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German Pages 240 Year 1993
Konrad Löw (Hrsg.) . Totalitarismus
SCHRIFTENREIHE DER GESELLSCHAFT FÜR DEUTSCHLANDFORSCHUNG BAND 23
Totalitarismus lIerausgegeben von
Konrad Löw
Zweite, unveränderte Auflage
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Totalitarismus / hrsg. von Konrad Löw. - 2., unveränd. Auf!., unveränd. Nachdr. der 1988 erschienenen 1. Auf!. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993. (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung ; Bd. 23) ISBN 3-428-07664-8 NE: Löw, Konrad [Hrsg.]; Gesellschaft für Deutschlandforschung: Schriftenreihe der Gesellschaft . ..
Unveränderter Nachdruck 1993 der 1988 erschienenen I. Auflage Alle Rechte vorbehalten © 1988 Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit, München Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-5774 ISBN 3-428-07664-8
Inhalt
Vorwort .............................................................
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Geleitwort ...........................................................
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Einführung
Siegfried Mampel
Versuch eines Ansatzes für eine Theorie des Totalitarismus
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Zum Totalitarismusbegriff
Karl Dietrich Bracher
Die Aktualität des Totalitarismusbegriffes
Hans-Helmuth Knütter
Der Totalitarismus in der schulischen und außerschulischen Politischen Bildung
19 28
Man/red Funke
Erfahrung und Aktualität des Totalitarismus - Zur definitorischen Sicherung eines umstrittenen Begriffs moderner Herrschaftslehre ......................
Eckhard Jesse
Die" Totalitarismus-Doktrin" aus DDR-Sicht
44 63
Totalitäre Systeme
Karl Wilhelm Fricke
Der Einfluß der Staatssicherheit auf die politische Strafjustiz der DDR als Beispiel totalitärer Herrschaftspraxis .....................................
Bernhard Marquardt
Die DDR auf dem Weg vom totalitären zum autoritären Staat?
Martin Kriele
Die linksfaschistische Häresie - Zum Totalitarismus in Nicaragua Weltanscha~ungen
108 142
und Totalitarismus
Alexander Schwan
Vom totalitären Geist der Utopie ........................................
Konrad Löw
Totalitäre Elemente im originären Marxismus
Konrad Löw
91
Die" Weltanschauung des Grundgesetzes" und der Totalitarismus ............
157 166 185
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Anton Rauscher
Katholische Kirche und Totalitarismus
Klaus Motschmann
Evangelische Kirche und politischer Totalitarismus - Kontinuität und Wandel Gregor M. Manousakis
200 213
Der Islam - eine totalitäre Gefahr?
224
Die Autoren .........................................................
235
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Vorwort
Wir Deutschen haben Totalitarismus im Nationalsozialismus und durch die Ausweitung des sowjetischen Machtbereichs im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg selbst erlebt. In der wissenschaftlichen Diskussion war deshalb zu Zeiten des Kalten Krieges und bis zum Ende der 60er Jahre die Unterscheidung von demokratischen und totalitären Systemen das anerkannte Schema für den Vergleich politischer Ordnungen. Seitdem ist das Totalitarismus·Konzept zunehmend "unter Ideologieverdacht'" geraten und "hinterfragt'" worden. Sicher ist es sinnvoll stärker zu differenzieren: - autoritäre Systeme als Kategorie einzuführen, die Besonderheiten der sich entwickelnden Staaten in der Dritten Welt zu berücksichtigen, - auch innerhalb der freiheitlichen und der kommunistischen WeitA bstufungen und Wandlungsprozesse zu registrieren. Dennoch hat der Totalitarismusbegriff seine Bedeutung behalten: - Wesen und Vorzüge der Demokratie - auch bei möglichen Unzulänglichkeiten der Verwirklichung - lassen sich am besten am totalitären Gegenbild illustrieren. - Die Entscheidung des Grundgesetzes für die .. wehrhafte'" Demokratie verpflichtet jeden Bürger zur Wachsamkeit gegen totalitäre Gefährdungen. Der Auftrag der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit "auf überparteilicher Grundlage das Gedankengut der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung im Bewußtsein der Bevölkerung zu fordern und zu festigen" beinhaltet auch die Verpflichtung, aus den Erfahrungen der Geschichte vor den Feinden der Demokratie zu warnen. Dieser Auseinandersetzung dienen ihre zeitgeschichtlichen Veröffentlichungen zur Weimarer Republik, zum Nationalsozialismus und zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie die Publikationen zu Fragen des Marxismus-Leninismus und des Kommunismus. Dies gilt auch für die vorliegende Publikation. Dr. Heinrich Wackerbauer Direktor der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit
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Geleitwort
In einer "Erklärung aus dem polnischen Untergrund" heißt es: "Die Verteidigung des Friedens kann man nicht von der Verteidigung gegen den Totalitarismus, von dem Kampf um Freiheit und Demokratie trennen ... M
Jeder, der den Frieden, die Freiheit und die Demokratie als Grundwene des persönlichen und gesellschaftlichen Lebens schätzt, wird, wenn er die eingangs getroffene Feststellung für richtig hält, die Veneidigung gegen den Totalitarismus entschieden bejahen. Aber ist diese Feststellung richtig? Die vom Grundgesetz verbürgte Meinungsfreiheit schützt die Meinungsvielfalt. Gerade im Bereich der Politik, sei es Theorie oder Praxis, gibt es kaum eine Auffassung, die nicht Anhänger fände und nicht zugleich bei anderen auf Ablehnung stieße. Manche lehnen den Totalitarismusbegriff gänzlich ab, manche meinen, er erfasse nur Systeme, die schon vor Jahrzehnten abgestorben sind. Letztere wollen nicht wahrhaben, daß zuerst das faschistische Italien als totalitär bezeichnet worden ist, also ein politisches Gebilde, das die schlimmsten Auswüchse der Hitler- wie der Stalin-Ära nicht verbrochen hat und das, verglichen mit der Sowjetunion heute, dem einzelnen mehr Freiraum konzediene. So lange es Staaten gibt, die unter der Bezeichnung"Wahlen" Veranstaltungen abhalten, an denen über 99 % der Bevölkerung teilnehmen, obwohl das Ereignis schon vorher feststeht, so lange wird die große Mehrheit der Demokraten eine deranige Entwürdigung und Vergewaltigung der Betroffenen als sicheres Indiz totalitärer Herrschaft brandmarken. Für diese Demokraten ist der Totalitarismus, bei allen begrifflichen Differenzen im Detail, die entschiedenste Negation von Freiheit und Demokratie. Ein weiteres Essentiale totalitärer Herrschaft ist die Leugnung von Menschenrechten, die der staatlichen Souveränität Schranken ziehen. Demgegenüber betonen sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, daß das Bekenntnis zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten die Grundlage des Friedens in der Welt bilde, eine Annahme, die durch die Weltgeschichte seit 1929, seit der international verbindlichen Ächtung des Angriffskrieges, seine Bestätigung gefunden hat. Der vorliegende Sammelband möchte einen Beitrag zur nach wie vor aktuellen Auseinandersetzung mit Begriff und Realität des Totalitarismus leisten. Die darin enthaltenen Texte sind - mit Ausnahme des Aufsatzes von Karl Dietrich Bracher - überarbeitete Fassungen der Referate, die auf den Totalitarismus-Tagungen der Gesellschaft für Deutschlandforschung an der Universität Bayreuth in den Jahren 1985 und 1987 gehalten wurden. 9
Folgende Themenbereiche werden angesprochen: Eine erste Gruppe von Beiträgen setzt sich unter verschiedenen Blickwinkeln mit den Totalitarismuskonzeptionen auseinander; die zweite befaßt sich mit Erscheinungen totalitärer Herrschaft in politischen Systemen; die dritte behandelt das Verhältnis einzelner Weltanschauungen zum Phänomen des Totalitarismus. Zur ersten Themengruppe zählt der Beitrag des inzwischen emeritierten Bonner Zeithistorikers Karl Dietrich Bracher. Als einer der wenigen hat er in den siebziger Jahren wider den Stachel des Zeitgeistes gelöckt und am Totalitarismuskonzept festgehalten. Welche Konsequenzen der Verzicht auf dieses Orientierungsmittel für die politische Bildung hatte, weist der gleichfalls in Bonn tätige Politikwissenschaftler Hans-Helmuth Knütter in seiner Analyse nach. Besonders die Auseinandersetzung mit dem Sowjetsystem sei sehr vernachlässigt worden. Während Bracher den eigenen, am Ansatz von earl Joachim Friedrich orientierten, strukturellen Ansatz umreißt, wendet sich sein Schüler Manfred Funke vor allem gegen die verbreitete Gleichsetzung von Totalitarismus und totalem Staat. Auch die "Totalität" totalitärer Regime sei in der Wirklichkeit Beschränkungen unterworfen, maßgebend daher der totalitäre Anspruch und die Intensität, mit der seine praktische Umsetzung angestrebt wird. Einem bislang unbeachtet gebliebenen, wenngleich für die Totalitarismusdiskussion interessanten Aspekt spürt der Trierer Politikwissenschaftler Eckhard Jesse nach: Der Auseinandersetzung mit der westlichen Totalitarismusdiskussion in der DDR und den propagandistischen Bemühungen zur Abwehr "bürgerlicher Ideologien". Eine zweite Themengruppe bietet die Anwendung des Totalitarismusansatzes auf den "real existierenden Sozialismus". Als Beiträge zur Beantwortung der Frage, ob es sich beim Regime der DDR um ein autoritäres oder ein totalitäres Regime handele, verstehen sich die Ausführungen Karl Wilhelm Frickes und Bernhard Marquardts. Beide Autoren haben ihre eigenen Erfahrungen mit den Kommunisten in Ostberlin gemacht. Fricke, heute Leiter der Ost-West-Redaktion des Deutschlandfunks, wurde aufgrund seiner antikommunistischen Betätigung Mitte der fünfziger Jahre von Agenten des Staatssicherheitsdienstes aus Westberlin entführt und für mehrere Jahre in Gefängnissen der DDR inhaftiert. Bernhard Marquardt, inzwischen tätig bei der Würzburger Gesellschaft zur Erforschung der politischen Systeme in Deutschland, erhielt seine Ausbildung an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften, bevor er sich 1983 in den Westen absetzen konnte. Beide Autoren kommen in ihren Analysen zu dem Ergebnis, daß der totalitäre Anspruch der Machthaber in der DDR nach wie vor mit großer Intensität in die politische Praxis umgesetzt werde. Die Analyse Martin Krieles verläßt den europäischen Raum. Er weist nach, daß die Bildung eines Satellitenregimes der Sowjetunion in Mittelamerika inzwischen als weitgehend abgeschlossen angesehen werden muß - trotz aller Bemühungen, dieses Faktum vor der Weltöffentlichkeit zu verschleiern. Der dritte Themenkomplex ist dem Verhältnis von Weltanschauungen zum Phänomen des Totalitarismus gewidmet. Der Berliner Politikwissenschaftler Alexander Schwan 10
spürt den möglichen totalitären Konsequenzen utopischen Denkens nach, eines Denkens, das "auf die vollständige Verwirklichung eines absolut gelungenen Lebens aus eigenem menschlichen Vermögen in der irdischen Welt" ziele. Wenn die Ausführungen Schwans beim Entwurf des Thomas Morus einsetzen, so wird damit deutlich, daß der Denktypus des Totalitären weit älter ist, als das Aufkommen totalitärer Regime im 20. Jahrhundert vermuten läßt. Meine eigenen Ausführungen schließen an diesen Gedankengang an: Aufgrund einer Analyse des Werkes von Kar! Marx und Friedrich Engels ergibt sich meines Erachtens die zwingende Konsequenz, daß sich die kommunistischen Regime - leider - zu Recht auf sie berufen, der Marxismus-Leninismus also keineswegs eine fundamentale Fehlinterpretation des originären Marxismus ist, wie gelegentlich behauptet wird. In einem zweiten Beitrag versuche ich darzustellen, wie sich die Realität des Totalitarismus auf die Konzeption des Grundgesetzes niedergeschlagen hat und das Grundgesetz totalitären Strömungen gegenüber seine prinzipielle Neutralität aufgibt. Religiöse Überzeugungen können ebenso massen psychologisch nutzbar gemacht werden wie politische Universalideologien. Das Christentum ist im Laufe seiner Geschichte, man denke an Hexenwahn, Ketzerverfolgung und Inquisition, in ganz ähnlicher Weise politisch mißbraucht worden, wie sich dies heute vom Islam in manchen Staaten sagen läßt. Ob man dabei so weit gehen kann, der islamischen Religion generell eine totalitäre Tendenz zuzuschreiben, wie dies der griechische Journalist Gregor M. Manousakis in seinem Beitrag tut, mag bezweifelt werden. Dem Verhältnis der beiden christlichen Konfessionen zu NS-Regime und -Ideologie sind die Beiträge des katholischen Theologen Anton Rauscher und des evangelischen Politologen Klaus Motschmann gewidmet. Während das Erscheinungsbild des Protestantismus zwiespältig war - Bekennende Kirche einerseits, Deutsche Christen andererseits - bildeten sich zwischen katholischer Kirche und Nationalsozialismus zu keinem Zeitpunkt ideologische Brücken. Alle Beiträge verstehen sich als Denkanstöße und sind in dem Bewußtsein verfaßt, daß der behandelte Gegenstand weiterer intensiver Forschung bedarf. Längst nicht alle wichtigen Themenfelder konnten im Rahmen der beiden Totalitarismustagungen behandelt werden. Es wäre wünschenswert, ein den neuesten Erkenntnissen angemessenes Untersuchungsraster zu entwickeln, das Spezialstudien zu bestimmten politischen Systemen als Maßstab zugrundegelegt werden könnte. Die politische Regimelehre ist heute ein weithin vernachlässigtes Gebiet. So fehlen beispielsweise ordnende und wertende Vergleiche der Staaten des Ostblocks fast völlig. Wie ist die Situation in Lateinamerika, Asien, Afrika einzuschätzen? Das von Juan J. Linz entwickelte analytische Instrumentarium wäre hier wohl sinnvoll umsetzbar. Aber auch historisch-vergleichende Studien könnten einen wichtigen Beitrag zur politischen Orientierung in der Gegenwart leisten. Konrad Löw
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Einführung
SIEGFRIED MAMPEL
Versuch eines Ansatzes für eine Theorie des Totalitarismus* Wir stehen nach meiner Meinung vor der Tatsache, daß es zur Zeit noch keine überzeugende Theorie des Totalitarismus gibt. Die Begründer der Totalitarismuslehre, Carl J.Friedrich und Hannah Arendt, auch Zbigniew Brzezinski, haben große, unzweifelbare Verdienste, empirische Befunde aus ihrer Zeit, der Zeit des Nazismus und des Stalinismus, zusammengetragen und als Merkmale des Totalitarismus festgestellt zu haben. Als im Laufe der Zeit das eine oder das andere Merkmal sich abschwächte oder sogar nicht mehr festzustellen war, entstand in der politischen Wissenschaft eine Richtung, die den Begriff des Totalitarismus als unbrauchbar abtat. Inwieweit dabei gar nicht das Streben nach neuen Erkenntnissen Pate gestanden hat, sondern die Tendenz, etwas zur Entschärfung des Ost-West-Gegensatzes zu tun, mag dahinstehen. Auf jeden Fall war es voreilig, die Totalitarismuslehre in Bausch und Bogen abzutun, oder zu meinen, sie sei nur für vergangene Systeme akzeptabel. Richtig an der Kritik war jedoch, daß die Totalitarismuslehre es schwer hatte, Änderungen in bestehenden totalitären Herrschaftssystemen zu deuten. Ursächlich dafür ist, daß es an einer Theorie mangelt, die auch veränderten Verhältnissen Rechnung tragen konnte. Gerade in einer Zeit, in der sich eine neue Entwicklung in der Sowjetunion mit noch nicht abzuschätzenden Ergebnissen abzeichnet, ist dieser Mangel besonders bedauerlich. Es kann nicht Aufgabe einer Begrüßung sein, dazu Näheres auszuführen. Einige Bemerkungen seien aber gestattet. Es scheint mir bisher, soweit ich es überblicke, nicht genügend zwischen den Konstanten und den Variablen in den essentiellen Merkmalen des Totalitarismus unterschieden worden zu sein. Nach meiner Überzeugung ist ein konstantes Essentiale des Totalitarismus eine auf die Dauer angelegte, ungehemmte und unkontrollierte Machtausübung. Variabel ist der Träger, also ob die Macht von einem einzelnen, von einer Gruppe (einem Kollektiv) oder vielleicht von religiösen Würdenträgern oder einer Bürokratie ausgeübt wird. Dieses Merkmal teilt der Totalitarismus mit dem Autoritarismus. Zum Totalitarismus gehört aber ein zweites Essentiale, das diesen vom Autoritarismus unterscheidet. Es besteht darin, daß die Machtstellung sich nicht in der Herrschaft über den Staat erschöpft, sondern den Raum der Gesellschaft ergreift und damit auch die Stellung des einzelnen in der Gesellschaft und zum Staat bestimmt. Der einzelnen soll nicht nur gehorchen - das soll er in einem autoritären System auch, sondern er soll zum " Aus der Begrüßung der Teilnehmer der vierten Tagung der Fachgruppe Politische Wissenschaft am 25. und 26. Februar 1987 in der Universität Bayreuth durch den Vorsitzenden der Gesellschaft für Deutschlandforschung (überarbeitete Fassung).
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Mittun, nicht nur zum passiven Dulden der Machtausübung, sondern zu ihrer aktiven Bejahung, zu einem Handeln in der Überzeugung von der Richtigkeit der von den Inhabern der Macht aufgestellten Ziele veranlaßt werden. Er soll dazu gebracht werden, alles das zu verinnerlichen, was ihm die Inhaber der Macht als das Richtige und Notwendige suggerieren. Jedes sich auf eigene Überlegungen gründende, kritische Denken soll ausgeschaltet werden. Der Mensch wird als ein der Außenleitung bedürftiges Wesen begriffen, die ihm gegeben werden muß. Das Ergebnis soll ein gleichgerichtetes Denken aller Menschen in einer Gesellschaft sein. Andersdenkenden wird bestenfalls die Rolle von Außenseitern, schlimmstenfalls von Feinden der Gesellschaft zugewiesen. So sollen die Menschen zu höchsten Leistungen im Interesse der Machthaber getrieben werden. Deren Interessen werden mit den Interessen der Allgemeinheit identifiziert. Freilich führen die Bemühungen der Machthaber um die Gleichschaltung des Denkens vielfach nur dazu, daß die Menschen in einem totalitären System sich nur so verhalten, als ob sich ihr Denken an die Wünsche der Machthaber angepaßt hat. Von außen kann schwer entschieden werden, ob diese aus Überzeugung oder aufgrund einer Anpassung das tun, was die Machthaber von ihnen verlangen. Erschwert wird die Beurteilung dadurch, daß die Machthaber Veranstaltungen durchführen, die die Übereinstimmung im Denken dokumentieren sollen. Dem System wird ein demokratischer Mantel umgehängt. Die Art der Veranstaltungen ist variabel. Die wichtigste Art sind Wahlen zu den Volksvertretungen. Da sie indessen keine Auswahl unter politischen Richtungen, sondern allenfalls unter Personen derselben Richtung ermöglichen, ist der Schluß zwingend, daß die Machthaber es nicht darauf ankommen lassen, den Erfolg ihrer Bemühungen um ein einheitliches Bewußtsein der Menschen auf die Probe zu stellen. Es gibt jedoch auch andere Veranstaltungen, mit deren Hilfe dargetan werden soll, daß die Menschen den Willen der Machthaber teilen. Dazu gehören Aufmärsche, Massenkundgebungen, Geldsammlungen und ähnliches. Variabel sind vor allem die Mittel zur Verwirklichung beider Essentiale. Sie dienen entweder zur Durchsetzung des einen oder des anderen, meist jedoch beider zugleich. Eine besondere Rolle spielt dabei eine Heilslehre mit Ausschließlichkeitsanspruch. Sie kann eine Ideologie sein oder Teil einer Weltanschauung oder religiöser Vorstellungen sein, ist ihrem Inhalt nach also variabel. Ein weiteres Mittel ist die Durchorganisierung des gesellschaftlichen Bereichs, von einem Kern ausgehend mit abnehmender Intensität nach außen, die Schaffung einer monistischen Gesellschaftsstruktur. Der Kern wird von einer zentral geführten straffen Organisation gebildet, die in der Regel als Partei bezeichnet wird. Indessen kann es auf diese historisch zu erklärende Bezeichnung nicht ankommen. Der Kern kann auch religiöser Natur sein (Ayatollahregime im Iran). Um den Kern gruppieren sich andere Organisationen mit Massencharakter, die vom Kern geleitet und mehr oder weniger fest zusammengehalten sind (Massenorganisationen, wie der FDGB in der DDR, bis zu den allumfassenden "Fronten", wie die Nationale Front der DDR). Wesentliches, aber nicht alleiniges Ziel der Durchorganisierung der Gesellschaft ist die Verbreitung der Heilslehre, in erster Linie durch "Schulung", "Bewußtseinsbildung", also durch Propaganda. Indessen verläßt sich ein totalitäres System nicht auf dieses auch in pluralistisch-demokratischen und freiheitlichen System übliche und legitime Mittel. Zur Verwirklichung der Essentiale werden zahlreiche andere Mittel bereitgehalten und ver14
wendet, wenn die Propaganda nicht zum gewünschten Erfolg führt. Diese Mittel sind variabel. Sie brauchen nicht immer in gleicher Stärke eingesetzt werden. Es kann durchaus sein, daß das eine zugunsten eines anderen in den Hintergrund tritt. Die Intensität des Einsatzes dieser Mittel richtet sich nach den Aussichten ihrer Effektivität. Dabei wird sicher das mildere Mittel dem schärferen der Vorzug gegeben, solange es Erfolg verspricht. Zu prüfen bleibt, ob nicht das eine oder das andere Mittel vielleicht gar nicht eingesetzt wird, ohne daß dadurch ein System den totalitären Charakter verliert. Zu diesen Mittel gehören die Drohung mit dem und der Einsatz des Staatsapparates, also etwa die Existenz einer Geheimpolizei und deren Wirken und/ oder eine politische Justiz, also der Terror, ebenso, wie ein Nachrichtenmonopol, das aber nicht so strikt sein muß, daß es auch den Empfang von Medien aus dem Ausland verbietet. Das Waffenmonopol war dagegen niemals als ein besonderes Merkmal eines totalitären Systems anzusehen, da es auch demokratisch-pluralistischen, freiheitlichen Systemen mit Gewaltenteilung eigen ist. Zu den Mittel sind ferner zu rechnen die der Verlockung (Auszeichnungen, Prämien, Beförderungen für Verdienste um die Erhaltung und Festigung des Systems) sowie des sozialen Drucks, ein empirisch noch nicht ausreichend untersuchtes Phänomen in einer unter dem Aspekt des Totalitarismus zu untersuchenden Gesellschaft. Konstante und Variable können auch in der Wirtschaft eines totalitären Systems festgestellt werden. Konstant ist die Herrschaft über die Wirtschaft. Variabel sind die Eigentumsverhältnisse. Der Nazismus hat gezeigt, daß Herrschaft über die Wirtschaft (Leitung und Planung auch bei Privateigentum an den Produktionsmitteln) möglich ist. Es ist dazu nicht Staatseigentum an diesen notwendig, wie es in den Staaten des "real existierenden Sozialismus" besteht. Freilich kann Staatseigentum an den Produktionsmitteln ein besonders wirksames Mittel sein, um Druck auszuüben, wenn es so organisiert ist, daß Staatsapparat und Arbeitgeber identisch sind. Mehr als ein Ansatz konnte in einer Begrüßung nicht geboten werden. Es bleibt die Hoffnung, daß er fruchtbar sein möge.
1S
Zum Totalitarismusbegriff
2 Löw, 2. A.
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KARL DIETRICH BRACHER
Die Aktualität des Totalitarismusbegriffes I. Es ist sehr zu begrüßen, daß wir mit dem vorliegenden Band Gelegenheit haben, die interdisziplinäre Diskussion über Begriff und Realität des modernen Totalitarismus fortzuführen. Schon der Begriff ist ja in den letzten zwei Jahrzehnten auch in der westlichen Welt weithin als bloße Ausgeburt des Antikommunismus verdächtigt und als unwissenschaftlich angefochten worden, wobei neben den alten und neuen Kontroversen um die Ost-West-Entspannung nun auch noch der wieder aufgeflammte "Historikerstreit" um die Vergleichbarkeit kommunistischer und nationalsozialistischer Zwangssysteme und Diktaturregime eine Rolle spielt. Gerade wenn es um die Aktualität des Totalitarismus geht, verbietet sich allerdings jede kurzatmige Polemik nach Art jenes Streits, der mir allzu sehr personalisiert und politisiert erscheint. Vielmehr handelt es sich um eine nun schon lange und facettenreiche historische Erfahrung, die zu berücksichtigen ist, will man im Gewirr der Sentiments und Ressentiments, der Systemanalysen und Glaubensformeln die Substanz und die Probleme des Begriffs ausloten, der seit den 60er Jahren wie kaum ein anderes Schlüsselwort der Zeitgeschichte schon bei Erwähnung sogleich zu schärfsten politisch-ideologischen Reaktionen geführt hat: vergleichbar höchstens den ähnlich aufgeladenen Begriffen des Antifaschismus und Antikommunismus. In Wahrheit gehört die Auseinandersetzung um Begriff und Wirklichkeit des Totalitarismus zu den großen umstrittenen Themen unseres Jahrhunderts. Sie ist jedenfalls kein Produkt oder Erbstück des Kalten Krieges nach 1945, wie heute oft behauptet wird. Vielmehr beginnt sie mit der Formierung rechts- und linksradikaler Ideologien als politische Religionen um die Jahrhundertwende und findet schließlich zuerst mit der Machtergreifung Mussolinis in Italien 1922/23 ihren Begriff - ist also so alt wie ich selbst und begleitet das Leben meiner Generation. Angetrieben von den zugleich demokratisierenden und mobilisierenden Wirkungen des Ersten Weltkriegs, entbrennt dieser Streit und wird "griffig", verlangt nach dem Begriff in dem Augenblick, da der neuen revolutionären Diktatur Lenins in der Sowjetunion eine diktatorische Alternative gegenübertritt, die mit ähnlichen Mitteln - ob nun als gegenrevolutionär oder nicht verstanden - die Herrschaft beansprucht, und zwar in einem totalen, "totalitären" Sinne nicht nur über Staat und Gesellschaft, sondern selbst über das Denken und Glauben der Bürger. Zuerst von den demokratischen Gegnern des "Duce" als Kritik geprägt, wurde der Begriff aber von diesem zur Selbst bezeichnung aufgenommen: tutto nello stato, niente fuori dello stato, feroce volonra totalitaria* die Schlagworte Mussolinis. .. "Alles im Staat, nichts außerhalb des Staates, wilder (grausamer) totalitärer Wille". Zur Entstehung der Begriffe besonders Jens Petersen, in: M. Funke (Hrsg.), Totalitarismus, Düsseldorf 1978, S.105·128; und Helmut Goetz, "Über den Vorsprung des Totalitarismusbegriffs", in: Neue Zürcher Zeitung Nr.73, 28./ 29.3.1976, S. 25.
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Seither wird nun allerdings auch immer von neuem diskutiert: ob der Terminus wissenschaftlich überhaupt verwendbar oder nicht ein bloßer Kampfbegriff sei, und ob er nicht auf eine bestimmte historisch-politische Konstellation (und auf bestimmte Staaten) beschränkt, also nach dem Ende des faschistischen und des nationalsozialistischen Systems und dem Wandel des Kommunismus nach Stalin noch zutreffend und aktuell sei. Das eigentlich Kontroverse freilich ist der Vergleich: an ihm entzündet sich recht eigentlich der Streit, sofern der Links-Rechtsvergleich den Totalitarismus als Kampfbegriff ermöglicht und politisch-moralische Entrüstung hervorruft, wenn die Totalitarismusanalyse scheinbar diametral verschiedene, tödlich verfeindete Bewegungen und Regime als ähnlich entlarvt oder doch diskreditiert. Aber der entscheidende Punkt in der Frage nach der Aktualität scheint mir zu sein, daß der Totalitarismus einhergeht, ja aufs engste verknüpft ist mit dem Aufstieg der modernen Demokratie. Er ist das politische Phänomen des 20.Jahrhunderts (Gerhard Leibholz). Es mag strittig sein, wenn ein Historiker wie Jacob Talmon mit seinen umfassenden Forschungen bis zur Radikalisierung der Französischen Revolution und zu Rousseau zurückgeht, um das Konzept einer "totalitären Demokratie" ausfindig zu machen. Aufschlußreich ist jedenfalls ein Blick auf Tocqueville, den scharfsinnigen Beobachter der Heraufkunft einer egalitären Massendemokratie. Denn Totalitarismus war wohl das Wort, das Tocqueville suchte, als er vor 150 Jahren vorausschauend schrieb: .Darum denke ich, daß die Art der Unterdrückung, die die demokratischen Völker bedroht, in nichts der früheren in der Welt gleichen wird; unsere Zeitgenossen könnten deren Bild in ihrer Erinnerung nicht finden. Ich suche selbst vergeblich nach einem Ausdruck, der genau die Vorstellung, die ich mir davon mache, wiedergäbe und sie enthielte; die früheren Worte Despotismus und Tyrannei passen dafür nicht. Die Sache ist neu, ich muß also versuchen, sie zu umschreiben, da ich sie nicht benennen kann.·
Heute können wir sie benennen und sollten uns nicht erneut scheuen, dies zu tun, nur weil einige Formen sich ändern oder verhüllt werden - und weil es unbequem ist, die Sache beim Namen zu nennen und sich dabei dem Vorwurf des Antikommunismus auszusetzen.
11. Betrachten wir aber zunächst einmal das Wesen jener neuen, totalitären Regime, die mit den klassischen Typen des Despotismus und der Autokratie nicht mehr zu erfassen sind und auch keinen bloßen Rückfall in traditionelle Formen vordemokratischer Herrschaft darstellen, sondern als post- oder pseudodemokratische Diktaturen etwas durchaus Neues bedeuten. Die autoritäre Welle der Zwischenkriegszeit, der Ruf nach einem "starken Mann", dem Führer oder Diktator war die eine Voraussetzung. Die andere aber boten die gesteigerten Möglichkeiten, die das technisierte Massenzeitalter zur Erfassung und Gleichschaltung des Lebens und Denkens aller Staatsbürger schuf. Denn im Unterschied zu älteren, gleichsam konventionellen Formen von Diktatur und Militärregime wird nun der Anspruch auf Totalität der Herrschaft und Unterwerfung, ja auf eine vollständige Iden· 20
tität von Führung und Partei-Bewegung, von Volk und Individuum, von Allgemein- und Einzelwillen erhoben. Und dies ist nur durchzusetzen, wenn schärfste politische Kontrolle und Terror durch die Fiktion einer solchen identitären Ordnung legitimiert werden und der Glaube an eine absolut gesetzte Ideologie verbindlich gemacht wird, als angeblich "freiwillige" Zustimmung - aber bei Strafe des Lebens. Marxistischleninistisches Dogma vom Klassenkampf oder faschistisch-nationalsozialistische FreundFeindlehre vom Völker- und Rassenkampf waren solche totalitären Ideologien, die alle Herrschaftsakte rechtfertigen, selbst Massenverbrechen und Völkermord: ob dies nun im Namen des Volks-, Partei- oder Führerwillens geschah, ob es pseudodemokratisch und pseudolegal oder. revolutionär und messianisch-chiliastisch stilisiert war wie in den Zukunftsmythen eines klassenlosen Arbeiterparadieses oder eines"Tausendjährigen Reiches". Auch die Wirkung pseudoreligiöser Bedürfnisse und Manipulationen in einer Zeit des Verfalls und Vakuums religiöser Werte ist wichtig: so der inbrünstige Glaube an Adolf Hitler, aber auch an Symbole und Riten der Massenversammlung, die das emotionale Erlebnis der Gemeinschaft vermitteln sollen.
Der Totalitarismus als Möglichkeit und Versuch, der gewiß nirgends ganz, aber doch so weit zu verwirklichen war, daß er normalen Bürgern die grausigsten Verbrechen zumuten konnte, zielte auf Beseitigung aller persönlichen, vorstaatlichen Freiheitsrechte und auf Auslöschung des Individuums. Aber zugleich erweckten diese Regime den Eindruck, daß sie besser und effektiver als alle bisherigen Staats- und Gesellschaftsformen die wahre Bestimmung des Menschen, ja die wahre Demokratie und den perfekten W ohlfahrtsstaat realisieren könnten. Diese Verführungskraft war mit Mitteln moderner Technik, Propaganda und Kommunikation besser zu verbreiten als je zuvor in der Geschichte. Bei allen Unterschieden zwischen Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus zeigen sich in jedem Fall drei große charakteristische Tendenzen: - Die möglichst totale Herrschaftsverfügung einer einzigen, eben totalitär organisierten Partei und ihrer Führung, die mit den Attributen der Unfehlbarkeit und dem Anspruch auf pseudoreligiöse Massenverehrung ausgestattet sind. Nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts kann sich die Machtergreifung einer solchen totalitären Partei nicht nur, in der gleichsam klassischen Weise, über die revolutionäre Putschaktion einer militanten Minderheit (russische Oktoberrevolution 1917), sondern auch auf dem Weg der Aushöhlung, des Mißbrauchs und der scheinrechtlichen Manipulation demokratischer Institutionen (pseudolegale Machtergreifung des Nationalsozialismus 1933) vollziehen. Alle anderen Parteien und Gruppen, die das politische und gesellschaftliche Leben repräsentieren, werden in der Folge entweder durch Verbot und Terror vernichtet oder durch Irreführung und Gewaltdrohung gleichgeschaltet, d. h. zu willenloser Scheinexistenz in Scheinwahlen und Scheinparlamenten erniedrigt, wie in den kommunistischen "Volksdemokratien" mit den Einheitslisten einer "Nationalen Front"). Der totale Einparteienstaat stützt sich dabei auf eine militante Ideologie, die gleichsam als "Ersatzreligion ", als Heilslehre mit politischem Ausschließlichkeitsanspruch die Unterdrückung jeder Opposition und die totale "Ausrichtung" des Staatsbürgers sowohl historisch wie zukunftsutopisch zu begründen und zu rechtfertigen sucht. So 21
verschieden geschichtlicher Hintergrund, politische Gestaltungsziele und ideologische Doktrin bzw. Gedankenführung der totalitären Systeme sein mögen, so treffen sich russischer Bolschewismus, italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus doch in der Technik allgegenwärtiger Überwachung (Geheimpolizei), Verfolgung (Konzentrationslager) und massiver Beeinflussung bzw. Monopolisierung der öffentlichen Meinung. Die bedingungslose Zustimmung der Massen wird mit allen Mitteln moderner Propaganda- und Werbetechnik manipuliert; gemäß den Erkenntnissen der neueren Massenpsychologie geht es um die Erzeugung einer permanenten Kampfstimmung, die gegen einen absolut gesetzten Feind gerichtet wird, wobei sowohl die "positiven" Schutz- und Begeisterungsbedürfnisse wie die "negativen" Furcht- und Zwangsvorstellungen der Massen mobilisiert und zur Herrschaftsbefestigung eingesetzt werden. Mit überdimensionalen Kundgebungen und Aufmärschen wird das rigoros gelenkte Bewegungs-, Spannungs- und Unterhaltungsbedürfnis befriedigt; die einseitige Organisation aller Lebensbereiche vermittelt zugleich ein Gefühl der Geborgenheit, erzwingt die Unterwerfung des einzelnen unter die "Gemeinschaft" des Kollektivs und ersetzt die rechtsstaatliche Legitimierung durch ein System der scheinlegalen Zustimmung. Mit dem Anspruch auf völlige Verfügung über Leben und Glauben seiner Bürger negiert der totale Staat jedes Recht auf Freiheit, jeden letzten Wert und Zweck neben sich selbst, er begreift sich als alleinverbindliche "Totalität aller Zwecke". Wesentlicher Bestandteil der totalitären Herrschaftsideologie ist der Mythos von der höheren Effektivität eines solchen totalen Kommandostaates gegenüber dem komplizierten, durch mannigfache Kontrollen und Sicherungen eingeschränkten demokratischen Rechtsstaat. Die totalitäre Ideologie beruft sich dabei auf die Möglichkeit wirtschaftlicher und sozialer Gesamtplanung (Vier- oder Fünfjahrespläne), auf die schnellere politische und militärische Reaktionsfähigkeit oder auf die Gleichschaltung politisch-administrativer Prozesse und die größere Stabilität aus diktaturförmiger Staatsführung. Dieser weitverbreiteten Auffassung entspricht die Wirklichkeit totalitärer Herrschaftspolitik jedoch nur sehr bedingt. Ständige Rivalitäten innerhalb der totalitären Partei und ihrer Führungsgremien, ein unlösbarer Dualismus zwischen Partei und Staat und die Willkürakte einer unkontrollierten, mit Kompetenzen überladenen Zentralinstanz wirken der Perfektion eines nach dem Vorbild militärischer Kommandostruktur gestalteten Befehlsstaates entgegen. In diesem Zwangssystem werden partielle Verbesserungen eben durch einen gewaltigen Verlust an Bewegungsfreiheit, rechtlicher Ordnung und menschlicher Substanz erkauft, womit doch letztlich auch das vorgegebene Ideal vollkommener Sicherheit und Richtigkeit ad absurdum geführt wird. Das Scheitern des Faschismus und des Nationalsozialismus und die politisch-ökonomischen Modernisierungsprobleme des Kommunismus nach Stalin lassen erkennen, daß totalitäre Herrschaftssysteme keineswegs höhere Krisenfestigkeit und wirksamere "Ordnung" verbürgen. Eine kontrollentzogene Zwangsordnung gestaltet vielmehr die Ausübung und das Ergebnis politischer Machtkonzentration auf die Dauer unendlich verlustreicher als das scheinbar schwerfälligere Gewaltenteilungsund Kompromißverfahren eines demokratischen Rechtsstaats. Das zeigt auch noch in unseren Tagen die Katastrophe von Tschernobyl (Informationsmonopol, Kontrollmangel, Lenkung der Bevölkerung). 22
111. Auf dieser Erfahrung, vermehrt um die bedrohliche Anschauung des stalinistischen Systems in ganz Osteuropa, beruhte denn auch der dezidiert antitotalitäre K9nsens, der nach dem Z weiten Weltkrieg die Rekonstruktion der freiheitlichen Demokratie zumal in Westeuropa und Westdeutschland ermöglicht hat. Aber dann kam die neue Entzweiung der 60er und 70er Jahre. Der Generation von 1968 schien es nicht nur möglich, sondern geradezu notwendig, mit dem Schwinden der abschreckenden Erfahrung des AltTotalitarismus die antitotalitäre Ausrichtung der westlichen Gesellschaft überhaupt abzuwerfen. Wenn sie nicht gar die Notwendigkeit von Herrschaft selbst in Frage stellte, verdrängte oder bagatellisierte diese revisionistische Tendenz jedenfalls den grundlegenden Unterschied zwischen den politischen Systemen von Demokratie und Diktatur. Gleichzeitig suchte man in der Terrorismusdiskussion den Gewaltbegriff zu entgrenzen, das Gewaltmonopol dem demokratischen Staat zu entwinden. Und dies war nicht ein harmloses Experiment, sondern konnte zu einer bedenklichen Selbstentwaffnung führen; die ideologisch motivierte Tabuisierung des Totalitarismusbegriffes selbst gehört zu solchen Selbstgefährdungen und Schwachstellen der Demokratie in den siebziger Jahren. Denn nicht das Verschwinden der pseudodemokratischen Diktaturen, sondern gerade ihre Häufung in allen Kontinenten führte dazu, sie nicht mehr beim Namen zu nennen. Das gilt vor allem auch für die kommunistischen Systeme, die sich schon immer gegen die Bezeichnung "totalitär" verwahrt hatten (dabei zugleich jeden "Reformismus" gegen die Allmacht des Systems ungerührt verdammten), und es sich nun gern gefallen ließen, im Namen von Entspannung und Zusammenarbeit gleichsam "enttotalisiert" zu werden, auch wenn sich am totalitären Monopol von Partei und Geheimdienst, von Nomenklatura und Ideologie nichts prinzipiell, nur Graduelles änderte. Die siebziger Jahre sind also vor allem auch geprägt vom Ringen um das Demokratieverständnis. Die Auseinandersetzung mit totalitären Mächten und Tendenzen wird von der Entspannungseuphorie verdrängt. Eine weitere Phase setzte gegen Ende dieses Jahrzehnts ein, als die sich verschärfende Wirtschaftskrise mit dem letzten Höhepunkt des Terrorismus und dem Auftreten zivilisationskritischer Ideologien und Bewegungen zusammentraf. Der Aufschwung von alternativen und ökologischen Überzeugungen zusammen mit pazifistischen und neutralistischen Bewegungen, die Neubelebung eines angeblich dritten Weges zwischen den Fronten, jenseits der parlamentarischen Demokratie und auch der Industriegesellschaft - all dies brachte, wie Kurt Sontheimer sagt, einen "Hauch von Totalitarismus", einen politisch-moralischen Rigorismus auf den Plan, der teilweise an selbstzerstörerische Strömungen der zwanziger Jahre und danach erinnerte. Jedenfalls ist unsere Problematik wieder in ein verändertes Licht gerückt: Wir leben heute nicht mehr in den Zeiten erfolgsgewisser Entideologisierung, sondern neuer Unsicherheiten und Angstphilosophien. Nun geht es nicht mehr wie bei der Bewegung von 1968 um optimistische Fortschrittsgedanken, die einst liberale und sozialistische Emanzipationsideen emporgetragen hatten, auch nicht um national-imperiale Expansionsideen, sondern um eine Kultur- und Gesellschaftskritik im Zeichen antistaatlicher Gemein23
schaftsideale. Die Klagen über eine allzu rationale Fortschrittsgesellschaft nähren neoidealistische und irrationalistische Utopien vom heilen Leben. Bedürfnisse dieser Art haben sich totalitäre Bewegungen seit je zunutze zu machen gewußt. Sie treten heute vor allem wieder in pseudoreligiöser Form auf. Nicht nur ist ein Drittel der Weltbevölkerung kommunistischen Systemen unterworfen, die nach wie vor auf totalitären Ansprüchen und Fiktionen wie der von der Identität zwischen Regime und Volk beruhen. Das Vordringen fundamentalistischer Bewegungen wie der islamischen Erneuerungsrevolution und die Erfolge von Sektenbewegungen in westlichen Demokratien zeigen die Stärke des ideologischen Verführungspotentials. Es erwächst nach wie vor oder erneut und nun weltweit aus der Krise im Gefolge von Säkularisierung und Modernisierung. Über zwei Drittel der Menschheit herrschen Diktaturen, und zur Hälfte totalitäre. Noch ist das Jahrhundert nicht zu Ende, das mit schrecklichem Recht nicht zuletzt auch das Jahrhundert des Totalitarismus genannt werden muß.
