wird nicht exkommuniziert.201 Auch wer beabsichtigt, den König zu töten, wird, wenn

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dens eciam occidere regem, cum occidit aliquem eius hostem vel civem, non punitur ex tali opere tamquam de crimine lese maiestatis. 81  Secundo probatur ex specie ipsius contractus. Actus enim moralis dicitur accipere speciem ex suo proximo obiecto pocius quam ex remoto, sicut patet in homicidio, et furto et ebrietate que ex diversitate suorum proximorum obiectorum contrahunt inter se diversi­ tatem specificam. Si ergo forma contractus ex racione proximi obiecti super quem transit non est usuraria, sed pocius licita et iusta, ergo ex suo finali et remoto obiecto quod sibi dat finalis intencio, non acquiret speciem actus usurarii. 〈 Argumenta secundae quaestionis  〉

82  Quod autem secundus teneatur lucrum restituere tamquam usurarium probatur. Primo per simile, quia si aliquis expresso verbo et facto, det et tradat alteri suam domum, quamvis hoc apud se non intendat, nichilominus erit data, nec eam poterit revocare. Et idem est de proficiente aliquem statum regularem aut de iurante fallaciter aliquod pactum seu promissum. 83  Secundo probatur ex natura contractus, quia mercator sub tali forma recipiens centum marcas, mercatur realiter ex eis tamquam ex suis, pro eo quod ex forma contractus semper ducit eas ad periculum suum; ergo quicquid lucratur ex eis, lucratur tamquam ex suis; ergo de iure contractus et subsequentis mercacionis, totum periculum est suum.

Über Rückerstattungen

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er [nur] irgendeinen seiner Feinde oder Bürger getötet hat, für diese Tat nicht wegen Majestätsbeleidigung bestraft. 81  Zweitens wird es bewiesen aus der Art des Vertrages selbst. Von einer moralischen Handlung sagt man nämlich, sie empfange ihre Artbestimmung eher aus ihrem nächsten Objekt als aus einem entfernten, wie klar ist beim Totschlag, beim Diebstahl und bei der Trunkenheit, die wegen der Unterschiedlichkeit ihrer nächsten Objekte untereinander eine spezifische Verschiedenheit aufweisen. Wenn nun die Form des Vertrages auf Grund des nächsten Objekts, auf das sie übergeht, nicht wucherisch ist, sondern vielmehr rechtens und gerecht, so wird sie also aus ihrem finalen und entfernten Objekt, das ihr die Endabsicht gibt, nicht die Art einer wucherischen Handlung gewinnen.

Argumente der zweiten Frage 82  Dass aber der Zweite den Gewinn als wucherisch zurück­ erstat­ten muss, wird bewiesen. Erstens durch einen ähnlichen Fall, denn wenn jemand ausdrücklich durch Wort und Tat einem anderen sein Haus gibt und überlässt, obwohl er das insgeheim nicht beabsichtigt, wird es nichtsdestoweniger gegeben sein, und er wird es nicht zurückfordern können. Und genauso ist es bei einem, der ein Ordensgelübde ablegt oder bei einem, der einen Vertrag oder ein Versprechen mit einem Meineid bekräftigt. 83  Zweitens wird es bewiesen aus der Natur des Vertrages. Denn der Kaufmann, der unter dieser Form 100 Mark empfängt, handelt damit in Wirklichkeit so, als wären es seine eigenen, weil er sie ja auf Grund der Form des Vertrages immer auf seine eigene Gefahr in den Handel bringt. Also gewinnt er, was auch immer er daraus gewinnt, so, als wären sie (die 100 Mark) die seinen. Er trägt ja, nach dem Recht des Vertrags und des daraus folgenden Handels, die ganze Gefahr.

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〈 Responsio ad primam quaestionem  〉

84  Ad primam questionem dicendum quod, sicut sola intencio et voluntas faciendi usuras facit peccatum usure in corde, sic intencio usuraria exteriori operi iuncta facit opus extrinsecum esse usurarium. Quod clarius patet attendenti materiam usurarum, scilicet mutuum expressum vel interpretativum, quia sicut dato quod tradatur ex intencione donandi, sortitur veram racionem doni et amittit racionem mutui, sic si mutuetur ex spe et intencione lucri, eo ipso amittit racionem mutui gratuiti et sortitur racionem mutui usurarii. Ex quo patet quod lucrum exinde sub tali intencione receptum est usurarium et restituendum. 85  Quando igitur in contractu vendicionis vel commutacionis aut societatis ex se licito commiscetur aliqua racio mutui occulta vel expressa, ex qua talis prestitor mutui intendit usurarum lucrum, et tandem habet, tunc in prefato contractu sunt realiter duo contractus: unus scilicet commutacionis vel societatis, alter vero mutui usurarii. Licet autem in primo non sit vicium usure, non propter hoc sequitur quin sit in secundo sibi connexo et ideo contractus est et dicitur usurarius, non racione primi sed racione secundi. 〈 Ad argumenta primae quaestionis  〉

86  Ad primum autem in contrarium dicendum quod illa non sunt similia huic casui, quia fur vel raptor rei proprie non acquirit nec perdit ius proprietarium rei sue ex suo actu furandi; et ideo licet ex vi illius furti non sit sua, nec sibi iuste retinenda, est tamen sua ex

Über Rückerstattungen

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Antwort auf die erste Frage 84  Zur ersten Frage ist zu sagen: Wie allein die Absicht und der Wille, Wucher zu treiben, im Herzen die Sünde des Wuchers bewirkt, so bewirkt die wucherische Absicht, in Verbindung mit dem Werk, dass das äußere Werk wucherisch ist. Das wird einem noch klarer, wenn man auf die Materie des Wuchers Acht gibt, nämlich das ausdrückliche oder mutmaßliche Darlehen. Denn so wie es – angenommen, es wird gegeben in der Absicht, zu schenken –, wahrhaft den Charakter eines Geschenks annimmt und den Charakter des Darlehens verliert, so verliert es, wenn es in der Hoffnung und Absicht auf Gewinn verliehen wird, eo ipso den Charakter des uneigennützigen Darlehens und nimmt den Charakter des wucherischen Darlehens an. Daraus wird klar, dass der daraus mit einer solchen Absicht empfangene Gewinn wucherisch und zurückzuerstatten ist. 85  Wenn sich daher in einen an sich erlaubten Verkaufs- oder Tausch- oder Gesellschaftsvertrag irgendwie der geheime oder ausdrückliche Charakter eines Darlehens einmischt, aus welchem der, der ein solches Darlehen gewährt, einen Zinsgewinn beabsichtigt und schließlich erhält, so liegen in besagtem Vertrag in Wirklichkeit zwei Verträge vor: nämlich ein Tausch- bzw. Gesellschaftsvertrag und ein anderer [Vertrag] über ein verzinsliches Darlehen. Wenn es auch im ersteren nicht das Laster des Wuchers gibt, folgt daraus nicht, dass es nicht im zweiten, damit verbundenen, wäre. Und daher nennt man den Vertrag wucherisch, nicht auf Grund des ersteren, sondern auf Grund des zweiten.

Zu den Argumenten der ersten Frage 86  Zum ersten Gegenargument ist zu sagen: Diese Beispiele sind diesem Fall nicht ähnlich. Denn der Dieb oder Räuber der eigenen Sache erwirbt und verliert das Eigentumsrecht an seiner Sache nicht aus seinem Akt des Stehlens. Und daher: Auch wenn sie nicht kraft jenes Diebstahls die seine ist und er sie auch nicht [kraft jenes Dieb-

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iure proprietatis quod primo in ea habebat. In proposito autem non est sic quia lucrum ex usuraria intencione mutui traditi proficiscens non sit nec erat prestitoris per aliam causam; ymo solum ad manum eius devenit propter mutuum ex tali prava intencione factum. 87  Tunc autem esset hoc illi simile si nulla ibi existente racione mutui, ille credens eam ibi esse, intenderet et crederet ex hoc consequi usurarium lucrum, quamvis secundum rem non lucraretur nisi iustum lucrum. Esset eciam simile si existente ibi racione mutui, nullum lucrum consequeretur ex eo, sed solum ex aliquo contractu licito sibi commixto, quamvis ipse crederet et intenderet ex prefata racione mutui consequi lucrum illud. 88  Ad illud autem de excommunicacione, patet quia sentencia lata in percucientes clericum, nullo modo est lata in percucientes non clericum, quamtumcumque credant eum clericum. Illud eciam de crimine lese maiestatis dicendum quod patet, quia forense iudicium non punit intencionem sibi occultam, sed pocius punit factum extrinsecum et intencionem sibi coniunctam, prout est sibi nota per aliqua forinseca signa. 89  Ad secundum dicendum quod species vicii aliquando sumitur ex obiecto proximo absolute sumpto, ut cum quis facit furtum vel homicidium ex pia intencione seu propter aliquem bonum finem. Aliquando vero sumit speciem ex ipso, non secundum se et absolute sumpto et volito, sed solum ex ipso ut ad pravum finem ordinato et correlato, ut cum quis opus de genere suo bonum vel indifferens facit propter malum finem, utpote propter vanam gloriam vel propter avariciam, ut cum quis abstinet a vino propter solam avariciam, aut accipit sacros ordines propter solum questum seu lucrum tempora-

