Tradition(en) Im Alten Israel: Konstruktion, Transmission Und Transformation 9783161548048, 9783161566721, 3161548043

Traditionen pragen die kollektive Identitat. Sie zeugen weniger von starren vorgegebenen Inhalten, sondern von aktiven P

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Traditionsliteratur, Traditionsgeschichte – Methodische Grundlagen und Grundfragen
Erhard Blum: Institutionelle und kulturelle Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur
Jürgen Ebach: Frag-mentale Beobachtungen und Impressionen zu Tradition und Invention sowie zu Verbindungen zwischen Forschungsgegenstand und Forscherselbstbild in der Exegese
Bernd U. Schipper: Ägyptische Hymnen des 1. Jahrtausends und das Alte Testament. Zu Transformation und Transmission ägyptischer Texttraditionen
Konstruktion von Tradition(en)
Thomas Römer: Auszug aus Ägypten oder Pilgerreise in die Wüste? Überlegungen zur Konstruktion der Exodustradition(en)
Rainer Albertz: Ausprägungen der Exodustradition in der Prophetie und in den Psalmen
Konrad Schmid: Jeremia als klagender und leidender Prophet. Traditionsgeschichtliche Überlegungen
Georg Fischer, SJ: Lebendige Erinnerung im Jeremiabuch
Irmtraud Fischer: Konstruktion, Tradition und Transformation weiblicher Prophetie
Transformation von Tradition(en)
Bernd Janowski: „Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19). Zur Transformation des Opfers in den Psalmen
Judith Gärtner: Eine Frage der Gerechtigkeit? Identität durch Transformation am Beispiel der Gnadenformel in den späten Psalmen
Martin Leuenberger: „Gott ist in ihrer Mitte, sie wankt nicht“ (Ps 46,6). Zur Formation und Transformation dreier zionstheologischer Kernvorstellungen
Christophe Nihan: Between Continuity and Change: The High Priest Joshua in Zechariah 3
Markus Saur: Eine prächtige Zeder. Transformationen der Königstradition im Ezechielbuch
Tradition als Argument
Jakob Wöhrle: „Was habt ihr da für einen Spruch?“ (Ez 18,2). Traditionskritik in den Disputationsworten des Ezechielbuches
Ruth Ebach: „Propheten, die vor dir und vor mir waren“. Traditionsbezug als Argument im Konflikt um wahre Prophetie im Jeremiabuch
Reinhard Müller: „Wo sind deine früheren Hulderweise, Herr?“ Tradition als argumentum ad deum in Psalm 89
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Tradition(en) Im Alten Israel: Konstruktion, Transmission Und Transformation
 9783161548048, 9783161566721, 3161548043

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Forschungen zum Alten Testament Herausgegeben von Konrad Schmid (Zürich) ∙ Mark S. Smith (Princeton) Hermann Spieckermann (Göttingen) ∙ Andrew Teeter (Harvard)

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Tradition(en) im alten Israel Konstruktion, Transmission und Transformation Herausgegeben von

Ruth Ebach und Martin Leuenberger

Mohr Siebeck

Ruth Ebach, geboren 1982. Promotion 2014 in Münster. 2010–2013 Wiss. Mitarbeiterin in der Graduiertenschule des Exzellenzclusters „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 2013 Wiss. Angestellte am Lehrstuhl für Altes Testament mit dem Schwerpunkt Theologie des Alten Testaments an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Martin Leuenberger, geboren 1973. Promotion 2003 in Zürich, Habilitation 2007 in Zürich. 2008–2012 Professor für Altes Testament an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, seit 2012 Professor für Altes Testament mit dem Schwerpunkt Theologie des Alten Testaments an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung. ISBN 978-3-16-154804-8 / eISBN 978-3-16-156672-1 DOI 10.1628/978-3-16-156672-1 ISSN 0940-4155 / eISSN 2568-8359 (Forschungen zum Alten Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ©  2019 Mohr Siebeck Tübingen.  www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer aus der Garamond gesetzt, von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden. Printed in Germany.

Vorwort In markantem Unterschied zu neuzeitlichen und insbesondere (post)modernen Gesellschaften gerade der westlichen Welt, für deren Selbstverständnisse vornehmlich Innovationen und Inventionen von zentraler Bedeutung sind, spielen im alten Orient und im antiken Israel Traditionen und ihr (postuliertes) Alter eine weitaus fundamentalere Rolle: Sie begründen in erster Linie eine je spezifische kollektive Identität von alters her und legitimieren damit eine ihr entsprechende gegenwärtige Gestaltung der Gesellschaft. Besonders aufschlussreich ist dabei, dass diese (Ursprungs‑)Traditionen zu erheblichen Teilen Erfindungen aus späteren Zeiten (oft der je aktuellen Gegenwart) darstellen und damit einen wesentlich (re)konstruktiven Charakter besitzen, wie es die berühmte Formel der „Invention of Tradition“ von Eric Hobsbawm prägnant auf den Punkt bringt. Zudem leisten vielfältige traditionsorientierte Transformationsprozesse einen ebenso zentralen Beitrag zur jeweils neuen Gegenwartsbewältigung. Die Beiträge des vorliegenden Bandes „Tradition(en) im alten Israel. Konstruktion, Transmission und Transformation“, der auf eine Tagung unter dem Titel „Konstruktion, Transmission und Transformation von Tradition(en) im alten Israel und im alten Orient“ vom 30. 09.–02. 10. ​2016 an der Ev.-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen zurückgeht, nehmen solche Vorgänge von Traditionsbildung, ‑weitergabe und ‑umformung für das  – in seine altorientalische ‚Umwelt‘ eingebettete – alte Israel in den Blick. Dabei erfolgt nach und neben grundsätzlicheren methodischen Überlegungen eine Fokussierung auf die Textbereiche der Prophetie und der Psalmen, in denen verschiedene grundlegende Traditionen in den Argumentationsgängen von zentraler Bedeutung sind: U.a. Traditionen, die mit dem Exodus, dem Zion oder etwa dem Opfer verbunden sind, aber auch Prozesse der Legitimation im prophetischen Bereich (Jer, Ez). Die beiden Textcorpora der Prophetie und der Psalmen empfehlen sich einerseits aufgrund ihrer großen Varianz in Bezug auf Form, Funktion und theologische Ausrichtung. Andererseits zeigen sich in beiden Bereichen parallele Weisen des Rekurses auf Traditionen und des ajourierenden, modifizierenden und synthetisierenden Umgangs mit ihnen. Die dabei reflektierten und bearbeiteten Gesellschaftskonflikte zeigen die theologische, aber auch politische Sprengkraft, die der Inanspruchnahme, der Aus‑ und der Umgestaltung einzelner Traditionsstränge innerhalb Israels zukommt. Im ersten Hauptteil werden grundsätzliche methodische Fragen beleuchtet, die sich auf die Mechanismen der Formation, Transmission und Transformation von

VI

Vorwort

Traditionen (inkl. einer hermeneutisch-wissenschaftsgeschichtlichen Klärung des Traditionsbegriffs), auf deren angemessene Analyse mithilfe traditionsgeschichtlicher Methodik sowie auf die Hebräische Bibel als Traditionsliteratur richten. Erhard Blum fragt dabei nach den „Institutionelle[n] und kulturelle[n] Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur“ und sorgt so für einen reflektierteren Umgang mit dem vielfach verwendeten Begriff der ‚Traditionsliteratur‘. Jürgen Ebach stellt sodann „Frag-mentale Beobachtungen und Impressionen zu Tradition und Invention sowie zu Verbindungen zwischen Forschungsgegenstand und Forscherselbstbild in der Exegese“ an und hinterfragt somit den Einfluss der ForscherInnen-Persönlichkeiten auf ihre jeweilige Rekonstruktion der Prophetengestalten. Die methodische Grundlegung wird durch Bernd Schipper abgerundet, der unter dem Titel „Ägyptische Hymnen des 1. Jahrtausends und das Alte Testament. Zu Transformation und Transmission ägyptischer Texttraditionen“ nach der Verknüpfung von ägyptischen Traditionen und Traditionsumbildungen mit alttestamentlichen Texten fragt und in diesem Zuge unterstreicht, dass  – stärker als es bisher getan wird  – die der Entstehungszeit der alttestamentlichen Texte näheren Ausformungen ägyptischer Motive aus dem 1. Jahrtausend in den Blick zu nehmen sind. Auf dieser methodologischen Grundlage werden im längeren zweiten Hauptteil des Bandes ausgewählte Aspekte der Traditionsausbildung, ‑umbildung und ‑weiterbildung aus dem Bereich der Psalmen und der Prophetie genauer erörtert. Der erste Unterblock widmet sich der konstituierenden Konstruktion von Tradition(en): Als erste – und sicher meistdiskutierte – Tradition werden die höchst verschiedenen Ausprägungen des Exodus durch Thomas Römer („Auszug aus Ägypten oder Pilgerreise in die Wüste? Überlegungen zur Konstruktion der Exodustradition[en]“) und Rainer Albertz, der sich als Eröffnung der textlichen Fokussierung des Bandes den „Ausprägungen der Exodustradition in der Prophetie und in den Psalmen“ widmet, ins Zentrum gestellt. In beiden Beiträgen wird deutlich, welch unterschiedliche Legitimationsprozesse mit der gleichen Tradition verbunden werden, und wie nötig es ist, die Ausprägungen der Exodustradition hinsichtlich des Inhalts und der Funktion differenziert wahrzunehmen. Die Ausbildung von Tradition erfolgt im Rahmen prophetischer Texte wesentlich durch (personell-literarische) Zuschreibung von Tradition zu geschichtlichen und literarischen Personen der Vergangenheit, was im zweiten  – nun zentral auf die Prophetie ausgerichteten – Blick auf Aspekte der Konstruktion von Tradition besonders anhand der Zuschreibung der zeitlich und theologisch so vielfältigen Texte des Jeremia-Buches zum namensgebenden Propheten des 7./6. Jahrhunderts sichtbar wird. Konrad Schmid stellt traditionsgeschichtliche Überlegungen zu „Jeremia als klagende[m] und leidende[m] Prophet[en]“ an und unterstreicht dabei die Transformationsprozesse bezüglich des Motivs der Stadtklage, die unterschiedlich mit Jeremia verbunden werden. Georg Fischer

Vorwort

VII

fokussiert sodann auf das Motiv der „Lebendige[n] Erinnerung im Jeremiabuch“ und weist dabei auf die vielfältigen Rezeptionsprozesse alttestamentlicher Traditionen im Jeremiabuch hin. Dass der Umgang mit prophetischen Traditionen nicht im Alten Testament endet, zeigt der Beitrag von Irmtraud Fischer, die Mechanismen der „Konstruktion, Tradition und Transformation weiblicher Prophetie“ besonders am Beispiel der geringen nachalttestamentlichen Rezeption weiblicher Prophetenfiguren und zugleich der Ausprägung der Sibyllentradition in der Antike ins Verhältnis setzt. Im zweiten Unterblock kommen die Transformationsprozesse von Tradition in den Blick: Die vielfältigen und vielschichtigen Wandlungen von Tradition werden wieder im Psalter und in der prophetischen Literatur vergleichend nachgezeichnet. Und so unterzieht im auf die Psalmen ausgerichteten ersten Blick zunächst Bernd Janowski unter dem Titel „‚Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist‘ (Ps 51,19). Zur Transformation des Opfers in den Psalmen“ die Veränderungen des Opferkonzepts, gerade im Rahmen einer Spiritualisierung, einer genaueren Untersuchung. Daran anschließend fokussiert Judith Gärtner („Eine Frage der Gerechtigkeit? Identität durch Transformation am Beispiel der Gnadenformel in den späten Psalmen“) auf einen traditionsgeschichtlichen Transformationsprozess innerhalb des Psalters. Die für das Alte Testament prägende Zionstradition wird in einem letzten Schritt von Martin Leuenberger, „‚Gott ist in ihrer Mitte, sie wankt nicht‘ (Ps 46,6). Zur Formation und Transformation dreier zionstheologischer Kernvorstellungen“ beleuchtet. Transformationsprozesse, die sich mit herrschaftlichen, bes. priesterlichen und königlichen Traditionen auseinandersetzen, behandeln die beiden folgenden Beiträge, die einen Blick auf die Prophetie werfen. So unterstreicht Christophe Nihan („Between Continuity and Change. The High Priest Joshua in Zechariah 3“) die Aufnahme monarchischer Züge in der Beschreibung des Hohepriesters nach Sach 3, setzt sich dabei aber auch kritisch mit einer zu schnellen Identifizierung von Vorlagetexten und festen Traditionen auseinander, indem er die traditionsgeschichtlichen Veränderungen und Eigenbildungen des Textes hervorhebt. Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Markus Saur mit Blick auf das Ezechielbuch („Eine prächtige Zeder. Transformationen der Königstradition im Ezechielbuch“), indem er, ebenfalls nach dem Ende des Königtums, Transformationsprozesse dieses Konzepts herausarbeitet. Der dritte und abschließende Unterblock vertieft auf der Grundlage der vorangehenden Einsichten die im Zuge der Transmission herausragende Be‑ gründungsfunktion von Tradition. Im Mittelpunkt steht also die Frage, wie Tradition(en) in den verschiedenen Argumentationszusammenhängen innerhalb des Alten Testaments vorkommen: Die unterschiedlichen Argumentationsweisen, die durch den Traditionsgebrauch zur Bearbeitung von Gegenwartsproblemen herangezogen werden, prägen insbesondere den nachexilischen Diskurs in Psalmen und Prophetie auf breiter Linie. Durch die Fokussierung auf die späteren

VIII

Vorwort

Phasen der alttestamentlichen Traditionsumbildung und ‑weiterbildung kommt diesem Schlussteil auch eine wesentlich bündelnde Funktion zu. Dass hierbei auch der Frage, wer sich auf welche Tradition beruft und berufen kann, eine entscheidende Funktion zukommt, zeigt Jakob Wöhrle („‚Was habt ihr da für einen Spruch?‘ (Ez 18,2). Traditionskritik in den Disputationsworten des Ezechielbuches“) mit Blick auf die Disputationsworte des Ezechielbuches im Kontext der Auseinandersetzung zwischen den Exilierten und den in Jerusalem Gebliebenen. Und auch die Legitimation der Propheten selber, wird, wie Ruth Ebach unter dem Titel „‚Propheten, die vor dir und vor mir waren‘. Traditionsbezug als Argument im Konflikt um wahre Prophetie im Jeremiabuch“ herausstellt, durch den (modifizierten) Bezug auf eine prophetische Tradition unterstrichen. Nicht nur gegenüber seinen Zeitgenossen hat der Bezug auf vorgegebene Traditionen eine fundamentale Bedeutung, sodass der Band mit einem Blick auf das Verhältnis zu Gott schließt, indem Reinhard Müller („Wo sind deine früheren Hulderweise, Herr?“) die Funktion der „Tradition als argumentum ad deum in Psalm 89“ herausstellt. Die Tagung und dieser Band wären ohne vielseitige Unterstützung nicht zu Stande gekommen. Und so danken wir allen Teilnehmenden  – ReferentInnen und Gästen – der Tagung für das konstruktive und produktive Gespräch durch gewinnbringende Vorträge und anregende Diskussionsbeiträge. Ein ganz besonderer Dank gilt gerade mit Blick auf die Tagungsorganisation und ‑durchführung der Lehrstuhlsekretärin Elisabeth Fuhrer und den studentischen Hilfskräften Ludwig Thiele und Malte Würzbach. Bei der Fertigstellung des Bandes haben neben diesen beiden Adrian Marschner und Jonathan Müller unermüdlichen Einsatz bei den sorgfältigen Korrekturen und der Anfertigung des Registers gezeigt. Den FAT-Herausgebern Prof. Dr. Konrad Schmid, Prof. Dr. Mark S. Smith, Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Spieckermann und Prof. Dr. Andrew Teeter sei sehr für die Aufnahme des Bandes in die Reihe gedankt. Für die freundliche und kompetente Betreuung danken wir den Mitarbeitenden des Mohr Siebeck Verlags, namentlich Jana Trispel. Auch der Fritz-Thyssen-Stiftung, die mit einer namhaften Summe sowohl die Tagung als auch die Entstehung des Bandes entscheidend unterstützt hat, gilt unser Dank. Tübingen, im April 2019

Ruth Ebach und Martin Leuenberger

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Traditionsliteratur, Traditionsgeschichte – Methodische Grundlagen und Grundfragen Erhard Blum Institutionelle und kulturelle Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Jürgen Ebach Frag-mentale Beobachtungen und Impressionen zu Tradition und Inventionsowie zu Verbindungen zwischen Forschungsgegenstand und Forscherselbstbild in der Exegese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Bernd U. Schipper Ägyptische Hymnen des 1. Jahrtausends und das Alte Testament. Zu Transformation und Transmission ägyptischer Texttraditionen . . . . . . . 69

Konstruktion von Tradition(en) Thomas Römer Auszug aus Ägypten oder Pilgerreise in die Wüste? Überlegungen zur Konstruktion der Exodustradition(en) . . . . . . . . . . . . . . 89 Rainer Albertz Ausprägungen der Exodustradition in der Prophetie und in den Psalmen . . 109 Konrad Schmid Jeremia als klagender und leidender Prophet. Traditionsgeschichtliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Georg Fischer, SJ Lebendige Erinnerung im Jeremiabuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

X

Inhaltsverzeichnis

Irmtraud Fischer Konstruktion, Tradition und Transformation weiblicher Prophetie . . . . . . . 181

Transformation von Tradition(en) Bernd Janowski „Mein Schlachtopfer ist ein zerbrochener Geist“ (Ps 51,19). Zur Transformation des Opfers in den Psalmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Judith Gärtner Eine Frage der Gerechtigkeit? Identität durch Transformation am Beispiel der Gnadenformel in den späten Psalmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Martin Leuenberger „Gott ist in ihrer Mitte, sie wankt nicht“ (Ps 46,6). Zur Formation und Transformation dreier zionstheologischer Kernvorstellungen . . . . . . . . 253 Christophe Nihan Between Continuity and Change: The High Priest Joshua in Zechariah 3 . . 277 Markus Saur Eine prächtige Zeder. Transformationen der Königstradition im Ezechielbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303

Tradition als Argument Jakob Wöhrle „Was habt ihr da für einen Spruch?“ (Ez 18,2). Traditionskritik in den Disputationsworten des Ezechielbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Ruth Ebach „Propheten, die vor dir und vor mir waren“. Traditionsbezug als Argument im Konflikt um wahre Prophetie im Jeremiabuch . . . . . . . . . 345 Reinhard Müller „Wo sind deine früheren Hulderweise, Herr?“ Tradition als argumentum ad deum in Psalm 89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367

AutorInnenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395 Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399

Traditionsliteratur, Traditionsgeschichte – Methodische Grundlagen und Grundfragen

Institutionelle und kulturelle Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur Erhard Blum Magistris Tubingensibus Hartmut Gese Hans-Jürgen Hermisson

Die Frage nach den materialen und kulturellen Voraussetzungen der alttestamentlichen Literatur ist seit einigen Jahren en vogue.1 In fachlicher Hinsicht kann dieses Interesse nicht verwundern, im Gegenteil, man mag sich fragen, weshalb eine solch elementare Fragestellung nicht schon längst mit vergleichbarer Intensität traktiert wurde. Vordergründig lassen sich dafür äußere Gründe anführen wie die bessere Erschließung der sich ständig mehrenden außerbiblischen Daten und Funde (insbesondere der epigraphischen), doch dürfte auch diese schon einem allgemeineren Trend zuzurechnen sein, den man als einen archaeological turn in der alttestamentlichen Forschung bezeichnen könnte. Plakativ zugespitzt geht es dabei um die Neigung, bei historischen Problemstellungen archäologische Hypothesen gegenüber textwissenschaftlichen zu präferieren – in der mehr oder weniger schlichten Erwartung „empirischer“ Daten, die als Fixpunkte der Koordinaten historischer Hypothesenbildungen dienen können. Ein konkretes und für unseren Zusammenhang unmittelbar einschlägiges Beispiel ist das seit den 1990er Jahren vertretene und – angeblich – archäologisch begründete Verdikt, wonach vor der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts oder auch vor dem 7. Jahrhundert v. Chr. die Genese größerer literarischer Werke in Israel / Juda auszuschließen sei. Diese Hypothese soll hier denn auch sogleich aufgenommen und in einem weiteren Horizont diskutiert werden (1.). Daran wird die Frage nach den realen Orten von Textproduktion in der Welt Israels/Judas anschließen (2.). Einige Implikationen dieser Überlegungen für exegetische Textentstehungsmodelle sollen den Abschluss bilden (3.). 1  Ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige der neueren Publikationen: Schniedewind, Bible; Carr, Writing = Ders., Schrift; van der Toorn, Scribal Culture; Sanders, Invention; Rollston, Writing; Demsky, Literacy, die Sammelbände von Tappy/ McCarter, Literate Culture und Schmidt, Contextualizing, sowie als neuere Einzelbeiträge: Rollston, Education; Renz, Texttradition; Schmid, Arbeit; Schniedewind, Understanding; Richelle, Scrolls; Grund-Wittenberg, Literalität.

4

Erhard Blum

1. Literalität und Literaturproduktion in Israel/Juda – Daten und Theorien 1.1 Methodische Probleme der jüngeren Forschungsdebatte2 Seit einigen Jahren kann sich die Forschung zur Schriftkultur im alten Israel/ Juda auf ein überwiegend beispielhaft dokumentiertes3 und erschlossenes4 epigraphisches Quellenmaterial stützen. Dank der außerordentlichen Dichte der Grabungen in Israel / Palästina weist dieses Material  – gemessen an den Inschriften-Funden in der Levante insgesamt  – zudem einen bemerkenswerten Umfang auf, und es wächst kontinuierlich. Letzteres macht freilich auch die Grenzen der Publikationen in Buchform spürbar: der rasche Zuwachs an Daten, aber auch Fälle wie die erst im Jahr 2012 erschienene Erstpublikation der bereits 1975–1976 entdeckten Texte von Kuntillet ‘Ajrud,5 die gegenüber den partiellen Vorveröffentlichungen das Bild teilweise erheblich verändert, lassen sich in Neuauflagen nur mit hohem Aufwand bewältigen, wenn überhaupt.6 Von daher wird man fragen müssen, ob zur südlevantinischen Epigraphik nicht eine Online-Datenbank mit ihren systemischen Möglichkeiten (kontinuierliche Ergänzung, Aktualisierung, Korrektur; de facto unlimitierte Datenmenge, inklusive fotographische/graphische Dokumentationen; Mehrsprachigkeit; Suchfunktionen), nachhaltig und eventuell in internationaler Kooperation angelegt, eingerichtet werden sollte.

Bekannt ist freilich auch das strukturelle Defizit der althebräischen Inschriften: das nahezu komplette Fehlen von im engeren Sinne literarischen Texten. Dieses Defizit wird sich auch durch weiter verfeinerte Grabungsmethoden kaum beheben lassen, denn es resultiert aus der Kurzlebigkeit der wesentlichen Schriftträger für ‚Literatur‘ in linearer Alphabetschrift, vor allem Papyrus und Leder. Auch Texte auf Wandverputz und sogar Monumentalinschriften auf Stein überleben un- / absichtliche Zerstörungen oder Sekundärverwendungen als Baumaterial nur in Ausnahmen. Von daher konnte es als ein vielversprechender Neuansatz erscheinen, als David D. Jamieson-Drake die Frage nach „Scribes and Schools in Monarchic Judah“7 konsequent sozialgeschichtlich anging, indem er unter der Prämisse, 2  Besonders in diesem Abschnitt besteht eine Reihe von Übereinstimmungen mit Richelle, Scrolls. Da mein Beitrag für die Tagung noch ohne Kenntnis des Aufsatzes konzipiert war, sehe ich darin eine willkommene Bestätigung wichtiger Grundüberlegungen. 3  Wichtige neuere Editionen und Handbücher liegen vor mit Davies, AHI; Renz/ Röllig, HAE; Dobbs-Allsopp, Hebrew Inscriptions; Aḥituv, Echoes. 4   Dazu u. a. Hoftijzer/ Jongeling, DNWSI; Garr, Dialect Geography; Gogel, Grammar; Schüle, Syntax. 5 Meshel, Kuntillet. 6 Ein anschauliches Beispiel bietet das verdienstvolle Handbuch (HAE) von J. Renz und W. Röllig, das als Studienausgabe nach gut zwanzig Jahren (2016) unverändert nachgedruckt wurde, immerhin ergänzt durch ein „Bibliographisches Nachwort“. 7 Jamieson-Drake, Scribes.

Institutionelle und kulturelle Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur

5

dass professionelle Schreibertätigkeit eine staatlich-administrative Infrastruktur voraussetze, seinen Ausgangspunkt gerade nicht bei den epigraphischen Daten nahm, sondern nach sozioökonomischen Strukturen und Ressourcen fragte, also nach der Siedlungsdichte, öffentlicher Bautätigkeit, nach der Verteilung von Luxusobjekten etc. Das Ergebnis auf der Basis der archäologischen Forschung der 1980er Jahre stellte sich so dar, dass Juda erst ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. eine staatliche Infrastruktur mit entsprechender Bautätigkeit, überregionalem Handel und einer geschulten Verwaltung ausbildete. Eine damit korrelierende Schriftkultur wäre demzufolge frühestens in dieser Zeit zu erwarten, und zwar primär in Jerusalem bzw. bei „residents of sites with significant economic and political ties to Jerusalem“.8 Die Signifikanz dieses Befundes und die Plausibilität des methodischen Zugangs schienen dadurch eine schlagende Bestätigung zu erfahren, dass das damit aufgezeigte Zeitfenster für professionelle Schreiber sich geradezu perfekt zur Distribution der gefundenen hebräischen Inschriften fügt, deren Quantität ab der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts sprunghaft ansteigt. Gern zitiert wird hierzu eine ältere Übersicht, die sich an den Datierungen in dem Handbuch von Renz/Röllig (HAE) orientiert,9 das heißt, an dem Fundinventar vom Anfang der 1990er Jahre und den damals vorherrschenden zeitlichen Ansetzungen. Danach ergab sich etwa folgende quantitative Verteilung der hebräischen Inschriften (ohne Siegel/Bullen): 10. Jh. – 4   9. Jh. – 18   8. Jh., erste Hälfte – 16   8. Jh., zweite Hälfte – 129   7. Jh. – 102   6. Jh. (2 Jahrzehnte) – 65 Allerdings sind in dieser Aufstellung beispielsweise die ca. 100 Samaria-Ostraka (1. Hälfte 8. Jh.) als ein Fund gezählt. Genauer betrachtet werden in HAE insgesamt gut 500 „Texte“ aufgeführt, die freilich ebenfalls nicht exhaustiv sind, insofern etwa in Kuntillet ‘Ajrud (HAE: 9. Jh.) anstatt der zehn Texte laut der später publizierten Editio princeps mit 55 Inschriften zu rechnen wäre.10 Wie rasch sich generell die Größenordnung ändern kann, lässt sich daran ablesen, dass J. Renz in seinem Beitrag aus dem Jahr 2009 bereits von etwa 150 neu publizierten Inschriften spricht.11 Auch seither sind signifikante Belege hinzugekommen, nicht zuletzt zur Frühzeit, verbunden mit intensiven Bemühungen um verlässliche Datierungen, freilich bislang ohne übergreifenden Konsens. So rechnen I. Finkelstein und B. Sass im Rahmen einer neuen Hypothese zur Entwicklung des Alphabets (dazu im Folgenden) für Mitte 10. Jahrhundert bis frühes 9. Jahrhundert mit 9–15 Inschriften in der südlichen Levante, für 880/870–840/830 v. Chr. mit 6–8 hebräischen Be Jamieson-Drake, Scribes, 149. Ende, 129, zitiert bei Schmid, Arbeit, 42, und zuletzt Grund-Wittenberg, Literalität, 342. 10  Aḥituv u. a., Inscriptions. Selbst, wenn man Einzelbuchstaben, Schreibübungen mit hieratischen Zeichen etc. herausrechnet, bleiben noch ca. 30–40 ‚Einheiten‘. Auch die zeitliche Zuordnung hat sich verschoben: Kuntillet ‘Ajrud wird mit guten Gründen inzwischen dem frühen 8. Jahrhundert zugewiesen. 11 Renz, Texttradition, 64 Anm. 34.  8

 9 Niemann,

6

Erhard Blum

legen.12 Dem gegenüber stützen sich Sh. Aḥituv und A. Mazar auf elf verlässlich datierbare Inschriften aus den Grabungen in Tel Reḥov und führen für das 10. Jahrhundert ca. 17, für das 9. Jahrhundert ca. 16 nicht-monumentale Inschriften auf.13 Bei näherem Zusehen werden Quantifizierungen dieser Art rasch noch problematischer, nicht nur im Blick auf die – allgemein zugestandene – Problematik der Einzeldatierungen, sondern auch im Blick darauf, was dabei genau erfasst und verglichen wird. So zählt hier eine Beschriftung mit einem Wort so viel wie ein ausführlicher Brief oder eine Namensliste so viel wie die Siloah-Inschrift. Wollte man sich darüber hinaus die Mühe machen und Wörter bzw. Buchstaben zählen, eventuell noch differenziert nach den mutmaßlichen Textsorten, bedeutete auch dies nur eine Scheinobjektivierung, müssten dabei doch nicht nur die Unsicherheit von Lesungen und vor allem der sehr häufig evident fragmentarische Charakter der Inschriften ausgeklammert bleiben. Noch fundamentaler schlagen die allgemeinen Kontingenz-Faktoren durch, die mit jedem archäologischen Fund/Nicht-Fund verbunden sind, unter dem Mantel eines mehr oder weniger naiven Daten-Positivismus aber gern verdeckt bleiben.14 So wird auch einem archäologischen Laien einleuchten, dass eine Karawanenwegstation im ariden Klima des nördlichen Sinai, die nur wenige Jahrzehnte existierte und danach von menschlichen Eingriffen weitgehend unbehelligt blieb, für die Erhaltung von Kleinfunden und insbesondere von Schriftzeugnissen außergewöhnlich günstige Voraussetzungen aufweist, so Kuntillet ‘Ajrud im 8. Jahrhundert oder auch – mit Blick auf die zweite Kondition – die nur kurze Zeit bestehende Ortslage von Ḫirbet Qeyafa im 11./10. Jahrhundert. Analoge Faktoren sind bei dem epigraphischen Befund einzubeziehen, den J. Renz mit der Feststellung resümiert, es gebe „zwei deutlich erkennbare Produktionsschwerpunkte: Im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts (ca. 90 Texte) und zu Beginn des 6. Jahrhunderts kurz vor Ende der vorexilischen Zeit (ca. 65 Texte).“15 Da die archäologische Erfassung häuslichen Inventars in Zerstörungsschichten bekanntlich besonders aussichtsreich ist, wird es jedoch kaum zufällig sein, dass die Strata mit der angesprochenen Häufung von Schriftfunden den beiden umfassendsten Zerstörungen, von denen das Königreich Juda heimgesucht wurde: vor 701 und vor 587, unmittelbar vorausgingen.16 Unter dieser Voraussetzung erlaubt die Fundlage im Zusammenhang dieser Zer Finkelstein/ Sass, Alphabetic Inscriptions. Inscriptions. 14 Dazu grundlegend: Millard, Fragments, mit bezeichnenden Kapitelüberschriften wie „The accident of discovery“ und „The accident of survival“ sowie mit erhellenden Belegen zu diversen Faktoren, die geminderte/höhere Quantitäten von Überresten erwarten lassen. Eine der Konklusionen, gestützt auf Befunde aus dem Bereich der Keilschriftliteratur: „The presence of quantities of texts from one century and few from the previous century is no measure of growth in scribal activity.“ (A. a. O., 314) Millards Überlegungen, die sich ausdrücklich auf „all archaeological deposits“ (ebd.) beziehen, zeigen ein grundsätzliches Desiderat an: eine „Leimmatonomie“ (λεῖμμα, „Überrest“), die  – analog zur paläontologischen „Taphonomie“  – nach den Bedingungen, Wahrscheinlichkeiten etc. spezifischer materieller „Überreste“ unter der Voraussetzung natürlicher, nachhaltiger/individueller historischer Prozesse/Vorgänge etc. im Falle archäologischer Grabungen/Surveys spezifischer Ausmaße, Methoden, Dokumentationen etc. fragt. Ohne die methodisch/theoretisch kontrollierte Berücksichtigung einer solchen Leimmatonomie bleiben historische Deutungen auf der Basis einer (partiellen/generellen) Absenz archäologischer Befunde fragwürdig. S. auch u. Anm. 16. 15  Renz, Texttradition, 68. 16 S. auch die auf den Negev bezogenen Überlegungen bei Na‘aman, Literacy, 48, und vor allem wieder Millard, Fragments, 312: „Of course, where there have been many centuries of 12

13 A ḥ ituv/ Mazar,

Institutionelle und kulturelle Voraussetzungen der israelitischen Traditionsliteratur

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störungsschichten keinen vergleichenden Rückschluss auf die mutmaßlichen Verhältnisse im 7. Jahrhundert oder in der Mitte des 8. Jahrhunderts. Mit anderen Worten, die Befunde belegen genau genommen keine „Produktionsschwerpunkte“ vor 701 bzw. 587, sondern lediglich Schwerpunkte der „Hinterlassenschaft“.

Ob die Problematik derartiger Quantifizierungen in ihrer Tragweite bewusst war/ ist oder nicht, jedenfalls scheint die augenscheinliche Kongruenz der unterschiedlichen Parameter für sich zu sprechen. Zudem wurde der daraus sich nahelegende Terminus ante quem non für größere althebräische Literaturwerke, nämlich die zweite Hälfte des 8. Jahrhunderts, in der Disziplin umso bereitwilliger rezipiert,17 als er mit einer allgemeineren Neigung zu Spätdatierungen konvergierte, wobei „spät“ eben nicht mehr – wie bei etwa bei M. Noth oder G. von Rad – „davidisch-salomonisch“ meint, sondern frühestens „exilisch-nachexilisch“. Angesichts dieser Konvergenz von Archäologie und Exegese haben die genannten Schlussfolgerungen offenbar eine solche Selbstverständlichkeit gewonnen, dass die naheliegende Kontrollfrage, wie es mit den beiden Hauptindikatoren für Textproduktion und Schulwesen nach der Zerstörung Jerusalems und des judäischen Königtums in babylonisch-persischer Zeit aussah,  – mit wenigen Ausnahmen –18 nicht mehr gestellt wurde. Dabei waren – bezogen auf Ressourcen und die sozioökonomische Infrastruktur – die Verhältnisse nach 587 v. Chr. geradezu desaströs: Ein Großteil der gesellschaftlichen Elite deportiert oder abgewandert, die Versorgungslage zeitweise kritisch, Jerusalem ohne Mauern bis zu Nehemia, der die Hauptstadt durch einen Synoikismos zu stabilisieren suchte. So die Texte. Das archäologisch erhobene Bild ist nicht weniger drastisch:19 Das perserzeitliche Jehud hatte geschätzt maximal noch 30 % der Bevölkerung Judas vor 587. Jerusalem und Umgebung waren im 6. Jahrhundert weitgehend entvölkert, auch in den guten perserzeitlichen Jahren stieg hier die Bevölkerung kaum über 3000 (= 10 % gegenüber der Königszeit). Einige Orte des benjaminitischen Plateaus zeigten zunächst wenig Verluste, unter den Persern setzte aber auch hier ein Schwund der besiedelten Gebiete um 60 % ein. occupation, there will be material from all periods, yet it is the last phases of occupations, the phases prior to destruction or desertion that will offer the largest amount of material remains to the archaeologist.“ 17 Vgl. beispielhaft Thompson, Early History, 391: „We cannot seek an origin of literature in Palestine prior to the eighth, or perhaps even better the seventh century“ sowie Niemann, Ende; Knauf, History, 39; Na’aman, Solomon, 103, Finkelstein/ Silberman, David, passim. Schmid, Arbeit, 41–43, s. aber auch die Erwägungen ebd., 44–45. Nach meiner Erfahrung bestimmen die genannten Parameter den disziplinären Diskurs weit über die publizierten Äußerungen hinaus, zumindest im deutschsprachigen Kontext. 18  Hierfür ist insbesondere auf Schniedewind, Bible, 167–172, zu verweisen und zuletzt besonders Richelle, Scrolls, 16–19. 19  Die folgende Skizze stützt sich insbesondere auf Lipschits, Changes; vgl. auch Carter, Emergence; zur materiellen Kultur grundlegend: Stern, Material Culture; H. Weippert, Palästina, 687–718.