IV. An drei aktuellen Ansatzpunkten wird die fortbestehende Aktualität totalitärer Versuchung deutlich: Die weitere Technisierung unseres Lebens perfektioniert auch die Fähigkeit zur Überwachung und Manipulierung: Massenmedien und Datentechnik im Computer-Zeitalter können zugleich die Freiheit im bürokratischen Wohlfahrtsstaat gefährden, der immer größere Erwartungen und damit auch Kompetenzen auf sich zieht. Mehr denn je kommt es daher auf das politische System an. Denn nach wie vor erleben wir die im Konsensgedanken enthaltene "Dialektik" von pluralistischer Demokratie und totalitärer Ideologie (Ulrich Matz). Sie zeigt sich in den immer neuen RousseauRenaissancen mit ihrem antipluralistischen Glauben an den wahren Gemeinwillen, an die wahre Volksherrschaft als Alternative oder Umschlag zu "bloßer" Parteiendemokratie. Eine stete Gefahr bilden auch einseitig plebiszitäre Denkmodelle. - Der Spät-Totalitarismus in kommunistischen Systemen ist trotz Anfechtung der Ideologie noch immer mächtig genug, jede Opposition von Dissidenten zu ersticken, wenn das gerade zweckmäßig erscheint. Eine neue Untersuchung über Sowjetrecht und Sowjetwirklichkeit (Otto Luchterhand) macht deutlich, daß zwar die wirtschaftlichen und sozialen Rechte besonders herausgestellt werden, aber auch hier Theorie und Praxis weit auseinanderklaffen. Vollends gilt dies für die politischen Rechte. Rigoros eingeschränkte Meinungsfreiheit, Geheimhaltung der Rechtsakte, Pflicht statt Recht zur Partizipation, Akklamation statt Wahl, Fehlen des Begriffs der Menschenrechte, keine Begrenzung der Staatsrnacht, sondern deren Glorifizierung, Religionseinschränkung, kein Habeas Corpus, sondern psychiatrische Kliniken für Andersdenkende, keine fairen Strafprozesse, sondern Drohung des Gulag, Willkür und äußerste Ungleichheit zwischen Privilegiertenklasse und terroristischer Verfolgung von Dissidenten - kurz, statt Bürgerrecht ein Untertanenstaat, über dem nach wie vor (durchaus totalitär) das Wahrheitsmonopol der Partei und die Forderung nach voller Hingabe an das System steht. Die so oft erwartete, erhoffte Liberalisierung bleibt stets widerrufbar, auch wenn sich die Herrschaftsformen verfeinern. Und doch ist keine 24
Ideologie weiter verbreitet als der Kult des Leninismus. Er herrscht über ein Großteil der Menschheit und wirkt auf revolutionäre Jugend- und Befreiungsbewegungen in allen Kontinenten. Alle Ideen und Bewegungen mit absoluter, unilateraler Zielsetzung sind auch heute potentiell totalitär, sofern ihnen der Zweck die Mittel heiligt und sie den Glauben verbreiten, daß es einen Schlüssel zur Lösung aller Probleme hier auf Erden gäbe. Durch einseitigen, fanatischen Sendungsglauben und sozialutopische, gewaltträchtige Perfektionstheorien unterminieren sie heute wie einst pluralistische Demokratien und ihre auf gegenseitiger Toleranz beruhenden Methoden liberaler, parlamentarischer Politik. Demokratie· heißt Selbstbeschränkung, Ideologie Selbstüberhöhung, und diese gewinnt leider immer wieder die Oberhand über jene. Denn immer wieder geschieht mit der Ideologie von der" wahren" Demokratie ein fataler" Umschlag von der Emanzipation zum Despotismus" (Klaus Hornung). Die entscheidende, zweifelnde Frage bleibt, ob der Mensch wirklich einen Drang zur Freiheit habe und ob er der Freiheit gewachsen sei. Oder ob er nicht immer wieder Führer, Systeme und Ideologien suche, die ihn von seiner Freiheit befreien und in Dienst nehmen: eine politische Religion also, die ihm die Ungewißheit über Gut und Böse, Sinn und Sinnlosigkeit nimmt. Dabei mögen sich Fortschritts- und Aberglaube, Wissenschaftskult und Lebensangst seltsam vermischen: am stalinistischen Terror und vor allen an der nationalsozialistischen Judenverfolgung haben wir exemplarisch erlebt, was pseudowissenschaftlicher ideologischer Wahn vermag, wenn er totalitäre Herrschaftsmittel gewinnt und die totale Idee vor die Beachtung der Menschenrechte rückt. Und wenn vor allem der grundlegende Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur vernachlässigt wird - und sei es für noch so wünschenswerte Zwecke -, dann entsteht die schon für Tocqueville ja so charakteristische Voraussetzung des Totalitarismus, daß er nämlich gerade als eine optimale Synthese beider Prinzipien, des demokratischen und des diktatorischen erscheinen kann. Man denke nur an den marxistischen und leninistischen Demokratiebegriff in seiner Verbindung mit der Diktatur des Proletariats und der Monopartei, aber auch an die so bezeichnende Vermengung der beiden Elemente im scheinlegalen Übergang von der Weimarer Republik zur nationalsozialistischen Diktatur mit den betont plebiszitären Legitimationsansprüchen: die paradoxe "legale Revolution" ist nicht zuletzt Ausdruck solch täuschender Zweigleisigkeit. Wer wollte behaupten, daß die pseudodemokratische, pseudoplebiszitäre Selbst bedrohung der Demokratie heute obsolet geworden sei; sie ist es so wenig wie die weltweite Ansteckungskraft der linken Version, der leninistischen, zu der sich nach wie vor auch der Reformkommunismus bis hin zu Gorbatschow bekennt. Die totalitäre Bedrohung oder Verführung ist nicht am Ende, die Demokratie bleibt darauf angewiesen, daß ihre totalitäre Erfahrung seit Lenin/Stalin und Hitler nicht preisgegeben wird.
v. Zum Schluß noch einige zusammenfassende Anmerkungen zur heutigen Diskussion: Alle Gründe zur Beseitigung des Totalitarismusbegriffs sind unzureichend, solange man nicht ein besseres Wort für die Sache findet: autoritär oder faschistisch trifft sie nicht und ist noch verschwommener und allgemeiner. 25
Die Verwerfung des Begriffs geht vor allem von denen aus, auf die er zutreffen mag so wie andererseits von "Demokratie" öfters gerade dort die Rede ist, wo von Demokratie keine Rede sein kann. Folgen der Modernisierung und technischer Fortschritt sind als Bedingung wie als Problem für die totalitäre Versuchung ebenso wichtig wie Ideologisierung der Politik im Sinne politischer Religion als Religionsersatz. Die Intensivierung der Herrschaft geschieht durch Beseitigung aller Grenzlinien zwischen Staat und Gesellschaft und möglichst totale Politisierung der Gesellschaft - im Sinne eines Ausspruchs von Trotzki, Stalin könne mit Recht sagen: "La societe c'est mOl.."
Man mag einwenden, Totalitarismus sei eher eine Tendenz, eine Versuchung oder Verführung als eine definitive Staatsform, und der Begriff selbst habe semantisch eher etwas Beschwörendes als etwas Beschreibendes. Daher rührt in der Tat die Schwierigkeit der Klassifizierung: Totalitarismus ein Albtraum, ein Syndrom statt eines klar definierbaren Systems, deswegen aber nicht weniger wirksam und bedrängend für die betroffenen Menschen. Der Versuch in den vergangenen zwei Jahrzehnten, den Totalitarismusbegriff loszuwerden, ist durchaus gescheitert; das zeigt jede Aufzählung der Ersatzbegriffe (etwa Neofeudalismus, eingeschränkter Pluralismus, Welfare-Autoritarismus usw.), die entweder nicht anwendbar oder selbst zu vage und allgemein sind, jedenfalls den Raum in der vergleichenden Herrschaftslehre nicht voll erfassen oder abdecken, den das Phänomen einnimmt. Zentrale monopolistische Ideologie und Massenpartei fehlen in autoritären Diktaturen, andererseits haben die Erwartungen eines posttotalitären Kommunismus nach Stalin getrogen, ebenso auch die Hoffnungen auf glatte Übertragung der Demokratie in Entwicklungsländer. Der Bedarf nach einem Totalitarismusbegriff bleibt, und damit beantwortet sich auch die Frage, ob es heuristisch besser wäre, das Konzept abzuschaffen oder es weiter zu verbessern. Dies hieße zugleich aus der Geschichte lernen. Denn im Unterschied zu den Zeitgenossen eines Tocqueville und eines Kar! Marx und zu der Generation des Ersten Weltkriegs wissen wir heute von jener Selbst bedrohung der Demokratie und können ihr rechtzeitig wehren: nicht zuletzt indem wir uns nicht scheuen, das Phänomen oder die Tendenz beim Namen zu nennen, bei jenem Namen, den Tocqueville noch suchte und der unentbehrlich bleibt, solange und so gewiß die Möglichkeit ideologischer Verführung und scheindemokratischer Rechtfertigung totalitärer Diktatur fortdauert. Denn die Macht und Anziehungskraft ideologischen Denkens beruht auf dem hier pseudoreligiösen Bedürfnis des Menschen nach dem Absoluten, also nach einer" wahren Demokratie", die alle Probleme in einer identitären Aufhebung der Gegensätze und Konflikte von Regierung und Regierten, von arm und reich, von Interessen und Normen, von Macht und Geist utopisch zu lösen verspricht. Immer dann steht übrigens auch die Grundlage gerade unserer Geistes- und Sozialwissenschaften in Gefahr, nämlich die Möglichkeit zur freien und pluralistischen Kritik nicht zuletzt des eigenen politischen Systems. Verführbarkeit und Erpreßbarkeit durch Sog
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und Druck gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch im wissenschaftlichen Denken, Reden und Schreiben - und zwar gerade im Vorfeld solcher Systeme, oft lange vor deren Durchsetzung, wie die Mitläufer nachher schmerzlich erfahren müssen. In der Tabuisierung von Begriff und Realität des Totalitarismus aber wiederholt sich eine Unterschätzung der Erfahrungen unseres Jahrhunderts, eine Bagatellisierung der Einsicht, "daß sich Pläne einer Erlösung durch Revolution zu Terrorregimen entwickeln, und daß die Verheißung einer perfekten unmittelbaren Demokratie in der Praxis die Form totalitärer Diktatur annimmt" (Talmon). So geht es auch heute wieder bei dem Streit um die Aktualität des Totalitarismus zugleich um die Verteidigung der freiheitlichen Demokratie gegen alte und neue Verführer.
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HANS-HELMUTH KNÜTTER
Der Totalitarismus in der schulischen und außerschulischen Politischen Bildung Ein chinesisches Sprichwort sagt: Erkenne Dich und Deinen Feind - dann wirst Du unschlagbar.
Was bedeutet dieser Spruch für die Politische Bildung und insbesondere für die Behandlung des Totalitarismusproblems? "Erkenne Dich" - das ist die Frage nach den Möglichkeiten und der Leistungsfähigkeit der Politischen Bildung. Nie dürfen wir den gerne verdrängten Gedanken aus dem Auge verlieren, daß Politische Bildung immer etwas mit Propaganda zu tun hat. Erinnern wir uns an die Entstehungsgeschichte der Bundeszentrale für Politische Bildung, die ursprünglich Bundeszentrale für Heimatdienst hieß und deren Vorläuferorganisation unter diesem Namen im Ersten Weltkrieg gegründet wurde. Heimatdienst - d. h. propagandistische Stabilisierung der inneren, der Heimatfront. Bis heute ist die Politische Bildung den Ruch des Propagandistischen, der Meinungsmanipulation nicht losgeworden. Daß diese Vorbemerkung im Hinblick auf die Behandlung des Totalitarismusproblems angebracht ist, liegt auf der Hand, denn wer sind die totalitären Mächte, deren Erkenntnis dem Sprichwort zufolge zur Unschlagbarkeit führt? Daß der Totalitarismusbegriff nicht nur wissenschaftliche analytische Bedeutung hat, sondern darüber hinaus selbst ein Politikum darstellt, ist so bekannt, daß es an dieser Stelle keiner weiteren Erwähnung bedarf. Die zu erringende Unschlagbarkeit kann deshalb darin bestehen, daß wir uns Möglichkeiten und die Erklärungskompetenz der T otalitarismustheorien deutlich machen, aber ihrer Mängel, Lücken und ihrer Weiterentwicklungsbedürftigkeit bewußt bleiben. Das alles soll hier im Hinblick auf das Unterrichtsmaterial gefragt werden. Welche orientierende, weiterhelfende Kraft hat das Bewußtsein, daß es totalitäre Ideen und Herrschaftsformen gibt? Die Politische Bildung richtet sich nicht an Fachleute, sondern sie hat die Aufgabe, auf dem Fundament wissenschaftlich exakter Aussagen zur Daseinsorientierung beizutragen. Das, was in den tiefen Kellern der Wissenschaft in Fässern dem gemeinen Verstande unzugänglich lagert, soll mit ihrer Hilfe für den Hausgebrauch auf Flaschen gezogen und der Allgemeinheit angeboten werden. Das ist nichts Minderes, sondern eine Aufgabe von höchster Verantwortung. Wie wird sie gelöst? Kritik und Selbstkritik haben an der Politischen Bildung in den letzten Jahren kaum ein gutes Haar gelassen. In den vergangenen Jahren sind zahlreiche Schulbuchuntersuchungen erschienen, die samt und sonders mit der Note mangelhaft abschlossen. Es handelte sich immer um Spezialuntersuchungen über das Bild der Frau, der Deutschlandpolitik, ja sogar des Versicherungswesens in sozialwissenschaftlichen Schulbüchern. Stets lautete das Fazit, daß die Darstellung quantitativ wie qualitativ zu wünschen übrig lasse. Allerdings waren weniger die Darstellungen als die Maßstäbe der Kritiker fehlerhaft. Es versteht sich von selbst, daß in einem Lehr- und Arbeitsbuch jedes Detailproblem nur kurz behandelt werden kann, wenn der Riesenstoff, der zum Gebiet der Politischen Bildung gehört, einigermaßen vollständig berücksichtigt werden soll. Deswegen waren hier
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nicht nur die Schulbücher zu behandeln, sondern auch Unterrichtseinheiten, auch didaktische Modelle genannt, die spezielle Probleme in einer methodisch-didaktisch aufbereiteten Form darbieten und ein Spezialproblem vertiefter behandeln können, als dies in einem umfassenden Schulbuch möglich ist. Zu berücksichtigen waren auch die Vorgaben durch ministeriell verantwortete Richtlinien, die Schulbuchautoren und Lehrer binden. Welche Wirkung, welchen Einfluß haben Richtlinien und Unterrichtsmaterialien? Die Wirkungsforschung ist in der Tat unterentwickelt. Zu vermuten ist, daß Richtlinien eine sehr geringe, Unterrichtsmaterialien eine etwas größere, aber dennoch nicht allzu hoch einzuschätzende Wirkung haben. Erheblich wichtiger dürfte der Einfluß von Lehrern sein. Auch hierüber gibt es viele Vermutungen, aber keine präzisen Aussagen. Hier sei das Ergebnis der folgenden Untersuchungen vorweggenommen: Die Behandlung des Totalitarismusproblems ist seit Jahrzehnten durch ministerielle Vorgaben geregelt. Mit sehr unterschiedlicher Qualität wird der Totalitarismus in Unterrichtsmaterialien berücksichtigt. Gerade in moderneren Materialien ist eine starke Zurückhaltung der Autoren zu beobachten, die wahrscheinlich auf den Totalitarismusstreit zurückzuführen ist. Man dokumentiert den Streit, nimmt aber keine Stellung. Diese Enthaltsamkeit hat für den Unterricht durchaus positive Folgen, da die Offenheit, das Vermeiden von Überwältigung des Schülers, die Vermeidung der Manipulation, der Mentalität heutiger Lehrer und Schüler entgegenkommt und somit in der Offenheit einen besseren Unterrichtserfolg gewährleistet, als eindeutige Meinungen erzielen würden, die als Indoktrination und Manipulation empfunden würden. Bei allen Mängeln, die im einzelnen aufzuzeigen sind, ist deshalb die Behandlung des Totalitarismusproblems in der Politischen Bildung keineswegs so unbefriedigend wie Schulbuch untersuchungen es ansonsten gerne unter der Überschrift "Das Elend der Politischen Bildung" weiszumachen versuchen. Das Totalitarismusproblem in Lehrplänen, Richtlinien und UnterrichtmaterialIen
Am 5. Juli 1962 faßte die Kultusministerkonferenz drei wichtige Beschlüsse: Rahmenrichtlinien für die Gemeinschaftskunde in den Klassen 12.-13. der Gymnasien; Empfehlungen zur Gestaltung der Lehrbücher für den Unterricht in neuester Geschichte und Zeitgeschichte; Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht.! In den Rahmenrichtlinien für die Gemeinschaftskunde findet sich unter den Themenvorschlägen an zweiter Stelle der Hinweis auf "die totalitären Ideologien und ihre Herrschaftsformen." Vier Punkte, nämlich die Russische Revolution 1917, die bolschewistische Staats- und Gesellschaftslehre, faschistische Bewegungen und der Nationalsozialismus, bieten die inhaltliche Umschreibung. Die Empfehlung zur Gestaltung der Lehrbücher sehen unter dem Punkt 5 vor, daß "die Lehrbücher alle' totalitären Erscheinungen und Tendenzen als die entscheidende Bedrohung unserer Welt kennzeichnen (sollen). Sie sollen die Auseinandersetzung der Demokratie mit dem Totalitarismus (besonders Nationalsozialismus und Kommunismus) und den Widerstandskampf freiheitlicher Kräfte darstellen". In Punkt 10 heißt es "Die Abbildungen in den Geschichtsbüchern sollen dokumentarischen Wert haben und so ausgewählt sein, daß sie in keiner Weise einer Verherrlichung des Krieges oder des Totalitarismus dienen können ... ". 29
Für unsere Zwecke am wichtigsten sind die Richtlinien für die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht, die deshalb hier ausführlich dargestellt werden sollen. Im Vorspann heißt es: "Die Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus gehört zu den wesentlichen Aufgaben der politischen Bildung unserer Jugend. Lehrer aller Schularten sind daher verpflichtet, die Schüler mit den Merkmalen des Totalitarismus und den Hauptzügen des Bolschewismus und des Nationalsozialismus als den wichtigsten totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts vertraut zu machen." Als Merkmale des Totalitarismus werden eine Ideologie, die den Charakter einer Ersatzreligion habe, dargestellt, Beherrschung und völlige Durchdringung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens, die Alleinherrschaft einer Partei, die Benutzung demokratischer Formen zur Scheinlegitimierung, physischer und psychischer Terror, Mißachtung der Würde des Menschen, Verfälschung wert haltiger Begriffe wie Freiheit, Demokratie, Sozialismus, Ehre und Vaterland und deren Pervertierung im Dienst der Parteiziele ("die Partei hat immer recht") und das Streben nach Weltherrschaft. Unter "Formen des Totalitarismus" werden ausschließlich der Nationalsozialismus und der Bolschewismus verstanden, wobei der letztere keineswegs auf den Stalinismus beschränkt wird. Die Frühzeit von 1917 bis 1921 und "der Widerstand der Unterdrückten gegen den Bolschewismus" finden im Rahmen der Gesamtdarstellung ausführliche Berücksichtigung. Methodische Hinweise geben über die reine Unterrichtsmethodik hinaus interessante Anhaltspunkte: "Bei der Darstellung des kommunistischen und des nationalsozialistischen Totalitarismus sind ihre verwerfliche Zielsetzung und ihre verbrecherischen Methoden deutlich zu machen. Die Tatsache, daß die beiden Systeme einander bekämpft haben, darf nicht über ihre Verwandtschaft hinwegtäuschen. Im Unterricht über den Nationalsozialismus müssen dem Schüler die Maßlosigkeit Hitlers und die innere Notwendigkeit der Katastrophe gezeigt werden; im Unterricht über den Bolschewismus ist dem Schüler der weltweite Anspruch und die damit verbundene Gefahr für die Menschheit zu zeigen. Ausgewählte Beispiele sollen das menschliche Leid, das von den totalitären Systemen verursacht wird, zum erschütternden Erlebnis werden lassen .... Der Unterricht soll im jungen Menschen den Willen wecken, selbstverantwortlich an der Gestaltung der demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung mitzuwirken und zur Abwehr des Herrschaftsanspruchs des Totalitarismus beizutragen .... "
Es liegt auf der Hand, daß diese Richtlinien sich in allen Lehrplänen der Bundesländer niedergeschlagen haben. Allerdings hat dieser KMK-Beschluß nur an eine Praxis angeknüpft, die in einzelnen Bundesländern und manchen Richtlinien auch vorher schon üblich war. Die unübersichtliche Lage auf dem Felde der Richtlinien macht eine Vorbemerkung nötig: Bis zum Ende der sechziger Jahre herrschten die an Inhalten orientierten Lehrpläne, also eigentlich Stoffkataloge vor. Für den Bereich der Politischen Bildung hat die Untersuchung von Wolfgang W .. Mickel 2 die "vorcurriculare Situation" geschildert. Mittels Untersuchung ist 1971 zu einem Zeitpunkt erschienen, als die Situation, die er 30
beschreibt, bildungstheoretisch bereits überholt war. Seit Anfang der siebziger Jahre, in Hessen bereits 1967/68 beginnend, wurden die stofforientierten Richtlinien durch lernzielorientierte Curricula abgelöst. Allerdings sind in vielen Bundesländern die inhaltsorientierten Lehrpläne allen curriculumtheoretischen Bemühungen zum Trotz nie außer Kraft getreten. Die Curriculumreform hat zwar die Theorie beherrscht, ist aber nur sehr partiell und regional begrenzt umgesetzt worden.3 Der zweite Teil der folgenden Richtlinienübersicht stützt sich auf eine unveröffentlichte Richtliniensynopse, über die Curricula der siebziger Jahre. 4 In den letzten Jahren ist eine Fortentwicklung von den lernzielorientierten Curricula und die Hinwendung zu den inhaltsorientierten Lehrplänen zu beobachten. Das wurde auf einer von der Bundeszentrale für Politische Bildung veranstalteten Tagung in Grunberg bei Gießen im Februar 1982 deutlich. Kurt Gerhard Fischer verkündete ~ort folgende neue Einsicht, die im Grunde an die vorcurriculare Situation anknüpft: "POlitische Didaktik als Theorie, als eine spezielle Pädagogik, legitimiert sich nicht durch Anbindungs- und Anbiederungsversuche bei ,der' Wissenschaftstheorie wie dies in den siebziger Jahren erfolglos versucht wurde, sondern durch theoretische und empirische am Schüler orientierte Strukturierung des Kanons der Lehrinhalte zu Lerninhalten. Dabei können auch solche Vorschläge in die Erörterungen eindringen, die, für sich genommen, als ideologiebehaftet in den jüngst vergangenen Jahren zurückgewiesen wurden, ... pOlitische Didaktik ist nämlich pragmatische Disziplin."S
Drei Mitarbeiter von Kurt Gerhard Fischer haben die inhaltlichen Schwerpunkte des Politikunterrichts in den Lehrplänen der Bundesländer, und zwar getrennt für die Sekundarstufe I und die Sekundarstufe fi, ausführlich untersucht. 6 Michels Zusammensetzung ergibt, daß mit Ausnahme von Baden-Württemberg das Problem des Totalitarismus in sämtlichen Bundesländern mit unterschiedlicher Intensität für den Unterricht vorgesehen ist und vorgeschrieben wird. Für die Mittel- oder Oberstufe wird die Behandlung in Bayern, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz und in Schleswig-Holstein vorgesehen. In den anderen Ländern nur in der Oberstufe.7 Die Darstellung bezieht sich, dem Beschluß der Kultusministerkonferenz folgend, stets auf nationalsozialistischen und kommunistischen Totalitarismus, allerdings sind die Angaben zuweilen sehr allgemein gehalten. Besonders ausführlich ist der Berliner Lehrplan von 1968, der für die Klasse 10 vorsieht: "Totalitäre Formen von Staat und Gesellschaft. Der sehr detaillierte Lehrplan gibt drei Abschnitte: Totalitäre Ideologie, totalitäre Herrschaft und totalitäre Elemente in autoritären Regimen, totalitäre Gefahren in der Demokratie vor. Zu jedem der drei Abschnitte sind eine große Anzahl von einzelnen Unterrichtsinhalten genannt, von denen hier einige beispielshaft zitiert werden sollen:"
Im letzten Abschnitt heißt es .das Entstehen autoritärer Regime (Schwierigkeiten bei der Entwicklung zur Industriegesellschaft; historisch - soziale Belastungen, z. B. in Europa zwischen
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den Weltkriegen, in den Entwicklungsländern), Identifizierung der regierenden Gruppe mit dem Staat (Abwertung oder Unterdrückung der Opposition bei Aufrechterhaltung oder starker Einschränkung der Grundfreiheiten), Tendenz zur Ideologisierung (Betonung des Missionscharakters der herrschenden Gruppe), totalitäre Tendenzen in Oppositionsgruppen (vor allem elitäre berufsrevolutionäre Organisationen)."
An diesem Lehrplan fällt auf, daß das Phänomen des Totalitarismus ganz allgemein ohne Bezug auf Nationalsozialismus und Kommunismus behandelt wird. Ob das für eine 10. Klasse, also 15-16jährige Schüler, in dieser abstrakten Form sehr wirkungsvoll ist, darf bezweifelt werden, allerdings ist dann für die Oberstufe die Behandlung von Demokratie und totalitären Herrschaftsformen zwischen den Weltkriegen und die Behandlung der DDR und ihres kommunistisch-totalitären Herrschaftssystems vorgesehen. Auf der Grundlage einer allgemeinen Unterrichtung wird die spezielle, diesem Plan zufolge, in der Oberstufe vorgenommen. Eine Durchsicht der Lehrpläne, die Ende der siebziger Jahre galten,8 hat ergeben, daß mit Ausnahme des Saarlandes in allen Bundesländern das Totalitarismusproblem in den Richtlinien berücksichtigt ist. Es verteilt sich auf die Fächer Gemeinschaftskunde, Geschichte, Politik und Gesellschaftslehre und wird in den meisten Fällen für die Oberstufe vorgesehen. In vier Ländern, Baden-Württemberg, Bayern, Berlin und Nordrhein-Westfalen, soll es auch in der Hauptschule unterrichtet werden. Drei charakteristische Beispiele mögen die Situation dieser Jahre etwas näher erläutern. Der curriculare Lehrplan Geschichte, Klasse 9 für Hauptschulen in Bayern (1978), behandelt das Totalitarismusproblem am Beispiel des Nationalsozialismus. Erstrebt wird die "Kenntnis, daß in totalitären Staaten Wissenschaft und Kunst in den Dienst der Politik gestellt und für propagandistische Zwecke mißbraucht werden, aufgezeigt an der Kulturpolitik der Dritten Reiches." Hergestellt werden soll der "Vergleich mit den Verhältnissen und Praktiken in heutigen totalitären Staaten", die allerdings nicht einmal andeutungsweise bezeichnet werden. Deutlich werden soll der Gegensatz: "Freiheitliche Staatswesen lassen die Kritik an herrschenden Verhältnissen zu, dulden die verschiedensten Kunstrichtungen, setzen jedoch auch Grenzen, wenn Persönlichkeitsrechte und Sitte verletzt werden."
Anspruchsvoller ist das Programm für die Oberstufe der Gymnasien in Rheinland-Pfalz. 9 In insgesamt 16 Punkten werden folgende Kenntnisse über die Grundzüge totalitärer Ideologien erstrebt: Totalitäre Herrschaft wird mit Ideologien, die pseudoreligiösen Charakter haben, begründet, allerdings stoßen sie an systemimmanente und anthropologische Grenzen. Daß totalitäre Ideologien mit demokratischen Systemen unvereinbar sind und eine dauernde Herausforderung für demokratische Systeme darstellen, soll ebenso vermittelt werden, wie die Kenntnis der Struktur und Funktionsweise totalitärer Parteien. Von überzeitlicher Bedeutung ist die Forderung nach der Unterrichtung über die Konvergenztheorie, die eine zukünftige Annäherung demokratischer und totalitärer Systeme behauptet. Kennzeichnend an diesem anspruchsvollen Programm ist die Tatsache, daß hier wiederum das Totalitarismusproblem abstrakt, also ohne Bezug zu realen Erscheinungsformen, behandelt werden soll. 32
Die" vorläufigen Arbeitsanweisungen für die Hauptschulen Baden-Württembergs" (1968, aber bis Anfang der achtziger Jahre gültig) behandeln im Kapitel "Einsicht in die Gegenwart" die "totalitäre Bedrohung". Nach einer allgemeinen Beschreibung der Merkmale einer totalitären Herrschaftsordnung folgt als methodischer Hinweis der Rat, SchwarzWeiß-Malerei zu vermeiden und Alltagssituationen, nicht die (abstrakte) Ideologie zum Unterrichtsgegenstand zu machen. Die Themenvorschläge beziehen sich auf kommunistische und nationalsozialistische Beispiele. Beachtung verdient der Vorschlag (1968!), die Verbindung mit dem anderen Teil Deutschlands zu pflegen. 9• Bemerkenswert sind schließlich die Empfehlungen, Gesellschaftslehre für die Klasse 9 an Hauptschulen in Nordrhein-Westfalen (1980), die die Behandlung des Totalitarismus zugunsten einer ausschließlichen Beschäftigung mit dem ,Faschismus' aufgegeben haben. Hier ist die unsaubere Verwendung des Faschismus-Begriffes kennzeichnend, weil zum einen Faschismus im Sinne marxistischer Faschismustheorien als ein nationale Erscheinungen übergreifender Gattungsbegriff verwendet wird (Lernziel: "Kenntnis der Grundmuster faschistischer Staaten und Regime"), zum anderen wird vom "Faschismus in Deutschland" gesprochen. Gleichzeitig aber soll das Verhältnis von Faschismus und Nationalsozialismus behandelt werden. Die hier untersuchte deutsche Erscheinung wird konzeptionslos einmal mit Faschismus, einmal mit Nationalsozialismus bezeichnet. Das Totalitarismuskonzept ist verengt worden auf die Darstellung "totaler Herrschaft" und Möglichkeiten von Widerstand. Während die Zusammenstellung von Gisela Rade Richtlinien berücksichtigt, die kurz vor 1980 veröffentlicht wurden, stützt sich die Untersuchung von Hennig, Müller und Schlausch auf die um und zum Teil kurz nach 1980 neu herausgekommenen Richtlinien. Trotz dieses sehr kurzen Zeitabschnitts ist eine weitgehende Veränderung in bezug auf die Behandlung des Totalitarismus festzustellen. Während in der Politik- und Geschichtswissenschaft eine Renaissance des Totalitarismusbegriffs zu beobachten ist, haben sich die Richtlinien in einer Art Spätzündung von der Behandlung dieses Problems weitgehend abgewendet, um sich dem "Faschismus", der vorher so gut wie gar nicht berücksichtigt wurde, zuzuwenden. Ausdrücklich wird der Totalitarismus in den neuen Richtlinien nur in Bayern (Sekundarstufe 11), Berlin (Sekundarstufe I) und in Niedersachsen (Sekundarstufe 11) vorgesehen. Der Sache nach, aber ohne den Terminus zu verwenden - man könnte fast sagen mit schlechtem Gewissen - wird der Totalitarismus in Rheinland-Pfalz (Sekundarstufe 11) und in Schleswig-Holstein (Sekundarstufe 11) behandelt. Das Problem totaler Herrschaft wird am Beispiel des "Faschismus" in Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen behandelt, wobei Niedersachsen allerdings auch den Totalitarismus, Nordrhein-Westfalen den Pluralismus für die unterrichtliche Behandlung vorschreiben. Auch Bayern und das Saarland schreiben die Behandlung des Pluralismus vor. 10 Das offenkundige Abrücken von der Behandlung des Totalitarismus im Unterricht zeigt, wie stark dieses Thema vom politischen Klima abhängig ist. Wenn man den Ausgleich mit dem Osten im allgemeinen und der DDR im besonderen will, dann behandelt man den Kommunismus vorsichtig und übt vorsorglich Selbstzensur. Da die Behandlung des Totalitarismus im bisherigen Verständnis, nämlich Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus, ein Politikum ist und Kultusministerien und Richtlinien3 Löw, 2. A.
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kommissionen politische Institutionen sind, muß sich der Wandel des politischen Klimas auch in den Richtlinien niederschlagen. Allerdings wäre es auch möglich, daß sich das Totalitarismusverständnis wandelt. Statt der bisherigen Beschränkung auf die Behandlung von Kommunismus und Nationalsozialismus könnten im Sinne eines Neo-Totalitarismus die Bedrohung der Demokratie durch politische Leidenschaften, durch einen neuen politischen Irrationalismus wie auch durch religiöse und politische Sekten behandelt werden 11. Diese Auffassung des Totalitarismus hat bisher selten in der Wissenschaft und gar nicht in Richtlinien und Unterrichtsmaterialien Ausdruck gefunden. Das Totalitarismusproblem wird - nimmt man alles in allem - in den Richtlinien quantitativ zufriedenstellend, qualitativ dagegen höchst unterschiedlich behandelt. Allerdings sagt das noch gar nichts über die Unterrichtspraxis aus. Es ist durchaus zu berücksichtigen, daß Lehrpläne und Richtlinien einen verhältnismäßig geringen Einfluß auf die Unterrichtspraxis haben.1 2 Hinzukommt, daß die Richtlinienentwicklung in dauernder Bewegung ist. Seit dem Beginn der Bildungsreform Ende der sechziger Jahre ist sie bis zur Gegenwart nicht mehr zur Ruhe gekommen. Jedes Jahr und in jedem Bundesland kommen neue oder Revisionen älterer Richtlinien heraus. Keine Institution, nicht einmal die Kultusministerkonferenz oder die Bundeszentrale für Politische Bildung, hat eine vollständige Sammlung der geltenden Richtlinien. Weil die Situation in dauernder Bewegung ist, kann leicht der Vorwurf erhoben werden, daß der allerletzte Stand der Dinge bei einer Richtlinienuntersuchung nicht wiedergegeben werde. Wäre es allerdings möglich, diesen Stand zu erfassen, wäre es morgen schon wieder überholt. Beide Gründe - die ständige Entwicklung und der geringe Einfluß der Richtlinien auf die Unterrichtspraxis - erfordern, daß die Totalitarismusproblematik anhand von Unterrichtsmaterialien - Schulbüchern und Unterrichtseinheiten - untersucht wird, weil diese für die Unterrichtswirklichkeit aufschlußreicher sind. Wenn im folgenden zusammenfassend von Unterrichtsmaterialien gesprochen wird, dann sind damit Schulbücher und Unterrichtseinheiten für Sozialwissenschaften gemeint. Mit diesem zusammenfassenden Ausdruck sollen hier die in den einzelnen Bundesländern sehr verschiedenen Bezeichnungen des Faches gekennzeichnet werden. Die Anzahl der sozialwissenschaftlichen Schulbücher ist erheblich, eine vor einigen Jahren vorgenommene Zählung ergab, daß insgesamt 169 Schulbücher aus 35 Verlagen zugelassen waren. 13 Diese große Zahl schließt aus, daß hier auch Geschichtsbücher in die Untersuchung einbezogen werden, obwohl das Totalitarismusproblem selbstverständlich auch im Fache Geschichte behandelt werden kann. Schulbücher unterliegen einem Genehmigungsverfahren durch die Kultusverwaltungen der Länder. Dieses Verfahren ist nötig, um ein Minimum an Vergleichbarkeit zwischen den Bundesländern und unter den verschiedenen Schularten und Schulstufen sowie die Orientierung am Grundgesetz, an den Landesverfassungen und Richtlinien zu gewährleisten. Da die Ministerien sich aber anonymer Gutachter bedienen, ist die Gefahr gegeben, daß die Richtlinienkommissionen über ihre Aufgabe hinausgehen und auch wissenschaftstheoretische und politische Positionen beurteilen und mißliebige Bücher unter kaum bemäntelten Vorwänden ablehnen. Damit überschreiten sie die Grenzen zu verfassungswidriger Zensur. Trotz dieses Genehmigungsverfahrens hat es in den 70er Jahren Schulbücher mit eindeutig gesellschaftsver34
ändernder Tendenz gegeben. Die Verbesserung der Situation auf dem Schulbuch markt ist nicht in erster Linie den Kultusministerien und ihren Gutachtergremien zu verdanken, sondern der Schulbuch- und Richtlinienkritik, die seit Beginn der 70er Jahre von Lehrerund Elternvereinigungen, unterstützt von einzelnen Wissenschaftlern, geleistet wurde. Die bildungstheoretische und bildungspolitische Gegenaktion begann 1971 mit Schriften von Bernhard Sutor und dem Berliner Landesschulrat Herbert Bath, Veröffentlichungen der Kultusminister der CDU/CSU und der Sammelband "Der Streit um die politische Bildung" schlossen sich an. 1976 erschienen unterrichtspraktische Materialien der Arbeitsgruppe "Freie Gesellschaft" (Walberberg).H Diese theoretischen und unterrichtspraktischen Schriften wurden durch die Aktivitäten schlagkräftiger bildungspolitischer pressure groups ab 1972 äußerst wirksam unterstützt. In erster Linie ist hier der Hessische Elternverein zu nennen. Das, was von manchen Anhängern der sogenannten "Bildungsreform" säuerlich "Schulbuchschelte" genannt wurde 15 , erwies sich als sehr wirkungsvoll. Uns braucht diese Entwicklung hier nicht weiter zu interessieren, da die Behandlung des Totalitarismus im Unterricht kaum berührt wurde. Da im KMK-Beschluß von 1962 vorgesehen und in den Richtlinien vorgeschrieben, wird der Totalitarismus in den Schulbüchern in den meisten Fällen behandelt. Ein Medium, das in den letzten beiden Jahrzehnten sehr an Bedeutung gewonnen hat, sind die Unterrichtseinheiten. Ein Spezialthema wird methodisch-didaktisch aufbereitet und dem Lehrer als Hilfe für den Unterricht in die Hand gegeben. Sie erleichtern die Unterrichtsvorbereitung erheblich, bieten aber gleichzeitig die Möglichkeit der Manipulation, wenn Wertungen mitgeliefert werden. Unterrichtseinheiten unterliegen nicht überall dem Genehmigungsverfahren. Zwei umfangreiche Bibliographien fassen die zwischen 1960 und 1983 erschienenen sozialwissenschaftlichen Unterrichtseinheiten zusammen. Insgesamt werden 5313 Titel erfaßt, das Totalitarismusproblem behandeln 38 (= 0,7%)16. Hier wi~d zunächst ein genereller Überblick gegeben, danach soll die Behandlung des Totalitarismusproblems an einigen besonders interessanten Beispielen näher erläutert werden. Meistens wird in traditioneller Weise im Sinne des KMK-Beschlusses unter Totalitarismus das nationalsozialistische und kommunistische Herrschaftssystem verstanden. Das für die Oberstufe bestimmte Lehrbuch von Ritscher 17 behandelt sehr ausführlich auf 17 Seiten die grundlegenden Merkmale des Totalitarismus, wobei als einzige Theoretikerin Hannah Arendt zitiert wird. Es schließen sich an die kommunistische und die faschistische Herrschaft, wobei innerhalb dieses Abschnittes zwischen Nationalsozialismus und italienischem Faschismus sauber unterschieden wird. Unterschiede zwischen dem kommunistischen und nationalsozialistischen Totalitarismus werden durchaus gesehen, die Wandlungen des Kommunismus berücksichtigt. Beides wird dem Schüler durch Leitfragen nahe gebracht. So heißt es: "Versuchen Sie, das ständige ,in Bewegung sein' des Totalitarismus mit Beispielen zu belegen." "Auch ein totalitäres System braucht Zustimmung. Wie wurde das in Deutschland unter Hitler und in der Sowjetunion erreicht, warum ist das in der DDR schwerer möglich?" "Bestimmen Sie die Unterschiede zwischen kommunistischer (unter Stalin) und nationalsozialistischer Herrschaft und Ideologie!" 3'
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Das Buch von Heinz Grosche: Politik und Recht 18 behandelt auf 20 Seiten den .. totalitären Staat". Zunächst werden Formen des Totalitarismus behandelt, danach folgt die Darstellung des .. Totalitarismus faschistischer und nationalsozialistischer Prägung", ..Der Totalitarismus stalinistischer Prägung" schließt sich an, die ..Propaganda im totalitären Staat" bildet den Abschluß. Hier fällt auf, daß der Totalitarismus kommunistischer Prägung mit 10 Seiten doppelt so ausführlich behandelt wird wie der .. rechte" Totalitarismus. Diese Darstellung zeichnet sich durch besonders reichhaltige Zitate aus. Als Totalitarismustheoretiker werden Hannah Arendt und Kurt L. Shell zitiert. Die Gegenposition von Reinhard Kühnl kommt in einem längeren Zitat zum Ausdruck, ohne daß allerdings seine Ablehnung der Totalitarismustheorie deutlich wird. Am Buch von Grosehe ist bemerkenswert, daß die .. Entwicklungstendenzen des Totalitarismus im 20. Jahrhundert" in Form einer sehr übersichtlichen Tabelle dargestellt werden (S.38). Mit Greiffenhagen wird darauf hingewiesen, daß es zwar berechtigt sei, den Begriff des .. totalitären Systems" als Ideal beizubehalten, daß aber von einer Statik totalitärer Systeme keine Rede sein könne, sondern, daß .. totalitäre Phasen notwendig Übergangsphasen - nicht Dauerzustand sind." (S.52). Wenn von Schulbüchern gesprochen wird, dürfen Autoren wie Kurt Gerhard Fischer und Wolfgang Hilligen nicht unerwähnt bleiben, weil beide sowohl durch theoretische als auch unterrichtspraktische Veröffentlichungen hervorgetreten sind. Im Vergleich mit den beiden bereits vorgestellten Büchern fallen allerdings ihre Veröffentlichungen - was die Darstellung des Totalitarismusproblems im Unterricht anbetrifft - ab. Kurt Gerhard Fischer erwähnt zwar im Glossar seines für die Oberstufe bestimmten Buches ..Politische Bildung" den Totalitarismus korrekt, jedoch ganz allgemein als ein Herrschaftssystem, das alle Bereiche, auch des privaten Lebens, dem Staat untertan machen will und weder Grundrechte noch Pluralismus anerkennt.l 9 Im Text des Buches ist dann jedoch von einer so weit gefaßten Totalitarismusanschauung keine Rede mehr, sondern das Problem wird ausschließlich am .. totalitären Herrschaftssystem des Nationalsozialismus" erläutert. Ganz im Gegensatz zu dieser einseitigen Sicht ordnet Wolfgang Hilligen in seinem für die Sekundarstufe I bestimmten Arbeitsbuch .. Sehen, beurteilen, handeln" den Totalitarismus unter Berufung auf Dahrendorf ausschließlich auf die DDR.20 Hier wird allerdings das Totalitarismusproblem nicht in irgendeinem Zusammenhang erörtert, sondern im DDR-Kapitel nur in Verbindung mit der Modernisierung des Systems erwähnt und dann folgendermaßen erklärt: ..Totalitär nennt der Autor, der westdeutsche Wissenschaftler Dahrendorf, das Herrschaftssystem der DDR deshalb, weil die Parteien (die es auch dort gibt) nicht in ständiger Auseinandersetzung ermitteln dürfen, was zu geschehen hat. Vielmehr nimmt die SED, die nach einem politischen Lied (und wie es auch die Machthaber gelegentlich sagen) .. immer recht" hat, die Gewißheit in Anspruch, das Richtige zu tun." Diese recht unzulängliche Erklärung wird im Lehrerhandbuch ergänzt. Es wird darauf hingewiesen, daß dieser Begriff seit Beginn der 60er Jahre .. kontrovers" beurteilt wird, Friedrichs Elemente des totalitären Staates werden kritisiert, die Aufrechterhaltung des Totalitarismusbegriffs durch Dahrendorf und Bracher findet Erwähnung. Hilligen zieht das Fazit, ..Brauchbar können die Merkmale des Totalitarismus sein, wenn konkrete Zustände in allen Staaten auf totalitäre Elemente untersucht werden. Maßgebendes Merkmal ist die Vorenthaltung von individuellen und kollektiven Grundrechten, 36
durch das sich faschistische und derzeitige Staaten des "realen Sozialismus" von den pluralen, rechtsstaatlichen Demokratien unterscheiden. "21 Diese, offenbar unter dem Eindruck der Kritik an der Totalitarismustheorie zustande gekommene "abgewogene" Betrachtungsweise ist allerdings so ausgewogen, daß sie allenfalls noch die Anforderungen des KMK-Beschlusses und der Richtlinien erfüllt, für Unterrichtszwecke jedoch kaum noch Aussagekraft hat, und damit hinte; der älteren, anfangs zitierten Darstellung zurückfällt. Erstaunlich ist, daß in einem der besten Lehr- und Arbeitsbücher, dem von Bernhard Sutor, das Totalitarismusproblem ganz am Rande in einer schematischen Gegenüberstellung von Demokratie und Diktatur als Grundtypen erwähnt und nicht im mindesten erläutert wirdP In einer ein halbes Jahrzehnt später erschienenen theoretischen Grundlegung der politischen Bildung bietet Sutor allerdings eine besonders interessante Totalitarismusdeutung: Unter Vermeidung des Terminus spricht er von totaler Ideologie. Im Gegensatz zu allen anderen Autoren, die von totalitärer Herrschaft sprechen, bezieht er das Totalitäre auf die Theorie, die Ideologie, die "dem Pluralismus der Denkentwürfe Ideen und Werte entziehen möchte. Sie beansprucht, den Orientierungsbedarf orientierungsloser Menschen zu decken und dies im Gewand von Wissenschaft .... Die T otalerklärung ist Bedingung der politischen Verwendbarkeit; die Kenntnis der gesellschaftsund geschichtsbildenden Faktoren gibt dem Menschen die Zukunft in die Hand. "23 Verdienstvoll an dieser Darstellung Sutors ist der sonst fast stets vernachlässigte Hinweis, daß die Verabsolutierung moralischer Vorstellungen, ein moralischer Rigorismus, der Ausschließlichkeitsanspruch des Denkens, Voraussetzung für das Entstehen eines totalitären Herrschaftssystems ist. Das Zusammenwirken von Ideologie und Herrschaftsapparat macht erst das Totalitäre aus. 24 Eine eindrucksvolle und für Unterrichtszwecke und den Unterrichtserfolg hervorragend geeignete Behandlung des Totalitarismusproblems findet sich im Lehr- und Arbeitsbuch von Greiffenhagen und Hättich. 25 Dort wird anhand einer sehr lebendig erzählten Zusammenfassung des Orwellschen Romans ,,1984" die Vision einer totalitären Herrschaftsordnung geschildert. Diese eindrucksvoll erzählte Geschichte umfaßt nicht ganz eine Druckseite und wird durch zusätzliche Angaben ergänzt: Es wird auf ähnliche Zukunftsgefahren durch biologische Manipulation, durch Mißbrauch des technischen Fortschritts hingewiesen. Danach wird erklärt, was totalitäre Herrschaft ist, welcher Methoden sie sich bedient und welche Folgen die totalitäre Herrschaft für den einzelnen hat. Es wird allerdings vermieden, real existierende totalitäre Herrschaftssysteme auch nur zu erwähnen. Auch im darauf folgenden Kapitel über die Diktatur werden fiktive Beispiele genannt, so daß der Schüler die sehr berechtigte Frage stellen muß, ob es denn derartige Erscheinungen auch in der Wirklichkeit gibt. Eines der wichtigsten und in der schulisch und außerschulischen politischen Bildung am weitesten verbreitete Lehrbuch ist "Politik im 20. Jahrhundert" von Hans-Hermann Hartwich u. a. 26 Dieses Buch ist das am weitesten verbreitete Unterrichtswerk, es war in 8 von 11 Bundesländern zugelassenP Dieses Buch, von mehreren Politikwissenschaftlern verfaßt und mit dem Anspruch der Wissenschaftspropädeutik auftretend, hat im Verlaufe der Jahre interessante Anpassungsvorgänge durchgemacht. Bis zur 3.Auflage 1972 schloß das sechste 37
Kapitel "Das Regierungssystem der Sowjetunion" mit dem Abschnitt "Der Mensch im totalitären System der Sowjetunion" (5.315). Auch das Kapitel über die "DDR" (sie!) endet mit einem in gleicher Weise überschriebenen Abschnitt (S. 347). Das achte Kapitel hieß "Der Totalitarismus nationalsozialistischer Prägung". Die Kritik an der Totalitarismustheorie der 60er Jahre hat ihre Wirkung gezeigt. In der 4. neu bearbeiteten Auflage von 1974 ist der Terminus "Totalitarismus" bei der Behandlung der kommunistischen Herrschaftssysteme weggefallen (DDR 5.264, UdSSR S. 349). Auch das nationalsozialistische Herrschaftssystem wird in der Kapitelüberschrift nicht mehr als totalitär bezeichnet (5.118), wohl aber wird im Text noch vom totalitären Anspruch des NS-Staates gesprochen (S.138 ff.). Allerdings finden sich nunmehr Ausführungen zur Problematik des Totalitarismusbegriffs im Abschnitt über die Grundtypen politischer Systeme (5.34 ff., S. 37). Die Ausführungen sind vorsichtig abwägend und berufen sich auf Karl Löwenstein. Diese Darstellung macht einen unsicheren Eindruck: Einerseits wendet man sich nicht eindeutig von der Behandlung des Totalitarismus ab, da die KMK und die Richtlinien ja die Behandlung in einem Unterrichtswerk fordern. Andererseits nennt man keine konkreten Beispiele, deutet aber an, daß der Nationalsozialismus totalitär war. Den Kommunismus hat man aber im Zeitalter der Entspannung und der neuen Ostpolitik vom Ruche des Totalitarismus befreit. Welchen Gewinn ein Oberstufenschüler von einer solch allgemeinen, von konkreten Beispielen losgelösten Betrachtung haben soll, ist allerdings nicht einzusehen. Die letzte Neuausgabe von 1984 hat eine leichte Besserung gebracht. Die Darstellung des Totalitarismus ist nach wie vor abwägend und offen - eine Stellungnahme zu den verschiedenen, kurz referierten Ansätzen erfolgt nicht (5.36). Wie zuvor gibt es den Abschnitt "Der totalitäre Anspruch des nationalsozialistischen Staates" im Kapitel "Der Nationalsozialismus" (5.120 ff.). Die Darstellung des politischen Systems der Sowjetunion ist entfallen, die DDR wird ausführlich ohne Berücksichtigung des Totalitarismus dargestellt. Im Kapitel "Grundtypen politischer Systeme" werden jedoch die Staaten des "realen Sozialismus" als Beispiel für die "totalitäre Oligarchie" angeführt (5.38). Ein bestimmter Staat allerdings wird nicht genannt. Die in der Neuausgabe über den Totalitarismus gebotene Information ist knapp, korrekt, zufriedenstellend und keineswegs einseitig. Eine Bewertung allerdings wird vermieden. Für die Schulbücher kann das vorläufige Fazit gezogen werden, daß überall das Problem des Totalismus behandelt wird. Die Unterschiede sind allerdings sehr groß, der Lernerfolg dürfte in vielen Fällen zweifelhaft sein, da die Angaben allgemein oder auch einseitig sind. Nur in wenigen Fällen wird auf Wandlungen des Totalitarismusverständnisses im Verlaufe der letzten Jahre eingegangen. Einen sehr viel besseren Eindruck machen demgegenüber einige Unterrichtseinheiten. Die ersten sind bereits 1958 erschienen und heute inhaltlich veraltet und vergriffen. Von besonderer qualitativer Bedeutung sind zwei Unterrichtseinheiten, die deswegen hier exemplarisch behandelt werden sollen. 1968 befaßte sich Eduard Schaefer mit dem "totalitären Sozialismus".28 Diese Unterrichtseinheit erschien zu einem Zeitpunkt, als die Kritik an der Totalitarismuskonzeption begann. Umso bemerkenswerter ist, daß der Autor nur den "linken" Totalitarismus behandelt, und sich auch nicht auf die Darstellung 38
des bolschewistischen Herrschaftssystems beschränkt. Vielmehr bemüht er sich, die "weltverändernde Kraft des marxistischen Sozialismus" deutlich zu machen, der als Ergebnis der geistesgeschichtlichen abendländischen Entwicklung gesehen wird. Durch Kar! Marx habe sich eine pragmatische Gesellschaftslehre zu einer totalitären Weltanschauung verdichtet. "Eine Begleiterscheinung aller epochalen Umbrüche sind die tiefgreifenden und unerbittlichen Auseinandersetzungen, in denen sich die Absolutheitsansprüche der jeweiligen Widersacher in einem uneingeschränkten Vernichtungswillen austoben. Kreuzfahrergeist, Inquisitionsmentalität und Klassenkampfbewußtsein kennzeichnen die Atmosphäre der Unversöhnlichkeit, die, wann immer diese Sachverhalte im Unterricht zur Sprache kommen, spezifische, pädagogische, didaktische und methodische Probleme aufwirft." (S. 408) Der Autor warnt vor hemmungslosem Polemisieren aus blindem Eifer und der Versuchung, in eine ideologische Gegenposition abzugleiten. Die erzieherische Überzeugungskraft sei von wissenschaftlicher Sachlichkeit und weltanschaulicher Achtung vor dem Andersdenken nicht zu trennen. (S.409). Gegenbild zum totalitären Sozialismus solle der freiheitliche Sozialismus sein, der im Geschichts- und im Englischunterricht (Fabian Society, George Orwell: Animal Farm) dargestellt werden könne. Die eigentliche Darstellung des totalitären Sozialismus soll anhand eines Textes von Lenin: "Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus" aus dem Jahre 1913 behandelt werden. Die Unterrichtseinheit will deutlich machen, daß die totalitäre Ideo· logie Grundlage von totalitären Herrschaftsvorstellungen und -formen ist (S.424). Die Rechtfertigung für die Behandlung dieses Themas sieht der Autor in der Tatsache, daß die Auseinandersetzung mit dem totalitären Sozialismus nicht alleine Wissenschaftspropädeutik, sondern vor allem eine unerläßliche "Lebenshermeneutik" (Derbolav) ist. Diese fast zwei Jahrzehnte alte Unterrichtseinheit ist nicht veraltet, weil hier auf die Bedeutung des Denkens, der Theorie, der Ideologie als Grundlage eines totalitären Herrschaftssystems eindringlich hingewiesen wird. Die Unterrichtseinheit enthält den gekürzten Lenintext und interpretatorische Hinweise für den Lehrer, die diesen allerdings keineswegs manipulieren, denn, obwohl der Autor auf die Notwendigkeit der Stellungnahme hinweist, bleibt er selber im Urteil sehr zurückhaltend. Die modernste und umfangreichste Unterrichtseinheit hat Hermann Meyer 1977 vorgelegt.2 9 Es handelt sich bei dieser Einheit um eine Materialsammlung, die mit der methodisch-didaktischen Aufbereitung sehr zurückhaltend ist. Die einzelnen Kapitel sind nach dem gleichen Schema aufgebaut. Zunächst werden Daten zur Entwicklung totalitärer Herrschaftssysteme und zur Totalitarismustheorie gegeben. Ein Faktenteil schließt sich an, in dem der Autor die wissenschaftliche Auseinandersetzung kurz darstellt. Den umfangreichsten Teil eines jeden Kapitels nehmen die Materialien ein. Es handelt sich um sehr zahlreiche verschiedene Standpunkte, die hier in Auszügen dokumentiert werden. Auffällig ist, daß Quellen sehr häufig indirekt zitiert werden, das geschieht selbst dann, wenn die Beschaffung der Originalquelle nicht überaus schwierig gewesen sein dürfte. Hermann Meyer erwähnt die Auseinandersetzung um die Totalitarismustheorie und dokumentiert die ablehnende Kritik durch "linke" Autoren an zahlreichen Beispielen. Er betont die Notwendigkeit, den Totalitarismusbegriff für die wissenschaftliche Analyse aufrecht zu erhalten, läßt allerdings offen, zu welchem Zwecke das geschehen solle. Als 39
ausdrückliches Unterrichtsziel wird die Förderung der "eigenen Urteils bildung der Schüler" (S.7) herausgestellt, in erster Linie scheint es dem Autor um eine ausführliche Informationsvermittlung zu gehen, da er mit Wertungen und Zielangaben bis auf einige Andeutungen äußerst zurückhaltend ist. Im Sinne dieser Offenheit, des Nichtfestlegens, wird im Kapitel 2 die "Problematisierung der Totalitarismustheorie" vorgenommen. Die Arbeitsanregungen für den Schüler (S.32-34) sind mit zusätzlichen Kurzzitaten angereichert und leiten den Benutzer der Unterrichtseinheit zu abgewogener Beschäftigung mit den verschiedenen Standpunkten zur Totalitarismustheorie an. Die Unterrichtseinheit legt dem Schüler sehr zurückhaltend die Vorzüge westlicher Demokratien dar, vertritt diesen Standpunkt jedoch keineswegs expressis verbis. Es wird offenbar erwartet, daß der Schüler aus der sehr intensiven Beschäftigung mit den Problemen des Totalitarismus von selbst zu einer Bejahung des westlichen Demokratiemodells kommen wird. Angesichts der weitverbreiteten Manipulationsfurcht muß man dieser Unterrichtseinheit bescheinigen, daß sie durchaus verantwortungsbewußt vorgeht und wirksam sein dürfte. Daß hier im Sinne der Kritiker der Totalitarismustheorie der Begriff als Kampfvokabel des Kalten Krieges benutzt werde und der Propagierung westlicher Werte und kapitalistischer Interessen dienen könne, ist vollkommen abwegig. Deswegen kann dieser Unterrichtseinheit bescheinigt werden, daß sie das relativ beste Material ist, das zur Behandlung der Totalitarismustheorie zur Verfügung steht. Allerdings fehlen auch hier Hinweise auf die Gefährdung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie durch moderne Irrationalismen und ideologische Totalitätsansprüche außerhalb nationalsozialistischer und kommunistischer Vorstellungen.