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stahls] zu Recht für sich behalten darf, so ist sie doch aus dem Eigen­ tums­recht, das er vorher an ihr hatte, die seine. Im vorliegenden Fall aber ist es nicht so, denn der Gewinn, der aus einem in wucherischer Absicht gewährten Darlehen hervorgeht, ist nicht und war auch nicht auf Grund einer anderen Ursache Eigentum des Darlehensgebers; vielmehr gelangte er nur in seine Hand wegen eines aus einer so lasterhaften Absicht gewährten Darlehens. 87  Dieser Fall wäre dann jenem vergleichbar, wenn – ohne dass hier irgendein Darlehen vorliegt – jener, in der Annahme, es gäbe hier ein Darlehen, beabsichtigte und annähme, hieraus einen wucherischen Gewinn zu erlangen, obwohl er tatsächlich nur den gerechten Gewinn daraus erwürbe. Vergleichbar wäre es auch, wenn, bei Vorliegen eines Darlehens, kein Gewinn daraus erfolgte, sondern nur aus einem erlaubten und damit einhergehenden Vertrag – obwohl er selbst annähme und beabsichtigte, jenen Gewinn aus dem besagten Grund zu erwerben. 88  Was aber die Exkommunikation betrifft, so ist klar: Der Urteilsspruch gegen diejenigen, die einen Kleriker schlagen, ist keineswegs gegen diejenigen ergangen, die einen Nicht-Kleriker schlagen, wie sehr sie ihn auch immer für einen Kleriker halten mögen. Zur Majestätsbeleidigung: klar, denn das Urteil einer äußeren Instanz bestraft nicht die ihr verborgene Absicht, sondern vielmehr die äußere Tat und die damit verbundene Absicht, insoweit sie ihr durch irgendwelche äußeren Zeichen bekannt ist. 89  Zum zweiten Argument ist zu sagen: Die Art eines Lasters wird manchmal nach dem nächsten Objekt, absolut genommen, bestimmt – wenn z. B. jemand einen Diebstahl oder einen Totschlag aus einer frommen Absicht oder wegen eines guten Zieles begeht.202 Manchmal aber empfängt es seine Artbestimmung aus dem Objekt nicht, wie es an sich und absolut genommen und gewollt ist, sondern nur, insofern es auf ein schlechtes Ziel hingeordnet und bezogen ist: wenn z. B. jemand ein in seiner Art gutes oder indifferentes Werk wegen eines schlechten Zieles tut, etwa aus eitler Ruhmsucht oder aus Geiz – so, wenn jemand sich des Weins nur aus Geiz enthält oder die heiligen Weihen nur wegen des Gewinns bzw. Vorteils

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lium. Et sic est in proposito, quia prestacio mutui accipit speciem vicii ex ipso mutuo ut ad lucrum indebitum ordinato. 〈 Responsio ad secundam quaestionem  〉

90  Ad secundam questionem, dicendum quod licet tradens capitale sub forma prefata mortaliter peccet, dicitur tamen non teneri restituere lucrum competens inde acceptum. Tenetur tamen precavere ne ex sua morte repentina vel subtractione mercator suus dampnificetur propter pactum vel instrumentum primo confectum. 91  Primum autem, scilicet quod peccet mortaliter satis est evidens, tum quia se ipsum coram illo mercatore de crimine usure diffamat, et eciam coram omnibus scientibus illud factum, et eo ipso dat eis occasionem scandali vel exemplum scandalizandi contra illud Apostoli, ab omni specie mala abstinete vos; tum quia facit opus ex suo genere criminale, saltem quoad hoc quod exponit illum periculo perdendi et restituendi ipsum capitale. Sicut autem exponere aliquem periculo mortis vel precipicii, intendendo ipsum preservare ab ipsa morte vel precipicio, nichilominus graviter peccat, sic et in proposito. 92  Secundum autem, quod scilicet non teneatur restituere competens lucrum inde acceptum, probatur quia actus morales totam racionem sui moris contrahunt ab actu voluntatis a quo causantur. Unde si idem actus fieret a bestia vel ab amente vel a quocumque non habente usum racionis, nichil penitus haberet de racione morali.

Über Rückerstattungen

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zeitlicher Güter empfängt. Und so ist es im vorliegenden Fall: denn die Hingabe des Darlehens erhält die Artbestimmung des Lasters aus dem Darlehen, insofern es auf einen ungebührlichen Gewinn hingeordnet ist.

Antwort auf die zweite Frage 90  Auf die zweite Frage ist zu sagen: Obwohl derjenige, der das Kapital unter der besagten Form zur Verfügung stellt, eine Todsünde begeht, so sagt man dennoch, dass er den hieraus erhaltenen angemessenen Gewinn nicht zurückerstatten muss. Allerdings muss er Vorsorge tragen, dass nicht durch seinen plötzlichen Tod oder Ausfall sein Händler geschädigt wird, wegen des zuvor abgeschlossenen Vertrags bzw. des angefertigten Schriftstücks. 91  Das Erste, nämlich, dass er eine Todsünde begeht, ist hinreichend offenbar: zum einen, weil er sich selbst vor diesem Händler wegen des Vergehens des Wuchers in Verruf bringt (und auch vor allen anderen, die diese Tatsache kennen, und eo ipso ihnen Anlass zum Ärgernis bzw. ein Beispiel, wie man Ärgernis verursacht, gibt, entgegen jenem Wort des Apostels Paulus »Haltet euch fern von jeder Art des Bösen«203); zum anderen, weil er eine ihrer Art nach kriminelle Tat begeht, wenigstens insofern er diesen der Gefahr aussetzt, das Kapital zu verlieren und zurückerstatten zu müssen. So wie jemand, der einen anderen der Gefahr des Todes bzw. des Sturzes in den Abgrund aussetzt, wobei er beabsichtigt, ihn vor dem Tod selbst bzw. dem Sturz zu bewahren, nichtsdestoweniger schwer sündigt, so ist es auch in diesem Fall. 92  Das Zweite aber, nämlich dass er den angemessenen Gewinn, den er hieraus erhalten hat, nicht zurückgeben muss, wird bewiesen: denn die sittlichen Handlungen beziehen den ganzen Gehalt ihrer Sittlichkeit von dem Willensakt, von dem sie verursacht werden. Wenn daher dieselbe Handlung von einem Tier oder von ­einem Wahnsinnigen oder von wem auch immer, der nicht über den Gebrauch der Vernunft verfügt, begangen würde, so hätte sie rein gar

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Quia ergo exterior tradicio centum marcarum predictarum manat a voluntate contraria exteriori forme contractus, quia vult firmiter quod capitale illud currat in mercacionibus ad suum dampnum sicut et ad suum lucrum, quamvis in exteriori contractu contrarium exprimat ad cautelam, ne scilicet mercator ille ficticie vel indebite perdat sibi capitale prefatum, idcirco tradicio exterior ut a tali voluntate procedens est realiter segregata a vicio usure, et capitale sic traditum, realiter currit ad periculum eius qui tradit illud et ideo realiter currit ut suum. 〈 Ad argumenta secundae quaestionis  〉

93  Ad primum autem in contrarium, dicendum quod non est simile quia in illa dacione domus, nichil fit per quod exterius presumi queat quod ipse non intendat eam dare. In proposito autem, aperte apparet quod tam traditor quam mercator volunt quod capitale traditum semper sit capitale tradentis. Exterior enim forma tradendi continet in se duo sibi apparenter contraria, quorum unum est quod non traditur sub forma mutui, ymo tamquam capitale tradentis, aliud est quod capitale non currat ad periculum tradentis, in quo pocius habet formam mutui quam capitalis. Quia igitur voluntas tradentis hic aliqualiter innotescit, ideo secus est de hoc casu et de illo. 94  Ad illud autem de professione et de iuramento, dicendum quod in professione et iuracione sunt duo, scilicet ipsa professio et iuracio et subsequens obligacio ad servandum quod vovit seu quod iuravit. Licet ergo fraudulenter iurans vel profitens non intendat se

Über Rückerstattungen

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nichts an moralischem Gehalt. Weil nun die äußere Übergabe der besagten 100 Mark von einem Willen herrührt, der zur äußeren Form des Vertrags im Gegensatz steht, da er ja beharrlich will, dass dieses Kapital bei Handelsgeschäften zu seinem Schaden wie auch zu seinem Gewinn läuft, obwohl er im äußeren Vertrag vorsichtshalber das Gegenteil ausdrückt (damit nämlich der Händler ihm das besagte Kapital nicht zum Schein oder auf ungebührliche Weise verliert): deshalb ist die äußerliche Übergabe, wie sie aus einem solchen Willen hervorgeht, in Wirklichkeit frei vom Laster des Wuchers; und das so übergebene Kapital läuft wirklich auf Risiko dessen, der es übergibt, und läuft deshalb wirklich als das seine.

Zu den Argumenten der zweiten Frage 93  Zum ersten Gegenargument ist zu sagen: Der Fall ist nicht vergleichbar, denn bei dieser Überlassung des Hauses geschieht nichts, auf Grund dessen man annehmen könnte, dass der Betreffende nicht beabsichtigt, es herzugeben. Im vorliegenden Fall aber wird deutlich offenbar, dass sowohl der Übergeber [des Geldes] als auch der Händler wollen, dass das überlassene Kapital immer das Kapital des Übergebers bleibt. Denn die äußere Form der Übergabe enthält in sich zwei Dinge, die einander offenbar entgegengesetzt sind, wovon das eine ist, dass nicht unter der Form des Darlehens gegeben wird, sondern vielmehr als Kapital des Übergebenden; das andere ist, dass das Kapital nicht auf das Risiko des Übergebenden läuft, womit es sich eher um die Form der Darlehens- als der Kapitalhingabe handelt. Weil also hier der Wille dessen, der [das Kapital] zur Verfügung stellt, irgendwie bekannt ist, ist es bei diesem Fall anders als bei jenem. 94  Zu Gelübde und Eid: Hierzu ist zu sagen, dass es im Gelübde und im Eid zweierlei gibt – nämlich Gelübde und Eid selbst und die daraus folgende Verpflichtung, das zu halten, was man gelobt oder geschworen hat. Wenn auch derjenige, der in unlauterer Absicht schwört oder gelobt, nicht vorhat, sich zu verpflichten, so kann

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obligare, nequaquam tamen dici potest quin intendat actum voti vel iuramenti facere. Et quia in votis et iuramentis alteri homini vel uni collegio factis, obligatur quis divino iure quamvis hoc ipse non intendat, idcirco secus est de istis et de casu prefato. 95  Ad secundum autem patet ex predictis quia licet secundum formam exterioris contractus videantur currere ad periculum mercatoris, tamen quoad voluntatem et intencionem tradentis currunt ad periculum tradentis. 〈 Ultima nota  〉

96 Rursus quoad predictas regulas restitucionum, sciendum quod nulli ex causa impia danti aliquid, quod ab eo cui datur licite retineri non potest, non debet illa res danti reddi si eius impietas innotescat ei cui dedit, quia sua impietas reddit et ostendit ipsum indignum et indispositum ad illud propter quod res sic data restituenda est. Ut verbi gracia acceptum symoniace a symoniace dante non est sibi reddendum sed vel pauperibus vel suo superiori vel utilitatibus ecclesie cuius erat. 97  Et idem est de divite recipiente bona ecclesiastica a prelato dante illa sola intencione carnali, ut scilicet ille ditetur. Et idem est de dante aliquid alicui ut aliquod falsum testimonium ferat aut ut iniustam advocacionem seu causam pro eo ducat aut iniustum duellum seu iocum vel bellum pro eo faciat. Nichil enim horum aut con-

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doch keinesfalls gesagt werden, er hätte nicht die Absicht, den Akt des Gelübdes bzw. des Eids zu vollziehen. Und weil man bei Gelübden und Eiden, die einem anderen Menschen oder einer Gemeinschaft gegenüber abgelegt wurden, auf Grund göttlichen Rechts verpflichtet wird, auch wenn man das selber nicht beabsichtigt, ist es bei diesen Fällen anders als im oben erwähnten Fall. 95  Zum zweiten Gegenargument: Aus dem vorher Gesagten ist klar – auch wenn die 100 Mark nach der äußeren Form des Vertrages auf die Gefahr des Händlers zu laufen scheinen, so laufen sie doch, was den Willen und die Absicht dessen, der sie zur Verfügung stellt, betrifft, auf dessen Gefahr.