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Noch deutlicher fällt die Inschriften-Statistik aus: Während Renz, wie schon ausgeführt, bereits 200920 von „etwa 650“ hebräischen Inschriften aus der Königszeit  – die Siegel (711 hebr.) nicht mitgezählt  – berichten konnte, steht dem nach 587 und aus dem perserzeitlichen Jehud kein einziger konsensuell datierter hebräischer Text gegenüber.21 Meines Erachtens lassen sich lediglich zwei mutmaßliche, obschon strittige Ausnahmen nennen: die beiden Silberamulette mit dem Priestersegen aus dem Grab am Hinnomtal.22 Als Fazit bedeutet dies: Sofern man die gleichen Maßstäbe anlegt, wie sie für die Königszeit geltend gemacht werden, kommt man wohl nicht umhin, der Einschätzung von W. M. Schniedewind zuzustimmen, wonach die exilisch/ nachexilische Zeit für eine breite Literatur-Produktion kaum infrage kommt.23 K. Schmid will die Argumentation mit dem Fehlen nachexilischer hebräischer Inschriften freilich nicht gelten lassen, weil die Schriftsprache der Zeit das Aramäische gewesen sei und die Zahl der aramäischen Inschriften tatsächlich „wesentlich größer als die der hebräischen Inschriften“.24 Gleich, ob mit letzteren die vorexilischen oder die perserzeitlichen hebräischen Inschriften gemeint sind, trifft die Annahme jedoch nur zu, wenn man weitere Regionen wie Ägypten einbezieht. Aus methodischen Gründen kann jedoch nur der Befund in Jehud zählen. Dort gibt es zwar zahlreiche Stempelabdrücke auf Krügen,25 einige Siegel / Bullen und Münzen – bislang aber keine nennenswerten aramäischen Texte;26 kein Brief, keine Urkunde etc. ist bekannt. Dieser ungewöhnlich klare Befund gibt nicht zuletzt deshalb Fragen auf, weil mit Ramat Rahel offenbar ein  Renz, Texttradition, hier 64. die Belege für hebräische Namen bleiben rar. Hamilton, Texts, nennt elf Objekte mit Personennamen in althebräischer Schrift aus Palästina (Siegel[abdrücke], Münzen etc.). 22  Legt man die verbesserte Lesung der Amulette von Barkay u. a., Amulets, zugrunde, dann spricht insbesondere die Orthographie (Waw als ePP 3. m.sg.) für eine perserzeitliche Datierung und gegen die spätvorexilische Ansetzung der Herausgeber. Die in Renz/Röllig, HAE, 447– 456, vertretene hellenistische Datierung hat die Fundsituation gegen sich, die morphologischen Argumente tragen nicht (‫ שלום‬ist mit der neueren Lesung nicht mehr belegt; zu dem viel diskutierten ‫ פניו‬vgl. ‫ אליך‬in Mur(7):1,2, es handelt sich wohl um eine ‚archaisierende‘ Form [*pānayû]); für eine paläographische Bestimmung fehlt es für die Perserzeit an einem soliden Vergleichskorpus. 23 Schniedewind, Bible, 170–172. Die kaum hinterfragte Inkonsistenz der seit Jahrzehnten dominierenden Argumentation bleibt in der Tat einigermaßen rätselhaft. 24 Schmid, Arbeit, 42. Grund-Wittenberg, Literalität, 343, verweist gegen Schmids Überlegung auf die Schriftdifferenz zwischen hebräischen und aramäischen Texten, was als Argument allerdings nicht unmittelbar einleuchtet. 25  S. vor allem das Themenheft Lipschits/Vanderhooft, Yehud, sowie die Publikation von 582 Krugstempeln in Dies., Yehud. 26  Vgl. die Übersichten in Lemaire, Juda; Ders., Epigraphy, 86–98. Dem gegenüber gibt es hunderte von Ostraka (mit kurzen Verwaltungsnotizen) aus dem 4. Jh. v. Chr. aus idumäischem Gebiet. Einige hundert aramäische Inschriften auf dem Garizim stammen nach J. Dušek aus dem 2. Jh. v. Chr. Die umfangreichste und bedeutendste epigraphische Hinterlassenschaft bilden bekanntlich die samarischen Urkunden auf Papyri vom Wadi Daliyeh (4. Jh.). S. dazu Dušek, Aramaic, 256–259 mit Lit. 20

21 Selbst

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bedeutendes Verwaltungszentrum der Perserzeit umfangreich und sorgfältig ausgegraben wurde,27 weshalb der epigraphische Negativbefund nicht mit unglücklicher Kontingenz bezüglich der bisherigen Ausgrabungsstätten erklärt werden kann. Wir werden darauf zurückkommen.28 An dieser Stelle sind vor allem zwei Konsequenzen für unsere Thematik bedeutsam: Will man nicht ernsthaft damit rechnen, dass es nachexilisch keine substantielle Textproduktion gegeben hätte, dann erweist bereits der Blick auf die Befunde eben dieser Zeit in Juda tragende Vorannahmen der gängigen Hypothesen als unbrauchbar. Dies gilt erstens (1.) für die Annahme, dass man von dem Umfang archäologisch belegter Gebrauchstexte auf die Produktion literarischer Texte (im Sinne von Bildungs‑ bzw. Traditionsliteratur) zurückschließen könne, eine Annahme, die sich insbesondere auf den präsupponierten Zusammenhang zwischen Literaturproduktion und staatlichen Verwaltungsstrukturen stützt. Ebenso (2.) erweist sich die Grundannahme einer direkten Korrelation literarischer Produktivität mit bestimmten sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen und Ressourcen als kurzschlüssig. Dass in den Hypothesen, wonach die Grundsubstanz der alttestamentlichen Literatur nachexilisch konzipiert worden wäre, diese Korrelation stillschweigend suspendiert wurde, war/ist schiere Inkonsequenz. 1.2 Ein Seitenblick auf die Anfänge von Literatur bei den Griechen Wie wenig fundiert beide Annahmen sind, erhellt aber nicht nur aus den Verhältnissen im perserzeitlichen Juda, sondern zeigt sich auch bei einem Blick auf die benachbarte griechische Welt. Nach üblicher Auffassung haben die Griechen das phönizische Alphabet im 8. Jahrhundert v. Chr. adaptiert.29 Die ältesten frühgriechischen Textbelege sind Ein‑ oder Zweizeiler auf Vasen oder Schalen in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts.30 Das Standardwerk von W. Harris (1989)31 nennt die Zahl von etwa 100 registrierten Inschriften aus dem 8. und dem 7. Jahrhundert v. Chr., wobei diese überwiegend freilich „Beschriftungen“ darstellen, zumeist Besitzernamen auf Gefäßen, daneben Weihinschriften, Grabsteine und ähnliches mehr. Der älteste epigraphisch belegte griechische Brief

 S. zuletzt Lipschits u. a., Stones. unten S. 26. 29  Als frühester Beleg gilt nach Rösler, Mündlichkeit, 202, derzeit eine Inschrift mit fünf Buchstaben, die in Latium gefunden wurde und auf ca. 770 v. Chr. datiert wird. 30 Die bekanntesten Beispiele dafür sind die in Athen gefundene „Dipylon-Kanne“ und der sog. Nestor-Becher, gefertigt auf Rhodos, gefunden in Ischia; dazu jetzt Steinhart, Inschriften, 33–35.148–150, der beide (linksläufig eingeritzten) Aufschriften „um 740 v. Chr.“ datiert. 31  Harris, Literacy, 46, unter Verweis auf Jeffery, Scripts. 27

28 S.

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stammt aus der Zeit um 500(!).32 Die Fundzahlen beziehen sich zudem nicht allein auf Griechenland selbst, sondern auf den gesamten Raum zwischen Zypern und dem westlichen Mittelmeerraum sowie zwischen Ägypten und den Küsten des Schwarzen Meeres. Dieser nicht gerade üppig erhaltenen Epigraphik stehen nun aber die großen literarisch-epischen Dichtungen von Homer und Hesiod gegenüber, die entweder in das ausgehende 8. Jahrhundert (so lange etabliert) oder in die erste Hälfte des 7. Jahrhunderts (so die neuere Tendenz) datiert werden.33 In der Mitte des 7. Jahrhunderts werden nachweislich lokale Rechtstexte schriftlich fixiert und veröffentlicht, hier beginnt auch die literarische Dichtung von Archilochos, Tyrtaios, Sappho, Alkaios etc.34 Im 6. Jahrhundert folgen die milesischen Vorsokratiker wie Anaximander oder Anaximenes und „historische“ Prosaschriftsteller, vorneweg Hekataios von Milet mit seinen geographischen und historischen Werken oder „Lokalhistoriker“ wie Pherekydes. Kurzum: Für die sogenannte archaische Zeit der Griechen gibt es keine unmittelbare Korrelation zwischen den archäologischen Belegen für die alltägliche Nutzung von Schrift und der höchst differenzierten Literaturbildung von Dichterinnen, Dichtern und Prosaautoren. 1.3 Epigraphisch belegte Anfänge von Bildungsliteratur in der Welt des alten Israel Der für die griechische Welt skizzierte Sachverhalt war im alten Israel (königszeitlich und exilisch-nachexilisch) nicht wesentlich anders  – mit dem Unterschied, dass die Alphabetschrift im weiteren Kulturraum der „Israeliten“ in gewisser Weise immer schon ‚da war‘ und dass sogar mit Kontinuitäten zwischen der Schreibkultur und Literatur der Spätbronzezeit und der in der Eisenzeit zu rechnen ist.35 So braucht es auch nicht zu verwundern, dass, wie bereits an anderer Stelle angeführt,36 die meisten der literarischen oder semi-literarischen Inschriften im engeren Umfeld Israels ausgerechnet aus der frühen Königszeit (10.–9. Jh.) stammen. Es beginnt im 10. Jahrhundert mit zwei Schülerarbeiten, mit dem bekannten Ostrakon aus Ḫirbet Qeyafa (Übergang von später Eisen I zu früher Eisen IIA-Zeit) und mit dem jüngeren sogenannten Bauernkalender 32 Steinhart, Inschriften, 45–47 (mit griechischem Text und Übersetzung). Der im Bereich des Schwarzen Meeres gefundene Brief war auf einem Bleitäfelchen eingeritzt. Weitere Beispiele für dieses Material gibt es nach Steinhart aus zwei Jahrhunderten „weniger als ein Dutzend“; „[…] sehr viel häufiger dürfte damit die Verwendung von Keramikscherben […] oder von Wachstäfelchen gewesen sein“ (ebd., 46–47). 33  Zu der kontroversen Debatte s. erhellend Rösler, Mündlichkeit, der mit W. L. West dazu neigt, die verschrifteten Epen näher an die literarische Dichtung heranzurücken, mit einer möglichen zeitlichen Vorordnung Hesiods vor Homer. 34  Rösler, Mündlichkeit, 206–207. 35 S. unten S. 33–34. 36  Blum, Solomon, 71–72; Richelle, Scrolls, 26.

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aus Geser,37 die beide aus gutem Grund als Übungstexte von Schreibschülern gelten. Bei allen Schwierigkeiten, die das unbeholfen beschriebene und schwer lesbare Ostrakon von Qeyafa mit seinen fünf Textzeilen bietet, ist es weithin Konsens, dass es sich nicht um einen funktionalen Gebrauchstext handelt, sondern um einen ‚lehrhaften‘ Text, der in einem weisheitlich-paränetischen Ton vom Umgang mit sozial Schwachen und deren „Recht“ handelt.38 Wie an anderer Stelle ausgeführt werden soll, könnte es sich meines Erachtens in der Tat um eine Art „Fürstenspiegel“ gehandelt haben. Der schon 1908 gefundene sogenannte Geser-Kalender beinhaltet nur vordergründig einen „Bauernkalender“, wären doch dessen sachliche Angaben für einen erfahrenen Bauern, wie bereits W. F. Albright gesehen hat, kaum von praktischer Bedeutung.39 Vielmehr handelt es sich auch hier um einen ‚weisheitlichen‘ Text, nun freilich nicht lebensweisheitlich bezogen auf Fragen des sozialen Ethos, sondern auf Strukturen in der natürlichen Lebenswelt des Menschen, näherhin auf den ständig wiederkehrenden Ablauf des bäuerlichen Jahres mit der Kultivierung der natürlichen Erträge des Landes. Vor allem A. Demsky hat das Täfelchen von Geser von daher ausdrücklich dem Bereich der altorientalischen „Listenweisheit“, in der unterschiedliche Aspekte der Ordnung(en) der Welt gelernt und repetiert werden, zugewiesen.40 Formal handelt es sich zwar weder um eine Wortliste noch um einen poetischen Maschal, doch zeigt die Reihung der acht Zeiteinheiten mit der Abfolge von 3 × 2 Monate (jeweils 2-gliedrige Phrasen) – 3 × 1 Monat (jeweils 3-gliedrig) – 1 × 2 Monate + 1 × 1 Monat (jeweils 2-gliedrig) eine bewusste rhythmische Gestaltung,41 die dank der siebenfachen Anapher des die Phrasen eröffnenden Lexems yrḥ zudem nicht zu überhören / übersehen ist. Diese Form des sprachlich gestalteten Begreifens eines Ausschnitts der Lebenswelt ist aber auch nicht zu trennen von dem Medium, in dem es sich vollzieht, 37  In diesem Fall ist nur eine paläographische Datierung möglich. Für die Ansetzung gegen Ende des 10. Jh.s vgl. Renz/Röllig, HAE I, 31–32. Sie wird m. E. durch die archäologische Datierung vergleichbarer Belege in Tel Reḥov (Inscr. No. 5 aus Stratum V) und Tel ῾Amal gestützt; zur Stratigraphie s. Mazar, Culture. (In Aḥituv/ Mazar, Inscriptions, 62, ist dagegen beim Vergleich des signifikanten Mem in Inscr. No. 2 mit dem Geser-Kalender eine Ungenauigkeit unterlaufen.) 38  S. bspw. Becking/ Sanders, Plead, und Achenbach, Protection (mit umfangreicher Lit.); dagegen schlägt Richelle, Lectures, vor, in den ersten beiden Zeilen, eine Reihe von Personennamen zu lesen. 39  Albright, Gezer Calendar, 25: „For a grown peasant, to whom the succession of agricultural activities was as familiar as the use of his senses, such rhythmic enumeration would have no importance …“, in neuerer Zeit aufgenommen etwa bei Renz/Röllig, HAE I, 32 Anm. 4, und Demsky, Literacy, 187 Anm. 76. Letztere wenden sich auch gegen den weit hergeholten Versuch, hier einen (fragmentarischen) Verwaltungstext zu finden. 40 Demsky, Literacy, 184–187. So schon Blum, Historiographie, 50 Anm. 68. 41  Im Wesentlichen erkannt in Albright, Gezer Calendar, 25, auch wenn seine Rede von „Trikola“ mit „2 + 2 + 2“ bzw. „3 + 3 + 3“ Hebungen eine unangemessene Versstruktur suggeriert.

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mit anderen Worten von einem Schreibunterricht, in dem über die technischen Fertigkeiten hinaus auch entsprechende Bildungsinhalte vermittelt werden.42 Seit einigen Jahren werden Debatten über die Sprachen der Texte auf dem (ersten) Ostrakon von Ḫ. Qeyafa bzw. auf dem Geser-Täfelchen sowie über die Schrift des Letzteren geführt. Zu Ersterem hat sich vor allem G. Galil um einen hebräischen Sprachnachweis bemüht,43 dagegen wurden Bedenken angemeldet.44 Will man nicht ernsthaft diskutieren, ob der unbekannte Schreibschüler um 1000 v. Chr. in der kleinen Ortslage am Rande der Schephela „aramäisch“‑ oder „phönizisch“-sprachig war oder ob er – alternativ – ebenda Fremdsprachenunterricht genoss, dann reduziert sich die Alternative auf „Hebräisch“ und ein südkanaanäisches Idiom. Solange aber nicht geklärt ist, inwiefern sich eine solche Alternative überhaupt stellt und woran genau die Distinktion festzumachen wäre, erscheint schon die Problemstellung einigermaßen sinnlos. Gleiches gilt für die Frage der Schrift auf der Geser-Tafel, rechnet gegenwärtig doch niemand mit der Entwicklung ethnisch oder regional identifizierbarer Schriften vor dem 9. Jahrhundert. Hinsichtlich der sprachlichen Zuordnung führt auch die Orthographie (wie die konsequent defektive Schreibung) nicht weiter, bleibt doch der Vergleich mit hebräischen Inschriften des 8./7. Jahrhunderts oder gar mit „Biblischem Hebräisch“ methodisch kurzschlüssig.45 Eine gewisse Tradition hat die Bestimmung des Geser-Kalenders als ein phönizischer Text. Das Hauptargument bezieht sich auf die viermalige Phrase ‚yrḥw + Nomen‘ (z. B. ‫)ירחו אסף‬.46 Von den diversen Erklärungsvorschlägen47 hat sich weithin die Lesung als yrḥ im Dual mit Pronominalsuffix der 3. P.sg.m. (event. yarḥêw < yarḥêhū < yarḥai-hū) durchgesetzt; für die vier singularischen Vorkommen von yrḥ wird komplementär ein in der defektiven Schreibung nicht notiertes vokalisches Suffix der 3.P.sg. angenommen. Syntaktisch fungieren die Suffixe wahrscheinlich als proleptische Referenz auf die danach bezeichnete bäuerliche Tätigkeit, z. B. „seine beiden Monate, (die) vom Einsammeln“ = „die beiden Monate der (Obst‑)Ernte“.48 Wie zuerst H. Bauer gesehen hat, gibt es dafür auch Beispiele im Biblischen Hebräisch, unter anderem Belege für das sogenannte Waw compaginis, z. B.: ‫„ בנו צפר‬sein Sohn, nämlich Zippors“ (Num 23,18); ‫„ בלעם בנו בער‬Bileam, dem Be῾or sein Sohn“ (Num 24,3), oder auch ‫„ בבאם הכהנים‬beim Eintreten der Priester“ (Ez 24,14).49 Im 42  Besonders deutlich stellt Smelik, Dokumente, 28–30, diesen Bezug auf die ‚Schule‘ heraus mit dem Resümee: „Der Schreiber des Kalenders von Geser dürfte kaum zum Bauern, sondern zum Schreiber bestimmt gewesen sein.“ (29). 43  Galil, Inscription. 44  Rollston, Ostracon. 45 Vgl. bspw. Pardee, Gezer Calendar, 234–235. Der gängige Bezug auf die Orthographie der Hebräischen Bibel impliziert die haltlose Annahme, dass der kanonische Text die Schreibung darin integrierter Überlieferungen gleichsam fossilisiert über Jahrhunderte handschriftlicher Tradition reproduziert hätte. 46  So bspw. Schüle, Syntax, 37–38, und insbesondere Pardee, Gezer Calendar, 227–228, mit ausführlicher Literatur. 47 S. Renz/ Röllig, HAE I, 32–34. 48  Bauer, Sprachprobleme, 598, verweist auf einen ähnlichen Sprachgebrauch in süddeutschen Dialekten nach dem Muster von „dem Vater sein Hut“. 49 S. dazu mit weiteren Belegen Bauer, Sprachprobleme, 597–598 (bereits mit Bezug auf die Geser-Inschrift und phönizische Entsprechungen); Bauer/ Leander, Grammatik § 65i; Brockelmann, Syntax § 68b; Meyer, Grammatik § 45, 3.e; zuletzt Aḥituv, Echoes, 254. Ein Aramaismus lässt sich hier nicht unterstellen, weil vergleichbare Prolepsen erst im jüngeren Aramäisch belegt, durchgehend mit der Umschreibung des Genitivs mithilfe von di verbunden

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Phönizischen ist das proleptische Suffix ebenfalls belegt, primär in Infinitivkonstruktionen (analog zu dem Ez-Bsp.).50 Für die Form des Suffixes am Dual in der Geser-Inschrift müsste man sich allerdings auf einen für Byblos (!) belegten Dialekt beziehen und für das Nomen im Singular mit Ø-Graphem bei dem Suffix der 3. P.sg. zugleich auf das „Standardphönizisch“ (Tyros/Sidon).51 Wollte man trotzdem die Sprache als phönizisch bestimmen, ginge dies freilich nur verbunden mit der Annahme einer übernommenen Texttradition. Dies zeigen die zusätzlich auf dem Täfelchen eingetragenen Namen: Auf der Vorderseite steht senkrecht am linken unteren Rand ‫[אבי‬, das mit einem konsonantischen Jod zu lesen und am ehesten zu „Abijahu“ oder „Abijaw“ zu ergänzen ist.52 Auf der Rückseite las D. Diringer einen weiteren Namen: ‫פניה‬.53 Die Fotografie auf seiner Tavola II,1 lässt in der Tat am oberen Rand vier große Buchstaben(reste) erkennen, die nach Diringers Vorschlag zu lesen sind, ausgenommen das erste Zeichen. Dem Abstrich nach ist hier ein Pe auszuschließen, möglich erscheint im Grunde nur ein Kaph, so dass sich der Name ‫„ כניה‬Konjahu“ ergibt. An einem israelitischen Kontext des Schreibunterrichts, der mit dem Geser-Täfelchen indirekt belegt ist, wird man danach kaum ernsthaft zweifeln können.

Aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts sind bekanntlich größere Inschriften erhalten. Dazu rechnen als Monumentalinschriften der Mescha-Stein aus dem benachbarten Kleinstaat Moab und die ursprünglich von einem Herrscher des Königreichs von Damaskus (offenbar Hasael) errichtete Stele aus Tel Dan. Diese Königsinschriften zeigen einerseits einen literarisch-professionellen Gestaltungswillen, andererseits sind sie von vornherein auf ihre Funktion als Instrument der herrschaftlichen Selbstdarstellung und Legitimation, mit anderen Worten als Element des Herrschaftssystems, ausgerichtet. Dementsprechend erscheint es angebracht, sie sowohl von anspruchslosen Gebrauchstexten zu unterscheiden also auch von im engeren Sinne literarischen Texten; ich schlage vor, sie als „semi-literarische“ Texte einzuordnen. Definitiv literarische Texte sind epigraphisch extrem selten,54 dies allein schon deshalb, weil die relativ beständigen Ostraka nicht die primären Schriftträger für Bildungs‑ oder Traditionsliteratur darstellen, sondern (in einer Langzeitperspektive) vergängliche Materialien wie Papyrus oder Leder. Umso sensasind und wohl auf akkadischen (babylon.) Einfluss zurückgehen (Kaufman, Influences, 131– 132). Zudem zeigen „Analogiebildungen mit erstarrtem Suffix“ wie ‫ חיתו ארץ‬,‫מעינו מים‬, dass spätere Tradenten im Hebräischen die Konstruktionen nicht mehr verstanden haben; dazu zuletzt Meyer, Grammatik. 50 Garr, Dialect Geography, 167. 51  Pardee, Gezer Calendar. Vgl. Garr, Dialect Geography, 101.106–107. 52  Albright, Gezer Calendar, sowie bspw. Donner/Röllig, KAI, Nr. 182; Renz/ Röllig, HAE I, 36. Aḥituv, Echoes, 257, präferiert nicht ohne Grund die Namensform ‫„ אביו‬on the assumption that the writer was from Israel, in accordance with the Israelite orthography of the document“. 53 Diringer, Iscrizioni, 4.11. 54 Neben den schon genannten Beispielen von Ḫirbet Qeyafa und Geser kann man noch ein „literarisches Ostrakon“ aus Ḥorvat ῾Uzza (SW von Tel Arad) anführen, dessen Lesung sich allerdings als sehr schwierig erweist (neue multispektrale Aufnahmen wären in diesem Fall sehr zu wünschen); vgl. z. B. Aḥituv, Echoes, 173–177, und Na‘aman, Sapiential Composition.

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tioneller muss von daher die 1967 gelungene Entdeckung zweier literarischer Großtexte vom Ende des 9. Jahrhunderts v. Chr. erscheinen, von denen allein der zweite ursprünglich etwa den doppelten Umfang der Mescha-Stele hatte. Die Rede ist von Wandtexten, deren Fragmente, soweit sie den Einsturz der Trägerwand infolge eines Erdbebens überstanden hatten, in einer holländisch-jordanischen Grabung auf dem Tell Deir ῾Alla (wohl das biblische Sukkot) im östlichen Jordangraben geborgen und hervorragend dokumentiert werden konnten.55 Es handelte sich um von professioneller Hand in einer eleganten Kursive geschriebene Texte, die höchstwahrscheinlich von Vorlagen auf Papyrus oder Leder auf den Wandverputz des kleinen Raumes übertragen worden waren. Dafür spricht unter anderem das Layout der Texte, das mit der Kolumnenschreibung, mit Rahmenbildungen und dem Gebrauch von Rubrum an ägyptische Papyri erinnert.56 Die sukzessive Rekonstruktion der Texte57 hat dabei zunehmend auf bedenkenswerte Aspekte einer bewussten ästhetischen Gestaltung geführt (s. Abb. 1): – In Kombination A58 reicht die als Rubrum geschriebene Überschrift genau bis zur Zeilenmitte. Die ebenfalls in roter Tinte geschriebene Rede der Götter(boten) an Bileam beginnt genau in der Mitte von Zeile 2 und reicht bis an das Zeilenende. – Die Fragmente der Gruppe xiii mit ikonischen/geometrischen (?) Elementen in Rot (xiii-b) sowie mit einem rot-schwarzen Band mit Zickzack-Muster (xiii-c [zwei Teile] und d) und mit einem kräftigen waagerechten Strich in Schwarz (xiii-e) blieben bei den Rekonstruktionen bislang unberücksichtigt. Dabei zeigen zwei Buchstabenreste am oberen Rand der Fragmente xiii-b und xiii-d an, dass sie zu einer abschließenden Textzeile gehörten, die deshalb zu Kombination A gerechnet werden muss, weil der umfangreich erhaltene untere Abschluss 55 Hoftijzer/ van der Kooij, Deir Alla; Dies., Balaam Text. Die Datierung basiert (nach anfänglichen tentativen Ansetzungen in das 7. Jh. oder noch später) gemäß Ibrahim/ van der Kooij, Archaeology, 27–28, auf Carbon-14-Untersuchungen „with carbonized plant remains (grain and leaves) from the final destruction of Phase IX.“ Diese Untersuchungen „point to a time between 770 and 880 BC, with a high probability of the date being at the end of the 9th century BC.“ Vgl. auch Wenning/ Zenger, Heiligtum, 186, deren Resümee lautet: „Vom archäologischen Standpunkt sollte eine Datierung der Texte von TDA ins späte 9. Jh. v. Chr. vorgezogen werden.“ 56 S. bereits die Hinweise in Lemaire, Disposition, 37–38, und Weippert, Balaam Text, 176–177. 57  Der derzeitige Stand meiner eigenen Rekonstruktionen ist (neben Abb. 1) dokumentiert in Blum, Deir Alla (TUAT NF) (mit älterer Lit.) und Ders., Wandinschriften. Die Rekonstruk­ tionen der beiden Kombinationen basieren auf den minutiösen Nachzeichnungen von van der Kooij in Hoftijzer/ van der Kooij, Deir Alla. 58  Die übliche Bezeichnung der beiden Texte als „Combination/Kombination I bzw. II“ ist nicht eindeutig, ja geradezu irreführend, weil die Editio princeps mit „combination i–xii“ zusammengehörige Fragmentengruppen bezeichnet, ohne diesen damit den Status individueller Texte zuzuschreiben. Deshalb schlage ich seit Blum, Deir Alla (TUAT NF), vor, die beiden Texte als „Kombination A“ bzw. „Kombination B“ zu bezeichnen.

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Abb. 1: Tell Deir ʿAlla, Kombination A, © E. Blum (2018). [Abb. 1–3 sind elektronisch über www.uni-tuebingen.de/de/37469 zugänglich]

von Kombination B keinerlei Rahmengestaltung aufweist. Entsprechendes gilt dann auch für die übrigen xiii-Fragmente, zumal xiii-e sich recht gut mit xiii-b verbinden lässt, wobei der schwarze Strich auf xiii-e eine Art Separierungslinie unterhalb von Kombination A anzeigt.59 – Erstherausgeber G. van der Kooij weist in seiner vorbildlichen Dokumentation die Fragmentengruppen i und iii–vi aufgrund äußerer Kriterien wie der Fundkonstellation oder bestimmter materialer Merkmale der ersten großen Kombination (Text A) zu. Dies bewährt sich glänzend für die Gruppen iii und v, deren Elemente sich untereinander und im direkten Anschluss an die großen 59  Wenn man die Bemühung um symmetrische Relationen in Anschlag bringt, mag man zudem vermuten, dass das ehemals vielleicht bildhafte Element auf xiii-b die Mitte des unteren Rahmens bildete.

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Fragmente i-a bis d „joinen“ lassen.60 Mehr oder weniger tentativ lässt sich das Puzzle im unteren Teil von Text A mit der Mehrzahl der Fragmente von iv und vi weiterführen.61 Im Ergebnis spricht viel dafür, dass Kombination A ursprünglich achtzehn Zeilen umfasste, woran die recht aufwendige untere Rahmung anschloss. Gemessen vom oberen zum unteren (roten) Rahmen sowie von dem rechten (nicht gerahmten) Rand zu dem linken (roten) Rahmen, bildet der gesamte Schrift-‚Block‘ von Kombination A ziemlich genau ein Quadrat. Diese „äußeren“ Beobachtungen zum Layout von Kombination A62 haben erhebliche Konsequenzen. Zum einen ist damit gesichert, dass Kombination A und B zwei deutlich voneinander abgesetzte Texte darstellen.63 Bezieht man zum zweiten den Befund zu Kombination B ein, wo sich die Rahmung auf die rote Linie am linken Rand beschränkt, dann bestätigt dies die schon von van der Kooij präferierte Option, dass beide Texte in einer Kolumne untereinander standen, mit der linken Rahmenlinie als Begrenzung.64 Nicht zuletzt aber liegt es auf der Hand, dass eine solche Gestaltung professionelle Kunstfertigkeit und eine souveräne Meisterschaft im Umgang mit dem Medium der Schrift voraussetzt. Nimmt man noch die sprachliche Meisterschaft der Textbildung in einer nahezu rhythmischen Kunstprosa65 sowie das inhaltliche und diachrone Profil der Texte (dazu gleich) hinzu, wird rasch deutlich, dass diese in ‚ländlicher‘ Peripherie angebrachten Wandinschriften ohne eine über Generationen gereifte Schreiber‑ und Bildungstradition, in der solche handwerklichen und intellektuellen τέχναι vermittelt wurden, nicht zu denken sind. Umso unverständlicher erscheint es, dass in neueren und neuesten Publikationen zu unserem Thema die Texte von Deir ῾Alla zumeist gar nicht bzw. in eher wenig substantiellen Verweisen begegnen.66 60 Dazu im Einzelnen Blum, Prophetie, 88–94, Tafel (vor allem zu Zeilen 1–2); Ders., Kombination I (erneut zu Gruppe iii sowie zu Gruppe v). 61  S. dazu vorläufig Abb. 1. 62 S. dazu grundlegend auch van der Kooij, Book, 239–244. 63 Die auf erste Interpretationen (durch J. Hoftijzer u. a.) zurückgehende, aber bis in jüngste Publikationen wiederholte Rede von dem (einen) Bileam-Text in Deir Alla ist schlicht unsachgemäß. 64 Dazu van der Kooij, Book, 241–242 mit Fig. 1; diese Abbildung ist auch in Blum, Wandinschriften, 37 als Abb. 3 übernommen. 65 S. zuletzt Blum, Deir Alla (TUAT NF), 465, und die Übersetzung ebd., 466–469, mit Erläuterungen in den Fußnoten. 66  Das Urteil lässt sich natürlich nicht generalisieren; vgl. nur die Arbeiten von A. Lemaire u. a. Überraschenderweise gilt es aber für wichtige Publikationen von I. Finkelstein und B. Sass, in denen eine grundlegende Revision der von Albright, Cross, Röllig u. a. vertretenen Sicht der Schriftgenese in der Levante propagiert wird; s. Finkelstein/ Sass, Alphabetic Inscriptions; Sass, Aram; Ders., Emergence. Der massive Befund in Deir Alla mag dabei wenig gelegen kommen, doch verfehlt eine Fokussierung auf die archäologische Datierung (Phase X wenige Jahre vor oder nach 800 v. Chr.?) die weitreichenden Implikationen dieser Inschriften (s. i. F.). Deren Ausblendung als „outside the scope of the discussion“ über die Alphabetschrift im 10. und 9. Jh. bleibt m. E. deshalb ein methodisches Defizit. (So viel als knappe Replik auf eine

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Als vorläufiges Fazit des bisherigen Durchgangs bleibt festzuhalten: Nicht nur die oben bereits diskutierten Vorannahmen: (1.) die Quantität archäologisch belegter Gebrauchstexte als Indikator für die Produktion von Literatur (im engeren Sinne) und (2.) die direkte Korrelation von Literaturbildung und sozio-ökonomischer Entwicklung staatlicher Strukturen, Ressourcen etc. haben sich als kurzschlüssig erwiesen. Hinzukommt nun (3.) die scheinbar selbstevidente Annahme einer diachronen Priorität von Gebrauchstexten in der Entwicklung der alphabetischen Schriftkultur. Dies bewährt sich nicht.67 Im Gegenteil, man hat offenbar damit zu rechnen, dass literarische Texte von Anfang an zum Curriculum des Schreibunterrichts gehörten, sowohl auf der Elementarstufe (Qeyafa-Ostrakon; Geser-Täfelchen) als auch auf einer Fortgeschrittenen-Stufe oder „Hochschule“ (Deir ῾Alla; dazu gleich).

2. Institutionelle Voraussetzungen für Traditionsliteratur 2.1 Eine Meisterschule in Sukkot Wie bereits an anderer Stelle entfaltet, spricht meines Erachtens alles dafür, dass die sogenannten Deir ῾Alla Plaster Texts (DAPT) zu einem Schulraum gehörten, der damit die einzig bisher archäologisch erschlossene Schule der biblischen Zeit darstellen dürfte.68 Im Anschluss an die Ausgräber war die Grundfrage nach der Funktion und Bedeutung solch aufwendiger und umfangreicher Wandaufschriften innerhalb einer kleinen dörflichen Siedlung überwiegend mit der Annahme eines Heiligtums ebenda beantwortet worden. Archäologisch gibt es dafür jedoch keine Hinweise, wie H. J. Franken bereits in der Editio princeps der DAPT einräumte.69 Mehr noch, die beiden Texte, insbesondere Kombination Notiz von Benjamin Sass in Ders., Aram, 215 Anm. 63.) Zur Deutung der DAPT in Schmidt, Memorializing, s. u. Anm. 69. 67  Historisch ist hierzu zu bedenken, dass die Durchsetzung eines neuen Schriftsystems in einer Welt, die multifunktionalen Schriftgebrauch grundsätzlich sehr wohl kennt (Keilschriften, ägyptische Schriften), kulturgeschichtlich nicht mit der Genese von Schrift in Sumer etc. zu vergleichen ist. Eine entfernte Analogie: die Entwicklung automobiler Fahrzeuge verläuft anders als die Erfindung des Rads. 68  Blum, Kombination I, 596–597; detaillierter: Ders., Wandinschriften, 35–41; an eine Schule, wenn auch zunächst „une sorte d’école ‚prophétique‘“ (mit Verweis auf die Elisaüberlieferung von 2 Kön 6,1–2), hatte davor auch schon Lemaire, Inscription, 322, gedacht; vgl. auch die vorsichtige Überlegung in Ders., Ecoles, 92 Anm. 67. 69 Franken, Evidence, 13: „This interpretation is not warranted by archaeological evidence …“; van der Kooij, Art. Deir Alla, 341: „Although the plaster inscription, and perhaps the stone [gemeint ist ein Stein mit der Aufschrift ‫ = אבן שרעא‬Stein/Gewicht des Tores(?), E. B.], suggest a religious context, the building remains show no indications of cultic use.“ Noch dezidierter urteilen Wenning/ Zenger, Heiligtum; anders zuletzt Schmidt, Memorializing, 113–122, allerdings auf der Basis einer problematischen Lesung der Texte. Dazu gehört die Rede von „dem (einen) Bileam-Text“ (Kombination B ist offenbar nicht im Blick), dessen Deutung

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B, sprechen deutlich gegen einen kultischen Kontext, wie sogleich zu entfalten sein wird. Ebenso scheidet eine königlich-repräsentative Funktion aus; die Anbringung von Texten in einem unscheinbaren Raum innerhalb eines peripheren Weilers wäre dafür dysfunktional, ebenso das Profil der Texte. Für die Funktion als Schule spricht die Anlage des Raums mit den Inschriften, die durch eine erst vor wenigen Jahren entdeckte antike Schule entscheidend bestätigt wird. Nicht zuletzt fügt sich schließlich auch die Pragmatik der beiden Texte nahtlos und bestätigend in diese Deutung ein. Nach der Rekonstruktion des Inschriftenraums durch G. van der Kooij waren die Texte auf der rechten Seite der (schmalen) Westwand in einer Kolumne angebracht. Eine teilweise erhaltene Verlängerung des oberen breiten Striches der Rahmung von Kombination A in roter Tinte zeigt an, dass die Option weiterer Aufschriften links von der bestehenden Kolumne eingeplant war. Vor der langen südlichen und der schmalen östlichen Wand verlief nach den Ausgräbern eine Bank. Die Gesamtkonstellation ist offen für eine funktionale Deutung als Schulraum, in dem die verputzte Wand sozusagen als Tafel diente und die über eine Ecke laufende Bank den Schülern zur Verfügung stand. Einen überraschenden Beleg für die postulierte Funktionalität einer solchen Raumstruktur erbrachten amerikanische Grabungen der Jahre 2004–2007 in der ägyptischen Oase Dakhla im Bereich der antiken Stadt Trimithis, in denen erstmals antike Schulräume archäologisch nachgewiesen wurden.70 Sie waren in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. offenbar sekundär innerhalb eines großangelegten Privathauses für den Schulbetrieb eingerichtet worden. Einer dieser „Klassenräume“ (R15) wurde noch in einer Wandhöhe von über 2 m aufgefunden. An einer der Wände stand eine gemauerte Bank; auf der gegenüberliegenden Wand sind Teile des Verputzes erhalten mit in roter Tinte geschriebenen Schultexten, angeordnet in fünf Kolumnen. Es handelt sich um Epigramme, die wohl von dem Lehrer für den Unterricht verfasst wurden; jedenfalls nehmen sie in direkter Anrede an die Schüler deren Schulsituation auf.71 In einem anderen Klassenraum fanden sich oberhalb der Bank auf der weiß gegipsten Wand zwei literarische Texte (Verse aus der Odyssee und ein Prosatext, vermutals „oracle against the nations“, „in this case an oracle pronounced by the Aramean version of the god El against the foreign peoples of Ammon-Gilead“ (a. a. O., 118; Hervorhebung i. O.) oder die These von einem „dominant Aramean cult dedicated to El and Shagar at Deir Alla“ (120) (das Vorkommen von „El“ bedeutet nicht, dass El an diesem Ort verehrt wurde; die in älterer Lit. angenommene Göttin Šagar gibt es in DAPT nicht). 70  Cribiore u. a., Teacher; Davoli/ Cribiore, Scuola; Cribiore/ Davoli, Amheida. S. auch das detailliertere Referat zu den Befunden und Deutungen der Ausgräber in Blum, Wandinschriften, 39–40, sowie das auf der Internetseite „amheida.org“ eingestellte Material. 71  So gleich in der ersten Kolumne: „… here (I withdraw) near the sources of the sacred leaves. But may god grant my wishes that [you all] learn the Muses’ honeyed works, with all the Graces and with Hermes son of Maia reaching the full summit of rhetorical knowledge. Be bold, my boys: the great god will grant you to have a beautiful crown of manifold virtue.“ Zitiert nach Cribiore u. a., Teacher, 186.