Zusammenfassung Die Lage ist, nimmt man alles in allem, keineswegs unbefriedigend. Quantitativ wird das Totalitarismusproblem in der schulischen Politischen Bildung durchaus angemessen behandelt. Qualitativ allerdings gibt es gewisse Mängel. Die Behandlung in den Unterrichtsmaterialien ist fast ausschließlich undifferenziert auf die nationalsozialistisch-faschistischen und kommunistischen Erscheinungen bezogen. Einseitige Darstellungen, die sich nur auf den Stalinismus oder nur auf den Nationalsozialismus beziehen, gibt es, sie bleiben mehr an der Oberfläche. Aber selbst in den ausführlichsten Darstellungen finden wir ein vorsichtiges Taktieren, kein Festlegen, was aber im Sinne des Überwältigungsverbots für den Unterrichtserfolg durchaus positiv sein kann. Im positiven Sinne hinzuzufügen ist, daß die Ansprüche an Unterrichtsmaterialien nicht übersteigert werden dürfen, selbst unter dem Anspruch der Wissenschaftspropädeutik nicht. Sie richten sich nicht an Fachleute, an Sozialwissenschaftier oder Historiker, sondern (bestenfalls) an interessierte Laien. Man würde die Unterrichtsmaterialien quantitativ wie qualitativ überfordern, wenn der Streit um die Totalitarismustheorie in allen Verzweigungen dargestellt werden sollte. Unübersichtlichkeit und Unlustreaktionen bei Lehrenden und Lernenden wären die sichere Folge. Die Mängel der Betrachtung sind einmal darin zu sehen, daß häufig der Bezug zum Pluralismus fehlt. Jede Ablehnung des gesellschaftlichen und weltanschaulichenPluralismus muß zu totalitären Ansprüchen führen. Das wird oft nicht deutlich. Auf der anderen Seite fehlt meistens eine Auseinandersetzung mit der Konvergenztheorie, die eine allmähliche Angleichung demokratisch-westlicher
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und kommunistischer Systeme behauptet. Wer die Konvergenztheorie bejaht, muß eine kritische Einstellung zur Totalitarismustheorie einnehmen. Daraus folgt, daß auf der Grundlage der bisherigen Ansichten zum Totalitarismusproblem eine Erweiterung im Sinne einer Neototalitarismustheorie notwendig ist. Nicht nur die Bedrohung durch Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus, sondern durch Irrationalität, Reideologisierung und die daraus folgenden Gefährdungen des Rechtsstaates müssen ergänzend zu den bisherigen Gesichtspunkten hinzutreten. Neototalitarismus bedeutet, daß die Beschäftigung mit dem Irrationalismus nötig ist, mit dem Ziel, Rationalität, Humanität und Rechtsstaatlichkeit gegen ihre Bedrohung und gegen ihre Verächter kämpferisch zu bewahren. Dieses Ziel findet keine Stütze in einem Liberalismus, der zunehmend zur Permissivität entartet. Eine solche Neototalitarismusauffassung muß sich keineswegs nur gegen Nationalsozialismus/Faschismus und Kommunismus und damit gegen abgetane Ideologien richten, die nach dem jetzigen Kenntnisstand und Eindruck zwar nach wie vor Gefahren, aber doch eher Bedrohungen von gestern sind. Rüdiger Altmann hat 1983 auf einen bezeichnenden Wandel im geistigen Klima der Bundesrepublik hingewiesen: Er betonte, daß die Protestbewegung ihre Anhänger nicht mehr mit Programmen, sondern mit Konflikten mobilisiere.30 Richtig daran ist, daß die heutige Protestbewegung untheoretisch ist. Die heutige Linke, selbst Marxisten, vermeidet jene allgemein- und wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Diskussion beherrscht haben. Theorie ist aus der Mode gekommen. Systemveränderung wird heute nicht mehr über Lehrpläne und Schulbücher oder eine geschlossene Ideologie betrieben, vielmehr geschieht dies in einer Fülle von Einzelaktionen anhand wechselnder Konflikte auf irrationaler Basis. Ein solches Verständnis vom Neototalitarismus muß sich mit allen Irrationalismen, auch Sekten, aber auch etablierten Religionen und ihren Machtansprüchen befassen. Die Ajatollahs aller Religionen (nicht nur der islamischen) und Konfessionen (nicht nur der schiitischen) und die Sekten müssen Gegenstand der kritischen Untersuchung sein, soweit sich ihre Tätigkeit gegen die Rationalität und deren wichtigste Errungenschaft, den Rechtsstaat, richtet. Wenn man auf die Bemühungen der Politischen Bildung sieht, ist in dieser Hinsicht völlige Fehlanzeige anzumelden, wenn man auf die Bemühungen der Geschichts- und Sozialwissenschaften blickt, ist mindestens ein Fragezeichen zu setzen. Abhilfe auf diesem Gebiet ist eine dringende Forderung.
Anmerkungen 1) Die Beschlüss~ sind veröffentlicht bei Karl Boreherding: Wege und Ziele politischer Bildung in Deutschland, München: Olzog 1965, S.95, 98, 99. 2) Wolfgang W.Mickel: Lehrpläne und politische Bildung, Neuwied 1971. 3) Zu den Einzelheiten siehe die Hinweise in: Hans-Helmuth Knütter: Historisch-politische Bildung in der Schule - Die Richtlinien in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland unter bildungspolitisehern und wissenschaftstheoretischern Aspekt, in: Engagement, Zeitschrift für Erziehung und Schule, Heft 3/4, 1983, S.146-157. 4) Synopse der Richtlinien für den sozialwissenschaftlichen Unterricht Februar 1981, zusammengestellt von Gisela Rade für die Bundeszentrale für Politische Bildung (unveröffentlicht).
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5) Kun Gerhard Fischer: Das Problem der Lerninhalte für den politischen Unterricht in: Zur Situation der politischen Bildung in der Schule. Ergebnisse einer Fachtagung der Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 1983, S.105. 6) Bernd Hennig - Peter Müller - Horst Schlausch: Inhaltliche Schwerpunkte politischer Bildung in den Lehrplänen der Bundesländer, in: (wie Anm5) S.113-317. 7) Die Angaben für die einzelnen Bundesländer befinden sich bei Mickel (Anm. 2) auf folgenden Seiten: Bayern 112 und 124, Berlin 113,125,310, Bremen 126, Hamburg 128, Hessen 131 f., 290f., 314, Niedersachsen 133, 290ff., 364, Nordrhein-Westfalen 134, Rheinland-Pfalz 119, 135, 290ff., Saar 136, 290ff., 370f., Schleswig-Holstein 137, 290ff., 316. 8) Die Angaben stützen sich auf die Zusammenstellung von Gisela Rade a.a.O., (wie Anm.4). 9) Studienstufe Mainz, Lehrplan (Entwurf) Gemeinschaftskunde, Leistungskurs Geschichte (1979). 9a) Vorläufige Arbeitsanweisungen für die Hauptschulen Baden-Wüntembergs. Hg. vom Kultusministerium Baden-Wüntembergs, Villingen 1968, S.102f. Prof. Dr. Klaus Hornung, Reutlingen, hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß er der Verfasser dieses Lehrplantextes sei. 10) Hennig - Müller - Schlausch a.a.O. Die einzelnen Länderangaben finden sich auf folgenden Seiten, Sekundarstufe I: Berlin 148, 217, Bremen 156, 218, Hamburg 172, 219, Niedersachsen 179, Nordrhein-Westfalen 189, 220. Sekundarstufe 11: Bayern 242, 245, Bremen 254, Niedersachsen 267, 268, NRW 271, Rheinland-Pfalz 277,279, Saar 289, Schleswig-Holstein 295. Für die Sekundarstufe 11 ist bei den Unterrichtskategorien der Totalitarismus nirgends genannt (299-303). 11) Es gibt bisher ganze zwei Unterrichtseinheiten, die sich mit Jugendreligionen befassen. Sie sind um 1980 e~schienen, siehe Roben und Gabriele Graeff - Alfred Kurz: Bibliographie zu Unterrichtseinheiten der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale 1984, S.73 (Nr. 551), S.76 (Nr.584). In der älteren Bibliographie der genannten Autoren, die Veröffentlichungen vor 1979 berücksichtigt, ist zu diesem Gebiet keine Angabe zu finden (Alfred Kurz - Roben Graeff: Bibliographie zu Unterrichtseinheiten der politischen Bildung, Bonn: Bundeszentrale, 2. Auflage 1981). 12) Jakob Schäfer: Gemeinsamkeit in Lehrplänen? - Auseinanderweichen im Hinblick auf Wenvorstellungen und Erziehungsinhalten, in: Blickpunkt Schulbuch, Heft 23, März 1979, S.21ff.; Hans-Helmuth Knütter: Historisch-politische Bildung in der Schule (wie Anm.3) S.156. 13) Gabriele Hess-Daniel - Hans-Helmuth Knütter: Synopse der in allen Bundesländern zugelassenen Unterrichtsmaterialien für den sozialwissenschaftlichen Unterricht ... 1974-1976/77, Bonn: Bund Freiheit der Wissenschaft 1977, S.1. 14) Bernhard Sutor: Didaktik des politischen Unterrichts, Paderborn 1971, 2. Auflage 1973; Herben Bath: Emanzipation als Erziehungsziel? Bad Heilbrunn 1974; Peter Gutjahr-Löser - Hans-Helmuth Knütter (Hrsg.): Der Streit um die politische Bildung, München 1975; Dieter Grosser u. a.: Politische Bildung. Grundlagen und Zielprojektionen für den Unterricht an Schulen. Hrsg. v. Walter Braun, Wilhelm Hahn, Hans Maier, Werner Remmers, Werner Scherer, Bernhard Vogel, Stuttgan 1976, e~ei tene und bearbeitete Neuauflage: Heinrich Oberreuter (Hrsg.): Freiheitliches Verfassungsdenken und politische Bildung, Stuttgan 1980. Die Materialien der 1976 an die Öffentlichkeit getretenen .Arbeitsgruppe Freie Gesellschaft" (Walberberg), bestehend aus einem Theorieband, einem Lesebuch und zahlreichen Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe I, sind im Oldenbourg-Verlag, München, erschienen. 15) Gerd Stein (Hrsg.): Schulbuchschelte als Politikum und Herausforderung wissenschaftlicher Schulbucharbeit, 5tuttgan 1979. 16) Alfred Kurz - Roben Graeff, a.a.O. und Roben und Gabriele Graeff - Alfred Kurz, a.a.O. (wie Anm.11). 17) Hans Ritscher (Hrsg.): Die Welt der Politik I. Lehrbuch der Sozial- und Gemeinschaftskunde. Frankfun: Diesterweg, 5. Auflage 1972, S.35-51. 18) Heinz Grosche: Politik und Recht. Lehr- und Arbeitsbuch für Sozial- und Gemeinschaftskunde, Frankfun: Diesterweg, 7. Auflage 1977 (Neufassung), S.34-53. 19) Kun Gerhard Fischer und Mitarbeiter: Politische Bildung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für den sozialkundlich-politischen Unterricht, Stuttgan: Metzler 1974. Die Definition auf S. 335, das 9. Kapitel: Das totalitäre Herrschaftssystem des Nationalsozialismus, 5.241-268.
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20) Wolfgang Hilligen - Walter Gagel - Ursula Buch: Sehen, beurteilen, handeln. Arbeitsbuch für den politischen Unterricht in der Sekundarstufe I (Klasse 7-10), Frankfun am Main: Hirschgraben 1978, S.273. 21) dieselben: Lehrerhandbuch, Frankfun am Main: Hirschgraben 1979, S.174. 22) Bernhard Sutor (Hrsg.): Politik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch für den Politikunterricht ... auf der Sekundarstufe 11 der allgemeinbildenden und beruflichen Schulen sowie im 2. Bildungsweg und der Erwachsenenbildung, Paderborn: Schöningh 1979, S.144. 23) ders.: Neue Grundlegung politischer Bildung. Band I, Paderborn: Schöningh 1984, S.144. 24) vgl. auch Sutor, a.a.O., S.150. 25) Manin Greiffenhagen - Manfred Hättich: Sozialkunde. Lehr- und Arbeitsbuch für die Sekundarstufe I, Stuttgan: Klett 1972, S.38 ff. 26) Hans Hermann Hanwich - Dieter Grosser - Hannelore Horn - Wolfgang Scheffler: Politik im 20. Jahrhunden, Braunschweig: Westermann, 4. Aufl.1974. Das Buch ist in 1. Aufl. 1963 erschienen, die Neuausgabe 1984. 27) Hess - Daniel - Knütter, (wie Anm.13), S.31. 28) Eduard Schaefer: Der totalitäre Sozialismus. Didaktische Überlegungen zu einer Unterrichtsreihe auf der Oberstufe des Gymnasiums. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 19, 1968, Heft 7, S.408-424. 29) Hermann Meyer: Probleme des Totalitarismus, Hannover: Schroedel1977 (Materialien für die Sekundarstufe 11). Eine ältere, in methodischer Hinsicht nach wie vor interessante Unterrichtseinheit vom selben Verfasser zum Thema: Totalitärer Staat und demokratische Grundordnung, liegt vor im Sammelband: Hermann Meyer: Themen zur Politik, Weinheim 1971, S.187-218, 2. Aufl. 1980. 30) Rüdiger Altmann: Friede als Kampfruf, in: FAZ, 10.09.1983 (Bilder und Zeiten).
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MANFRED FUNKE
Erfahrung und Aktualität des Totalitarismus Zur definitorischen Sicherung eines umstrittenen Begriffs moderner Herrschaftslehre nDann fragte er mich, was ein totalitärer Staat sei. Ich erwiderte: nDas ist ein Staat, in dem alles, was nicht verboten ist, obligatorisch ist." (Curzio Malaparte, Die Haut)
Zur Dimension des Problemfeldes
Wenn man das Goethe-Wort bemüht, wonach Geschichte geschrieben wird, um sich die Vergangenheit vom Halse zu schaffen, so gelingt das in Sachen Totalitarismus weniger denn je. Der Begriff bleibt Gegenstand anhaltender Erregung. Sie ergibt sich aus den Deckungsmängeln von Theorie und Praxis totalitärer Herrschaft, aus der Frage nach der zulässigen Übertragbarkeit des Begriffs auf Diktaturen unterschiedlichster Ideologien, aus der Vermischung von wissenschaftlichen mit politischen Überzeugungsgewißheiten, aus dem Maß der Verhinderung des einzelnen, gegen das Kollektiv zu bestehen. Verstärkt hat sich die Diskussion über die totalitäre Qualität des NS-Regimes. Streit herrscht zwischen den sogenannten Intentionalisten (Programmologen) und Revisionisten. Der Meinungskampf hält seit der denkwürdigen Tagung des Deutschen Historischen Instituts (London) im Mai 1979 unvermindert an.! Inzwischen hat sich auch die Zeitgeschichtsforschung Italiens, wo der Begriff des sistema totalitario entstand und dessen historische Genese von zwei deutschen Gelehrten, Helmut Goetz und Jens Petersen, rekonstruiert wurde, stark in die Debatte eingeschaltet.2 Der Mussolini-Biograph Renzo de Felice wartete mit einer uns artistisch anmutenden Interpretation auf, indem er den Faschismus in einen Rechts- und Linkstotalitarismus aufspaltete. 3 In Reaktivierung des Talmonschen Begriffs der totalitären Demokratien. und in Anlehnung an Augusto Del Noce wies de Felice den Totalitarismus als Signum des Italofaschismus zurück. Über die Frage nach den Gründen für den hohen Konsensus zwischen dem Duce Mussolini und den Massen kam es zwischen Wissenschaftlern und italienischen Sozialisten zu heftigen Meinungsverschiedenheiten. In Frankreich reaktivierte die Massenpsychologie des Faschismus mit ihrer Korrespondenz zur Freiheitsängstlichkeit der Gegenwart die von Georges Bataille in den dreißiger Jahren angestellten Analysen. 5 Großes Publikumsinteresse erregten die umfassenden Studien Fran~ois Revels. 6 Was die linke Rezeption des Totalitarismus betraf, so profitierte man hier gewiß von der Verwässerung der Unterschiede zwischen totalitärer Diktatur und freiheitlicher Demokratie. Statt dessen sprach man von Antagonismen zwischen Kapitalismus und Sozialismus. In der Bundesrepublik disqualifizierte Reinhard Kühnl die Feststellung totalitärer Gemeinsamkeiten rechter und linker Diktaturen aus der Perspektive ihrer Opfer als Angriff auf die Freiheit der Wissenschaft. Von außen gewann Raymond Aron jenes Humanum aus dem libertinären Intellektualismus zurück, das in der Bundesrepublik von Karl Dietrich Bracher vor allem immer wieder als Fundament unseres demokratischen 44
Selbstverständnisses verteidigt wird unter gleichzeitiger Markierung der Verführungspotentiale des Totalitarismus. Dieser suggeriere, "daß es besser und effektiver als alle bisherigen Staats- und Gesellschaftsformen die wahre Bestimmung des Menschen, ja wahre Demokratie und den perfekten Wohlfahrtsstaat realisieren könne."7 Nach Abschwächung der Entspannung zeigt die Publizistik der DDR deutliche Warnungen davor, den Totalitarismus für eine Konfrontationsstrategie zwischen den Blöcken zu reaktivieren. 8 Allgemein wurde die Diskussion um den Totalitarismus im Orwell-"Gedenkjahr" 1984 stark aktualisiert. Die Titel-Frage der Neuen Politischen Literatur (1983), ob wir vor einer Renaissance der Totalitarismusdebatte stehen, ist wohl zu bejahen. Dies ist zulässig mit Blick auf die Kontroversen um Faschismus, Totalitarismus in Ost und West und auf die Vielfalt des Schrifttums.9 Nach diesen knappsten Hinweisen gilt es, die angedeuteten Themenfelder in Augenschein zu nehmen, ohne damit zugleich alle Winkel ausleuchten zu können. Zur begrifflichen Vergewlsserung
Das Kernproblem des Totalitarismus als spezifische Erscheinung einer modernen Diktatur ist die Gefahr der definitorischen Überdehnung. Sie taucht auf, wenn man die Ideologien und die unterschiedlichsten Formen der ideologie-pflichtigen Herrschaftspraxis auf einen allgemeingültigen Begriff bringen will. Das sogenannte Friedrichsche Syndrom ist am Sowjetsystem, am Italofaschismus, am Nationalsozialismus, am Eurofaschismus der Weltkriegsepoche sowie an verschiedensten Regimen der Dritten Welt gewiß überprüfbar. Aber das gleichzeitige Vorhandensein einer imperialen Idee, eines charismatischen Führers (Führerrings), einer einzig zugelassenen Massenpartei, einer Befehlswirtschaft, eines Waffen- und Informationsmonopols sagen über die konkrete Kombination und Intensität dieser Herrschaftselemente zu wenig aus. Die imperialen Zielsetzungen Stalins, Hitlers, Mussolinis, die Bedeutung des Rassismus, des Klassenkampfes, die Stellung der Diktatoren im jeweiligen Herrschaftssystem zeigen auffällige Unterschiede.1° Hinzu tritt das Problem der Zeitlichkeit: "Wer vom Totalitarismus des Zaren reden will - und das läge zeitlich und phänomenal nicht weit entfernt - der wird starken Widerstand spüren. Vom Totalitarismus des Sonnenkönigs. der mittelalterlichen Päpste, der Pharaonen zu reden: Das ginge schon gar nicht.""
Warum widerstrebt einem die totalitäre Kennzeichnung jener Verwandlung der Theologie zur atemberilubenden Polizeiwissenschaft bei der Vernichtung der Katharer im Mittelalter? Welchen Spannungsbogen muß die Begriffsarchitektur vom faschistischen italien als Ursprungsort des stato totalitario bis hin zum Herrschaftssystem Japans tragfähig gliedern, um diesem eine militärfaschistische Geschlossenheit zusprechen zu können, wie sie kein vergleichbares System hatte?12 Die Gründe für die strittige definitorische Reichweite deutet Gerhard Schulz an, wenn er festhält, daß der Begriff "totalitärer Staat" zunächst die zeitgemäße Antithese zum parlamentarischen Verfassungsstaat liberal-pluralistischer Prägung bildete. Sie war mit der 45
Vorstellung einer Erneuerung des despotisch regierten Staates im 20.Jahrhundert verknüpft und enthüllte eine Form des Staates, die, in manchen Ansätzen früher schon vorweggenommen, erst auf der Höhe der Entwicklung moderner Techniken vollends in Erscheinung trat. Der Begriff wurde überwiegend nur für große und volkreiche Staaten in Anspruch genommen, also für eine ausgeprägt industrialisierte Gesellschaft, in der die Massen politisiert sind. 13 Prüft man nun diese Verhältnisse, ihre Dynamik und Größe "vor Ort", so ergeben sich so viele Abweichungen, daß man der Tendenz zum Verzicht auf die Totalitarismustheorie nachgeben möchte. Doch dem ist mit folgender Vergewisserung entgegenzutreten: Wenn man aus der Diversifikation totalitärer Elemente einen Theorieverzicht ableiten will, nimmt man das Sekundäre für das Eigentliche, erhebt man das Akzidentielle zum Substantiellen. Man vergißt unzulässigerweise, daß es immer Deckungslücken gibt zwischen dem Faktum und seiner Abbildung im Begriff. Keine allgemeine Regel erfaßt die Summe der Einzelfälle. Aber in der Totalitarismusdiskussion scheint man besessen vom Verlangen nach Identität der politischen Fakten mit der Theorie des empirisch-diagnostischen Zugriffs. Dabei wird die banale Tatsache übersehen, daß die Impulsqualität und Ausformung einer Diktatur entscheidend bestimmt werden durch die jeweiligen spezifischen situativen Bedingungsfelder. So schreibt Hermann Heller in seiner Staatslehre: "Daß alle Rechtsgrenzen" der diktatorischen Staatsgewalt beseitigt sind, heißt selbstverständlich nicht, daß der Diktator Allmacht besitzt, ja nicht einmal, daß alle Gewalt in seiner Person wirklich vereinigt wird. Wohl aber heißt.es, daß seine Macht ihre Grenzen nur noch an den tatsächlichen Machtverhältnissen der Gesellschaft findet. Weil aber der Diktaturapparat mit Hilfe der im letzten Jahrhundert ins Ungeheuerliche entwickelten Technik der physischen und psychischen Massenbeherrschung von Tank, Flugzeug und Gas, von Presse, Kino, Radio und Schule, so vor allem durch den Druck auf den Magen vervollkommnet werden kann, vermag der Leiter des Diktaturapparates die Monopolisierung des Diktaturapparates in einem ungeahnten Maße durchzuführen" .14
Wenn also die vor Ort überprüfbaren, höchst unterschiedlichen Grade und Konkretheiten des "ungeahnten Maßes" zur Absage an die Tauglichkeit des Totalitarismusbegriffs selbst führen, dann gibt es dafür einen entscheidenden Erklärungsgrund. Er besteht darin, daß diese Kritiker von totalitär sprechen und total meinen, also eine falsche begriffliche Meßlatte anlegen. Ihr Denken ist besetzt von dem Bild einer totalen Herrschaft, einer im Denken und Handeln monolithisch geschlossenen Gesellschaft, in welcher der Einzelne Manipulationsobjekt ideologischer Reaktionsphysik ist. Es wäre aber zutiefst unpolitisch und hieße unmenschlich den Menschen denken, wenn man - gerade unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts - eine solche menschliche Herrschaft in der Realität bewiesen fände. Totale Herrschaft würde bedeuten die Aufhebung spannungsträchtiger Besorgtheit um die Stabilität und Vervollkommnung der Herrschaft. Wie eine revolutionäre Situation noch keine revolutionierte ist, d. h. die Entwicklung vor ihrem Vollzugsabschluß verhält, so ist totalitäre Herrschaft im Gegensatz zur totalen jene, in der sich die monopolisierte Anspruchsgewalt noch nicht erfüllt hat. Hier ist die Herrschaftsidee noch nicht geronnen: total steht noch zu sich selber dialektisch, das heißt unvollendet in actu. Es ist 46.
deswegen geradezu begriffskonstituierend, daß totalitäre Machthaber ebenso in Vernichtungskämpfe gegen die Traditionsbestände wie in Koalitionen auf Zeit mit denselben hineingehen.. Eine toleranzunfähige radikale Bewegung gerät in der Übernahme der Macht zwanghaft in eine totalitäre Struktur, weil sie ihre Herrschaft nicht aus der ideologischen Retorte, sondern aus der Konkretheit vorgefundener Bedingungen gestalten muß. So sind zum Beispiel Mussolinis Allianz mit dem Katholizismus, die Variantenvielfalt von der Durchstaatlichung bis zur Verstaatlichung der Wirtschaft, Stalins patriotischer Nationalismus im Großen Vaterländischen Krieg oder Hitlers Verbindung mit den konservativen Führungseliten geradezu Indikatoren totalitärer Herrschaft. Doch solche Mixturen von Revolution und Tradition machen noch nicht das Eigentliche aus. Zwei Wesenselernente gehören dazu: Erstens ein antipluralistisches Willenskontinuum des oder der Machthaber zur verdeckten, offenen oder schubweisen Durchsetzung eines Herrschaftsideals bzw. Herrschaftsphantoms. Zweitens eine im Durchsetzungsprozeß jenes Programms unmittelbare bzw. mittelbare Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Prinzips, keine Macht ohne Kontrolle zuzulassen und mittels einer Gewaltenteilung zu verhindern, daß der Zukunft die Repetition einer vorgegebenen Sinndeutung menschlichen Daseins auferlegt wird. Mögen also die Zielqualitäten der Diktaturen noch so unterschiedlich sein, als totalitäre sind sie dann bestimmbar, wenn sie, mit teilungsunwilligem Machtanspruch und den Techniken der Massenkontrolle ausgestattet, die Vertragskultur zwischen Staat - Gesellschaft - Individuen zerstören und das Befinden über Interessenkonkurrenzen von jenen Kräften monopolisiert wird, die sich Legislative, Exekutive und Judikative für die Schaffung einer neuen Gesellschaft unterstellen, was mit einer prinzipiellen Minderung der Rechtsposition des Einzelnen verbunden ist. Hatte Hitler schon in "Mein Kampf" die Überführung des Staates in eine völkische, aktionistische Bewegung propagiert, so verkündete er noch in seiner letzten öffentlichen Rede am 30.1.1945 die Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft. Goebbels' Schwur, das Jahr 1789 aus dem Gedächtnis der Welt ausradieren zu wollen, offenbarte den wahren Charakter totalitärer Politik. Wenngleich de Felice mit Bezug auf Italien auch behauptet, daß Mussolinis Faschismus die moderne Fortentwicklung der von der Französischen Revolution durchgesetzten Leitwerte gewesen sei, so ist dies bei einem Rekurs zur "Lehre des Faschismus" schwerlich zu akzeptieren. Dort wird der Faschismus zwar als die "reinste Form der Demokratie" bestimmt, aber mit dem Hinweis versehen: "Für den Faschisten ist alles im Staate und nichts Menschliches oder Geistiges besteht auBerhalb des Staates. In diesem Sinne ist der Faschismus totalitär und der faschistische Staat, als Zusammenfassung und Einheit aller Werte, deutet, entwickelt und beherrscht das ganze Leben. "15
Auch die über den Marxismus geleitete Adaption des Parlamentarismus und Liberalismus als dialektische Zwischenstufe auf dem Weg zur klassenlosen Gesellschaft kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß das sowjetische Herrschaftssystem am gründlichsten die Träger der bürgerlichen politischen Kultur ausgeschaltet hat. Die Ausbreitung der UdSSR nach 1945, ihre Unterstützung bei der Dekolonisation und der Etablierung sozialistischer Systeme sowie ihr Fanal des Internationalen Klassenkampfes deuten auf eine 47
weitere Gemeinsamkeit totalitärer Diktaturen hin: sie sind tendenziell nach innen wie nach außen expansionistisch. Mussolini wollte das Mittelmeer als Gravitationszentrum eines neuen Impero Romano, Hitler erstrebte eine rassistische, germanozentrische Weltordnung und Stalin verstand sich als Vorkämpfer eines sozialistischen Endsieges über die kapitalistisch-imperialistische Ausbeuterwelt. Bei höchst unterschiedlichen Zielinhalten gestaltet sich in der totalitären Diktatur das Feinbild nach innen und außen als absolut. Partei, Bürokratie, Miliz und Militär bilden das Mobilisierungsscharnier zwischen Apparatur und Massen, welches den Erwartungsvollzug territorialer oder verdeckter (penetrated systems) Machtausdehnung zum ideologischen Ultimatum erhebt. Folglich gilt: Totalitäre Herrschaft bestimmt sich aus der Fähigkeit und der Absicht, die jeweiligen materialen Bedingungen und Besonderheiten für ein Herrschaftsmonopol zu dessen ständiger Beförderung zu funktionalisieren mit dem Generalzweck der Vernichtung des pluralistisch organisierten Verfassungsstaates. Totalitarismus ist deshalb nur gültig im Paradigma eines von europäischer Aufklärung, Menschen- und Bürgerrechtsideen bestimmten, zumindest aber geprägten politischen Kulturkreises. Deshalb sollte Totalitarismus als eigenständige Größe transnational gültiger Herrschaftstypologien abgelöst und in die Demokratietheorie überführt werden. Hier allein ist der Totalitarismus zu rechtfertigen als Bezeichnung eines Herrschaftsmodells, das einen Vergleich aller gesellschaftlichen Systeme unter dem "Kriterium der politischen Freiheit" (Bracher) ermöglicht. So verstanden, ist auch dieses Kriterium des westlichen Freiheitsverständnisses geltend zu machen gegen die Bedenken einer Übertragbarkeit des Totalitarismusbegriffs auf die Dritte Welt bzw. auf Regimes mit einem in Traditionen spezifisch aufgehobenen bzw. anders bewerteten individuellen Freiheitsrecht. 16 Am Ende des 20.Jahrhunderts kann das Bewußtsein für den bedrückenden Freiheitsentzug in den meisten Staaten der Welt jedoch nur durch die Theorie des Totalitarismus geschärft werden, ohne indes dabei die oftmalige Deckungslosigkeit zwischen Begriff und Realität leugnen zu dürfenY Die unterschiedliche Qualität und Reichweite der konkurrierenden totalitären Ideologien sind nicht zu bestreiten. Deshalb sind sie auch nicht gleichzusetzen, aber durchaus vergleichbar in ihrer Argumentationsstruktur der "Feind"-Bestimmung und "Feind"-Behandlung. Die Selbstermächtigung zur Auswahl des Opfers, dessen prinzipielle Chancenlosigkeit gegen die Apparatur, die Verfügungsgewalt über das richtige und das falsche "Bewußtsein", das Instrumentarium zur Herstellung von Gehorsamsbereitschaft erlauben die Vergleichbarkeit in einem Punkt, den Manfred Hättich markiert: "Soziales Handeln und Verhalten kann nicht ausschließlich unter der Kategorie des Mittels betrachtet werden, wenn es das Prädikat human verdienen soll. Arsenal sozialen Handeins ist stets der Mitmensch. Wenn dieser keinen Anspruch mehr darauf zuerkannt erhält von seinen Mitmenschen, auch in der Situation der Gegnerschaft, bestimmte Verhaltensgrenzen erwarten zu dürfen, wird er zum Mittel der Ziele des anderen degradiert. "18
Dieser Begriff des Humanen oder des unantastbaren Kerns der Menschenwürde ist Beleg einer wissenschaftlich-politischen Vorentscheidung (die hier unmittelbar zu bekennen ist) gegen alle Konzeptionen einer geschlossenen Gesellschaft. Damit wird daran erinnert,
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daß eine intellektuelle Zuwendung gegenüber Totalitarismus nie voraussetzungslos geschehen kann. Sie ist prinzipiell gebunden an einen liberalen Werte-Kanon, in dem sich das Totalitäre aus der Qualität des Umgangs mit dem politischen Gegner als dem U nterlegenen jeweils bestimmt. Die zuweilen schiefen Frontstellungen in der bisherigen T otalitarismusdiskussion konnten wohl nur eintreten, weil man im Eifern um die theoretische Vereinnahmung sperriger Fakten die eigenen personalen Rezeptionsbedingungen vergaß und Chiffren für Inhalte nahm. Es ist schlicht unsinnig, von den politischen Phänomenen selbst deren Erklärung geliefert bekommen zu wollen. Aus ihnen allein gelingt nicht die Abstammungslehre des eigenen Urteils. Zwei Zitate mögen eine Kurskorrektur zum Selbstverständlichen einleiten. So erinnert Peter Graf Kielmansegg: .Das Erkenntnisinteresse, in dem die Fragestellung der Wissenschaft wurzeln, ist von einer ganz bestimmten - immer bewerteten - geschichtlichen Erfahrung geprägt; die Relevanzkriterien, die den Konzepten zugrunde liegen, werden aus solcher Erfahrung gewonnen."
Mit Bezug auf die Reichweite oder Theorie des Totalitarismus gilt deshalb: .Historisch-politsche Begriffsbildung steht und fällt mit ihrer Flexibilität und Modifikationsfähigkeit, zugleich mit der steten Rückbesinnung auf die politische Wirklichkeit und die politische Erfahrung, auf der sie beruht. ... Nicht den Vergleich auszuschließen, sondern ihn sorgfältiger zu führen, bestimmt die Rolle und den Wert von Typisierungen, Generalisierungen, Allgemeinbegriffen im Rahmen der Geschichts- wie der Sozialwissenschaften" (Bracher).19
Dadurch verlieren Theorien einerseits ihre durch den Allgemeingültigkeitszwang bestimmte oftmalige Vagheit der Aussage und gewinnen andererseits Trennschärfe und feines Profil. Um hier beide zu pointieren, ist auch eine Markierung der tendenziellen Unterschiede zwischen totalitärer und autoritärer Diktatur vorzunehmen. Dazu empfiehlt sich als Schlüsseltechnik für die Ermittlung der komplementären sowie der singulären Eigenschaften bei der Systeme eine Merkmalskatalog aus zehn Punkten: 1. Autoritäre und totalitäre Herrschaft gehören zur Klasse der Diktatur. Ihr fehlen die
Eigenschaften parlamentarisch-demokratischer Herrschaft: - Macht auf Zeit durch Abwahl; - Recht auf Bildung und Organisation von Opposition; - Unabhängige Judikatur.