Schlussbemerkung 96  Um wieder auf die genannten Regeln für Rückerstattungen zurückzukommen, so muss man wissen: Niemandem, der aus e­ inem verwerflichen Grund etwas hergibt, was von dem, dem es gegeben wird, nicht rechtmäßig behalten werden darf, soll diese Sache zurückgegeben werden, wenn seine Ruchlosigkeit dem, dem er gegeben hat, bekannt wird. Denn seine Ruchlosigkeit macht und zeigt ihn eben unwürdig und nicht darauf204 eingestellt, weshalb eine auf solche Weise gegebene Sache rückzuerstatten ist. Zum Beispiel: Was man durch Simonie erworben hat von einem, der Simonie205 betreibt, muss nicht ihm rückerstattet werden, sondern entweder den Armen oder seinem Vorgesetzten oder zum Besten der Kirche, der es gehörte. 97  Und ebenso ist es bei dem Reichen, der kirchliche Güter von einem Prälaten bekommt, der sie nur aus weltlicher Absicht hergibt, nämlich, damit dieser noch reicher wird. Und ebenso ist es bei dem, der einem anderen etwas gibt, damit er ein falsches Zeugnis ablegt oder eine ungerechte Anwaltschaft übernimmt bzw. einen ungerechten Prozess für ihn führt oder einen ungerechten Zweikampf oder ein ungerechtes Spiel oder einen ungerechten Krieg für ihn macht. Denn nichts aus diesen oder vergleichbaren Dingen Erlangte kann

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similium potest licite retineri, nisi propter aliquam causam retineatur, utpote propter propriam pauperiem sublevandam, et hoc de licencia sui confessoris. Nec tamen debet illud reddere danti, tum quia ille dedit id quod* dare potuit, tum quia eius impietas promeretur et exigit illud non sibi reddi. 98  Hec de usuris et restitucionibus sufficiant ad presens.

*  Lesart der Ausgabe von Fabiano Chiavari, Rom 1556 (statt »quicquid in illo«). Vgl. Piron, S.  320, Nr.  97, Anm. zu Z.  17.

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erlaubterweise behalten werden, es sei denn, es wird aus einem bestimmten Grund behalten, z. B., um die eigene Armut zu erleichtern, und das mit Erlaubnis des Beichtvaters. Es darf freilich nicht dem Geber zurückgegeben werden: zum einen, weil dieser gegeben hat, was er geben konnte206 – zum anderen, weil seine Ruchlosigkeit verdient und verlangt, dass es ihm nicht zurückgegeben wird. 98  Das soll vorläufig zum Thema Wucher und Rückerstattungen genügen.

ANMERKUNGEN

1  Vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., II-II, qu.  7 7, art.  1. Deutsche Thomas-Ausgabe (DThA), Bd.  18, S.  343  ff.: »Darf man eine Sache über Wert verkaufen?«; Heinrich von Gent, Quodlibet I, qu.  40. – Die Stellenhinweise verdanken wir zum großen Teil der vorzüglichen Ausgabe von Sylvain Piron: Pierre de Jean Olivi, Traité des contrats, Paris (Les belles lettres) 2012. Auch die Textgliederung und die Nummerierung der Abschnitte folgt dieser Ausgabe. Die Verweise auf die vier Textteile werden mit I–IV gekennzeichnet. 2  Vgl. Augustinus: De Trinitate, XIII, c. 3 (zit. bei Thomas, a. a. O., obi. 2, S.  344). 3  »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.« Vgl. Tob 4, 15. – In der positiven Fassung als »Goldene Regel« in den meisten Religionen und Kulturen präsent; vgl. Mt 7, 12; Lk 6, 31. 4  Ganz ähnlich äußert sich ein Ende des 13. Jahrhunderts an der Pariser Artistenfakultät entstandener Kommentar zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles, zit. bei Odd Langholm: Price and Value in the Aristotelian Tra­ dition. A study in scholastic economic sources, Bergen  /  Oslo 1979, S.  108. Vgl. auch den Kommentar von Thomas zu Aquin zur Nikomachischen Ethik, Sententia libri Ethicorum, ed. Leon., Bd.  47/2, Rom 1969, S.  294 b (Hinweis bei Langholm, a. a. O., S.  94). 5  Codex Iustinianus, Buch 4, 44. Titel, constitutio 2 (hg. von Paul Krüger, 7. Aufl. Berlin 1900, S.  179): »minus autem pretium esse videtur, si nec dimidia pars veri pretii soluta sit.« 6  Digesta Iustiniani, Buch 47, 10. Titel, lex 1, § 5 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  II, 2. Aufl. Berlin 1963, S.  7 71): »nulla iniuria est, quae in volentem fiat.« 7  Der Preisansatz ist keine einseitige, sondern eine dialektische Angelegenheit. Er impliziert, dass die Sache auch dem Käufer so viel wert sein sollte wie dem Verkäufer und kann daher nicht dem reinen Belieben des Letzteren anheimgestellt sein. 8  Lat. »omne rarum carum«. Zum scholastischen Gebrauch dieses Adagiums vgl. O. Langholm, Economics in the Medieval Schools, Leiden 1992, S.  256, Anm.  31 (Hinweis in der spanischen Ausgabe von Olivi: Tratado de los contratos, übers. von Pedro Ramis Serra und Rafael Ramis Barceló, ­Madrid 2017, S.  87, Anm.  33).

Anmerkungen

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9  Olivi denkt hier anscheinend an Waren, die aus der Champagne bzw. dem östlichen Mittelmeerraum ins Languedoc importiert werden. Vgl. Piron, S.  115, Anm.  17. 10  »Bonum commune« wurde im Vorhergehenden (Nr.  5, 24, 26) mit »Gemeinwohl« übersetzt. Wegen der Verbindung mit der gemeinschaftlichen Nutzung in unserem Kontext wurde hier auf die Bedeutung von »bonum« als »Gut« zurückgegangen. 11  Frei übersetzt für »pietas« – Pietät, Mitgefühl; eine moralische Pflicht, die die Menschen noch vor aller rechtlich sanktionierten Norm verbindet. 12  Im Deutschen funktioniert das Sprachspiel nicht, wonach »caristia« zum einen die Teuerung, zum anderen die Not bedeutet. 13  Vgl. Piron, S.  343, zu Nr.  42. Sowohl der Wille, ein knappes Gut erwerben, als auch, es zu behalten, treibt den Preis in die Höhe. Das Habenwollen kommt in diesem Fall beide Seiten teuer zu stehen – den Käufer wie den Verkäufer. 14  Vgl. die Dekretale »Naviganti«, in: Dekretalen Gregors IX., Buch 5 (= Liber Extra), Titel 19, Kap.  19, § 3 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  816). 15  Diese Frage behandelt bereits Thomas von Aquin in Summa theol., II-II, qu.  77, art.  3; DThA 18, S.  353  ff. 16  Vgl. die Definition des Diebstahls bei Augustinus, Quaestiones in Heptateuchum / Fragen zum Heptateuch, Fragen zum Buch Exodus, qu. 2, 71, 4, übers. von Walter Groß, Teil 1, Paderborn (Schöningh) 2018, S.  388  f. – Vgl. Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  5, cap.  13 (Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  741). – Olivis Formulierung ist hier genauer als die seiner Vorlagen, bei denen der Zusatz »als einer fremden« fehlt. 17  Vgl. Gregor der Große: Moralia in Iob, 29, 1, in: Corpus Christianorum Series Latina, Bd.  1 43 B, hg. von Marc Adriaen, Turnhout 1985, S.  1434. 18  Vgl. Augustinus: Enarrationes in Psalmos, Psalm 7, Nr.  10, in: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Bd.  93/1 A, Wien 2003, S.  154. 19  Vgl. Digesta Iustiniani, Buch 18, 1. Titel, lex 9, § 2 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  I, 2. Aufl. Berlin 1962, S.  515). 20  Die Frage behandelt auch Thomas von Aquin in Summa theol., II-II, qu.  77, art.  4; DThA 18, S.  358  ff. 21  Mt 21, 12. 22 Pseudo-Chrysostomus: Opus imperfectum in Matthaeum, Predigt 38

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Anmerkungen

(PG 56, col.  840). Vgl. Decretum Gratiani, 1. Teil, dist. 88, c. 11 (Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  308  f.). 23  Mt 22, 5. 24  Jesus Sirach 7, 15. 25 Pseudo-Chrysostomus, Opus imperfectum in Matthaeum, Predigt 41, PG 56, col.  863. 26  Jesus Sirach 27, 1–2 (beide Zitate). 27  Sacharja 14, 21. 28  1 Kor 9, 7. 29  Der Begriff »capitale« kommt hier im Traktat zum ersten Mal vor. Er wird im zweiten Teil – beim Thema Wucher – eingehender behandelt. 30  Nehemia (= 2 Esra) 13, 15–22. 31  Jak 4, 13. 32  Jak 4, 15. 33  Vgl. Augustinus: Vorträge über das Evangelium des hl. Johannes, 10. Vortrag, Nr.  4, in: Bibliothek der Kirchenväter, Reihe 1, Bd.  8, S.  171. 34  Das bestätigt der »Dialogus Miraculorum« des Cäsarius von Heisterbach, entstanden im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts. Die Geschichte »Die ehrlichen Kaufleute« beginnt so: »Zwei Kölner Kaufleute bekannten unter andern zwei Sünden, die an sich sehr schwer sind, aber gewohnheitsmäßig, namentlich unter Kaufleuten, gering oder für nichts geachtet werden, nämlich Lüge und Meineid. ›Herr‹, sagten sie, ›wir können fast nichts kaufen oder verkaufen, ohne lügen, schwören und oft falsch schwören zu müssen.‹« Cäsarius von Heisterbach: Wunderbare Geschichten, übers. von Paul Weiglin, München (Albert Langen) 1940, S.  42. 35  Mit der »religio evangelica« könnten die Beginen gemeint sein, eine ordensähnliche Frauen-Gemeinschaft, die nach dem Ideal des Evangeliums ausgerichtet war, ohne einen Orden im kirchenrechtlichen Sinn (»religio ecclesiastica«) darzustellen. 36  Vgl. Raimundus de Pennaforte (Raimund von Penyafort oder Peñafort): Summa de paenitentia, Buch 2, 8. Titel, De negotiis saecularibus, § 5, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  564  f. – Die Herausgeber machen klar, dass die unter verschiedenen Titeln überlieferte bzw. nachgedruckte Schrift des großen Kirchenrechtlers (und 3. Generaloberen des Dominikanerordens) – »Summa«, »Summa Raymundi«, »Summa casuum«, »Summa de poenitentia et matrimonio« – richtig und autographisch verbürgt »Summa de paenitentia« heißt (a. a . O., Prolegomena, S.  X LIX–LXIII ).