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lich aus Plutarch). Da zwischen den „Schulräumen“ auf dem Tell Deir ῾Alla und im römerzeitlichen Trimithis mehr als tausend Jahre liegen, mag die Parallelität der räumlichen Konstellation und der ‚Lehrmittel‘ einerseits verblüffen. Anderseits resultiert diese aus einer analogen, alles in allem einfachen Funktionalität, die den Anforderungen eines Gruppenunterrichts gerecht wird. Von daher kann hier die Frage einer wie auch immer vermittelten Kontinuität zwischen der eisenzeitlichen und der antiken Einrichtung72 auf sich beruhen. In unserem Zusammenhang zentral ist hingegen die Frage nach dem Charakter dieser „Schule“ auf dem Tell Deir ῾Alla / Sukkot, nach ihrem Zweck sowie nach den Implikationen hinsichtlich Schriftkultur und Literaturbildung in der Levante des 9. Jahrhunderts. Grundlegende Konstellationen des Kontextes sind einigermaßen klar profiliert: Die Sprache der DAPT ist – ausweislich der Hasael-Inschrift von Tel Dan –73 damaszenisch-aramäisch.74 Sie waren in dem von Israeliten bewohnten östlichen Jordangraben ‚ausgestellt‘, ihre archäologische Datierung verweist aber auf einen Zeitabschnitt, in dem die transjordanischen Regionen des Nordreiches von Hasael erobert und von Damaskus kontrolliert waren (max. 845/44 bis ca. 790; vgl. 2 Kön 10,32–33; 13,7, für das nördliche Jordantal auch die Tel Dan-Stele). Das in dieser Phase sehr kleine Sukkot lag – von Damaskus aus gesehen  – in der äußersten Peripherie. In merkwürdigem Kontrast dazu steht der ebenda betriebene Aufwand. Dazu gehören nicht nur die 72 Die

Linie wäre dabei natürlich bis in die Gegenwart auszuziehen, bspw. über Comenius’ Orbis pictus in der Ausgabe von 1658 (mehr als 1300 Jahre nach Trimithis) mit der Illustration zum Kapitel „Schola/Die Schul“, die einen Klassenraum mit einer beschriebenen Wandtafel zeigt, bis hin zu den vor 40 Jahren noch nicht selbstverständlichen Wandprojektionen. 73  Zur Bedeutung dieses Textes für die Einordnung der Sprache der DAPT s. Tropper, Dialektvielfalt, 215; zu seiner Lesung Blum, Relations. 74 Blum, Wandinschriften, 24. Ein eigener Beitrag zur Literatursprache von Damaskus in der Königszeit erscheint in Kürze in einer (hebr.) Gedenkschrift für David Talshir (Beer Sheva). Knauf, Inscriptions, 190–191, bestreitet diese Einordnung der Sprache mit dem Argument, dass Hadad in der Götterwelt von Kombination A keine Rolle spiele (dazu s. u. S. 20). Obschon dort auch keine Spur von JHWH zu finden ist, sieht er darin aber keinen Hinderungsgrund dafür, den Text als „israelitisch“ zu bestimmen, ähnlich wie schon in Ders., Biblisch-Hebräisch, 15–17, nun aber mit der Konkretisierung, es handle sich um „Omride Israelite“ (OI), die Schriftsprache des Nordreiches unter den Omriden. Für ein solches, sprachlich mit den DAPT übereinstimmendes OI gibt es jedoch keinen epigraphischen Beleg, vielmehr zeigen nordisraelitische Inschriften (Samaria-Ostraka; Kuntillet ῾Ajrud [8. Jh.]) eine deutlich andere Sprache. Deshalb muss Knauf einen Wechsel der Schriftsprache unter der Jehu-Dynastie zu einem „Nimshide Israelite“ (NI) postulieren; Letzteres „was as close to Phoenician as OI had been to Ancient Aramaic“ (Ders., Inscriptions, 191). Ein solcher Sprachwechsel von einem Quasi-Aramäisch zu einem Quasi-Phönizisch ist nicht nur per se eine nicht eben plausible Vorstellung, sondern passt auch historisch schlecht, insofern für die Omriden gerade die Verbandelung mit Sidon (Heiratspolitik!) belegt ist. Zudem herrschte in den letzten Jahrzehnten des 9. Jh. (das wahrscheinlichste Zeitfenster für die DAPT) bereits die Jehu-Dynastie, während die transjordanischen Gebiete von Hasael (Damaskus) okkupiert waren. Wer sollte dort an einer solchen Inszenierung „omridischer“ Texte ein Interesse haben? Oder gar nach der Wiedereroberung im 8. Jh. durch die Nimschiden (Joasch, Jerobeam II.)? Hier passt einiges nicht.

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Präparation des Wandverputzes für weitere Aufschriften75 und die meisterhaft ausgestaltete Präsentation der Texte (s. o.), sondern bereits die anspruchsvollen literarischen Texte selbst. Kombination A beginnt bekanntlich mit einer Erzählung von dem Seher Bileam: Im Auftrag Els kommen zu ihm Götter mit der (in Rubrum geschriebenen) Aufforderung, das kund zu tun, was er von „ihrem“ [scil. der hohen Götter] Vorhaben geschaut hat. Bileams anhaltendes Weinen und Fasten lässt denn auch seinen ῾amm (Sippe, Volk?) besorgt zu ihm kommen, woraufhin er ihnen seine Schau der Götterversammlung mitteilt, in der die hohen Götter (?) – šaddayin – der Sonnengöttin erlaubten, Dürre, Finsternis und Schrecken herbeizuführen – wenn auch nicht für immer (‫)עד עלם‬. Auf die knapp sieben Zeilen der Erzählung folgen dann aber elf Zeilen76 einer ausführlichen Beschreibung eines Mundus inversus mit der Verkehrung der sozialen Ordnungen unter Tieren und Menschen, mit frevlerischer Gewalt, Unfruchtbarkeit und Not, in der Bileam keine Rolle mehr spielt. Diese Schilderung ist wohl als Erklärung (des textimpliziten Autors) für den Beschluss der Götter zu lesen.77 Der konzise Erzählungsteil und die breite Schilderung der chaotischen Welt stehen auffällig unverbunden und unausgeglichen nebeneinander. In diachroner Perspektive handelt es sich um einen Komposittext,78 wobei die Erzählung bzw. ihr Stoff (mit einem anderen Abschluss) eine eigene Vorgeschichte gehabt haben dürfte. Unsere Kombination A bildet jedenfalls keine Prophetenerzählung mehr, sondern ein lehrhaftes Exempel für die Folgen einer chaotischen Verkehrung der guten Ordnungen in der belebten Welt. Auf diese weisheitlich-paränetische Pragmatik hin ist denn auch die mit Rubrum markierte Überschrift formuliert: .‫]בלעם ברבער‬.[‫]ספר‬.[‫יסרי‬ ‫אלהן‬.‫חזה‬.‫„ אש‬Die Lehren der Schrift des Göttersehers (//des Mannes, der die Götter geschaut hat) Bileam bar Beor“. Signifikant ist weiterhin, dass das Königtum als Institution oder auch staatliche /ethnische Identifikationsgrößen keine Rolle spielen. Dem korrespondiert, dass in der Welt der Götter kein Dynastie-/ Staatsgott in Erscheinung tritt und lediglich die Sonnengottheit als Hüterin der Rechtsordnung sowie der menschenfreundliche, aber etwas entrückte El namentlich agieren. Darüber hinaus bleibt offen, ob bzw. in welcher Weise die intendierten Rezipienten ihre eigene Lebenswelt mit derjenigen der Erzählung und ihrer Akteure (Bileam, dessen 75 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch eine bildliche Darstellung über dem breiten oberen Rahmungsstrich, die von Keel/ Uehlinger, Göttinnen, 237 Anm. 165, als „stilistisch perfekte Darstellung eines Keruben“ bezeichnet wird. 76 Allerdings lassen sich die letzten zwei Zeilen bislang auch nicht annäherungsweise rekonstruieren. 77  Bei einer Fortführung der Rede Bileams wäre nach dem Zitat der Götteransprache eine erneute Redeeinleitung zu erwarten. Die verkehrte Welt als Entfaltung der Folgen des Strafhandelns der Sonnengöttin scheidet wegen der völligen Inkongruenz zwischen ihr und dem Götterbeschluss in Zeile 6–7 aus. 78 Dazu genauer Blum, Kombination I, 594–596.

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῾amm) verbunden sahen. All dies fügt sich zweifellos zur weisheitlich-lehrhaften

Ausrichtung der „Endgestalt“. „Weisheit“ ist auch ein entscheidendes Stichwort mit Blick auf die zweite Kombination (B), der eine noch unmittelbarere Signifikanz für die hier verhandelte Fragestellung zukommt. Ihr Text war ursprünglich mehr als doppelt so umfangreich wie Kombination A. Gleichwohl wirkt der überkommene Text B wegen der Schriftverluste erheblich fragmentarischer. Mitunter genügen gleichwohl wenige Sätze, Phrasen oder Signalwörter, um Grundzüge eines Textes zu erfassen.79 Dazu gehören hier die zahlreichen Anreden an eine 2. P.sg. neben einzelnen Formulierungen in der 1. P.sg. /pl., wiederholte Fragen, das völlige Fehlen narrativer Elemente oder die enkomische Tonlage im Schlussteil sowie eine wohl durchgehend gebundene Sprache. All dies deutet auf ein diskursives Genre, ausgeführt in poetischer Versdichtung. Inhaltlich handelt es sich offenbar um ein Gespräch, möglicherweise zwischen Lehrer und Schüler, über das Todesgeschick des Menschen, über gemeinschaftsgemäßes Handeln und  – im Zentrum – über die Aufgaben und den Stand des gebildeten Schreibers. Das erste Thema bestimmt die Zeilen 5–16 mit dem dominierenden Wortfeld von Grab, Tod und Verwesung sowie einer Frage, die in Z. 5 und 1680 anscheinend den ersten Hauptteil vor dem Rubrum in Z. 17 inkludierend abrundet: [‫רטב‬ ֯ .‫כל‬.‫ומדר‬.‫נקר‬.‫לם‬ Warum ist/wird modrige Krume81 jeder, der im Saft steht (= jeder Lebende)[, nachdem …]

Das zweite Thema begegnet im zweiten Hauptteil, in dessen lesbaren Abschnitten allerdings nur mit negativen Mustern eines gemeinschaftswidrigen Handelns, so z. B. in Z. 23: „Sein Arm soll verdorren! Bestechung ist in seiner H[an]d“, und gegen Ende von Z. 24: „Werden wir seine Hände nicht verwünschen, ja verwünschen?“ Das Selbstverständnis derer, die hier miteinander diskutieren, wird in Z. 9 expliziert: „Wird den Plan (‫ )עצה‬nicht mir dir beraten/oder einen Ratschlag nicht (bei dir) holen der Thronende?“ Nicht weniger deutlich, aber differenzierter, wird mutmaßlich der Dialogpartner, der die bohrenden Fragen im Sinne von Z. 5 stellt, in der Mitte des Textes angesprochen, in der Rubrum-Halbzeile von Z. 17, welche die Gliederungsachse zwischen den beiden Hauptteilen bildete (s. Abb. 2):82 79  Zum Folgenden vgl. Blum, Dialog, und (mit einigen Korrekturen) Ders., Deir Alla (TUAT NF), sowie Abb. 2 in Ders., Wandinschriften, 32. 80 Vorausgesetzt, [‫נק‬ ֯ ֯ .‫לם‬.‫ שאלתך‬ist zu lesen: „Ich habe dich gefragt: ‚Warum ist Mod[er …“. Zu dem mit Frgm. xii-o ergänzten ‫ ק‬s. Blum, Dialog, 43 mit Anm. 65. 81  Zu den hier als Hendiadyoin aufgefassten Nomina und ihrer Bedeutung in Text B s. Blum, Dialog, 41–43. Für den metonymischen Gebrauch von ‫ רטב‬ist auf Hiob 8,16 und auf die Semantik des hebräischen ‫ לח‬zu verweisen. 82  Im Falle einer exakten Symmetrie, wofür die Befunde bei Text A sprechen dürften, gingen den erhaltenen Zeilenanfängen auf Frgm. ii-a noch vier weitere Zeilen voraus.

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Abb. 2: Tell Deir ʿAlla, Kombination B, Zeilen 16–26, © E. Blum (2018).

‫ ֯ס!פר‬.‫לי֯ דעת‬. Verstehst du dich nicht83 auf die Schreibkunst,84 ‫לשן‬.‫על‬ ֯ .]‫ל[ש]נ֯ [ה‬.‫דבר‬. anzuleiten den, der auswendig85 [repe]tiert?86 ‫ומלקה‬ ֯ .‫ ֯מ ֯שפט‬.‫ ֯ל ֯ך‬Dir obliegen Rechtsprechung87 und Sinnspruch88! 83  Seit der Editio princeps hat man hier ‫ לדעת‬gelesen, wohl in der Annahme, dass der winzige Buchstabenrest vor dem Dalet zu dem Lamed auf dem verschobenen Fragment des Verputzrandes gehörte (s. Hoftijzer/ van der Kooij, Deir Alla, Plate „Combination II; fragments a,b,c“). Dies ist aber ausgeschlossen (vgl. Abb. 2): Orientiert man sich bei der Justierung der Fragmente an den Anschlüssen der Zeilen 16 und 18 etc., fügen sich nicht nur die Konturen der betroffenen Fragmente passend zueinander, sondern auch das Lamed von Z. 17 steht so erst auf der zu erwartenden Höhe in der Zeile; zugleich wird evident, dass es mit besagtem Buchstabenrest nichts zu tun hat. Als mögliches Zeichen, zu dem dieser Tintentupfer gehörte, bleiben nur die kleinsten Buchstaben Zayin oder Yod. Davon kommt ein Zayin aber aus sprachlichen Gründen nicht infrage. Nachtrag: In einem rezenten Beitrag bestreitet Wearne, Guard, 129, die hier vertretene Lesung am Anfang von Z. 17 unter Berufung auf die Photographie in der Editio princeps (Plate V – ii b,c) und auf eigene Inspektion der Fragmente in Amman mit der Begründung: „… in my opinion there can be no doubt that there is a direct join connecting the fragments in question. Therefore, there is simply not space for the yôd which Blum restores.“ Der Argumentation liegt jedoch ein Missverständnis zugrunde, insofern meine Rekonstruktion einen „physical join … between the fragments“ nicht bestreitet. Entscheidend ist vielmehr zum einen der sowohl in der Photographie als auch in van der Kooijs Nachzeichnung erkennbare Abstand zwischen den beschriebenen Oberflächen (surfaces) der beiden Fragmente, angezeigt durch das von Wearne als „smear“ bezeichnete Füllmaterial der modernen Restauratoren, sowie zum anderen die (regelhafte) Höherstellung des Lamed (s. Abb. 2). Da die Buchstaben am Anfang der Zeile inzwischen verblasst sind, bleibt auch Wearne hierzu zugestandenermaßen nur die Orientierung an van der Kooij. Seine eigene Lesung und Übersetzung der Rubrumzeile in Kombination B lautet: ld῾t . s̊ pr . dbr . lš̊ m̊ r̊ . ῾l . lšn . lk̊ . m̊ špṭ . wmlqh̊  – „Heed the account! Speak and retain it orally: A judgement and a punishment.“ Allerdings gibt sie philologische Fragen auf: ein Inf. cstr. mit imperativischer Bedeutung ist im Aramäischen und Althebräischen ohne Anhalt; der Bezug des lk auf den (in der Lesung unsicheren) Infinitiv lš̊m̊r̊ erscheint syntaktisch kaum möglich; damit steht auch die Satzabgrenzung infrage; die Idiomatik von yd῾ spr bleibt unbeachtet.

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Im Zentrum der weisheitlichen Dialogdichtung steht damit ein Idealbild des Schreibers und Lehrers, seiner Qualifikationen und Verantwortung: Die Grundlage bildet die Schriftkompetenz, deren Professionalität auch in der Tätigkeit als Lehrer zum Ausdruck kommt. Er darf sich als Angehöriger der gesellschaftlichen Elite und für deren Leitungsaufgaben (Rechtsprechung) gerüstet sehen. Ist ‫ מלקה‬hier in der Tat als „Sinnspruch“ oder ähnlich zu verstehen, dann werden zur Verantwortung des Schreibers/ Lehrers zuletzt ausdrücklich die weisheitlichen Traditionstexte, ihre Produktion und Pflege, gezählt. Alles in allem spiegelt sich hier, differenziert und selbstbewusst, ein „Schreiberstand“, der um seine gemeinschaftstragende Bedeutung weiß89 und dem vor Augen steht, welche Aufstiegsmöglichkeiten sich im Einzelfall damit verbinden (Z.9: Ratgeber am Hof!).90 Mit alldem repräsentiert Kombination B den perfekten Schul‑ und Bildungstext: In gehalt‑ und anspruchsvollem Diskurs über Grundfragen des Lebens thematisiert er die Pragmatik des Studiums selbst, didaktisch wirkungsvoll markiert in der zentralen Rubrum-Zeile. Ein Berufsstand von Schreibern, wie er sich hier mit seinen diversen Qualifikationen literarisch spiegelt, entsteht und etabliert sich nicht in einer Generation. Innerhalb eines solchen Prozesses stellt erfahrungsgemäß die literarische Selbstreflexion und ‑artikulation des eigenen Standes noch einmal ein jüngeres Phänomen dar (auch wenn man dafür von älteren Schriftkulturen ggf. lernen konnte). Darüber hinaus wurden die Texte A und B mit Sicherheit nicht erst für das periphere Sukkot konzipiert und verfasst, vielmehr stellen sie beide schöne Beispiele für „Traditionsliteratur“ dar. Für Kombination A ist hierzu noch 84 Für die Lesung des Samek s. van der Kooij, Book, 260–261. Zu dem Idiom ‫ ידע ספר‬vgl. Jes 29,11 (Qere).12. 85  Entsprechend dem hebräischen ‫על פה‬. 86 Das Verständnis als Frage ergibt sich zwingend aus der Weiterführung mit der folgenden Aufgabenstellung und aus der Markierung mit Rubrum. 87  Zur Idiomatik der Phrase mit ‫ ל‬+ ePP vgl. Hos 5,1; Mi 3,1; Dtn 1,17. 88 Entsprechend hebr. ‫מליצה‬, das parallel zu „Mašal“, „Rätselspruch“, „Worte der Weisen“ oder „Lied“ gebraucht werden kann (Spr 1,6; Hab 2,6; Sir 48,17). Die Festlegung auf eine präzise Bedeutung ist kaum möglich. Orientiert man sich an der Semantik von ‫( מליץ‬hebr.: Sprecher in freier Rede, Übersetzer etc., dazu DCH 5, s. v. ‫ ֵמ ִליץ‬I+II; vgl. dabei auch Sir 10,2: „der Richter // seine ‫ ;“מליצים‬außerdem phönizisch: KAI 26 A I,8 [phön.]: Wortführer, Widerredner), kann man zu „freie/kunstvolle Rede“ neigen (so in meinen früheren Publikationen). 89 Dem diente auch der geradezu hymnische Lobpreis am Ende (Z. 35–36), wenn er sich – wie mir wahrscheinlich ist – auf den Meisterlehrer bezog: „Seine Lippen] lassen ein Lied flie[ßen], und [seine] Zun[ge … // Seine Lippen] lassen Tau fließen, und seine Zunge […“ (vgl. Dtn 32,2!). 90 Eine andere Frage, die hier nicht weiterverfolgt werden kann, ist die nach der textimmanenten und ‑pragmatischen Funktion dieses prononcierten Appells an den Rang und die Aufgaben des Schreibers. Möglicherweise reicht für eine Antwort die Substanz des erhaltenen Textes (vor allem im zweiten Teil) nicht aus. Denkbar immerhin ist, dass der (erfahrene) Gesprächspartner auf die bohrenden Fragen nach der Vergänglichkeit und der Welt der Toten ‚antwortet‘, indem er den Fragenden in das Hier und Jetzt seiner Möglichkeiten und Aufgaben zurückholt und dazu im zweiten Teil Herausforderungen und Handlungsalternativen in der Welt der Lebenden vor Augen stellt.

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einmal an die Indizien auf einen Kompositcharakter des Textes zu erinnern, in dem verschiedenartige ‚Bausteine‘ der Überlieferung miteinander verbunden wurden. Im Falle von Kombination B wäre insbesondere den Affinitäten zu ‚internationalen‘ (besonders mesopotamischen) weisheitlichen Werken nachzugehen,91 die traditionsgeschichtliche Zusammenhänge / Anregungen nahelegen dürften. So treffen sich die oben skizzierten Beobachtungen zum überlegten und aufwendigen Layout mit der Komplexität und Reflexivität der Texte: Hier tritt uns eine reife literarische Kultur entgegen. Deren Genese und Ausbildung brauchte Zeit; ob die vorangegangenen Jahrzehnte des 9. Jahrhunderts dafür ausreichten, darf man füglich fragen.92 Was lässt sich den Gegebenheiten in Deir ῾Alla mit Blick auf das „Schulwesen“ im südlevantinischen Bereich und dessen Implikationen für die Art und Ausprägung von Literalität entnehmen? Zunächst liegt auf der Hand: eine damaszenische Schule dieses Standards in einem Weiler nahe dem Jordan war keine private Einrichtung, sondern staatlich, das heißt von Damaskus initiiert und getragen. Als Abzweckung mag man die Fortbildung von Aramäern, die in der Region stationiert waren, vermuten oder (eher) die Enkulturation und Fortbildung gileaditischer Schreiber und Führungskräfte im Sinne von Damaskus. Wesentlicher für unseren Zusammenhang ist aber das Licht, das hier auf das Niveau und die Ressourcen des „Schulwesens“ in Aram-Damaskus im 9. Jahrhundert fällt. Die mit sicherer Hand aufgetragene, elegante Kursive und die formalen Finessen zeigen einen maître-scribe (Lemaire). Man möchte ihn sich als einen für die Provinz abgestellten Meisterlehrer aus Damaskus vorstellen.93 Damit, aber auch wegen der anspruchsvollen Texte steht außer Frage, dass es nicht um Elementarunterricht ging, sondern um ein ‚Studium‘ von bereits schriftkundigen Schülern (oder auch Lehrern). Selbst wenn man nicht mit großen ‚Studenten‘-Zahlen rechnen wird, veranschaulicht diese „Höhere Schule“ weitab von Damaskus die Fragwürdigkeit mancher Engführungen in der Literatur, etwa der verbreiteten Mutmaßung, wonach Literalität in einem qualifizierten Sinne das exklusive Privileg einiger mit dem Hof verbundener Experten in der Hauptstadt war. Schließlich konnte jeder talentierte Besucher dieser Provinzschule seinerseits zu einem Multiplikator an anderer Stelle werden. Eine ähnlich unerwartete Diversität scheint bereits ca. 150 Jahre früher – auf sehr viel schlichterem Niveau und vermutlich  S. dazu bislang Blum, Deir Alla (TUAT NF), 470–471.  Noch größer sind meine Zweifel, dass sich die angesprochenen Befunde mit der in Tel Aviv vertretenen These (s. o. Anm. 66) vereinbaren lassen, wonach das standardisierte Alphabet sich erst in der zweiten Hälfte des 10. Jh. über seine angeblich philistäische Heimat hinaus verbreitet und dann ab 900 eine nach-protokanaanäische Kursive entwickelt hätte. 93 Weshalb die Wahl auf Sukkot fiel, wird letztlich verborgen bleiben. Ein Faktor mag die verkehrstechnisch günstige Lage bei der Einmündung des Jabbok-Tals in den Jordangraben gewesen sein. Andere Gründe im Zusammenhang einer angeblichen industriellen Fertigung von Textilien auf dem Tell Deir ῾Alla vermutet Schmidt, Memorializing, 113–120. 91 92

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auf einer (familiären?) Lehrer-Schüler-Beziehung beruhend – das „literarische“ Ostrakon von Qeyafa zu belegen, ganz unabhängig davon, wo man das politische Zentrum vermutet, dem die Gründung dieses kleinen befestigten Ortes zu verdanken war. Ebenso haltlos ist das Bild einer sachlich-thematisch vorrangig mit dem Königtum verbundenen Literatur in der Königszeit. Schon und gerade die frühen Schultexte zeigen eine Bildungsliteratur, die enge Ausbildungszwecke transzendiert. 2.2 Diversität der Schriftkultur und Anzeichen einer literarischen „Koiné“ Bedeutet der bislang singuläre Befund von Deir ῾Alla, dass das Königreich von Damaskus hinsichtlich seiner Schriftkultur einen Sonderfall in der Levante darstellte? Eine solche Schlussfolgerung wäre ohne Grundlage, nicht deshalb, weil aus dem Kernterritorium von Aram-Damaskus bislang noch kein einziger epigraphischer Fund bekannt geworden ist, sondern aufgrund des sich nach und nach differenzierenden Gesamtbildes. Ungefähr aus der gleichen Zeit wie die DAPT im Jordangraben stammt ein Hort von 170 Siegelabdrücken (Bullen), der im Füllmaterial eines eisenzeitlichen Privathauses nahe der Gihonquelle in Jerusalem gefunden wurde.94 Etwa die Hälfte davon zeigt auf der Rückseite Spuren von Papyrusmustern, diente demnach der Siegelung von Papyrusdokumenten; für die übrigen wäre zu prüfen, ob sie möglicherweise auf Dokumenten aus Leder angebracht waren. Dieser Einzelfund – nach mehr als hundert Jahren archäologischer Grabungen in Jerusalem und wohl nur dank eines relativ neuen „wet sifting“-Verfahrens entdeckt – indiziert nicht nur eine bis dahin nicht erwartete Intensität der schriftlichen Kommunikation (Briefe, Lieferscheine etc.) im Südreich Juda um 800 v. Chr., sondern belegt noch einmal augenfällig, dass die mit Abstand wichtigsten Schriftträger der Eisenzeit in der Levante, nämlich Papyrus und Leder, dem Zugriff der Archäologie im Wesentlichen entzogen bleiben und bestenfalls indirekt angezeigt werden.95 Mit anderen Worten, eine absence of evidence ist in diesem Bereich definitiv keine evidence of absence. Dies bedeutet dann auch, dass der von I. Finkelstein und B. Sass als problematisch gesehene Negativbefund epigraphischer Quellen aus dem Israel der Omridenzeit (Samaria, Megiddo etc.) keineswegs Mutmaßungen über dessen Illiteralität begründet.96 Vielmehr handelt es sich um eine Pseudo-Aporie: Wahrscheinlich spricht der Befund im Gegenteil

94  Reich u. a., Discoveries. Zur stratigraphischen Datierung s. Finkelstein/ Sass, Alphabetic Inscriptions, 192: „[…] they may belong either to the late Iron IIB […], sometime in the second half of the ninth century, and/or in early Iron IIB, the first half of the eighth century.“ 95  Zumal auch die kleinen fragilen Tonbullen ‚verderblich‘ sind. Wieviel mag davon bei älteren Grabungen im Abraum geblieben sein? – Vgl. wieder oben Anm. 14. 96 S. Finkelstein/ Sass, Alphabetic Inscriptions, 190–191.199.

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für das technische Niveau einer literalen Kommunikation, bei der Ostraka etc. als Notbehelf eine untergeordnete Rolle gespielt haben.97 Eine entsprechende Erklärung wird gleichermaßen für die nahezu komplette Absenz epigraphischer Textbelege aus der persischen Provinz Jehud (6.–4. Jh.) anzunehmen sein, insbesondere mit Blick auf archäologisch gut erschlossene Orte wie Ramat Raḥel. Indirekte Belege bieten auch hier Siegelabdrücke, wie das von N. Avigad herausgegebene „Archiv“ mit 65 Bullen.98 Allerdings gilt dies primär für Dokumente, Warenscheine etc. in der Verkehrssprache der Zeit (Aramäisch). Mit Blick auf die Wahrscheinlichkeit hebräischer Texte in dieser Epoche gilt es weitere, diverse Überlegungen einzubeziehen: Einerseits sind manche Textsorten, z. B. Briefe auf Ostraka, wie sie aus der letzten Zeit des Königreichs Juda vor allem im Bereich des Militärs belegt sind, in der Perserzeit kaum zu erwarten, ihre Absenz ist deshalb insignifikant. Andererseits verlangte ein Training in der althebräischen Schriftsprache nachexilisch einen spezifischen Schulbetrieb, parallel zu dem, der für die geläufige aramäische Verwaltung und den Geschäftsverkehr in der Provinz ausbildete. Angesichts der dürftigen personellen Ressourcen in Jehud (s. o.) erscheinen von daher Hypothesen, die fraglos mit der Möglichkeit rechnen, dass der Löwenanteil der alttestamentlichen Literatur, teilweise mit Hundertschaften redaktioneller „Hände“ in eben dieser Zeit entstanden sei, historisch erstaunlich unbekümmert. Nota bene: außerhalb der Bibel gibt es bislang keine „Evidenz“ für eine althebräische Literatur in persischer Zeit.

Für die Königszeit hingegen lohnt ein bewusster Blick auf die bemerkenswerten inschriftlichen Funde in Kuntillet ῾Ajrud (= KA), das bekanntlich eine befestigte Wegstation an der Handelsstraße zwischen dem Roten Meer und dem Mittelmeer darstellte. Die Station bestand nur wenige Jahrzehnte in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts, also ein bis zwei Generationen nach der damaszenischen Schule auf dem Tell Deir ῾Alla. Vom Nordreich Israel (vermutlich Jerobeam II.) eingerichtet und unterhalten, war der König hier allerdings nicht mittels der Texte präsent (soweit sie erhalten sind), sondern ikonisch, im ‚Sprachcode‘ von Wandbildern.99 Die dank des ariden Klimas und der kurzen Besiedelung un-

97  S. dazu die erhellenden Ausführungen bei Richelle, Scrolls, 9–12, über die Bedeutung der organischen Schriftträger und zu empirischen Daten hinsichtlich ihrer Haltbarkeit. Die von Finkelstein/Sass, Alphabetic Inscriptions, wiederholt gestellte Frage: „How is it that the Hebrew alphabet has not trickled down from the postulated papyri to archaeologically-detectable ostraca […]“ (ebd., 199; vgl. auch 190–191, aufgenommen von Schmidt, Memorializing, 122), spiegelt ein Problem neuzeitlicher Archäologen, nicht das der alten Schreiber, für die sich die Frage der Haltbarkeit von Papyrus kaum stellte. Eher im Gegenteil: die Registrationsnotizen der Samaria-Ostraka, z. B., brauchten wahrscheinlich nur solange aufbewahrt werden, bis sie in übersichtliche Listen auf Papyrus übertragen waren; danach konnten sie als Füllmaterial von Fußböden dienen. 98  Avigad, Bullae. Leider stammen die Objekte aus dem Antiquitätenhandel, sind also hinsichtlich ihrer Herkunft und Authentizität nicht gesichert. In Avigad/Sass, Corpus, wurden sie offenbar nicht aufgenommen. In Ramat Rahel fehlen Bullen, im Gegensatz zu der Vielzahl von Krugstempeln. 99  Beck, Horvat Teiman; Keel/ Uehlinger, Göttinnen, 278–281; Beck, Drawings; zuletzt Ornan, Drawings.

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gewöhnlich reichen epigraphischen Funde100 sind  – abgesehen von knappen Ritzaufschriften auf Gefäßen (einzelne Buchstaben oder Wörter) – keine Funktion der staatlichen Verwaltung, sondern sie verdanken sich dem vielfältigen kommunikativen Gebrauch von Schrift und Texten im Lebensbereich des Handels. Die Diversität zeigt sich in der Vielzahl der Schriftmedien (Ritzinschriften in Stein oder Keramik; mit Tinte geschrieben auf Keramik oder Wandverputz), der individuellen Handschriften, der Schrifttraditionen (hebräisch, phönizisch, aramäisch) und Sprachen (Hebräisch, Phönizisch, Aramäisch[?]) sowie vor allem der Vielfalt der Gattungen und pragmatischen Funktionen der Texte. A. Lemaire hat als erster in KA diverse Schülerübungen identifiziert, angefangen bei den Abecedarien, und daraus abgeleitet, dass der nördliche „Bench-room“ im Eingangsbereich als „‚salle de classe‘ ou d’école“ genutzt worden sei.101 Fand die These zunächst kaum Zustimmung, ist sie zuletzt von W. M. Schniedewind in dem Sinne wieder aufgenommen worden, dass in der als Karawanserei fungierenden „desert fortress“ ein „soldier-scribe“ diente, der die Gelegenheit hatte, einen Schüler in der Schreibkunst auszubilden – mit vollem Curriculum, das heißt, vom Alphabet bis zu literarischen Texten. Tatsächlich gibt es auf den beschrifteten und bemalten Pithoi in KA Schreibübungen. Am eindeutigsten sind in dieser Hinsicht die hieratischen Zahlzeichen,102 die auf Pithos A in Gegenrichtung zu den Zeichnungen vielfach wiederholt und scheinbar planlos geschrieben sind,103 besonders häufig das Zeichen für „70“, wobei nach Wimmer mehrere unvollständige Varianten auf eine Schreibübung hindeuten. Bei den vier (unvollständigen) Abecedarien ist dergleichen nicht zu erkennen, da alle vier von „skilled scribes“104 geschrieben sind, zudem von 3–4 unterschiedlichen „Händen“. Man hat den Eindruck, dass geübte Schreiber hier zum Vergleich „ihren“ Stil präsentieren. Bereits Lemaire deutete zudem die Segenswünsche in KA als Übungen zu formularischen Briefanfängen.105 Dies kann jedoch aufs Ganze nicht

 100 S. die Editio princeps: A ḥ ituv u. a., Inscriptions, und (mit revidierten Lesungen:) Dies., Inscriptions (hebr.). 101  Lemaire, Ecoles, 30. 102 Das Standardwerk dazu ist Wimmer, Palästinisches Hieratisch. Es handelt sich um aus der ägyptischen Schreibschrift abgeleitete Zeichen für Zahlen und Maßeinheiten, die bis zum Exil in den epigraphischen hebräischen Texten (Nord‑ und Südreich) konsequent verwendet wurden, während die Aramäer das davon verschiedene phönizische System übernommen haben. In seiner Monographie vermutet Wimmer für das Hebräische einen Einfluss der in der Spätbronzezeit in Kanaan fest etablierten ägyptischen Schreibtradition (279), allerdings mit der Einschränkung, dass im Hebräischen erst mit dem 8. Jh. „eindeutige Belege in erheblicher Zahl“ einsetzten, was eine „zeitliche Beleglücke von mindestens zwei Jahrhunderten“ bedeute (ebd.). Ders., Hieratisch, 149–150, zeigt nun aber die bevorstehende Publikation einer moabitischen Inschrift aus Khirbet ῾Ataruz mit hieratischen Zahlen an, die archäologisch in das 9. Jh. datiert wird. Da Moab in der Omridenzeit unter israelitischer Vorherrschaft stand und die Schrift der Mescha-Stele seit längerem paläographisch als von der hebräischen Schrift beeinflusst gilt, beginnt sich die o. g. „Beleglücke“ damit vielleicht langsam zu schließen. 103 Schniedewind, Understanding, 278 mit Fig. 1, 280–281; Wimmer, Hieratisch, 146–149. 104  Aḥituv u. a., Inscriptions, 102. 105  Lemaire, Ecoles, 26–28, ähnlich Schniedewind, Understanding; vgl. auch die kritischen Abwägungen in Aḥituv u. a., Inscriptions, 134–135.