2. Autoritäre un:d totalitäre Herrschaft entstehen zumeist aus Krisen der Demokratie, des Parlamentarismus, durch Putsche oder pseudolegale Machtergreifung von radikalen Parteien in Allianz mit Teilen der traditionellen Ordnungskräfte (Polizei, Militär, Bürokratie). 3. Mit der Herstellung von Ruhe, Ordnung, mit Durchschaubarkeit der Verhältnisse wird zunächst die Zustimmung der Massen erkauft durch freiwil1igen und loder erzwungenen Verzicht auf persönliche Grundfreiheit. Formale Elemente der Demo4 Löw, 2. A.
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kratie bleiben bestehen, dienen als Herrschaftsfassade, legitimieren die Gewaltsamkeit in 99%-Plebisziten. 4. Die autoritäre/ totalitäre Herrschaft ist bestimmt durch das mehr oder minder gleichzeitige Vorhandensein eines Führerkultes, einer vorherrschenden Massenpartei, einer Konzentration der nationalistischen Kräfte zugunsten einer nach innen oder außen gerichteten visionären Programmatik, einer gestuften Verschmelzung von Privatkapitalismus und Befehlswirtschaft, eines Waffen-, Propaganda- und Informationsmonopols und einer mächtigen Geheimpolizei.
s.
Im Gegensatz zum totalitären Regime muß im autoritären der Führer (oder die Führungsclique) stärker um die Erhaltung der Macht besorgt sein durch Propaganda, Brot und Spiele, da die Massen nach Herstellung öffentlicher Disziplin oft nur labile Loyalität zeigen. Der autoritäre Herrscher verfügt zwar auch jederzeit über die Auslösung des Ausnahmezustandes, steht aber nicht so hoch über den Gesetzen wie der totalitäre Führer; der autoritäre ändert die Verfassung nach seinen Bedürfnissen zunächst, wird dann aber auf ihre Einhaltung stärker verpflichtet. Das Maß der Distanz zwischen Herrscher und Beherrschten ist im totalitären Regime weit größer durch die Idolisierung des Führers oder der Utopie, die der Führer als Vermächtnis gegen die Welt in seine persönlichste Obhut nimmt.
6. Die autoritäre Diktatur lebt zumeist von der Beschwörung der kontrahierten nationalen Kräfte und Traditionen, ohne mit einer neuen revolutionären Ideologie aufzuwarten, wie sie im Ideologie-Imperialismus der Kommunisten oder im Machtgedanken der Nazis sakralisiert wird. 7. Dagegen verdichten sich alle Konstitutionsmerkmale der autoritären Diktatur in einer totalitären zum Treibsatz eines "Heilsgeschehens", in dem der Einzelne nichts gilt, der Staat, die Partei alles sind. Sie werden instrumentalisiert für einen auf Weltherrschaft ausgerichteten internationalen Klassenkampf oder ausgerichtet auf Weltherrschaft als zur Wirklichkeit geronnener Utopie des politischen Biologismus. 8. Während die autoritäre Diktatur im nationalen Herrschaftsverband mit einseitiger Dominanz bestimmter Machtgruppen bekannte Tendenzen oder Parteiprogramme durchsetzen will, zielt totalitäre Herrschaft auf eine qualitativ völlig andere Form des politischen Bewußtseins. Totalitäre Herrschaft will einen "neuen" Menschen. Er wird rationalisiert von der Heilsgewißheit eines Dogmas, das die Trennbarkeit von Staat, Gesellschaft, Individualität verächtlich macht, die Reservate des Persönlichen tendenziell aufhebt und sich berechtigt weiß, zur Beförderung einer ganz neuen "Humanität" über Leichen gehen zu dürfen. 9. Herrschaftsziele und Herrschaftsprozesse weisen jeweils das Maß von totalitär/autoritär im Verbund der Ziel-Mittel-Relation aus, bilden Intensitätsstufen der Herrschaftsklasse "Diktaturen" ab, die im Vollzug der Übermacht zur Allmacht begriffen sind. Da bei einem Vergleich von Italofaschismus, Sowjetkommunismus und Nationalsozialismus die Kombination von geschlossener Gesellschaftslehre und Kontrollinstrumentarium zu wenig aussagt über Ziele und Intensität des jeweiligen Durchsetzungsgrades und damit über die Phasengebundesnheit der jeweiligen Herrschafts50
struktur, sollte vom totalitären System nur in adjektivischer Beschränkung gesprochen werden, d. h. unter Berücksichtigung der situativen und habituellen Bedingungsfaktoren von Zeit und Raum; also: totalitärer Faschismus, totalitärer Sozialismus, totalitärer Nationalismus, aber auch im Sinne Talmons: totalitäre Demokratie. Da hier aber Adjektiv und Substantiv zueinander in einer nichtidentischen Identität stehen, folglich in einem Strukturgitter Öffnungjüreinander und Begrenzung gegeneinander zugleich aufweisen, sollten auch umgekehrt Begriffe zugelassen werden wie faschistischer Totalitarismus, sozialistischer Totalitarismus, nazistischer T otalitarismus oder demokratischer Totalitarismus. Wobei sich der letztere Begriff hineinzwängt mit Hitlers Charakterisierung seines Herrschaftssystems als wahrhaft germanischer "Demokratie", oder mit Mussolinis Wort, er sei ein autoritärer Demokrat oder mit seinem Ausruf auf dem Maifeld am 28.9.1937: "Die größten und echtesten Demokratien, die die Welt kennt, sind die deutsche und die italienische". 10. Stärker als eine autoritäre Diktatur, die sich mit ihrer Akzeptanz in der Ruhigstellung der Machtverhältnisse zumeist gesättigt zeigt, kennzeichnet das totalitäre Regime eine permanente (offen oder verdeckt), dogmatisch inspirierte Mobilmachung in den Beziehungen zwischen Staat, Partei und Gesellschaft. Die nur jeweilige Gültigkeit vor "Ort" sollte man den Murrenden schon mit der Genese des Totalitarismus verdeutlichen. Zur Begriffsgenese des Totalitarismus
Wir haben Helmut Goetz und Jens Petersen unser Wissen zu verdanken, daß weder Mussoli ni noch seine Parteigänger den Begriff "totalitär" gestiftet haben. Der Neologismus stammt vielmehr von dem Liberaldemokraten Giovanni Amendola. Er prangerte in der Zeitschrift ,,11 Mondo" am 12. Mai 1923 an, daß die Faschisten offensichtlich kein Mehrheits- oder Minderheitssystem anstrebten, sondern ein sistema totalitario, also die absolute und unkontrollierbare Herrschaft im Bereich der kommunalen Politik und Verwaltung. Erst im Zeichen der Matteotti-Krise hat Mussolini diesen Begriff als Vorwurf der gewalttätigen Wahlrechtsverachtung von seinen Kritikern usurpiert. In der berühmten Rede vom 3. Januar 1925 sprach der Duce von seinem unerbittlichen totalitären Willen zur hundertprozentigen Faschistisierung der Nation. Aus Italienern und Faschisten sollte im stato totalitario dieselbe Sache werden. Doch scheint selbst heute bei der Wesenserschließung des Faschismus der Totalitarismus für die italienischen Forscher wenig Bedeutung zu haben. "Ich kann darüber", so der Mussolini-Biograph, Renze de Felice, "kein großes Bedauern empfinden, denn ich bin kein Anhänger der Auffassung, die im Faschismus einen Ausdruck des Totalitarismus sieht". Einen Interpretationsgleichklang von roter, brauner, schwarzer Diktatur lehnt de Felice entschieden ab. Höchstens noch zulässig erscheint ihm im Vergleich von Italofaschismus und Nationalsozialismus die Aufspaltung in einen Rechts- und Linkstotalitarismus. Rechtstotalitär wäre demnach Hitlers Herrschaft, linkstotalitär diejenige Mussolinis. Offensichtlich besteht für de Felice das Trennmittel in Talmons Begriff der totalitären Demokratie, die als plebiszitäre Massendemokratie in der Zeit der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution entsteht. De 4'
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Felice wagt sogar die Behauptung, "daß der Faschismus keine Bewegung war, die die bürgerlichen Wertvorstellungen und Institutionen bekämpfte", sondern diese gleichsam im Sinne der Verheißungen von 1789 fortentwickeln wollte. Nicht zuletzt Mussolinis Beginn als Linkssozialist und die Gestaltung der Sozialistischen Republik von Salo am Ende würden den Begriff des Linkstotalitären rechtfertigen. Das Entscheidungskriterium gegen das rechtstotalitäre NS-System bildet für de Felice der Rassismus. Mussolini hielt es, wie er einmal sagte, für möglich, die Juden zu arisieren, was für Hitler ein Verstoß gegen die Naturgesetze gewesen wäre. Im Rassismus sieht de Felice ein Indiz für den "tragischen Optimismus" des NS-Menschenbilds, das rückwärtsgewandt und antimodernistisch sei, während den Faschismus ein "optimaler Vitalismus" erfüllt habe, in welchem Aufklärung, Aufbruch und Fortschrittsbejahung bestimmend gewesen seien. 20 Offenbar hatte de Felice dabei die politische Selbstdarstellung des Duce vor Augen! Und in der Tat existieren keine Bilder von Hitler als Erntehelfer mit schweißnassem Oberkörper, von Hitler als Traktor-, Motorrad- oder Skifahrer. Aber es wäre naiv, den Antimodernismus in jenem Sinne zu deuten, daß der Nazismus eine emphatische Selbstfeier in Blut- und Boden-Mystik betrieben hätte. Die Fürsorge Himmlers galt gewiß dem Germanisierungskult und der Schollenbindung, aber sie bildeten nur bedingt die eigentliche Antriebsstruktur des NS-Systems. Dies setzte vor allem auf Industrie und Technik. Wenn es de Felice auch nicht wahrhaben will, so zeigt doch Mussolinis Beschwörung der altrömischen Tugenden und Hitlers Gerede von der wahrhaft germanischen Demokratie beide Diktaturen im Schnittpunkt von industriellem Modernismus und pathetischem Prunk mythologisierter Nationalgeschichte. Mit Recht führt etwa M. Michaelis eine Reihe von Unterschieden zwischen Hitlers und Mussolinis Führerturn auf, die im Wort des Duce vom "Drama der Dyarchie" Ausdruck finden: Neben dem königlichen Ministerrat gab es den faschistischen Großrat, neben dem königlichen Senat die faschistische Abgeordnetenkammer, neben dem königlichen Heer die faschistische Miliz, neben den königlichen Carabinieri die faschistische Geheimpolizei; Adel, Großbürgertum, Klerus und Freimaurer waren Stützen des Thrones; an der Spitze standen die bei den "ersten Marschälle des Imperiums", der konservative Monarch und der revolutionäre Parteiführer. Der Staat der Schwarzhemden war also niemals nur faschistisch, "sondern blieb bis zum Schluß auch dynamisch und katholisch, also nicht im faschistischen Sinne totalitär."21 Auf Druck des Faschistischen Großrates mußte der Duce 1943 den militärischen Oberbefehl aus der Hand legen. Hitler dagegen regierte, wie Hans Mommsen sagt, legibus absolutus. 1942 wurde Hitler selbst noch zum obersten Gerichtsherrn offiziell vom Reichstag bestellt, obwohl er faktisch längst Herr und Meister über Staat und Partei war. Und dennoch! Auch hier hat die Theoriedebatte über die Begrenztheit des Totalitären im NS-System an Heftigkeit zugenommen. Worum geht es? Allgemein wohl um die Überrationalisierung des theoretischen Anspruchs gegenüber den Rationalitätsmängeln in der politischen Praxis des NS-Regimes.
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Die totaJltäre Herrschaftsqualität des NS-Regimes Im Spiegel der aktuellen Diskussion
Die Spaimung zwischen normativem Anspruch der Totalitarismustheorie und der empirisch-diagnostischen Erkundungen der Herrschaftsrealität hat besonders in Deutschland zu einer Kontroverse geführt, die sich am Schlagwort vom monolithischen Charakter des NS-Systems entzündet hat und der, wie Broszat feststellt, "schwer zu halten ist". Seine Problematik liege darin, so Broszat weiter, daß mit der übermäßigen Betonung des (so verstandenen) totalitären Charakters der NS-Herrschaft gleichsam der Eindruck unentrinnbarer Gleichschaltung und terroristischer Einschüchterung durch einen perfekten Polizeistaat vermittelt wird, der nur die Wahl ließ zwischen todesbereitem Märtyrertum und absoluter Unterwerfung; ein Geschichtsbild, von den Angehörigen der älteren Generation vielleicht auch aus Alibi-Gründen gern gesehen, das bei der jüngeren Generation doch eher Ratlosigkeit, kaum interessierte Nachfrage auslösen mußte. Hier hat ein vergröberter Totalitarismus-Begriff manches normativ weg-pauschalisiert, statt historisch einsichtig gemacht.22 Interessierte Nachfrage mehr denn je hat dann Broszat selbst mit seiner Deutung des Hitler-Staates, haben Tim Mason und vor allem Hans Mommsen hergestellt. Monokratie contra Polykratie, Hitler als Exponent oder Dirigent des Systems, das Wort vom schwa· chen Diktator Hit/er brachten Verunsicherung in die Gelehrtenstuben. Die Kompetenzkonkurrenz der Ämter und Sonderstäbe, die etwa von K.D. Adam aufgezeigten Systemlücken zwischen antijüdischer Gesetzgebung und der Vernichtungspolitik sowie die Inkonstanz des Hitlerschen Führungswillens sollten Indizien sein gegen eine monolithische U mschlossenheit, gegen die Vorstellung einer Identität von Volk und Reich und Führer. 23 Abgesehen davon, daß eine solche monolithische Gestalt der NS-Herrschaft von den sogenannten Traditionalisten nirgends nachweislich behauptet wurde, lebt die Originalität der sogenannten revisionistischen Kritik möglicherweise selbst von einer Begriffsvergröberung. Sie erfolgt in der gleichzeitigen Verwendung von "total" und "totalitär". Konkret: Indem man den Traditionalisten die Behauptung totaler, programmkonformer Herrschaft des NS zuweist und dann die Brüche, sowie Konsequenzlücken der konkreten Herrschaftsgestaltung Hitlers dagegen hält, zielt man am Wesentlichen dieser totalitären Diktatur vorbei. Denn die revisionistische Kritik lebt von der eigenmächtigen Steigerung des Totalitären zum Totalen, um dann nachzuweisen, daß diese Totalität weder in der geistigen Indoktrination (man denke an die großen Studien "Bayern in der NS-Zeit", an die wachsende Widerstandsliteratur, an Oral History und Alltag-im-NS-Deutschland) noch in der Systematik der Eroberungspolitik (statt Strategie des Nacheinander Zirkelstruktur des Gleichzeitigen!) bestanden habe. Die Herrschaftsqualität des NS war aber nicht deswegen weniger totalitär, weil es vor dem Volksgerichtshof auch Freisprüche gab. Sie war auch nicht weniger totalitär, weil Hitler die Rüstungs- und Konsumindustrie lange Zeit in einem den totale~ Krieg hemmenden Duellverhältnis beließ. Sie war auch nicht weniger totalitär, weil Hitler kein bürokratisches Regiment führte mit Aktenpflicht, Kabinettssitzungen und Schreibtischfron. Sie war vielmehr in spezifischer Weise totalitär, als sie nämlich den Bürger in einen 53
Herrschaftsraum stellte, in dem er ständig zum Objekt einer Spaltung und Verschmelzung des Dual State wurde, des Normen- und des Ausnahmestaates: An Einzelnen konnten sich willkürlich Erhöhung und Vernichtung, Schonung und Preisgabe vollziehen. Die Gleichzeitigkeit des Unmöglichen und Unfaßbaren, des sich eigentlich wechselseitig Ausschließenden prägte die totalitäre Qualität der NS-Herrschaft. Die anti-monolithischen "Beweise" dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei aller Bewegungsfreiheit im Kanalsystem dessen Ausstiegsschächte von Hitlers Schergen kontrolliert, geöffnet und geschlossen werden konnten. Die heutigen Schlagwortvarianten von Polykratie und Ämterchaos lassen sich alle im Kern auf Walter Petwaidics Buch "Die autoritäre Anarchie" zurückführen und das erschien bereits 1946! Und selbst H. Arendt läßt sich nicht als Zeuge für behauptete monolithische Geschlossenheit anführen. Liest man doch bei ihr schon 1951: "Die Literatur über das Nazi- und das bolschewistische Regime ist voll von Klagen über ihre angeblich monolithische Staatsstruktur; nichts entspricht weniger den Realitäten eines totalen Herrschaftsapparates. So ist denn auch manchen Beobachtern schon früh die eigentümliche "Strukturlosigkeit" totalitärer Regierungen aufgefallen und vor allem einer doppelten Autorität von Staat und Partei. wobei wiederum die Beziehungen zwischen diesen Instanzen so formlos gelassen sind. daß niemand sich in ihnen zuverlässig auskennen kann."24
Diese doppelte Autorität agierte oft gegen sich selbst, aber ohne destabilisierend für das System zu wirken. Sie bestätigte vielmehr, daß erbarmungslose Ausweglosigkeit nicht nur im Entweder/Oder herstell bar ist, sondern ebenfalls im hochelastischen Sowohl/Als Auch. Das Wort Görings, der Führer möchte möglichst wenig entscheiden, dessen Sprunghaftigkeit im Wechsel von Lethargie und Spontaneität verweisen auf eine akzidentielle Besonderheit des Führungsstils! Ohne allerdings den Schluß auf substantielle Führungsschwäche zuzulassen. Wenn gar heute mit dem Fehlen eines schriftlichen Führerbefehls die Vernichtung der Juden den Einsatzgruppen überantwortet werden sollte und diese sich beim Morden in der Übersteigerung eines Milieumotivs verloren hätten, so war Hitler selbst zwar nie Exekutor, wohl aber stets die entscheidende Voraussetzung und letzter Rechtsgrund für die Ermöglichung der Greuel. Heute gar das Fehlen einer schriftlichen Formalität gegen das eingetretene Faktum setzen zu wollen, mißachtet zweierlei: Erstens die Befehlsvergabe und Sprachregelung des Dritten Reiches (Endlösung, Schutzhaft, Sonderbehandlung, Abschiebung) und zweitens, daß Hitler von Anbeginn seiner politischen Agitation bis hin zum Testament am 29. April 1945 die Vernichtung des Judentums im Rassenkampf gefordert hat. Hier dominiert die erreichte Deckung von Tat und Programm die Hinweise auf eine angebliche mangelnde Systematik der NS-Herrschaft. Ressortpolykratie und Ämterchaos waren keine dem Führer von den Satrapen abgetrotzten Freiräume, sondern entstanden aus dessen Verzicht auf eigenen Entschei54
dungsbedarf. Aufschlußreich dafür erscheint ein Satz Hitlers vom 29. April 1937, mit dem er zu den Querelen seiner Parteileiter Stellung nahm: .Es ist notwendig, daß alle Führenden eine gewisse innere Ruhe besitzen, daß sie Nerven haben ... Wenn man sie (die Dinge) von einer ganz hohen Warte aus sieht, dann muß man immer wieder feststellen: Gott, das ist gar nicht so wichtig, das erledigt sich alles von selbst.·
Das Wichtige hingegen, nämlich die materielle und geIstige Vorbereitung auf den Angriffskrieg, gestaltete Hitler selbst. Wenn es um systemrelevante Fragen ging, bestimmte Hitler Termine, Aktionen und Ziele. Wer sich nicht zumindest stillschweigend fügte, wurde kaltgestellt. Die Zauderer hatte Hitler bereits 1938 abgelöst (Neurath, BIomberg, Beck, Fritsch). Ob Göring vom Angriff auf Polen abriet, und selbst Hitlers eigener Außen minister von Ribbentrop sich mit seinem Projekt einer Anti-England-Koalition des Reiches mit Moskau diametral gegen den Führer stellte - alles änderte nichts. 26 Das Kernelement "rassischer Kampf um Lebensraum" sollte auch nicht mehr der These vom nachgeschobenen Begründungszusammenhang für opportunistischen Beuteschlag zur Verfügung stehen. Vielmehr konnte Hitler sein eigentliches Ziel nur deswegen nach und nach offenbaren, weil die Umstände dies geboten. Die prekäre wehrwirtschaftliche Gesamtsituation des Reiches und das Mißtrauen des Auslands forderten von ihm verschlagene Selbstbescheidung. Einem ausgewählten Zuhörerkreis offenbarte Hitler erstmals am 10. November 1938: "der Zwang war die Ursache, warum ich jahrelang nur vom Frieden redete." Die traditionellen Eliten erhofften sich von Hitler maximal ein Großdeutschland wie man es nach der Einverleibung Österreichs, der Sudeten, nach dem Sieg über Polen und Frankreich maximal erreicht hatte und nun die Früchte des Siegs ernten und genießen wollte. Dieses Ziel war indessen für Hitler nur Zielvoraussetzung. Seine taktische Brillanz und füchsische Schläue sollten deshalb nicht als Indiz für mangelnde Zielstrebigkeit und revolutionäre Selbstverpflichtung gedeutet werden. Die offene Verkündung eines rassistischen Kriegs um Lebensraum bis hin zum Kampf mit der UdSSR, mit England und den USA hätten Hitlers Chancen im Ansatz vernichtet. Mißt man die Worte an den Taten und die Taten an den Worten, dann zeigt sich in Hitlers Diktatur ein Herrschaftsentwurf, der eben dicht und nicht nur leidlich geschlossen warP Totalitarismus als Strukturtheorie, die den Dirigenten als Exponenten eines Systems vereinnahmen will, wird immer an der Persönlichkeit Hitlers argumentativ ausbluten.
Zur totalitären Qualität des bolschewistischen Herrschaftsbereiches
Mit dem vermehrten Wissen über die jeweiligen Strukturen totalitärer Regimes ergaben sich beim Vergleich der Macht-Formen und Macht-Intensitäten große Unterschiede. Sie bedingten eine abnehmende Aussagekraft über die Wechselbeziehungen von totalitärer Programmatik und totalitärem Instrumentarium.
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Vor allem mit Bezug auf das Sowjetsystem ergab sich eine veränderte Beurteilung der Beziehungsqualität zwischen ideologischer Strategie und taktischer Gewaltherrschaft. Während nämlich permanenter Ausnahmezustand, rassistische Mobilisierung und ewige Gewaltsamkeit als genuiner Inbegriff des Nationalsozialismus definiert wurden, galt zunehmend die Gewalt im kommunistisch-sozialistischen Herrschaftsverband als vom Klassenfeind aufgenötigtes Instrument einer lediglich befristeten Despotie sozialistischer Vernunft. Die in der poststalinistischen Ära erfolgende Ruhigstellung der Verhältnisse, das Nachlassen von Schauprozessen und Säuberungswellen intendierten hierzulande spätestens mit Werner Hofmanns Schrift über "Stalinismus und Antikommunismus" (1967) eine bald gängige Unterscheidung in Modelle der Beharrung (NS-Diktatur) und der Bewe· gung (sozialistische Diktatur). Die offenkundige Abnahme der direkten (keineswegs der strukturellen!) Gewalt ließ von erfüllten Zwecken der unabdingbaren Erziehungsdiktaturen sprechen, in welchen aus erzielter Gehorsamsbereitschaft freiwilliger Konsens erwachsen und dieser zu immer mehr Gewaltverarmung und zu mehr Bewegungsfreiheit überleiten würde. 28 Die große Demokratieoffensive Gorbatschows seit dem 27. Januar 1987 liefert für die Theorie des "Bewegungsmodells" als Kontrast zum regressiven Beharrungsmodell aller Faschismen das scheinbar größte Zeugnis. Der Verweis auf die Gulags, politische Psychiatrie, Verbannung und auf Afghanistan werden zugleich als Störmanöver blinder Antikommunisten abgetan. Westliche Gegner der Totalitarismustheorie gehen konform mit deren östlicher Qualifikation als politologische Unterstützung des neoimperialistischen Kampfes. Doch Gorbatschows "Bewegung nach vorn" meint keine Liberalisierung in unserem Sinne. Wenn der Titel der Programmrede des Generalsekretärs der KPdSU in der westlichen Ausgabe markiert ist: "Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen", dann ist damit zuallererst und womöglich ausschließlich eine Produktions-Demokratie gemeint. Durch effizienzorientierte Kontrolle und ständige kritische Mitsprache aller am Produktionsprozeß Beteiligten sollen Innovation, Kreativität, Leistungswille gesteigert werden, um den industriellen Fortschritt zu beschleunigen, um nicht mehr nur eine Weltmacht allein auf dem Gebiet der Rüstung zu sein. Der planwirtschaftliche Dirigismus durch den Parteiprimat soll damit marktwirtschaftliche Komponenten erhalten, aber die politische Befehlswirtschaft nicht ersetzen. 29 Gorbatschows "Demokratie" soll die geforderte Wirtschaftsoffensive dynamisieren, eine Erweiterung von individuellen Defensivrechten gegen das kollektivistische Lebensprinzip ist damit direkt nicht verbunden. Indirekt wird es wohl entsprechende Auswirkungen geben, denn die "Demokratisierung" am Arbeitsplatz wird mit einem veränderten Selbstwertgefühl der Bürger und unter Einwirkung anhaltender Nationalitätenkonkurrenz der Sowjetvölker gewiß zu einem veränderten Gesellschaftsbild hinführen. Bislang aber gilt zumindest tendenziell die Feststellung Molitors, daß die Herrschaft der UdSSR darin total ist, "daß sie keinerlei ,Pluralismus' zwischen Partei (KGB), Staat (Regierung) und Gesellschaft (Wirtschaft, Militär) duldet. Für sie bilden diese Bereiche eine ,organische Einheit' unter Führung der KPdSU ... Der Bürger der UdSSR kann nicht eine staatliche Instanz zum Schutz vor der Partei anrufen, ohne ihr daselbst zu begegnen. "30
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Das möglicherweise aus "Perestroika" resultierende neue Selbst bewußtsein des Individuums hat gerade in der DDR zu einer überaus vorsichtigen Rezeption der GorbatschowThesen geführt. Gleichwohl bleibt der ideologische Anspruch der Breschnew-Doktrin gültig, der sich aus Art. 28 der UdSSR-Verfassung rechtfertigt: "Die Außenpolitik der UdSSR ist darauf ausgerichtet, günstige internationale Bedingungen für den Aufbau des Kommunismus in der UdSSR zu sichern, ... , die Position des Weltkommunismus zu stärken, den Kampf der Völker um nationale Befreiung und sozialen Fortschritt zu unterstützen, ... ".
"Friedliche Koexistenz" bedeutet zugleich einen durch die realen Machtverhältnisse erzwungenen Kompromiß mit dem Klassenfeind, dem keineswegs auf Dauer gleichberechtigter Existenzanspruch zugebilligt wird. In welchem Maße die Humanität aus der autistischen Moral einer geschlossenen Weltanschauung bestimmt wird, zeigt die DDR seit geraumer Zeit: Sie fängt politisch mißliebige Bürger zusammen, verkauft sie an die Bundesrepublik und nimmt dafür das Geld vom Klassenfeind, um damit mittelbar oder unmittelbar Subversion zu finanzieren. Gleichzeitig ist Bonn dazu angehalten, weder über die Summen Auskunft zu geben, noch die DDR durch die Freigekauften laut anklagen zu lassen. Schamlosigkeit ob des Menschenschachers kommt bei den DDR-Stellen nicht auf, da das Geld mit der Begründung verlangt wird, daß die Oppositionellen der DDR Schaden zugefügt hätten, den der Westen eben bezahlen müsse. Hier wird die Unteilbarkeit sozialistischer Moral ebenso evident wie die Tatsache, daß die sozialistische Diktatur eine rechtsschutzwürdige, gleichrangige Interessenkonkurrenz zwischen Staat, Gesellschaft und den einzelnen Bürgern negiert. Das andere Deutschland dazu zwingen zu können, daß es zahlt und schweigt, weil man sonst keine Gefangenen mehr freigibt, offenbart die totalitäre Qualität dieser Herrschaft, die unter Verweis auf das "Bewegungsmodell" das Machtmonopol der Partei in unterschiedlichsten, bedarfsorientierten Varianten einer "Verzeitlichung" (Reinhart Koselleck) überstellt, ohne damit auf dem Primat der jeweiligen gesamtgesellschaftlichen Sinngebung zu verzichten. Die schärfste leidenschaftliche Zurückweisung, die die westliche "Totalitarismus-Doktrin" als Speerspitze des Antikommunismus von den DDR-Wissenschaftlern erfährt, belegt das lebendige Wahrheitsbedürfnis jener Gedanken, die die Wissenschaft drüben wohl ausrotten will. 31 Ihr muß um der westlichen Glaubwürdigkeit willen zugleich verdeutlicht werden, daß der Antikommunismus demokratischer Provenienz um den Schutz und die Verteidigung des freiheitlichen Rechtsstaates bemüht ist. Er wendet sich gegen den totalitären Anspruch von Rechts und Links und hat nichts mit dem Antikommunismus rechter Haß-, Verschwörungs- und Vernichtungstheorien gemein, wie sie .dem antibolschewistischen Feindbild der Nazis eigen waren oder für heutige Faschisten gültig sind. 32 Diesen Unterschied offen zu halten, verlangt vom "bürgerlichen" Wissenschaftler eine Wertbindung an die plurale Gesellschaft und gleichzeitig kontrollierende Distanz zu deren praktischer Wirksamkeit. Ist der Wissenschaftler in der DDR dem beneidenswert schlichten Lehrauftrag verpflichtet, daß Sozialismus und Frieden eine Einheit sind"33, dann bestimmt sich die einsamere, weil unabhängigere Position des Wissenschaftlers im Westen aus dem grundsätzlichen Problem "der ungewollten Folgen unserer Handlungen. "34 57
Ergebnis und Perspektive
Der totalitäre Kommunismus, der totalitäre Nationalsozialismus und der totalitäre Faschismus haben ihre Gemeinsamkeit in folgenden drei Bereichen: 1. Sie haben bei unterschiedlicher Finalität einen in seinen Funktionszwecken gleichsam
austauschbaren Herrschaftsapparat. 2. Sie haben eine skepsisfreie Letztbegründung für einen Machtanspruch, der unteilbar ist. 3. Sie haben ein gemeinsames Ziel: Die Vernichtung der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer pluralistisch bestimmten Kultur. Die Kontraktion von exekutiver, legislativer und judikativer Gewalt in der Hand eines Führers oder Führerringes gewährt dem Skeptiker, dem Gegner, der Minderheit keinen prinzipiell einklagbaren Rechtsschutz, es sei denn im Zeichen eines jederzeit aufkündbaren Almosens oder einer taktischen Opportunität als Element von Verharmlosungsstrategien etwa gegenüber dem Ausland. Das letzte Kriterium des Totalitären ist deshalb die ausschließliche Selbstermächtigung des Herrschaftsinhabers zur Praktizierung von Normen- und Ausnahmezustand in einer industrialisierten Massengesellschaft zwecks Ausrottung ihrer vollen bzw. rudimentären Geprägtheit von Pluralismus und Machtkontrolle durch Gewaltenteilung und unabhängige Informationsmedien. Hier müßte Konsens unbestreitbar sein. Es sei denn, daß man die Reinheit der Theorie zum Selbstzweck erhebt anstelle ihrer Funktionsbestimmung, all das Singuläre zu bewahren, welches in anderen Theoriesystemen nicht unterzubringen ist. Ob Kommunismus, ob Sozialismus oder auch Demokratie - sie alle bleiben in praxi immer hinter ihren theoretischen Ansprüchen zurück, wie Gustav Heinemann einst warnte und der dennoch damit den Aufruf zu mehr Demokratie verband. Widrigenfalls gerieten wir in jene Konsequenz, die Fran~ois Revel am Schluß seines Buches "So enden die Demokratien" formuliert hat (S.376/377):· "Es ist ja keine Demokratie, auch wenn sie als solche anerkannt ist, ganz untadelig, und da jede Gesellschaftsordnung viele Elemente der Unterdrückung enthält, fragt es sich, welches Regime überhaupt berechtigt wäre, sich gegen den Kommunismus zu wehren? Kein einziges. Um auf dieser Denkschiene zu bleiben: Wenn es zur Legitimierung des Kommunismus genügt, dem Kapitalismus Fehler, Laster, Krisen nachzuweisen, so können wir dem totalitären Kommunismus gleich die Macht über die ganze Welt anvertrauen, denn das beste Mittel gegen das Hinken ist ja die Amputation beider Beine. "35
Die Drastik des Bildes muß heute zum Aufgebot gehören dürfen gegen den schleichenden, geschmäcklerischen Abschied vom Prinzipiellen der Bürgerfreiheit. Es muß erinnert werden, daß mit Aufgabe der Totalitarismustheorie auf das entscheidende Instrument zur Kenntlichmachung der Gefährdungen und Selbstgefährdungen unserer Demokratie verzichtet würde. Und wenn mit diesem Satz Totalitarismus als Kampfbegriff und als Wissenschaftsbegriff zusammengefügt sind, so deshalb, weil nur in einer nicht geschlos· senen Gesellschaft in unabhängiger persönlicher Nachdenklichkeit über Totalitarismus befunden und darüber öffentlich gestritten werden kann.
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"Die Analyse des Totalitären gehört nicht nur einer historischen Perspektive an, sondern bleibt unentbehrlich als ein Instrument zur Erkennung und zur Einordnung der umfassenden Tendenzen und der pseudodemokratischen Ansprüche moderner Diktatur. Totalitäre Ordnungskonzepte und die Fiktion einer totalen Identität sind auch in der gegenwärtigen Demokratiedebatte präsent, und sei es im Zeichen totaldemokratischer Erlösungsdoktrinen, die im linken wie im rechten Gewand auftreten können. "36
Denn totalitäre Herrschaft ist bestrebt, daß der einzelne als solcher verschwindet. "Er existiert, wie Hegel sagt, nicht als eine Person für sich sondern als Mitglied. "37 Mit dieser appellativen Fürsorge ist eine Mahnung an jene zu verbinden, die nach der gesättigten Theorie des Totalitären verlangen. Jene, die diese einfordern, sollten jedoch bedenken, daß gesättigte Theorie Aufhebung der Praxis bedeutet, d. h. die Verfügung der persönlichen Erfahrung und des persönlichen Wissens ins Reservat der Abstraktion, des mechanischen Kollektivs. Wenn, wie Arnold Brecht sagt, alles Wissen persönliches Wissen ist, dann ist gesättigte Theorie letztlich statistisch, entpersönlicht, entmenschlicht. Aber nur zwischen den fiktiven Polen von Theorie und Praxis, von Geist und Macht bleiben Frage und Antwort füreinander lebendig, spannend und deshalb produktiv. Mit allem Nachdruck ist folglich für die ebenso entschiedene wie behutsame Anwendung des Totalitarismusbegriffs einzutreten. Er schafft politische wie intellektuelle Sensibilität für den Preis, der zu entrichten ist, - wenn der einzelne nicht mehr ohne Gefahr für Freisein, Leib und Leben Kritik an Mißständen offen verlautbaren kann; - wenn der einzelne nicht die Vertreter von Staat und Partei in den Medien und in gerichtlicher Öffentlichkeit beschämen kann; - wenn der einzelne nicht einmal mehr mit den Füßen abstimmen, d. h. das Land verlassen kann, das nicht mehr das seinige ist und das ihn zwingt, es anzunehmen oder zu verstummen. Diese antitotalitäre Wachsamkeit zugunsten individueller Defensivrechte gegen die Staatsapparatur bedarf aber auch des Hinweises auf neue Bedrohungslagen. Sie manifestieren sich in den etablierten Diktaturen, aber auch in entsprechenden Regimen der Dritten Weh. Hier schlug sich nieder, was Karl Dietrich Bracher als Ergebnis seiner Herrschaftsanalyse so fixiert hat: "Nicht die Übertragung der Demokratie, sondern ihre machtpolitische und ideologische Zerstörung durch die Verführungskraft diktatorischer und monolithischer Lösungen machte die weitere Unterdrückung auch nach der Dekolonisation möglich und leider zur Regelform in der Dritten Welt. Es war ein nationalistischer oder marxistischer Freund-Feind-Glaube, der als Mittel zur totalen Integration dienen sollte und die sorgfältig erdachten und übertragenen westlichen Institutionen hinwegschwemmte ...
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Der Kommunismus bietet, wie jüngst wieder die politisch-ökonomische Katastrophe Polens und die blutige Unterdrückung Afghanistans beweisen, ebensowenig eine Alternative wie die alten und neuen Despotien eines militärischen, feudalistischen oder populistischen Autoritarismus. "38
Ein weiteres Gefährdungspotential bildet der grenzüberschreitend operierende Terrorismus. Er verkörpert den Zuwachs neuer Utopien und politischer Theologien, die aus subjektiv verabsolutierten Bedrohungslagen unserer Gegenwart hervorwuchern. Die Probleme der globalen Ressourcensicherung, die Überbevälkerung der Erde, das Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die Risiken des Wettrüstens produzieren alte und neue Heilslehren, die mit dem Triumph der Gesinnung die Rationalität des Möglichen und des Machbaren auszehren wollen. Ihnen in kritischer Absicht aufklärend begegnen zu können, bestimmt den Totalitarismus zum Kontrollbegriff für die freiheitliche demokratische Grundordnung und damit zum Katalysator der Erkenntnis jener tiefsten Inhumanität, welche der zur Gewaltherrschaft monopolisierten Daseinsdeutung des menschlichen Zusammenlebens einbeschrieben ist.
Anmerkungen 1) Vg!. Gerhard Hirschfeld/Lothar Kettenacker (Hrsg.), Der .Führerstaat": Mythos und Realität. Stu· dien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981 (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Bd. 8); vg!. dazu bes. Gerhard Schulz, Neue Kontroversen in der Zeitgeschichte: Führerstaat und .Führermythos", in: Der Staat, Bd.22, 1983; zur U mstrittenheit des Begriffs siehe. Totalitarismus und Faschismus". Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse, Kolloquium im Institut für Zeitgeschichte am 24. Nov. 1978, München 1980; Jürgen Kocka, Ursachen des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 21.6.1980. 2) Jens Petersen, Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs in Italien, in: Manfred Funke (Hrsg.), Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, Düsseldorf 1978 (Bonner Schriften zur Politik und Zeitgeschichte 14); Helmut Goetz, Über den Ursprung des T otalitarismusbegriffs, in: Neue Zürcher Zeitung, 28.129.3.1976, Nr.73, S.25; ders., Totalitarismus. Ein historischer Begriff, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Bd.32, 1982. 3) Renzo de Felice, Der Faschismus. Ein Interview von Michael Ledeen, dt. von Jens Petersen, Stuttgart 1977; dazu auch Giorgio Amendola, Der Antifaschismus in Italien. Ein Interview von Piero Melograni, Nachwort Jens Petersen, Stuttgart 1977; dazu die kritische Würdigung von Meir Michaelis, Anmerkungen zum italienischen Totalitarismusbegriff. Zur Kritik der Thesen Hannah Arendts und Renzo de Felices, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken, Bd. 62, 1982, S. 270-302. Zum vorstehenden Zusammenhang zwischen totalitärer und autoritärer Diktatur vgl. Amos Perlmutter, Modern Authoritarianism. A comparative institutional analysis, New Haven/London 1981, S.62 ff; zur Beziehungsqualität der Diktaturen vg!. Jerzy W. Borejsza, n fascismo e l'Europa Orientale dalla Propaganda all' Aggressione, Roma 1981. 4) J.L. Talmon, Die Geschichte dertotalitären Demokratie, 3 Bde, Köln 1961-1963 1 London 1981 (Bd.3 nur eng!.). In Ergänzung dazu Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, München 1976. 5) George Bataille, Die psychologische Struktur des Faschismus (1933/34), München 1978; Friedrich W. Doucet, Im Banne des Mythos. Die Psychologie des Dritten Reiches, Esslingen/N.1978, S.178 ff.; Martin Lohmann (Hrsg.), Psychoanalyse und Nationalsozialismus. Beiträge zur Bearbeitung eines unbewältigten Traumas, Frankfurt M.1984. 6) Jean-Fran~ois ReveI, Die totalitäre Versuchung, Frankfurt M.1976; ders., So enden die Demokratien, München 1984.
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7) Zum Spannungsbogen der Diskussion vgl. Reinhard Kühnl, Besprechung von Manfred Funke, Totalitarismus (Anm.2), in: Das Argument, 1979, 117, S.785; Raymond Aron, Noch einmal: Hitler. Wie haltbar ist die Totalitarismus-Theorie?, in: Der Monat, 1981, H.1; Karl Dietrich Bracher, Die Ausbreitung des Totalitarismus im 20. Jahrhunden. Ideologie und kealitäten, in: Heinz Maier-Leibnitz (Hrsg.), Zeugen des Wissens, Mainz 1986, S.847; ders., Fonschrittsglaube und Regierbarkeit, in: Geschichte und Gegenwan, 1986, H.1, S.18; ders., Zeitgeschichtliche Kontroversen (Anm.1), S.62 f. 8) So wird vom Ostblock das westliche Totalitarismus-Verständnis als .klerikale Abendlandideologie· zurückgewiesen, in: .Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus· (Anm. 31), S. 80. 9) Eckhard Jesse, Renaissance der Totalitarismuskonzeption? Zur Kontroverse um einen strittigen Begriff, in: Neue Politische Literatur, Jg. 28, 1983, H. 4; Bes. hervorhebenswen: Uwe Backes/Eckhard Jesse, Totalitarismus, Extremismus, Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung, Opladen 19852 (Analysen 38). Zur einführenden Literatur und zum aktuellen Diskussionsstand: • T otalitarian Democracy and after·. International Colloquium in Memory of J acob L. Talmon, Jerusalem 21-24 June 1982, Jerusalem 1984; Bernd Weil, Faschismustheorien. Eine vergleichende Übersicht mit Bibliographie, Frankfun M.1984; SiegfriedJenkner, Entwicklung und Stand der Totalitarismusforschung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 4.8.1984; ders., • Totalitarismus·, in: Wolfgang Mickel (Hrsg.), Handlexikon zur Politikwissenschaft, Bonn 1986 (Neuausg. der Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd.237); zur Niederringung des christlich-abendländischen Traditionsguts vgl. bes. Andreas Lindt, Das Zeitalter des Totalitarismus. Politische Heilslehren und ökomenischer Aufbruch, Stuttgan 1981 (Christentum und Gesellschaft 13); für die politische Bildung weiterhin empfehlenswen Hans-Georg Herrnleben, Totalitäre Herrschaft, PLOETZ-Arbeitsmaterialien, Würzburg 1978; zur historisches Materialaufbereitung anregend: Steffen Werner, Zu einer neuen Theorie des Totalitarismus, Pfullingen 1984 (Selbstverl. des Autors); Roland Schmidt, Nationalsozialismus - ein deutscher Faschismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 30.3.1985; Bernhard Sutor, Totalitäre Diktatur. Ein neuer Herrschaftstyp im Widerstreit der Deutungen, Stuttgan 1985; neben den bereits genannten Studien Karl Dietrich Brachers vgl. dessen weitere Werke: Schlüsselwöner in der Geschichte. Mit einer Betrachtung zum Totalitarismusproblem, Düsseldorf 1978; Europa in der Krise. Innengeschichte und Weltpolitik seit 1917, Frankfun M.1979; Zeit der Ideologie. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhunden, München 1985 (TB); Die totalitäre Erfahrung, München 1987. Vgl. im Kontext Ossip K. Flechtheim, Vom .roten Faschismus· und .braunen Bolschewismus·. Nur der Totalitarismus eignet sich zum Vergleich, in: Frankfun Rundschau, 20.1.1987. 10) Generell Johann Baptist Müller, Herrschaftsintensität und politische Ordnung, Berlin 1986 (vgl. bes. den Abschnitt .Das Herrschaftssystem der Dritten Welt als illiberale Polykratie·). 11) Christoph Dejung, Tyrannis. Ein Beitrag zur Geschichte des Begriffes.Totalitarismus·, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Bd.30, 1980, S.389. 12) So Yasushi Yamaguchi, Über Faschismus in Japan und Deutschland, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 1976, H.2, S.89 ff. 13) Gerhard Schulz, Faschismus-Nationalsozialismus. Versionen und theoretische Kontroversen 1922-1972, Berlin 1974, S.140. 14) Hermann Heller, Staatslehre, Tübingen 1983 6, S.281 (in der Bearbeitung von Gerhan Niemeyer). 15) Benito Mussolini, Die Lehre des Faschismus, Firenze 1936, S.16, S.18. ~ Zur aktuellen Faschismus-Rezeption vgl. Karl Dietrich Bracher, .Faschismus·, in: Staatslexikon, Hrsg. v. d. Görresgesellschaft, Bd.2, Freiburg etc. 19867• 16) Allgemein dazu Walter Schlangen, Probleme einer Theoriebildung, in: Manfred Funke (Hrsg.), T otalitarismus (Anm. 2); Hermann Heller, Staatslehre (Anm.14), S. 40 f., S.73. Als konkretes Anwendungsproblem: Chiu-ching Kuo, Totalitäre Elemente im Prozeß der Machtergreifung Maos und beim Ausbau seiner Herrschaft in China bis zur Kulturrevolution (1949-1969), Bonn (Diss.) 1986. 17) Zur Problemdimension Ludger Kühnhardt, Die Universalität der Menschenrechte. Studie zur ideengeschichtlichen Bestimmung eines politischen Schlüsselbegriffs, München 1987. 18) Manfred Hättich, Totalitäre und inhumane Tendenzen der radikalen Protestbewegung, in: Alexander Schwan/Kun Sontheimer (Hrsg.), Reform als Alternative, Köln 1969, S.137. - .Die Totalität des Staates implizien dem Prinzip nach die Aufhebung der personellen Existenz· (Leibi).olz), zitien nach Eike Hennig, Bürgerliche Gesellschaft und Faschismus in Deutschland. Ein Forschungsbericht, Frankfun M. 1977, S.61.