Anmerkungen

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37  Jes 1, 22. 38  Jes 1, 25. 39  Der Begriff »usura« (Wucher) meint heute etwas anderes als im Mittelalter (vgl. § 138 Abs.  2 BGB). Für Olivi bedeutet Wucher das Geldverleihen gegen Zins. Es war im Mittelalter verboten und galt als Sünde. Vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., II-II, qu.  78; DThA 18, S.  363  ff. – Im Folgenden können daher die Begriffe »Wucher«, »Zins«, »Wucherzins« als deckungsgleich gelten. 40  Anspielung auf Lukas 6, 35: »mutuum date nihil inde sperantes« – »Ihr aber sollt leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt.« Diese Bibelstelle war zentral für das mittelalterliche Zinsverbot (s. u., Nr.  33). – Olivi selbst legt das Zitat anders aus, wie unten in Nr.  59 deutlich wird. 41  Deuteronomium 28, 12. 42  Deuteronomium 23, 20  f. 43  Ambrosius: De Tobia, cap.  15, nr.  51, übers. und hg. von Marta Giacchero, Genf 1965, S.  127; Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  4, cap.  12 (Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  738). 44  Ezechiel 18, 8. 45  Ezechiel, 18, 10–13. 46  Ezechiel 18, 17. – Vgl. Hieronymus, Ezechiel-Kommentar, Buch VI, cap.  18; PL 25, col.  176 B – 177 A (Hinweis bei Spicciani, S.  99). – Hieronymus bezieht sich auf die fast gleichlautende, weiter oben genannte Stelle (Ezechiel 18, 8). 47  Psalm 55 (nach moderner Zählung), 10–12. 48  Psalm 15, Vers 1 und 5. 49  Sprichwörter 28, 8. 50  Exodus 22, 24. 51  Psalm 72, 14. 52  Levitikus 25, 36  f. 53  Nehemia (= 2 Esra) 5, 7 und 11. 54  S. o., Nr.  9 und Anm.  42. 55  Das Buch der Sprichwörter (s. o., Nr.  15 und Anm.  49) beginnt mit der Überschrift »Sprichwörter Salomos, des Sohnes Davids«. 56  Der Gedanke ist: Beim Darlehen auf Zins (in der Scholastik = Wucher) gibt es zwei Seiten. Auf Seiten des Darlehensgebers ist es immer verboten, Zinsen zu verlangen; auf Seiten des Darlehensnehmers ist es nicht unbedingt verboten, Zinsen zu bezahlen, denn das ist für ihn unter Umständen vorteilhafter, als gar kein Geld geliehen zu bekommen (vgl. Thomas

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Anmerkungen

von Aquin, Summa theol., II-II, qu.  78, art.  4). Sollten die Zinsregeln also nur innerhalb einer Glaubensgemeinschaft gelten, würde gerade ein Glaubensbruder von etwaigen Vorteilen (nämlich sich gegen Zins Geld leihen zu können) ausgeschlossen. Dahinter steht die Überzeugung Olivis, dass über die Rechtfertigung des Zinses letztlich nicht je nach Glaubenszugehörigkeit, sondern nur durch naturrechtliche Argumente, die für alle Menschen gelten, entschieden werden kann (siehe Nr.  22). 57  Lukas 10, 30–37. – Eine sehr gedrängte Argumentation für die Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen. 58  Kultvorschriften (praecepta cerimonialia) spielten im Alten Testament eine große Rolle. Sie haben nach der Menschwerdung Jesu Christi – d. h. im Neuen Testament – keine Gültigkeit mehr. Vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., I-II, qu.  99, art.  3–5; qu.  101–103 (DThA 13, S.  176–188, S.  251– 402). 59  Die erste Reihe der Argumente für ein absolutes Zinsverbot – aus der Hl. Schrift – war in Nr.  11 angekündigt worden. 60  Augustinus: Enarrationes in Psalmos I–L, Psalm 36, sermo 3, nr.  6, Turnhout 1956, S.  372, Z.  18–24 (Corpus Christianorum Series Latina, Bd.  38); Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  3, cap.  1 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  735). 61  Augustinus: Brief 153, An Macedonius, Kap.  25, in: Des hl. Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte Briefe, 2. Bd., 3. Buch, Kempten & München 1917, S.  102 (= Bibliothek der Kirchenväter, Bd.  30); Decretum Gratiani 2. Teil, Causa 14, qu.  4, cap.  11 (Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  738). 62  Augustinus: Über die Worte des Herrn, Predigt 113, cap. 2, PL 38, col.  649; Decretum Gratiani 2. Teil, Causa 14, qu.  5, cap.  1 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  738). 63  Hieronymus: Ezechiel-Kommentar, Buch VI, cap.  18, PL 25, col.  176 C; Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  3, cap.  2 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  735). 64  Gemeint ist wohl so etwas wie ein Zwangs-Rabatt. 65  Ambrosius: De Tobia (wie Anm.  43), cap.  14, nr.  49, S.  125; Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  3, cap.  3 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  735). – Vgl. Levitikus 25, 37 (s. o., Nr.  17 und Anm.  52). 66  Ambrosius: Der Tod – ein Gut (De bono mortis), Kap.  12, Nr.  56; Freiburg 1992, S.  86. – Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  4, cap.  10 (Cor-

Anmerkungen

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pus Iuris Canonici, a. a. O., Sp.  738). – Die von Olivi zitierten Quaestionen umfassen in der Ausgabe von E. Friedberg die Spalten 734–742. 67  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 3. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  812); 3. Laterankonzil (1179), Canon 25. 68  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 5. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  812  f.). 69  Augustinus: Brief 153, An Macedonius, Kap.  20 (wie Anm.  61); Liber Extra (wie vorige Anm.); vgl. Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu. 6, cap.  1 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  742  f.). 70  Lukas 6, 35. 71  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 10. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  814). 72  Lt. Duden ein altes Getreidemaß (15 l). 73  Digesta Iustiniani, Buch 12, 1. Titel, lex 2 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  I, S.  357): »Appellata est autem mutui datio ab eo, quod de meo tuum fit«; Isidor, Etymologien, Buch V, cap.  25, nr.  18, PL 82, col.  207: »Mutuum appellatum est quia id, quod a me tibi datur, ex meo tuum fit.« 74  Das Argument, mit z. T. gleicher Formulierung, auch bei Thomas von Aquin: Summa theol., II-II, qu.  78, art.  1, c. (DThA 18, S.  365  f.). 75  Das Geld »selbst als solches« – diese Formulierung könnte verweisen auf den Unterschied von »simplex pecunia« (dem als Tauschmittel zirkulierenden Geld) und »capitale« (dem in ein riskantes Geschäft investierten Geld): s. unten im Anhang zum zweiten Teil (»Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen«), Nr.  47, 51, 63. 76  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  3, cap.  4 (Corpus Iuris Canonici, Bd. 1, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  735). – Olivi spielt hier mit der doppelten Bedeutung von »sors«, was einerseits die Stammsumme, den eingesetzten Geldbetrag, meint, andererseits auch »Los« heißen kann (vgl. Piron, S.  354, zu Nr.  39). 77  Hier verwendet Olivi den Begriff »capitale« noch nicht in der Bedeutung, die er später herausarbeiten wird (s. o., Anm.  75). 78  Aristoteles, Politik, I, 9 (1257 b 20 – 1258 a 19), 10 (1258 a 38 – b 4). – Fruchtbar, so lässt sich die Position des Aristoteles auf den Punkt bringen, sind Pflanzen und Tiere. Auf ihnen beruht die Hauswirtschaft (Ökonomie), die dem guten Leben dient. Da nicht alles an einem Ort gedeiht, wird diese Wirtschaftsform ergänzt durch den Handel, der das Geld als Tauschmit-