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überzeugen.106 So erklären sich Inschr. 3.1 und 3.9 mit ihren individuellen Prägungen nicht als ‚Formularübungen‘; hinzu kommen die zum Teil grundverschiedenen Handschriften. Vor allem aber zeigt das Inschriften-Korpus von KA als Ganzes auf einen anderen pragmatischen Zusammenhang.107

Die Pragmatik der Texte ergibt sich in ihrer Grundkonstellation aus der Funktion der Wegstation für die Handelsreisenden, deren Wege sich hier kreuzen. In schöner Deutlichkeit wird diese in dem Fragment einer hebräischen Wandinschrift (4.6.1) vom Eingang des westlichen Lagerraumes („Western Storeroom“) angezeigt.108 Die erste (lesbare) Zeile spricht von „deiner Ladung“ (‫)לעמשך‬, davor wahrscheinlich von „Wasser“ (‫)מם‬, in der zweiten Zeile heißt es „aber du …“ (‫)אך את‬,109 in der dritten „meine Worte“, worauf ein verneinter Imperativ (‫ואל‬.[) folgt. Wovon der Text auch immer im Einzelnen handelte, es geht hier unverkennbar um eine konkrete Nachricht für jemanden mit einer Warenladung, dessen Kommen nach KA vom Schreiber erwartet wurde. Mit anderen Worten, es handelt sich um einen „Brief“, der an einer Wand des Innenhofes der Station auf seinen Adressaten „wartete“. Letzteres gilt auch für die Segenswünsche auf den Pithoi mit namentlich genannten Adressaten: Mittels dieser Grüße kommunizierten Händler mit bekannten Kollegen/Untergebenen/ Vorgesetzten, von denen sie wussten (oder vermuteten), dass sie die Wegstation aufsuchen werden. Die Raststätte von KA mit ihren Pithoi und Wandflächen bot dafür die ‚Plattform‘, die Schrift war das Medium. Segenswünsche in einer besonderen Form beinhaltete die Wandinschrift 4.1, die auffallend prominent an der westlichen Seitenwand im nördlichen „Benchroom“ angeschrieben war. Sie kann hier in einer neuen Rekonstruktion110 vorgestellt werden; siehe zum Folgenden Abb. 3. Gegenüber der Präsentation in der Editio princeps sind vor allem drei zusätzliche Verbindungen („joins“) von Fragmenten von Bedeutung. Zum einen die Zusammenstellung 106 Erwägen kann man dies für Inschr. 3.6, die sich im „Layout“ von den anderen Segensgrüßen unterscheidet und mit dem unbestimmten „mein Herr“ den Adressaten auch nicht namentlich nennt. Zudem bringt Schniedewind, Understanding, 289, die aparte Idee ein, dass „Amaryahu“ ein Wortspiel mit dem formelhaften zweimaligen ‫ אמר‬der „Briefeinleitung“ darstelle und demnach keine reale Person bezeichnete. Das kann sein. Nicht auszuschließen ist aber auch, dass das „Wortspiel“ reine Kontingenz und Amaryahus ‚Chef‘ dem Personal der Wegstation bekannt war. 107  Zum Folgenden s. auch Blum, Kuntillet, 48–50. 108  Blum, Kuntillet, 39–43 und Tafel 6, mit einer Korrektur der Lesung in der Editio princeps. Grundlage ist die dort zur Verfügung gestellte exzellente Farbaufnahme. 109  Denkbar wäre auch die Lesung als Akkusativpartikel („aber das ---“). 110  In Teilen wurde sie bereits in Aḥituv u. a., Inscriptions (hebr.), 112–113, Abb. 169 und 170, abgedruckt und von den Herausgebern teilweise übernommen. Detaillierte epigraphische Begründungen werden an anderer Stelle erfolgen. Der Vorschlag in Lemaire, Remarques, 88– 89, für ein grundsätzlich anderes Arrangement der Fragmente und für ihre Verknüpfung mit dem kleinen Fragment von 4.2 bewährt sich m. E. nicht und ist haltlos mit Blick auf Letzteres; s. auch Aḥituv u. a., Inscriptions (hebr.), 112 Anm. 129.

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Abb. 3: Rekonstruktion KA-Inschrift 4.1, © E. Blum (2018). der Fragmente 4.1.4 + 4.1.3 + 4.1.12 zu der Nominalphrase ‫שרער‬.‫„ = נערי‬die Diener/Leute des Ortskommandanten“, zum zweiten die Anfügung von 4.1.8 an die erste Zeile von 4.1.1b zu ‫„ = לשם‬dem Namen“, zum dritten die Verknüpfung von 4.1.13 mit dem letzten ֯ ‫„ = א] ֯ל ֯ה‬ihr Gott“.111 Mit wenigen, mehr Fragment von 4.1.1 in der zweiten Zeile zu ‫יהם‬ oder weniger tentativen Ergänzungen ergibt sich in der Konsequenz der folgende Zusammenhang, wobei „die Leute des Ortskommandanten“ als Subjekt der Verben in der 3. P.pl. in Z. 1 und als Referenz des Suffixes der 3. P.pl.m. am Ende von Z. 2 verstanden sind. Der Ausdruck wird danach zum Anfang der ersten Zeile gehört haben, der bislang nicht weiter rekonstruiert werden konnte.

֯ .‫וישבעו[  … ו]י֯ תנו‬.‫ימם‬.‫] ֯ארך‬.‫להם‬.‫ער[…… יתן‬ ֯ ‫ ֯ש ֯ר‬.‫)… נערי‬1( ]‫ ֯ולאשרת[ה‬.‫ה] ֯תי֯ ֯מן‬.[‫י]הוה‬.[‫לשם‬ ‫היהם‬ ֯ ‫א] ֯ל‬.‫ה[יה‬.‫[    … יהו] ֯ה‬.‫זן‬.‫היט ֯ב‬ ֯ . ֯‫כ]י‬.}‫{להם‬.‫ ֯ה ֯תי[מן‬.‫יהוה‬.‫)             כי] היטב‬2( (1) Die Leute des Ortskommandanten, … [JHWH gebe ihnen] eine lange Lebenszeit112 und sie mögen113 satt werden […,] [auf dass] sie besingen114 den Namen JHWHs vom Teiman und seine Aschera! (2) …… Ja,] JHWH vom Teiman hat [ihnen] wohlgetan, [j]a, er hat (sie) wohlversorgt115 … [JHW]H hat [sich] als ihr Gott [erwiesen]. 111  Die Zeichen auf 4.1.1 ‑yhm sind kaum anders denn als Plural-Suffix zu lesen; davor ist in der Vergrößerung zudem noch eine kleine Abbruchstelle zu erkennen, an die 4.1.13 bündig anschließt. 112  Es muss sich um die Genitivverbindung ’orek yamim handeln, da yomam nicht idiomatisch wäre. In der Sache ist ebenso klar, dass hier ein (Segens‑)Wunsch formuliert wird. Anstelle von „er gebe ihnen“ wäre auch denkbar „er segne sie mit“ (‫)‑יברכם ב‬. 113  Im Kontext eindeutig ein Jussiv der 3. P.pl., da ein sog. Impf.cons. ausscheidet. Mit dieser Modalform wird althebräisch der Segenszuspruch in der 3. Person formuliert, vgl. Num 6,24–26; in der Anrede steht der Segenszuspruch dementsprechend im Imperativ; vgl. Gen 1,28; 12,2b; zum systemischen Regelzusammenhang s. Blum, Verbalsystem. 114  ‫ תנה‬Pi., auch in Ri 5,11 („singen, preisen“); Lak(6):1.3,12 („wiederholen“); KA 4.1 ist der älteste datierbare Beleg für die „aramäische“ Schreibung. Zur aram. Lautverschiebung von /ṯ / zu /t / bereits im 8. Jh. s. KAI 222 C,24 und dazu Beyer, ATTM, 100 („um 800 v. Chr.“). Die alternative Lesung ‫ יתנו ל… עז‬o. ä. m. würde hier eine ungewöhnliche Sperrung erfordern. 115 Lies: ‫„ זן‬nähren, versorgen“ (Inf. c. oder 3. P.sg.m. AK nach dem Modalverb ‫)היטב‬. Das (aram.) Zayin wurde bislang als Yod verkannt.

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Der sorgfältig und klar geschriebene Zweizeiler beinhaltete einen ausführlich116 und emphatisch formulierten Segenswunsch für das Personal der befestigten Wegstation. Die modalen Verbformen in der ersten Zeile zeigen, dass es in der Tat um den Segenszuspruch geht; das Perfekt in der zweiten Zeile bezeichnet das erfahrene (dt.: Futur II) Gotteshandeln als Grund für das Loben des „Namens JHWHs“ durch die betroffenen Personen. Die Differenz zwischen temporären Besuchern und dem ständig präsenten Personal, sowie dessen Bedeutung für alle, die hier Station machen, begründet hinreichend den formalen Unterschied zwischen kurzen Segensgrüßen auf einem Pithos und der sorgfältig formulierten Wandaufschrift im Eingangsbereich. Der betreffende Schreiber dürfte diese im Namen auch anderer dankbarer Besucher ausgeführt haben. Auffälligerweise schrieb er zwar Hebräisch, aber nicht in dem nördlichen Dialekt, wie er ansonsten bekannt ist, sondern in einer Aussprache und Orthographie, die gemeinhin als judäisch gilt (s. die Diphthonge in ‫ היטב‬,‫[ התימן‬je zweimal] und ‫)אלהיהם‬. Zudem ist die Schrift weder hebräisch noch phönizisch (wie durchweg angenommen), sondern aramäisch. Auf diese Spur führt zunächst eine verblüffende Affinität zur Schrift der DAPT von Deir ῾Alla,117 sowohl in den diversen Formen des Heh, aber auch beim Ṭet, Yod, Zayin und bei anderen Zeichen. Zudem ist das ῾Ayin nach oben offen (anders noch in den DAPT!), auch der Kopf des Bet beginnt sich teilweise zu öffnen, wie es für die aramäische Schrift(familie) zunehmend charakteristisch wurde. Wie ist dieser scheinbar inkonsistente Befund hinsichtlich der Sprache und Schrift von 4.1 zu erklären? Zwar lassen sich diverse kontingente Konstellationen ausdenken (z. B. ein aramäischer Schreiber setzt das Diktat eines Judäers um), doch deuten meines Erachtens die Nähe zu den DAPT und ein gewisser aramäischer „Touch“ bei der Wortwahl (‫ זן‬,‫ )תנה‬in eine andere Richtung: Wir haben mit der Möglichkeit zu rechnen, dass hier ein schriftgeübter Besucher aus Gilead in der dort durch Damaskus eingeführten Schrift (und Orthographie) die Feder führte. Ist man gewillt, Kontingenz noch weiter reduzieren, kann man geradezu einen personalen Link zwischen der vormaligen damaszenischen Schule in Sukkot und den Schriftzeugnissen in KA vermuten. Neben weiteren vier, schwer einzuordnenden Inschriften auf Verputz118 gibt es zudem noch die Überreste einer prominent angebrachten Wandinschrift in 116  Dem Duktus nach war der erhaltene Schlussteil der Inschrift vielleicht der ursprüngliche. Der vordere Teil könnte der Anzahl der Fragmente nach vergleichbar lang gewesen sein. 117 S. Blum, Mose, 56 Anm. 75; Ders., Kuntillet, 49; nun auch A ḥ ituv u. a., Inscriptions (hebr.), 115 (zum Heh in 4.1). 118  Unter den Nr. 4.4 (2 Inschriften) sowie Nr. 4.5 (nur wenige Buchstaben erhalten). Bedauerlicherweise ist eine große, in situ gefundene Wandinschrift (4.3) fotographisch nicht hinreichend dokumentiert. Schrift und Sprache sind aramäisch (oder phönizisch?), jedenfalls nicht hebräisch. Einzelne lesbare Ausdrücke zeigen Handelsgüter („Wein“, „Myrrhe“) und Mengenangaben („Sack“, „Q[ab]“), was auf eine Warenliste oder einen ‚Lieferschein‘ schließen lässt.

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phönizischer Sprache und Schrift mit einem literarischen Prosatext (Nr. 4.2).119 Dieser handelte von der Ankündigung einer die Berge erschütternden Theophanie im Zusammenhang mit einem Feindangriff (wohl) auf die Stadt Sam’al in Nordsyrien und deren Bewahrung. Alles in allem zeigen die Texte in Kuntillet ῾Ajrud eine israelitische Wegstation, die von Fernhandelskaufleuten aus diversen Regionen und Ethnien der Levante, neben Israeliten insbesondere auch Phöniziern,120 aufgesucht wurde. Für unseren Zusammenhang ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit und Breite dabei von den Möglichkeiten der Schrift Gebrauch gemacht wurde.121 Die Textsorten reichen von Abecedarien über Namenslisten und vermutliche Warenlisten (4.3) zu persönlicher Kommunikation in „stationären Briefen“ bzw. „Grußkarten“, in denen es um alltägliche Verständigung (4.6) oder um religiös geprägte Pflege persönlicher und beruflich-sozialer Beziehungen (3.1; 3.6; 3.9; 4.1) geht, bis hin zu einem literarischen Prosatext (4.2), der keinerlei Bezug auf den Berufsstand der Besucher, die Wegstation oder deren ‚Träger‘, den König von Samaria, aufweist. Dabei zeigen sich auch die Segensadressen bestrebt, in ihren Formulierungen das Format schlichter Grüße zu transzendieren, sowohl in sprachlicher Hinsicht als auch in der Artikulation einer persönlichen Religiosität (3.9; 4.1).122 In letzterer Hinsicht vermitteln sie im Übrigen eine Frömmigkeit, die durch eine bemerkenswerte Innigkeit der Beziehung zu „JHWH von Teman“ geprägt ist.123 Dieser JHWH-Fokussierung, so möchte man fast denken, stellte der phönizische Schreiber /Kaufmann seinen eigenen Traditionstext von der Rettung seiner (?) Stadt durch deren Gott (4.2) gegenüber. 119  Zur Lesung und zur Identifizierung der Sprache s. Blum, Kuntillet, 21–39, sowie Lemaire, Remarques. Die Neubestimmung der Sprache wurde von den Erstherausgebern in Aḥituv u. a., Inscriptions (hebr.), 107–111, übernommen. Als Konsequenz haben sie zugleich die Nummerierungen der Inschriften 4.1 und 4.2 getauscht, so dass der phönizische Text in der hebräischen Edition unter 4.1 firmiert. Diese leicht verwirrende Veränderung wird hier nicht adaptiert. 120 Dazu Niehr, Kuntillet, mit Aufnahme der Lesung „Sam’al“ (KA 4.2) in Blum, Kuntillet, 35–36. 121  Für die mit Tinte geschriebenen Texte (im weiteren Sinne) kann man mit bis zu 17 verschiedenen Händen rechnen. Dabei zeigen bereits die zahlreichen kleinen Fragmente, dass selbst unter den günstigen Bedingungen von KA vermutlich nur ein kleiner Teil der Wandaufschriften erhalten ist. 122 S. die Diskussion der Syntax und der inhaltlichen Aussagen von 3.9 in Blum, Kuntillet, 43–47, sowie oben zu 4.1. Für die althebräische Epigraphie insgesamt sei auf die Übersicht von Renz, Texttradition, verwiesen. 123 Die weitergreifende Frage, welche Rolle dabei „JHWHs Aschera“ zugedacht wurde, kann in diesem Zusammenhang nicht aufgenommen werden. Beachtung verdient jedenfalls einerseits, dass bei den Entfaltungen des göttlichen Segenshandelns allein von JHWH (im Singular) gesprochen wird; vgl. bes. 4.1, wo auch der Preis des „Namens“ nur auf JHWH bezogen bleibt. Andererseits bleibt zu fragen, weshalb „JHWH und seine Aschera“ bisher nur in KA, im Kontext der Kaufleute belegt ist. Die einzige Ausnahme, Kom(8):3, ist vielleicht keine, falls hinter der auffälligen Kennzeichnung Urijahus als „der Reiche“ seine erfolgreiche Tätigkeit als Händler stand.

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Auf die Sicherheit und Souveränität der Schreiber im Umgang mit dem Medium machen bereits die Erstherausgeber aufmerksam: Die Inschriften auf Pithoi oder Verputz „were written skillfully in ink …, both in Hebrew and Phoenician scripts. The scribal work was executed with confidence, if not flamboyance.“124 Wir können nicht wissen, wie hoch der Anteil geübter Schreiber an der Kaufmannschaft, die sich im überregionalen Handel engagierte, insgesamt war. Gleichwohl belegt die Wegstation im Nordsinai zumindest für Teile dieses Berufsstandes in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts eine selbstverständliche und qualifizierte Literalität, die offensichtlich weder an staatliche Kanzleien oder Tempel angebunden war, noch sich auf fachliche Expertise im Bereich der Buchhaltung etc. beschränkte. Im Gegenteil, selbst in Gebrauchstexten klingen idiomatische Elemente an, wie man sie aus der Tradition der Hebräischen Bibel kennt.125 Wenn selbst die Texte der Kaufleute ein genuines Interesse an einem kulturellen Mehrwert zeigen, den wir am ehesten mit dem neuzeitlichen Begriff der „Bildung“ bezeichnen können, dann ist dies gewiss nicht zu trennen von der Prägung durch eine alte Schultradition, deren Curriculum,126 wie bereits skizziert, immer auch „Bildungsliteratur“ einschloss, unabhängig davon, ob Schule sich in einem ‚organisierten‘ Rahmen wie in der damaszenischen Einrichtung auf dem Tell Deir ῾Alla vollzog oder in individuellen / familiären Lehrer-Schüler-­ Beziehungen. Auch hinsichtlich der staatlich-institutionellen Verankerung kann man sich mit Hilfe von Deir ῾Alla leicht vor Augen halten, dass schon in der Vermittlung literarischer Kompetenzen in gewisser Weise strukturell eine Dynamik der Weitergabe und Multiplikation angelegt ist, die eine (partielle) Emanzipation damit verbundener Kultur gegenüber staatlichen Institutionen (wie Hof, Tempel etc.) anstoßen kann. Mit anderen Worten, man musste in der Königszeit nicht in einer königlichen Kanzlei angestellt sein, um einen literarischen Text schreiben zu können.127 Eine weitere Dimension der levantinischen Schreibkultur im 1. Jahrtausend v. Chr. liegt in Kuntillet ῾Ajrud wie in einem Brennpunkt zutage: das Nebeneinander vielfältiger regionaler Schreibtraditionen, die an standardisierten Schrifttypen,128 Orthographien und spezifischen Sonderzeichen (Zahlen, Maß Aḥituv u. a., Inscriptions, 134.  Dazu resümierend wiederum Aḥituv u. a., Inscriptions, 134–135. S. auch im Folgenden. 126 Für das zu erschließende Curriculum im althebräischen ‚Schulunterricht‘ und damit verbundene „Standardisierungen“ kann hier auf Demsky, Literacy, Rollston, Writing, und Ders., Curriculum, verwiesen werden. 127 Man mag hier wieder an Hesiod aus einem kleinen Ort in Böotien denken, der mit einem Bauernhof seinen Lebensunterhalt verdiente, mit dem aber in gewisser Weise die griechische Bildungsliteratur beginnt. Nach Erga 633–639 kam sein Vater aus Jonien, wo er sein Glück im Seehandel(!) versucht hatte – vergeblich. 128  Für die spezifisch hebräische Schreibertradition (in Nord‑ und Südreich!) s. Renz, Schrift. 124 125

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einheiten etc.)129 unterscheidbar sind. Diese Eigenheiten waren den Beteiligten zweifellos bewusst und dürften an überregionalen „Schnittpunkten“ wie der Karawanenstation von Kuntillet ῾Ajrud demonstriert und thematisiert worden sein. Sie waren Teil der kulturellen Identität, was ihre nachhaltige Stabilität erklärt. Daneben gilt es aber auch eine gegenläufige Tendenz zu beachten, die man mit einem Oxymoron als „übereinzelsprachliche literarische Koine“ bezeichnen könnte. Dazu gehören Phänomene der motivischen, sprachlichen und literarischen „Idiomatik“ im weiteren Sinne, die diatopisch, interkulturell und diachron unterschiedlichen Schriftsprachen /-literaturen gemeinsam sind. Beispiele aus Kuntillet ῾Ajrud bilden die Schilderung der Theophanie eines Gewitter-/ Sturmgottes in der phönizischen Inschr. 4.2, Z.3, mit direkten sprachlichen Parallelen in Mi 1,4; Ps 97,5; das Motiv der Gewährung eines langen Lebens in Inschr. 4.1 par. KAI 26 III, 5–6; dazu innerhebräisch: die Anklänge an den aaronidischen Segen in 3.6; die „Psalmensprache“ in 4.1 Z.1b. Schon länger notiert sind stilistische und idiomatische Parallelen zwischen den DAPT und alttestamentlichen Texten, so in der Kunstprosa von Kombination A die ausgeprägte Tendenz zu Wiederholungen und kolometrischen Strukturen in Verbindung mit Stilfiguren wie Chiasmen und Inklusionen, die entsprechend in alttestamentlichen Erzähltexten zu finden sind.130 Daneben stehen einige idiomatische Parallelen, z. B.: A, Z. 5 ‫ לכו ראו פעלת אלהן‬par. Ps 46,9; 66,5 und B, Z. 17: ‫ ידעת ספר‬par. Jes 29,11a.12a.

Solche Bezüge im ‚Mikrobereich‘ sprachlicher Phrasen, Motive oder Motivkomplexe, sind zu unterscheiden von Prozessen der Übernahme, der Übersetzung oder Beeinflussung, die vor allem im Bereich der altorientalischen Weisheitsliteratur zu beobachten sind, für das Alte Testament aber auch mit Blick auf mutmaßliche ägyptische Vorlagen diskutiert werden (Amenemope – Proverbien; Großer Amarnahymnus – Ps 104; Sinuhe-Erzählung – Josephgeschichte).131 Im Bereich der levantinischen Literatur, die – abgesehen vom Alten Testament – nur in einer schmalen Auswahl bekannt ist, gewinnt man eher den Eindruck, dass es so etwas wie ein gemeinsames Inventar von sprachlichen und narrativen Idiomen sowie Motiven gegeben hat. Auch dies setzt aber einen gewissen Austausch (vgl. wieder den phönizischen Text in Kuntillet ῾Ajrud!) und eventuell das Erlernen von benachbarten literarischen Traditionen in den ‚eigenen‘ Schulen voraus. Noch auffälliger sind derartige Bezüge auf der diachronen Ebene zwischen Texten kanaanäischer Schreiber der Amarnazeit und alttestamentlicher Litera S. oben Anm. 102 mit Lit. Deir Alla (TUAT NF), 465 mit Lit. 131  Während die Beziehungen zwischen Spr 22,17–23,11 und Amenemope, sowie Ps 104 und dem Sonnenhymnus des Echnaton seit längerem intensiv diskutiert werden, wurden die Entsprechungen zwischen der Josepherzählung und der im 2. Jtd. entstandenen Sinuhe-Geschichte weniger beachtet. Vgl. zuletzt Blum/Weingart, Joseph, mit einer Aufstellung der auffallenden Entsprechungen von Elementen der Fabeln; zumindest auf dieser Ebene ist eine ‚Inspiration‘ der israelitischen Josephüberlieferung durch Sinuhe nicht auszuschließen. 129

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tur,132 aber auch die Wortlautparallele zwischen Jes 27,1 und dem Baal-Epos in Ugarit (KTU 1.5,1–2), die noch Kontinuitäten zwischen Schreibertraditionen in der 2. Hälfte des 2. Jahrtausends und solchen des 1. Jahrtausends über die kulturellen und geschichtlichen Umbrüche hinweg anzuzeigen scheinen.133 Überlegungen in diese Richtung stellt auch M. Weippert mit Blick auf das Layout der Wandtexte von Deir ῾Alla an.134 Schließlich wäre hier auch das für die hebräische (+ moabitische) Schreibertradition charakteristische System der „hieratischen“ Zahlen und Mengenangaben in ägyptischer Tradition zu nennen.135 Was ergibt sich als Fazit für die historische Wahrscheinlichkeit einer professionellen Schreiberkultur in der strittigen mittleren und frühen Königszeit von Israel und Juda (10. Jh. bis Mitte 8. Jh.)? Mit M. Richelle136 ist die Frage der relativen Verbreitung von Literalität (in einem qualifizierten Sinne) von der nach den Bedingungen für Literaturproduktion und ‑rezeption strikt zu trennen. Letztere setzt ausgebildete und geübte Schreiber voraus,137 die im Alten Orient und bis in die hellenistische Antike hinein zweifellos eine Minderheit darstellten. Umgekehrt zeigen epigraphische Hinterlassenschaften, dass die Schulung von Schreibern, selbst auf bescheidenem Niveau, immer auch eine (z. T. relativ frühe) Auseinandersetzung mit literarischen Texten einschloss. Die umfangreichsten und wichtigsten Befunde hierzu bieten die damaszenische Schule vom Ende des 9. Jahrhunderts in Deir ῾Alla (Sukkot) und – in anderer Weise – die nordisraelitische Wegstation Kuntillet ῾Ajrud im Nordsinai aus der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts. Für die historische Einschätzung erweisen sich insbesondere die ebenda belegten Texte als grundlegend. So setzen die hochliterarischen Schultexte in Sukkot bereits eine in jeder Hinsicht reife Schriftkultur voraus, und dies mit Traditionsliteratur, die Spuren literargeschichtlicher Diachronie trägt. Kuntillet ῾Ajrud belegt wenige Jahrzehnte später schlaglichtartig eine erstaunlich vielgestaltige und professionelle Nutzung der Schrift im Milieu der Fernhändler, das heißt in einem nicht staatlich-institutionellen Rahmen. Beide Einrichtungen zeigen jede auf ihre Weise, dass von einer Beschränkung ‚literaturfähiger‘ Schreiber132  Vgl. die schöne Entsprechung zwischen EA 264,15–16 und Am 9,2–3; Ps 139,7–10; weitere Beispiele für ‚poetische‘ Elemente bei den Amarnaschreibern hat bereits Liagre Böhl, Hymnisches, zusammengestellt. 133  Dazu auch Richelle, Scrolls, 29–32, aufgrund anderer Überlegungen (vor allem zur Geschichte der Alphabetschrift). Vgl. auch Pardee, Ugaritic Texts, 79–80: „A good portion of the Hebrew Bible was expressed in poetry, however, and it is in those texts that the sharing of compositional traditions [scil. belegt in Ugarit bzw. Hebräischer Bibel, E. B.] is most clearly visible – to the extent that it is necessary to speak of a literary heritage shared by the Canaanite and western Amorite peoples.“ 134  Weippert, Balaam Text, 177: „It [scil. das Layout, E. B.] presupposes a tradition of professional scribes which can ultimately be traced back to Second Millennium Egypt.“ 135 S. oben Anm. 102. 136  Richelle, Scrolls, 32–33. 137  Dies gilt auch für eine eigenständige Rezeption komplexer Texte. Für die breite Bevölkerung war Literatur überwiegend nur mündlich, durch Vortrag /Vorlesen zugänglich.

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tätigkeit auf staatliche und/oder kultische Zentren nicht die Rede sein kann. Damit gelangen wir wieder zu einem ähnlichen Urteil, wie es M. Weippert bereits vor ca. 30 Jahren formulierte: „That there were no ‚real‘ literary activities in Palestine prior to the middle of the 8th Century B. C. is a hypothesis that has been definitely called in question by the plaster texts from Deir ῾Allā although the Mesha inscription could already have taught us a similar lesson.“138 Der historische Raum, für den literarische Aktivität anzunehmen ist, umfasst zumindest die Geschichte des Nordreichs Israel. Angesichts einer bereits für den Anfang des 10. Jahrhunderts belegten Schreibausbildung in der Peripherie Judas wäre es darüber hinaus wenig seriös, die Möglichkeit anspruchsvoller Texte auch aus dieser Zeit a limine ausschließen zu wollen.

3. Konsequenzen für die alttestamentliche Exegese Datierungen von alttestamentlicher Literatur basieren grundlegend auf deren textwissenschaftlichen Analyse, die freilich ohne die Frage nach der Lebenswelt der Autoren/Adressaten, gegebenenfalls auch nach konkreten Konstellationen und Situationen, die in den Texten präsupponiert sind, nicht auskäme. Dies bedeutet umgekehrt, dass historische Hypothesen/Modelle als Voraussetzungen ihrerseits die textwissenschaftliche Analyse mitbestimmen. Zwei Beispiele dafür, welche Anregungen sich aus den vorstehenden Überlegungen für exegetische Theoriebildungen ergeben können, sollen abschließend zumindest angesprochen werden. (1) Eine der spannenden Kontroversen innerhalb der gegenwärtigen exegetischen Forschung betrifft die Literargeschichte der prophetischen Bücher und damit zugleich das historische und sachliche Verständnis der israelitischen Prophetie und ihrer Anliegen. Dabei sind hinsichtlich der Rolle von Schrift / Verschriftung nicht zuletzt nachhaltige forschungsgeschichtliche Prägungen zu erkennen. Während noch B. Duhm, einer der Begründer der historischen Prophetenexegese, die Gerichtspropheten des 8. Jahrhunderts nicht nur als Redner und Dichter, sondern selbstverständlich auch als „Schriftsteller“ beschreiben konnte,139 mochte im Gefolge der durch H. Gunkel eingeführten Frage nach den Gattungen einzelner (zumeist kurzer) Sprucheinheiten und in Folge der Wende zur sogenannten „Formgeschichte“, welche die Gattungsfrage auf mündliche Überlieferung fokussierte,140 allein schon die Idee schriftstellender Propheten abseitig erscheinen. Wohl auch gestützt durch Ansätze der dialektischen Theo138 Weippert,

Balaam Text, 177.  Duhm, Propheten. Dass ihm die grundsätzliche Literalität der Propheten offenbar selbstverständlich war, entsprach dem Problembewusstsein der Zeit. 140 Dazu kritisch Blum, Formgeschichte. 139

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logie galten die klassischen Propheten nun vorrangig als Prediger und Künder des JHWH-Wortes. Auch die Wende hin zum Prophetenbuch, maßgeblich befördert durch Jörg Jeremias’ Einsicht in den literarischen Charakter übergreifender Zusammenhänge innerhalb der Bücher Hosea und Amos, änderte an diesem Konzept insofern wenig, als für diese literarische Gestaltung scheinbar selbstverständlich nur „Prophetenschüler“ oder „-tradenten“ infrage kamen. In mancher redaktionsgeschichtlichen Perspektive schließlich werden spätere Redaktoren zu den alleinigen Autoren, in deren literarischen Inszenierungen die „historischen Propheten“ nur mehr schemenhaft erscheinen.141 Das gängige Bild, wonach mit Literaturbildung in voller Breite erst im 7. Jahrhundert bzw. exilisch-nachexilisch zu rechnen sei, konnte wesentlich zur Plausibilität solcher Ansätze beitragen. Rechnet man dagegen im 8. Jahrhundert (a) mit ausgebildeter Literalität auch außerhalb ‚offizieller‘ Institutionen und (b) mit dem Grundcharakter schriftlicher Texte als Vorlese‑ bzw. Vortragsliteratur (so auch bei Hesiod und noch bei Herodot),142 dann steht ein Paradigmenwechsel anderer Art gegenüber dem Prophetenbild der „Formgeschichte“ offen. So könnten sich Zusammenhänge wie Hos 5,1–7,2; 9; 10 oder 12 als genuin literarische Diskurse Hoseas erschließen, die in ihren komplexen Zuspitzungen und Anspielungen für Adressaten im letzten Jahrzehnt des Nordreichs bestimmt waren. Diverse Befunde bei Jesaja legen nahe, dass er nicht nur eine zeitgenössische ‚Amosschrift‘ (aus dem letzten Jahrzehnt des Nordreiches) kannte und zitierte, sondern seine eigene Verkündigung in bestimmten Situationen verschriftet und re-interpretiert hat. Bei ihm finden wir denn auch unverdächtige Anspielungen an die Institution Schule, am signifikantesten in Jes 8,16: „Ein Bündeln des Zeugnisses, ein Siegeln der Lehre in meinen Schülern“.143 Die Diskussion, ob Jesaja hier von einer realen Schriftrolle oder von seinen Schülern als Zeugen spricht, beruht wohl auf einem neuzeitlichem Verständnis: Wie nicht zuletzt D. Carr144 herausgestellt hat, bedeutete altorientalisches Textstudium, dass die Schüler die schriftlichen Texte auswendig lernten und diese schriftlich reproduzieren konnten. Demnach weiß Jesaja seinen Text sowohl in der Buchrolle als auch in seinen Schülern „versiegelt“. Zugleich fällt hier ein Schlaglicht auf „Lehrer-Schüler-Zirkel“, wie sie auch sonst im Milieu der institutionenunabhängigen Prophetie anzunehmen sind.145 Dafür bedurfte es nur eines professionellen Schreibers (der Prophet selbst oder ein Vertrauter) und weniger Schüler mit ‚handwerklichen‘ Kenntnissen. In späteren Generationen wird diese Literatur auch im etablierten Schul-

 Dazu aus einer kritischen Perspektive: Blum, Prophetie, mit Lit. zu Amos/Jesaja (s. i. F.). Gitay, Deutero-Isaiah, 190–194 (zu Herodot ebd., 191, ein Lukian-Zitat); Hardmeier, Komposition, 163–164. 143  Zuletzt dazu: Müller, Orakelspruch (mit anderen literargeschichtlichen Akzenten). 144 Carr, Writing, passim; zu Jes 8,16: 143–144 = Ders., Schrift, 167–168. 145 So auch Lohfink, Bewegung, 340. 141

142 Dazu

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betrieb rezipiert worden sein, wofür es in Jes Hinweise gibt. Dies kann hier jedoch nicht weiterverfolgt werden. (2) Das in der alttestamentlichen Exegese geläufige Bild einer Traditionsliteratur, deren Werke in der Überlieferung diverse Transformationen erfahren, findet bekanntlich manche Analogien im Alten Orient (vgl. auch oben zu Kombination A der DAPT). Die israelitische Literaturgeschichte, wie sie in unserem Fach zumeist gesehen und beschrieben wird, stellt dennoch in gewisser Weise einen Sonderfall dar, insofern man hier in Analogie zur Stratigraphie eines Tells oft mit der Abfolge zahlreicher Textstrata rechnet.146 Die Frage, wie die supponierten komplexen Fortschreibungsprozesse realiter vorzustellen seien, wird gleichwohl eher selten gestellt. In neuerer Zeit am deutlichsten von N. Lohfink147 und von K. Schmid.148 In Lohfinks Formulierung geht es um „die Frage, wie denn an Schriften, die in einem breiteren Publikum verbreitet sind, dauernd herumgeändert werden könne.“149 Als Lösung wird ein eng begrenzter Literaturbetrieb postuliert, eventuell mit jeweils einer maßgeblichen Handschrift150 in einer Bibliothek. Mit Blick auf die Anfänge der prophetischen Literatur denkt Lohfink an private Kreise, ansonsten eher an zentrale Einrichtungen wie „das Jerusalemer Tempel‑ oder Palastarchiv“. Diese Bibliothekslösung erklärt auf den ersten Blick das Problem, wie diverse redaktionelle Eingriffe an einem Text tatsächlich in einer Handschrift realisiert sein können. Sie generiert aber zugleich neue Fragen: Weshalb sollten zentral gehütete Handschriften einer ständigen unkontrollierten(?) Veränderung ausgesetzt werden? Wer hätte ein Interesse daran und an den ständig erforderlichen Neuauflagen der Rollen? Zudem: Widerspräche die faktisch geduldete Fluidität der Texte nicht dem Konzept der einen maßgeblichen Handschrift? Abgesehen von solchen Aporien, blendet eine Fixierung auf hypothetische Bibliotheken einen wesentlichen und zugleich komplexen Faktor aus: Hält man sich an den altorientalischen Schulbetrieb, dann trägt jeder Meister eine memorierte ‚Textbibliothek‘ mit sich herum, wo auch immer er hingeht oder geschickt wird: in Deir ῾Alla oder Jerusalem, in Mizpa oder im Exil. In offiziellen oder privaten „Schulen“ können Traditionswerke beliebig reproduziert, dabei aber auch transformiert werden. Doch was ist zu 146  Bei aller denkbaren Komplexität impliziert dieses Stratigraphiemodell zugleich eine weitgehende Reduktion von Möglichkeiten: Es geht danach immer um ein-und-denselben Text! Dies spiegelt sich auch in der Terminologie: Man betreibt „Redaktionsgeschichte“, indem man von hinten her „Vorstufenrekonstruktionen“ unternimmt, in umgekehrter Blickrichtung geht es fast immer um „Fortschreibung“. Aber wären z. B. Mt und Mk Vorstufe bzw. Fortschreibung „eines“ Textes? 147  Lohfink, Bewegung, hier bes. 340–349.368–371. 148 Schmid, Buchgestalten, 35–43; Ders., Arbeit, 51. 149  Lohfink, Bewegung, 348; vgl. Schmid, Arbeit, 51. 150  Der Hinweis bei Schmid, Arbeit, 45, auf die Formulierung in Dtn 17,18 (‫את משנה התורה‬ ‫ )הזאת‬als Beleg dafür, dass hier nur an eine Abschrift neben dem Original gedacht sei, übersieht den variablen Gebrauch des Artikels; vgl. Joüon, Grammaire, § 139c.