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19) Peter Graf Kielmansegg, Krise der Totalitarismustheorie?, in: Zeitschrift für Politik, 1974, HA, S.312. Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichte im Wandel der Interpretationen. Zur Neuausgabe von K.D. Erdmann, Die Zeit der Weltkriege, in: Historische Zeitschrift, Bd.225, 1977, S.651. 20) Renzo de Felice, Der Faschismus (Anm.3), S.91-106. 21) Meir Michaelis, Zum italienischen Totalitarismusbegriff (Anm.3), S.279. Vgl. dazu bes. Wolfgang Schieder, in: Der italienische Faschismus. Probleme und Forschungstendenzen, München 1983, S.67 (Kolloquium des Instituts für Zeitgeschichte); grundlegend dazu in demselben Band das Referat von Jens Petersen, S.25 ff. 22) Martin Broszat, in: Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse. Kolloquium im Institut für Zeitgeschichte am 24. November 1978, S. 35/36; vgl. auch ders., Grundzüge der gesellschaftlichen Verfassung des Dritten Reiches, in: Martin Broszat/Horst Möller (Hrsg.), Das Dritte Reich. Herrschaftsstruktur und Geschichte, S.62; .A monolithic entity?", in Michael Cunis, Totalitarianisn, London 1980 S.75 ff. 23) Zum Nachstehenden vgl. Manfred Funke, Hitler - starker oder schwacher Diktator? Anzeige wider den Verlust kommunikativen Streitens, in: Wolfgang Michalka (Hrsg.), Die nationalsozialistische Machtergreifung, Paderborn 1984, S.372 ff. 24) Hannah Arendt, Elemente totaler Herrschaft, Frankfun M.1958, S.175. 25) Zitien bei Manfred Funke (Anm.23), S.377. 26) Vgl. z.B. David Irving, Göring, München 1987; Alfred Kube, Pour le merite und Hakenkreuz, Hermann Göring im Dritten Reich, München 1986; Stefan Martens, Hermann GÖring.•Erster Paladin des Führers" und .Zweiter Mann im Reich", Paderborn 1985; Wolfgang Michalka, Ribbentrop und die deutsche Weltpolitik 1933-40. Außenpolitische Konzeptionen und Entscheidungsprozesse im Dritten Reich, München 1980. 27) Vgl. Eberhard Jäckel, Hitlers Herrschaft. Vollzug einer Weltanschauung, Stuttgart 1986. 28) Vgl. zum Demokratisierungsproblem bereits bei Lenin die Studie von Dirk Käsler, Revolution und Veralltäglichung. Eine Theorie postrevolutionärer Prozesse, München 1977, S.118 ff.; zur Beendigung der institutionalisienen permanenten Revolution Richard Löwenthal, Die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion und in China, in: Aus Politik und Zeitgeschichte v. 4.8.1984; im Kontext Ernst Nolte, Der Faschismus, Nationalsozialismus, Ausgabe München 1965, S. 543 f.; Volker Gransow, Konzeptionelle Wandlungen der Kommunismusforschung. Vom Totalitarismus zur Immanenz, Frankfun M. 1980. 29) Michael Gorbatschow, Die Rede.• Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen." Referate vor dem ZK der KPdSU am 27. Januar 1987, Reinbek 1987, bes. S.89. 30) Bruno Molitor, Umgang mit der totalitären Macht, Köln 1983, SA5. 31) .Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus. Kritik einer Grundkomponente bürgerlicher Ideologie". Hrsgg. v. d. Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, Autorenkollektiv unter der Leitung von Gerhard Lozek, Berlin (0) 1985; s. dazu bes.•Totalitarismus", in: Wönerbuch der Geschichte, L-Z, Berlin (0) 1983, S.1071. 32) Karl Dietrich Bracher, Das Problem des .Antikommunismus" in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Klaus HildebrandiReiner Pommerin (Hrsg.), Deutsche Frage und europäisches Gleichgewicht. Festschrift für Andreas Hillgruber zum 60. Gebunstag, Köln 1985, S.141 f. 33) Hannes Hörnig, Sozialismus und ideologischer Kampf. Zu den Aufgaben der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichte, 1984, 32, S.676. 34) Karl R. Popper, Die moralische Verantwonlichkeit des Wissenschaftlers, in: Universitas, 30. Jg, H.7, 1975, S.699. 35) Jean-Fran~ois Revel, So enden die Demokratien (Anm. 6),376/377. Zur Dialektik von Pluralismus und Totalitarismus weiterhin hervorhebenswen Ingeborg Maus, Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus. Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie Carl Schmitts, München 1976, S.152 ff. 36) Karl Dietrich Bracher, in: Totalitarismus und Faschismus (Anm.1), S.13/14. 37) Zitien nach Ralf Dahrendorf, Konflikt und Freiheit. Auf dem Weg zur Dienstleistungsgesellschaft, München 1972, S.176 f. 38) Karl Dietrich Bracher, Alte und neue Ideologien. Die prekäre Stabilität der Demokratie, in: J osef Krainer, Wolfgang MantI, Manfred Prisching, Michael Steiner (Hrsg.), Nachdenken über Politik. Jenseits des Alltags und diesseits der Utopie, Graz 1985, S. 39.
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ECKHARDJESSE Die ,;Totalitarismus-Doktrin" aus DDR-Sicht Einleitung
"Die wohl zu den größten historischen Verzerrungen zählende Behauptung bürgerlicher Gesellschaftslehren besteht darin, Faschismus und Sozialismus als wesensgleich hinzustellen. Diese These bildet den eigentlichen Kern der ,Totalitarismus'-Doktrin"l. Diese These hinwieder "bildet den eigentlichen Kern" der Kritik an "der ,Totalitarismus'Doktrin", wie sie von Gerhard Lozek, Professor an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und führender Ideologe im Hinblick auf die sogenannte "Totalitarismus-Doktrin", seit mehr als zwei Jahrzehnten verfochten wird. Es mag angezeigt sein, sich mit der Position Lozeks im Laufe der Jahrzehnte auseinanderzusetzen, um eventuell so einen Wandel oder zumindest eine Modifikation in der Kritik ausmachen zu können. Diese Position Lozeks dürfte für die Einschätzung der sogenannten "Totalitarismus-Doktrin" in der DDR repräsentativ sein, da Abweichungen von der offiziellen Lehrmeinung bekanntlich nur in Nuancen möglich sind. Bisher gibt es keine einzige Studie, die sich aus westlich-demokratischer Position mit der Totalitarismuskonzeption befaßt, wie sie der Marxismus-Leninismus versteht und kritisiert. Dies muß überraschen, zugleich auch als Manko gelten, und zwar deshalb, weil im Rahmen des Systemkonflikts eine solche Auseinandersetzung vonnöten wäre, zumal sie aufschlußreiche Erkenntnisse im Hinblick auf marxistisch-leninistische Interpretationsmuster verspricht, die in der Bundesrepublik zwar keine überragende Bedeutung besitzen, jedoch nicht gänzlich zu vernachlässigen sind. Insofern dürfte es angängig sein, sich mit dieser Thematik auseinanderzusetzen. Natürlich sollte man die Relevanz nicht überschätzen, denn selbstverständlich ist die jeweilige Form der Kritik abhängig von den politischen Verhältnissen und kann sich d~her schnell ändern. Dieser Beitrag konzentriert sich auf folgende Kernfragen: Läßt sich ein Wandel im Laufe der Jahrzehnte hinsichtlich der Argumentationsstruktur feststellen? Mit welchen Argumenten wird die sogenannte "Totalitarismus-Doktrin" abgelehnt? Werden Differenzierungen hinsichtlich der Befürworter der "Totalitarismus-Doktrin" vorgenommen? Inwiefern hat das - angebliche oder tatsächliche - "neue Denken" - im Hinblick auf die Gefahren des Atomzeitalters die Kritik an der" Totalitarismus-Doktrin" relativiert oder modifiziert? Wo liegen augenfällige Schwächen der Kritik? Allerdings wird der letzte Punkt keineswegs voll "ausgereizt", sondern nur gleichsam nebenbei behandelt. Die transzendente Kritik soll nicht durchweg die immanente überlagern. Abschließend präsentiere ich einige Thesen. Diese Aufgliederung macht deutlich, was außer acht bleibt. So wird auf die T otalitarismus-Theorie selbst mit ihren verschiedenen Versionen gar nicht eingegangen (allenfalls insofern, als Hinweise erfolgen auf verzerrende Positionen von DDR-Autoren) und ebenfalls nicht auf die vielfältige Kritik2, die man im Westen übt, obwohl eine Erörterung dieses Punktes zeigte, in welchem Ausmaß die einschlägige DDR-Forschung hinter den Forschungsstand zurückfällt. Auch die Position der Verfechter oder Anhänger 63
des "realexistierenden Sozialismus" in der Bundesrepublik bleibt ausgeklammert 3 schon deshalb, weil lediglich Nuancen vorliegen. Ebenso fehlt eine Auseinandersetzung mit "östlichen" Dissidenten4, die den Totalitarismus-Begriff in modifizierter Form auf die eigene Gesellschaft angewandt haben 5• Unterschiedliches Demokratieverständnis
Die folgenden wenigen Bemerkungen zur Typologie sollen den grundlegenden Unterschied zwischen dem marxistisch-leninistischen und dem pluralistischen Demokratieverständnis veranschaulichen. Kriterium für Marxisten-Leninisten ist die Frage der jeweiligen Gesellschaftsformation (sind die Produktionsmittel verstaatlicht oder nicht?), für Verfechter einer pluralistischen Demokratiekonzeption ist es die Frage der jeweiligen politischen Ordnungsform (z.B.: sind die Grundrechte gewährleistet oder nicht?). Wie die Gegenüberstellung zeigt, handelt es sich um einen Systemkonflikt, weil sich zwei Systeme in ihren Legitimationsansprüchen unversöhnlich gegenüberstehen, von dem machtpolitischen Aspekt einmal ganz abgesehen 6 • Freilich muß sich dieser Systemkonflikt nicht notwendigerweise entladen, zumal unter waffentechnischen Bedingungen, die nicht nur die Niederlage des Gegners, sondern zugleich auch die eigene bedeuten können. Auf diesen Gesichtspunkt wird noch zurückzukommen sein. Aus marxistisch-leninistischer Sicht? stellt sich die Unterscheidung zwischen der "sozialistischen Demokratie" und der "bürgerlichen Demokratie" folgendermaßen dar: In der "sozialistischen Demokratie", die sich gesetzmäßig herausgebildet hat, geht die Macht von der Arbeiterklasse und ihrer klassen bewußten Partei aus. Sie wird zum Wohl der Allgemeinheit ausgeübt. Die Interessen der einzelnen fallen mit denen der Gesamtheit zusammen. Zunehmende soziale Errungenschaften prägen das gesellschaftliche Leben, das durch die Beteiligung der Bürger an der Planung und Gestaltung zwecks Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit gekennzeichnet ist8• Im Gegensatz dazu ist die "bürgerliche Demokratie", bei der sich das Privateigentum an Produktionsmitteln in der Hand einer kleinen Minderheit konzentriert, durch Klassengegensätze geprägt und zum Untergang verurteilt. Faktisch übt die Monopolbourgeoisie die Macht aus; viele bürgerliche Freiheiten stehen daher nur auf dem Papier. Gegenüber einem faschistischen System stellt die bürgerlichen Demokratie einen Fortschritt dar, da sich hier die Arbeiterklasse organisieren und für ihre Interessen einsetzen kann. Vor diesem Hintergrund wird naturgemäß der Vorwurf laut, die T otalitarismuskonzeption versuche, "Unvergleichbares als ,vergleichbar' darzustellen "9. Offenkundig ist die Immunisierungsfunktion einer solchen Morgensternschen "daß nicht sein darf, was nicht sein kann"-Logik. Man erhebt Frageverbote und entzieht sich damit in gewisser Weise der Auseinandersetzung. Denn auffallender- und bezeichnenderweise hütet man sich wohlweislich häufig davor, in extenso die Argumente von Befürwortern der sogenannten "Totalitarismus-Doktrin" überhaupt nur zu referieren. Es liegt in der Natur der Sache, daß die Totalitarismuskonzeption konstant als" Totalitarismusdoktrin" firmiert. Auf diese Weise soll der unwissenschaftliche Charakter dieser Konzeption betont werden - einer "Lehre", die zur Diskreditierung eines neuen Staats64
typs benutzt werde. Und das Präfix "antikommunistisch" ist ebenfalls niemals weit: "Die antikommunistische Totalitarismus-Doktrin unter dem Druck der Realitäten"10 - "Die Totalitarismus-Doktrin als Grundelement antikommunistischer Geschichtsklitterung"ll - "Totalitarismusdoktrin - Kernstück des Antikommunismus"12 - so lauten einige Titel einschlägiger Arbeiten. Der Marxismus-Leninismus unterscheidet demnach prinzipiell zwischen der "sozialistischen Demokratie" und den kapitalistischen Staaten. Diese können entweder in der Form der "bürgerlichen Demokratie" auftreten oder als faschistische Systeme, in denen, wie es heißt, die "reaktionärsten Gruppen der Monopolbourgeoisie"13 herrschen. Der faschistische Staat sei ebenso wie die "bürgerliche Demokratie" ein Klassenstaat. In jedem Fall handle es sich, wie Lenin sagt, um eine "Diktatur der Bourgeoisie", eine "Diktatur des Monopolkapitals"H. "Bürgerliche" Autoren leugneten diese "Wesensidentität". Beim DDR-Autor Gottschling heißt es: "Kritisiert wurde niemals der klassenmä8ige Inhalt des Faschismus, sondern allein die politisch-ideologische Form, in der dieser Inhalt seinen Ausdruck gefunden hat, obwohl der Anschein erweckt wird, als werde man das wirkliche Wesen des Faschismus verurteilen. Der Formunterschied zwischen bürgerlicher Demokratie und Faschismus wird mit der Absicht der Verfälschung oder zumindest mit diesem Ergebnis zum Wesensunterschied gemacht"15.
Dagegen unterscheidet das westliche Demokratieverständnis zwischen Demokratien und Diktaturen. Bei den letztgenannten kann es sich entweder um autoritäre oder totalitäre Formen handeln 16. Demokratien zeichnen sich nach dieser Position durch eine autonome Legitimation des Herrschaftssystems aus, heterogene Gesellschaftsstruktur, pluralistische Organisation des Regierungssystems sowie die Unabhängigkeit des Rechtssystems 17, während diese Kriterien in Diktaturen, welchen Zuschnitts auch immer, nicht gelten. Faßt man die Positionen zusammen, so stehen den liberaldemokratischen Systemen die kommunistischen und die rechtsdiktatorischen Staaten gegenüber, die Unterscheidung zwischen autoritär und totalitär einmal außer acht gelassen. Es ergibt sich ein kompliziertes "Dreiecksverhältnis"18 zwischen diesen drei Systemen. Der Antikommunismus ist das Gemeinsame von Rechtsextremisten und Demokraten; der Antifaschismus das Verbindende von Kommunisten und Demokraten, der Antiliberalismus schließlich vereint Kommunisten und Rechtsextremisten. In der Geschichte hat es - zumindest zeitweise - die verschiedenartigsten Bündnisse gegeben: Unter dem Begriff "Antikommunismus" haben rechtsextremistische und demokratische Systeme gemeinsame Sache gemacht (man denke z.B. an die Unterstützung lateinamerikanischer Regime durch die USA), im Zweiten Weltkrieg kämpften die USA an der Seite der Sowjetunion, und 1939 wurde - faktisch gegen die westlichen "Plutokratien" - ein Bündnis jener beiden Systeme geschlossen, die gemeinhin den Totalitarismus verkörperten - der Stalinismus und der Nationalsozialismus. Nicht zuletzt dieses - zugegeben - Parade-Beispiel lehrt, daß es sich der Marxismus-Leninismus zu einfach macht, wenn er voller Entrüstung der Totalitarismus-Konzeption den Kampf ansagt.
5 Löw, 2. A.
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Kontinuität und Wandel in der Kritik - das Beispiel von Gerhard Lozek
Die herangezogenen Beiträge von Gerhard Lozek stammen von Mitte der sechziger!9, von Mitte der siebziger20 und Mitte der achtziger Jahre2!. In den sechziger Jahren dominierten in der Bundesrepublik Totalitarismusansätze, ein Jahrzehnt später konnte davon gewiß nicht die Rede sein, und gegenwärtig ist wohl wieder eine Renaissance totalitarismustheoretischer Gedankengänge feststellbar - übrigens nicht nur in der Bundesrepublik22 . Wie schlägt sich dieser Wandel bei Lozek nieder? Im Jahre 1966 behauptete Lozek, der Antikommunismus sei das oberste Prinzip aller kapitalistischen Manipulationsmechanismen, "mit der Theorie von der ,formierten Gesellschaft' glaubt man nun das geeignete Mittel gefunden zu haben"23. So simpel die "Totalitarismusdoktrin" erscheine, so dürfe ihre Gefährlichkeit nicht unterschätzt werden. Sie wurzele vom Begrifflichen her in der Lehre vom "totalen Staat" des Staatstheoretikers Carl Schmitt. Später haben sowohl antifaschistische als auch antikommunistische Kräfte den Begriff des Totalitarismus im pejorativen Sinne gebraucht - zur Brandmarkung des nationalsozialistischen und des kommunistischen Systems. Und nach dem Weltkrieg sei die Totalitarismus-Konzeption von sogenannten "bürgerliche(n) Ideologen der ... neoliberalen Schule wie Wilhelm Röpke und Friedrich A. Hayek ... im antikommunistischen Sinne"24 angewandt worden. "Aggressivste Kreise des USA-Imperialismus bemächtigten sich der Totalitarismus-Doktrin in der Zeit ihres Übergangs zur Politik des Kalten Krieges"25. Nach Friedrich und Brzezinski seien "Fürsprecher einer elastischeren, differenzierteren Anwendung"26 der Totalitarismus-Konzeption auf den Plan getreten. Lozek nennt u.a. Peter Christian Ludz. Aber nach wie vor nehme die "klassische" Totalitarismusdoktrin "eine dominierende Rolle"27 ein. Der marxistisch-leninistische Wissenschaftler kritisiert etwa Theodor Schieder, der ",von kommunistisch-sowjetischen Vorbildern und Erfahrungen' der faschistischen ,Herrschaftstechnik' , vor allem ihres Terrorismus"28 spricht - also einen Argumentationstopos benutzt, der bekanntlich bei der jüngsten sogenannten "Geschichtskontroverse" im Hinblick auf die Singularität des Nationalsozialismus eine brisante Rolle gespielt hat. So sehr Lozek sich von einer Identifizierung von bürgerlicher Demokratie und Faschismus absetzt, so sehr hebt er die" Wesensverwandtschaft zwischen dem Hitlerregime und dem Bonner Staat"29 hervor. Fußte der Faschismus fast ausschließlich auf der terroristischen Methode, so praktiziere man "in Bonn eine elastische Kombination zwischen terroristischer und pseudoliberaler Herrschaftsform ... - bei zunehmender Hinwendung zur ersteren". Die TotalitarismusDoktrin diene nicht nur der "aggressiven Revanchepolitik nach außen", sondern "ebenso der Unterdrückungs- und Terrorpolitik nach innen"3o. Partiell wird sogar die Staatspraxis der Bonner Republik mit jener des Dritten Reiches in eins gesetzt, zumindest von "totalitären Tendenzen"3! ist die Rede. Lozek wendet sich eigens dagegen, zwischen der antikommunistischen Asphaltliteratur (etwa der Landser Hefte des Pabel-Verlages) und der Literatur zum Totalitarismus einen prinzipiellen Unterschied zu sehen. Im Beitrag des siebziger Jahre wird erneut auf die besonders militante Form des Antikommunismus verwiesen - allerdings eigens mit dem Vermerk, daß diese Theorie nicht von einer völligen Gleichsetzung ausgehe. Zum einen wäre die Geschichtsklitterung dann 66
allzu offenkundig, zum anderen wolle man ganz bewußt den Sozialismus als "die Hauptgefahr"32 herausstellen. Manche Wendung aus dem Beitrag von 1966 taucht nahezu wörtlich wieder auf - so etwa die These von der Massenwirksamkeit der Doktrin ungeachtet ihrer simplen Anlage. Über die Gründe der "Massenwirksamkeit" erfährt man aber wohlweislich nichts. Lozek stellt sodann die Verlaufsphasen dar, wobei sich diese Art der Periodisierung nicht wesentlich von jener in westlichen Darstellungen unterscheidet. Erstaunlicherweise gesteht Lozek zu, daß "Erscheinungen des Personenkults in einigen sozialistischen Ländern" den "Anschein der Wissenschaftlichkeit"33 der Totalitarismustheorie begünstigt haben. Er wendet sich gegen die These, daß die" Totalitarismus-Doktrin" angesichts ihrer mannigfachen Modifikationen und Differenzierungen "keinen nennenswerten Einfluß mehr ausübe oder gänzlich ad acta gelegt worden"34 sei. Auch ein taktisches Verschweigen des Totalitarismus-Begriffs stelle ein Indiz für die inhaltliche Praktizierung des Konzepts dar. Der Satz ist von Lozek so formuliert, daß er nicht widerlegt werden kann. Im Gegensatz zu 1966 wird die Doktrin in fünf Varianten aufgefächert: Neben der "herkömmlichen" Konzeption geht er zweitens auf eine Variante ein, die sich vom Charakter eines politischen Kampfbegriffs zu befreien suche (Walter Schlangen und Peter Graf Kielmansegg); die dritte Variante ist die bereits erwähnte, die den Begriff, aber nicht die konzeptionelle Aussage ablehne; zu vierten Variante gehört die Strömung, die den Nationalsozialismus aus dem Totalitarismus-Schema ausklammert (Hans Mommsen); die fünfte Variante bezieht sich auf die Position, die sich allein auf den Marxismus-Leninismus beschränkt, weil der faschistische Totalitarismus seit 1945 keine Gefahr mehr sei (Eugen Lemberg und Kurt Shell). Schließlich tauchen noch zwei Richtungen auf, die nicht zu den Verfechtern der "Totalitarismus-Doktrin" zählen - die "bürgerlich-antifaschistischen" Kräfte (wie Eugen Kogon und Helga Grebing) und die "demokratisch-antiimperialistischen" Historiker und Publizisten, als deren Prototyp Reinhard Kühnl firmiert 35 . Marxistisch-leninistische Strömungen erwähnt Lozek nicht. Wiederum ein Jahrzehnt später hebt derselbe Autor auf die "Defensivposition"36 bürgerlicher Geschichtsideologen ab. Diese Kennzeichnung steht in einem gewissen Gegensatz zu der These, daß die" Totalitarismus-Doktrin seit Beginn der achtziger Jahre im Mittelpunkt der antikommunistischen Kreuzzugspropaganda"37 rangiere. Loesdau/Lozek machen vier Hauptstoßrichtungen und Funktionen der" Totalitarismus-Doktrin"38 aus: Sie lenke vom Faschismus ab; sie stelle das parlamentarische System als einzige Alternative zum Faschismus und Kommunismus dar; sie nehme eine antikommunistische Zuspitzung und damit eine antikommunistische Umfunktionierung vor; sie wolle ein antifaschistisches Verständnis von Demokratie unmöglich machen. Von der "Massenwirkung"39 der Doktrin ist erneut die Rede, abermals ohne den Versuch einer Begründung, was umso mehr verwundert, als eigens die Primitivität der Parolen herausgestrichen wird. Bei einem Vergleich der Beiträge40 muß vorausgeschickt werden, daß der letzte aus keiner Fachzeitschrift ("Einheit") stammt und schon von daher "grobkörniger" gehalten ist. Es finden sich Elemente der Kontinuität und des Wandels: s'
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Zur Kontinuität ist zu rechnen, daß die" Totalitarismus-Doktrin" ein "Kernstück des Antikommunismus" ist und deren Verfechter das "wahre Wesen" von Faschismus wie sozialistischer Demokratie verkennen: Das erste sei die Diktatur der reaktionärsten Kräfte der Bourgeoisie, das zweite habe diese beseitigt und basiere auf einer anderen Gesellschaftsformation; bei den Hinweisen auf die "Erscheinungsformen" wird ganz bewußt vermieden, diese konkret zu benennen. Die Totalitarismus-Doktrin diene dazu, antikommunistische Vorkehrungen nach innen zu rechtfertigen (1966 waren es die Notstandsgesetze und die seinerzeit vielbeschworene "formierte Gesellschaft", 1977 die "Berufsverbote", 1984 der NATO-Nachrüstungsbeschluß) und nach außen eine Diversionsfunktion durch einen ideologischen Kreuzzug hervorzurufen. Immer wieder wird direkt oder indirekt - um Unterstützung gegen die antikommunistische" TotalitarismusDoktrin" nachgesucht, wenngleich die Bündnispartner wechseln - von den Schriftstellern 1966 über die "bürgerlich-antifaschistischen" und "demokratisch-antiimperialistischen" Kreise 1977 bis zu den "Widerstands- und Friedenskämpfern" 1984. Im Grunde bleibt jeweils offen, wo eine antikommunistische Position sich von einer totalitarismustheoretischen Richtung entfernt. Die Schwankungen in der Einschätzung der" Totalitarismus-Doktrin" fallen viel geringer aus als in der westlichen Literatur. Die Elemente der Diskontinuität treten ebenfalls zutage, wenngleich weniger offen: Die Entstehung des Totalitarismusbegriffs wird inzwischen differenzierter gesehen: die einst noch gelegentlich auftauchenden Termini wie "totalitäre Tendenzen" für die "bürgerliche Demokratie" sind fallengelassen worden; die einzelnen Varianten der sogenannten "Totalitarismus-Doktrin" werden deutlicher herausgearbeitet und angemessener beurteiit.
Kritik an der" Totalitarismus-Doktrin"
Varianten der" Totalitarismus·Doktrin'" Gerhard Lozek ist auch der Leiter eines Autorenkollektivs, das Ende 1985 die erste Gesamtdarstellung vorgelegt hat - unter dem wahrlich nicht überraschenden Titel: "Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus"41. Man kann den Autoren, zu denen u. a. Ernst Gottschling, Herbert Meißner und Hans Pirsch gehören, nicht vorwerfen, lediglich einige Aspekte angerissen zu haben; das Werk ist so gut wie vollständig, wie schon eine kurze Übersicht zum Inhaltsverzeichnis zeigen mag. Es wird auf die Funktion der Totalitarismus-Doktrin als "ideologisches Vehikel imperialistischer Konfrontationsstrategie" hingewiesen (unter Berücksichtigung der historisch-politischen und weltanschaulichen Züge sowie der außenpolitischen Gegebenheiten), die Genesis der Totalitarismus-Doktrin mit ihren gegenwärtigen Haupterscheinungsformen und einzelnen Phasen erörtert (wobei das Überraschende darin liegt, daß man für die Zeit vor 1945 die wertfreie Bezeichnung" Totalitarismus-Konzept" wählt). Schließlich folgt ein Kapitel darüber, inwiefern die Totalitarismus-Doktrin das politische System des Sozialismus verfälsche, und abschließend werden einige "weltanschauliche und gesellschaftstheoretische Grundelemente" besagter Doktrin untersucht - das Spektrum reicht von der Freiheitsproblematik (ein für Marxisten-Leninisten heikles Thema) über bürgerliche 68
Herrschaftstypologien bis zum wirtschaftstheoretischen Beitrag zur TotalitarismusDoktrin 42 . Das Neue an diesem Buch besteht nun darin, daß strikt zwischen der konservativen Herrschaftspraxis und dem "Sozialreformismus" im Hinblick auf den Totalitarismus unterschieden wird. Die konservative Variante der Totalitarismus-Doktrin, zu der Siegfried Mampel gerechnet wird, der als "Begründer der konservativen ,Gesellschaft für Deutschlandforschung' in der BRD"43 firmiert, sei eine Form des militanten Antikommunismus und zeichne sich durch folgende Wesenszüge 44 aus: 1. Die Gemeinsamkeit totalitärer Systeme beschränken sich nicht nur auf terroristische
Merkmale, sondern auch auf sozialistische und kollektivistische Grundzüge. Dem Nationalsozialismus würden revolutionäre und sozialistische Ansprüche unterstellt.
2. Massive antikommunistische Intentionen seien im Spiel, da die "Totalitarismus-
Doktrin" sich besonders gegen den realen Sozialismus richte.
3. Der rechte Extremismus werde durch Überbewertung nationaler Besonderheiten relativiert, wodurch man einer marxistisch-leninistischen Faschismustheorie den Boden zu entziehen suche. 4. Der Linksextremismus erfahre eine systematische Ausweitung, so daß diese Version
eine Kriminalisierung demokratischer Kräfte ermögliche. Karl Dietrich Bracher, Repräsentant dieser Richtung, wird "die Preisgabe selbst des elementaren bürgerlichen Wissenschaftsverständnisses" vorgeworfen - "der ungelesene Lenin ist offenbar leichter zu verleumden, als das reiche theoretische Werk dieses genialen Denkers und Revolutionärs zu widerlegen wäre"45. Frühere "liberal-antinazistische Ansätze (seien) weitgehend verdrängt"46 worden. Das ist insofern richtig, als bei Bracher in der Tat ein gewisser Wandel eingekehrt ist, wie ja auch sein neuestes Buch über" Totalitäre Erfahrung" bestätigt47. Nur ist dieser Wandel auch eine Reaktion auf bestimmte Entwicklungen des Zeitgeistes. Seine antitotalitäre Grundkonstante des Denkens hat sich nicht geändert.
Anders fällt das Urteil für den insbesondere von sozialdemokratischen Strömungen getragenen sogenannten Sozial reformismus aus48 . Realer Sozialismus und Faschismus würden nicht mehr als wesensgleich deklariert, wenngleich der Sozialreformismus die Staatsauffassung des Marxismus-Leninismus ablehne. "In der so ausgeformten TotalitarismusDoktrin wird unterstellt, die revolutionären Veränderungen in den sozialistischen Ländern seien eine nicht nach Marx verlaufende Entwicklung"49. Dem MarxismusLeninismus hält man drei Kritikpunkte entgegen: Erstens setze man die Prinzipien der bürgerlichen Demokratie absolut; zweitens verwischten Sozialreformisten den "fundamentalen Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus", drittens werde die Diktatur der besitzenden Klasse "als klassenneutrale Staatsform" verstanden, deren Merkmale (wie etwa das allgemeine Wahlrecht und Mehrparteiensystem) "Ewigkeitswert besäßen"50. Zwar sei der "Sozialreformismus" weder vom Antikommunisinus noch von der" Totalitarismus-Doktrin" frei, doch lasse sich eine Abkehr von bestimmten Elementen nicht übersehen. Die Autoren beziehen dies besonders - aber nicht nur - auf den außenpolitischen und militärischen Bereich. Das Überleben der Menschheit stehe 69
angesichts der militärischen Zuspitzung in Frage, so daß "Sicherheit nicht mehr nur vor dem Gegner, sondern nur noch mit dem potentiellen Gegner möglich" sei, wie es bekanntlich das sozialdemokratische Konzept der Sicherheitspartnerschaft zum Ausdruck bringe. Dieses erfährt eine prinzipielle positive Beurteilung, weil "die Friedensfrage zur zentralen Frage der Auseinandersetzung geworden ist"51. Wenn der Wandel "sozialreformistischer Kräfte" zur Krieg-Frieden-Problematik betont wird, so muß dies implizit auch für die marxistisch-leninistische Sichtweise im Hinblick auf die friedliche Koexistenz gelten. Doch davon später mehr! Die Argumentation läuft darauf hinaus, daß nicht jede Variante der "TotalitarismusDoktrin" notwendigerweise entspannungsfeindlich sein muß - eine These, die zwar keine "kopernikanische Wende" darstellt, aber vor einigen Jahren noch ganz anders formuliert worden war: Entspannungsbemühungen und die Akzeptanz totalitarismustheoretischer Erwägungen schlossen sich seinerzeit aus.
Argumentationsstereotypen Bei der Sichtung der einschlägigen Literatur fallen immer wieder bestimmte Argumentationsstereotypen auf, die die Totalitarismuskonzeption verzeichnen. Zunächst wird das Argumentationsstereotyp vorgestellt (a), dann an ihm Kritik geübt (b), ehe eine Erklärung im Hinblick darauf erfolgt, warum man von ihm Gebrauch macht (c). All dies geschieht nur schlagwortartig. Zu den charakteristischen Ausprägungen gehören: 1. a) Die Totalitarismuskonzeption firmiert als ein "Produkt des Kalten Krieges"52. Sie
sei ausgeheckt worden, um das "sozialistische Lager" zu diskreditieren. b) Die Entstehungsgeschichte wird damit grob verzerrt, denn be~anntlich kam die Totalitarismustheorie schon in den zwanziger und dreißiger Jahren auf, als man Parallelen zwischen dem faschistischen Italien und der stalinistischen Sowjetunion ausmachte. Allerdings hat die Totalitarismustheorie während des Kalten Krieges eine Blütezeit erlebt. c) Man macht bewußt von solchen Entstellungen Gebrauch, um auf diese Weise den Eindruck des unwissenschaftlichen Charakters der" Totalitarismus-Doktrin" hervorzurufen.
2. a) Die Totalitarismuskonzeption wird häufig so hingestellt, als redeten ihre Ver-
fechter einer Wesensidentität von rechtsdiktatorischen und kommunistischen Systemen das Wort und behaupteten, "daß der Faschismus und der Sozialismus gleichen gesellschaftlichen Ursachen entspringen, wesensgleiche Staats- und Gesellschaftsformen darstellen "53 • b) Tatsächlich geht die Totalitarismustheorie keineswegs davon aus, Rechts- und Linksdiktaturen seien "wesensgleich" oder "gleichen gesellschaftlichen Ursachen" entsprungen. Das "basically alike"-Prinzip von Friedrich wird unzureichend wiedergegeben. Totalitarismustheoretische Konzepte heben vielmehr insbesondere auf die Analogie der Herrschaftsstrukturen und -techniken ab. c) Aber der Popanz im Hinblick auf die Wesensidentität wird seitens der Kritiker ganz bewußt aufgebaut, um ihn auf diese Weise leichter zum Einsturz zu bringen. Man attackiert häufig nicht die Totalitarismustheorie, sondern deren Karikatur.
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3. a) In aller Regel spricht man nur von "der Totalitarismus-Doktrin". Sie stelle eine vom Klassenfeind ersonnene (Irr-)Lehre dar. b) Die Vielfalt der Varianten, wenn man nur an Friedrich 1 Brzezinski einerseits und an Drath sowie Löwenthal andererseits denkt 54, wird unzureichend erfaßt, ein Autor wie Martin Jänicke, der eine Konzeption entwickelt hat, die sich nicht so recht in das vorgefertigte Schema einfügt, bezeichnenderweise praktisch überhaupt nicht rezipiert 55 • c) Der Grund liegt auf der Hand - es entspricht manichäistischen Denkmustern, daß man einen Negativbegriff parat hat, mit dessen Hilfe man die Politik des "Klassenfeindes" herabsetzen kann. Dazu eignet sich - angeblich - die Totalitarismuskonzeption. 4. a) Auffallend ist, in welchem Ausmaß die Totalitarismuskonzeption in Verbindung
zur Politik der "herrschenden Klasse" gebracht wird. Sie diene deren Legitimation nach innen und erfülle nach außen eine "Diversions"-Funktion. Selbst die sogenannten "konterrevolutionären" Kräfte in der Tschechoslowakei 1968 und in Polen 1980/81 seien von der Totalitarismus-Doktrin beeinflußt worden. b) Man muß staunen, wofür diese sogenannte Doktrin alles herhalten muß. Tatsächlich sagt ja die Funktion einer Theorie (einmal unterstellt, sie habe diese wirklich) nichts über ihre wissenschaftliche Plausibilität aus. c) Die Autoren können sich einfach nicht vorstellen, daß es die sogenannte "bürgerliche Ideologie" erlaubt, Wissenschaft und Politik in den westlichen Demokratien auseinanderzuhalten. Offenbar projiziert man die Erfahrungen im eigenen System auf das fremde.
5. a) In bemerkenswerter Weise werden Einwände seitens westlicher Kritiker an der Totalitarismustheorie häufig als raffiniertes Täuschungsmanöver abgetan. Die herkömmliche "Doktrin" sei gescheitert, folglich müsse man nach einer anderen Ideologie suchen. Man hält also viele Kritiker der Totalitarismustheorie nicht für lernfähig, sondern unterstellt ihnen, daß sie nach Unterminierungsversuchen des Sozialismus trachten. b) Tatsächlich gibt es in der Bundesrepublik zahlreiche Kritiker, deren Einwände gegenüber totalitarismustheoretischen Konzeptionen z.T. fundamentaler Natur sind. Es kann keine Rede davon sein, daß es sich um taktisch bedingte Gegensätze handelt. c) Man will im real-existierenden Sozialismus den Wandel nicht deutlich genug zur Kenntnis nehmen, denn dies hätte einen eigenen Wandel zur Konsequenz. Die obigen Ausführungen zu den fünf Argumentationsstereotypen bedürfen freilich in mancher Hinsicht einer Modifikation. Es ist nämlich auffallend, daß sie in einigen, eher wissenschaftlichen Darstellungen vermieden oder zumindest nicht in plumper Form vorgetragen werden . .. Totalitarismusdoktrin" als Pauschalvorwur/
Häufig dient das Pejorativum" Totalitarismus-Doktrin" gleichsam als Abgrenzungsbegriff, mit dem alle diejenigen etikettiert werden, die nicht das marxistisch-leninistische 71
Gedankengebäude in toto übernehmen. Als Verfechter der" Totalitarismus-Doktrin" firmieren daher bisweilen notgedrungen auch jene Autoren, die sich eigens gegen das Totalitarismuskonzept aussprechen, ohne deswegen marxistisch-leninistischen Prinzipien zu huldigen. Selbst Dietrich Staritz, dem Mannheimer Politikwissenschaftler und DDRForscher, ist von Heinz Heitzer, vorgeworfen worden, "traditionellen antikommunistischen Klischees, besonders der Totalitarismusdoktrin"56, in seiner Arbeit zur Gründung der DDR verhaftet zu sein - einer Studie57, der jüngst von Karl Wilhelm Fricke bei aller Anerkennung der Leistung des Autors zu Recht nachgesagt worden ist, sie setze sich aufgrund gewisser Akzentuierungen "eher dem Vorwurf mangelnder Distanz aus"58. In diesem Sinn hat die Kritik an der sogenannten" Totalitarismus-Doktrin" eine Dimension angenommen, die weit über die Kritik an der Konzeption eines Friedrich oder Bracher hinausgeht. Sie dient der Diffamierung aller Gegner des Marxismus-Leninismus, wo immer sie stehen mögen. Staritz jedenfalls ist ein entschiedener Gegner eines T otalitarismusansatzes, dem er vorwirft, "das Bild einer weithin statischen, bestenfalls theorie- oder ideologie bewegten Gesellschaft"59 zu zeichnen. Was steckt hinter der Kritik an der - ausgeweiteten - "Totalitarismus-Doktrin"? Geht es den Autoren wirklich in erster Linie um eine Ablehnung des Konzepts? Das mag man bezweifeln, denn die marxistisch-leninistische Kritik gäbe sich natürlich nicht damit zufrieden, wenn das Totalitarismuskonzept ad acta gelegt würde. Das sieht man daran, wie heftig etwa Peter Christian Ludz, einer der schärfsten und zugleich scharfsinnigsten Kritiker des Totalitarismuskonzepts, aber ebenso auch des "real existierenden Sozialismus", attackiert wird60 • Der Totalitarismusbegriff wird deshalb so massiv aufs Korn genommen, weil er notwendigerweise gewisse Schwächen aufweist und die Akzeptanz gerade dieser Theorie in einer pluralistischen Demokratie naturgemäß nicht von allgemeiner Natur sein kann. Dies ist aber nur die eine Seite der Medaille. Denn er wird zwar heftig, aber nicht sonderlich umfassend gebrandmarkt. Der Grund liegt auf der Hand. Schließlich wäre eine permanente Auseinandersetzung mit ihm wahrscheinlich kontraproduktiv. Auffallenderweise tut sich der Marxismus-Leninismus schwer mit der Kritik der von ihm konstant als "Totalitarismus-Doktrin" bezeichneten Konzeption. Auch das erklärt vielleicht, daß es bis 1985 gedauert hat, ehe überhaupt eine Gesamtdarstellung vorgelegt worden ist. Ähnliches gilt für die Pluralismustheorie. Ist diese für das westliche Selbstverständnis konstitutiv, so jene für die Abgrenzung gegenüber extremistischen Positionen. Nun müßte die DDR im Wettkampf der Systeme ein gesteigertes Interesse an einer detaillierten Auseinandersetzung mit diesen beiden Theorien haben. Doch im Vergleich etwa zur Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sind die Einwände recht pauschaler Natur6 1• Man wird seitens der DDR-Forschung nicht müde, den - gar nicht relevanten - wirtschaftstheoretischen Beitrag des Kapitalismus zur "Totalitarismus-Doktrin" zu würdigen62 . Der ökonomische Liberalismus habe sich mit dem Totalitarismus-Konzept verbunden, wobei man sich insbesondere auf Friedrich A. Hayek und Wilhelm Röpke bezieht, die Individualismus und Kollektivismus einander gegenüberstellten. Die bürgerliche Theorie sehe aber auch
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"in der Entwicklung des Leistungsprinzips, der materiellen Stimulierung und der sozialistischen Demokratie Tendenzen einer Aufnahme marktwirtschaftlicher Elemente in den Sozialismus. Damit werden die sozialökonomischen Unterschiede der beiden Gesellschaftsordnungen und die ihnen entsprechenden Funktionsmechanismen der Wirtschaft verwischt"63.
Diese Argumentation zeuge einerseits von der Gefährlichkeit bürgerlicher Wirtschaftsideologie, andererseits von ihrem Anpassungszwang an die neuen Realitäten 64 • In letzter Zeit jedoch würden die Klischees von einer sozialistischen "Befehlswirtschaft"65 wieder in den Vordergrund gerückt. Das Beispiel der Wirtschaftstheorie zeigt nachdrücklich, daß es dem Marxismus-Leninismus weniger um eine Auseinandersetzung mit der Totalitarismuskonzeption geht, als vielmehr um eine Apologie des eigenen Wirtschaftssystems. Im übrigen haben Hayek und Röpke66 zur Totalitarismusproblematik keine wegweisenden Beiträge geleistet, sondern das marktwirtschaftliehe System gegenüber dem zentralistischen verteidigt, wobei unzureichend berücksichtigt wurde, daß nicht jede Zentralverwaltungswirtschaft notwendigerweise diktatorische Formen annehmen muß. Die Brisanz des Totalitarismuskonzepts für den Marxismus-Leninismus ist unübersehbar, denn allzu offenkundig wird die mangelnde demokratische Legitimation des eigenen Systems, wenn man die Argumente der Gegenseite akribisch sammelt, referiert und gewichtet. Eine Bumerangwirkung liegt im Bereich des Möglichen. Drei Beispiele zum Pluralismus, zu den Parallelen zwischen dem Nationalsozialismus und dem MarxismusLeninismus sowie zur Opposition mögen dies verdeutlichen: 1. "Die Feststellungen von Friedrich Engels machen deutlich, daß der von den bürgerlichen Ideologen so gepriesene Pluralismus verschiedener, ja einander widersprechender Weltanschauungen und politischer Auffassungen sowie die Möglichkeit, sich bald für die eine und dann wieder für die entgegengesetzte zu entscheiden, alles andere als Freiheit darstellt"67.
Eine detaillierte Begründung erfolgt nicht. Man geht bezeichnenderweise auch nicht näher darauf ein, was unter Pluralismus zu verstehen ist. 2. "Der Faschismus ... ist der größte Feind der Demokratie. Brutaler Terror gegen alle Andersdenkenden, Verbot aller demokratischen Organisationen, vor allem der Arbeiterparteien und der Gewerkschaften, Unterdrückung, Einkerkerung und schließlich physische Vernichtung von Millionen Menschen - das war der deutsche Faschismus"68.
Der Autor wußte, warum er im Nachsatz noch einmal hervorhebt, wer gemeint ist. Denn auch andere Assoziationen liegen nahe. So abwegig sind die Parallelen zu kommunistischen Herrschaftssystemen nicht. 3. "Die im Sozialismus gegebene Interessenstruktur bietet objektiv keine Grundlagen für eine politische Opposition. In der bürgerlichen Gesellschaft dagegen erwächst die Notwendigkeit einer politischen Opposition aus den Interessengegensätzen der antagonistischen Klassenstruktur. Die aggressivsten Kräfte des Monopolkapitals aber greifen immer dann zur faschistischen Diktatur - die jede
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Opposition brutal unterdrückt und ausschließt, wenn das im Interesse der imperialistischen Systemerhaltung unumgänglich wird. In solchen Situationen ... ist objektiv kein Platz für andere Parteien außer der faschistischen"69.