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Anmerkungen

tel braucht. Das Geld aber nun seinerseits als fruchtbar anzusehen (diese Frucht ist der Zins), um den Gelderwerb ins Endlose auszudehnen, heißt, aus einem Mittel einen Selbstzweck zu machen und die Natur der Dinge auf den Kopf zu stellen. 79  Zu Olivis Analyse gehört der Aufweis, dass der Wucher nicht zuletzt dem Wucherer selbst schadet. – In diesem Sinn äußerte vor 100 Jahren Charles Péguy: »Der Geizige ist verschwenderisch. […] Er verschwendet und verschleudert seine Seele, die er für nichts, für Geld verkauft hat.« Note conjointe sur M. Descartes et la philosophie cartésienne (1914), in: Œuvres en Prose II, Paris 1961, S.  149. 80  Aristoteles, Politik, I, 9 (1258 a 1). 81  Aristoteles, Politik, I, 9 (1258 a 12–14). 82  Der vierte Teil der Argumentation für das Zinsverbot – nach der Berufung auf die Hl. Schrift, Autoritäten und Vernunftgründe – beleuchtet die moralisch katastrophalen Folgen der Zinswirtschaft. Dass hier sieben Punkte angeführt werden, dürfte kein Zufall sein: sieben ist die heilige Zahl, die an vielen Stellen in Olivis Werk eine große Rolle spielt (besonders in seiner »Lectura super Apocalipsim«). 83  Vgl. oben, Nr.  2–10. 84  Hier kommt zum ersten Mal in unserem Text der Begriff »interesse« vor, im anschließenden Teil (»Klarstellung weiterer Fragen …«) noch einmal in Nr.  19, dreimal in Nr.  45, einmal in Nr.  59 und viermal in Nr.  61; schließlich im dritten Teil dreimal in Nr.  21 und einmal in Nr.  22). S.  auch die Anm.  121, 127 und 128 im dritten Teil. Wir vermeiden die etymologisch naheliegende Übersetzung mit »Zins«. »Interesse« ist im Latein des 13. Jahrhunderts noch kein geldtheoretischer Fachbegriff, es ist hier jedes Mal ein begründeter Anspruch auf eine Ausgleichszahlung (für einen entgangenen Gewinn, für einen erlittenen Schaden) gemeint, niemals aber – wie in der Neuzeit üblich – ein dem Darlehen als solchem innewohnender Anspruch auf einen »Preis für die Überlassung des Geldes«. Interessant ist hier ein Vergleich mit einer Stelle aus der Summa fratris Alexandri, III, Nr.  586, Quaracchi 1948, Bd.  I V, S.  912, in der die Begriffe »usura« und »interesse« in einem Atemzug genannt sind: »Sunt tamen casus in quibus usura est permissa […], ›[…] Secundus, ubi usurae petuntur cum interesse, verbi gratia, si fideiussor solvit usuras creditori, potest eas petere a debitore pro quo fideiusserat, quia non sunt usurae quantum ad fideiussorem, sed potius quantum ad interesse‹, quia ›non est lucrum, sed vitatio damni‹.« – »Es gibt freilich Fälle, in denen usura (hier könnte man

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übersetzen »Wucher«, oder »Zins«, P. N.) erlaubt ist …, ›… Der zweite, wo usurae mit interesse (hier ist offenbar der Rechtfertigungsgrund angegeben, übersetzbar etwa »mit einem Ausgleichsanspruch«, P. N.) verlangt werden, z. B. wenn ein Bürge einem Gläubiger usuras bezahlt hat, kann er sie von dem Schuldner, für den er gebürgt hatte, verlangen, denn es sind nicht usurae (Wucherzinsen) für den Bürgen, sondern sie dienen eher seinem interesse (Ausgleichsanspruch)‹, denn ›es handelt sich nicht um Gewinn, sondern um Schadensvermeidung‹.« – Die Fälle, in denen Wucher (usura) erlaubt ist, stehen bereits bei Raimundus de Pennaforte, Summa de paenitentia, Buch 2, 7. Titel, De usuris et pignoribus, § 3, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  539  f., hier die Formulierung »ubi usurae petuntur quasi interesse« (ebd., Sp.  539). – Den Hinweis auf Raimundus verdanken wir der Summa fratris Alexandri, a. a. O., S.  912, Anm.  1. 85  Eine Absprache zur Vermeidung eines Schadens beim Darlehensgeber wird schon bei Thomas von Aquin für rechtmäßig erklärt: Summa theol., II-II, qu.  78, art.  2, ad 1 (DThA 18, S.  373  f.). – Die vorgetragenen Argumente bereiten die im Anhang zum zweiten Teil (»Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen«, Nr.  47, 51, 63) entfalteten Überlegungen vor. An sich ist Geld gleich Geld; ist aber schon eine bestimmte Absicht mit seiner Verwendung verbunden – hier die Vermeidung eines Schadens, später der Einsatz für ein geschäftliches Vorhaben – so entsteht, wie es unten in Nr.  63 heißen wird, ein »Mehrwert«. 86  Vgl. Röm 11, 6. 87  Raimundus de Pennaforte: Summa de paenitentia, Buch 2, 7. Titel, De usuris et pignoribus, § 4, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  541  f. 88  Vgl. Summa fratris Alexandri, III, Nr.  379, Quaracchi 1948, Bd.  I V, S.  564  f.; Nr.  587; a. a. O., S.  913  f. 89  Vgl. Guillaume de Rennes (Guillelmus Redonensis): Glossa super Summam Raymundi (vgl. Anm.  87), Avignon 1715, De usuris, § 4, Anmerkung zu »in faciendo«, S.  328. 90  Das Darlehen ist eine Hilfsaktion für den in Not geratenen Nächsten. Wer sich dabei eine Hintertür für einen Gewinn offenhält, wird unversehens zum Wucherer und agiert damit moralisch schlechter, als wenn er von vornherein gar kein Darlehen gewährt hätte. 91  Wilhelm von Auxerre: Summa aurea, III/2, hg. von Jean Ribaillier, Grottaferrata 1986, S.  911. Wilhelm von Auxerre hat in der Summa aurea einen eigenen Traktat »De usura«, der das Thema viel eingehender erör-

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Anmerkungen

tert, als die beiläufige Erwähnung vermuten lässt: tract. XLVIII, a. a . O., S.  909–938. 92 Petrus Johannis Olivi: Lectura super Lucam, Grottaferrata 2010, S.  343–346. Vgl. Piron, S.  405–411, hier S.  409–411. – Olivi legt die Stelle so aus, dass es hier gar nicht um das Zinsverbot geht, sondern um etwas viel Radikaleres: Die Jünger Jesu sollen von einem Darlehen buchstäblich nichts, also nicht einmal dessen Rückerstattung, erhoffen. 93  Ehelosigkeit, Armut, Gehorsam – als Räte für diejenigen, die sich um besondere Vollkommenheit in der Nachfolge Jesu bemühen, im Unterschied zu den für alle verpflichtenden Zehn Geboten das Alten Testaments. 94  Ein Beispiel wäre die mietweise Überlassung eines Trüffelhunds. Die mietweise Überlassung von Geld würde einer solchen Rechtfertigung entbehren. Olivi hat hier folgende Differenzierungen im Auge: eine Mietsache, bei der der Gebrauch sich vom Verbrauch unterscheidet (Haus gegenüber Geld) – eine Mietsache, die darüber hinaus einen verkäuflichen Mehrwert birgt (der Trüffelhund) – ein Gelddarlehen, bei dem Gebrauch und Verkauf zusammenfallen (so dass die Forderung von Zinsen ungerechtfertigter Wucher wäre) – eine Investition, bei der das Geld durch die Fähigkeit und den Fleiß des Nutzers (des damit arbeitenden Kaufmanns) einen Mehrwert erlangt, der verkauft werden kann. Diesen Fall erwägt Olivi im Anhang zum zweiten Teil (»Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen«), Nr.  25 und Nr.  36 und bereitet so die Unterscheidung von »einfachem Geld« und »Kapital« vor. Olivis Pointe: Obwohl der Mehrwert nicht im Geld als solchem liegt, sondern erst durch »Fleiß und Tätigkeit« des Nutzers (des Kaufmanns) aktualisiert wird, kann der Kapitalgeber ihn an den damit Handel treibenden Kaufmann verkaufen (s. u., Nr.  43, 45, 47). Denn durch die Bestimmung des Geldes für lukrative Geschäfte erwirbt es bereits einen potentiellen Mehrwert – eben die »capitalitas«, von der Olivi unten, Nr.  47 spricht. Dass der Kaufmann dabei ebenfalls auf seine Kosten kommt, liegt daran, dass der von ihm konkret aktualisierte Mehrwert höher ist als der potentielle / wahrscheinliche Mehrwert, den er dem Anleger des Kapitals abkauft (s. u., Nr.  43, 51). Den Zusammenhang dieser Überlegungen signalisieren die Ausdrücke »ex solo actu et industria utentis« (s. o., Nr.  61), »ex utentis tamen facultate et industria« (s. u., Nr.  25), »ex mercantis industria et actu« (s. u., Nr.  36). 95  Vgl. Thomas von Aquin: Summa theol., II-II, qu.  78, art.  1, ad 6; DThA 18, S.  369  f. – Vgl. Digesta Iustiniani, Buch 7, 1. Titel, lex 28 (hg. von Th. Mommsen, Bd. I, S.  224).

Anmerkungen

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96  Vgl. Deuteronomium 24, 1. – Anders Matthäus, 5, 31; 19, 7–9. 97  Vgl. Deuteronomium 20, 10–17. 98  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel (De usuris), 1. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  811). 99 Ärgernis, scandalum: vgl. z. B. Mt 18, 6 f (s. auch Mt 11, 6): Thomas von Aquin erläutert: »Es kommt zuweilen vor, daß einem ein Hindernis auf den Weg gelegt wird und er, wenn er daran stößt, in die unmittelbare Gefahr kommt zu fallen. Ein solches Hindernis heißt scandalum (Ärgernis).« Summa theol., II-II, qu.  43, art.  1 (DThA 17 B, S.  112). Die Unterscheidung von »scandalum activum« und »scandalum passivum« findet sich in Summa theol., II-II, qu.  78, art.  4, ad 2 (DThA 18, S.  383). Erklärt wird sie in Summa theol., II-II, qu.  43, art.  2; DThA 17 B, S.  117: »Es gibt ein zweifaches Ärgernis: nämlich das Ärgernis-nehmen (scandalum passivum) und das Ärgernis-geben (scandalum activum), das Anlaß zum Fall gibt«. 100  Zum gleichen Ergebnis – auf Seiten des Kreditnehmers ist das an sich verbotene Zinsgeschäft erlaubt, wenn es um die Abwendung einer Not geht – kommt Thomas von Aquin: Summa theol., II-II, qu.  78, art.  4; DThA 18, S.  381  f. 101  Augustinus: »sicut autem bono male uti malum est, sic malo bene uti bonum est. […] sicut ergo melius est bene uti bono quam bene uti malo, cum sit utrumque bonum …« De peccatorum meritis et remissione, I, cap.  29, nr.  57, in: Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum, Bd. 60, hg. von Carl Franz Urba und Joseph Zycha, Wien, Leipzig 1913, S.  56; vgl. Augustinus, Über die Worte des Herrn, Predigt 113, cap.  3, PL 38, col.  650; vgl. Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  5, cap.  1 4 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  741 – Hinweis bei Spicciani, S.  113). 102  Augustinus: Brief 47, zitiert bei Thomas (s. o., Anm.  100). 103  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 10. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  814). 104  Die beiden Fälle behandelt bereits Thomas von Aquin in Summa theol., II-II, qu.  78, art.  2, ad 7 (DThA 18, S.  376  f.); vgl. Piron, S.  361, Anm.  76. 105  Freie Übersetzung von »pecunia« – was Olivi beschreibt, ist offensichtlich ein Währungsgeschäft. 106  Die Konstruktion des Darlehens ist so: Der Käufer schuldet dem Verkäufer eigentlich einen höheren Preis. Da er aber vor der Fälligkeit zahlt (der Tausch von Ware gegen Geld müsste ja eigentlich gleichzeitig erfolgen),