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tun, wenn in der Folge verschiedene Textfassungen nebeneinander existieren und dies zu einem Problem wird? Dann besteht die Möglichkeit, Handschriften zu kollationieren und abzugleichen – oder dies auch zu unterlassen. Noch die antike handschriftliche Textgeschichte von Büchern wie Jeremia lässt die Vielfalt der Möglichkeiten erahnen. – Haben solche Überlegungen einen Realitätsgehalt, so kann das Bild der Traditionspflege, das D. Carr gern „the oral-written educational-enculturational model“ nennt, durchaus Ansätze der diachronen Exegese historisch ein Stück weit plausibilisieren. Zugleich lassen sich aber auch die Grenzen konkreter diachroner Vorstufenrekonstruktionen kaum übersehen.

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Frag-mentale Beobachtungen und Impressionen zu Tradition und Inventionsowie zu Verbindungen zwischen Forschungsgegenstand und Forscherselbstbild in der Exegese Jürgen Ebach

„Tradition wird nicht reproduziert. Sie wird geworfen und aufgefangen. Sie lebt lange in der Luft.“ (Leon Wieseltier)1 „Traditions which appear or claim to be old are often quite recent in origin and sometimes invented.“ (Eric Hobsbawm)2 „MYTHOLOGY, n. The body of primitive people’s beliefs concerning its origin, early history, heroes, deities and so forth, as distinguished from the true accounts which it invents later.“ (Ambrose Bierce)3

1. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts verfügten die Statuten der Universität Königsberg, der Dekan habe die Dissertationen durchzusehen, „ne quid novi 1 Wieseltier,

Kaddisch, 288.  In: Hobsbawm/ Ranger, Invention, 1. – Ein ebenso harmloses wie hübsches Beispiel für eine erfundene Tradition ist der Sirtaki. Es handelt sich dabei nämlich keineswegs um einen traditionellen griechischen Tanz, vielmehr wurde diese Schrittfolge erstmals 1964 choreographiert, und zwar zur Musik von Mikis Theodorakis für den Film „Alexis Sorbas“ nach dem gleichnamigen Roman von Nikos Kazantzakis. Sie wurde erfunden, um dem Hauptdarsteller Anthony Quinn den Tanz zu erleichtern. Gleichwohl ist er für viele heute der griechische Volkstanz schlechthin und wird als solcher inzwischen auch in Griechenland selbst als „echte“ Folklore in Szene gesetzt. 3  Bierce, Dictionary, s. v. Mythology. In: The Enlarged Devil’s Dictionary by Ambrose Bierce, 202. 2

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insit“.4 Eine Dissertation hatte zu erweisen, dass der Verfasser die richtigen Auffassungen zu (re)formulieren wusste. Fände sich in ihr aliquid novi, so wäre das in dieser Terminologie und der sie leitenden Auffassung der Erweis, dass es sich um die Präsentation einer falschen Auffassung handeln müsse, welcher der Dekan Einhalt zu gebieten habe. Die Differenz zwischen jener Auffassung von Wissenschaft und Wahrheit und den gegenwärtig geltenden Maßstäben könnte kaum größer sein. Urteilte heute eine Promotionskommission, eine eingereichte Dissertation enthielte nichts Neues, so wäre sie nach den geltenden Ordnungen als unzureichende Leistung zu qualifizieren und die Dekanin oder der Dekan hätte die Ablehnung der eingereichten Arbeit fest zu stellen. Nun ist das mit dem Neuen, das eine wissenschaftliche Qualifikationsschrift heute zu erbringen hat, nicht so einfach. Manche solcher Arbeiten erinnern – um abermals etwas Altes ins Spiel zu bringen – an jene Anekdote, nach der Gotthold Ephraim Lessing zu einem Buch, von dem gesagt wurde, es enthalte viel Neues und viel Wahres, bemerkt habe, leider sei das Wahre darin nicht neu und das Neue nicht wahr.5 Freilich fußt auch dieses Aperçu auf einer Vorstellung von Wahrheit, die wir heute etwa in Gutachten über wissenschaftliche Arbeiten kaum so selbstgewiss ins Feld führen dürften. Ob eine neue These etwa über die literarische Situierung oder das Aussageprofil eines alttestamentlichen Textes wahr ist, werden wir selten zu entscheiden wagen, zum Beurteilungskriterium wird vielmehr, ob sie hinreichend begründet und plausibel oder immerhin diskutabel ist. Die entscheidende Differenz bleibt deutlich. Ging es einst darum, das seit je her Gültige abermals zur Geltung bringen – nicht wenige solcher Arbeiten fielen heute gnadenlos unter „Plagiatsverdacht“ –, so ist es heute (in unserem Fach) darum zu tun, an weithin immer denselben Texten mit weithin immer denselben, jedenfalls den im geltenden Methodenkanon anerkannten Paradigmen einen wissenschaftlichen Fortschritt zu erbringen.6 Der Terminus „Fortschritt“ (entsprechend dem lateinischen progressus) reizt zu Sottisen wie: „Gestern standen wir noch vor dem Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter.“ Zu Zeiten galt in Wissenschaft und Politik geradezu die Forderung, „progressiv“ zu sein. Für diese Zeit denke ich aber auch an 4 Nach der „Selbstbiographie von Dr. Karl Ernst von Baer“ (1866), 236–264; vgl. auch den Bericht über die Organisation der Akademie in Petersburg (Recueil des Actes) in den „Jahrbücher(n) der Literatur“ (1838), 287, sowie Lepenies, Ende, 9. 5  Vgl. „Das große deutsche Anekdoten=Lexikon“, 169 [Nr. 118]. 6 Hier nur zwei Beispiele aus z.Zt. geltenden Ordnungen: In der Promotionsordnung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum (vom 21. 1. ​2011) heißt es in § 9.1: „Die Dissertation muss die Fähigkeit der Bewerberin/ des Bewerbers zu selbständiger Forschungsarbeit erweisen und in ihrem Ergebnis einen Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis darstellen.“ Die Promotionsordnung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen (vom 1. 3. ​1991) bestimmt in § 6.1 über die eingereichte Dissertation flexibler: „Sie muß wissenschaftlich beachtenswert sein.“

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die auf ihre Weise Tradition und Invention verbindende Anekdote aus dem Jahr 1968, nach der – si non è vero è ben trovato – die Parteiführung der KP der CSSR dem damaligen Generalsekretär Novotný geraten habe, zurückzutreten, weil er offenkundig an einer Paralyse litte. Daraufhin habe der inständig darum gebeten, man möge ihm doch wenigstens eine progressive Paralyse bescheinigen. Anekdotisches, das heißt im Wortsinn: „nicht Herausgegebenes“, wird es in den folgenden Beobachtungen und Impressionen noch öfter geben. Ich nehme dabei den Weg über die Hintertreppe, das heißt mit Wilhelm Weischedels „Philosophische(r) Hintertreppe“ einen „schmucklos(en)“ und „manchmal ein wenig vernachlässigt(en)“ Zugang „zu den Leuten, die oben wohnen.“7 Sind solche Anekdoten und persönliche Erinnerungen im Forschungsdiskurs eher unpassende, womöglich indiskrete Zugänge oder vermögen sie den Blick auf wissenschaftliche Thesen, Positionen und Haltungen – und dabei womöglich auch die je eigenen – zu schärfen? Was gehört in den wissenschaftlichen Diskurs und was zu den je persönlich-biographischen Umständen, die da im Hintergrund stehen mögen, doch in ihm selbst keinen Ort haben sollten? Dazu abermals eine Anekdote:8 Der Neutestamentler Erich Gräßer verfasste am Ende der 1970er Jahre Beiträge zu Fragen des Tierschutzes.9 Ein Anlass dazu war die ihn erbitternde Erfahrung, dass sein Versuch, die Synode der westfälischen Landeskirche dazu zu bewegen, diesem Thema größere Aufmerksamkeit zu widmen, ins Leere ging. Fortan wurde ihm dieses Anliegen zu einem Arbeits‑ und Lebensthema.10 Seine Frau, Dr. phil. Ingeborg Gräßer, die sich dem Tierschutz schon lange verschrieben und ihn an ihrer beider Wohnort Witten mit Leserinnenbriefen und Eingaben immer wieder ins Blickfeld gerückt hatte, wurde später Gründungsmitglied der Tierschutzpartei.11 Als Erich Gräßer 1979 von Bochum nach Bonn wechselte, gab es in der Bibliothek der Bochumer Fakultät mit ihm und dem in den Ruhestand zu verabschiedenden Ökumeniker Hans-Heinrich Wolf ein Gespräch unter der Überschrift „Was ich immer noch mal sagen wollte“. Gräßer erzählte dabei lebhaft  7  Die zitierten Formulierungen und weitere Assoziationen zur „Hintertreppe“ im „Prolog“ in Weischedel, Hintertreppe, 9.  8  Mit einem (allemal zu) großen Vorbild, nämlich Novalis: „Meine Anekdoten sollen witzige, humoristische, phantastische, drollige, philosophische, dramatische (poetische) Anekdoten sein.“ (Schriften, 2, hier VI: Vorarbeiten zu neuen Fragmentensammlungen [1789], 356). – Zur literarischen Gattung Grothe, Anekdote 21984.  9  Grässer, Anthropozentrik; Ders., Erwägungen. 10 Eine Reihe seiner zahlreichen, fast rastlos sich anschließenden Veröffentlichungen zu diesem Thema ist im Literaturverzeichnis am Ende dieses Beitrags aufgeführt. – In der exegetischen Forschung verbindet sich der Name Gräßer v. a. mit seinen Kommentaren zum 2. Korinther‑ und zum Hebräerbrief. 11  Erich Gräßer trat für die Tierschutzpartei mehrfach bei Wahlen an; bei den NRW-Landtagswahlen im Jahr 2000 und 2005 war er ihr Spitzenkandidat, bei der Bundestagswahl 2002 stand er auf Platz 1 der nordrhein-westfälischen Landesliste. Dass sein Stimmenanteil jeweils unter 2 % blieb, mindert den Respekt vor seinem Engagement nicht.

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von jenem Synodenerlebnis und davon, dass er diese bittere Erfahrung – für sein bisheriges Verständnis von wissenschaftlicher Lehre ganz ungewöhnlich – sogleich in seine Vorlesung eingebracht habe. Auf die Frage, warum er denn in seinen veröffentlichten Beiträgen zum Tierschutz diesen Kontext nicht benenne, antwortete er (ich zitiere aus der Erinnerung), eine solche Bekundung sei „doch nicht wissenschaftlich“. In diesem Moment stellte ich mir vor, es gäbe einmal eine Dissertation über den Neutestamentler Erich Gräßer und zur Frage, wann und warum ihm dieses Thema zentral wurde, stieße die Verfasserin oder der Verfasser womöglich im Wittener Zeitungs‑ oder Stadtarchiv auf Briefe und Eingaben von Ingeborg Gräßer gegen „Käfig-Eier“ und verbände sie zutreffend mit dem neuen Themenschwerpunkt ihres Mannes. Ein solcher Archivfund wäre zweifellos eine wissenschaftliche Entdeckung und seine Präsentation und Interpretation eine innovatorische Leistung.

2. In der Forschungsgeschichte und dabei in Sonderheit in biographisch-werkgeschichtlichen Arbeiten geht es immer auch um den Zusammenhang von Leben und Werk und um die Bedeutung der je persönlichen Erfahrungen, Neigungen, Eigenarten und Selbststilisierungen der jeweiligen Gelehrten, aber ebenso um den Einfluss politischer, gesellschaftlicher und haltungsprägender Motivationen auf ihr Werk und in ihrem Werk  – und zwar gerade auch da, wo solche Verbindungen im jeweiligen Werk selbst nicht expliziert werden. Das zeigt sich in unserem Fach in Arbeiten etwa zu de Wette,12 Wellhausen13 oder Gunkel14 und auf exzellente Weise in den zahlreichen und in mehrfachem Sinn feinen Darstellungen alttestamentlicher Forscherpersönlichkeiten bei Rudolf Smend.15 Insbesondere in der Charakterisierung der Propheten erscheinen da Verbindungslinien zwischen dem Prophetenbild der jeweiligen Exegeten und ihrer eigenen Persönlichkeitsstruktur. Frappant zeigt sich das etwa bei Bernhard Duhm. Bereits Wellhausen bemerkte über ihn und sein Werk: „Es genügt nicht, ein Prophet zu sein, um die Propheten richtig zu verstehen.“16 Nein, das genügt gewiss nicht, aber es bedarf womöglich eines wie auch immer gearteten eigenen  Rogerson, De Wette. Wellhausen; Perlitt, Vatke und Wellhausen; Kratz, Wellhausen; dazu auch der von R. Smend edierte Band „Julius Wellhausen. Briefe“. 14  Hammann, Gunkel. 15 U. a. in: Smend, Alttestamentler. 16  Nach Smend, Alttestamentler, im Kapitel über Duhm, 118 (übrigens, bei diesem Herausgeber überraschend, ohne Beleg, wohl aber mit der Erwägung, das habe Wellhausen vielleicht auch schon über Heinrich Ewald gesagt). Die im o. gen. Band gesammelten Briefe Wellhausens zeigen jedoch, wie sehr dieser Duhm schätzte und ihn als vielen anderen überlegen erachtete 12

13 Boschwitz,

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prophetischen Sensoriums, um die Propheten zu verstehen. Doch umso mehr stellt sich dann die Frage, was denn das Prophetische sei. Für Duhm hat es mit einer unverwechselbar eigenen Persönlichkeit zu tun.17 Sprechend ist der erste Satz des Jeremia-Kapitels in seinem Buch „Israels Propheten“, dem der Abschnitt „Die Entstehung der neuen Kultreligion“ vorausgeht, der das Deuteronomium und Ezechiel behandelt. Das Jeremia-Kapitel beginnt mit den Worten: „Es ist ein Aufatmen, wenn man von dieser absteigenden Linie zu einem echten Propheten zurückkehren darf, zu Jeremia, der zu den größten Propheten Israels und zugleich zu seinen größten Dichtern gehört, der der wahre Nachfolger des Amos, Hosea, Jesaja, Micha und doch auch ein völlig selbständiger Geist ist.“18 Bei Amos denkt Duhm an Schiller  – „unser Dichter“ heißt er zunächst ohne Namensnennung19 – und an Luther – auch ihn nennt er ohne Namen „den deutschen Reformator“.20 Hosea dagegen ist ihm „vorwiegend ein Gefühlsmensch“,21 einer wie der Johannes des Neuen Testaments. Der protestantische Theologe des frühen 20. Jahrhunderts kann sich begeistern an dem Traum, wenn doch Amos und Hosea hätten zusammen wirken können wie Luther und Melanchthon.22 In dieser Sicht, werden die biblischen Propheten als Persönlichkeiten, als Genies ihrem Wesen nach eher in der deutschen als in Israels Geistesgeschichte verortet. Die Stilisierung der „echten“ Propheten23 als unverwechselbare und geniale und dichterisch begabte Einzelgestalten bekommt dabei jedoch auch mit dem Selbstbild der Forscher zu tun. So konnte Heinrich Ewald dem vierten Teil seiner Übersetzung und Erläuterung der poetischen Bücher des Alten Testaments24 eine Reihe von ihm selbst verfasster Gedichte anfügen. Der theokratische Grundzug, (u. a. a. a. O., 112.217.318); zu Duhm auch Smend, Prophetendeutung, sowie Reventlow, Prophetie. 17 Dazu Frevel, Pathos, zu Duhm bes. 34. 18 Duhm, Israels Propheten, 242. 19  Duhm, Israels Propheten, 94. 20  Duhm, Israels Propheten, 96. 21 Duhm, Israels Propheten, 99. 22  Duhm, Israels Propheten, 99. 23  In diese Linie gehörte auch die Auffassung, nach der sich die Reihe dieser prophetischen Genies – unter Überspringung der späteren Texte des AT, die als Zeugnisse jüdischer Gesetzlichkeit und so als Depravationen des wahren Glaubens angesehen wurden – in Jesus fortsetzt und zur Vollendung kommt. In Aufnahme von Klaus Kochs Kritik einer solchen Bibellektüre, die er als „Profeten-Anschluß-Theorie“ bezeichnet hat (dazu Koch, Apokalyptik), und zugleich in genderperspektivischer Zuspitzung bemerkt Fischer, Exegese, 66: „Den zu großen Einzelgängern hochstilisierten Männern, die die Religion Israels entscheidend prägten, kann mit einer theologisch bewerteten Kanonabfolge nahtlos die Gründungsfigur des Christentums, der Charismatiker Jesus von Nazaret gegenüber gestellt werden, der alles Bisherige in den Schatten stellende Mann als Anschluss an eine lange Reihe großer Männer, die allerdings durch den ‚jüdischen Nomismus‘ etwa ein halbes Jahrtausend unterbrochen worden sei.“ Zum inzwischen glücklicherweise (jedenfalls für die wissenschaftliche Exegese) zu konstatierenden „Ende der ‚Propheten-Anschluss-Theorie‘“ knapp und bündig: Schmid, Entstehung, 383, bzw., sehr ähnlich, Ders., Hintere Propheten, 323–324. 24  Ewald, Die poetischen Bücher.

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den Ewald in der Prophetie sah, wurde ihm zugleich zum Modell seines eigenen keiner klaren Parteiung zuzurechnenden und zuweilen durchaus exzentrischen politischen Engagements.25 Eine Relation von Prophetenbild und Selbstbild zeigt sich freilich nicht nur bei Alttestamentlern dieser Zeit, vielmehr ist grundsätzlich zu fragen, ob und wie sich in den wechselnden Prophetenbildern der alttestamentlichen Forschung auch die wechselnden Bilder und Selbstbilder der Exegeten und inzwischen auch Exegetinnen unter den Bedingungen der jeweiligen Wissenschafts-community widerspiegeln. Ich mache in dieser Fragestellung zunächst einen Sprung und wechsele von der edierten Forschungsgeschichte abermals ins Anekdotische, nämlich in Konstellationen meiner Bochumer Fakultät.

3. Henning Graf Reventlow, den ich in meinen ersten Bochumer Jahren von 1972 bis 1983 in der Fakultät erlebt hatte und dessen Nachfolger ich – es sei nicht verschwiegen: gegen seinen erbitterten Widerstand – 1996 wurde, plädiert in seiner Studie „Das Amt des Propheten bei Amos“ gegen ein präsentisches Verstehen des ‫ לא־נביא אנכי‬in Am 7,14 für ein präteritales – „Ich war kein Prophet“ (jetzt aber bin ich einer)26 – und spricht dabei von einer „ordentlichen Berufung“ in ein „reguläres Amt“ im Sinne „ordentlicher Amtsnachfolge“.27 Die Terminologie insinuiert über das seinerseits schon professoral konnotierte Wort „Berufung“ hinaus die Nähe des Propheten zum Professor – zumal dem ‚ordentlichen‘. Dabei waren für Reventlow die Propheten durchaus nicht die originären Persönlichkeiten wie in den Inventionen vieler Exegeten zuvor. So argumentiert er z. B. für die so genannten „Konfessionen“ Jeremias, es gehe gerade da nicht um ein individuelles „Ich“,28 und seine nach eigenem Urteil „kaum beachtet(e)“29 Habilitationsschrift trägt den programmatischen Untertitel „Ezechiel und seine Tradition“.30

 Dazu auch u. Anm. 59. Frage nach der vorausgesetzten Zeitform dieses Nominalsatzes war und ist ein immer wieder behandeltes Thema, dazu u. a. Wolff, Dodekapropheton 2, 352.359–361 (mit einer deutlichen Option für ein präsentisches Verstehen), sowie (mit einer Neigung zum präteritalen) Jeremias, Amos, 105.109–110; zu dieser Stelle auch Gass, Prophet. 27  Reventlow, Amt, 21.24. 28  Reventlow, Liturgie. In seinem Beitrag in: Grätz/ Schipper, Selbstdarstellungen, 133– 134, resümiert Reventlow: „Gerade die ‚Konfessionen‘, bis heute vielfach als Ausdruck der individuellen Persönlichkeit des Propheten gedeutet, verstand ich im Rahmen eines offiziellen Auftrags Jeremias, der dort als Fürsprecher für das Volk auftritt.“ 29  In: Grätz/ Schipper, Selbstdarstellungen, 133. 30 Reventlow, Wächter. 25

26 Die

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Die Koinzidenz des Prophetenbildes und des eigenen Auftretens geriet bei Reventlow nachgerade zum Modell. In Fakultätssitzungen war er immer wieder mit alten Akten ‚bewaffnet‘, die er bei Bedarf hervorholte, meist um Traditionen zu befestigen und Innovationen zu verhindern. Gleichwohl zeigen sich seine Arbeiten, die lange als oft in Fußnoten registrierte, doch nicht wirklich beachtete Außenseiterpositionen gehandelt wurden, durch die neuere Forschung in einem anderen Licht. Seine Betonung der Tradition  – in der Arbeit am Alten Testament und in seinen Optionen für die Tradition der Universität gegen fast alles „Neue“ – stellt sich mir zudem heute allemal respektabler dar als damals. Das hat gewiss auch damit zu tun, dass ich mich inzwischen selbst als nostalgischer Fürsprecher der Tradition der Universität gegen das empfinde, was sich gegenwärtig mit „Bologna“ verbindet.31 Reventlows langjähriger Ordinarienkollege in Bochum war Siegfried Herrmann, der mir als seinem Assistenten (1972–76) ein überaus liberaler und großherziger Chef war. Die Differenz im Auftreten beider etwa in Fakultätssitzungen war nur zu deutlich. Beharrlicher Promulgator alter Akten der eine, eigensinnige Stimme oft quer zu jeder Tagesordnung der andere. Fast am Schluss in Siegfried Herrmanns Hans Walter Wolff zum 60. Geburtstag gewidmetem Aufsatz „Das prophetische Wort, für die Gegenwart interpretiert“32 liest man die folgende Reminiszenz: „‚Der Prophet ist der Mann, der das Richtige zu früh sagt‘, meinte schon vor vielen Jahren ein wohlwollender

31  Aus der Seele gesprochen sind mir viele Passagen bei Hörisch, Universität, dabei auch die Bestürzung darüber, dass sich die Erosion der universitas litterarum ausgerechnet mit dem Namen „Bologna“ verbindet und so mit dem Ort der ältesten europäischen Universität. – Für ein strikt anderes Konzept Derrida, Universität, dazu Frettlöh, Gewicht, 9–10. 32 Herrmann würdigt Wolff als kraftvollen Exegeten und Theologen, doch ist da auch eine gewisse Reserve gegenüber politisch-gesellschaftlichen Aktualisierungen im Kontext von Wolffs „Die Stunde des Amos“ zu spüren. Dieses Buch hat den gerade in seinem Erscheinungsjahr 1969 beziehungsreichen Untertitel „Prophetie und Protest“. – Dass Herrmanns kritische Einstellung gegenüber allen „linken“ Positionen mindestens auch von seinen Erfahrungen in der DDR geprägt war, versteht sich. Gleichwohl behielt oder gewann er ebenso gegen sehr konservative Tendenzen eine kritische Haltung. So hatte er das gegen die Universitätsreformen und besonders gegen die studentische Mitbestimmung gerichtete u. a. von mehreren Theologen getragene „Marburger Manifest“ vom April 1968, ein Vorläuferprogramm des 1970 gegründeten stockkonservativen „Bund(es) Freiheit der Wissenschaft“, zunächst unterstützt, dann aber bald seine Unterschrift zurückgezogen. – Ich füge eine sehr persönliche Bemerkung hinzu: Die Siegfried Herrmann und mich trennenden politischen Optionen waren ihm, als er mich zu seinem Assistenten bestimmte, voll bewusst. Denn sie waren ihm bereits im Kontext meiner Bewerbung auf diese Stelle nach meiner Promotion in Hamburg, wie er mir später erzählte, gleich von allen drei dortigen Alttestamentlerinnen und Alttestamentlern (Marie Louise Henry, Klaus Koch und Odil Hannes Steck), verbunden mit jeweils positiven Urteilen über die wissenschaftliche Qualität des Bewerbers, warnend signalisiert worden. Sie wurden jedoch nie zu einem persönlichen Konflikt. Wenn im Gespräch gelegentlich politische Kontroversen aufschienen, wurde eine gemeinsame Haltung zur immer wieder tragfähigen Basis, nämlich unser beider tiefe Abneigung gegen alles Militärische und Militante.

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Kollege zu mir, und beleuchtete damit unwillkürlich das Verhältnis von trans­ zendenter Wahrheit und empirischer Erfahrung.“33 Gleich mehrere Wendungen in diesem Satz lassen aufmerken. Die zitierte Definition des Propheten kennzeichnet der Autor ausdrücklich als ein an ihn gerichtetes Wort und zwar das eines „wohlwollende(n) Kollege(n)“, der damit „schon vor vielen Jahren“ einen Zusammenhang mit einer zentralen Linie des nun verfassten Aufsatzes „unwillkürlich“ beleuchtet habe. Dabei steht freilich die Rede vom Propheten als dem, „der das Richtige zu früh“ sagt, in deutlichem Gegensatz zu dem, was Herrmann in diesem Aufsatz und in all seinen Arbeiten über die Propheten ausführt.34 Ging es im damaligen Gespräch mit dem wohlwollenden Kollegen gar nicht in erster Linie um Israels Propheten? Wollte der Kollege mit diesem Satz, den Herrmann, wie er in der Anmerkung sagt, ihm verdanke, ihm, Siegfried Herrmann wohl? Ich verbinde diese Impression  – mehr kann es nicht sein  – mit der lebhaften Erinnerung an Herrmanns nachhaltige Verbitterung über Beurteilungen seiner „Untersuchungen zur Überlieferungsgestalt mittelägyptischer Literaturwerke“.35 In der Tat hatte er in dieser frühen Arbeit die in der alttestamentlichen Exegese ausgebildete überlieferungsgeschichtliche Methode auf die Überlieferungsgestalt ägyptischer Texte angewendet, womit sich Ägyptologen damals schwer taten.36 Hatte er „das Richtige zu früh“ gesagt und hatte jener „wohlwollende Kollege“ ihm mit diesem Prophetenbild bedeuten wollen, die Zeit werde kommen, in der sich „das Richtige“ erweise? So gelesen, wäre jene Reminiszenz fast am Ende des Aufsatzes so etwas wie eine Flaschenpost und dieses Prophetenbild spiegelte viel von einem Selbstbild wider.37 Dass Herrmann immer wieder quer zu allem wie ein solcher „Prophet“ 33 Herrmann,

Prophetisches Wort, 664, dazu die Fußnote: „Ich verdanke das Wort dem Neutestamentler Erich Fascher. Seine sprach‑ und religionsgeschichtliche Untersuchung „PROPHETES“ (Originaltitel in griechischen Majuskeln!), bereits 1927 erschienen, hat wegen des dort verarbeiteten umfangreichen Quellenmaterials bleibende Bedeutung.“ 34 Immer wieder setzt S. Herrmann sich von einer Sicht ab, in der sich das Prophetische v. a. in der ganz originären Persönlichkeit der Propheten erweise, so im genannten H. W. Wolff gewidmeten Aufsatz, Prophetisches Wort, 652–653.656–658, aber auch z. B. in: Ders., Heilserwartungen, 5; Ders., Das Prophetische, bes. 45–48. 35  Das 1957 erschienene Buch ist als Projekt angezeigt in: ZDMG 105 (1955), *29. 36  Dazu die ausführliche Rezension von Alfred Hermann; sie ist in vielen Punkten würdigend abgefasst, doch auch mit erkennbaren Vorbehalten gegenüber einer solchen methodischen Übertragung. Schärfer erachtet Baudouin van der Walle in seiner Besprechung die „conclusions“ in Herrmanns Werk als „trop radicales“ (109). Beide Rezensionen erwähnt Herrmann selbst in: Ders., Prophetie, 51 (wieder abgedruckt in: Ders., Geschichte und Prophetie, hier 176) mit Anm. 5 und 6. Meiner Erinnerung nach erwähnte Herrmann gesprächsweise ein noch härteres Votum eines Ägyptologen, der über seine Studie geurteilt habe, er reiße die Texte sinnlos auseinander. Um wen es sich dabei handelte, weiß ich leider nicht mehr zu sagen und einen entsprechenden Beleg konnte ich auch bisher nicht finden. – Inzwischen erscheint die Perspektive der „Überlieferungsgeschichte“ übrigens in mehreren ägyptologischen Arbeiten. 37 Diese Interpretation bleibt als Exegese von Worten eines Exegeten eine  – freilich begründete  – Hypothese. Das hat sie gemein mit der Exegese biblischer Worte, wobei da der

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auftrat, ist mir plastisch vor Augen. So pflegte er z. B. nicht zu sagen, er gehe zur Vorlesung oder ins Kolleg, sondern er müsse „auf die Bühne“.38

4. Zuweilen bekommt die Lektüre buchstäblich namentlich mit Biographischem zu tun. Es ist kaum ein Zufall, dass in der Lektüregeschichte des Jonabuchs die Bedeutung des Namens „Jona“ (‫ )יונה‬als „Taube“ besonders für St. Columban sprechend wurde.39 – „Ich bin Josef, euer Bruder“, lautet der Titel einer literarischen Analyse der Josefsgeschichte. Konnte der Verfasser Scharbert diesen Titel wählen oder kann man ihn wahrnehmen, ohne daran zu denken, dass er selbst Josef heißt? Ist es ein bloßer Zufall, dass sich Wolfgang Richter in seinem exegetischen Werk in Sonderheit dem Richterbuch gewidmet hat?40 Noch ein weiteres Beispiel: Rudolf Smend beginnt das Kapitel über Bernhard Duhm in seinem Werk über „Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten“ mit dem lakonischen Satz: „Duhm ist mehr als Smend.“41 Dabei ist evident, dass sich die vergleichende Wertung Wellhausens, die der Autor hier zitiert, nicht auf ihn selbst bezieht und auch nicht auf seinen Vater, den Kirchenrechtler Rudolf Smend (1882–1975), sondern auf seinen gleichnamigen Großvater, den Alttestamentler Rudolf Smend (1851–1913). Und doch zeigt diese Stelle wie manche weitere quasi augenzwinkernd, in welchem Maße Smends Arbeiten zur Forschungsgeschichte namentlich mit der Familiengeschichte ihres Autors verknüpft sind.

Abstand zwischen den überlieferten Texten und ihren gegenwärtigen Lektüren weit größer ist und sich damit die Annahme, dass wir wirklich verstehen, was damals gemeint war, als noch fragiler zeigt. 38  Herrmann konnte auf dieser „Bühne“ mit vollem Körpereinsatz agieren, so etwa, wenn er demonstrierte, wie man in der Antike zu Tische lag. Eindrucksvoll war es, wenn er im Zusammenhang von Am 3,5 Form und Funktion des dort genannten ‫ פח‬ins Bild setzte, indem er ein solches „Klappnetz“ mitbrachte und dessen Funktion vorführte. Es stammte zwar nicht aus der Zeit des Propheten Amos, aber immerhin aus dem Besitz von Herrmanns großem Lehrer Albrecht Alt und repräsentierte so eine für ihn fast ebenso ehrwürdige und ihn womöglich noch stärker verpflichtende „Tradition“. 39  Vgl. Miles, Laughing, 171, dazu auch Hauser, Jonah, 22. – Es handelt sich um den irischen Mönch Columba(n), den Älteren, geb. 521/22 in Gartan, Irland, gest. 597 auf der schottischen Hebriden-Insel Iona (!); er ist einer der „drei Patrone“ und „zwölf Apostel“ Irlands; zu anderen biblisch-symbolischen Füllungen seines Namens Columba(n) – „Taube“ bei seinem späteren Biographen Adomnan s. Fens, Desert. 40 Einige der Arbeiten Richters zum Richterbuch sind im Literaturverzeichnis am Ende des Beitrags genannt. 41 Smend, Alttestamentler, 114 (diese Bemerkung findet sich in einem Brief an W. R. Smith vom 23. 10. ​1888, in: Smend, Wellhausen. Briefe, 217).

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5. Die Frage nach dem Selbstbild hinter dem oder auch im Prophetenbild darf die zum je eigenen Prophetenbild nicht ausklammern. Sie fällt einerseits leichter als die Exegese der Worte anderer Exegeten, denn ich weiß ja, in welchen biographischen und zeitgeschichtlichen Kontexten ich schrieb und sprach. Aber andererseits ist sie wiederum schwerer, denn ich kann mir  – um es so auszudrücken  – nicht selbst in den Hinterkopf schauen. Und doch gehört ein solcher Versuch zur Redlichkeit des wissenschaftlichen Arbeitens. In meinen Vorlesungen und Veröffentlichungen waren damals (und sind in letzteren bis heute) Ernst Bloch, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und vor allem Walter Benjamin präsent, und nicht selten ging und geht es mir nicht nur um das Verstehen biblischer Texte mit deren Hilfe, sondern auch umgekehrt darum, ihrem Denken im Lichte biblischer Texte näher zu kommen. In der im Blick auf Herrmann und Reventlow erinnerten Zeit war mir trotz meiner Dissertation über Ez 40–4842 Amos viel näher als Ezechiel. Darin, dass mir das Auftreten der Propheten als ‚Gegenöffentlichkeit‘ wichtig wurde, steckte gewiss auch ein Selbstbild in den Konstellationen der Fakultät und der Universität und in der Betonung der ‚Fragen wider die Antworten‘ ebenso. Dabei lasse ich eine bemerkenswert selbstkritische Re-Vision meines neutestamentlichen Kollegen und Freundes Klaus Wengst auch mir gesagt sein. Im Vorwort seiner „Streitschrift“ gegen einen „historischen Jesus“43 notiert er über eine seiner frühen Vorlesungen: „Als ich mir etwas später Teile der Vorlesung wieder ansah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Jesus, den ich dort vorfand, hatte an der Studentenbewegung teilgenommen.“ So war es wohl auch bei meinen Propheten. Von 1968 an erschien eine Zeitschrift mit dem Untertitel „Kritische Blätter aus dem Ruhrgebiet“ und dem Haupttitel „Amos“. Gretchen und Rudi Dutschke gaben ihrem ersten Sohn beziehungsreich die beiden Vornamen „Hosea Che“.44 Israels Propheten waren ganz gegenwärtig. Mir ist es keineswegs darum zu tun, mich von den hier angedeuteten Optionen zu distanzieren oder sie als Jugendsünden abzubuchen. Es geht mir vielmehr um eine Reflexion der jeweiligen Reflexionen meiner exegetischen Versuche auf das, was ich politisch, sozial und theologisch für an der Zeit hielt und in vieler Hinsicht noch halte.45

42  Freilich blieben mir „Kritik und Utopie“, die beiden Stichworte des Titels der Arbeit, zentral und sind es noch immer. 43  Wengst, Jesus, das folgende Zitat ebd., 7. 44  Bezeichnender Weise konnte der Rufname „Hosea“ dann auch in „José“ mutieren – ein Wechsel von der biblischen Prophetie in ein anderes ‚Revolutions‘-Paradigma. Zu seinen eigenen Erinnerungen s. Dutschke, Rudi und ich. 45  Zu einem Blick auf die Propheten in dieser Linie Ebach, Intellektuelle, dazu auch Lang, Prophetie, hier bes. 425–428.

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Übrigens wurden auch für Veränderungen meiner exegetischen Auffassungen manche nicht-exegetische, ja unwissenschaftliche Beobachtungen und Impressionen leitend. Dazu nur zwei Beispiele: In meinem Rigorosum ging es in der Prüfung im Hauptfach bei Klaus Koch unter anderem um die Urgeschichte. Ich weiß noch gut, dass ich die ‚Paradiesgeschichte‘ zwar nicht gerade als eine von ‚Blut und Boden‘ ansah, aber dass sie mir nicht sympathisch war. Nun hätte ich schon damals auf eine Quizfrage, welches das letzte Wort in Blochs „Prinzip Hoffnung“ sei,46 korrekt antworten können, aber dieses Wort „Heimat“ war damals für mich zutiefst mit den „Heimatverbänden“ und deren reaktionären Zielen verbunden. Das änderte sich nicht so sehr durch weitere Bloch-Lektüre und auch nicht durch alttestamentliche Exegesen, sondern nicht zuletzt durch die bemerkenswerte Filmreihe „Heimat“ von Edgar Reitz.47 Hier kam ein ganz anderer Heimatbegriff ins Bild als in den üblichen „Heimatfilmen“. Doch da sind auch meine fast umgekehrten Impressionen, nämlich die zu Christoph Uehlingers Arbeit über die „Turmbaugeschichte“.48 Seine These, es handele sich in Gen 11,1 nicht um eine utopisch erinnerte Ureinheit der Menschheit, sondern um eine imperial hergestellte Einheit, hatte mich zunächst nicht überzeugt. Und wieder waren es zunächst keine exegetischen Beobachtungen, die mich zu einem anderen Urteil brachten, sondern die Verbindung meiner Lektüre mit der Erinnerung an die Rufe in Leipzig „Wir sind das Volk“ im Oktober bzw. kennzeichnend anders „Wir sind ein Volk“ im November 1989.49 Es versteht sich, dass solche außerwissenschaftlichen Impulse an den Texten und deren Exegese selbst zu prüfen sind, aber das mindert ihre Bewegkraft nicht. Ich belasse es bei diesen Andeutungen und breche die schon zu lang und andererseits auch wieder zu kurz geratenen Selbstbespiegelungen ab, um mich in weiter gefassten Perspektiven der Frage zuzuwenden, ob und in welcher Weise Prophetenbilder der alttestamentlichen Forschungsgeschichte in Tradition und Invention mindestens auch als Selbstbilder der Forscher wahrnehmbar sind.50

46  Das Buch endet mit den Sätzen: „Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Bloch, Hoffnung, 1628). 47 Dazu u. a. Rauh, Edgar Reitz; Koebner, Edgar Reitz. 48  Uehlinger, Weltreich. 49  Dazu Ebach, Volk, bes. 37. 50 Der folgende Abschnitt greift zurück auf meine im Februar 2010 in der Ruhr-Universität Bochum gehaltene Abschiedsvorlesung; sie ist dokumentiert in: von Bremen, Generation.