Das Zitat erhellt die nicht eben so große Unterschiedlichkeit zwischen beiden Systemen. Beide Male ist "objektiv" für eine Opposition kein Platz. In einem Fall jedoch gilt dies als die höchste Form der Demokratie, im anderen Fall als brutale Unterdrückung. Man tut sich schwer, die Totalitarismuskonzeption empirisch zu widerlegen. Wenn dies geschieht, so werden zwei Wege eingeschlagen - durch Hervorhebung sozialistischer "Errungenschaften" und durch Hinweise auf system bedingte Defizite des bürgerlichen Staates. So wird immer wieder auf die "bloße(n) Formunterschiede" zwischen faschistischem System und "bürgerlicher Demokratie" rekurriert - und auf ihre fließenden Übergänge. "Profaschistische Tendenzen (seien) Bestandteil der bürgerlichen Demokratie" "die Telefonbespitzelungen der Bürger in allen kapitalistischen Ländern, Praktiken des Strafvollzugs und nicht zuletzt der Berufsverbotserlaß in der BRD"70. Auffallenderweise dreht der Marxismus nicht den Spieß herum und überzieht die bürgerliche Demokratie weder mit dem Stigma des Extremismus noch gar dem des Totalitarismus. Man muß schon lange suchen, um Zitate7l zu finden, die in diese Richtung deuten. Dann wird der Begriff aber nicht auf das gesamte System angewendet, sondern auf einzelne Verfechter einer "militanten" Totalitarismuskonzeption oder auf bestimmte Erscheinungsformen. Aus den Fehlern am Ende der Weimarer Republik, da der "Sozialfaschismus"-Begriff en vogue war, scheint man jedenfalls in dieser Hinsicht gelernt zu haben. Der MarxismusLeninismus ist also viel vorsichtiger als die Neue Linke unter ihrem Mentor Herbert Marcuse, der seinerzeit die westlichen Demokratien (und die kommunistischen Staaten) des Totalitarismus bezichtigt hatte 72 , vorsichtiger aber auch als jene konservativen Kritiker, die leichtfertig davon reden, der Sozialstaat entwickle totalitäre Syndromen. Autoritarismus und Totalitarismus
Die im Westen verbreitete Unterscheidung zwischen autorltaren und totalitären Systemen74 wird nicht anerkannt. Sie stamme von "reaktionärsten Kreisen"75, führe sie doch dazu, daß die Rechtsdiktaturen aus der Schußlinie geraten. An den folgenden Sätzen ist gleich mehrerlei falsch: "Proimperialistische Militärdiktaturen, terroristische, aggressive und rassistische Bewegungen werden als autoritär gekennzeichnet. Damit wird zugestanden, daß ihre Herrschaftsformen noch nicht den Maßstäben bürgerlichparlamentarischer Demokratie entsprechen. Sie würden sich jedoch auf dem Weg dahin befinden und verdienten daher nicht vorrangige Kritik und Boykott, sondern differenzierte, verständnisvolle Unterstützung"76.
Erstens werden nicht nur rechte Diktaturen als autoritär bezeichnet, sondern auch linke. Die Unterscheidung zwischen totalitär und autoritär hat ja nichts mit der zwischen "links" und "rechts" zu tun, ist vielmehr auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt. Zweitens besagt ,autoritär' nicht, daß die Entwicklung automatisch in die demokratische Richtung verlaufen muß. Aus einem autoritären Staat kann nämlich auch ein totalitärer werden. 74
Drittens genießen autoritäre Systeme durchaus nicht stets die Unterstützung des Westens - man denke nur an die Philippinen unter Marcos (jedenfalls in der Endphase des diktatorischen Regimes). Viertens ist der Gebrauch des Begriffs "autoritär" - z.B. für das politische System Ungarns77 - ein Ausdruck von Differenziertheit und keineswegs ein Zeichen realitätsgerechter Annahmen.
Vor ein besonderes Dilemma sehen sich die Kritiker der sogenannten "TotalitarismusDoktrin" gestellt, weil sie es mit unterschiedlichen Gegenpositionen zu tun haben. Man muß sich nicht nur Peter Christian Ludz, der in der kommunistischen Ideologie lediglich eine Leerformel gesehen hat, zu erwehren versuchen, sondern ebenso auch der entgegengesetzten Position von Konrad Löw, für den die Ideologie nach wie vor eine (welt-)revolutionäre Kraft besitzt. Die in der "Gesellschaft für Deutschlandforschung" tätigen Forscher wie Georg Brunner, Otto Kimminich, Konrad Löw und Siegfried Mampel gehören nach Ekkehard Lieberam, einem der bekanntesten DDR-Staatswissenschaftler, zur "Gruppe rechtskonservativer Staatsideologen" , die es "auf eine militante Verteufelung des politischen Systems der DDR"78 abgesehen haben. In dem einen Fall ist also die als vordergründig angesehene Aufgabe der Totalitarismusdoktrin besonders perfid, im anderen Falle ist es das Festhalten an ihr. Wie wenig die DDR-Forschung in der Lage ist, die wissenschaftliche Plausibilität von Argumenten einzuordnen, macht die Art und Weise an der Kritik deutlich, die an dem Polykratie-Ansatz eines Hans Mommsen oder Martin Broszat geübt wird. Sie gilt ebenfalls als eine Erscheinungsform der sogenannten Totalitarismus-Doktrin79 . Der Nationalsozialismus sei keineswegs ein totalitärer Staat gewesen. Es habe massive Zwistigkeiten, ja Auseinandersetzungen zwischen einzelnen nationalsozialistischen Führern auf zahlreichen Feldern gegeben. Die Gleichschaltung sei nicht so perfekt gewesen, wie man vielfach meine. Diese Position Mommsens80 gilt als eine "modifizierte ,Totalitarismus'Doktrin, die naturgemäß zu einer weitergehenden historischen Rehabilitierung des Faschismus führen muß". Der Faschismus werde aus dem "Totalitarismus"-Schema herausgenommen und "die antikommunistische Stoßrichtung der derart gewandelten Doktrin noch prononcierter. In dieser Form wird die ,Totalitarismus'-Doktrin, auch für offen-neonazistische und andere rechte Kräfte annehmbar, die ihren Antikomunismus nunmehr ebenfalls mit der ,Bekämpfung des Totalitarismus' begründen"81. Lozek führt für seine These allen Ernstes Beiträge aus dem rechtsextremen Blatt "Nation Europa" an. Wie immer man zu den Thesen von Hans Mommsen und anderen stehen mag - der Polykratieansatz ist auf einer ganz anderen Ebene angesiedelt als der des Totalitarismus -, muß man sich doch über die Primitivität dieser Schlußfolgerung wundern. Mommsen will ja gerade nicht das Dritte Reich verharmlosen und einer Dämonisierung des Führerstaates das Wort reden, sondern auf die gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten hinweisen 82 . Es sei aber hinzugefügt, daß auch in Teilen der westdeutschen Forschung die Intention des Polykratieansatzes nicht eben angemessen erfaßt wird. Die Interpretation des Nationalsozialismus ist aufgrund der historischen Last83 ein so heißes Eisen, daß man sich - ohne es zu wollen - leicht die Finger verbrennen kann. Der sogenannte "Historiker-Streit" im Hinblick auf die tatsächliche oder vermeintliche Singularität der 75
Nazi-Verbrechen legt davon beredt Zeugnis ab - aber das ist ein ganz anderes - leidiges - Thema ... "Totalitarismus-Doktrin" und "neues politisches Denken"
Insbesondere seit dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow im März 1985, in den Anfängen aber auch schon bei Andropow (November 1982 bis Februar 1984) und Tschernenko (Februar 1984 bis März 1985), wird in der Sowjetunion von einem "neuen politischen Denken" gesprochen. Speziell Gorbatschows Rede vor dem Zentralkomitee der KPdSU am 27. Januar 1987 hat für weltweites Aufsehen gesorgt84. Die - tatsächlichen oder vermeintlichen - Reformen beziehen sich auf mehrere Bereiche. An dieser Stelle soll nur das außen-, sicherheits- und friedenspolitische Terrain interessieren. Inwiefern haben bestimmte Veränderungen in der Sowjetunion und/oder im marxistischleninistischen Denken Auswirkungen auf die Einschätzung der "TotalitarismusDoktrin"? Seit einiger Zeit ist die Rede davon, daß im Atomzeitalter angesichts der nuklearen Bedrohungen die Notwendigkeit besteht, die Konflikte zum politischen Gegner zu verringern. Auf dem 27. Parteitag der KPdSU im Februar 1986 ist von Gorbatschow ausführlich das "neue Denken über Krieg und Frieden"85 begründet worden. Es gäbe nicht nur Interessendivergenzen, sondern auch Gemeinsamkeiten. In der vom Zentralvorstand der "Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft" herausgegebenen Zeitschrift "Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge" hat Georgi eh. Schachnasarow, der Präsident der Sowjetischen Vereinigung der Politischen Wissenschaft, in einem Grundsatzbeitrag die "Logik des Nuklearzeitalters" hervorgehoben 86. Diese gebiete es, daß angesichts einer drohenden Menschheitskatastrophe durch Massenvernichtungsmittel dem Frieden die absolute Priorität zukommt. Im Nuklearzeitalter müsse die Sicherheit der Gegenseite ebenfalls berücksichtigt werden. Auch revolutionäre Bewegungen hätten den Realitäten des Nuklearzeitalters Rechnung zu tragen 87 . Kein politisches Ziel rechtfertige den Einsatz von Kernwaffen. Es bedürfe einer strikten Trennung zwischen ideologischen Fragen und den Problemen der zwischenstaatlichen Beziehungen. So zurückhaltend die DDR dem "neuen politischen Denken" Gorbatschows im Bereich der Innen- und Wirtschaftspolitik gegenübersteht, so entschieden befürwortet sie das "neue politische Denken" im Bereich der Außenpolitik88 . Erich Honecker hatte bekanntlich nach dem vollzogenen NATO-"Nachrüstungsbeschluß" im Herbst 1983 mehrfach von der Notwendigkeit einer Schadensbegrenzung gesprochen. Zahlreiche Aufsätze in den Partei- und Fachzeitschriften legen eindrucksvoll Zeugnis von dem "neuen Denken" ab - jedenfalls was die rhetorische Ebene angeht. Einige Beispiele aus der Zeit seit 1985 mögen dies verdeutlichen, wobei jeweils belegt werden soll, daß die Autoren den Gedankengang Schachnasarows explizit (oder implizit) wiedergeben. In einem Grundsatzbeitrag89 fordern Max Schmidt, Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft, und Gerhard Basler im Frühjahr 1985 eine "Koalition der Vernunft und des Realismus", so der programmatische Titel ihres Aufsatzes. Diese Koalition der Vernunft sei "Ausdruck der gereiften Erkenntnis ihrer Partner, daß es ein über den Klassen und ihren Antagonismen und Rivalitäten bestehendes absolutes Gut gibt, für das
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es sich lohnt zusammenzuwirken - den Frieden als Grundprinzip der Staatenbeziehungen"90 .
Offenbar ist der Frieden klassenneutral - eine These, die eine gewisse Revision des marxistisch-leninistischen Lehrgebäudes darstellt. Eigens wird die von Schachnasarow apostrophierte "Logik des Atomzeitalters" aufgegriffen, wie überhaupt auffällt, daß sich die Autoren mehrfach an den Beitrag anlehnen, auch wenn sie nur einmal auf ihn verweisen. Auch Frank Berg und Rolf Reissing vom Institut für Wissenschaftlichen Kommunismus der Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED knüpfen in ihrem Beitrag91 explizit an Schachnasarow in zwei Punkten an: 1. Im Atomzeitalter sei die Antithese zum Weltfrieden nicht Krieg, sondern die Vernich-
tung der Menschen.
2. Die Politik der friedlichen Koexistenz gehe im Gegensatz zu manchen Unterstel-
lungen des Westens davon aus, daß nationale Sicherheit nur im Rahmen kollektiver Sicherheit möglich sei. Man müsse die Sicherheit der Gegenseite in Rechnung stellen. Dies ist insofern eine gewisse Modifikation des außenpolitischen Strukturprinzips im Hinblick auf Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung, als bisher die "friedliche Koexistenz" als" wichtige Form des internationalen Klassenkampfes und Prinzip der Zusammenarbeit auf zwischenstaatlicher Ebene"92 galt.
Heinrich Opitz, Professor an der Parteihochschule "Karl Marx" beim ZK der SED, stützt sich in seinem Beitrag93 ebenfalls auf Schachnasarow. Eine neue - internationalistische - Denkweise sei notwendig, "damit Vernunft und Realismus überall die Oberhand gewinnen"94. Ähnlich argumentiert Wolfgang Scheler in einer 1987 erschienenen Abhandlung zum Thema "Neues Denken über Krieg und Frieden"95 - wiederum unter Bezugnahme auf Schachnasarow. Er stellt fünf Momente heraus, durch die das "neue Denken" konstituiert sei: Erstens sei mit der Gefahr eines Kernwaffenkrieges eine neuartige Dimension der Selbstvernichtung des Menschen erreicht; zweitens werde der Frieden damit zum vorrangigen Interesse der Völker und bilde eine Voraussetzung für die immer wieder apostrophierte - "Koalition der Vernunft"; drittens werde dadurch der Gegner neu bestimmt: Die Hauptfrontlinie verlaufe nicht mehr zwischen Imperialismus und Sozialismus, sondern zwischen den aggressivsten Kreisen des Imperialismus und allen Friedenskräften; viertens könne sich Sicherheit nicht länger auf die Angst vor Vergeltung gründen, vielmehr auf Abrüstung, auf gemeinsame Sicherheit; fünftens schließlich müsse man akzeptieren, daß ein Kernwaffenkrieg weder Sieger noch Besiegte kennt. Auch Scheler räumt ein, daß die Logik des Nuklearzeitalters eine gewisse Modifikation der friedlichen Koexistenz erzwinge. Es wird ausschließlich die Kooperationskomponente96 dieser außenpolitischen Richtschnur betont. Als Antwort auf diese Position ist offenbar der Beitrag von Kurt Hager97 zu verstehen. Das Mitglied des Politbüros und der langjährige Sekretär des ZK der SED für Kultur und Wissenschaft versucht der Frage zu begegnen, ob durch die Politik der Vernunft und durch die friedliche Koexistenz der Klassenkampf auf der Strecke bleibe: Durch die Notwendigkeit eines "neuen Denkens" würden weder die Klassengegensätze noch die unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen aufgehoben. 77
"Die ideologische Auseinandersetzung ist unvermeidlich. muß aber in zivilisierten Formen geführt werden. Ideologische Gegensätze dürfen nicht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen übertragen werden M98 .
Nun stellt sich die Frage, wie jene eingestuft werden, die an der" Totalitarismusdoktrin" festhalten. Führen sie die Auseinandersetzung aus marxistisch-leninistischer Sicht in "zivilisierten Formen"? Hans Pirsch vom Institut für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR hat jüngst den Zusammenhang zwischen - so der Titel - "Logik des Nuklearzeitalters und Totalitarismus-Doktrin" hergestellt 99 • Die Anknüpfung an Schachnasarow erfolgt also gleich in der Überschrift seines Beitrages: "Es ist die Frage zu beantworten. ob der ideologische Antagonismus. insbesondere der klassenmäßig bedingte Gegensatz der Auffassungen über die Ordnung gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen. wie er sich z. B. auch in der Totalitarismus-Doktrin manifestiert. zwangsläufig zu einer außenpolitischen Strategie der Vernichtung des jeweils anderen Gesellschaftssystems unter Einsatz aller Mittel und Methoden. einschließlich eines Nuklearkrieges führen muß. Eine durch Kreuzzugfanatismus bestimmte Beurteilung des ideologischen Antipoden kann im Nuklearzeitalter unübersehbare Folgen mit sich bringen M1OO .
Der Autor kritisiert hier prima facie die" Totalitarismus-Doktrin", doch meldet er angesichts der Kriegsgefahr gegenüber jeglichem ideologischem Antagonismus Bedenken an: "Das Nuklearzeitalter zwingt zu einem grundlegenden. tiefgehenden Bruch mit vielen bisherigen politischen Vorstellungen M101 .
Richard Löwenthai, ansonsten als reformistischer Ideologe verteufelt, wird gepriesen, weil er das "Bewußtsein des gemeinsamen Interesses beider Seiten am Überleben"102 betont, und selbst Helmut Kohl - man staune - für folgenden Satz belobigt: "Wir können. davon bin ich überzeigt. Freiheit. Menschenrechte und Demokratie erhalten. ohne den Frieden zu gefährden M103 .
Wogegen Pirsch zu Felde zieht, das sind die "aggresssivsten imperialistischen Kreise .... die in engster Verbindung mit wütendstem Antikommunismus. extremsten (sic .• E.J.) Militarismus. militantem Moralismus. Messianismus. Hegemonismus und Pseudo-Religiosität gefährliche ideologische Grundlagen für Kreuzzugsstrategie. Konfrontation. Hochrüstung und Nuklearkrieg abgeben"104.
Hingegen könnten bürgerliche Anhänger einer Entspannungstheorie zugleich den realexistierenden Sozialismus als ein "totalitäres Gesellschaftssystem" betrachten und trotzdem im Hinblick auf einen Nuklearkrieg zu "durchaus realistischen, humanistisch geprägten Auffassungen gelangen" 105. Vor einigen Jahren noch agierten bei Pirsch 106 und anderen Autoren die Befürworter der sogenannten" Totalitarismus-Doktrin" als Entspannungsfeinde - "im klaren Gegensatz zu den Vereinbarungen von Helsinki"107. Wie ist diese Kursrevision zu bewerten? Eine schlüssige Antwort dürfte kaum möglich sein, so daß die nachfolgenden Bemerkungen notwendigerweise spekulativ sind. Für kon78
kretere Feststellungen muß man die weitere Entwicklung abwarten. Insofern bringt die mit einem Fragezeichen versehene Überschrift eines Beitrages von Johannes Kuppe (",Neues politisches Denken' auch in der DDR?)"I08 die grassierende Unklarheit auf den Begriff. Und auch Wilhelm Bruns ist in seiner Abhandlung zum "neuen Denken" - eine der ersten ihrer Art im Westen - recht vorsichtig, wiewohl er sich doch (über-)optimistisch über die Entwicklung äußert lO9 • Jedenfalls wäre die These, es liege ein prinzipieller Wandel vor, ebenso voreilig wie die gegenteilige, wonach es sich ausschließlich um eine besonders raffinierte Taktik handle. Auch die Motive für die Propagierung des "neuen politischen Denkens" mögen vielfältiger Natur sein. Angesichts der wirtschaftlichen Schwierigkeiten sieht sich der Ostblock zu Abrüstungsvorschlägen und -maßnahmen gezwungen. Das "Atomzeitalter", das ein "neues Denken" erforderlich mache, hat bekanntlich ja nicht erst Mitte der achtziger Jahre begonnen. Durch die Betonung des Friedens will man möglicherweise auf die in den westlichen Staaten entstandenen Friedensbewegungen einwirken, um das SDI-Projekt zu verhindern. Auffallend ist zudem, wie stark auf den Unterschied zwischen Antikommunisten und Nichtkommunisten abgestellt wird. Zwischen Vertretern der SED und der SPD hat es seit 1984 mehrere Gespräche und Veranstaltungen zum Thema über Sicherheitspartnerschaft und friedliche Existenz gegeben llo. Im August 1987 ist gar von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED ein Papier "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit" erarbeitet worden. 111 Das maßgeblich von Egon Bahr entwickelte Konzept der "Sicherheitspartnerschaft"112 wird seitens der DDR-Ideologen nicht als ein raffiniertes Konzept der "Totalitarismus-Doktrin" betrachtet, sondern als "Ausdruck übereinstimmender Ansichten von Kommunisten und Vertretern der internationalen Sozialdemokratie in wichtigen Fragen des Friedenskampfes"l13 interpretiert. Die Auffassung von Wilhelm Bruns, Gesellschaftswissenschaftier der DDR hätten die "konzeptionellen Anstöße"1I4 seitens der SPD produktiv aufgenommen (nachdem in direkten Gesprächen Mißverständnisse beseitigt worden seien), ist schwerlich stimmig. Tatsächlich stammt die Philosophie des "neuen Denkens" aus der Sowjetunion. Sie ist von der DDR ebenso aufgenommen worden wie von der DKP und der SEW115. Aus einer Diskussion führender Gesellschaftswissenschaftier der DDR (Otto Reinhold, Rolf Reißig, Werner Pfaff, Max Schmidt, Lutz Maier, Martin Weckwerth)1I6 geht sehr gut deren Strategie hervor. Man unterscheidet "die militant-konservativen und die liberalreformerischen Kräfte der Monopolbourgeoisie: die ,Kriegspartei' und die ,pazifistische Partei', um Begriffe Lenins zu gebrauchen"1I7. Die erste "Partei" gilt nach wie vor als Repräsentant einer aggressiven Totalitarismus-Variante - Ausdruck eines "Kreuzzugskonzepts"118. Kritik der Kritik
Die Kritik an der sogenannten"Totalitarismus-Doktrin" aus marxistisch-leninistischer Position ist schwach begründet. Die beiden folgenden Argumentationsmuster können sich auch diejenigen westlichen Autoren zu eigen machen, die selber Vorbehalte gegenüber totalitarismustheoretischen Erwägungen hegen. Es ist höchst aufschlußreich, daß die Kritik seitens des Marxismus-Leninismus so angelegt ist, daß sie größtenteils Vorbehalte von manchen westlichen Autoren weder erfaßt noch übernimmt (z.B. hinsichtlich 79
der Frage, ob das Totalitarismuskonzept eine hinreichende Erklärungskraft für die Entstehung, Entwicklung und den Verfall totalitärer Staaten besitzt). Der Umstand, daß der Marxismus-Leninismus hierzu nichts Wesentliches beizusteuern vermag, ist keineswegs verwunderlich. Schließlich liegt seiner Auseinandersetzung mit der "TotalitarismusDoktrin" ausschließlich eine politische Kritik zugrunde.
Erstens: Immer wieder wird seitens des Marxismus-Leninismus die Absurdität des Totalitarismusbegriffs mit dem Argument belegt, faschistische und kommunistische Systeme stünden sich wie Feuer und Wasser gegenüber: Die Nationalsozialisten hätten die Sowjetunion überfallen, und im Dritten Reich sei von den Kommunisten ein hoher Blutzoll entrichtet worden. Diese Tatbestände sind unbestritten - doch was besagen sie eigentlich? Aus der Tatsache, daß zwei Parteiungen einander bis aufs Messer bekämpfen, kann nicht geschlossen werden, die eine Seite sei demokratisch orientiert. Gegner einer Diktatur müssen nicht notwendigerweise Demokraten sein. Und selbst die Behauptung, die Positionen seien einander entgegengesetzt, braucht nicht in allen Belangen zu stimmen. Es kann beispielsweise Unterschiede in den Zielen geben, aber Gemeinsamkeiten in den Herrschaftsmethoden. Das bekannte Hufeisenbild hat viel für sich: Rechte und linke Diktaturen sind einerseits weit voneinander entfernt und andererseits doch benachbart wie die Enden eines Hufeisens. Gegenüber einem liberaldemokratischen System weisen rechte und linke Diktaturen beachtliche Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten auf. Genauso unsinnig ist die z.T. auf China im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung gemünzte Sentenz "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". Sie ist ähnlich formaler Natur wie die Behauptung, linke und rechte Gesellschaftssysteme seien deshalb weit voneinander entfernt, weil sie sich bekämpften. Zweitens: "Die Art der Typologisierung von Staaten und politischen Systemen in der Totalitarismus-Doktrin ist der im Marxismus-Leninismus völlig entgegengesetzt"119. In der Tat, und es ist ebenfalls richtig, wenn man diese Unterscheidung auf alle "bürgerliehen" Positionen von Vertretern der politischen Wissenschaft erstreckt. Schon Karl Kautsky hatte in seiner Schrift "Demokratie oder Diktatur", die kurz nach der russischen Oktoberrevolution erschien, auf den fundamentalen Unterschied im Demokratieverständnis zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten hingewiesen 12o. Die Bolschewisten hätten die Diktatur des Zaren durch eine Diktatur der Partei ausgetauscht. Die Gegenargumentation Lenins, wie er sie in dem Beitrag "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" vorgetragen hat, ist allzu formal: Jede Diktatur des Proletariats sei .,millionenfach demokratischer als jede bürgerliche Demokratie"121. Es spielt jedoch keine Rolle, mit welcher Motivation man die Freiheitsrechte einschränkt. Wenig überzeugend ist der Hinweis darauf, daß es keine klassenneutrale Demokratie geben kann. Denn Menschenrechte müssen gelten - unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung des politischen Systems. Eine bestimmte Wirtschaftsform darf nicht mit Demokratie oder Diktatur gleichgesetzt werden. Entscheidend ist die Funktionsweise des politischen Systems. Besteht Parteiengründungsfreiheit, ist die Unabhängigkeit der Gerichte gewährleistet, gibt es ein Recht auf Opposition, wird das Streikrecht als legitim angesehen? Das sind die Kernfragen - dahinter verblaßt völlig die Relevanz der Frage, für welches Wirtschaftssystem man optiert.
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Zusammenfassende Thesen
Die abschließenden Thesen beziehen sich auf die Wandlungstendenzen in der Einschätzung der sogenannten" Totalitarismus-Doktrin" (1), die Frage, ob sich die DDR in diesem Bereich in der argumentativen Defensive oder Offensive befindet (2), die Beschreibung der Totalitarismuskonzeption (3), ihre Kritik (4) sowie die Kritik der Kritik (5). 1. Die Pendelausschläge, die diese Theorie in den westlichen Demokratien erfahren hat,
werden in der DDR-Literatur nicht in diesem Maße erkennbar und nachvollzogen. Der Grund mag in erster Linie darin zu suchen sein, daß marxistisch-leninistische Positionen, wenn sie sich gegen die antikommunistische"Totalitarismus-Doktrin" wenden, nicht nur die Totalitarismuskonzeption angreifen, sondern im Prinzip alle antikommunistischen und "bürgerlichen" Richtungen. Insofern nimmt sich das Auf und Ab im Westen für marxistisch-leninistische Betrachter nicht so gravierend aus, da auch in den Jahren, in denen in der Bundesrepublik totalitarismustheoretische Positionen weitgehend ad acta gelegt worden waren, nach wie vor nicht kommunistische Richtungen eindeutig dominierten. Was den Wandel seitens marxistisch-leninistischer Theoretiker angeht, so ist er immerhin insofern augenfällig, als man inzwischen die Existenz höchst unterschiedlicher Varianten konzediert. Mittlerweile wird durch die Philosophie des "neuen Denkens" sogar eingeräumt, daß sich nicht alle Anhänger der "Totalitarismus-Doktrin" gegen die Entspannung richten. Man muß sich darüber im klaren sein, daß keine Interpretation des marxistisch-leninistischen Lehrgebäudes auf Ewigkeit angelegt ist. Andere politische Konstellationen können sehr schnell bestimmte Prinzipien wieder anders akzentuieren - und sei es nur aus taktischen Gründen. Der Marxismus-Leninismus ist vielfältig interpretierbar. Das Beispiel der "friedlichen Koexistenz" mag dafür recht aufschlußreich sein.
2. Die DDR ist in einer ausgesprochen argumentativen Defensive. Das Thema der Totalitarismus-Konzeption steht nicht sonderlich hoch im Kurs, die Zahl der einschlägigen Beiträge hält sich in engen Grenzen. Bezeichnenderweise geht man auf die Argumente der Anhänger totalitarismustheoretischer Erwägungen nur unzureichend ein, weil es offenkundig peinlich wäre, die genannten Parallelen wie Terror usw. im einzelnen aufzuzählen. Die DDR ist im Hinblick auf die Totalitarismuskonzeption in einem strukturellen Nachteil. Kann sie die Bundesrepublik als "bürgerlichen Staat" charakterisieren und diese die DDR als Diktatur, so hat die Bundesrepublik .einen weiteren Trumpf: Die DDR wird mit dem Dritten Reich oder anderen totalitäTen Staaten verglichen. Der Marxismus-Leninismus hat dem nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen; aus Gründen der Glaubwürdigkeit verbietet es sich, die "bürgerliche Demokratie" als "totalitär" zu bezeichnen. Außerdem wäre eine Bumerangwirkung die Folge. Man behilft sich damit, daß man immer wieder den Nachweis anzutreten versucht, als unterstützten bürgerliche Demokratien systematisch rechtsdiktatorische Systeme wie Chile und Südafrika. Ob der Verweis auf die "Logik des Nuklearzeitalters", welche dazu führe, daß das Friedensgebot "klassenmäßiges" Interesse überlagere, ebenfalls ein Ausdruck der Defensivposition ist, mag dahinstehen. Solch eine "Friedensstrategie" kann lc:tztlich auch offensiven Charakter annehmen. 6 Löw. 2. A.
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3. Die DDR-Autoren haben von der" Totalitarismus-Doktrin" ein sehr diffuses Bild. Im Grunde geht es ihnen nicht um eine Widerlegung dieser "Doktrin", sondern um eine Widerlegung "bürgerlicher" Theorien. Man will mit der Kritik am Totalitarismusbegriff das sogenannte "bürgerliche" Lager spalten. Eine ähnliche Funktion hat der Antifaschismus-, aber auch der Antikommunismusbegriff. Außerdem ist es einfacher, die "Totalitarismus-Doktrin" zu kritisieren als etwa pluralismustheoretische Positionen. Sie wird schon insofern nicht korrekt wiedergegeben, als die Fülle der totalitarismustheoretischen Erwägungen einfach unter den Tisch fällt. Man will ihren wissenschaftlichen Wert durch die (konstruierte) Verbindung zu politischen Praktiken und Praktikern reduzieren, wenn nicht gar ad absurdum führen. 4. Die Kritik an der "Totalitarismus-Doktrin" ist die raisond'etre desrealexistierenden Sozialismus. Da man kein präzises Kriterium angibt, von welchem Punkt an die "Totalitarismus-Doktrin" sich auflöst, kann man antikommunistischen und prinzipiell auch nicht kommunistischen Richtungen unterstellen, sie seien an den Prinzipien der" Totalitarismus-Doktrin" orientiert. Bezeichnenderweise firmieren z.T. selbst Anhänger der Konvergenztheorie, die nun das krasse Gegenbild der Totalitarismustheorie ist, als deren Verfechter. Entweder werden sie, je nach Situation, als besonders raffinierte Apologeten des Kapitals bezeichnet oder als realistisch denkende Kräfte, die den Machtverhältnissen Rechnung tragen. Ähnliches gilt für diejenigen, die die DDR als "autoritär" charakterisieren. 5. Die Kritik an der Kritik der Totalitarismuskonzeption muß davon ausgehen, daß die Unterscheidung zwischen dem "bürgerlichen" Staat (entweder in der Form der "bürgerlichen Demokratie" oder der des Faschismus) und der "sozialistischen Demokratie" nicht "trägt". Zustimmen aber kann man den DDR-Autoren darin, daß es letztlich nicht so entscheidend ist, ob man an der Totalitarismus-Konzeption festhält oder nicht. Ein "bürgerlicher" Kritiker der" Totalitarismus-Doktrin" gehöre nach wie vor ins sogenannte "andere Lager". Maßgebend sind in der Tat vielmehr die Grenzen zwischen demokratisch und nicht-demokratisch, wobei diese nicht fließender Natur sind wie die zwischen totalitär und autoritär. Wer mit Kampfbegriffen wie "antikommunistisch" oder "antifaschistisch" operiert, nimmt die Erfahrungen dieses Jahrhunderts wissentlich nicht zur Kenntnis. Dies ist intellektuell unredlich, wissenschaftlich verantwortungslos und politisch - nicht: volkspädagogisch - gefährlich.
Anmerkungen 1) 2) 3)
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Gerhard Lozek, Die antikommunistische .Totalitarismus-Doktrin", in: Werner Berthold u.a. (Hrsg.), Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Handbuch, 4. Aufl., Köln 1977, S.39. Vgl. den Überblick bei Uwe Backes/EckhardJesse, Totalitarismus - Extremismus - Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung (1984), Opladen 1985, S. 47-102, S.307-315. Vgl. etwa Reinhard Opitz, Zur Entwicklungsgeschichte der Totalitarismustheorie, in: Frank Deppe I Willi Gerns I Heinz Jung (Hrsg.), Marxismus und Arbeiterbewegung. Josef Schleifstein zum 65. Geburtstag, Frankfurt I M. 1980, S.106-122; Olaf Cless, Sozialismusforschung in der BRD. Das herrschende DDR-Bild und seine Dogmen, Köln 1978, S. 65 -115 (Kapitel 2: .Zur gesellschaftstheoretischen Leitkonzeption: Die Totalitarismustheorie").
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Vgl. beispielsweise Agnes Heller I Ferenc Feher I György Markus, Der sowjetische Weg. Bedürfnisdiktatur und entfremdeter Alltag, Hamburg 1983. Vgl. dazu Jacques Rupnik, Le Totalitarisme va de I'est, in: Guy Hermet I Pierre HassnerlJacques Rupnik, Totalitarismes, Paris 1984,5043-71. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Der demokratische Verfassungsstaat im Wettbewerb der 5ysteme, in: Manfred Funke/Hans-Adolf Jacobsen/Hans-Helmuth Knütter/Hans-Peter Schwarz (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa. Festschrift für Karl Dietrich Bracher, Düsseldorf 1987, 5.581-597. Vgl. etwa Gerhard Haney, Die Demokratie - Wahrheit, illusionen und Verfälschungen, Berlin (O~t) 1970. Siehe zur Kritik speziell an der Demokratiekonzeption der SED: Uwe Arens, Die andere Freiheit. Die Freiheit in Theorie und Praxis der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, München 1976 (mehr referierend als bewertend); Hans-Peter Waldrich, Der Demokratiebegriff der SED. Ein Vergleich zwischen der älteren deutschen Sozialdemokratie und der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Stuttgart 1980; Hans-Joachim Spranger, Die SED und der Sozialdemokratismus. Ideologische Abgrenzung in der DDR, Köln 1982. Ernst Gottschling, Die antikommunistische Totalitarismus-Doktrin unter dem Druck der Realitäten, in: IPW-Berichte 5 (1976), Nr.l0, 5.7. Vgl. ebd., 5.2-12. Vgl. Alfred Loesdau I Gerhard Lozek, Die Totalitarismus-Doktrin als Grundelement antikommunistischer Geschichtsklitterung, in: Einheit 39 (1984), 5.357 -363. Vgl. Fritz Krause, Totalitarismusdoktrin - Kernstück des Antikommunismus, in: Marxistische Blätter 14 (1976), Heft 6, 5.51-55. Art. Faschismus, in: Kleines Politisches Wörterbuch, 4. Aufl., Berlin (Ost) 1983,5.257. Ernst Gottschling (FN 9),5.7,8. Ebd., 5.7 (Hervorhebung im Original). Vgl. zusammenfassend Eckhard Jesse, Demokratie-Autoritarismus-Totalitarismus. Anmerkungen zur Klassifikation politischer Systeme, in: Politische Bildung 18 (1985), Heft 2, 5.3 - 26. Vgl. Ernst Fraenkel, Strukturanalyse der modernen Demokratie, in: Ders., Reformismus und Pluralismus. Materialien zu einer ungeschriebenen politischen Autobiographie, Hamburg 1973, 50404-433 und SA50f. Karl Dietrich Erdmann, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 4: Die Zeit der Weltkriege, Stuttgart 1976, 5.367. Vgl. Gerhard Lozek, Genesis, Wandlung und Wirksamkeit der imperialistischen TotalitarismusDoktrin, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 14 (1966), 5.525-541. Vgl. ders. (FN 1), 5.38 -47. Vgl. Alfred Loesdau/ders. (FN11), 5.357-363. Vgl. Guy Hermet/Pierre Hassner/Jacques Rupnik (FN5); Irving Howe, 1984 Revisited. Totalitarianism in our Century, New York 1983; Walter Laqueur, Totalitarismus: Gibt es ihn? Gab es ihn jemals?, in: Europäische Rundschau 14 (1986), Nd, 5.9-22. Gerhard Lozek (FN19), 5.525. Ebd., 5.527. Ebd., 5.528. Ebd., 5.530. Ebd., 5.531. Ebd., 5.532, Anm.37. Ebd., 5.534. Ebd., 5.534. Ebd., 5.536. Gerhard Lozek (FN 1), S.39. Ebd., 5.4l. Ebd., S.43. Vgl. ebd., SAH Alfred Loesdaul Gerhard Lozek (FN 11), 5.357. Ebd., 5.360.
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38) 39) 40)
Vgl. ebd., S. 361 f. Ebd., S.362. Siehe auch Gerhard Lozek / Rolf Richter, Legende oder Rechtfertigung? Zur Kritik der Faschismustheorien in der bürgerlichen Geschichtsschreibung, Berlin (Ost) 1980, insbes. S.39-45 (Kapitel: "Totalitarismus" oder "Demokratie"? Von der Chamäleon-Eigenschaft einer infamen Doktrin, die den Faschismus auf antikommunistische Weise ,bewältigen' helfen soll); Gerhard Lozek/ Alfred Loesdau, Zeitalter im Widerstreit. Grundprobleme der historischen Epoche seit 1917 in der Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung, Berlin (Ost) 1982, insbes. S.55-72. Ferner: Gerhard Lozek, Aktuelle Probleme der Auseinandersetzung mit der nicht marxistischen Geschichtsschreibung in der BRD und anderen kapitalistischen Ländern, in: Geschichtsunterricht und Staatsbürgerkunde 29 (1987), S.764-773. Der Beitrag ist in sich z.T. widersprüchlich. Einerseits zähle die" Totalitarismus-Doktrin" .zu jenen verhängnisvollen Faktoren, die ein neues Denken im Interesse der Friedensbewahrung verhindern", andererseits müsse "eine durch bürgerliche Klassenposition verzerrte Auffassung des realen Sozialismus als ,totalitäres System' nicht notwendigerweise zu verschärften Spannungen und gefährlicher Konfrontation zwischen sozialistischen und imperialistischen Staaten führen" (ebd., S. 768). Außerdem: Ders., Der Streit geht weiter. Zum Versuch einer apologetischen Revision des Faschismusbildes durch rechtskonservative Historiker der BRD, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 36 (1988), S.l-13. Lozek beklagt im Hinblick auf den "Hist0rikerstreit" die "verstärkte Strapazierung der Totalitarismus-Doktrin durch konservative Kräfte" (ebd., S.7). 41) Vgl. Autorenkollektiv unter Leitung von Gerhard Lozek, Die Totalitarismus-Doktrin im Antikommunismus. Kritik einer Grundkomponente bürgerlicher Ideologie, Berlin (Ost) 1985. 42) Siehe zur Kritik des Bandes Christa Hoffmann, in: Neue Politische Literatur 31 (1986), S.331-333; EckhardJesse, in: Deutschland Archiv 19 (1986), S.1116-1119; Uwe Backes, in: Der Staat 26 (1987), S.141-144. 43) Hans-Jürgen Will/Peter Zotl, Das "totalitäre" Zerrbild der Staats- und Parteiproblematik und die sozialistische Wirklichkeit, in: Gerhard Lozek (FN41), S.154. 44) Vgl. Ludwig Elm, Die konservative Variante der Totalitarismus-Doktrin als Haupterscheinungsform des militanten Antikommunismus in der Gegenwart, in: Gerhard Lozek (FN 41), S.95-101. 45) Ebd., S.97, 88. 46) Ebd., S.l1l. 47) Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre Erfahrung, München 1987. 48) Vgl. Horst DietzellUlla Plener, Die Totalitarismus-Doktrin im gegenwärtigen Sozialreformismus, in: Gerhard Lozek (FN 41), S.120-135. 49) Ebd., S.122. 50) Ebd., S.123. 51) Ebd., S.130, S.132. 52) So Alfred Loesdau/Gerhard Lozek (FNll), S.359). 53) Gerhard Lozek. Zu den historisch-politischen und weltanschaulichen Wesenszügen der Totalitarismus-Doktrin, in: Ders. (FN 41), S.ll. 54) Siehe hierzu die Beiträge im Sammelband von Bruno SeidellSiegried Jenkner (Hrsg.), Wege der Totalitarismus-Forschung, 3. Aufl., Darmstadt 1974. Angesichts neuerer Beiträge wäre ein Fortsetzungsband unter dem Titel "Neue Wege der Totalitarismus-Forschung" angezeigt. 55) Vgl. Martin Jänicke, Totalitäre Herrschaft. Anatomie eines politischen Begriffs, Berlin 1971. 56) Heinz Heitzer, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 34 (1986), S.564. 57) Vgl. Dietrich Staritz, Die Gründung der DDR. Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat, München 1984; siehe auch ders., Geschichte der DDR. 1949-1985, Frankfurt/Mo 1985. 58) Karl Wilhe1m Fricke, DDR-Geschichte kompakt, in: Deutschland Archiv 19 (1986), S.1346. 59) Dietrich Staritz, Das Herrschaftssystem im "realen Sozialismus", in: Deutschland Archiv 12 (1979), S.190. 60) Vgl. etwa Gerhard Lozek, Die differenzierte Verbreitung der Totalitarismus-Doktrin in den sechziger und siebziger Jahren, in: Ders. (FN 41), S. 85 f. 61) Vgl. etwa Arno Winkler, Pluralismus .•Modell" der Konterrevolution, Berlin (Ost) 1982; Ekkehard
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Lieberam I Rosemarie Will, Marxistisch-lenistisches Interessenverständnis und Pluralismuskonzept, in: Staat und Recht 33 (1984), S.795-802. Vgl. Herbert Meißner I Sonja J ug, Der wirtschaftstheoretische Beitrag zur Entstehung und Verbreiwng der Totalitarismus-Doktrin, in: Gerhard Lozek (FN 41), S.226-249. Ebd., S.243. Vgl. auch Herbert Meißner, Neue Tendenzen bürgerlicher Sozialismuskritik und unsere Antikritik, Berlin (Ost) 1982; Harry Nick, Marktwirtschaft. Legende und Wirklichkeit, Berlin (Ost) 1979. Herbert Meißner ISonja Jug (FN 62), S.244. Vgl. Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft (1944), Erlenbach-Zürich 1952; Wilhe1m Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, Erlenbach-Zürich 1942. Heinz Malorny, Das Problem der Freiheit, in: Gerhard Lozek (FN 41), S.187. Alfred Loesdau/Gerhard Lozek (FNll), S.359. Hans-Jürgen Will I Peter Zod, Das .totalitäre Zerrbild der Staats- und Partei problematik und die sozialistische Wirklichkeit, in: Gerhard Lozek (FN 41), S.173 (Hervorhebungen vom Verfasser, E.J.). Ernst Gottschling (FN 9), S.8. Vgl. Hans Pirsch, Wiederbelebung der Totalitarismusdoktrin, in: WW-Berichte 12 (1983), Heft 2, S.13; Gerhard Lozek (FN1), S.536. Vgl. etwa Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, 2. Aufl., Neuwied/Beriin 1967, S.21. Vgl. etwa Roland Huntford, Wohlfahrtsdiktatur, Das schwedische Modell, Frankfurt/M. 1973, S. 9 (Titel der englischen Originalausgabe: The New Totalitarians, London 1971). Der wichtigste Beitrag stammt von Juan J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regimes, in: Fred I. GreensteiniNelson W. Polsby (Hrsg.), Handbook of Political Science, Bd.3: Macropolitical Theory, Reading/Mass. 1975, S.175-411. Hans Pirsch, Logik des Nuklearzeitalters und Totalitarismus-Doktrin, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 34 (1986), S.497. Ludwig Elm (FN44), S.1l6f. Das .liberalste" Land des Warschauer Paktes wird kaum als totalitär bezeichnet. Vgl. George Schöpflin, Die Reformfähigkeit von Sowjetsystemen: Ist Ungarn ein Modell?, in: Europa-Archiv 39 (1984), S.111-118; Rudolf L. Tökes, Hungarian Reform Imperatives, in: Problems of Communism 33 (1984), Heft 5, S.1-23. Ekkehard Lieberam, Das politische System der DDR als Thema des .Systemvergleichs", in: Staat und Recht 33 (1984), S.727. Vgl. Gerhard Lozek (FN1), S.45f. Vgl. Hans Mommsen, Beamtenturn im Dritten Reich, Stuttgart 1966; ders., Hiders Stellung im national-sozialistischen Herrschaftssystem, in: Gerhard Hirschfeld I Lothar Kettenacker (Hrsg.), Der .Führerstaat": Mythos und Realität. Studien zur Struktur und Politik des Dritten Reiches, Stuttgart 1981, S.43-72. Gerhard Lozek (FN1), S. 45 f. Positiver wird Hans Mommsen in folgenden Bänden beurteilt: Gerhard Lozek/Rolf Richter (FN 40), insbes. S. 42; Gerhard Lozekl Alfred Loesdau (FN 40), insbes. S.161, S.170, S.188f., S.196f. Vgl. jetzt das wichtige Werk von Hermann Gramll Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Nach Hider. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. Beiträge von Martin Broszat (1986), 2. Aufl., München 1987. Vgl. Michail Gorbatschow, • Wir brauchen Demokratie wie die Luft zum Atmen", Köln 1987; siehe auch den Abdruck, in: Blätter für deutsche und internationale Politik (1987), S. 377 -438. Ferner: Ders., .Für eine Welt ohne Kernwaffen, für das Überleben der Menschheit", in: Lothar Jung, • Wir haben begonnen umzudenken". Michail Gorbatschows Reformkonzept für die UdSSR. Geschichte - Ideologie - Praxis - Perspektiven, Köln 1987, S. 274-299. Zur Einschätzung der Entwicklung: Christian Schmidt Häuer I Maria Huber, Rußlands zweite Revolution. Chancen und Risiken der Reformpolitik Gorbatschows, München 1987. Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Berichterstatter: M. S. Gorbatschow, Berlin (Ost) 1986, S.95; siehe auch
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Bericht des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspanei Deutschlands an den XI. Paneitag der SED. Berichterstatter: Erich Honecker, Berlin (Ost) 1986, S.20. Vgl. Georgi eh. Schachnasarow, Die politische Logik des Nuklearzeitalters, in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliche Beiträge 37 (1984), S. 451- 462. Siehe ebenfalls aus sowjetischer Sicht: Boris Ponomarjow, Der reale Sozialismus - ein festes Bollwerk des Friedens, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 27 (1984), S.1155-1166; ders., Die Kommunisten und die aktuellen Fragen der Gegenwan, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 28 (1985), S.147 -158; A. Dobrynin, Für eine kernwaffenfreie Welt, dem 21. Jahrhunden entgegen, in: Einheit 41 (1986), S.780-790. Vgl. auch Wilhelm Bruns, Was ist neu am .neuen Denken" in der DDR? Die Friedens- und Sicherheitspolitik steht im Zentrum, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B13/87, S.3-14. Vgl. Max Schmidtl Gerhard Basler, Koalition der Vernunft und des Realismus. Zusammenwirken für die Bewährung des Lebens, in: IPW-Berichte 14 (1985), Nr.5, S.1-7. Siehe auch Max Schmidt/Wolfgang Schwarz, Frieden und Sicherheit im nuklear-kosmischen Zeitalter (I und 11), in: IPW-Berichte 15 (1986), Nr.9 und 10, S.l-12 und S.1-19. Max Schmidt 1 Gerhard Basler (FN 89), S.4. Vgl. Frank Berg 1 Rolf Reissig, Zur Dialektik von Frieden, Sicherheit und sozialem Fonschritt in der Gegenwan, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 33 (1985), S.865-874. An .•friedliche Koexistenz", in: Kleines Politisches Wönerbuch, 4. Aufl., Berlin (Ost) 1983, S.278. Vgl. Heinrich Opitz, Frieden-Vernunft-Realismus. Gedanken zur Friedenspolitik der SED, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 34 (1986), S.299-308. Ebd., S.307. Vgl. Wolfgang Scheler, Neues Denken über Krieg und Frieden, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 35 (1987), S.12 - 20. Vgl. auch den spektakulären Beitrag von Otto Reinhold, Den Frieden miteinander sichern, in: Horizont 19 (1986), Nr.4, S.3f. - Der Autor, Mitglied des ZK der SED und Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaft beim ZK der SED, hatte in Anknüpfung an die Ausführungen auf dem 27. Paneitag der KPdSU die Notwendigkeit des friedlichen Wettbewerbs zwischen ideologisch unterschiedlich ausgerichteten Systemen herausgestrichen. Damit erhalte die friedliche Koexistenz andere Prioritäten. Diente sie zu Zeiten des Kalten Krieges in erster Linie als eine Forrll des Klassenkampfes, so erfülle sie heute die Funktion, daß der Frieden zwischen den Systemgegnern miteinander geschaffen werde. Ideologische Auseinandersetzungen müßten demgegenüber zurückstehen. Vgl. Kun Hager, Im Interesse der ganzen Menschheit, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 30 (1987), S.147 -154. Ebd., S.153; siehe auch Max Schmidt/Wolfgang Schwarz, Neue Anforderungen an Sicherheitsdenken und Sicherheitspolitik - Umfassende internationale Sicherheit als Erfordernis unserer Zeit (1); Umfassende internationale Sicherheit - Verwirklichung aktiver friedlicher Koexistenz unter heutigen Bedingungen (11), jeweils in: IPW-Berichte 16 (1987), Heft 9, S. 1-11, Heft 10, S. 6-16. Vgl. Hans Pirsch (FN75), S.492-501. Ebd., S.493. Ebd., S.494. Ebd., S.494. Ebd., S.495. Ebd., S.497. Ebd., S.496. Vgl. Hans Pirsch (FN71), S.8-14. Ernst Gottschling (FN9), S.l1. Vgl. Johannes Kuppe, .Neues politisches Denken" auch in der DDR?, in: DDR Repon 19 (1986), S.689-693. Vgl. Wilhe1m Bruns (FN 88), S. 3 -14; siehe dagegen Wolfgang Seiffen, Das ,neue Politische Denken' der sowjetischen KP unter Gorbatschow und die Entwicklungstendenzen westeuropäischer kommunistischer Paneien, in: Politische Studien 38 (1987); Heft 292, S.200-212. Ausgezeichnet: Peter Graf Kielmansegg, Nicht .neues Denken" ist nötig, sondern anderes Denken. Gorbatschows Formel und ihre Bedeutung für die Ost-West-Beziehungen, in: FAZ v. 23. März 1988 S. 9.