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Anmerkungen

stellt er dem Verkäufer Geld zur Verfügung, leiht es ihm sozusagen, und fordert dafür einen Preis, der sich in der Minderung des Kaufpreises (im Zurückbehalten eines Teils des eigentlich später fälligen Kaufpreises) ausdrückt. Damit ist für Olivi der Tatbestand des Wuchers erfüllt. 107  Damit ist der östliche Mittelmeerraum gemeint; vgl. Piron, S.  115, Anm.  17. 108  A hat in Wirklichkeit dem B gar nichts abgekauft, ihm also auch keinen Kaufpreis gezahlt. 109  Das Geschäft ist etwas kompliziert. Letztendlich geht es nicht um Kauf und Verkauf, sondern um ein verschleiertes Darlehen. Die Ware soll beim Eigentümer (B) bleiben. Wer ist hier der Gewinner, wer der Verlierer? A gibt dem B gar nicht die vereinbarten 1000 Schilling (er übernimmt nur die Verpflichtung dazu), es erfolgt sogleich der Rückkauf der Ware durch B, der dann dem A reell 900 Schilling auszahlt. Unter dem Vorwand dieses Scheinverkaufs erhält in Wirklichkeit A ein Darlehen von 900 Schilling, schuldet dem B aber (auf Grund des ersten, fiktiven Kaufs) in Wirklichkeit 1000. Die 100 Schilling Differenz sind die dem A auferlegten (­Wucher-) Zinsen. 110  Zu denken wäre hier an die Situation, dass der Marktpreis inzwischen fällt, der Verkäufer aber den zur Zeit des Vertragsschlusses gültigen Preis aufrechterhält. 111  Ein Pfund = 20 Schilling; ein Gewinn von 10 bis 20 % ist also legitim. 112  Die Lehre von den Gegensätzen kommt im 10. Kapitel von Aristoteles’ Kategorienschrift vor und wird in der Argumentationslehre der Topik (II, 6–8) wieder aufgenommen: Unter »Topoi der Gegensätze« fallen Kontrarietät, Privation, Kontradiktion und Relation (Michael Schramm: Die Prinzipien der Aristotelischen Topik, Leipzig 2004, S.  162). Piron verweist auf Boethius, De differentiis topicis (Patrologia Latina, Bd.  64, Sp.  1191 C: »Locus ab oppositis, id est ex contrario«; Piron, S.  364, zu Nr.  23). Auch in der mittelalterlichen Logik ist der »locus ab oppositis« präsent, z. B. bei Peter Abaelard. In seiner großen Dialectica heißt der dritte Traktat »Topica«, dessen erstes Buch handelt »De locis«, »De loco ab oppositis« wird auf mehreren Seiten abgehandelt. Petrus Abaelardus: Dialectica, hg von L. M. de Rijk, Assen 1956, S.  393–397. Das argumentationstechnische Prinzip dabei beschreibt Abaelard so: »Est autem oppositorum communis inferentiae modus quem oppositionis natura exigit huiusmodi ut altero posito alterum tollitur.« »Die allgemeine Folgerungsart, die die Natur des Gegensatzes fordert, ist, dass, wenn das eine gesetzt wird, das andere aufgehoben wird.«

Anmerkungen

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A. a. O., S.  393. – Ohne hier in die Feinheiten der Logik zu gehen, kann man an die verwandte Figur des »argumentum e contrario« in der juristischen Argumentation denken: Wenn ein Verhalten unter einer bestimmten Bedingung verboten ist, ist es unter Wegfall der Bedingung erlaubt, Beispiel: »Betreten des Parks ab 18 Uhr verboten« – dann kann man schließen, dass es vor 18 Uhr erlaubt ist. Bezogen auf unseren Fall: Wenn man die Zeit, die einem nicht gehört, nicht verkaufen darf, dann darf man die Zeit, die ­einem gehört, verkaufen (wenn sie einen Geldwert hat). 113  Dem Darlehensempfänger gehört die »Zeit des Geldes«: Diese Zeit kann er also verkaufen, z. B. indem er das Geld dem Gläubiger früher zurückgibt als vereinbart. Olivi bricht mit der Vorstellung, die Zeit sei allem Existierenden gemeinsam und könne daher nicht verkauft werden. Vielmehr insistiert er auf der Eigenzeit der Dinge, so dass unterschieden werden kann zwischen einer Zeit des Geldes, die dem Darlehensnehmer gehört, und einer, die ihm nicht gehört. Die eine kann verkauft werden, die andere nicht (s. o., Anm.  112). – Vgl. Piron, S.  363, zu Nr.  22 mit dem Hinweis auf die Quaestio 10 aus Olivis Quaestiones in secundum librum Sententiarum, hg. von B. Jansen, Bd.  I, Quaracchi 1922, S.  188–196: Hier wird die These erwogen, ob es nicht so viele Dauern und Zeiten gibt wie existierende Dinge (»aliqui aliquando dicere voluerunt quod essent tot durationes et tempora quot sunt durabilia«, a. a. O., S.  189). 114  Die berühmteste Stelle, die das eigentliche Vergehen des Wuchers im Verkauf der von Gott unterschiedslos allen geschenkten Zeit sieht, ist wohl die aus dem Usura-Traktat des Wilhelm von Auxerre: »Proprium enim ist usurarii vendere tempus, et propter hoc dicitur in Ecclesiastico de avaro gratia usurarii: Avaro nichil est scelestius vel iniquius, […] facit enim contra legem naturalem universalem, quia vendit tempus, quod commune est omnium creaturarum; dicit enim Augustinus quod ›indicium est summe largitatis Dei quod quelibet creatura compellatur dare se ipsam. […]‹; nichil autem dat se sicut tempus, quia velint nolint reges, tempus habent pauperes; quia ergo usurarius vendit, quod de necessitate est omnium creaturarum, creaturis omnibus iniuriatur, et lapidibus; unde si homines tacerent contra usurarios, lapides clamarent, si possent«. »Es charakterisiert nämlich den Wucherer, dass er die Zeit verkauft, und deshalb heißt es im Buch Jesus Sirach über den Geizigen, d. h. den Wucherer: Nichts ist ruch­ loser oder ungerechter als der Geizige, […] er handelt nämlich gegen das allgemeine natürliche Gesetz, weil er die Zeit verkauft, die allen Geschöpfen zusammen gehört; denn Augustinus sagt, ›es ist ein Zeichen von Got-

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Anmerkungen

tes höchster Großzügigkeit, dass jedes Geschöpf gezwungen ist, sich selbst zu geben. […]‹; nichts aber gibt sich so wie die Zeit, denn ob die Könige es wollen oder nicht, Zeit haben [auch] die Armen. Weil nun der Wucherer verkauft, was notwendig allen Geschöpfen gehört, so tut er allen Geschöpfen Unrecht, sogar den Steinen. Wenn also die Menschen gegenüber den Wucherern schwiegen, so würden die Steine aufschreien, wenn sie könnten«. Wilhelm von Auxerre: Summa aurea, III/2, hg. von Jean Ribaillier, Grottaferrata 1986, S.  931. 115  Vgl. Anm.  113. 116  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 19. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  816). 117  Der folgende Text (Nr.  35–52) ist eine spätere Einfügung Olivis. Sie stellt »die theoretische Apotheose« (Piron, S.  366) des Traktats dar. Olivi entwickelt hier die Unterscheidung von »Geld« und »Kapital«. 118  S.  oben, 2. Teil, 8. Frage, III. Abschnitt, »Vernunftgründe«. 119  Mit dieser Wendung leitet Olivi typischerweise seinen eigenen (vom Mainstream abweichenden) Standpunkt ein. 120  S.  u nten, Nr.  59–64, Sechste Klarstellung. 121  Die naheliegende wörtliche Übersetzung von »interesse lucri« als »Zins des Gewinns« wäre begrifflich verwirrend. Es wird ja nicht für eine Verzinsung des entgangenen Gewinns argumentiert, sondern der entgangene Gewinn selber ist das legitime »Interesse« des Kapitalinhabers – der aus dem Kapital erhoffte Vorteil. Das mittelalterliche Wort für »Zins« ist »usura« – »interesse« hat eine neutralere Bedeutung. S. auch unten, Nr.  59 und Anm.  127 und 128. 122  Im Vertragsmodell der »locatio« wird die Gebrauchsüberlassung vom Recht der Fruchtziehung unterschieden. In unserem Fall könnte z. B. der Mieter des Pferdes eine zusätzliche Vereinbarung treffen, um für den Fall, dass das Pferd Junge bekommt, sich den daraus resultierenden Gewinn zu sichern. 123 Es werden nun die eingangs genannten vier Gegenargumente (Nr.  36–39) abgearbeitet. 124  Hier unterscheidet Olivi zum ersten Mal zwischen »capitale« und »simplex pecunia«, also zwischen Kapital und Geld. Eine weitere Erläuterung gibt er unten in Nr.  63. 125  Die in Nr.  39 geschilderte Situation könnte auch so verstanden werden, dass der Kaufmann zwar Geschäfte unternimmt, aber dabei keinen Gewinn macht. In Nr.  52 ist sie dahingehend präzisiert, dass er – vertrags-