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6. Im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts ging es den Exegeten vor allem darum, das Profil der echten großen Prophetenpersönlichkeiten zu zeichnen und von den späteren Zutaten von Epigonen und Glossatoren zu scheiden. Die „echten“ Propheten erschienen als kantige und unverwechselbare Gestalten gegenüber dem gemeinen Volk, das sie nicht verstand. Pointiert gesagt: Sie glichen dem deutschen Professor jener Zeit. Doch bald stellte sich heraus, dass es die zuvor als epigonal eingeschätzten Tradenten und Redaktoren waren, welche die Prophetenbücher allererst komponierten. Nun wurde die Kategorie prophetischer Schulen immer wichtiger.51 Doch so entstand in neuen Konstellationen abermals ein Bild, in dem Prophet und Professor einander verblüffend glichen. Jetzt war nicht mehr der einsame, womöglich etwas schrullige und fast habituell unverstandene Professor das Modell des Propheten, sondern der, welcher einen Kreis von Schülern um sich sammelt und im Idealfall eine eigene Schule bildet. In der gegenwärtigen Forschung können jene Prophetengestalten, um die sich eine solche Schule bildet, sogar selbst verschwinden. Ob es eine hinter der Forschungs-Chiffre „Deuterojesaja“52 stehende einzelne Prophetengestalt überhaupt gab, ist strittig geworden; viel spricht dafür, dass hier nicht das Werk einer anonymen Prophetengestalt an die Jesajaprophetie angefügt wurde,53 sondern 51 War

der Terminus „Prophetenschulen“ zunächst mit den ekstatisch-prophetischen Gruppen v. a. um Elia und Elischa verbunden, so konnte nun auch von Jesaja, Jeremia, Ezechiel „und seiner Schule“ die Rede sein. Das Wort „Schule“ bezieht sich dabei nicht mehr auf eine Art „Ausbildungsstätte“ für Propheten, sondern auf die Arbeit derer, welche die Worte eines Propheten aufnahmen und in ihren Bearbeitungen und Fortschreibungen tradierten und erst so die entsprechenden Prophetenschriften oder ‑bücher gestalteten. 52 Die Deuterojesaja-Hypothese, d. h. die Zuschreibung der mit Jes 40 beginnenden Teile des Jesajabuches zu einem exilischen Verfasser geht auf Johann Christoph Döderlein (bzw. Doederlein) zurück (angedeutet in seinem Rezensionsjournal „Auserlesene Theologische Bibliothek“, 1, 832], ausgeführt in seinem [lateinisch verfassten] Jesajakommentar in der 3. Aufl. 1789). Die Bezeichnung „Deuterojesaja“ findet sich jedoch erst in B. Duhms Jesaja-Kommentar. Duhm war es auch, der diesen „Deuterojesaja“ (Jes 40–55) von einem „Tritojesaja“ (56–66) unterschied. Zu diesen Hypothesen und weiteren „Eckpunkte(n) in der Geschichte der Auslegung“ Berges, Jesaja 40–48, 28–43; zur Forschungsgeschichte auch der entsprechende Abschnitt in der 1973 in Bochum als Diss. vorgelegten, von Henning Graf Reventlow betreuten Arbeit von Vincent, Studien, 15–39. 53  Auch dazu eine Anekdote, die mit der Relation von Forschungsgegenstand und Forscherselbstbild zu tun bekommt: Ich erinnere mich an eine schon lange zurückliegende Tagung in der Evangelischen Akademie Hofgeismar, auf der eine Gruppe von Theologinnen und Theologen verschiedener Fächer die exegetisch-hermeneutische Frage traktierten, warum, mit welchen Interessen und Methoden und in welchen Kontexten wer welche Thesen vertrat und vertritt. In einer der Gesprächsrunden fragte Wolfgang Lienemann Rolf Rendtorff scheinbar unvermittelt, ob Otto Eißfeldt eigentlich geizig gewesen sei. Rendtorff stutzte, dachte einen Moment nach und sagte, das könne er nun gar nicht bestätigen. Doch dann fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, ihm falle allerdings gerade ein, dass Eißfeldt Postkarten, die er verschickt habe, bis an alle Ränder und unter Ausnutzung jedes auch nur möglichen Platzes vollgeschrieben habe. Da-

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dass es sich bei den Texten in Jes 40–55 um das Werk einer Gruppe von Gelehrten handelt, die unter dem Namen „Jesaja“ tradierte Texte fortschrieb und zum Bestandteil des Jesaja-Buchs werden ließ.54 Daneben gab es eine andere Gruppe, die Entsprechendes im Namen Ezechiels tat. Hält man sich vor Augen, wie kleinräumig die persische Provinz Jehud war und wer da lesen und schreiben konnte, so liegt nahe, dass jene konkurrierenden Kreise einander gut kannten.55 Für wen eigentlich schrieben sie? Waren die Autoren ihre eigenen Rezipienten  – frei nach dem unter anderem Kurt Tucholsky zugeschriebenen Satz: „Das bisschen, was ich lese, schreibe ich mir selbst“?56 Sie hatten jedenfalls ihre je eigene Diktion. So spielt der Berauf legte Lienemann den Grund seiner merkwürdig scheinenden Frage offen und sagte, wohl nur so jemand habe in Betracht ziehen können, man habe Deutero‑ und Tritojesaja an Jesaja angefügt, weil auf der Buchrolle noch Platz gewesen sei. Vielleicht war diese Impression ein wenig überpointiert, aber immerhin hielt Otto Eißfeldt hier in der Tat einen „mechanischen Zufall“ für möglich und es für „denkbar, daß c. 40–55 und 56–66 als anonyme Prophetien hinter Jes 1–39 auf derselben Buchrolle zu stehen gekommen und daß dann allmählich diese anonymen Teile dem zuletzt genannten Propheten, also Jesaja, zugeschrieben worden sind, wie wir für das Zusammenwachsen von Sach 1–8 und 9–14 vielleicht ähnliche Gründe anzunehmen haben (S.494 f.)“ (Ders., Einleitung, 465–466). Allerdings erscheint es ihm dann wahrscheinlicher, „daß c. 40–55 mit 1–35 (39) und 56–66 mit 40–55 bzw. 1–55 darum vereint worden sind, weil stilistische und sachliche Ähnlichkeiten die Herleitung von demselben Verfasser nahelegten“ (a. a. O., 466). Dass inzwischen sowohl die eine als auch die andere Erklärung als kaum noch plausibel erscheint, steht auf einem anderen Blatt. 54 Dazu Berges, Farewell. 55  Vgl. Berges, Jesaja 40–48, bes. 30. 56 Die Zuschreibung vieler nicht belegbarer „Zitate“ zu ihren vorgeblichen Urhebern kann durchaus als Invention von Tradition betrachtet werden. Man möchte für einen geläufigen Spruch eine würdige Abkunft nennen. Fehlende Belege werden nicht selten durch ein „bekanntlich“ kompensiert. – Das hier „zitierte“ Diktum wird, wie ein Blick ins Internet zeigt, ohne jeden Beleg oft auf Tucholsky, aber auch auf Bert Brecht und Winston Churchill sowie verblüffender Weise sogar auf Hans Matthöfer und Henryk M. Broder zurückgeführt, aber auch George Bernard Shaw wird als Urheber erwogen (mit dem ‚schlagenden‘ Argument, dass es auch zu ihm passe). In anderen Einträgen wird es als Journalistenscherz gekennzeichnet. Bemerkenswert ist hier und an ähnlichen Stellen aber auch die Ersetzung eines fehlenden Belegs durch den Gestus kumpelhafter Vertrautheit („der olle Tucholsky“ oder auch „GBS“). – Gerade im Internet häuft sich eine (freilich auch in Zitationsketten in Büchern und Aufsätzen begegnende) Form, in der eine Invention zur Tradition wird. Ich denke an den Vorgang, in dem ein (angebliches) Zitat, das in einem Eintrag ohne Beleg aufgeführt ist, in einem späteren Eintrag dadurch „belegt“ wird, dass jener frühere als Beleg angegeben ist. In der Fortsetzung solcher Praxis hat man dann schließlich für ein solches Zitat eine so große Fülle von „Belegen“, dass Zweifel gar nicht aufkommen. Die faktisch bloße Wiederholung verleiht der Invention den Anstrich sorgfältig tradierter Richtigkeit. Und wer hat es wirklich gesagt, wessen ipsissima verba sind es? Diese Frage nebst ihren Aporien und Abgründen ist biblischen Exegetinnen und Exegeten ja durchaus vertraut. – In diesen Zusammenhang gehört auch, dass ein großer Teil gerade der bekanntesten Luther-„Zitate“ (u. a. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, „Wie bekomme (bzw. wie kriege) ich einen gnädigen Gott?“ oder das Wort vom Pflanzen des Apfelbäumchens [ganz abgesehen von dem gern zitierten und angeblich aus Luthers Tischreden stammenden „Warum rülpset und furzet ihr nicht? Hat es euch nicht geschmacket?“]) eines gemeinsam haben, nämlich dass sie allesamt

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griff „Zion“ bei der Jesajagruppe eine große Rolle, im Ezechielbuch kommt er gar nicht vor. Mit dem Stichwort „Zion“ konnte sich eine Öffnung hin auf die Völker verbinden, das heißt eine Konzeption, welche die Einen vertraten, die Anderen aber gerade nicht.57 Mir kommt ein Modell in dieser Linie durchaus überzeugend vor. Aber sind damit die Projektionen der eigenen Rollenbilder der Forscher und nun auch im größeren Umfang der Forscherinnen58 überwunden, um einem unvoreingenommenen, objektiv-wissenschaftlichen Blick auf die historischen Konstellationen zu weichen? Oder spiegelt sich im Bild jener Jesaja‑ und Ezechiel-Gruppen mit ihrer je eigenen Diktion auch etwas heute Bekanntes wider? Ich denke an Oberseminare oder Forschungskolloquien verschiedener Theologischer Fakultäten. Da fungieren manche Sprachformen geradezu als Schibbolet: Spricht man von priesterlichen oder von priesterschriftlichen Texten? Gilt die „Neuere Urkundenhypothese“ mit ihren lange Zeit wie ein sicheres Wissen gehandelten und in Prüfungen als solches vorausgesetzten Pentateuch-Quellen (JEPD) als überholt oder wird sie noch oder wieder stark gemacht? Wie bestimmt und wie bezeichnet man die Schichten des Deuteronomistischen Geschichtswerks? Werden signifikant oft assyrische Urkunden zum Modell alttestamentlicher Texte? Gehört die gender-Perspektive zu den methodischen Grundfragen oder steht sie allenfalls am Rand? Aber auch: Wie nennt man das Land, in dem die alten Geschichten spielen – Palästina, Kanaan, Israelland? Oder: wie schreibt und wie spricht man das Tetragramm? Die jeweilige Diktion steht – wie in den biblischen Texten selbst – für eine bestimmte Sicht und sie fungiert nicht selten – wie in den biblischen Texten selbst – als corporate identity. nicht als Lutherworte belegbar sind. Gleichwohl wurde auch hier die Invention zur Tradition, ja in manchen Fällen zur bündig-gültigen Formulierung je eines Kerns von Luthers Theologie. 57  Berges, Jesaja 40–48, 29; zur Rolle Zions in Jes 40–66 auch Steck, Heimkehr, sowie Ders., Gottesknecht; zu den „Fortschreibungen in Deuterojesaja und Tritojesaja“ auch Schmid, Literaturgeschichte, bes. 164–166 mit der summierenden Bemerkung (166): „Zion-­ Jerusalem hat messianische Qualität nicht nur für das Volk Israel, sondern für alle Völker.“ 58  Gab es in der atl. Forschungs-community zunächst nur wenige Frauen (ich denke für Deutschland v. a. an Marie-Louise Henry, die ich in meinem Studium in Hamburg als begeisterte und begeisternde atl. Lehrerin erlebte, und an Hedwig Jahnow, deren Andenken eine Gruppe von Theologinnen im „Hedwig-Jahnow-Projekt“ mit mehreren Veröffentlichungen und regelmäßigen Treffen in Marburg Reverenz erweist), so wurde die Existenz von Exegetinnen seit den letzten Jahrzehnten zu einer Selbstverständlichkeit. Ihre Arbeiten zur Prophetie haben u. a. auch die Aufmerksamkeit auf Prophetinnen in Israel verstärkt dazu v. a. Fischer, Gotteskünderinnen. Gerade das Unternehmen, die Prophetinnen (Mirjam, Debora, Hulda, Noadja) in ihrer literarischen Randstellung wahrzunehmen und sie zugleich aus einer Randposition herauszuführen – genannt sei dazu beispielhaft Butting, Prophetinnen –, spiegelt auf spezifische Weise auch die Selbstwahrnehmung der Forscherinnen. Auch über das Prophetiethema hinaus wurden Fragestellungen einer feministischen Hermeneutik fruchtbar in das Verstehen atl. Texte eingebracht. Auch hier ist ein Erkenntnisinteresse zu beobachten, welches nicht allein dem Forschungsstand geschuldet ist, sondern sich stets auch den Erfahrungen der eigenen Generation und des eigenen Geschlechts (gender) verdankt.

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Doch jenseits dieser Konturierungen und Kontroversen im Einzelnen zeigen sich gemeinsame Strukturen, die sich in gegenwärtigen Entwürfen über die Entstehung alttestamentlicher Texte widerspiegeln. In den Rekonstruktionen der Literaturgeschichte wie in der Form, in der diese (Re‑)Konstruktionen heute erfolgen, geht es um Projekte von Gelehrtengruppen in ihren jeweiligen institutionellen Rahmenbedingungen. Wird womöglich bald die These auftauchen, jene Jesaja-Gruppe habe ihr Werk mit persischen „Drittmitteln“ erstellt? Ich will mit dieser Bemerkung die neuere Forschung und ihre Erkenntnisfortschritte keineswegs ironisieren. Im Gegenteil: Noch in solchen Zuspitzungen zeigt sich, dass jede Generation nur die Möglichkeit und damit auch die Aufgabe hat, die biblischen Texte so zu verstehen, wie es den Plausibilitätsstrukturen und den Erfahrungen ihrer Zeit entspricht.

7. Das fordert dann aber auch, dass sich die Forscherinnen und Forscher über die Beweggründe und Interessen, die biographischen, sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen ihres Arbeitens Rechenschaft zu geben versuchen, und es hält fest, dass eine solche Reflexion über ihre eigenen Traditionen und Inventionen nebst den wohl unvermeidlichen Projektionen zum wissenschaftlichen Diskurs selbst gehört.59 Was in der Forschungsgeschichte wie selbstverständlich zum Thema wird, sollte darum auch in der jeweils aktuellen Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung nicht als „unwissenschaftlich“ ausgeklammert sein. Als Beispiel für eine solche Selbstreflexion nenne ich die Beiträge (unter anderem von Erhard Blum, Gerlinde Baumann, Marie-Theres Wacker und Klaus Wengst) in dem von Edith Petschnigg und Irmtraud Fischer herausgegebenen Tagungsband

59  Gerade von sozial und politisch engagierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern fordert das eine nicht leicht zu haltende Balance. Sie sollten ihren Ort und ihre Aufgabe in der jeweiligen gesellschaftlichen Gegenwart wahrnehmen und zugleich den in der Wissenschaft notwendigen Abstand vom jeweils Aktuellen oder aktuell Scheinenden wahren. Heinrich Ewald, der wie kaum ein anderer Alttestamentler das war, „was man heute engagiert zu nennen pflegt, und zwar nicht der jeweiligen Mode folgend, sondern gegen den Strom und unter Opfern“ (so Smend, Heinrich Ewalds Biblische Theologie, 157), formulierte diese Aufgabe in der 1871 verfassten Vorrede seiner in vier Bänden erschienenen „Lehre von Gott oder Theologie des Alten und Neuen Bundes“, hier IV, XIV, (zitiert nach Smend, ebd., unter Beibehaltung von Ewalds Orthographie) so: „Die ächte wissenschaft ist auch dáran zu erkennen daß sie überall ihre vollkommne ruhe und unabhängigkeit von allen tagesunruhen zu wahren weiß: und so hält sich dieses werk. Aber sie soll sich auch nicht zu vornehm für die wirklichen mängel und übel einer zeit dünken, welche zu heben sie doch zuletzt allein arbeitet“. Inwieweit Ewald selbst diese Balance zwischen Engagement und Distanz zu wahren vermochte, ist freilich eine andere Frage. In vieler Hinsicht erhellend sind dazu die persönlichen Erinnerungen in Wellhausen, Ewald.

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mit dem programmatisch-thetischen Titel: „Der ‚jüdisch-christliche‘ Dialog veränderte die Theologie. Ein Paradigmenwechsel aus ExpertInnensicht.“60 Der jüdisch-christliche Dialog veränderte in der Tat die Theologie, und die Wahrnehmung dessen, was Israel gesagt ist und was in Israel gesagt ist,61 lässt für nicht wenige alt‑ und neutestamentliche Exegetinnen und Exegeten auch die rabbinische Hermeneutik ins Blickfeld rücken. In der rabbinischen Diskursliteratur finden sich manche Bemerkungen über das Verhältnis von Tradition und Invention, die gerade darin ihren Reiz haben, dass sie dieses Spannungsverhältnis bis zur Paradoxie zuspitzen. Erinnerungen an solche Passagen sollen diesen Beitrag beschließen.

8. „Eine Tradition, die völlig transparent ist, ist eine Tradition, die völlig am Ende ist.“ (Leon Wieseltier)62

Ein weit mehr als formaler Aspekt der Frage nach Tradition und Invention bezieht sich auf Textkritik63 und Übersetzung. Gerade die Exegeten, denen es um die echten Prophetenpersönlichkeiten zu tun war, griffen gern zu Konjekturen, ja sie legten nicht selten die Texte aus, die sie zuvor am eigenen Schreibtisch hergestellt hatten.64 Umgekehrt nehmen Exegetinnen und Exegeten, denen die 60 Das so geschriebene letzte Wort des Untertitels lässt sich womöglich ja sogar doppelt lesen, nämlich einmal als „Experten‑ und Expertinnen-Sicht“ und zum andern als „Expert-Innensicht“ und es könnte dann die Bedeutung gerade der Innensicht für die Expertisen der Expertinnen und Experten andeuten. 61 Diese mir zur hermeneutischen und theologischen Maxime gewordene Formulierung ist weiter entfaltet in: Ebach, Hören. 62  Wieseltier, Kaddisch, 100. 63 Dazu eine weitgreifende Imagination: Ich wünschte mir eine Form der Textkritik, die sich nicht anmaßt, den richtigen Text zu dekretieren und den Lesenden – so heißt es ja in den Kürzeln der BHK und der BHS wie „l“, „crrp“ oder „dl“ – zu befehlen, wie zu lesen sei (lege!, legendum), geschweige denn, die nachgerade unmoralischen verderbten (corrupten) Lesarten zu tilgen, zu zerstören (dele!, delendum). Ein textkritischer Apparat bedarf gewiss kurzer Formeln. Aber könnte nicht eine an gerechtem und gewaltlosem Umgehen mit Texten ausgerichtete Textkritik Kürzel entwickeln, die ausgeschrieben etwa so lauteten: Es sollte uns (im Wortsinn des Dabei‑ und Darin-Seins) interessieren, dass eine Textvariante hier auf eine andere Möglichkeit führt. Oder: es lohnt sich zu prüfen, was es bedeuten könnte, dieses Wort so zu lesen, zu vokalisieren, zu übersetzen. Oder auch nur: die folgenden Lesarten verdienen ebenso Respekt. 64  Rolf Rendtorff sprach in diesem Zusammenhang gelegentlich spöttisch von „homemade texts“. – Zu würdigen ist, dass der textkritische Apparat der BHS im Umgang mit Konjekturen vorsichtiger verfährt als der der BHK. So verfügt – um hier nur ein Beispiel zu nennen – die BHK die Änderung des ‫ ַדל‬in Ex 23,3 in ‫ גָ ד ֹל‬strikt mit einem „l“ (lege, legendum). Diese Lesart vertraten mehrere Exegeten, u. a. Noth, Exodus, 138, und nach Holzinger, Exodus, 95, ist „die Korrektur“ – man beachte die Sprachform und die in ihr sich zeigende Gewissheit, dass die Konjektur den Text korrigiert, d. h. den richtigen Text herstellt – „nicht zu umgehen“. In der

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Tradition gerade auch in der Gestalt des masoretischen Textes am Herzen liegt, lieber einen schwer oder gar nicht verständlichen Wortlaut in Kauf, statt ihn dem Zugriff der eigenen Invention zu unterwerfen.65 Was ist da richtig? – Oder ist beides falsch? In Tosefta Megilla 4,41 heißt es: „Wer einen Vers übersetzt, wie er da ist (nach seiner Form), siehe, der ist ein Fälscher, und wer (etwas) hinzufügt, siehe, der ist ein Lästerer“ (‫)מתרגם פסוק כצורתו הרי זה בדאי והמוסיף הרי זה מגדף‬.66 Wer fremdBHS wird dagegen das zuvor so gewisse „l“ zu einem fragenden „lapsus pro ‫( “?גָ ד ֹל‬in beiden Fällen mit dem naheliegenden Verweis auf Lev 19,15). Zur Begründung der Beibehaltung des ‫ דל‬Schwantes, Recht, 55. Es scheint mir nicht ohne Hintergrund, dass es dem Exegeten der lateinamerikanischen Befreiungstheologie hier wichtig ist, dass den Armen keine mildtätige Bevorzugung gelten, sondern dass ihnen Recht zuteilwerden soll (in dieser Linie auch Crüsemann, Tora, 223). Dass neuere Kommentare (wie Dohmen, Exodus 19–40, 143.182 und Albertz, Exodus 19–40, 105.121) den masoretischen Text, m. E. mit allem Recht, beibehalten, ohne jene „Korrektur“ auch nur in Betracht zu ziehen, zeigt die geringe „Halbwertzeit“ jener einst so sicheren und „nicht zu umgehen(den)“ Eingriffe. 65  Martin Buber empfiehlt in seinem kleinen Leitfaden „Ein Hinweis für Bibelkurse“ aus dem Jahr 1936 (in: Buber, Werkausgabe 14, 139–141), zitiert nach: Ders., Schrift, 183): „Mit einem noch so schwer zu erfassenden Wortlaut muss man bis auf äußerste ringen, ehe man sich, mit der Melancholie eines unvermeidlichen Verzichts im Herzen, entschließt, auch nur einen einzigen Vokal anders zu lesen, als er dasteht, das heißt, sich und anderen einzugestehen, dass man hier den Zugang zum Text nicht hat und nicht erarbeiten kann.“ Es geht danach weniger darum, ob in bestimmten Fällen eine Konjektur erlaubt oder gar unvermeidlich ist (auch in Buber/Rosenzweigs Verdeutschung der „Schrift“ gibt es solche Texteingriffe), als darum, in welcher Haltung gegenüber dem tradierten Text sie erfolgt. 66  S. auch Bavli Qiddushin 49a, vgl. Stemberger, in: Dohmen/Ders., Hermeneutik, 60. – Ein entsprechendes Problem stellt sich nicht nur für die Textwiedergabe, sondern auch bei der literakritischen und redaktionsgeschichtlichen Textwahrnehmung selbst. Welcher Text ist als ursprünglich, welche seiner Elemente sind als hinzugefügte anzusehen? Welches methodische oder theoretische Vorverständnis führt zu welchen Ergebnissen? Welche Kriterien sind etwa bei einer ganz oder teilweise parallelen Wendung in verschiedenen biblischen Textpassagen oder Büchern zielführend, wenn es um die Frage geht, ob hier eine literarische Entlehnung vorliegt (und wenn, ja, in welcher Richtung) oder ob es sich um die jeweilige Aufnahme einer „Tradition“ handelt – und dann weiter, ob Varianten einer solchen Aufnahme als übliche literarisch-variierende Ausdrucksformen zu sehen sind oder als bewusste Transmissionen in einer bestimmten interpretatorischen Absicht? Zudem gibt es in vielen Fällen eine Relation zwischen einer solchen im Text vermuteten „interpretatorischen Absicht“ und der interpretatorischen Absicht der Exegetinnen und Exegeten selbst. Eine besondere Facette der Frage nach Tradition, Innovation und Invention verbindet sich dabei mit der so genannten Kanon‑ bzw. Textsicherungsformel (zur Terminologie sowie zur Diskussion der Belege und ihrer literarischen Situierung mit zahlreichen Literaturhinweisen s. Koch, Kanonformel). Die Formel dekretiert in ihrer ausgeführten Form in Dtn 4,2; 13,1, man dürfe nichts hinzufügen (‫ )יסף‬und nichts abschneiden/wegnehmen (‫)גרע‬. Wenn jedoch diese der Sicherung eines (bestimmten) Textes oder Textkomplexes dienende Formel selbst „kanonisch“ wird, sichert sie den gesamten kanonisch gewordenen „Schrift“-Text samt seiner Fortschreibungen und weiteren redaktionellen Veränderungen, d. h. sie begreift auch die (bisher erfolgten) Innovationen und Inventionen in die zu sichernde und zu bewahrende Tradition selbst ein und konstituiert sie eben so. Gleichwohl ist die erinnernde Aufrufung einer Tradition stets auch deren Transformation und Transmission, indem sie eben je heute und unter den je heutigen Bedingungen erinnert wird.

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sprachige Texte übersetzt, muss nicht selten entweder den einen oder den anderen Verrat begehen. Das bringt das bekannte Wortspiel „traduttore traditore“ auf den Punkt. Im Donatistenstreit waren die „Traditoren“ oder auch „lapsi“ diejenigen, welche die heiligen Bücher den Behörden ausgeliefert hatten,67 und auch im griechischen παραδιδόναι verbinden sich die Bedeutungen „überliefern“ und „ausliefern“.68 Dazu aber auch die schöne Bemerkung der Übersetzerin Carina von Enzenberg und des Übersetzers Hartmut Zahn: „Traduttore traditore – sind Übersetzer Verräter? Ja, wir verraten euch, was in fremden Büchern steht.“69 Auch das folgende Gegenüber und Zugleich im rabbinischen Diskurs ließe sich als ‚negative Dialektik‘ verstehen. Es heißt, „dass ein Mensch verpflichtet ist, in der Sprache seines Lehrers zu sprechen“ (‫)שאדם חיב לומר בלשון רבו‬.70 Schärfer noch: „… und wer etwas sagt, was er nicht aus dem Munde seines Lehrers gehört hat, bewirkt, dass die sch´china, die göttliche Präsenz, von Israel weggeht“ (‫)והאומר דבר שלא שמע מפי רבו גורם לשכינה שתסתלק מישראל‬.71 An anderer Stelle wird erzählt, zwei Rabbinen hätten ihrem Lehrer ihre Aufwartung gemacht. Als der sie gefragt habe: „Was für eine Neuerung gab es im Lehrhaus heute?“ (‫מה‬ ‫)חידוש היה בבית המדרש היום‬, hätten sie erwidert: „Wir sind ja deine Schüler und trinken dein Wasser.“ Damit bekunden sie, dass sie ihrem Lehrer prinzipiell nichts Neues sagen können. Der aber habe ihnen geantwortet: „Dennoch! Es ist doch nicht möglich für das Lehrhaus, ohne eine Neuerung zu sein“ (‫אף על פי כן‬ ‫)אי אפשר לבית המדרש בלא חידוש‬.72 Noch ein weiteres talmudisches Zitat: „… auch mir haben meine Väter Raum gelassen, mich davon zu unterscheiden“ (‫)אף אני מקום הניחו לי אבותי להתגדר בו‬.73 In der Fortsetzung heißt es deshalb, man solle einen Schriftgelehrten nicht fortschieben, wenn er eine neue Lehre vorträgt. Solche Dikta stehen nebeneinander, gegeneinander und so miteinander. Wie ein ferner und zugleich naher Kommentar dazu liest sich eine Bemerkung von Leszek Kołakowski: „Erstens, hätten nicht die neuen Generationen unaufhörlich gegen die ererbte Tradition revol67  Dazu neben den entsprechenden Abschnitten in den einschlägigen Kompendien der Geschichte der Alten Kirche Kriegbaum, Kirche; Hogrefe, Vergangenheit. 68 Bei den ntl. Belegen (vgl. Büchsel, Art. παραδίδωμι, aber auch Perrin, Use) überwiegt die Bedeutung „ausliefern“, v. a. in den Passionsgeschichten (Mk 15,1; Mt 20,18; 27,2; Lk 24,20; Joh 18,35 u. v. ö.), aber auch z. B. in Mt 4,12 (auf die „Auslieferung“ Johannes des Täufers) und in Apg 12,4 (auf die des Petrus bezogen). Auf das „Überliefern“ (einer Tradition, einer Lehre) bezogen erscheint das Wort u. a. in Apg 6,14; 1 Kor 11,2. Gleich beide Bedeutungen des Verbs παραδιδόναι begegnen in einem Vers in den Wörtern παρέδωκα sowie παρεδίδετο in 1 Kor 11,23. 69  Von Enzenberg/ Zahn, Fährleute, 38. 70 Mischna Edujot I,3. An dieser Stelle geht es um einen ungewöhnlichen, ja eigentlich unpassenden Wortgebrauch, der beibehalten wird, weil er auf Hillel zurückgeht (dazu die Anmerkungen in: Mischnajot, Teil IV Ordnung Nesikin, übersetzt und erklärt von D. Hoffmann [Berlin 21924], Basel 31986, 258). 71  So mit einem Diktum des Rabbi Eliezer in Bavli Berachot 27b. 72  Bavli Chagiga 3a. 73 Bavli Chullin 7a.

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tiert, würden wir heute noch in Höhlen leben; zweitens, wenn die Revolte gegen die ererbte Tradition einmal universell würde, werden wir uns wieder in den Höhlen befinden.“74 Ganz am Schluss erinnere ich an eine bekannte talmudische Passage, in der Invention und Tradition in ebenso vertrackter wie luzider Weise versöhnt werden. In Bavli Menachot 29b wird erzählt, wie Mose auf dem Berg sah, dass Gott wie ein gewissenhafter Toraschreiber die Buchstaben mit Krönchen (‫)כתרים‬, mit verzierenden Häkchen umwand. Warum er es nicht bei den bloßen Buchstaben belasse, fragt Mose. Es werde einmal jemanden geben, antwortet Gott, der aus den winzigsten Merkmalen der Schrift sehr viele Halachot erforschen werde, nämlich den Akiva ben Josef. Und dann folgt eine Art Filmschnitt: Mose sitzt im Lehrhaus dieses Rabbis. Er sitzt hinter der letzten Reihe, er hört die Diskussionen und er versteht schier nichts. Von wem er das denn habe, fragen die Schüler den Rabbi Akiva zu einer bestimmten Auslegung und der antwortet: „Es ist eine Wegweisung des Mose vom Sinaj“ (‫)הלכה למשה מסיני‬. Das, so heißt es, habe Mose beruhigt.75 In diesem Sinn achtet Rabbi Akiva sehr wohl darauf, ne quid novi in seinen Halachot sei. Aber eben in diesem Sinn und damit zugleich so, dass für Innovation und Invention der Raum (‫ )מקום‬bleibt, den die Väter ihm gelassen haben. In Koh 1,9 steht das berühmte und oft zitierte: ‫ואין כל־חדׁש תחת הׁשמׁש‬,76 im Wortlaut der Vulgata (hier V. 10) „nihil sub sole novum“. Doch gerade das Buch, in dem sich diese Sentenz findet, lässt im Kanon der „Schrift“ einen ganz neuen Ton erklingen. Auch darum möchte ich bei der Frage nach „Tradition und Invention“

 Kołakowski, Anspruch, 1. Der Autor nimmt diese Grundthese am Ende seines Beitrags noch einmal auf und fügt hinzu: „Die Werte, die die Menschen als Einheit brauchen und die jeder einzelne braucht, sind sowohl die Anpassungsfähigkeit wie auch die Unfähigkeit zur Anpassung. Die Anpassung ist nötig im Sinne der Fähigkeit zur Solidarität, die Nichtanpassung ist nötig im Sinne der Fähigkeit zum Protest. Diese zwei Werte lassen sich aneinanderfügen“ (a. a. O., 14). Rabbinische Diskurse inszenieren immer wieder die unmögliche Möglichkeit oder die mögliche Unmöglichkeit, „diese zwei Werte“ aneinanderzufügen. 75 Zu dieser Überlieferung Lenhardt/ von der Osten-Sacken, Akiva, 318–329; Wengst, Jesus, bes. 30–31; Bruckstein, Text, bes. 51–53; dazu auch (nüchterner) Stemberger, Mose, bes. 235–236. 76 Je nach der grammatischen Beziehung des ‫( אין‬verneint es das ‫ כל‬oder das ‫ )?חדׁש‬ergeben sich zwei Verstehensmöglichkeiten, die sich in den Übersetzungen: „Es gibt nichts ganz Neues“ oder aber: „Es gibt gar nichts Neues“ ausdrücken, dazu Dieckmann, Worte, bes. 79–80. Auf einer anderen Ebene steht die Frage, welche Bewertung von Altem und Neuem, von Tradition und Innovation bzw. Invention diesem Kohelet-Satz zu entnehmen wäre. Auch hier zeigt sich eine Kohelet-Passage wie ein Vexierbild (dazu Dieckmann, Worte, 11–17), wobei sich eine Position wie die zu Beginn des Beitrags genannte im „ne quid novi“ repräsentierte mithören lässt. Dabei steht bei Kohelet zur Debatte, wie sich diese Position zu prophetischen Verheißungen des Neuen (etwa in Jer 31,31–34 [und dann der Erinnerung an die Setzung der Sonne in V. 35]) und zu eschatologischen bis apokalyptischen Geschichtskonzeptionen bzw. ‑konstruktionen verhält, dazu Krüger, Dekonstruktion; sowie Ders., Kohelet, bes. 116.119. 74

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das Wort stark machen, das sich mir immer mehr als ein in Wissenschaft, Politik und Theologie notwendiges darstellt – das Wort „und“.77

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77  Ganz elementar geht es dabei darum, dass ein „Und“ in vielen seiner Bedeutungen zum Ausdruck bringen kann, dass es mit einem Wort, einer Aussage, einer Wahrheit, einer Position nicht getan ist. So kann ein „Und“ gegen scheinbare wissenschaftliche, theologische und politische Eindeutigkeiten streiten. – Was für ein „Und“ verbindet „Tradition und Invention“? Da kommt mehr als nur eines in Frage. Darum hier (ohne eine jeweils präzise sprachwissenschaftliche Terminologie) einige Hinweise auf die Polyvalenz eines deutschen „Und“ – und dann auch eines hebräischen ‫( ו‬Waw): Da gibt es ein additives Und (wie wenn man zwei und zwei zusammenzählen soll), ein nicht-additiv reihendes (wie bei den Äpfeln und Birnen, die man ja gerade nicht zusammenzählen soll), eines der Differenz („Ich geh fort und du bleibst da!“), eines, das Paare bezeichnet (Max und Moritz, Romeo und Julia), dazu ein alliterativ verstärkendes (Saus und Braus, Glanz und Gloria, Tohuwabohu [‫)]תהו ובהו‬. Es gibt das Und einer Folge (Einsicht und Umkehr, Hochmut und Fall) oder einer nahegelegten Folge („Denk an den Wetterbericht und nimm einen Schirm mit!“), aber auch ein konzessives („Es ist heiß – und das im Oktober!“) oder gar ein – jedenfalls mich – ausschließendes Und („Ich und singen?“). Es gibt ein explikatives Und („Sie wurden für ihren Fleiß belohnt und durften früher nach Hause gehen.“) und eines, das strikte Gegensätze benennt („Krieg und Frieden“) oder zu Einem zusammenbindet (auf Gedeih und Verderb, „simul iustus et peccator“). Welches Und verbindet und trennt Gottes Eigenschaften, welches „Gesetz und Evangelium“, welches „Vater, Sohn und Heilige(n) Geist“? Wie ist das Und in „Schrift und Bekenntnis“ zu verstehen und wie das in „Glauben und Wissen“ oder „Wahrheit und Methode“? – Und so dann auch: Welches Und trennt und verbindet „Tradition und Invention“? Hier kommen mehrere der oben genannten Möglichkeiten in Betracht und es könnte sich lohnen, sie je für sich und dann in ihrer Mehrschichtigkeit in Erwägung zu ziehen. Man käme dabei u. a. auf: „Tradition sowie Invention“/ „Tradition versus Invention“ / „Tradition, aber dann auch Invention“ / „Tradition als Invention“/ „Tradition und gerade in ihrer Wahrung Invention“. – Mindestens ebenso vielfältig wie ein deutsches Und zeigt sich ein hebräisches ‫( ו‬Waw), dazu über manche Aspekte und deren Folgen für die Übersetzung Brongers, Interpretationen, sowie am Beispiel verschiedener Verstehensmöglichkeiten eines Waw an mehreren Exodus-Stellen Ebach, Wege, hier bes. 15–21.