110) Vgl. u. a. Hans-Joachim Gieß mann, in: IPW-Berichte 14 (1985), Heft 3, S.42f.; Peter Bender, Sicherheitspartnerschaft und friedliche Koexistenz. Zum Dialog zwischen SPD und SED, in: Die Neue Gesellschaft I Frankfuner Hefte 33 (1986), S.342-346. 111) Dieses Papier hat für viel Wirbel gesorgt - in West wie in Ost. Es ist abgedruckt u.a. in: Deutschland Archiv 21 (1988), S. 86-91. Plädien wird für .eine Kultur des politischen Streits, die den Frieden sichen, ja dem Frieden zu dienen hat" (ebd., S. 90). Vgl. zu den unterschiedlichen westlichen Reaktionen die Beiträge von Thomas Meyer, Dieter Haack, Jürgen Schnappenz, Martin Kriele, zu den östlichen die von Kun Hager und Otto Reinhold, jeweils in: Deutschland Archiv 21 (1988), S. 32-52, S.92-102. 112) Vgl. Egon Bahr, Gemeinsame Sicherheit, in: Europa-Archiv 37 (1982), S.421-430; siehe auch ders., Was wird aus den Deutschen? Fragen und Antwonen, Hamburg 1982, S.26. 113) Heinrich Opitz (FN93), S.304. Siehe auch das Interview mit Egon Bahr, Partnerschaft statt Konfrontation, in: Probleme des Friedens und des Sozialismus 27 (1984), S.979-983. 114) Wilhelm Bruns (FN88), S.5. 115) Vgl. beispielsweise Stefan Isensee/Hans Schoenefeldt/Werner Simonsmeier, Globale Probleme und neues Denken, in: Konsequent 17 (1987), Heft1, S.6-15. 116) Vgl. Der Imperialismus und die Herausforderungen der Zeit, in: IPW-Berichte 15 (1986), Heft 2, S.1-15. 117) Ebd., S.4; siehe auch Siegfried Schwarz, Erfordernisse friedlicher Koexistenz in Europa, in: IPWBerichte 16 (1987), Nr.1, S.13-20. 118) Vgl. Burkhard Koch, Neue Totalitarismus-Variante im USA-Kreuzzugskonzept, in: IPW-Berichte 13 (1984), Heft1, S.37-39. 119) Ernst GottschIing, • Totalitäre" Herrschaftstypologie und bürgerlicher Staat, in: Gerhard Lozek (FN41), S.214. 120) Vgl. Karl Kautsky, Demokratie oder Diktatur, Berlin 1918. 121) Zitien nach Gerhard Lozek, Zur Entstehung des Begriffs und des Konzepts des Totalitarismus sowie zu den gesellschaftstheoretischen und weltanschaulichen Wurzeln, in: Ders. (FN 41), S. 62 f. - Zu dieser Auseinandersetzung siehe Peter Lübbe (Hrsg.), Kautsky gegen Lenin, Berlin/Bonn 1981.
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Totalitäre Systeme
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KARL WILHELM FRICKE
Der Einfluß der Staatssicherheit auf die politische Strafjustiz der DDR als Beispiel totalitärer Herrschaftspraxis "Totalitarismus" und "totalitäre Herrschaft" - wer wäre sich der kontroversen Diskussionen nicht bewußt, die in den letzten 30 Jahren um diese Begriffe geführt worden sind? Die Diskussionen dauern bis heute an. Mit den folgenden Darlegungen soll dazu kein Beitrag geleistet werden. Sie verstehen sich eher als empirische Fallstudie, zumal der Verfasser mit dem theoretischen Ansatz des Totalitarismus "die Versuche vom Machthabern, welcher Richtung auch immer, die Gesellschaft gleichzuschalten und (im Extremfall) Terror auszuüben, auf einen Begriff gebracht'" sieht. Die strukturellen Merkmale, die totalitäre Herrschaft aufweist, sind eindeutig: Man kann sie als (faktischen) Einparteienstaat begreifen, in dem die Herrschenden das Monopol der Machtmittel und das Meinungsmonopol innehaben, in dem die Massen einer permanenten Mobilisierung ausgeliefert sind und kein rechtlicher Schutz vor terroristischen Zwangsmitteln gegeben ist. Gerade das letztgenannte Merkmal, der virtuelle oder potentielle Einsatz von Terror zur Sicherung der Macht und zur Durchsetzung politischer Ziele, weist auf das Wesen totalitärer Herrschaft, wobei es sich heute in aller Regel um "legalen", weil durch Gesetz sanktionierten Terror handelt. . Von diesem theoretischen Ansatz ausgehend muß die in der DDR ausgeübte Herrschaft der SED als totalitär qualifiziert werden. Die hier aufgezeigten Merkmale sind für den sozialistischen Staat deutscher Nation, der von der SED selbst als "Diktatur des Proletariats"2 definiert wird, charakteristisch. Das MfS als wichtigstes Herrschaftsinstrument der SED
Als wichtigstes Instrument zur Ausübung von Terror fungiert in der DDR das Ministerium für Staatssicherheit. "Die Verfassungswirklichkeit wurde maßgeblich beeinflußt durch die Existenz eines Ministeriums für Staatssicherheit", schrieb Siegfried Mampel schon vor Jahren in seinem DDR-Verfassungskommentar. "Es wurde zu einem Instrument des Terrors, dessen die Inhaber der politischen Macht bedurften, um die Entwicklung in ihrem Sinne voranzutreiben"3. Diese Einschätzung gilt für die Gegenwart nicht weniger als für die Vergangenheit, eher mehr, weil Aufgaben und Zuständigkeiten des MfS seither qualitativ und quantitativ an Bedeutung gewonnen haben. Gleichwohl sind sie bis heute durch Gesetz nur in Teilbereichen definiert - wenn auch mit Gewißheit vermutet werden kann, daß geheime Bestimmungen existieren; zum Beispiel ist kaum vorstellbar, daß das MfS nicht ebenso wie andere Ministerien in der DDR ein Statut bestitzen sollte, aber im Gesetzblatt der DDR wurde es nie veröffentlicht. Das Gesetz4, mit dem das Ministerium für Staatssicherheit am 8. Februar 1950 geschaffen wurde, enthält hingegen keine Bestimmung zu Aufgaben und Zuständigkeiten. In dem von der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR erarbeiteten Lehrbuch "Staatsrecht der DDR", das 1984 in zweiter, vollständig überarbeiteter Auflage erschien, heißt es allerdings über das MfS: 91
"Die Hauptaufgaben dieses Ministeriums und seiner Organe sind: - Aufklärung und Entlarvung der gegen den Frieden und die Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft gerichteten Aktionen (Spionage, Diversion, Sabotage u. a.) der imperialistischen Geheimdienste und ihrer Helfer; Unterbindung jeder staatsfeindlichen Tätigkeit gegen die politischen und ökonomischen Grundlagen der Arbeiter-und-Bauern-Macht; - Aufdeckung und Mitwirkung bei der Überwindung von feindlichen Einflüssen und anderen Bedingungen und Umständen, die Staatsverbrechen und andere, die sozialistische Entwicklung hemmende Handlungen begünstigen"S.
Daraus lassen sich Aufgaben und Zuständigkeiten der Staatssicherheit durchaus realistisch ableiten ~ auch wenn bei dieser Definition die totale Überwachung und politische Unterdrückung im Innern, die Spionage nach außen im Sinne des Regimes sprachlich verklärt werden. Die besondere Gefährlichkeit des MfS "liegt in der Bündelung seiner öffentlich unkontrollierten Befugnisse als politische Geheimpolizei, als Untersuchungsorgan in politischen Strafsachen, speziell bei Staatsverbrechen, und als geheimer Nachrichtendienst"6 - wobei als wesentlich hervorzuheben ist, daß das MfS nicht Staat im Staate ist, sondern konstitutives Herrschaftsinstrument der Staatspartei. Ihre Führung begreift das MfS ausdrücklich als "ein spezielles Organ der Diktatur des Proletariats"7. Damit soll auch der durch die Staatssicherheit ausgeübte Terror politisch-ideologisch legitimiert werden. Konkret realisiert die SED ihren Führungs- und Kontrollanspruch 8 gegenüber der Staatssicherheit erstens durch die personellen Verklammerungen, die zwischen der Staatssicherheit und der Führung der Staatspartei bestehen - auf zentraler Ebene wie auf Bezirks- und Kreisebene. Nicht nur gehören der Minister für Staatssicherheit, Armeegeneral Erich Mielke, sowie"derzeit drei weitere Generale der Staatssicherheit dem Zentralkomitee der SED an, sondern seit dem Führungswechsel von Walter Ulbricht auf Erich Honecker ist der Minister auch wieder im Politbüro vertreten - von 1971 bis 1976 als Kandidat, seit 1976 als Mitglied. Der Chef der Staatssicherheit hat mithin unmittelbar Einfluß auf Entscheidungen der Parteiführung, aber er ist zugleich auch in sie integriert und eingebunden. Analog entspricht dem die Mitgliedschaft der Leiter der Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS in den Bezirks- und Kreisleitungen der SED. Sie wird ergänzt durch enge Kontakte zwischen den Chefs der Staatssicherheit und den Ersten Sekretären der SED jeweils auf Bezirks- und Kreisebene. Zweitens ist die Parteiorganisation der SED mit ihrer politischen Kontroll- und ideologischen Erziehungsfunktion innerhalb der Staatssicherheit zu benennen. Sie gliedert sich in Grundorganisationen, Abteilungsparteiorganisationen und Parteigruppen entsprechend der horizontalen und vertikalen Struktur der Staatssicherheit und arbeitet nach besonderen Instruktionen des Zentralkomitees. Ihre Spitze bilden eine Kreisleitung und deren Sekretariat unter Leitung eines Ersten Sekretärs, derzeit Generalmajor Dr. Horst Felber,
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der gleichzeitig Mitglied im Kollegium des Ministeriums für Staatssicherheit ist, der insoweit also beratenden und kontrollierenden Einfluß auf Grundsatzentscheidungen des Ministers besitzt. Das Sekretariat der Kreisleitung der SED im MfS seinerseits ist der Abteilung Sicherheitsfragen beim Zentralkomitee der SED unterstellt, wo ein besonderer Sektor Staatssicherheit existiert. Querverbindungen zwischen den Grundorganisationen und Parteigruppen in den Bezirksverwaltungen und Kreisdienststellen des MfS und den Sekretariaten der Bezirks- und Kreisleitungen der SED andererseits sind auch Gründen der konspirativen Abschirmung auszuschließen. Neben dieser personell und institutionell gesicherten Führung und Kontrolle der Staatssicherheit durch die SED ist die politisch-ideologische Disziplinierung aller Angehörigen des MfS in Betracht zu ziehen. Das MfS wird offiziell als "zuverlässiges Machtinstrument der Partei" propagiert - so der schon erwähnte Generalmajor Felber9; und Armeegeneral Mielke umschrieb die Aufgabe des Ministeriums für Staatssicherheit rundheraus dahin, "die strategische Linie der Partei offensiv durchzusetzen" - der Partei und nicht etwa der Regierung! -, und er fügte hinzu: "Die Beschlüsse der Partei sind der Maßstab unserer tschekistischen Arbeit"lo. Aus diesem - ist es polemisch, zu sagen: totalitären? - Selbstverständnis leitet die Staatssicherheit ihre Aufgaben und Zuständigkeiten her. Sie schließen - weit über die gleichsam "klassischen" Sicherungs- und Aufklärungsfunktionen hinausreichend - die Kontrolle aller Strukturen und Entscheidungsebenen in Staat und Gesellschaft der DDR ein. Daher muß die DDR als totaler Überwachungsstaat gekennzeichnet werden. In diesem Zusammenhang erscheint eine terminologische Anmerkung angebracht. Wenn in den vorliegenden Darlegungen häufig "die Staatssicherheit" angesprochen wird, so wird der Begriff in demselben Doppelsinn gebraucht, wie ihn die SED in der DDR anwendet. Danach bedeutet Staatssicherheit wie hierzulande auch die Sicherheit des Staates, aber zum anderen und gleichzeitig bezeichnet Staatssicherheit in der DDR konkret die für die Sicherheit des Staates zuständigen Organe stelbst. In dem Ost berliner Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache wird der Begriff in diesem Sinne sogar als semantische Neuprägung der DDR ausgewiesen 11. Sie ist keineswegs auf die Umgangssprache oder den Dienst jargon beschränkt, sondern entspricht dem amtlichen Sprachgebrauch. Zufällig oder absichtslos ist der semantisch doppelsinnige Gebrauch keineswegs. Indem die Organe des MfS als "die Staatssicherheit" bezeichnet werden, wird sprachlich eine Identifikation vollzogen, die sie als Verkörperung der Staatssicherheit erscheinen lassen soll. Das Abstraktum "Staatssicherheit" wird durch diese Konkretisierung "begreiflich", "faßbar". Die Organe der Staatssicherheit sollen als Garanten für die Sicherheit des Staates gefürchtet oder geachtet werden.
Das Informationsnetz des MfS Wesentliche Voraussetzung der totalen Überwachung ist in der DDR ein dichtes, weitverzweigtes Informationsnetz, ein engmaschiges Spitzelsystem, das das MfS in jahrelanger Arbeit sorgfältig aufgebaut hat, das es ständig erneuert und erweitert. Man schätzt, das 93
heute jeder 150. DDR-Bürger "haupt- oder nebenberuflich für die Staatssicherheit arbeitet"12. Die Zahl der offiziell so bezeichneten "Inoffiziellen Mitarbeiter", die als Informanten, Zuträger, V-Leute, Spitzel für das MfS wie für seine nachgeordneten Verwaltungen und Dienststellen auf Bezirks- und Kreisebene in der DDR tätig sind, schätzt man auf 80000 bis 100000. Sie werden überall "geworben" - unter Arbeitern und Genossenschaftsbauern, im Dienstleistungsgewerbe und im öffentlichen Dienst, unter Soldaten und Offizieren, in Parteien und Verbänden. Bevorzugte Zielpersonen sind Kaderleiter in Betrieben und Verwaltungen, die sozusagen kraft Amtes für Überwachungs- und Zuträgerdienste geradezu prädestiniert scheinen, denn sie haben ständigen Zugang zu den Personalakten aller Mitarbeiter, sie können sich also jederzeit über sie informieren, ohne daß ihr Interesse an einer Person sonderlich auffallen würde. Kaderleiter gehören aufgrund ihrer Vertrauens- und Schlüsselstellung zum Mitarbeiterkreis des MfS. Mit guten Gründen hat der Bochumer Soziologe Dieter Voigt schon frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, "daß Wandlungen in der Machtausübung die SED zwingen, ihre Kontrolle über den einzelnen Bürger zu intensivieren"13. Diese Diagnose ist durch die Entwicklung in den achtziger Jahren in vollem Umfang bestätigt worden. Nach den Idealvorstellungen der Staatssicherheit soll das Informationsnetz das staatliche und gesellschaftliche, womöglich auch das private Dasein in der DDR in allen seinen Sphären umspannen, weshalb Inoffizielle Mitarbeiter in möglichst allen politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlich-technischen, kulturellen und nicht zuletzt militärischen Strukturen anzutreffen sind - nicht zuletzt auch im Justizapparat. Von den Inoffiziellen Mitarbeitern der Staatssicherheit, die im allgemeinen einer beruflichen oder dienstlichen Tätigkeit nachgehen, die also nur nebenher und im Dunkeln, mit Decknamen usw. für das MfS tätig sind - obzwar es auch hauptamtliche IM gibt -, wird erwartet oder verlangt, daß sie sich nicht auf die Erfassung und Übermittlung regimekritischer oder feindlicher Äußerungen oder Verhaltensweisen beschränken, sondern auch Stimmungsberichte abfassen. Alles interessiert - die Überwachung soll total sein. Gefragt sind schließlich politische Einschätzungen und moralische Charakteristiken von Personen, auf die Inoffizielle Mitarbeiter gezielt "angesetzt" werden - sei es routinemäßig, sei es infolge einer Denunziation. Natürlich wird von alledem auch die DDR-Justiz erfaßt. Über sie ist die Staatssicherheit vermutlich sogar besonders gut informiert - einerseits dank offizieller Kooperation mit Staatsanwaltschaft und Gerichten; andererseits dank inoffizieller Überwachung und fortwährender Überprüfung der im Justizdienst tätigen Kader durch den Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter. Die folgende Darstellung will Einfluß und Einwirkung der Staatssicherheit auf die politische Strafjustiz der DDR anschaulich machen. Es geht darum, an diesem Spezialfall exemplarisch zu demonstrieren, wie totalitäre Herrschaft im Staat der SED konkret realisiert wird. Einfluß und Einwirkung der Staatssicherheit auf die politische Stratjustiz Die unmittelbare Einwirkung der Staatssicherheit auf die politische Strafjustiz, das heißt, auf die Strafrechtsprechung bei sogenannten Staatsverbrechen im Sinne des DDR-
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Strafgesetzbuches, ergibt sich aus ihrer Zuständigkeit für die Untersuchung in politischen Strafsachen. Ihre diesbezüglichen Kompetenzen sind formell durch die DDRStrafprozeßordnung umrissen. Ergänzend dazu nutzt das MfS mittelbare Einwirkungsmöglichkeiten durch inoffizielle Kooperation mit der Staatsanwaltschaft und den Gerichten, die auch heute noch zu präjudizierenden Entscheidungen über Urteil und Strafmaß führen. Nicht unerwähnt sein soll in diesem Zusammenhang die Einflußnahme der Staatssicherheit auch auf die Strafgesetzgebung der DDR. Zum Beispiel wurde das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom 28. Juni 1979, das eine erhebliche Verschärfung und Ausweitung der im Strafgesetzbuch enthaltenen Normen zur Herrschaftssicherung brachte, "von einer Kommission des Zentralkomitees der SED unter Mitarbeit des Ministeriums für Staatssicherheit geschaffen "14. Im Plenum der Volkskammer wurde das Gesetz ohne Aussprache "einmütig" verabschiedet. Bei den folgenden Ausführungen stützt sich der Verfasser im wesentlichen auf seine Untersuchung "Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR"15, die nachstehend nur zitiert wird, wo dies als besonders notwendig erscheint.
Der Zugriff des MfS auf das Ermittlungsverfahren Grundsätzlich hat nach den Bestimmungen der Strafprozeßordnung in der DDR der Staatsanwalt das Ermittlungsverfahren einzuleiten. Seine Durchführung obliegt den staatlichen Untersuchungsorganen. Ohne daß eine Abgrenzung der Zuständigkeiten nach dem politischen oder kriminellen Charakter einer Straftat im Sinne des Regimes erfolgt, werden durch die Strafprozeßordnung die Untersuchungsorgane des Ministeriums für Staatssicherheit sowie diejenigen des Ministeriums des Innern und der Zollverwaltung genannt (§ 88 StPO). Allerdings fällt das Ermittlungsverfahren bei allen Staatsverbrechen prinzipiell und ausnahmslos in die Kompetenz der Untersuchungsorgane des MfS. Sie sind darüber hinaus häufig sogar auch für die Untersuchung von Straftaten gegen die staatliche Ordnung zuständig, zum Beispiel in bestimmten Fällen von "ungesetzlichem Grenzübertritt" oder "ungesetzlicher Verbindungsaufnahme". Sofern der Verdacht einer politischen Straftat begründet erscheint, ordnet der Staatsanwalt oder das Untersuchungsorgan "durch schriftliche, begründete Verfügung" (§98 StPO) die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens an. Da die Prüfung dazu u. a. durch "eigene Feststellungen der Untersuchungsorgane" (§92 StPO) veranlaßt werden kann, liegt die Entscheidung angesichts ihrer Informiertheit in solchen Fällen tatsächlich bei der Staatssicherheit. Sie befindet im Grunde selbständig über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Gegenüber dem Staatsanwalt hat sie lediglich eine Informationspflicht (§98 StPO). Den Sicherheitsorganen dürfte sie umso weniger Schranken setzen, als sie sich ihre Informationen bei Ermittlungen weithin "konspirativ" beschaffen, zum Beispiel durch den Einsatz Inoffizieller Mitarbeiter. Das wird gar nicht verschleiert. Im Gegenteil: "Die operativen Ermittlungen zur Aufklärung und Überprüfung von Personen und Sachverhalten bilden einen festen Bestandteil der politisch-operativen Tätigkeit des MfS zum zuverlässigen Schutz und zur allseitigen Gewährleistung der inneren Sicherheit der DDR",
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heißt es in einem Befehl des Ministers für Staatssicherheit aus dem Jahre 1974 zur Qualifizierung der Ermittlungstätigkeit. Darin wird ausdrücklich angeordnet, daß "die Konspiration bei der Durchführung von Ermittlungen umfassend zu sichern"16 sei. Gerade unter dieser Voraussetzung läuft die Entscheidung über die Einleitung und Durchführung eines Ermittlungsverfahrens auf die Untersuchungsorgane des MfS hinaus, die damit von vornherein erheblichen Einfluß auf das Verfahren erhalten. Zum Großteil gewinnt die Staatssicherheit verdeckt beschaffte Informationen auch aus der Überwachung und Kontrolle des Brief- und Fernsprechverkehrs. Formell kann zwar in der DDR die Beschlagnahme und Öffnung von Briefen, Telegrammen und sonstigen Sendungen auf der Post vom Untersuchungsorgan erst nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens angeordnet werden, sofern ihr Inhalt für die Untersuchung Bedeutung hat (§115 StPO), aber da die DDR mit einem engmaschigen Netz sogenannter Dienststellen 12 des MfS ....; das sind in Postämtern eingerichtete BriefkontrollsteIlen - überzogen ist, bereitet die gezielte Kontrolle ankommender und abgehender Postsendungen keinerlei praktische Schwierigkeiten. Analog verhält es sich bei der Kontrolle des Fernsprechverkehrs. Seine Überwachung und Aufzeichnung auf Tonträger kann formell erst nach Einleitung eines Ermittlungsverfahrens angeordnet werden. Voraussetzung soll ein dringender Verdacht auf solche Straftaten sein, die nach geltendem Strafrecht (§ 225 StGB) der Anzeigepflicht unterliegen wozu politische Straftaten in jedem Fall gehören. In der Regel verfährt die Staatssicherheit jedoch umgekehrt: Die aus der konspirativen Überwachung gewonnenen Verdachtsund Belastungsmomente provozieren ihrerseits erst die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Da die Betroffenen davon erst unterrichtet werden müssen, sobald dies ohne Gefährdung des Untersuchungszwecks geschehen kann, erfahren sie davon frühestens in der Untersuchungshaft - wenn überhaupt -, für sie also zu spät. Die Zugriffsmöglichkeiten der Staatssicherheit sind mithin unumschränkt. Eben dies entspricht totalitärer HerrschaftspraxIs. Im Prinzip entscheiden die Sicherheitsorgane auch über die Verhängung von Untersuchungshaft. Formell kann ein Beschuldigter oder Angeklagter in der DDR in Untersuchungshaft genommen werden, wenn "dringende Verdachtsgründe" gegen ihn vorliegen und Fluchtverdacht oder Verdunklungsgefahr gegeben ist oder wenn ein Verbrechen den Gegenstand des Verfahrens bildet (§122 StPO). Bei Verdacht eines Staatsverbrechens ist die letztgenannte Voraussetzung eo ipso erfüllt. Der Staatsanwalt oder die Untersuchungsorgane brauchen sich daher mit ihrer Entscheidung über die Untersuchungshaft keinerlei Zurückhaltung aufzuerlegen. Intern läuft der Vorgang dergestalt ab, daß der eine politische Strafsache bearbeitende Offizier in der zuständigen Diensteinheit der Staatssicherheit seinem Vorgesetzten ein Festnahmeersuchen vorlegt. Auf einem Formblatt dazu nennt er die Gründe der Festnahme und plant deren Ort und Zeit. Dieses Ersuchen ist durch den Leiter der Kreisdienststelle oder, falls darüber auf Bezirksebene zu entscheiden ist, durch den zuständigen Abteilungsleiter in der Bezirksverwaltung des MfS zu genehmigen. Es ergeht ein Haftbeschluß, woraufhin die vorläufige Festnahme des Beschuldigten erfolgen kann, die ihrerseits durch richterlichen Haftbefehl zu bestätigen ist.
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Formell liegt nun die Entscheidung darüber bei einem Richter, der auf Antrag des Staatsanwalts einen schriftlichen Haftbefehl erläßt. Dieser Haftbefehl ist dem Beschuldigten unter Angabe der Gründe mit Datum und Uhrzeit bekanntzugeben und von diesem schriftlich zu bestätigen (§124 StPO). Im allgemeinen wird dem einen Tag nach der Festnahme im Haftprüfungstermin Genüge getan, indem der Festgenommene einem Haftrichter vorgeführt wird. Dabei sind dem Untersuchungsgefangenen die Gründe seiner Verhaftung bekanntzugeben. Er muß seinerseits die Kenntnisnahme des Haftbefehls unter Angabe des Datums und der Uhrzeit durch seine Unterschrift bestätigen. Danach bleibt der Untersuchungsgefangene praktisch ohne jede Kontrolle den Untersuchungsorganen der Staatssicherheit überlassen, bis sie das Ermittlungsverfahren zu Ende geführt haben. Zwar darf Untersuchungshaft auch in der DDR nur angeordnet oder aufrechterhalten werden, "soweit dies zur Durchführung des Strafverfahrens unumgänglich ist" (§123 StPO), aber daß ein wegen einer politischen Strafsache Beschuldigter oder Angeklagter bis zur Hauptverhandlung auf freiem Fuß bleibt, geschieht äußerst selten. Die Entscheidung über die Notwendigkeit von Untersuchungshaft ist namentlich bei Verdacht auf Staatsverbrechen ausschließlich am strafpolitischen Zweck orientiert. Fälle, wonach der Haftrichter gar die Ausstellung eines Haftbefehls in einer politischen Strafsache verweigert hätte, kommen in der DDR auch heute noch so gut wie überhaupt nicht vor.
Die Bedingungen der Untersuchungshaft In MfS-Gefängnissen
Den Praktiken totalitärer Herrschaft entspricht es, wenn die Staatssicherheit zum Vollzug der Untersuchungshaft über eigene Untersuchungshaftanstalten verfügt. Neben zwei zentralen Gefängnissen in Berlin-Hohenschönhausen und Berlin-Lichtenberg mit Zellen für jeweils mehrere Hundert Untersuchungs häftlinge unterhält das MfS weitere Untersuchungsgefängnisse in Berlin-Mitte und Berlin-Pankow sowie bei jeder seiner vierzehn Bezirksverwaltungen in der DDR-Provinz. Die Bedingungen der Untersuchungshaft sind durch Befehle und Dienstanweisungen des Ministers für Staatssicherheit geregelt. Formelle Grundlage sind die Bestimmungen der Strafprozeßordnung. Generell wird die Untersuchungshaft beim MfS unter weitaus strengeren Sicherheitsvorkehrungen als in den VP-Untersuchungshaftanstalten durchgeführt. Nach der Einlieferung in die Untersuchungshaftanstalt hat sich der Gefangene zu entkleiden und einer häufig unter entwürdigenden Umständen durchgeführten Leibesvisitation unterziehen zu lassen. Danach wird er gezwungen, anstaltseigene U nter- und Oberkleidung zu tragen. Nach wie vor besteht die Vorschrift, daß ein Gefangener in einer Untersuchungshaftanstalt des MfS eine Nummer bekommt, mit der er angesprochen wird, damit sein Name der Untersuchungshäftlingen in anderen Zellen nicht bekannt wird. Für viele Häftlinge bedeutet diese für totalitäre Regime charakteristische Entpersönlichung des Bürgers eine psychische Belastung. Die Feststellung, daß sich der Untersuchungshäftling angesichts seiner Situation bei der Staatssicherheit schutz- und rechtlos ausgeliefert sieht, wird besonders durch die eklatante Mißachtung des Rechts auf Verteidigung belegt. Zwar soll nach Artikel 102 der Verfas7 Löw. 2. A.
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sung das Recht auf Verteidigung in der DDR "während des gesamten Strafverfahrens gewährleistet" sein - folglich auch im Ermittlungsverfahren - j zwar soll es durch weitere Garantien begründet sein, so in Artikel 4 des Strafgesetzbuches sowie in einer Reihe von Paragraphen der Strafprozeßordnung (§§3, 15f, 61 ff. und 73), aber die alltägliche Praxis in den Untersuchungsgefängnissen der Staatssicherheit steht dazu in denkbar schroffem Widerspruch. Meist dauert es Tage, nicht selten Wochen, bis der Untersuchungshäftling überhaupt einen Rechtsanwalt als Verteidiger seines Vertrauens benennen und benachrichtigen kann. U nbeschadet der in der Strafprozeßordnung enthaltenen Vorschrift, wonach als Strafverteidiger "jeder in der Deutschen Demokratischen Republik zugelassene Anwalt gewählt werden kann" (§62 StPO), wird dem Untersuchungsgefangenen in der alltäglichen Praxis lediglich ein Verzeichnis ausgesuchter Anwälte vorgelegt, aus dem er einen Verteidiger auswählen kann. Danach erhält er zwei Strafprozeßvollmachtsformulare, die er unterzeichnen muß, und diese kann er mit einem Anschreiben an den Rechtsanwalt schicken lassen. Dabei geschieht es keineswegs selten, daß das Schreiben von der Staatssicherheit bewußt zurückgehalten wird, weil der Untersuchungsführer die Ermittlungen erst abschließen oder zumindest ein Geständnis erzielen will, ehe er den Kontakt zu einem Anwalt duldet. Zuweilen wird die Wahl eines bestimmten Verteidigers auch unterbunden, indem man dem Gefangenen konkret mit Nachteilen bei Gericht droht, wenn er den betreffenden Anwalt als Verteidiger beauftragen würde. Eine andere Manipulation, einen möglicherweise unbequemen Anwalt von der Verteidigung in politischen Strafsachen auszuschließen, besteht darin, den Angeklagten zur scheinbar freiwilligen Aufkündigung seines Mandats zu nötigen. "In der Regel wird der Verteidiger erst nach Abschluß der Ermittlungen tätig"17. Diese Feststellung eines Rechtsanwalts, der bis 1980 in Cottbus tätig war, ist typisch. Das aber kann Wochen und Monate dauern. Meist sogar ist ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt erst nach Fertigstellung der Anklageschrift durch die Staatsanwaltschaft möglich. Günstigenfalls erfährt der Gefangene die Hilfe eines Anwalts, wenn die Ermittlungen einen bestimmten Stand erreicht haben. Das bewußte Hinauszögern jeder Verbindung zu seinem Anwalt gibt den Untersuchungshäftling der Willkür des Untersuchungsführers im Grunde preis. Die Möglichkeiten des Verteidigers werden auch dadurch eingeengt, daß er die Genehmigung zur Akteneinsicht grundsätzlich erst erhält, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind und der Staatsanwalt bereits Anklage erhoben hat. Dabei fällt besonders ins Gewicht, daß der Untersuchungsführer des MfS grundsätzlich anonym agiert, das heißt, der Gefangene erfährt nicht einmal den Namen seines Vernehmungsoffiziers. Gleichwohl ist festzustellen, daß diese Einschränkungen der Verteidigung in der DDR nicht ungesetzlich sind. Nach dem Gesetz darf der Verteidiger mit dem Beschuldigten oder Angeklagten jederzeit sprechen oder korrespondieren - was auch für die U ntersuchungshaft bei der Staatssicherheit gilt -, aber der aufsichtsführende Staatsanwalt kann hierfür Bedingungen festsetzen, "damit der Zweck der Untersuchungshaft nicht gefährdet wird" (§64 StPO). Wo der Zweck der Untersuchungshaft durch Anwaltskontakt gefährdet erscheint, wird er erst gar nicht zugelassen. 98
Ein Rechtsanwalt aus Weimar, dort bis 1982 tätig, bringt seine Erfahrungen auf folgenden Nenner: "Jeder Staatsanwalt kann für Sprech- oder Schriftverkehr zwischen Anwalt und Beschuldigtem bestimmte Bedingungen festlegen. Ich habe das immer Beschränkungen genannt ... Was ist es anders als Beschränkung, wenn der Anwalt mit dem Mandanten in vielen Fällen lediglich über persönliche Dinge sprechen kann, nicht aber über die Strafsache?M18
Auch der schon zitierte Rechtsanwalt aus Cottbus spricht von Beschränkungen: "Dies bedeutet praktisch, daß der Anwalt nur über persönliche Fragen, nicht aber über den Gegenstand der Beschuldigung mit dem Mandanten sprechen kann M19 .
Er kann diese Bedingungen auch nicht ignorieren: "Die Einhaltung dieser die Vorbereitung der Verteidigung stark behindernden Maßnahme wird durch einen im Sprechzimmer anwesenden Vernehmungsoffizier des Untersuchungsorgans kontrolliert M20 .
Belegt ist auch die Überwachung von Anwaltskontakten durch Abhöranlagen in der Untersuchungshaftanstalt. Die Dauer der Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit wird vom Zweck der Untersuchung bestimmt. Die Entscheidung darüber obliegt praktisch wiederum allein dem Untersuchungsführer des MfS. Grundsätzlich ist jedes Ermittlungsverfahren zwar "innerhalb einer Frist von höchstens drei Monaten abzuschließen" (§103 StPO). Kann jedoch diese Frist "wegen des Umfanges der Sache oder der Schwierigkeiten der Ermittlungen" nic,ht eingehalten werden, ist ihre Überschreitung zulässig. Sie bedarf der formellen Genehmigung durch den leitenden Staatsanwalt.. Nach den Erfahrungen ehemaliger politischer Gefangener beläuft sich die Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit heute durchschnittlich auf drei bis vier Monate, aber dort, wo Staatsverbrechen zur Untersuchung stehen, dauert sie regelmäßig das Doppelte bis Dreifache, wobei deutlich der Zweck offenkundig wird, den Gefangenen zu zermürben, politisch zu zerbrechen. Denn nach wie vor suchen die Vernehmungsoffiziere der Staatssicherheit Druck auf den Gefangenen auszuüben, indem sie mit der willkürlichen Verlängerung der Untersuchungshaft "bis zum Geständnis" drohen. Da sie mit dem leitenden Staatsanwalt eng zusammenwirken, ist dessen formelle Genehmigung dazu unschwer zu erlangen. Umgekehrt sind Versuche des politischen Gefangenen, sich durch Beschwerden dagegen zu wehren, so gut wie aussichtslos. Damit sind Mittel und Mechanismen zur Geständniserpressung bei der Staatssicherheit angesprochen. Für Vernehmungen zuständig sind Untersuchungsführer im Offiziersrang, vorwiegend Leutnants, Oberleutnants und Hauptleute, die für ihre Aufgabe zumeist gut geschult sind. Nicht wenige verfügen über eine Fach- oder Hochschulausbildung. Man kann davon ausgehen, daß jeder Untersuchungsführer seine Vernehmungen 99
gründlich plant und gut vorbereitet. Auf der Basis vorheriger, häufig "konspirativ" durchgeführter Ermittlungen sucht der Untersuchungsführer den Gefangenen mit psychologisch ausgeklügelter Befragungstechnik - in der Regel unter Verzicht auf physische Mißhandlungen - zu Aussagen oder zu einem Geständnis zu bewegen. Vor allem wird der Schock über die Festnahme ausgenutzt und versucht, bereits im ersten, häufig überlangen, bis zu zwölf, fünfzehn Stunden dauernden Verhör ein möglichst umfassendes Ergebnis zu erzielen. Tonbandaufzeichnungen bei Vernehmungen sind bei der Staatssicherheit heute üblich. Die Untersuchungsorgane des MfS sind nach der Strafprozeßordnung verpflichtet, "die den Verdacht einer Straftat begründende Handlung allseitig und unvoreingenommen aufzuklären", und das soll "in be- und entlastender Hinsicht" (l01 StPO) geschehen. Genau diese Bestimmung wird in der alltäglichen Praxis der MfS-Untersuchungsführer durchweg mißachtet. In voller Absicht legen die Vernehmungsoffiziere ihre Protokolle zumeist in Dialogform an, um durch ihr Frage-Antwort-Schema den Eindruck besonderer Authentizität hervorzurufen, und sie formulieren ihre Niederschrift bewußt für den politischen Gefangenen belastend. Häufig werden seine Aussagen sprachlich bis zur Fälschung des Sachverhalts verfremdet, ohne daß später bei Gericht Einspruch dagegen nützen würde. Man kann, wenn man nervenstark ist, die Vernehmungsmethoden beanstanden, aber es hilft nicht viel. "Ich beanstandete, daß keines der Vernehmungsprotokolle den Wortlaut meiner Aussagen wiedergab, daß meine sogenannten Antworten zum Teil schon vor der entsprechenden Vernehmung schriftlich fixiert vorgelegen hatten, und daß der Vernehmer sich vor allem darauf beschränkte, meine Einwände gegen die fertigen Protokolle zu erfahren und nur bei geringfügigen Details zu Änderungen des Wortlautes bereit war. Meinen Unterschriften unter die Protokolle war stets ein langer, psychologisch geführter Kampf vorausgegangen"21.
Diese Aussagen eines ehemaligen Gefangenen läßt ermessen, inwieweit die Untersuchungsorgane des MfS durch Manipulation der Vernehmungsprotokolle das zu erwartende Strafurteil präjudizieren können. Darüber hinaus scheuen die Vernehmungsoffiziere auch vor Schikanen, vor Drohungen und Nötigung keineswegs zurück. Selbst die Genehmigung oder Verweigerung von persönlichen Verbindungen in der Untersuchungshaft - also Schreib- und Besuchserlaubnis - wird zur "Disziplinierung" des Gefangenen genutzt, das heißt, Schreib- und Besuchserlaubnis werden erst bei entsprechender "Gegenleistung" des Gefangenen in Gestalt von Aussagen oder einem Geständnis gewährt. . Üblich ist ferner die Androhung von Prügel sowie die Drohung mit psychiatrischer Behandlung. Zur Einschüchterung gedroht wird ebenso mit unbefristeter Verlängerung der Untersuchungshaft oder einer höheren Strafe, falls sich der Gefangene nicht gefügig zeigt. Es liegt auf der Hand, daß alle diese Unterdrückungs mechanismen Einfluß auf das Ergebnis des Untersuchungsverfahrens haben. Sie demonstrieren bis heute in den Gefängnissen des MfS übliche psychoterroristische Praktiken. 100
Dagegen können physische Mißhandlungen politischer Gefangener durch die Untersuchungsorgane der Staatssicherheit zwecks systematischer, zielgerichteter Geständniserpressung für die achtziger Jahre weithin ausgeschlossen werden. Übergriffe einzelner Untersuch~ngsführer, die von ehemaligen Häftlingen bekundet werden, verstehen sich zu dieser Feststellung insoweit nicht als Widerspruch, als sie keine Mißhandlung auf Befehl darstellen. Statt physischer Mißhandlungen sind heute psychische Einwirkungen auf den Untersuchungshäftling typisch. Dazu zählt auch die in der Anfangsphase der Untersuchungshaft bei der Staatssicherheit häufig praktizierte Methode des systematischen Schlafentzuges für mehrere Tage. In Tag- und Nachtverhören bei wechselnden, einander ablösenden Vernehmungsoffizieren, unterbrochen nur durch kurze Essenspausen, oder in Nachtverhören bei striktem Schlafverbot am Tage soll der Untersuchungshäftling zermürbt und in der rationalen Kontrolle seiner Aussagen beeinträchtigt werden. In den ersten Tagen, häufig sogar in den ersten Wochen der Untersuchungshaft bleiben die meisten politischen Gefangenen bei der Staatssicherheit in Einzelhaft. Das wirksamste Mittel zu seiner Einschüchterung ist die Isolation des Häftlings. Die weitgehende, zum Teil totale Isolation des Untersuchungsgefangenen von der Außenwelt zumindest während der ersten Phase des Ermittlungsverfahrens, die nach wie vor alltägliche Praxis ist, wird dadurch verschärft, daß dem Untersuchungsgefangenen sowohl persönliche Verbindungen zu seinen Angehörigen als auch Kontakte zu einem Rechtsanwalt verweigert werden. Das alles dient dem Zweck, den Untersuchungshäftling zu einem Geständnis zu bewegen und für die Hauptverhandlung vor Gericht "reif" zu machen. Trotzdem erschöpfen sich die Vernehmungen nicht in der Erzielung eines Geständnisses. Der Untersuchungsführer dringt auf eine "Abschöpfung" aller bei dem Gefangenen vermuteten Informationen, die für die "politisch-operative Arbeit" der Staatssicherheit überhaupt relevant sein können, unabhängig davon, ob und inwieweit sie mit der eigentlichen Strafsache des Beschuldigten oder Angeklagten in Verbindung zu bringen sind. Die Ergebnisse eines unter den geschilderten Bedingungen durchgeführten Untersuchungsverfahrens sind sozusagen vorprogrammiert. Nach seinem Abschluß haben die Untersuchungsorgane einen "Schlußbericht" vorzulegen, "der das Ergebnis der Untersuchung zusammenfaßt", und "das Verfahren dem Staatsanwalt zu übergeben" (§146 StPO). Da der Schlußbericht dem Staatsanwalt als Vorgabe für die Anklageschrift dient, wird durch ihn auch das Urteil bereits weitgehend vorweggenommen, denn selten weichen die Gerichte in der DDR in ihrer Urteilsfindung in politischen Strafsachen von der Anklageschrift ab.