Anmerkungen

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widrig – das Kapital gar nicht zum Einsatz bringt. Dann muss er sich an die Abmachung halten; allerdings kommt ihm ein Abschlag zugute, mit dem der Tatsache Rechnung getragen wird, dass keine Gefahr für das Kapital bestand. 126  Vgl. Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 3, 17. Titel, 5. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  519), sowie 21. Titel, 4. Kap. (a. a. O., Sp.  526  f.). 127  Vgl. oben Anm.  121: das Wort »interesse« wird hier nicht mit »Zins« übersetzt (dafür stünde »usura«). 128  Das ist die Meinung von Thomas von Aquin: Summa theol., II-II, qu.  78, art.  2, ad 1 (DThA, Bd.  18, S.  373  f.). – Vgl. Thomas von Aquin: Quaestiones disputatae de malo, qu.  13, art.  4, obi.  14 und ad 14. – Hier (obi.  14) fällt auch der Begriff »interesse«. Die deutsche Ausgabe übersetzt ihn mit »Ausgleichszahlung« und merkt an, dass das Wort »interesse« bei Thomas nur an dieser Stelle verwendet wird. Vgl. Thomas von Aquin: Vom Übel. De malo, Teilband 2, übers. von Christian Schäfer, Hamburg (Felix Meiner) 2010, S.  155 und Anm.  69. Der Artikel fragt »Ist Leihen mit Zinsnahme eine Todsünde?« (ebd., S.  152), »Utrum mutuare ad usuram sit peccatum mortale« und macht einen eigenen kleinen Traktat aus (ebd., S.  152–165). – Vgl. auch Innozenz IV.: In Quinque Libros Decretalium Commentaria, Buch 5, Rubrica 19 (De usuris), 18. Kap. (Naviganti), Venedig 1578, Blatt 214. 129  Raimundus de Pennaforte (Raimund von Penyafort oder Peñafort): Summa de paenitentia, Buch 2, 7. Titel, De usuris et pignoribus, § 7, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  544  f.; Henricus de Segusio (Hostiensis): In quintum decretalium librum commentaria, Buch 5, 19. Titel, 6. Kap; Venedig 1571, S.  58 (Piron, S.  231, Anm.  19). In der spanischen Ausgabe von Olivi: Tratado de los contratos, übers. von Pedro Ramis Serra und Rafael Ramis Barceló, Madrid 2017, S.  135, Anm.  205 heißt es: Venedig 1581. Die Angabe konnte nicht überprüft werden. 130  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 19. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  816). – Es handelt sich offenbar um ein Termingeschäft, mit der Besonderheit, dass die Lieferung der Ware sofort erfolgt, der Preis aber erst zu dem (im Vorhinein zu bestimmenden) Termin der Hochpreisphase ermittelt und folglich wohl auch bezahlt wird. – Auch Wilhelm von Auxerre behandelt den Fall in seinem Usura-Traktat: »Jemand sagt also so: ich verkaufe Dir mein Getreide, und Du gibst mir soviel, wie es zu der Zeit wert sein wird, wenn es teurer ist als dieses Jahr. Es fragt sich, ob dieser Vertrag wucherisch ist.« –

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Anmerkungen

»Aliquis ergo dicit ita: vendo tibi bladum meum, ut reddas michi tantum, quantum valebit in tempore, in quo carius hoc anno. Queritur utrum iste contractus sit usurarius.« Wilhelm von Auxerre: Summa aurea, III/2, hg. von Jean Ribaillier, Grottaferrata 1986, S.  928. – Ähnlich wie Olivi (s. u.: Dritter Teil: Über Rückerstattungen, Nr.  3 bis 32: neun Regeln) stellt Wilhelm von Auxerre hier auch einige Regeln (insgesamt drei) auf, um den Fall zu lösen (a. a. O., S.  929). 131  Lat. »ratio seminalis lucri«, schwer zu umschreiben: samenartiger Grund des Gewinns – der Grund dafür, im Kapital schon jetzt (im Zeitpunkt der Übergabe) mehr als bloßes Geld zu sehen, sondern eben einen Mehrwert, der aus der Geldanlage erwächst. Über den stoisch-augustinischen Begriff »ratio seminalis« handelt Olivi auch an anderer Stelle: Quaestiones in secundum librum Sententiarum, hg. von Bernhard Jansen, Bd. I, Quaracchi 1922, S.  508–570 (qu.  31). – Über den Zusammenhang dieser Lehre mit Olivis Impetusbegriff vgl. Michael Wolff: »Mehrwert und Impetus bei Petrus Johannis Olivi«, in: Sozialer Wandel im Mittelalter, hg. von Jürgen Miethke und Klaus Schreiner, Sigmaringen 1994, S.  413–423, hier S.  416  f. – S. auch oben, Nr.  45. 132  Mit Recht nennt man diese Passage die berühmteste des Traktats, vgl. Giovanni Ceccarelli: »Il Tractatus de contractibus di Olivi nel discorso economico dei Frati minori«, in: Pietro di Giovanni Olivi Frate minore. Atti del XLIII Convegno internazionale, Spoleto 2016, S.  241–275, hier S.  265. 133  Quodlibet I, 17, bei Piron S.  395–401. Auch hier geht es um den Begriff des Kapitals. – Die geschilderte Situation trägt Züge eines Glücksspiels. Sie ist im genannten Quodlibet und auch sonst bei Olivi präsent, s. auch unten, Nr.  79 und 3. Teil, Nr.  17, 18. – Vgl. Giovanni Ceccarelli: Le jeu comme contrat et le risicum chez Olivi, in A. Boureau, S.  Piron (Hg.): Pierre de Jean Olivi (1248–1298), Paris 1999, S.  239–250, hier S.  248. 134  Guillaume de Rennes (Guillelmus Redonensis): Glossa super Summam Raymundi (vgl. Anm.  129), Avignon 1715, De usuris § 8, Anmerkung zu »qui emunt«, S.  334. 135  S.  oben, 2. Teil, Nr.  34 und Anm.  72. 136  Guillaume de Rennes (wie Anm.  134). Vgl. Piron, S.  235, Anm.  23 und 24. 137  Guillaume de Rennes, ebd. 138 Ebd. 139  Wörtlich: »zwanzig Schafsköpfe«, viginta capita ovium: die etymologische Wurzel des Kapital-Begriffs.

Anmerkungen

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140  Guillaume de Rennes, ebd., Anmerkung zu »quod dixi«, a. a. O., S.  335. 141  Guillaume de Rennes, ebd. 142  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 19. Titel, 16. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  815). 143  Vgl. Nr.  56. 144  Guillaume de Rennes, a. a. O. 145  Giovanni Ceccarelli, der sich mehrfach mit Olivi als einem der ersten (Glücks-)Spiel- und Risikotheoretiker befasst hat, erklärt, dass hier das Risiko eigentlich nur von einem der beiden Spieler getragen wird (Ceccarelli, wie Anm.  133, S.  248, vgl. ders.: Il gioco e il peccato. Economia e rischio nel Tardo Medioevo, Bologna 2003, S.  181–255). S. Piron, S.  374, Kommentar zu Nr.  79 und Anm.  113. 146  Guillaume de Rennes, a. a . O. (wie Anm.  1 40). – Für die »unsterblichen Schafe« verweist Piron (S.  245, Anm.  33) auf die »Summa de sacramentis et animae consiliis« von Petrus Cantor. 147  Vgl. Nr.  62. 148  Dieses Thema wird bereits in einer eigenen Quaestio in acht Artikeln in der Summa theol., II-II, qu. 62 behandelt (DThA 18, S.  108–135; vgl. Piron, S.  253, Anm.  10 u. ö.). 149  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  6, cap.  1 (Corpus Iuris Canonici, Bd.  1, hg. von Emil Friedberg, Leipzig 1879, Sp.  742  f.); Augustinus: Brief 153, An Macedonius, Kap.  20  ff. (wie Anm.  61, S.  96  ff.). 150  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  5, c.  6 (Corpus Iuris Canonici, wie Anm.  149, Sp.  739) und c.  8 (ebd. Sp.  740). 151  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  5, c.  4 (Corpus Iuris Canonici, wie Anm.  149, Sp.  739); vgl. Raimundus de Pennaforte: Summa de paenitentia, Buch 2, 6. Titel, De furtis, § 9, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  533  f. 152  Vgl. die Gesamtschuld in § 830 BGB. 153  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 36. Titel, 9. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  880). 154  Hier ist ein Problem der scholastischen Ontologie angesprochen: eine privatio (Beraubung, z. B. des Augenlichts) hat den Status eines malum, eines Übels; dieses aber hat kein eigenes Sein – wie kann also das, was nicht ist, Ursache sein? Vgl. Thomas von Aquin: Scriptum super Sententiis, lib. II, dist.  34., qu.  1, art.  2, co. 155  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu. 6, c.  1, § 3 (Corpus Iuris Cano­nici, wie Anm.  149, Sp.  743).

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Anmerkungen

156  Augustinus: Contra Faustum Manichaeum, Buch 22, Kap.  74  f., hg. von J. Zycha, Prag, Wien, Leipzig 1891, S.  671–674 (CSEL 25); Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 23, qu.  1, c.  4 (Corpus Iuris Canonici, wie Anm.  1 49, Sp.  892  f.). 157  Digesta Iustiniani, Buch 9, 3. Titel, lex 7 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  I, S.  296); Liber Extra, 5. Buch, 36. Titel, 4. Kap. 158  Digesta Iustiniani, Buch 9, 2. Titel, lex 2 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  I, S.  277  f.). 159  Ein mit Einkünften verbundenes Kirchenamt (Duden). 160  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 3, 5. Titel, 28. und 29. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd.  2 , hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  477  f.). – Zur gerechten bzw. ungerechten Hinderung an der Erlangung einer Pfründe vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., II-II, qu.  62, art.  2, ad  4; DThA 18, S.  114  f. 161  Aus dem Zusammenhang ergibt sich, dass es sich hier weniger um das »ius commune« handelt als um Güter, die dem Recht der Allgemeinheit unterliegen, wie die Allmende. 162  Digesta Iustiniani, Buch 43, 12. Titel, lex 1 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  II, S.  578–580). 163  Vgl. oben, Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen, Anm.  131. 164  Vgl. Decretum Gratiani, 1. Teil, dist.  12, c.  3–10 (Corpus Iuris Canonici, wie Anm.  149, Sp.  27–29). 165  Wilhelm von Auxerre, Summa aurea, III/2, hg. von J. Ribaillier, Grottaferrata 1986, S.  935  f.; Robert de Courçon (Robert von Courson, Robert Curzon, gest.  1219), De usura, hg. von Georges Lefèvre, Lille 1902, S.  32  f. – Hier wird Mt 7, 18 zitiert: »Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten.« Robert von Courson scheint für viele Zitate und Fragestellungen eine Vorlage für Olivi abzugeben. Der Vergleich beider Schriften wäre eine Untersuchung wert. 166  Kauf oder Verkauf geistlicher Ämter, auch von Pfründen, Sakramenten und Reliquien. 167  Vgl. Guillaume de Rennes (Guillelmus Redonensis): Glossa super Summam Raymundi (vgl. Anm.  151), Avignon 1715, De raptoribus, praedonibus et incendiariis § 9, Anmerkung zu »tenentur restituere«, S.  247  f.; Thomas von Aquin, Summa theol., II-II, qu.  62, art.  5, ad 2 (DThA 18, S.  122  f.); qu. 32, art.  7 (DThA 17 A, S.  280  f.), Quodlibet III, qu.  7, art.  2 (Opera Omnia,