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Ägyptische Hymnen des 1. Jahrtausends und das Alte Testament Zu Transformation und Transmission ägyptischer Texttraditionen* Bernd U. Schipper Die Frage nach dem Verhältnis zwischen ägyptischen Hymnen und alttestamentlicher Literatur gehört zu den Klassikern der religionsgeschichtlichen Forschung. Seit der Entdeckung des Sonnengesangs des Echnaton im Grab des Eje im Jahr 1884 und seiner Parallelen zu Psalm 104 hat sich die Forschung mit dem Thema befasst und vor allem die Gemeinsamkeiten mit den Psalmen untersucht.1 Dabei zeigt sich ein Charakteristikum der religionsgeschichtlichen Forschung jener Zeit: Man fragte vorwiegend nach Parallelen in ägyptischen Texten des 2. Jahrtausends und nahm die Literatur des 1. Jahrtausends kaum zur Kenntnis. Der Grund dafür ist ein forschungsgeschichtlicher. In der Ägyptologie war seit den Zeiten von Adolf Erman die Auffassung verbreitet, der Gegenstand des Faches müsse das pharaonische Ägypten sein, das Ägypten des Alten, Mittleren und Neuen Reiches.2 Dementsprechend haben ganze Generationen von Ägyptologen die Literatur nach dem Ende der Ramessidenherrschaft nur am Rande zur Kenntnis genommen und sich auf die klassischen Epochen des Alten Ägypten beschränkt.3 Es gehört zu den großen Leistungen einer Gruppe jüngerer Ägyptologen, die Literatur des 1. Jahrtausends neu erschlossen zu haben.4 Deshalb „neu“, weil viele demotische Texte bereits seit dem 19. Jahrhundert bekannt sind und es durchaus in der Vergangenheit Ägyptologen gab, die sich mit der Literatur des persischen und ptolemäischen Ägypten befassten. Man denke nur an Heinrich * Der Vortragsstil des Beitrages wurde beibehalten. 1  Vgl. dazu den Überblick bei Reichmann, Übernahme, 113–122, und als erste Studie überhaupt Breasted, Hymnis. 2  Zu dieser Auffassung von Adolf Erman und seiner Bedeutung für die Ägyptologie vgl. Schipper, Adolf Erman, 17–19. 3 Vgl. dazu Helck, Ägyptologie, 45–54. 4  Zu nennen sind hier Joachim Friedrich Quack, Friedhelm Hoffmann, Kim Ryholt und Richard Jasnow, die alle bei Karl Theodor Zauzich in Würzburg ins Demotische eingeführt wurden.

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Brugsch und Wilhelm Spiegelberg im 19. und frühen 20. Jahrhundert oder Heinz Josef Thissen und Karl Theodor Zauzich Ende des letzten Jahrhunderts, um nur einige Namen zu nennen.5 In der Folge soll speziell die Literatur des 1. Jahrtausends in den Blick genommen werden, um von da aus das gestellte Thema zu bearbeiten. Die These dieses Aufsatzes lässt sich in drei Sätzen zusammenfassen: 1. Es handelt sich bei der religiösen Literatur des spätzeitlichen und hellenistischen Ägypten um Traditionsliteratur, die auf direktem Wege an die klassischen Texte des pharaonischen Ägypten anknüpft. 2. Neben der Tradierung klassischer Topoi, wie z. B. der ramessidischen Welt‑ und Lebensgotttheologie, findet sich ein Transformationsprozess, bei dem diese Motive in andere Kontexte aufgenommen wurden, wie z. B. erzählende oder weisheitliche Literaturwerke. 3. Nimmt man davon ausgehend die alttestamentliche Literatur in den Blick, so zeigt sich zugleich ein Prozess der Transmission, bei dem ägyptische Motive der spätpersischen und frühptolemäischen Zeit aufgegriffen und eigenständig verarbeitet wurden. Der Aufbau dieses Aufsatzes orientiert sich an den drei genannten Punkten und kann zugleich den drei Stichworten dieses Sammelbandes zugeordnet werden: Tradition – Transformation – Transmission. Da dieser Aufsatz einem methodisch und religionsgeschichtlich ausgerichteten Einleitungsblock zugeordnet ist, steht in der Folge vor allem das ägyptische Material im Mittelpunkt. Erst im dritten Teil wird ausführlicher auf einen alttestamentlichen Text eingegangen, der sich mit einem ägyptischen Hymnus des 1. Jahrtausends verbinden lässt.

1. Kontinuität von Tradition – vom Neuen Reich zur Ptolemäerzeit Seit den bahnbrechenden Studien Jan Assmanns aus den späten 1960er Jahren ist sich die Forschung darin einig, dass ein wesentliches Charakteristikum der ägyptischen Hymnen des Neuen Reiches in der Verbindung dreier Aspekte besteht: Die Gottheit wird als Schöpfergott, als Lebensgott und als Sonnengott vorgestellt.6 So heißt es im großen Kairiner Amun-Hymnus aus der 1. Hälfte der 18. Dynastie (= 15. Jh. v. Chr.):

5 Heinrich Brugsch hatte in seinem hieroglyphisch-demotischen Wörterbuch von 1876 bereits hieroglyphisch-hieratisches und demotisches Material gleichzeitig benutzt. Vgl. dazu auch Helck, Ägyptologie, 43–44; Quack, Literaturgeschichte III, IX–X und 1–2. 6  Vgl. dazu Assmann, Theologie, 54–55; Kern, Licht‑ und Lebensgottmotiv, 257–258; Assmann, Re und Amun, 98.

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„Du bist der Eine, der alles Seiende geschaffen hat, der eine Einsame, der schuf, was ist. (…) Der dem, der im Ei ist, Luft gibt: Der das Junge der Schlange am Leben erhält, der erschafft, wovon die Mücke lebt, Würmer und Flöhe gleichermaßen; der für die Mäuse in ihren Löchern sorgt, und die Käfer am Leben erhält in jeglichem Holz.“7

Der Hymnus belegt die Verbindung der Tradition des Schöpfergottes mit der des Lebensgottes. Amun-Re, der Hauptgott des ägyptischen Neuen Reiches, wird als derjenige vorgestellt, der „alles Seiende“ geschaffen hat und die Kreatur am Leben erhält. Dieses Thema wird unter Aufgriff von Elementen der Gotteslehre von Heliopolis ausgestaltet.8 Vorausgesetzt ist die Vorstellung von dem Gott, der aus sich selbst entstanden ist (ägyptisch ḫpr-ḏs=f) und der als „der eine“ bezeichnet werden kann. Dieser Schöpfergott ist zugleich der Lebensgott, der die Tierwelt mit dem versorgt, was sie braucht. Dabei wird auch das Küken im Ei genannt, wie es auch im Großen Amarnahymnus (dem Sonnengesang des Echnaton) der Fall ist: „Wenn das Küken im Ei redet in der Schale, dann gibst du ihm Luft darinnen, um es zu beleben.“9

Genauso wie im Amarnahymnus wird im Kairiner Amunhymnus neben der sichtbaren Welt die dem menschlichen Auge unsichtbare Welt beschrieben. Der Lebensgott wirkt auch in dem Bereich, der dem Menschen unzugänglich ist und sich menschlichem Sehen entzieht.10 Dabei wird – wiederum analog zum Sonnengesang des Echnaton  – auf den Sonnengott Bezug genommen, der die Welt ins Leben gebracht hat und erhält. Der Motivkomplex des Sonnen-, des Schöpfer‑ und des Lebensgottes findet sich auch in Hymnen des 1. Jahrtausends. Als Beispiel sei ein perserzeitlicher Hymnus aus dem Amun-Tempel der Oase El-Charga genannt: „Er tritt in alle Bäume ein, so dass sie entstehen und ihre Zweige lebendig werden können; Seine Kraft unterscheidet (ihn) von jedem Raubtier; (…) Der Schöpfer jeden Bas; denn er lässt den Gottes-Nil nach Herzenswunsch fließen, nach seinem Belieben in das Feld reich an seiner Fruchtbarkeit, denn niemand ist über ihm; man hört seine Stimme,  7 Übersetzung:

Assmann, Hymnen, 199–200; vgl. auch Stadler, Hymnen, 154.  Vgl. dazu Assmann, Rezeption, 128–130 und Ders., Theologie, 14–23.  9  Assmann, TUAT II, 850; Stadler, Hymnen, 154. 10 Vgl. dazu im Amarnahymnus die Zeilen 60–72.  8

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obgleich man ihn nicht sehen kann, wenn er jede Kehle atmen lässt. Der die Kraft der Schwangeren bei der Geburt stärkt und das Kind, das gerade aus ihr hervorgekommen ist, mit Leben erfüllt.“11

Der Text enthält zunächst wiederum die Verbindung von Schöpfergott und Lebensgott. Amun ist derjenige, der alle „Bewegungsseelen“ (Bas) geschaffen hat12 und die Kreatur am Leben erhält. Damit verbunden sind drei Aspekte, die eine Weiterentwicklung der klassischen Theologie der Amun-Hymnen aus dem Neuen Reich darstellen: die Souveränität Gottes, seine Unvergleichlichkeit und seine Verborgenheit. Die Aussage „niemand ist über ihm“ korrespondiert mit dem Beginn des Hymnus, wo es heißt: „Du bist Amun, du bist Atum, du bist Chepri, du bist Re, Einziger, der sich zu Millionen gemacht hat.“13 Der Gott Amun wird mit anderen Göttern gleichgesetzt, den Schöpfergottheiten Atum und Chepri und dem Sonnengott Re. Amun ist ein Gott, der Leben gibt und dessen Einzigartigkeit „in Ewigkeit“ ist, wie es wenig später im Text heißt: „In Abermillionen (von Jahren), in Ewigkeit wird er nicht vergehen, indem er täglich den Himmel durchkreuzt und die Unterwelt durchzieht.“

Mit der Aussage, dass die Gottheit „täglich den Himmel durchkreuzt und die Unterwelt durchzieht“, wird auf den Sonnengott angespielt, der in seiner Barke die zwölf Stunden des Jenseits durchfährt.14 Der Text, der hier nur ausschnittsweise vorgestellt werden kann, weist in seinem Motivrepertoire so starke Gemeinsamkeiten mit Hymnen der Ramessidenzeit auf, dass Jan Assmann seinerzeit meinte, es handele sich bei der El-Charga-Inschrift um die Kopie eines ramessidenzeitlichen Hymnus.15 Demgegenüber haben jüngere Forschungen von Carsten Knigge ergeben, dass die El-Charga-Hymnen trotz der Gemeinsamkeit mit der von Assmann so bezeichneten „ramessidischen Weltgott-Theologie“16 in die Perserzeit zu datieren sind. Es handelt sich um Texte, die an dem breiten Traditionsstrom ägyptischer Hymnen Anteil hatten und die zugleich veranschaulichen, wie man sich die Kontinuität der traditionellen Vorstellungen vom Sonnengott, vom Lebensgott und vom Schöpfergott vorstellen muss.17 Dabei sind für den Alttestamentler besonders Motive interessant, in denen die Schöpfer‑ und Lebensgotttheologie der ägyptischen Hymnen einzelnen Psalmen nahestehen. So findet sich das Motiv des Lebensgottes, 11 Übersetzung:

Knigge, Lob, 259–260.  Zur Ba-Konzeption vgl. die Ausführungen von Koch, Religion, 186–188. 13  Knigge, Lob, 259. 14 Vgl. dazu grundlegend Hornung, Nachtfahrt. 15  Assmann, Hymnen, 282. 16  Assmann, Re und Amun, 189–286. 17 Knigge, Lob, 262. 12

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der dafür sorgt, dass Acker und Weiden fruchtbar sind, in Ps 65,10–14 und die Motivwelt des Schöpfergottes ist auch in Ps 94,9 oder 139,13–16 bezeugt:18 Ps 139,13–15 13 Fürwahr, du hast meine Nieren gebildet, du hast mich gewoben im Leib meiner Mutter. 14 Ich danke dir, dass ich so wunderbar geschaffen bin, wunderbar sind deine Werke, mein Leben weiß dies wohl. 15 Nicht war verborgen mein Gebein vor dir, als ich im Geheimen entstand, als ich gewirkt wurde in den Tiefen der Erde.

Neben den Hymnen und der Schöpfer‑ und Lebensgotttheologie wurde beim Vergleich der Psalmen mit ägyptischen Texten immer auch ein weiterer Themenkomplex genannt: die sogenannte „persönliche Frömmigkeit“. Der in der Ägyptologie anders als in der alttestamentlichen Forschung gefasste Begriff bezieht sich auf die direkte und individuelle Gottesbeziehung.19 Dementsprechend erstaunt es nicht, dass sich entsprechende Aussagen in biographischen Inschriften finden. So heißt es auf der Rückseite der Schreiberstatue eines Priesters namens Userchons vom Beginn der 26. Dynastie: „Mein Herr, mein Herr, ich vertraue (nur) auf Dich! Denn ich weiß, dass Du größer bist als (alle) Götter (wr=k r-nṯr.w) Mögest Du mir eine lange Lebenszeit in Zufriedenheit unter deiner Gnade geben.“20

Es gilt in der Ägyptologie mittlerweile als anerkannt, dass die biographischen Inschriften der Spätzeit, das heißt des 6.–4. Jahrhunderts v. Chr., auf die Texte der sogenannten „Persönlichen Frömmigkeit“ des Neuen Reiches zurückgreifen.21 Dies gilt auch für den funerären Bereich, wie sich am Grab des Petosiris zeigen lässt. Der Grabkomplex im mittelägyptischen Tuna El-Gebel datiert in die späte Perser‑ bzw. frühe Ptolemäerzeit (4. Jh.) und gehört zu den bedeutendsten funerären Anlagen der ägyptischen Spätzeit. Auf einer Stele aus dem Grab heißt es: „Der gute Weg ist es, Gott zu dienen. Ein Gepriesener ist er, wenn ihn sein Herz dazu anleitet. Ist sein Herz dauerhaft auf dem Weg Gottes, dann ist sein Leben dauerhaft auf Erden. Ist die Gottesfurcht groß in seinem Herzen, dann ist seine Gnade dauerhaft auf Erden.“22 18 Vgl.

dazu auch Janowski, Konfliktgespräche, 171 und Schipper, Background, 63.  Vgl. dazu Brunner, Frömmigkeit, 951–953. 20  Statue Kairo JE 37327, Text e. Übersetzung Knigge, Lob, 229. 21 Vgl. dazu Heise, Erinnern, und die klassische Darstellung von Otto, Inschriften, 20–43. 22 Übersetzung: Jansen-Winkeln, Sentenzen, 5. 19

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Der Bezug des Herzens auf Gott, die Betonung der Gottesfurcht, die Wegmetaphorik und der Gedanke des dauerhaften Lebens auf Erden – all dies findet sich in alttestamentlichen Psalmen (vgl. z. B. Ps 18 und Ps 21,5).23 Ein weiteres Beispiel ist der Gedanke, dass die Wege und Gedanken des Menschen offen vor Gott liegen. So heißt es in einer Inschrift aus dem Grab des Petosiris: „Alle Wege, auf denen er (der Mensch) gegangen ist, sie liegen offen vor ihm [Gott].“24

Der Bezug des Lebensweges auf Gott kann auch in der direkten Anrufung in der 2. Person Singular ausformuliert werden: „Wer auf deinem [=Gottes] Weg geht ist einer, der nicht straucheln wird.“25

Die Gemeinsamkeiten mit der Welt der Psalmen liegen auf der Hand. Das Motiv der Wege des Menschen, die offen vor Gott liegen, findet sich auch in Ps 139,23 und die Vertrauensaussage, dass derjenige, der auf dem Weg Gottes ist, nicht straucheln wird, in den Psalmen 91,11–12; 121 und Ps 66,9 („der uns das Leben gab und unseren Fuß nicht gleiten lässt“). Und schließlich enthalten die Texte aus dem Grab des Petosiris auch Bezüge zum ägyptischen Totengericht, in dem das Herz des Toten gegen die Maat aufgewogen wird. „Der Westen ist die Stätte (nur) des Tadellosen. Niemand gelangt dorthin, es sei denn, sein Herz ist aufrichtig und übt Gerechtigkeit. Geringe werden dort nicht von Vornehmen unterschieden, außer man (be)findet (jemanden) als fehlerlos, wenn Waagebalken und Gewicht vor dem Herrn der Ewigkeit sind. Niemand ist befreit davon, daß sein Urteil gesprochen wird.“26

Das Motiv, dass Gott das Herz prüft, findet sich auch in Ps 26,2–3 oder Ps 17,3:27 „Du hast mein Herz geprüft, du hast (mich) heimgesucht bei Nacht, du hast mich erprobt – nicht vermagst du zu finden, ich habe überlegt – nicht soll mein Mund überlaufen.“

Wenn man den bisherigen Argumentationsgang zusammenfasst, so zeigt sich eine bemerkenswerte Kontinuität innerhalb der ägyptischen Hymnen. Die normativen religiösen Texte und theologischen Konzepte der Ramessidenzeit wurden bis in die zweite Hälfte des 1. Jahrtausends v. Chr. hinein tradiert.28 Dabei lässt sich eine Dominanz der heliopolitanischen Sonnentheologie einschließlich  Vgl. Schipper, Background, 63–67. Sentenzen, 94. 25  Jansen-Winkeln, Sentenzen, 100. 26  Übersetzung: Jansen-Winkeln, Sentenzen, 109. 27 Vgl. Janowski, Herz, 27–30; Ders., Konfliktgespräche, 170–173. Zur Bedeutung von ‫עבר‬ an dieser Stelle Ges18, 914. 28  Dies gilt auch für andere Texttraditionen, wie z. B. das Totenbuch oder die Sargtexte; vgl. dazu Rössler-Köhler, Tradierungsgeschichte, 225–227; Kahl, Siut, 351–354. Zum Ganzen auch Schipper, Kultur, 315–317. 23

24 Jansen-Winkeln,

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der Nachtfahrt des Sonnengottes erkennen, sowie eine Kontinuität von Aussagen der sogenannten „persönlichen Frömmigkeit“.29 Will man es pointiert ausdrücken, so besteht keinerlei Anlass, für die Frage nach dem ägyptischen Hintergrund der Psalmen auf Material des 2. Jahrtausends zurückzugreifen, denn man findet einen Großteil der Motive in Texten des 1. Jahrtausends, konkret in der ägyptischen Literatur des 6.–3. Jahrhunderts v. Chr.

2. Transformation von Tradition – narrative und weisheitliche Texte Die Frage nach der Kontinuität von Texttraditionen in der ägyptischen Spätzeit wäre unvollständig beantwortet, würde man nicht auch auf den Transformationsprozess eingehen, der sich in Texten dieser Epoche zeigt. Klassische Vorstellungen aus der Zeit des pharaonischen Ägypten finden sich nun in anderen Textbereichen. Oder etwas präziser formuliert: Die von der Forschung gezogene Trennung zwischen Hymnen, erzählender Literatur und Weisheitsliteratur ist eine künstliche, insofern auch die erzählende Literatur und die weisheitlichen Lebenslehren auf die religiöse Literatur des Neuen Reiches Bezug nehmen. Man kann sich dies gut an einem Literaturwerk verdeutlichen, das zu den frühesten demotischen Texten überhaupt gehört: dem Papyrus Rylands 9 aus der späten Perserzeit. Der Papyrus enthält den Bericht eines Tempelschreibers namens Peteese an die persischen Behörden in Memphis, in dem dieser ausführlich die Geschichte seiner Familie und die politischen Veränderungen beschreibt. Dies umfasst auch die Auseinandersetzung mit Feinden, die zu Mord, Brandstiftung und Intrigen führt.30 Am Ende der Komposition stehen drei im Text als „Lieder“ (demotisch ḥs.w) bezeichnete Textstücke, welche inhaltlich an die Auseinandersetzung mit den Feinden anknüpfen.31 Diese „Lieder“ soll – und dies ist interessant für das Thema „Konstruktion von Tradition“ – der Gott Amun selbst verfasst haben. Die drei Lieder stehen der Motivwelt der Rache‑ und Fluchpsalmen nahe. Die Gottheit wird in der zweiten Person Singular angerufen, damit sie sich gegenüber den Feinden nicht als gnädig erweist, sondern diese mit drakonischen Strafen überzieht:

29  Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, an dieser Stelle ausführlich auf die Rezeption der heliopolitanischen Sonnengotttheologie auf funerären Stelen der Spätzeit einzugehen. Vgl. in diesem Kontext die ägyptisch-aramäischen Stelen der Perserzeit und besonders die Stele des Anchhapi, Vittmann, Ägypten, 109 (Abb. 49). 30  Vgl. dazu Vittmann, Papyrus, IX–XIV; Ders. TUAT.NF VIII, 351. 31 Vgl. dazu Vittmann, Papyrus, 198–199 (1).

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„(XXIV5) Amun, wenn sie rufen (XXIV6) zu dir, wende dich nicht um, um den ‚〈H〉eißen‘ gnädig zu sein! Schlecht sind ihre Herzen, böse sind ihre Augen. Zahlreich sind die Bösen unter ihnen, süß ist (XXIV7) ihr Mund (nur) in der Not. Grausam sind sie, sobald sie (der Not) entkommen.“32

Auf die Beschreibung der Feinde des Beters folgt die konkrete Bitte um Gottes Eingreifen: „(XXIV9) Mögest du sie abschlachten wie alles Vieh, mit dem sie ausgestattet waren! Wer von ihnen übrigbleiben wird, (XXIV10) den wirst du (nur deswegen übrig)lassen, um ihr Herz zu bedrücken.“

Im Text werden die Bitten immer konkreter, sei es, dass der Gott Amun doch bestimmte Dämonen auf die Feinde hetzen möge (XXIV13), oder dass die Feinde die „Nacht in ihren Übeln verbringen“ sollen und „den Tag ebenfalls“ (XXIV15– 16). Entscheidend für das Verständnis dieser Lieder ist, dass es um den Machterweis Gottes geht. Die Feinde sollen die Macht des Gottes Amun anerkennen. So heißt es in der Anrufung zum Eingreifen der Gottheit: „(XXIV7) Wer von ihnen erfolgreich ist, sagt nicht ‚Gott‘ zu dir.“33

Dieser Gedanke wird später wieder aufgegriffen, wenn nach dem Bittgebet in Bezug auf das Eingreifen Gottes formuliert wird: „Deine Macht (XXIV18) erweist sich an ihnen, aber (trotzdem) sagen sie nicht ‚Gott‘ zu dir. Sie sagen (erst dann) ‚Gott‘ zu dir, nachdem du sie in die Hand der Chati-Dämonen gegeben hast. Sie wenden sich (erst dann reuevoll) um, um in deinem Namen zu flehen, nachdem sie sich dem Bösen zugeneigt haben.“34

Der Gedankengang schließt mit der Aussage: „(XXV1) Was du gesagt hast, ist eingetroffen; was du prophezeit hast, ist geschehen, und sie sagen: ‚Gerecht ist, was Amun getan hat.‘“

Es geht in dem Text um die Anerkennung der Macht des Gottes Amun und seiner Gerechtigkeit – in ägyptischer Phraseologie, seiner Ma‘at. Gerade in der Verbindung des Motivkomplexes der Vernichtung der Feinde mit dem Thema der Gerechtigkeit steht das demotische Lied aus der Perserzeit den Psalmen zur Feindvernichtung nahe. Dies betrifft nicht nur einzelne Motive, wie beispielsweise das „Zerschmettern der Kinder“, das auch in Papyrus  Übersetzung: Vittmann, TUAT.NF VIII, 383–384.  Zitat Vittmann, TUAT.NF VIII, 384. 34 Vittmann, TUAT.NF VIII, 385. 32 33

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Rylands 9 zu finden ist,35 oder den Gedanken, dass die Feinde Gottes Namen erkennen sollen, sondern auch den grundlegenden Zusammenhang von Gerechtigkeit und Machterweis. Man denke nur an Psalm 58, in dem den Mächtigen vorgehalten wird, dass sie nicht Recht sprechen, sondern voller Willkür agieren. In dem Psalm folgt auf die Beschreibung eine Anrufung an Gott mit der Bitte, die Mächtigen zu vernichten, die mit der Aussage schließt (V. 12): „Es gibt einen Gott, der auf Erden richtet.“36 Ganz ähnlich ist Ps 69,23–29 oder auch Ps 83, der mit den Worten schließt (V. 19): „Sie sollen erkennen, dass Du es bist, JHWH ist dein Name“. Es geht jeweils um den Erweis von Gottes Gerechtigkeit und um die Anerkennung seiner Macht durch die Feinde. Ein weiteres Beispiel für die Transformation klassischer Vorstellungen findet sich in der Weisheitsliteratur. Wenn man nochmals bei der eingangs genannten Lebens‑ und Schöpfergottthematik einsetzt, dann zeigt sich für die ägyptische Spätzeit ein bemerkenswerter Befund. Der Motivkomplex des Schöpfer‑ und Lebensgottes findet sich nicht nur in spätzeitlichen Hymnen, sondern auch innerhalb einer Weisheitslehre. So heißt es in der demotischen Lehre des Papyrus Insinger über die Gottheit: „(31,24) Er erschuf Licht und Finsternis, indem die ganze Schöpfung darin ist. (32,1) Er erschuf den Erdboden, indem er Millionen erzeugte, verschlang und wieder gebar. (…) (32,3) Er erschuf Sommer und Winter in Auf‑ und Untergang des Sirius. (32,4) Er erschuf Nahrung für die Lebenden, das Wunder des Feldes. (32,5) Er erschuf die Konstellation der Himmelskörper, indem die Erdbewohner sie kennen. (32,6) Er erschuf süßes Wasser in ihm (dem Himmel), wonach sich alle Länder gesehnt haben. (32,7) Er erschuf den Atem im Ei ohne Zugang zu ihm. (32,8) Er erschuf den Keim in jedem Mutterschoß aus dem Samen, den man ihnen gibt.“37

Die Aussagen entsprechen dem klassischen Motivrepertoire der ramessidenzeitlichen Hymnen über den Schöpfer-, Sonnen‑ und Lebensgott. Entscheidend ist jedoch, dass diese Aussagen Teil eines gelehrten Diskurses sind. Sie gehören zur 24. Lehre des Großen Demotischen Weisheitsbuchs, die den Titel trägt: „Die Art, die Größe des Gottes zu kennen, damit sie in deinem Herzen ist.“38

Darauf folgt in dieser 24. Lehre eine gelehrte Abhandlung über Gott, Schöpfung und Mensch. Diese ist getragen davon, dass der Mensch keine Einsicht in das Walten Gottes hat: So heißt es in 31,1: „Man erkennt das Herz des Gottes nicht,

35  (XXV5) Du zerschmetterst ihre Söhne vor ihnen, weil sie nicht sagen: „Was haben wir (nur) getan?“, Vittmann, TUAT.NF VIII, 385. 36  Vgl. auch Ps 137,6–9 und 144,6. 37  Übersetzung: Hoffmann/ Quack, Anthologie, 269.270. 38 Hoffmann/ Quack, Anthologie, 268; zum Ganzen auch Stadler, Hymnen, 150–152.

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bis eingetreten ist, was er befohlen hat.“39 Dieser Begrenztheit menschlicher Erkenntnis wird das Wissen Gottes gegenübergestellt: „Wenn die Menge die Hand erhebt, weiß es der Gott. Er erkennt den Gottlosen, der auf Bosheit sinnt. Er erkennt den Mann Gottes und die Größe des Gottes in seinem Herzen. Bevor die Zunge befragt wird, kennt der Gott die Aussage.“

Die folgenden Abschnitte des sogenannten „Gotteslobs“ bieten zunehmend einen Diskurs über den verborgenen Gott. Nachdem betont wurde, dass Gott das Herz und die Zunge steuert, Rat gibt und den Weg des Menschen sicher macht, befasst sich der Text mit einem Einwand: „(31,19) Wer sagen wird ‚Es geschieht nicht‘, möge auf das Verborgene sehen. (31,20) Wozu kommen und gehen Sonne und Mond am Himmel? (31,21) Woher kommen, wohin gegen Wasser, Feuer und Wind?“

Mithilfe von rhetorischen Fragen und unter Verweis auf die Schöpfungsthematik und den Kreislauf der Natur wird betont, dass auch das dem Menschen verborgene Werk Gottes real ist und nicht etwa ein unbewiesenes Postulat. So heißt es im Text (31,23): „Das verborgene Werk Gottes, er macht es täglich bekannt. Er schuf Licht und Finsternis, indem die ganze Schöpfung darin ist.“40

Was folgt, ist eine gelehrte Abhandlung über die Schöpfung und das lebenserhaltende Wirken Gottes, die in folgenden, das Kapitel beschließenden Satz einmündet: „(33,35) Die Art der Überlegung des Gottes ist, eins hinters andere zu setzen. Das Schicksal und das Geschick, das kommt, es ist der Gott, der sie lenkt.“

Die Gemeinsamkeiten zu alttestamentlichen Texten liegen auf der Hand. Man denke nur an Spr 16,9: „Das Herz eines Menschen denkt sich seinen Weg aus, aber JHWH setzt seinen Schritt fest.“ oder Spr 20,24: „Von JHWH stammen die Schritte eines Mannes, aber ein Mensch, was kann er an seinem Weg verstehen?“ Eine inhaltliche und stilistische Nähe besteht auch zu Hiob 38–41 und Jes 40, wo jeweils unter Verweis auf Schöpfungstheologie und in Form rhetorischer Fragen die Macht Gottes und sein Handeln betont werden. Entscheidend für den hier interessierenden Zusammenhang von Tradition und Transformation ist, dass auch diese Aussagen des Papyrus Insinger innerhalb einer ägyptischen Tradition stehen. So heißt es in der ramessidenzeitlichen Lehre des Amenemope:

39  Übersetzung: Hoffmann/Quack, Anthologie, 269. Zum Aufbau des Textes vgl. Quack, Einführung III, 113–125; Lichtheim, Wisdom Literature, 112–115. 40 Beide Zitate aus Hoffmann/ Quack, Anthologie, 269.

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„(19,16–17) Eines sind die Worte (= Gedanken), die der Mensch spricht, ein anderes ist, was Gott tut.“41

Der weisheitliche Diskurs in der 24. Lehre des Papyrus Insinger knüpft an Einsichten an, die sich bereits in den klassischen Weisheitslehren des pharaonischen Ägypten, hier der Ramessidenzeit, finden. Damit bestätigt sich das herausgearbeitete Bild: Es handelt sich bei der Literatur der ägyptischen Spätzeit um Traditionsliteratur, wobei die Gotteslehre des Papyrus Insinger zeigt, wie Vorstellungen unterschiedlicher Traditionsbereiche – die Hymnen aus dem Bereich der Tempeltheologie und die Weisheitslehren aus der ägyptischen Schreiberausbildung – miteinander verknüpft werden. Oder anders formuliert: Im Zuge der gelehrten weisheitlichen Diskurse des spätzeitlichen Ägypten wurden unterschiedliche Texttraditionen miteinander verbunden. Es kam zu einer Transformation von Tradition, die zugleich die Möglichkeit der Transmission eröffnete – und zwar sowohl innerhalb der ägyptischen Literatur als auch in Bezug auf das Alte Testament.42

3. Ägyptische Hymnen und das Alte Testament – zur Transmission ägyptischer Vorstellungen Wenn man abschließend nach einem Beispiel für die Übernahme ägyptischer Vorstellungen im Alten Testament fragt, so rückt ein Text in den Blick, der in gewisser Weise dem entspricht, was bereits am Beispiel des Papyrus Insinger deutlich wurde: ein Hymnus, der innerhalb einer weisheitlichen Komposition steht und Schöpfungsaussagen enthält. Es ist das bekannte Gedicht über die personifizierte Weisheit in Spr 8. Es wurde immer wieder diskutiert, ob hinter „Frau Weisheit“ in Spr 8 eine altorientalische Gottheit steht. Dabei wurden sowohl mesopotamische, syrisch-kanaanäische als auch ägyptische Parallelen diskutiert. So hat sich Christa Kayatz für eine Verbindung mit der Göttin Ma‘at ausgesprochen, was von der Forschung mit Zustimmung aufgenommen wurde.43 Unabhängig davon gab es immer wieder Stimmen, die auf Parallelen zwischen der Ich-Rede von „Frau Weisheit“ und hellenistischen Isis-Aretalogien hingewiesen haben.44 Die Forschung hat diese Texte, die mit Formeln wie „Ich bin Isis“ aufgebaut sind, oftmals im Kontext 41 Vgl.

Laisney, L’enseignement, 177; zum Ganzen auch Stadler, Hymnen, 152–153.  Ein anderes Beispiel ist das Motiv des Gottes, der die Gebete erhört, das sich bereits in den Lehren des Ani findet und auch in einem spätzeitlichen Text (vgl. Quack, Ani, 11 und 158.). 43 Vgl. Kayatz, Studien, 86–87, und zuletzt Schweitzer, Goddess, 119–121. Zum syrisch-kanaanäischen Hintergrund vgl. den Überblick Bledsoe, Ahiqar, 121, Anm. 5. 44  Vgl. Knox, Wisdom, 230–237. V. Tobin zog eine Verbindung der Ma‘at zur griechischen Göttin Dikeh: Tobin, Considerations, 113–121. 42

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der griechischen Welt verortet und nicht im Ägyptischen. Jedoch gibt es durchaus ägyptische Parallelen. So findet sich in einem Sargtextspruch (CT 332) eine Aretalogie der Göttin Hathor, die im „Ich-Stil“ gehalten ist: „Ich bin die Herrin des Lebens, die Leitschlange des Leuchtenden auf den Wegen [der Finsternis?], (…) Ich bin die Dritte, die Herrin des Erhellens, welche den erschöpften Großen auf den Weg des Erwachten leitet.“45

Der Text thematisiert die Nachtfahrt des Sonnengottes und steht in der bereits mehrfach genannten Tradition der heliopolitanischen Sonnengotttheologie. Auf sprachlicher Ebene ist bemerkenswert, dass die Konstruktion mit dem selbständigen Personalpronomen der 1. Person Singular („ich“) und einem davon abhängigen Partizip (bzw. einer Relativform im Ägyptischen), die für die Isis-­ Aretalogien charakteristisch ist, sich bereits im Sargtextspruch aus dem Mittleren Reich findet. Vergleichbare Elemente einer Aretalogie finden sich in einem anderen Sargtextspruch (CT 80) mit Bezug auf den Himmelsgott Nun: „Ich bin das Leben, (ich bin es), der die Köpfe zusammenknüpft, der die Hälse befestigt, der die Kehlen lebendig macht.“46

Die Beispiele, die durch weitere ergänzt werden können,47 belegen, dass sich die Isis-Aretalogien der frühen Ptolemäerzeit durchaus mit ägyptischen Traditionen verbinden lassen. Joachim Friedrich Quack hat mittlerweile den Nachweis geführt, dass die griechische Isis-Aretalogie von Memphis auf eine ägyptisch-demotische Vorlage zurückgeht.48 Wenn man der Selbstdatierung dieses Textes folgt, gelangt man bis in die Zeit der Perserherrschaft, zu Nektanebos I., der in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts regierte (369–360 v. Chr.).49 In der Folge werden einige Passagen aus der von Joachim Quack rekonstruierten demotischen Fassung der memphitischen Isis-Aretalogie zitiert: „(§ 3) Ich bin Isis, die Herrin der (beiden) Länder, welche Thot großgezogen hat (welche die heilige und die demotische Schrift erfunden hat, wobei Thot bei ihr war, damit man nicht alles mit einer Schrift schreibt.) (§ 4) Ich bin es, die den Menschen Gesetze gegeben hat, wobei niemand auf Erden sie ändern kann. (§ 5) Ich bin die älteste Tochter des Erbfürsten Geb. (§ 6) Ich bin die Schwester des Osiris, die Königsgemahlin des Königs Onnofris. (§ 7) Ich bin es, welche Frucht für die Menschen gefunden hat. 45 Vgl.

Quack, Isis, 333.  Vgl. Zandee, Sargtexte, Spruch 80; a. a. O., 62–79, hier: 63–64. 47  Vgl. Dousa, Isis. 149–184, und die bei Quack, Isis, 319–326, genannte Literatur. 48 Vgl. Quack, Isis, 326–329. 49 Vgl. Quack, Isis, 330. 46

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(…) (§ 12) Ich bin es, die den Himmel von der Erde getrennt hat. (§ 13) Ich bin es, welche die Sterne (Planeten?) geleitet hat. (§ 14) Ich bin es, welche die Wanderungen der Sonne und des Mondes angeleitet hat. (§ 15) Ich bin es, welche die Meeresberufe erfunden hat. (§ 16) Ich bin es, welche die Wahrheit stark gemacht hat. (…) (§ 28) Ich bin es, die veranlasst hat, dass die Wahrheit stärker ist als ein Geschenk von Silber und Gold. (§ 29) Ich bin es, welche das Gesetz, die Wahrheit schön zu machen, eingesetzt hat. (…) (§ 35) Ich bin es, die an denen Strafe vollzieht, die Frevel begehen. (§ 36) Ich bin es, die veranlaßt hat, dass man auf die hört, die wegen Unrechts klagen. (§ 37) Ich bin es, welche die segnet, die gerechte Strafe zukommen lassen. (§ 38) Ich bin es, durch welche die Wahrheit stark/ geschützt ist. (…) (§ 45) Ich bin es, die neben Re sitzt. (§ 46) Ich bin diejenige, deren Befehlen entsprechend man handelt. (§ 47) Ich bin es, für die jedermann sich (ehrfurchtsvoll) erhebt. (…) (§ 52) Ich bin es, zu der man ›(Herrin der) Wahrheit‹ sagt.“50

Der Text enthält eine ganze Reihe von Aussagen, die der Tradition der ramessidischen Hymnen nahestehen. Die Göttin Isis stellt sich als Schöpfergottheit vor und ordnet sich dem Sonnengott Re zu. Indem Isis auch Gerechtigkeit – Ma‘at – für sich reklamiert, wird auf eine Texttradition Bezug genommen, die mit der Durchsetzung von Ma‘at durch die Gottheit verbunden ist und Segen wie gerechte Strafe beinhaltet.51 Dabei verweist der Ausdruck „Herrin der Wahrheit“ darauf, dass Isis Züge der Göttin Ma‘at übernommen hat. Dies ist verknüpft mit einer charakteristischen Doppelstellung der Isis. Sie wird einerseits dem Sonnengott Re zugeordnet und andererseits als Tochter des Gottes der Weisheit, Thot, vorgestellt. Indem sie die demotische Schrift erfunden haben soll und Gesetze gibt, tritt sie de facto an die Stelle des Thot, bleibt jedoch Re untergeordnet.52 Wenn man an dieser Stelle die Rede der personifizierten Weisheit in Spr 8 in den Blick nimmt, so fallen einige Gemeinsamkeiten auf:53 (1) Die Göttin Isis wendet sich an alle Menschen und nicht nur an einen begrenzten Adressatenkreis (§ 3–4; vgl. 8,4: „Zu euch, Männer, rufe ich, und meine Stimme zu [euch] Menschen“); (2) Isis hat den Menschen Gesetze und Recht gegeben (§ 4 und 29; vgl. 8,8: „In Gerechtigkeit [‫( ] ֶצ ֶדק‬bestehen) alle Worte meines Mundes; es gibt in ihnen nichts 50  Übersetzung Quack, Isis, 336–339. Vgl. auch die griechische Isis-Aretalogie aus Kyme, die sich als Abschrift einer Stele in Memphis bezeichnet; Jördens, TUAT.NF VII, 277–278. 51  Vgl. Papyrus Rylands 9 und zum Ma‘at-Konzept Assmann, Ma‘at, 60–69. 52  Zum Gott Thot vgl. den Überblick bei Stadler, Weiser, 11–34. 53 Zu den Proverbienpassagen vgl. Schipper, Sprüche, 497–499.

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Verschlungenes und Verkehrtes.“ 8,15: „Durch mich herrschen Könige und Würdenträger setzen Gerechtigkeit [‫ ] ֶצ ֶדק‬fest.“). (3) Es findet sich der komparativische Vergleich mit Silber und Gold (§ 28; vgl. 8,19: „Besser ist meine Frucht als Gold und als Feingold und mein Ertrag als erlesenes Silber“; vgl. auch 8,10). (4) Isis wird mit Wahrheit verbunden (§ 16, 28 und 38; vgl. 8,7: „Denn Wahrheit [‫ ] ֱא ֶמת‬murmelt mein Gaumen, aber der Gräuel meiner Lippen ist Frevel.“) (5) Es stimmt die Schöpfungsthematik überein, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung: Während Isis selbst erschafft, ist die Weisheit von Spr 8 lediglich bei der Schöpfung anwesend. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Rede der personifizierten Weisheit in Spr 8 nicht vor dem Hintergrund der spätperserzeitlichen Isis-Aretalogien gebildet wurde und die Weisheit letztlich auf eine Gottheit Bezug nimmt und nicht etwa als poetische Personifikation der Weisheit zu verstehen ist.54 Gerade vor dem Hintergrund, dass die spätzeitliche Isis Attribute der Ma‘at übernommen hat, wird man die Gemeinsamkeiten zwischen der Weisheit in Spr 8 und der Ma‘at eher so erklären müssen, dass hier Isis vor Augen steht und nicht etwa Ma‘at. Dabei zeigt sich ein Transmissionsprozess, bei dem zwar Vorstellungen übernommen, diese jedoch in das eigene Referenzsystem eingepasst wurden. Die personifizierte Weisheit bleibt JHWH untergeordnet und wird im Rahmen der alttestamentlichen Motivwelt verortet. Dies zeigt sich z. B. im Abschnitt über die Schöpfung (Spr 8,22–31), der vor dem Hintergrund von Gen 1 gebildet zu sein scheint.55 Insofern belegt Spr 8 einen Prozess der Transmission, bei dem ägyptische Motive der spätpersischen und frühptolemäischen Zeit zwar aufgegriffen, jedoch eigenständig verarbeitet wurden, ohne dass die personifizierte Weisheit nun zu einer ägyptischen Gottheit werden würde.

4. Zusammenfassung Wenn man sich mit ägyptischen Hymnen des 1. Jahrtausends und ihrem Verhältnis zum Alten Testament befasst, dann ist zunächst festzuhalten, dass viele Motive, die klassischerweise mit Ägypten verbunden werden, nicht nur in der Ramessidenzeit belegt sind, sondern auch in der ägyptischen Spätzeit. Es zeigt sich eine Kontinuität von Traditionen, welche die zentralen Elemente der ramessidischen Schöpfer‑ und Lebensgotttheologie umfasst. Dies gilt auch für die sogenannte „persönliche Frömmigkeit“, bei der sich eine Kontinuität bis in die Ptolemäerzeit hinein zeigt. Mit diesem Prozess der Kontinuität von Texttraditionen geht die Transformation traditioneller Vorstellungen einher. Einzel Vgl. dazu Schipper, Sprüche, 497. dazu Baumann/ Bauks, Anfang, 24–52.

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ne Motive werden nicht nur verändert und auf andere Gottheiten übertragen, sondern auch jenseits der religiösen Literatur des funerären Bereiches oder der Tempel verarbeitet. Die Beispiele aus dem demotischen Papyrus Rylands 9 und der Weisheitslehre des Papyrus Insinger verdeutlichen, wie Vorstellungen neu kontextualisiert werden. Im Papyrus Rylands schließt das Gebet zur Feindvernichtung an eine Schilderung der Auseinandersetzungen zwischen Peteese und seinen Feinden an, im Papyrus Insinger ist der Hymnus Teil eines gelehrten Diskurses. Im einen Fall wird ein poetischer Text in einen erzählenden Zusammenhang integriert, im anderen wird ein religiöser Text in einen weisheitlichen Diskurs aufgenommen. Beides steht im Kontext einer Texttradition, die nicht statisch war, sondern dynamisch. Dieser Transformationsprozess hat zugleich den Boden bereitet für die Transmission von Texttraditionen und Motivkomplexen. Das Beispiel der spätperserzeitlichen Isis-Aretalogie von Memphis und Spr 8 illustriert einen literarischen Prozess, der – etwas holzschnittartig – mit den drei Begriffen „Tradition“, „Transformation“ und „Transmission“ umrissen werden kann. Die „Ich-bin-Isis“-Aussagen knüpfen an die Tradition der Sargtexte aus dem Mittleren Reich an, sie werden in einem hellenistischen Umfeld neu akzentuiert, indem Attribute der Göttin Ma‘at auf Isis übertragen werden, und bildeten so vermutlich die Hintergrundfolie für die Vorstellung der personifizierten Weisheit von Spr 8. Dabei muss beachtet werden, dass es sich hier um Literatur handelt, die in schriftlicher Form tradiert wurde, jedoch auch mündlich überliefert werden konnte. Insofern wird man das Verhältnis zwischen ägyptischen Hymnen und alttestamentlichen Texten kaum mit einem Blick auf die ägyptischen Texte des 2. Jahrtausends behandeln können. Vielmehr zeigt die Beschäftigung mit ägyptischen Texten des 1. Jahrtausends, dass der religionsgeschichtliche Hintergrund manch alttestamentlicher Texte neu zu bestimmen und zugleich die literarischen Prozesse auszuleuchten sind, welche den Umgang mit „Traditionsliteratur“ in der ägyptischen Spätzeit auszeichnen.

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Konstruktion von Tradition(en)

Auszug aus Ägypten oder Pilgerreise in die Wüste? Überlegungen zur Konstruktion der Exodustradition(en) Thomas Römer

1. Einleitung: Exodus‑ und Wüstentraditionen Ich bin Jhwh, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten, aus einem Sklavenhaus.

In der Eröffnung des Dekalogs in Ex 20,2 (und Dtn 5,6) stellt sich der Gott Israels als derjenige dar, der die Adressaten aus Ägypten herausgeführt hat. Dabei wird jeder Adressat und jede Adressatin, welcher oder welche die „Zehn Gebote“ hört oder liest mit einem Mitglied der Exodusgeneration gleichgesetzt. Damit wird eine zentrale Funktion der Exodustradition deutlich: es geht nicht nur um die Erinnerung oder Konstruktion eines Ursprungsmythos Israels, sondern zugleich oder sogar vorrangig um die Aktualisierung des Exodusbekenntnisses. Die Tradition des Exodus wird in der Hebräischen Bibel (HB), aber auch außerhalb von ihr, auf vielfache Weise aufgenommen und thematisiert: in bekenntnisartigen Formulierungen, in „geschichtlichen Rückblicken“, in der prophetischen Literatur und natürlich in der im Buch Exodus enthaltenen Erzählung. Aber auch Autoren aus der hellenistischen Zeit, wie Manetho, Hekataios von Abdera oder Artapanus zeugen von einer sehr eigenständigen Aufnahme der Exodusüberlieferung, sodass deren Darstellungen nicht ohne weiteres als „Midraschim“ des biblischen Textes erklärt werden können. Diesen sehr breit gefächerten Exodustraditionen steht in der Bibel eine Tradition gegenüber, welcher zufolge Jhwh Israel in der Wüste „fand“, bzw. die Wüste als Ort der ursprünglichen Begegnung zwischen Jhwh und Israel erscheint. So heißt es in Hos 9,10: Wie Trauben in der Wüste fand ich Israel, wie eine Frühfeige am Feigenbaum, als dessen erste Frucht, habe ich eure Väter gesehen.

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Nach diesem Vers war die Wüste der Ort der Erwählung Israels durch Jhwh1 und dementsprechend wird im Buch Hosea der Neuanfang, nach dem göttlichen Gericht, wiederum in der Wüste erwartet (Hos 2,16): Darum, siehe, ich locke sie und lasse sie in die Wüste gehen, und dann werde ich ihr zu Herzen reden.

Das gleiche Konzept findet sich in Dtn 32,9–10, wo es ebenfalls um das „Finden“ (‫ )מצא‬Israels durch Jhwh geht: Der Anteil Jhwhs ist sein Volk, Jakob ist sein Erbteil. 10Er fand es im Land der Wüste, in der Öde, im Geheul der Wildnis; er schützte es, nahm es in Obhut, hütete es wie seinen Augapfel.

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Schließlich ist noch Jer 2,2 zu erwähnen, wo im MT2 die Wüste als Aufenthaltsort des jungen „Ehepaars“ fungiert: Ich erinnere mich an dich – an die Treue deiner Jugend, die Liebe deiner Brautzeit, du folgtest mir in der Wüste, im nicht besäten Land.

Diese positiven Wüstentexte haben dazu geführt, dass im 19. Jahrhundert im exegetischen und theologischen Diskurs die Wüste und die Tradition vom Aufenthalt Israels in der Wüste idealisiert wurden. Ernest Renan, Professor am Collège de France, erklärte wiederholt in seinen Vorlesungen und Aufsätzen: „Le désert est monothéiste“,3 und Karl Budde und andere sprachen von einem nomadischen Ideal des Alten Testaments.4 Solchen Äußerungen begegnen wir Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler heutzutage mit Schmunzeln und ordnen diese in den Kontext des philosophischen und theologischen Idealismus ein. Allerdings stellt sich jedoch immer noch die Frage wie wir diese Aussagen über die Wüste als Ursprungsort und ‑zeit der Beziehung zwischen Jhwh und Israel beurteilen sollen. Handelt es sich lediglich um späte theologische Diskurse, welche die Treue Jhwhs mit der Untreue Israels kontrastieren sollen? Oder verbirgt sich hinter diesem Motiv eine auch in die Exoduserzählung aufgenommene Variante, nach welcher Jhwh seine Wohnstätte in der Wüste hatte, wo ihm Israel dann begegnete und zu seinem Volk wurde? Der Behandlung dieser Frage sollen zunächst einige Überlegungen zu den für uns greifbaren Ursprüngen der Exodustradition vorausgehen.

1  Zur Erwählungsterminologie in diesen Versen, vgl. Jeremias, Hosea, 121, und bereits Bach, Erwählung. 2 LXX hat: „du folgtest dem Heiligen Israels“, zur Diskussion, vgl. Herrmann, Jeremia, 113. 3  Z. B. in Renan, Histoire, 147. 4 Budde, Ideal.

Auszug aus Ägypten oder Pilgerreise in die Wüste?

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2. 1 Kön 12 und die israelitischen Ursprünge der Exodustradition Die Tatsache, dass die Exodustradition zunächst im Nordreich beheimatet war, geht aus der Erzählung in 1 Kön 12 hervor. Die israelitische Verankerung des Bekenntnisses zu Jhwh als dem Gott, der aus Ägypten herausführt, kann kaum eine Erfindung der deuteronomistischen Redaktoren der Königsbücher sein, da für jene die Herausführung aus Ägypten die theologische Grundlage von Israels Gottesbeziehung darstellt. Nach 1 Kön 12,28–29 errichtet Jeroboam zwei Jhwh repräsentierende Stierstatuen in Bethel und Dan: Und der König ließ sich beraten und fertigte zwei goldene Kälber an. Dann sprach er zu ihnen: Lange genug seid ihr nach Jerusalem hinaufgezogen! Hier das sind deine Götter, ֶ ‫ִהּנֵ ה ֱא‬ Israel, die dich heraufgeführt haben aus dem Land Ägypten (‫ֹלהיָך יִ ְׂש ָר ֵאל ֲא ֶׁשר ֶה ֱעלּוָך‬ ‫) ֵמ ֶא ֶרץ ִמ ְצ ָריִם‬. 29Und das eine stellte er in Bet-El auf, und das andere brachte er nach Dan. 28

Der Plural „deine Götter“ erstaunt. Er begegnet ebenfalls in der Erzählung vom goldenen Kalb in Ex 32, welche nach fast einhelliger Meinung den Text von 1 Kön 12 voraussetzt: 4 Und er [Aaron] nahm es aus ihrer Hand und bearbeitete es mit dem Meißel und machte daraus ein gegossenes Kalb. Da sprachen sie: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus ֶ ‫) ֵא ֶּלה ֱא‬. dem Land Ägypten heraufgeführt haben! (‫ֹלהיָך יִ ְׂש ָר ֵאל ֲא ֶׁשר ֶה ֱעלּוָך ֵמ ֶא ֶרץ ִמ ְצ ָריִ ם‬

Wie ist dieser Plural zu erklären? E. Axel Knauf hat vorgeschlagen, dass dieser sich auf das Paar Jhwh und Asherah beziehe, welche als auf den Stierpodesten thronend vorgestellt wurden,5 aber diese Deutung findet keinen Anhalt am Text. Oft wird angenommen, dass sich der Plural auf die zwei Jhwh-Statuen in Bethel und Dan beziehe,6 und somit ein Polyjahwismus angeprangert würde.7 Diese Deutung könnte man für 1 Kön 12 eventuell verteidigen, sie ist aber in Bezug auf Ex 32 schwer aufrecht zu erhalten. Deswegen scheint mir die beste Lösung die eines redaktionellen Eingriffes zu sein.8 Der Ausruf von 1 Kön 12 und Ex 32 steht der Eröffnung des Dekalogs erstaunlich nahe: Ex 20,2

‫אתיָך ֵמ ֶא ֶרץ ִמ ְצ ַריִ ם‬ ִ ‫הֹוצ‬ ֵ ‫ֹלהיָך ֲא ֶׁשר‬ ֶ ‫ָאנ ִֹכי יְ הוָ ה ֱא‬ Ich bin Jhwh, dein Gott, der dich herausgeführt hat aus dem Land Ägypten. 5 Knauf,

1 Kön 12,28

‫ֹלהיָך יִ ְׂש ָר ֵאל ֲא ֶׁשר ֶה ֱעלּוָך ֵמ ֶא ֶרץ ִמ ְצ ָריִם‬ ֶ ‫ִהּנֵ ה ֱא‬ Hier das sind deine Götter, Israel, die dich heraufgeführt haben aus dem Land Ägypten.

Bethel, 1375–1376.  Gray, Kings, 291; Würthwein, Könige, 164. 7  Donner, Götter, 71–75. 8 Sie dazu bereits die Überlegungen bei Šanda, Könige, 342–343. 6

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Es genügt die Einschiebung eines „waw“ um einen ursprünglichen Singular in eine Pluralform zu verwandeln. Durch diesen Eingriff wollten die Redaktoren den offiziellen Kult des Nordreichs nicht nur als ikonisch denunzieren, sondern ihn ebenfalls als „polytheistisch“ darstellen.9 Dass Jhwh in Israel in Stierform verehrt wurde, geht nicht nur aus 1 Kön 12 (und Ex 32) hervor, sondern auch aus dem Buch Hosea, welches Gerichtsworte gegen das „Kalb von Samaria“ enthält (Hos 8,5–6): Er hat dein Kalb verworfen, Samaria! Mein Zorn ist gegen sie entbrannt! Wie lange sind sie noch unfähig, schuldlos zu werden? 6Es kommt von Israel, ein Handwerker hat es gemacht, und es ist kein Gott! Zersplittern wird das Kalb von Samaria! 5

Dieses Orakel, das in Anlehnung an die deutero-jesajanische Götzenpolemik überarbeitet wurde, dürfte in seinem Kern (V. 5.6b) auf das Wirken Hoseas zurückgehen.10 Hos 10,5–6 enthält eine vergleichbare Kritik eines Stierbildes in Bethel: Um das Kalbszeug von Bet-Awen haben die Bewohner von Samaria Angst, nachgetrauert hat ihm sein Volk! … 6Auch dieses wird nach Assur gebracht werden als Gabe für den großen König. 5

Die Verehrung Jhwhs in Stierform kann ebenfalls auf ein Ostrakon aus Samaria aus der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. gestützt werden,11 da dort der Eigenname ‘glyw belegt ist, der als „Kalb des Yh“ oder „Yh ist ein Kalb“ verstanden werden kann. Wann wurde die Exodustradition mit dem Jhwh-Kult des Nordreichs verbunden? Nach 1 Kön 12 geschah dies von Anfang an, unter Jeroboam I. Allerdings wurde nach den Untersuchungen des Archäologen Eran Arie Dan erst im 8. Jahrhundert v. Chr. israelitisch.12 Wenn diese Beobachtungen zutreffen sollten, könnte daraus gefolgert werden, dass 1 Kön 12 eine Rückprojektion aus der Zeit Jeroboams II darstellt.13 In diesem Zusammenhang könnte weiter gefragt werden, ob die dezidierte Aussage, in Hos 12, nach welcher Jhwh Israels Gott vom Land Ägypten her ist (V. 12, vgl. V. 14), sowie die negative Darstellung der Jakobstradition, im Kontext der offiziellen Einführung einer Exodustradition in das Heiligtum von Bethel zu interpretieren sind. Der spekulative Charakter dieser Überlegungen sei jedoch sogleich zugestanden. Die literarische Form dieser im Nordreich beheimateten Exodustradition, falls es eine solche bereits gegeben hat, lässt sich meines Erachtens literarkritisch nicht mehr eruieren. Zu fragen wäre, ob die Figur des Moses in dieser Exodustradition bereits fest verankert war. Dazu fügt sich die Beobachtung, dass Mose außerhalb  9 Die

Singularform ist in Neh 9,18 noch erhalten.  Jeremias, Hosea, 107–108. 11  Sam(8): 1.41, Renz/ Röllig, Handbuch I, 100; Richelle, Royaume, 167. 12 Arie, Reconsidering. 13 Berlejung, Traditions, 23; Frevel, Geschichte, 155. 10

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des Pentateuchs, des Deuteronomistischen Geschichtswerks und der Chronikbücher „eher selten erwähnt“ wird14 und dann hauptsächlich in Texten, die kaum früher als in das 6. Jahrhundert v. Chr. datiert werden können. Hos 12,14 spricht von einem Propheten, durch welchen Jhwh Israel aus Ägypten herausgeführt hat. Dieser Prophet wird in der Regel mit Mose identifiziert,15 was natürlich auf dem Hintergrund der Exoduserzählung, wie wir sie kennen, naheliegt. Allerdings bleibt auffallend, dass der Verfasser von Hos 12 den Namen nicht erwähnt, wiewohl er doch Mose durchaus mit Jakob hätte kontrastieren können. Eine Exoduserzählung ohne Mose lässt sich in der Tat nicht mehr rekonstruieren. Jedoch soll hier bereits kurz auf Ex 5 verwiesen werden, wo die Verschärfung des Frondienstes der Hebräer berichtet wird. In dieser Erzählung erscheinen Mose und Aaron lediglich in den umrahmenden Versen 1–4 und 20–23. Im Gegensatz zu den anderen Erzählungen führen hier nicht Mose und Aaron die Verhandlungen mit dem Pharao, sondern die israelitischen Aufseher (V. 15). Auf diesen Text wird noch zurückzukommen sein. Die Beheimatung des Mose im Königreich Juda ergibt sich aus der Notiz von 2 Kön 18,4, in welcher von König Hiskia folgende Kultreform berichtet wird: Er hat die Kulthöhen abgeschafft und die Mazzeben zerschlagen und die Aschera zerstört und die Schlange aus Bronze, die Mose gemacht hatte, zermalmt, denn bis in jene Tage hatten die Israeliten ihr Rauchopfer dargebracht. Und man hatte sie Nechuschtan genannt.

Die Tradition von einer von Mose angefertigten Schlangenstatue im Jerusalemer Tempel kann kaum als eine Erfindung der Deuteronomisten verstanden werden, da eine solche der dtr Darstellung des Mose als Bilderstürmer (Ex 32) und Vermittler des Deuteronomiums diametral gegenüber steht. So ist mit Rainer Albertz „die Notiz über die Zerstörung Nechuschtans unerfindlich und kaum zu bezweifeln“.16 Die spät entstandene Geschichte, die von der Errichtung einer bronzenen Schlange in der Wüstenzeit berichtet (Num 21,4–9) wäre dann als ein Versuch anzusehen, die Existenz einer solchen auf Mose zurückzuführen. Jedenfalls ist die vor-dtr Notiz in 2 Kön 18,4b17 ein Indiz für in Juda bzw. Jerusalem gepflegte Mosetraditionen.

14 Schmidt,

Exodus, 3. Zur Diskussion der Stellen Schmid, Gestalt, 57–65.  Vgl. für viele Mays, Hosea, 170: „The reference must be to Moses“. 16  Albertz, Religionsgeschichte I, 281. Zur Herkunft des Schlangenmotivs aus dem ägyptischen oder assyrischen Bereich vgl. Keel, Jahwe-Visionen, 81–115. 17  Würthwein, Könige, überlegt, ob der Relativsatz, der die bronzene Schlange im Tempel auf Mose zurückführt, eine junge Interpolation von Num 21,9 her sein könnte (412), was jedoch kaum wahrscheinlich ist. 15

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3. Die erste literarisch fassbare Version der Exoduserzählung Die erste literarisch zumindest in Umrissen rekonstruierbare Exoduserzählung ist auch eine Moseerzählung, da sie mit dessen Geburt und Aussetzung im Nil beginnt. Dass der Name Mose eine hebräische Umschreibung eines ägyptischen aus der Wurzel m-s-j gebildeten Namens, der sich zum Beispiel in Ramses (Ra hat ihn geboren) oder Thutmosis findet, darstellt, ist allgemein anerkannt.18 Dass dabei das theophore Element fehlt, kann auf theologische Zensur zurückgehen, allerdings sind solche Kurznamen auch in Ägypten belegt. Der ägyptische Name Moses ist durchaus ein Hinweis darauf, dass dieser kaum eine „erfundene“ Figur darstellt, sondern die Erinnerung an eine historische Figur bewahrt, da, wie Jean Louis Ska bemerkt, wohl niemand einen judäischen Helden erfunden hätte, der einen ägyptischen Namen trägt.19 Es steht ebenfalls außer Zweifel, dass der Verfasser von Ex 2,1–10* um die ägyptische Herkunft des Namens weiß. Zunächst ist auffallend, dass, im Gegensatz zu anderen biblischen Geburtsgeschichten, der neugeborene Knabe mehr als drei Monate lang namenlos bleibt. Erstaunlicherweise gibt ihm die sich so um ihn sorgende Mutter keinen Namen; dieser kann „logischerweise“ nur von der ägyptischen Königstochter gegeben werden. Allerdings weiß der Autor um die Bedeutung des Namen Mose, denn bevor die Tochter des Pharao diesen dem Neugeborenen verleiht, wird er durchgängig als ‫( יֶ ֶלד‬Neugeborener/ Kind) bezeichnet, und diese Wurzel ist nichts anderes als das hebräische Äquivalent für das ägyptische m-s-j. Die Darstellung, wie Mose zum Adoptivsohn der ägyptischen Prinzessin wird, hat, wie oft bemerkt, eine assyrische Parallele. Die Aussetzung Moses und seine Adoption entsprechen der Geburtsgeschichte des Königs Sargon, der um 2600 v. Chr. gelebt haben soll. Kopien seiner Geburtsgeschichte sind jedoch nur aus der neu-assyrischen Zeit belegt,20 sodass man davon ausgehen kann, dass sie zur Legitimation Sargons II verfasst wurden. Wie Otto, Gerhards und andere aufgezeigt haben21 hat der Autor von Ex 2 die Sargonlegende als Modell benutzt. Während Sargons Aussetzung eine Maßnahme ist, mit der die Mutter ihr wohl illegitimes Kind loswerden will, ist in der Mose-Erzählung dessen Aussetzung eine Strategie zur Rettung des Kindes.22 Allerdings ist die Aktion der Mutter in Ex 2,1–10 nicht völlig logisch, es sei denn, sie wüsste im Voraus, dass Mose aus   Z. B. Dozeman, Exodus, 81–82. Enigmes, 63–65. 20  Lewis, Sargon. 21  Otto, Mose, 43–83; Gerhards, Aussetzungsgeschichte, 149–249, vgl. auch Macchi, Naissance. 22 Albertz, Exodus 1–18, 58. 18

19 Ska,

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dem Nil herausgezogen würde. Diese Inkongruenz erklärt sich wohl doch am besten dadurch, dass sich der Verfasser von Ex 2,1–10 an die Sargonlegende anlehnte und zu dieser eine „counter history“ verfasste, mit der er zeigen wollte, dass Mose eine ebenso bedeutende Gestalt wie der große assyrische König darstellt. Wenn die ursprüngliche Aussetzungs‑ und Rettungsgeschichte in 2,1–3.5– 6.10aßb (in welcher von einer Schwester Moses noch nicht die Rede war) die Sargonlegende voraussetzt, wäre dadurch ein terminus a quo für eine mit der Geburt des Moses beginnende Exoduserzählung im 7. Jahrhundert v. Chr. gegeben. Die Exodustradition wurde nach dem Untergang Israels im Jahre 722 v. Chr. in Juda rezipiert und modifiziert. Dabei muss man sich nicht unbedingt vorstellen, dass die Exodustradition im Gepäck von Flüchtlingen aus Samaria in das Südreich bzw. nach Jerusalem kam. Es ist ebenso gut möglich, dass dieser Transfer über das Heiligtum von Bethel erfolgte, dessen Fortbestehen als Kultort Jhwhs in 2 Kön 17,28, wenn auch mit polemischer Note, belegt ist.

4. Die Verbindung verschiedener Exodustraditionen in der ersten Hälfte des persischen Zeitalters Ein Konsens über die literarhistorische Entstehung der Exoduserzählung, wie sie heute im Buch Exodus vorliegt, ist nicht in Sicht. Jedoch dürfte zumindest in der europäischen Forschung Einverständnis darüber möglich sein, dass sich in dieser Exoduserzählung priesterliche Schichten bzw. Dokumente finden, die mit vor‑ und nach-priesterlichen Traditionen und Texten verbunden wurden.23 Zum Entstehungsprozess des Exodusbuches hat Christoph Berner dezidiert behauptet: „Der Annahme, sie [=die Exoduserzählung, T. R.] hätte ganz oder in Teilen zum Sagenschatz der Israeliten gehört und sei über lange Zeit mündlich überliefert worden, steht der literarische Befund diametral entgegen. Die Exoduserzählung ist das Produkt schriftgelehrter Eliten“24.

Es soll auf keinen Fall geleugnet werden, dass die Verschriftung der biblischen Texte auf Eliten oder Literati zurückgeht, um eine Ausdruck von E. Ben Zvi zu verwenden.25 Allerdings stellt sich die Frage, ob alle der Themen und Traditionen der Exoduserzählung als intellektuelle Erfindungen zu bezeichnen sind. Dies scheint mir eine etwas anachronistische Auffassung vom Umgang mit Traditionen oder Gedächtnisspuren darzustellen. Auch junge bzw. späte Texte müssen nicht unbedingt an einem Schreibtisch erfunden sein. So setzt, um ein nicht-biblisches Beispiel zu wählen, die von Ma Vgl. den Überblick bei Römer, Pentateuch, 111–122.  Berner, Exoduserzählung, 451. 25 Z. B. in Ben Zvi, Jonah, 99. 23 24

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netho im 3. Jahrhundert v. Chr. überlieferte Erzählung von Osarseph als Anführer einer Bande von Aussätzigen, welche die religiösen Praktiken der Ägypter nicht respektieren, Kenntnis der religiösen Reform Akhenatons voraus sowie ebenso ein Wissen um eine wie auch immer geartete Exodustradition.26 Die komplexe Erzählung in Ex 1–18 enthält meines Erachtens ebenfalls Erinnerungen an unterschiedliche Exodustraditionen, die kaum eine pure „Erfindung“ darstellen.

5. Gottesberg und Opferreise Seit frühester Zeit waren Kommentatoren des Buches Exodus unsicher wie sie das Nebeneinander von Ex 18 und Ex 19 erklären sollten. In Exodus 18 befinden sich Mose und die Israeliten am „Gottesberg“, wogegen sie in Ex 19 erst einige Zeit später an den Berg Sinai gelangen. Dazu kommt, dass in Ex 18 Moses Schwiegervater Jitro in Begleitung Aarons und der Ältesten Israels vor der Einsetzung Aarons in das Priesteramt ein Opfer für den Gott Israels darbringt. Diese Schwierigkeiten hat man im Rahmen der Urkundenhypothese dadurch lösen wollen, dass man Ex 18 ganz oder teilweise dem Elohisten zuwies und den Text als Parallelerzählung zur „jahwistischen“ Ankunft am Sinai in Ex 19 interpretierte.27 Eine ältere bereits im 2. Jahrhundert von Eleasor von Modiin und später von Raschi und anderen28 vertretene Lösung bestand darin, Ex 18 als einen Text anzusehen, der ursprünglich am Ende des Aufenthalts am Sinai (Num 10) gestanden hatte und der von einem Redaktor an seine jetzige Stelle versetzt wurde – zum Beispiel um die gottlosen Amalekiter (in Ex 17) mit den gottesfürchtigen Midianitern zu kontrastieren. Vielleicht kann man das Nebeneinander von Ex 18 und Ex 19 aber auch dadurch erklären, dass die Redaktoren in diesen Kapiteln verschiedene Exodustraditionen zusammenlaufen ließen. Die Erwähnung des Gottesberges in Exodus 18 weist auf die Erzählung von Moses Berufung in Ex 3 zurück, da selbige ebendort erfolgt.29 Nachdem Gott Mose seinen Namen offenbart hat, beauftragt er diesen, den Ältesten des Volkes die Herausführung aus Ägypten und das Hineinbringen in das Land Kanaan zu verkünden: Geh und versammle die Ältesten Israels und sprich zu ihnen: Jhwh, der Gott eurer Väter, ist mir erschienen, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, und hat gesagt: Ich habe auf euch geachtet und auf das, was euch angetan wird in Ägypten. 17Und ich habe beschlossen: Ich will euch aus dem Elend Ägyptens hinaufführen in das Land der Kanaaniter und der 16

 Assmann, Exodus, 193–197. Vgl. weiter dazu unten. den forschungsgeschichtlichen Überblick bei Haarmann, JHWH-Verehrer, 65–67. 28  Vgl. die Belege bei Propp, Exodus, 628. 29  Die Beziehungen zwischen Ex 3 und Ex 18 sind seit langem gesehen und diskutiert worden. 26

27 Vgl.

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Hetiter und der Amoriter und der Perissiter und der Chiwwiter und der Jebusiter, in ein Land, wo Milch und Honig fließen.

Hier ist das Ziel des Exodus eindeutig das definitive Verlassen Ägyptens und die Eroberung des verheißenen Landes. Der folgende Vers 18 führt jedoch ein anderes Motiv ein: Du aber sollst mit den Ältesten Israels zum König von Ägypten gehen und ihr sollt zu ihm sagen: Jhwh, der Gott der Hebräer, ist uns begegnet. Und nun wollen wir drei Tagereisen weit in die Wüste gehen und Jhwh, unserem Gott, zu opfern. 18

Hier sollen die Israeliten um eine befristete Freistellung von ihrer Fronarbeit aus religiösen Gründen bitten, um dem Gott Jhwh, der auf einem drei Tagereisen entfernten Berg residiert, zu huldigen. Eine solche Bitte impliziert kein definitives Verlassen des Landes. Ex 3,18 wird in gewisser Weise in V. 12aßb vorbereitet: 12 Da sprach er: Ich werde mit dir sein, und dies sei dir das Zeichen, dass ich dich gesandt habe: Wenn du das Volk aus Ägypten herausgeführt hast, werdet ihr an diesem Berg Gott dienen.

Hier wird der Gottesdienst der Israeliten am Gottesberg als ein Zeichen zur Bestätigung der Berufung Moses dargestellt. Im Gegensatz zur Berufung Gideons in Ri 6, wo sich das Zeichen vor der Mission des Berufenen realisiert (vgl. auch Jer 1,9), erfüllt das Zeichen in Ex 3,12 eigentlich nicht seinen Zweck, da es sich erst in ferner Zukunft erfüllen wird.30 Aus diesem Grund wurde bisweilen vorgeschlagen, dass die jetzige Formulierung in V. 12 ein ursprüngliches und sofortiges Zeichen verdrängt habe.31 Diese Annahme erübrigt sich, wenn man V. 12 als einen von einem späten Redaktor (Albertz denkt an einen „Hexateuchredaktor“)32 geschaffenen Ausgleich zwischen dem Thema eines endgültigen Auszugs und dem eines Opferfestes in der Wüste versteht. Das Motiv des Opferns in der Wüste erscheint nach Ex 3 erneut in den Anfangsversen von Ex 5. Danach gingen Mose und Aaron hinein und sprachen zum Pharao: So spricht Jhwh, der Gott Israels: Lass mein Volk ziehen, damit sie mir in der Wüste ein Fest feiern. 2Der Pharao aber sagte: Wer ist Jhwh, dass ich auf seine Stimme hören und Israel ziehen lassen sollte? Ich kenne Jhwh nicht und werde auch Israel nicht ziehen lassen. 3 Da sprachen sie: Der Gott der Hebräer ist uns begegnet. Drei Tagereisen weit wollen wir in die Wüste gehen und >JhwhMose und 1

30  Propp, Exodus, 203–204, diskutiert verschiedene aber wenig überzeugende Lösungsvorschläge. 31  Z. B. Fohrer, Überlieferung, 39–40. Vorsichtig Albertz, Exodus 1–18, 83. Einen Überblick der Erklärungsversuche gibt Childs, Exodus, 56–60. 32  Albertz, Exodus 1–18, 68 und 83–84. 33 „Jhwh“ ist in der LXX nicht bezeugt.

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