Anmerkungen

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Bd.  X XV/2, Rom, Paris 1996, S.  275  f.); Richard de Mediavilla, In IV Sent., dist.  15, art.  5, qu.  6. (Brescia 1591, unv. Nachdruck Frankfurt a. M. 1963, S.  224). – Vgl. Digesta Iustiniani, Buch 12, 5. Titel, lex 4 (hg. von Th. Mommsen, Bd.  I, S.  378). 168  Die komplizierte Formulierung hat evtl. folgenden Hintergrund: Das Kirchenrecht kann Klerikern Bordellbesuch und Glücksspiel verbieten – zivilrechtlich ist das nicht von Belang. 169  Quodlibet I, 16, bei Piron, S.  393–395. 170  Vgl. Henricus de Segusio (Hostiensis): Summa aurea, Buch V, De Poe­nitentiis et remissionibus, § 61, Basel 1573, Sp.  1478. Vgl. Henricus de Segusio (Hostiensis): Summa aurea, Buch V, De Poenitentiis et remissionibus, § 61, Basel 1573, Sp.  1478. Dankenswerterweise ist dieses Werk einsehbar auf der Plattform e-rara, https://doi.org/10.3931/e-rara-1615. 171  Vgl. Thomas von Aquin, Summa theol., II-II, qu. 69, art. 4, ad 2: »Keiner wird dazu verurteilt, sich selbst den Tod zu geben«, DThA 18, S.  258. 172  Vgl. Henricus de Segusio (Hostiensis): Summa aurea, Buch IV, De Coniugio servorum, § 7, Basel 1573, Sp.  1050. Hier werden vier Arten von Irrtümern genannt, darunter die beiden von Olivi erwähnten: der »error fortunae«, wenn man glaubt, mit einem Reichen einen Vertrag abzuschließen, der sich als arm herausstellt; und der »error qualitatis«, wenn man glaubt, der andere sei gut, und er ist schlecht. 173  Vgl. Olivi, Quodlibet IV, 20, ad 1 und 2; in: Quodlibeta quinque, hg. von S. Defraia, Grottaferrata 2002, S.  267  f. 174  Es handelt sich also um vertretbare Sachen (vgl. § 91 BGB) wie Kohle, Getreide oder Vieh. 175  Codex Iustinianus, Buch 3, 5. Titel, constitutio 1 (hg. von Paul Krüger, 7. Aufl. Berlin 1900, S.  125): »Ne quis in sua causa iudicet vel sibi ius dicat.« 176  Olivi nimmt hier die zweite Alternative von Nr.  34, Satz 1, wieder auf. 177  Hier wird die sog. »Geschäftsführung ohne Auftrag« (§§ 677–687 BGB), im römischen Recht »negotiorum gestio«, berührt. Es kommt hierbei nicht auf den tatsächlichen Willen, sondern auf das objektive Interesse der Beteiligten (insbesondere dessen, für den die GoA ausgeführt wird) an. 178  Raimundus de Pennaforte: Summa de paenitentia, Buch 2, 5. Titel, De raptoribus, praedonibus et incendiariis, § 44, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  526. 179  Piron verweist hier auf Clarus Florentinus und seine Casus (Fälle) (S.  277, Anm.  31; S.  383, zu Nr.  40–41). Vgl. dazu Marcin Bukala: Risk and

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Anmerkungen

medieval Negotium. Studies of the Attitude towards Entrepreneurship: from Peter the Chanter to Clarus Florentinus, Spoleto 2014. 180  Numeri 5, 7  f. 181  Vgl. oben, 2. Teil, Nr.  24 und Anm.  58. 182  Numeri 5, 8. 183  Olivi nimmt eine doppelte Unterscheidung vor, um die Macht der Kirche über weltliche Güter zu beschränken: Vergangenheit und Zukunft, göttliche und menschliche Vorschrift. Der kirchlichen Verwaltung unterliegt nur das, was bereits Kirchengut ist, nicht das, was ihr in Zukunft zugewendet werden könnte. Ausschlaggebend ist nicht die göttliche Vorschrift (denn ihr zufolge müssten die Reichen ihren Reichtum aufgeben), sondern das, was menschliche (kirchliche) Regelung zur Aufrechterhaltung des Gottesdienstes bestimmt hat. 184  Über die Verantwortung derer, die am Wuchergeschäft mitwirken, handelt Olivi ausführlicher im Quodlibet IV, 17; vgl. Piron, S.  402–404. 185  Vgl. Guillaume de Rennes (Guillelmus Redonensis): Glossa super Summam Raymundi (vgl. Anm.  151), Avignon 1715, De usuris, § 12, Anmerkung zu »teneatur restituere«, S.  340. 186  Piron (S.  287 und 387) verweist auf die analoge Behandlung dieses Falles bei Clarus Florentinus; vgl. auch Marcin Bukala, s. o., Anm.  179. 187  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 12, qu. 4, c.  1 (Corpus Iuris Canonici, wie Anm.  149, Sp.  7 14). 188  Im ersten Fall bekommt der Wucherer die Sache erst zurück, um sie dann für die Rückerstattung zu verwenden; im zweiten Fall beschließt das Gericht, dass sie direkt für die Rückerstattung herangezogen wird. 189  An dieser Stelle fügen die Codices ABC am Rand ein: »qui prior est in tempore potior est in iure«, »wer zuerst kommt, den stellt das Recht besser«. Vgl. Digesta Iustiniani, Buch 20, 4. Titel, lex 3; hg. von Th. Mommsen, Berlin 1870, Bd.  I, S.  590 (Hinweis in der spanischen Ausgabe von Olivi: Tratado de los contratos, übers. von Pedro Ramis Serra und Rafael Ramis Barceló, Madrid 2017, S.  159, Anm.  289). 190  Digesta Iustiniani, Buch 13, 1. Titel, lex 20; hg. von Th. Mommsen, Bd.  I, S.  393. 191  Piron (S.  295, Anm.  42) verweist auf die Behandlung dieses Themas in Olivis Lectura in quartum librum Sententiarum, dist.  16, art.  20 (dazu Piron, S.  387  f., zu Nr.  60). 192  Decretum Gratiani, 2. Teil, Causa 14, qu.  6, cap.  1 (Corpus Iuris Cano­nici, wie Anm.  149, Sp.  742  f.).

Anmerkungen

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193  Vgl. Raimundus de Pennaforte: Summa de paenitentia, Buch 2, 5. Titel, De raptoribus, praedonibus et incendiariis, § 23, hg. von Javier Ochoa und Luis Díez, Rom 1976, Sp.  497  f. 194  Auch hier verweist Piron (S.  297, Anm.  45) auf die Vorlage in Olivis Lectura in quartum librum Sententiarum, dist.  16, art.  20. 195  Vgl. Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 38. Titel (De poe­ nitentiis et remissionibus), 9. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd. 2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  886). 196  Piron bringt dagegen den Fall emanzipierter Frauen, der bei Henricus de Segusio (Hostiensis) in der Summa aurea, Buch V, De Poenitentiis et remissionibus, § 61, Basel 1573, Sp.  1467 bis) erwähnt wird: »Wenn aber die Frau über den Mann herrscht und ihm so sehr vertraut, dass sie es ihm unbekümmert sagen kann und dass sie daher tun wird, was ihr beliebt, so wie es einige Frauen gibt, von denen man in der Lombardei in der Volkssprache sagt, dass sie die Hosen anhaben (de quibus dicitur vulgariter in Lombardia quod lumbare sive bragarium portant) …« Piron, S.  389, Anm.  166. 197  Piron führt aus Olivis Quodlibet IV, 20 einen solchen Beweis an: wenn der Ehemann vor der Geburt des Sohnes über ein Jahr auf Reisen war (Piron, S.  389  f., zu Nr.  65), in: Quodlibeta quinque, hg. von S. Defraia, Grottaferrata 2002, S.  267, Z.  41  f. 198  Eine Art Termingeschäft: s. o., Klarstellung weiterer Fragen zu den wucherischen Verträgen, Nr.  62, Anm.  130. 199  Sinngemäß ergänzt: Es geht hier darum, den wirklichen Willen beider Vertragsparteien für die jeweils andere sichtbar zu machen. 200  Hier ist das Verhältnis umgekehrt: Der reiche Schuldner bittet den armen Gläubiger um Schuldenerlass. Um sicherzustellen, dass der Gläubiger, der ja hier in einem Abhängigkeitsverhältnis steht, damit wirklich einverstanden ist, wird folgendes Verfahren empfohlen: Die Schuld soll am besten sofort ganz bezahlt werden (»totum statim«, s. o., Nr.  2). Kann der Schuldner das nicht leisten, überlässt er dem Gläubiger ein gleichwertiges Pfand, bis die Schuld gezahlt ist. Bittet der Schuldner nach einer Teil-Tilgung um Rückgabe das Pfandes – in einer Weise, die nicht drohend sein darf, sondern die Freiheit des Gläubigers respektiert –, so darf er es behalten, die Schuld gilt als getilgt (s. o., Nr.  75, erster Satz). 201  Liber Extra (Dekretalen Gregors IX.), Buch 5, 39. Titel, 4. Kap. (Corpus Iuris Canonici, Bd. 2, hg. von E. Friedberg, Leipzig 1881, Sp.  890). 202  D. h.: der Diebstahl bleibt Diebstahl – die gute Absicht kann ihn nicht zu etwas anderem machen.

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Anmerkungen

203  1 Thess 5, 22. 204  Ergänze: auf das erstrebte kirchliche Amt etc. 205  Zur Simonie (s. o., Anm.  166) gehören – wie bei Kauf und Verkauf – zwei Seiten; beide setzen sich ins Unrecht. Die Rückgabe der aufgewandten Summe bzw. der veräußerten Sache erfolgt aber nicht an den, der z. B. ein kirchliches Amt kaufen oder eine Reliquie verkaufen wollte, sondern an die in Nr.  96 Genannten. 206  Der Geber in schlechter Absicht wird sich nicht übernommen haben – der Verlust ist ihm also zumutbar.