Das MfS und der politische Strafprozeß
Die Einwirkung der Geheimpolizei - im Fall der DDR also der Staatssicherheit - auf die politische Strafjustiz gehört zu den spezifischen Merkmalen totalitärer Herrschaftspraxis. Die Funktion der Strafjustiz verkümmert zur justizförmigen Durchsetzung politischer Zielsetzungen durch Staatsanwaltschaft und Gericht. Das Recht - auch und gerade des Strafrecht - identifiziert sich als der zum Gesetz erhobene Wille der Staatspartei. 101
Staatsanwalt und Richter sind mit ihren Aufgaben in diese Zielsetzung eingebunden. Die Staatsanwaltschaft"wacht in Verwirklichung der Beschlüsse der Partei der Arbeiterklasse auf der Grundlage der Verfassung, der Gesetze und anderen Rechtsvorschriften der Deutschen Demokratischen Republik über die strikte Einhaltung der sozialistischen Gesetzlichkeit" (§1 StAG). Richter und Schöffen sind verpflichtet, "in ihrer Rechtsprechung die sozialistische Gesetzlichkeit zu verwirklichen" (§45 GVG). Sie haben sich sämtlich als verläßliche politische Funktionäre zu verstehen, wobei die Politisierung der Justiz ihren Niederschlag in der Parteilichkeit der richterlichen Entscheidung findet. Der Staatsanwalt übt dabei eine zwischen Staatssicherheit und Gericht "vermittelnde" Funktion aus. Er diktiert den formellen Gang des Strafverfahrens. Namentlich bei Staatsverbrechen weicht das Gericht höchst selten von den Auffassungen des Staatsanwalts und seinem ohne Frage mit der Staatssicherheit abgestimmten Strafantrag ab. Häufig wird dem Angeklagten noch vor der Hauptverhandlung durch den Untersuchungsführer des MfS zutreffend vorausgesagt, welches Urteil, welches Strafmaß er zu erwarten hat. Was liegt näher als die Folgerung, daß das Urteil zwischen Staatssicherheit, Staatsanwalt und Gericht schon vorher abgesprochen wurde? Wie weit der Einfluß der Staatssicherheit auf die Strafjustiz reicht, kann am ehesten überzeugend am konkreten Einzelfall demonstriert werden. Als der Dresdner Mathematiker Dr. Horst Hiller, der am 17. Mai 1977 bei einem gescheiterten Fluchtversuch festgenommen worden war, die gegen seine Verpflichtung als Inoffizieller Mitarbeiter in der Staatssicherheit angebotene Straffreiheit ausschlug, wurde er am 14. September 1978 also nach sechzehn Monaten Untersuchungshaft - vom Bezirksgericht Dresden zu achteinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Das unverhältnismäßig hohe Strafmaß begründet das Bezirksgericht Dresden mit dem Argument, bei gelungener Flucht hätte der Angeklagte sein Wissen im Westen preisgeben, weshalb er außer wegen" versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts" auch wegen" Vorbereitung zur Spionage" zu verurteilen gewesen wäre. Tatsächlich war die juristische Manipulation dem Angeklagten schon in der Untersuchungshaft beim MfS angedroht worden22 • Unter dieser Voraussetzung wird nicht nur das Recht auf Verteidigung, sondern die Hauptverhandlung vor Gericht schlechthin problematisch. Sie verkommt zum justizförmigen Ritual. Der Richter hat zu formalisieren, was inhaltlich die Staatssicherheit längst entschieden hat. Es paßt in dieses Bild, denn es ist ein typisches Merkmal totalitärer Herrschaftspraxis, daß die Hauptverhandlung in politischen Strafsachen in der DDR im Regelfall unter Ausschluß der Öffentlichkeit stattfindet. Grundsätzlich soll die Hauptverhandlung vor Gericht in der DDR öffentlich durchgeführt werden. Auszuschließen ist die Öffentlichkeit nur, wenn die öffentliche Verhandlung die Sicherheit des Staates gefährden würde oder wenn die Notwendigkeit zur Geheimhaltung bestimmter Tatsachen erforderlich scheint. Die Staatssicherheit zwingt die DDR-Gerichte jedoch dazu, von dieser Möglichkeit in politischen Strafsachen exzessiv Gebrauch zu machen. Hauptverhandlungen, in denen Anklage wegen Staatsverbrechen erhoben wird, finden im Prinzip unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Selbst bei Fluchtdelikten wird auf den Ausschluß der Öffentlichkeit so gut wie niemals verzichtet. Man will die eigenen Praktiken jeder Kontrolle durch Öffentlichkeit entziehen. 102
Es entspricht dieser Praxis, wenn dem Betroffenen - ebenso wenig seinem Anwalt weder die Anklageschrift noch eine schriftliche Urteilsausfertigung überlassen werden. Gelegentliche Schauprozesse schließt diese Praxis im Ausnahmefall keineswegs aus. Selbst bei nichtöffentlicher Verhandlung kann das Gericht die Anwesenheit einzelner Personen oder eines ausgesuchten Personenkreises erlauben - was in politischen Strafsachen zum Beispiel aus Gründen der Abschreckung oder der Schulung geschieht. Ein ehemaliger Hauptmann der DDR-Grenztruppen berichtet von seiner Hauptverhandlung vor dem Strafsenat des Militärobergerichts in Ost-Berlin mit eingeschränkter Öffentlichkeit: "Die anwesenden Militär- und Zivilpersonen waren Offiziere der Nationalen Volksarmee, die in meiner Dienststelle, dem Stab des Kommandos der Grenztruppen, tätig waren. Die Zivilpersonen waren Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit aus der Verwaltung 2000 des Kommandos der Grenztruppen"23.
Der Geheimprozeß als Schulungsstunde! Solche Erfahrungen belegen das enge Zusammenwirken zwischen Staatssicherheit und Staatsanwalt unter Einbeziehung des Gerichts. Formell führt zwar der Staatsanwalt die Aufsicht über die Untersuchungsorgane der Staatssicherheit (§ 89 StPO). In Wirklichkeit verhält es sich aber umgekehrt: Die Staatssicherheit kontrolliert die Staatsanwaltschaft ebenso das Gericht! Auch im Justizapparat unterhält das MfS außer offiziellen ebenso inoffizielle Kontakte. Außer Zweifel steht ferner die kaderpolitische Überwachung der Justiz: Kein Staatsanwalt, kein Richter macht in der DDR Karriere, der nicht vor und während seiner Tätigkeit von der Staatssicherheit überprüft worden ist bzw. laufend überprüft wird. Diese Aussage kann zwar nicht konkret belegt werden, aber sie entspricht dem generellen Zugriff der Staatssicherheit auf alle wichtigen ·kaderpolitischen Entscheidungen in der DDR. Das MfS und der Strafvollzug an politischen Gefangenen
Der Strafvollzug in der DDR beruht auf dem Gesetz über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug vom.!. April 1977. In diesem Gesetz sind die Grundsätze und allgemeinen Bestimmungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen an Erwachsenen und Jugendlichen niedergelegt24. Sonderbestimmungen über den Vollzug von Freiheitsstrafen an politischen Gefangenen kennt das Gesetz nicht, weil die DDR einen besonderen Status des politischen Gefangenen nicht anerkennt. Laut offizieller Erklärung des DDR-Außenministeriums vom 5. Januar 1987 befinden sich übrigens überhaupt "keine politischen Gefangenen in den Gefängnissen der DDR" - "mit Ausnahme von Personen, die wegen Kriegs- und Nazi-Verbrechen ... verurteilt sind"25. Selten war eine amtliche Erklärung verlogener als diese! De facto wird ein solcher Status an dem Unterschied erkennbar, der zwischen politischen Häftlingen und kriminellen Gefangenen im Strafvollzug tatsächlich gemacht wird - und der sich in der Untersuchungshaft an der unterschiedlichen Zuständigkeit der Staatssicherheit für "die Politischen" und der Volkspolizei für "die Kriminellen" ergibt, sieht 103
man von weniger schwerwiegenden Straftaten gegen die öffentliche Ordnung ab, für die ebenfalls die Volkspolizei zuständig ist. Die politischen Gefangenen sind "eine gesonderte Kategorie "26. Tatsächlich werden "die Politischen" im DDR-Strafvollzug mit kriminellen Straftätern nicht nur nicht gleichgestellt, sondern bewußt Diskriminierungen und Schikanen ausgesetzt. Vor allem unterliegen sie der besonderen Überwachung durch die Staatssicherheit. Zwar ist der Strafvollzug in der DDR Sache des Ministers des Innern und Chefs der Deutschen Volkspolizei, bei dem zur zentralen Anleitung und Kontrolle der verschiedenen Strafvollzugseinrichtungen die" Verwaltungs Strafvollzug" mit Sitz in Ost-Berlin besteht; der Strafvollzug ist also nicht Sache des Ministers für Staatssicherheit, aber er ist für die "politisch-operative Sicherung" des Strafvollzugs verantwortlich. Im MfS ist die Hauptverwaltung vn für den Schutz der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei und die Abschirmung aller Gefängnisse, Arbeitserziehungskommandos und Jugendhäuser zuständig - woraus sich eine enge Zusammenarbeit zwischen dem MfS und dem MdI auf allen Ebenen von selbst ergibt. Eine Ausnahme unter den Strafvollzugseinrichtungen der DDR stellt lediglich die Sonderhaftanstalt Bautzen 11 dar, die mit dem eigentlichen Zuchthaus in Bautzen, dem Objekt I, nicht zu verwechseln ist. Das Objekt Bautzen 11 ist dem MfS zentral unterstellt. In ihm sind bei einer Kapazität zwischen 150 und 200 in der Mehrheit politische Gefangene untergebracht. In anderen Gewahrsamen liegt der Prozentsatz der politischen Gefangenen unter den Strafgefangenen heute zwischen 8 und 10 Prozent. Zur Wahrnehmung seiner "operativ-sichernden Aufgaben" im Strafvollzug unterhält das MfS in allen Strafvollzugseinrichtungen ein engmaschiges Informationsnetz. Seine Spitzel und Zuträger werden besonders auf Strafgefangene angesetzt, die wegen politischer Gründe verurteilt wurden. Die Dienstanweisung Nr. 2/75 des Ministers für Staatssicherheit über "politisch-operative Aufgaben im Strafvollzug"27 schreibt ausdrücklich eine "qualifizierte politisch-operative Abwehrarbeit" namentlich unter solchen Strafgefangenen vor, die "wegen Staatsverbrechen verurteilt worden sind" oder die "im Verdacht stehen, bisher unaufgedeckte staatsfeindliche Handlungen begangen zu haben". Im wesentlichen behandelt die Dienstanweisung Nr. 2/75 die "politisch-operative Sicherung der Angehörigen und Zivilbeschäftigten des Organs Strafvollzug, der Betriebsangehörigen der Arbeitseinsatzbetriebe sowie der Einrichtungen des Organs Strafvollzug vor allen feindlich-negativen Angriffen", ferner die "rechtzeitige Feststellung feindlich tätiger Personen unter den Straf- und Untersuchungsgefangenen". Zur Lösung dieser Aufgaben haben sich die für den Strafvollzug zuständigen Diensteinheiten des MfS in den Bezirksverwaltungen beziehungsweise Kreisdienststellen, in deren Region sich die jeweiligen Strafvollzugseinrichtungen befinden, auch "inoffizieller Kräfte, Mittel und Methoden" zu bedienen, wie es wörtlich in besagter Dienstanweisung heißt. Inoffizielle Mitarbeiter sollen ausdrücklich "unter den Angehörigen des Organs Strafvollzug, den Angehörigen der Arbeitseinsatzbetriebe sowie unter dem Gefangenenbestand zielgerichtet und mit ho her Wirksamkeit" tätig werden. Spitzel und Zuträger werden mithin sowohl unter dem Wach- und Aufsichtspersonal als auch unter den Straf104
gefangenen geworben und eingesetzt; unter den Gefangenen sollen vor allem solche gewonnen werden, die "für eine Mitwirkung im Erziehungsprozeß ausgewählt" wurden. "Auf die Auswahl der Strafgefangenen für die Funktionen Älteste, Brigadiere, Ordner, Beauftragte, Helfer im Arbeitseinsatz ist politisch-operativ Einfluß zu nehmen und ihre Eignung als IM zu prüfen". Die totale Überwachungs- und Kontrollfunktion der DDRStaatssicherheit, die durch Aussagen ehemaliger politischer Häftlinge voll bestätigt wird, kann kaum eindeutiger anschaulich gemacht werden als am Beispiel der MfS-Arbeit im DDR-Strafvollzug. Sie reicht sogar darüber hinaus, denn alle ehemalige politischen Häftlinge in der DDR unterliegen nach ihrer Entlassung der besonderen Überwachung durch die Staatssicherheit. In der zitierten Dienstanweisung Nr. 2/75 heißt es: "Die operative Bearbeitung bzw. Kontrolle von Strafgefangenen nach Entlassung aus dem Strafvollzug ist durch die für den zukünftigen Wohnort bzw. die Arbeitsstelle zuständige Diensteinheit zielstrebig fortzusetzen, wenn die bestehenden Verdachtsmomente bzw. Kontrollgründe bis zur Entlassung aus dem Strafvollzug nicht geklärt werden können".
Insbesondere sind Anträge politischer Gefangener auf Entlassung in die Bundesrepublik oder nach West-Berlin im Zusammenwirken mit den Leitern der Abteilungen bzw. Arbeitsgruppen Strafvollzug der Bezirksbehörden der Volkspolizei sowie den Leitern der Strafvollzugseinrichtungen von den zuständigen Diensteinheiten des Ministeriums für Staatssicherheit auf Bezirks- oder Kreisebene "qualifiziert zu erfassen, aufzubereiten und auf dem vorgeschriebenen Weg den für den letzten Wohnort der Inhaftierten zuständigen Abteilungen Innere Angelegenheiten zuzuleiten". Kopien oder Abschriften derartiger Anträge sind über die Bezirksverwaltungen der Hauptabteilung VII im Ministerium für Staatssicherheit zuzuleiten. Sie trifft die endgültige Entscheidung. Auf jeden Fall ist eine Stellungnahme erforderlich, ob einer Entlassung in den Westen zugestimmt werden kann. Nach erfolgter Übersiedelung sind die betreffenden ehemaligen Gefangenen als "West-Personen" in besonderen Karteien zu erfassen. Im übrigen sind ehemalige politische Gefangene auch in der sogenannten VSH-Kartei zu registrieren, die nach Auskunft der ehemaligen MfS-Oberleutnants Werner Stiller sowohl in den Kreisdienststellen als auch in der Zentrale der Staatssicherheit geführt wird. Das Kürzel bedeutet" Vorsorge-Sicherungs-Hinweis" - und in der VSH-Kartei werden u. a. erfaßt: "Personen mit nachgewiesener oder ,begründet zu vermutender' Abneigung gegen das System der DDR, politische Straftäter, Sekten mitglieder, Nichtwähler, aufsässige Jugendliche, Bürger mit sehr intensiven Westbeziehungen und andere unsichere Kantonisten, schließlich auch Kriminelle. Bei innenpolitischen Schwierigkeiten oder außenpolitischen Krisen ist der Staatssicherheitsdienst an hand dieser Kartei in der Lage, schnell zuzugreifen"28.
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Fazit
Aus Einfluß und Einwirkung der Staatssicherheit auf die politische Strafjustiz der DDR - die ich als für totalitäre Herrschaft exemplarisch darzustellen versucht habe - ziehe ich die folgenden Schlußfolgerungen: . Terror - auch und gerade in seiner justiziellen Form - ist in der DDR nach wie vor eine existenzielle Bedingung für die Herrschaft der SED. Wichtigstes Instrument zur Ausübung von Terror sind in der DDR das Ministerium für Staatssicherheit und seine Organe, wobei es nicht nur virtueller Terror ist, der die Herrschaft der SED sichert. Auch potentieller Terror wirkt herrschaftssichernd: die Drohung mit Terror bleibt nicht ohne Wirkung, wo der Terror im Konfliktfall zur Ausübung gelangen kann. - Der zur Herrschaftssicherung ausgeübte Terror des Ministeriums für Staatssicherheit wird durch die SED politisch und ideologisch ausdrücklich legitimiert. Insoweit das MfS als Herrschaftsintrument der Partei fungiert, ist auch der von ihm ausgeübte Terror von der SED gewollt und von ihr zu verantworten. Der Terror der Staatssicherheit ist im Sinne der sozialistischen Gesetzlichkeit "legal", das heißt, er ist weithin durch Gesetz sanktioniert. Von Willkür wie in Zeiten des Hoch-Stalinismus kann umso weniger die Rede sein, als der in justiziellen Formen angewandte Terror im Rahmen seiner herrschaftssichernden Funktion für das Regime kalkulierbar und kontrollierbar bleiben muß. Darüber hinaus mag es auch in der DDR zu terroristischen Übergriffen kommen, etwa in den Untersuchungsgefängnissen des MfS, die durch Gesetz nicht gedeckt, mithin "illegal" sind, aber sie sind für die DDR heute nicht typisch. Seine Legalisierung setzt dem Terror zugleich Grenzen. Was durch Gesetz formal nicht gedeckt ist, steht unter dem Risiko einer Bestrafung. Diese Drohung des Rechts kann bedingt wirksam sein. Die Erfahrungen etwa des polnischen Sicherheitsdienstes im Popieluszko-Prozeß oder des KGB im Fall Ditschenko - der KGB-Chef des Rayons Woroschilowgrad/Ukraine wurde wegen "Amtsmißbrauchs" geschaßt dürften ihre psychologischen Auswirkungen auf die DDR-Staatssicherheit nicht verfehlen. Grenzen werden dem Terror zudem durch internationales Recht gezogen. Es gibt Menschenrechtskonventionen, die auch die DDR ratifiziert hat und die sie heute nicht ohne weiteres grob mißachten kann. Auch hier ist die Drohung des Rechts zu bedenken. Allerdings stößt der Terror des MfS nur insoweit auf Grenzen, wie er seiner herrschaftssichernden Funktion genügen kann. Wo diese Voraussetzung nicht gegeben ist - wo sich gleichsam "die Machtfrage stellt" -, dürften internes wie internationales Recht auch künftig rigoros mißachtet werden. Unter den Bedingungen totalitärer Herrschaft heiligt der Zweck noch immer auch das Mittel des Terrors selbst in der DDR.
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Anmerkungen 1) Eckhard Jesse: .Demokratie - Autoritarismus - Totalitarismus", Anmerkungen zur Klassifikation politischer Systeme, in: Politische Bildung Nr.2/ 1985, S.14. 2) In der Einleitung zum Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands wird die in der DDR errichtete Herrschaft ausdrücklich als .eine Form der Diktatur des Proletariats" charakterisiert. Vgl. Dokumente der SED, Bd.XVI, (Ost-)Berlin 1980, S.31. 3) Siegfried Mampel: Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar, zweite, vollständig überarbeitete Auflage, Frankfurt/Main 1982, S.65. 4) Vgl. Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 8. Februar 1950 (GBI. 1950, S.95). 5) Autorenkollektiv: Staatsrecht der DDR, Lehrbuch, zweite vollständig überarbeitete Auflage, (Ost-)Berlin 1984, S.375. 6) Karl Wilhelm Fricke: Die DDR-Staatssicherheit, 2. Auflage, Köln 1984, S.13. 7) .Dank und Anerkennung für den sicheren Schutz der DDR", Grußadresse des ZK der SED zum 30. Jahrestag des MfS, in: Neues Deutschland vom 8. Februar 1980. 8) Vgl. dazu .Staatssicherheit und Staatspartei", in: Karl Wilhe1m Fricke: Die DDR-Staatssicherheit, a. a. 0., S. 71 ff. 9) Zit. bei Horst Berger / Herbert Menge: .Kompromißlos kämpfen wir für die Sicherung des Friedens·, in: Neues Deutschland vom 20. Februar 1984. 10) Ebenda. 11) Vgl. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, herausgegeben von Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz, (Ost-)Berlin 1976, 5. Band, S.3531. 12) Klaus Wolscher: .Was bewegt die Friedensbewegung in der DDR?-, in: Friedensbewegung in der DDR, Texte 1978 -1982, herausgegeben von Wolfgang Büscher, Peter Wensierski und Klaus Wolschner, Hattingen 1982, S.35. 13) Dieter Voigt: .Kaderarbeit in der DDR·, in: Deutschland Archiv Nr.211972, S.178. 14) Friedrich-Christian Schroeder: Das Strafrecht des realen Sozialismus. Eine Einführung am Beispiel der DDR, Opladen 1983, S.49. 15) Karl Wilhelm Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation politischer Gefangener in der DDR, Analyse und Dokumentation, Köln 1986. 16) Befehl Nr.13 174 des Ministers für Staatssicherheit vom 20. Mai 1974 zur Qualifizierung der Ermittlungstätigkeit der Kreis- / Objektdienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit, S.l f. 17) NorbertJakob: .Die Möglichkeiten des Rechtsschutzes durch die Rechtsanwaltschaft in der DDR", in: Recht in Ost und West Nr.3/1982, S.110. 18) Dieter Gräf: .Das Recht auf Verteidigung unterliegt erheblichen Beschränkungen·, in: Deutschland Archiv Nr. 9/1985, S.972. 19) NorbertJakob, OI-a.O. 20) Ebenda. 21) Bericht Dr. Wolfgang Hartmann, niedergeschrieben 1984, zit. bei Karl Wilhe1m Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation ... , a.a.O., S.206. 22) Vgl. dazu Horst Hiller: Sturz in die Freiheit. Von Deutschland nach Deutschland, München 1986, S.l00ff. 23) Aussage Michael Klug vom 7. Dezember 1984, zit. in: Internationale Anhörung für die Menschenrechtssituation/Dokumentation, Herausgegeben von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte/Deutsche Sektion, Frankfurt/Main 1985, S.l1l. 24) Vgl. Gesetz über den Vollzug der Strafen mit Freiheitsentzug (Strafvollzugsgesetz) vom 7. April 1977 (GBI. I S.109). 25) .Nicht geeignet für gute Nachbarschaft·, in: Neues Deutschland vom 6. Januar 1987. 26) Bericht Petra Heinrich, niedergeschrieben 1986, zit. bei Karl Wilhe1m Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation ... , a. a. 0., S.242. 27) Dienstanweisung Nr.2175 des Ministers für Staatssicherheit vom 13. März 1975 über die politischoperativen Aufgaben des Ministeriums für Staatssicherheit im Strafvollzug der Deutschen Demokratischen Republik, zit. bei Karl Wilhe1m Fricke: Zur Menschen- und Grundrechtssituation ... , a. 01- 0., S.167ff. 28) Werner Stiller: Im Zentrum der Spionage, Frankfurt am Main 1986, S.159.
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BERNHARD MARQUARDT
Die DDR auf dem Weg vom totalitären zum autoritären Staat? Vorbemerkungen zum Totalitarismus-Modell Der Begriff ,Totalitarismus' ist "weit verbreitet, obwohl Politologen inzwischen zögern, ihn zu benutzen," so der 1983 verstorbene Soziologie und Publizist Raymond Aron, in seinem Beitrag: "Noch einmal: Hitler. Wie haltbar ist die Totalitarismus-Theorie?"! Die Totalitarismus-Theorie verdiene es nicht zum alten Eisen geworfen zu werden und habe keineswegs an Bedeutung verloren, meint der französische Soziologe. Steht R. Aron mit dieser Auffassung isoliert da? Natürlich gibt es derzeit nationale Unterschiede und einen begrenzten sozialen Wandel in den Ostblockstaaten, aber "man kann mit Fug und Recht argumentieren, wenn es im Ostblock schon eine Art Milderung des innenpolitischen Drucks gegeben hat, dann war das ,eher die Folge des Sieges des Totalitarismus als seines Versagens. Die Opposition wurde zerschmettert, große Teile der Bevölkerung sind mit Erfolg indoktriniert worden und daher besteht angesichts dieser Verhältnisse keine Notwendigkeit tür drastischere Maßnahmen wie Massensäuberungen und Hinrichtungen",2
so der deutschamerikanische Historiker Walter Laqueur, Chairman des International Research Council der Georgetown- Universität in Washington. R. Löwenthais verhältnismäßiger Optimismus ist von Fachleuten für die Sowjetunion und China kritisiert worden, die darauf hinweisen, daß es in beiden Systemen ein gewisses Tauwetter gegeben habe, aber der "totalitäre Eisberg" deshalb noch keineswegs geschmolzen sei.3 Bisher sind die Veränderungen in kommunistischen Systemen noch nicht über den Punkt der "Nichtumkehrbarkeit" hinausgediehen. Können wir wirklich sicher sein, daß die Erfahrungen mit einem Stalin, einem Ulbricht oder einem Mao diese Regime für immer gegen krasse Formen des Despotismus immunisiert haben? Möglicherweise sind die kommunistischen Staaten noch lange Zeit dazu verurteilt, zwischen Zyklen relativer Entspannung und scharfer Unterdrückung hin und her zu pendeln, wobei die Einparteiendiktatur intakt bleibt. 4 Gegenstand meines Beitrages ist die Frage, ob sich die DDR im Zuge der Industrialisierung und der Ausdifferenzierung der Führungsgruppen von einem totalitären zu einem autoritären Staat gewandelt hat. Eine Analyse der kommunistischen Ideologie, die monistische Herrschaftsstruktur, der totale Herrschaftsumfang sowie die totale Herrschaftsausübung, die Monopolisierung der Entscheidungsprozesse, der Staatssicherheitsdienst als Machtinstrument und das Nachrichtenmonopol der SED als Primärmerkmale des Totalitarismus stehen dabei im Zentrum der Abhandlung. Im Gegensatz zu machen anderen heutigen Kontroversen ist die Totalitarismusdebatte keineswegs bloß ein akademisches Unterfangen. Zum Teil geht es um Worte, Kategorien und Definitionen, vor allem aber geht es um politische Realitäten, und daher ist sie von eminenter praktischer Bedeutung. 108
Bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte, "wissenschaftlich gültige" Definition des Totalitarismus. Die wichtigsten Darstellungen enthalten zumeist Aussagen über die Methode der Begriffsbildung, über die Entstehung und Entwicklung totalitärer Systeme, über ihre wichtigsten Merkmale (Struktur, Prozesse, Ziele), über Gemeinsamkeiten und Unterschiede von faschistischen und kommunistischen Systemen als den beiden Haupttypen des Totalitarismus, schließlich über dessen Abgrenzung von vergangenen Autokratien oder modernen demokratischen bzw. autoritären Systemen. Totalitäre Systeme werden zumeist freiheitlich-demokratisch-pluralistischen Systemen gegenübergestellt. Mit M. Jänicke kann man zwei Versionen der allgemeinen Theorie des Totalitarismus unterscheiden: 1. Die "statisch-strukturtheoretische Version", die vor allem Strukturen, Institutionen und formelle Mechanismen der Herrschaftsorganisation und ihrer Methoden betont. 2. Die "dynamisch-konfIikttheoretische Version". Die Anwendbarkeit der Totalitarismuskonzeption zumindest bei der Gegenwartsanalyse kommunistischer Systeme ist bis heute unterschiedlich beantwortet5: Wird die Eigenart totalitärer Herrschaft primär in ihrer revolutionären Dynamik gesehen, so liegt nach dem Erlöschen dieser Dynamik die Einordnung gegenwärtiger kommunistischer Systeme als "nach·totalitäre Regime« in der Form autoritärbürokratischer Parteiherrschaft nahe (R. Löwenthal). Wird dagegen das Schwergewicht auf die Herrschaftsstruktur gelegt und beim Wandel zum autoritären System auf die Selbstbeschränkung der Parteiherrschaft sowie auf die Reduzierung von Planung und Kontrolle der Gesellschaft abgestellt, so erscheint je nach dem feststellbaren Fortbestehen umfassender Parteiherrschaft, Planung und Kontrolle die Kategorie "totalitärer Herrschaft" anwendbar (B.Meissner,1976). Die fortbestehende Nützlichkeit des Totalitarismuskonzeptes hängt sicherlich davon ab, inwieweit es gelingt a) systematische Vergleichsuntersuchungen anzustellen, um die gemeinsamen und trennenden Elemente verschiedener totalitärer Systeme aufzuzeigen, b) in die Totalitarismuskonzeption eine dynamische Analyse des Wandels einzubeziehen, c) die Totalitarismustheorie als Konzeption für den Systemvergleich zu erschließen (Modernisierungs- und Entscheidungsfunktion der Partei, Probleme der politischen· Steuerung vor dem Hintergrund der Industrialisierung etc.) und d) die totalitäre Diktatur von der autoritären abzugrenzen. Sigmund Neumann, Hannah Arendt, Zbigniew Brzezinski, Martin Draht, Richard Löwenthai untersuchen in erster Linie prozessuale Momente des Totalitarismus und sehen als entscheidenes Moment die permanent betriebene Umwälzung der Gesellschaft gegen bestehende gesellschaftliche Werte entlang der Leitlinien einer toalitären Ideologie. Herrschaftsstrukturen werden hierbei nur als abhängige Variable der intendierten Revolutionierung begriffen. Einen bemerkenswerten Ansatz der Verkopplung der prozessualen Momente des Totalitarismus mit der strukturorientierten Variante ist 1974 von Peter Graf Kielmansegg her109
ausgearbeitet worden, der zwar ein Totalitarismuskonzept primär auf struktureller Basis entwirft, jedoch nicht ohne prozessualen Bezug läßt. Eben der Prozeß totalitärer Herrschaft bestehe in einer "ununterbrochenen Anstrengung, die Gesellschaft monopolistisch von einem Zentrum aus zu motivieren und zu kontrollieren",6 wobei Ideologie und Monopolpartei Träger und Instrumente würden. Der Vorgang verlaufe selbstverständlich konfliktreich; unabweislich sei darum gerade die "Frage nach den strukturellen Bedingungen solcher Konflikte", zumal "die Strukturen wachsende Konfliktlagen überdauern."7 Kielmansegg charakterisiert diese institutionelle Ausgestaltung totalitärer Herrschaft als "monopolistische Konzentration der Chancen der Einflußnahme in einem Führungszentrum; - prinzipiell unbegrenzte Reichweite der Entscheidung des politischen Systems und - prinzipiell unbeschränkte Intensität der Sanktionen (genauer: prinzipiell unbeschränkte Freiheit, Sanktionen zu verhängen)."8 Diese Strukturgrundlagen und die der dynamischen Variante entliehene totalitäre Intention der Mobilisierung und Kontrolle der Gesellschaft seien interdependent, die Strukturen freilich das entscheidende Moment, da erst sie den Prozeß ermöglichten. In der Herrschaftsstruktur zeigt sich letztlich der Inhalt und das Ziel der Politik eines Staates: "Die für das System konstitutiven Herrschaftsziele begegnen uns in den Konstanzen der Herrschaftspraxis, d. h. sie gehen in die Struktur ein" (5.67).
Totalitär ist für den Autor ein politisches System, in dem die Einflußnahme auf Entscheidungen sich auf ein Führungszentrum konzentriert und weder die Intensität der Sanktionen noch die Reichweite der Entscheidungen begrenzt ist, sich also im Grundsatz auf alle Sphären des gesellschaftlichen Lebens bezieht (Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen, Bildungs- und Berufschancen, Chancen der Befriedigung materieller und geistiger Bedürfnisse, Kommunikationschancen u. dg1.). Graf Kielmansegg verabsolutiert diese Kriterien nicht und konzediert, daß tatsächlich nicht jede Entscheidung im Führungszentrum zu fallen braucht, maßgeblich sei vielmehr dessen Fähigkeit, jede Entscheidung an sich zu ziehen und zu kontrollieren. Sicherlich ist es nicht richtig, die soziale Dynamik in einer totalitär verfaßten Gesellschaft nur als einen von der kommunistischen Partei eingeleiteten, gesteuerten und kontrollierten Prozeß zu sehen. Solange aber die Parteiführung mit Hilfe des Partei- und Staatsapparates organisatorisch-strukturell den Willen und die Kraft hat, die autonomen sozialen Prozesse unter Kontrolle zu halten, bleibt die Gesellschaft - trotz einer gewissen Auflockerung - der totalitären Herrschaft unterworfen. Es wäre auch kaum richtig anzunehmen, daß die herrschende totalitäre Partei allein aufgrund von "Schwankungen des Sanktionsvollzuges" zu einer "autoritären Partei" (P. Ch. Ludz) wird. Wir haben es in totalitären Systemen mit einer Parteiführung zu tun, die bestrebt ist, die totalitäre Herrschaft stärker zu rationalisieren (Kontrolle und Planung) und den Gegebenheiten einer sich entwickelnden Industriegesellschaft instrumental anzupassen. Die kommunistische Partei bewegt sich im Widerspruchsraum zwischen notwendiger Industrialisierung, um soziale Konflikte zu filtern, und der Erhaltung und Perfektionierung der politischen Macht. 110
Modifizierter, präzisierter Totalitarismusansatz - Typische Züge und Merkmalstrukturen totalitärer Systeme Ausgehend von K.D. Bracher, P. Graf Kielmansegg und G. Brunner sowie durch den Rückgriff auf systemtheoretische, strukturfunktionale, konflikt- bzw. entscheidungstheoretische Ansätze - im Sinne der Theorie mittlerer Reichweite - erfolgt eine notwendige Präzisierung des allgemeinen Totalitarismuskonzeptes. Voraussetzung ist dabei, die totalitären Systeme nicht mehr nur vermittels abstrakter Begriffe oder veränderter Totalitarismuskonzeptionen zu untersuchen, sondern anhand historisch-konkreter Strukturmerkmale (Primärphänomene). Soll ein Herrschaftsmodell eine sinnvolle Funktion erfüllen, so muß es einen Begriff in dem Sinne darstellen, daß es durch die Herausarbeitung typischer Merkmale das Wesen eines bestimmten Herrschaftssystems zu begreifen und von anderen Herrschaftssystemen abzugrenzen ermöglicht. 9 Zu diesen Merkmalen zählen: 1. Eine geschlossene Ideologie mit Ausschließlichkeitscharakter; 2. monistische Herrschaftsstruktur (hierarchisch / strukturierte Massenpartei, ein zentralisierter Staatsaufbau unter der Kontrolle der Parteiführung. Die Gewalteneinheit wird unter der Suprematie der Partei zum tragenden Prinzip des Staatsaufbaus konstruiert und durchgesetzt); 3. totaler Herrschaftsumfang und totale Herrschaftsausübung (Monopolisierung des politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses unter der Führung und Kontrolle einer hierarchisch strukturierten Partei) durch: a} Kontrolle der Ökonomie, der Wissenschaft und der sozialen Beziehungen. b} Geheimpolizei, Staatssicherheitsdienst als Machtinstrument der zentralen Führung. c} Kontrolle der Massenkommunikationsmittel (Nachrichtenmonopol). d} Vollständiges Waffenmonopol. Anwendung des modifizierten TotalItarismusansatzes auf die DDR
Ideologie - Machtinstrument der SED·Führung Die Ideologie ist im System der DDR Erklärung, Maßstab und Zielsetzung alles politischen und gesellschaftlichen Handelns; sie ist die Leitidee, an der sich das "sozialistische Bewußtsein" auszurichten hat, das die politische Führung in einen Prozeß der permanenten Indoktrinierung allen ihren Menschen einzupflanzen hofft. Gemäß einem in der DDR-Literatur häufig herangezogenen Zitat Lenins müsse die ideologische Arbeit für die Partei "stets Grundlage und Hauptinhalt" der Parteiarbeit sein. Die DDR-Ideologie behauptet ihre Identität mit der Theorie des Marxismus/Leninismus. Der Marxismus/Leninismus so heißt es, vermittle als Instrument wissenschaftlicher Analyse "objektive Wahrheit" als Anleitung zum praktischen Handeln.1 0 Die ideologische Präformierung, die Parteilichkeit der Wissenschaft, der Absolutheitsanspruch wissenschaftlicher Objektivität, der Dogmatismus der Klassenposition, die dogmatische Verkündung ideologischer Heilslehre sowie das Prinzip der Einheit von
111
Theorie und Praxis machen die marxistische Wissenschaft - die in Wahrheit Ideologie ist - zu einem beliebig manipulierbaren Transformations- und Rechtfertigungsinstrument in der Hand einer selbsternannten Elite mit dem "richtigen Bewußtsein". Die Behauptung der prinzipiellen Unwiderlegbarkeit marxistischer Wissenschaftsaussagen beruht daher nicht auf deren, faktischem Wahrheitsgehalt, sondern einzig und allein auf einer dialektischen Immunisierungsstrategie. Eine Theorie, die sich selbst gegen Kritik von außen immunisiert und nicht mehr überprüfbar ist (K. Popper), ist keine Wissenschaft, sondern dogmatische Ideologie. In totalitären Systemen bestimmt eine einzige Instanz mit absolutem Wahrheitsmonopol darüber, was als Wissenschaft zu gelten hat, wer dazu befugt ist und wie die wissenschaftlichen Ergebnisse verwertet, also in die Praxis umgesetzt werden. Milovan Djilas unterstreicht in diesem Zusammenhang: "Die Ideologisierung ist niederschmetternd für die Kultur und sie unterjocht die Persönlichkeit; sie fördert Stagnation und Sterilität in der Wirtschaft ... Somit ist die Ideologie heute kaum zu etwas anderem als zur Idealisierung der Privilegien des Parteiapparates fähig und daher kann die Parteibürokratie nicht auf die Ideologie verzichten, trotz ihrer Fruchtlosigkeit. Die Ideologie ist heute Mittel, Maske und Täuschung."11
Die kommunistische Ideologie beschränkt sich auf das Idealisieren, auf das Rechtfertigen der "historischen Notwendigkeit" und "fortschrittlichen Rolle" der Parteibürokratie, die ihrerseits - als Inhaber der Macht, die sich der Ideologie als eines Werkzeuges bedient somit der legale Hüter dieser Ideologie ist. Die Partei bürokratie bedarf der Ideologie als eines Mittels zur Schließung der eigenen Reihen, sowie zur Knebelung, Einschüchterung und Bindung verschiedener Schichten und Gruppen der Bevölkerung. Die Ideologie ist somit ein spezifischer und unentbehrlicher Teil des Machtmechanismus. Vier Jahrzehnte Existenz und Entwicklung der SED zeigen, daß diese kommunistische Partei sich bei allen grundlegenden Entscheidungen davon leiten läßt, ob damit ihre Macht gestärkt, erweitert oder geschwächt wird. Es ist ein typisches Merkmal für das politische System der DDR, daß Erhaltung und Stabilisierung der Macht ihr vorrangiges Ziel ist; alle Elemente des Systems der DDR - Wirtschaft, Staat, Ideologie - werden primär als Machtinstrument gehandhabt. Macht heißt für dieses System Alleinherrschaft der kommunistischen Partei in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen.l 2 Ideologie und Partei sind bekanntlich Faktoren, denen die Totalitarismusanalyse von Anfang an eine Schlüsselbedeutung beigemessen hat. "Ideologie als Instrument monopolistischer Steuerung sozialen Verhaltens hat vor allem zwei Aufgaben zu erfüllen: Sie muß das Führungszentrum in den Stand versetzen, ausschließlich und verbindlich über die sozialrelevanten Werte und Normen zu entscheiden, was sich im allgemeinen in der Form der Auslegung kodifzierter Leerformeln [und einer spezifischen Sprachregelung; B.M.) vollzieht. Sie (die Ideologie) muß darüber hinaus das Führungszentrum auch in den Stand setzen, der Gesellschaft verbindliche Schemata für die Deutung von Wirk-
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lichkeit vorzugeben. Von den Leistungen der Ideologie auf diesen beiden Feldern hängt die Steuerungskapazität des Führungszentrums entscheidend ab."13
Abgesehen von der Steuerungsfunktion der Ideologie in der DDR spielt insbesondere ihre Funktion im Prozeß der Legitimierung der Herrschaft eine entscheidende Rolle. Aus dieser Doppelfunktion der Ideologie resultieren nicht unerhebliche Spannungen. Wie oben geschildert trat die Ideologie mit dem Anspruch auf absolute Richtigkeit auf, da sie wissenschaftlich fundiert sei, durchdrang alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und trug weitgehend eschatologische Züge. Nachdem der utopische Charakter der kommunistischen Ideologie erkennbar wurde, verwandelte sie sich von einer ,.Antriebs- zur RechtJertigungsideologie"14, deren Funktion im Herrschaftssystem nunmehr darin besteht, die jeweiligen Maßnahmen der politischen Führung zu legitimieren. 15 Vor diesem Hintergrund hat die kommunistische Ideologie in der DDR folgende Funktionen zu erfüllen: 1. Öffentliche Legitimation von herrschenden Interessen; 2_ Regulierung von Handlungsorientierungen des Partei- und Staatsapparates und der Gesamtbevölkerung; 3. Verwirklichung politischer Zielsetzung; 4. Legitimierung und Stabilisierung des kommunistischen Systems. Hermann Rudolph hat den bisher. eindrucksvollsten Versuch gemacht, ein Bild der Lebenswirklichkeit des politischen und sozialen Systems der DDR unterhalb der Sphäre der offiziellen Ideologie zu vermitteln. 16 Die Kluft zwischen einer alles erklärenden Ideologie, mit der die Deutschen in der DDR alltäglich leben müssen, und ihre eigene Lebenserfahrung ist erheblich. Dennoch ist der ideologische Strom, in den alles, was sich in der DDR vollzieht, getaucht wird, ein Element der Lebenswirklichkeit dieses Systems: "Alles wird mit der glatten, undurchsichtigen Schicht einer zweiten Wirklichkeit überzogen. Alles wird abgebunden von grobporigen Begriffen und Formeln",11
Die Ideologie bleibt weitgehend äußerlich, sie geht nicht als Motivation ins Bewußtsein ein. Gerade weil das ideologische Moment in dieser Gesellschaft so alles durchdringend ist, bleibt der Einzelne der Ideologie gegenüber indifferent. Man nimmt sie hin, plappert ihre Formeln gegebenenfalls nach, aber sie ist in der Regel nicht integrierender Teil des individuellen Lebens und seiner Daseinsgestaltung. Mangel an persönlicher Freiheit, an Freizügigkeit, die fehlende Effektivität des Wirtschaftssystems, das Gefühl der Ohnmacht angesichts des umfassenden Systems staatlicher Willkür und Reglementierung, das Gefühl der Enge und Abgeschlossenheit sowie die karge materielle Versorgung werden heute von der DDR-Bevölkerung deutlicher, bewußter als früher wahrgenommen und gewertet. Dies schafft generell ein Klima der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit, insbesondere für die jüngere Generation. Trotz der gegenüber der Staats- und Parteiführung skeptisch-negativen Einstellung und der gedrückten Grundstimmung der Bevölkerung in der DDR muß die innere Sicherheitslage der DDR als stabil angesehen werden. Der staatliche Repressionsapparat funktioniert unverändert perfekt, die starke sowjektische Truppenpräsenz tut ein Übriges. 18 8 Löw, 2. A.
113
Die grundlegenden Veränderungen im Gefüge der Werthaltungen und Normen, der Institutionen, Machtverhältnisse und Verhaltensformen der politischen Ordnung, die ein totalitäres System hervorruft, beeinflussen das wirtschaftliche, soziale und wissenschaftliche Geschehen, das Menschenbild und den gesellschaftlichen Lebensstil so nachhaltig, daß schlechthin jedes gesellschaftliche-kulturelle Phänomen dieser totalitären politischen Systeme wissenschaftlich nur im funktionalen Zusammenhang mit dem Ganzen der Herrschaft untersucht und in seiner spezifischen Bedeutung erkannt werden kann. 19 In engster Bindung an die politische Ideologie, an die philosophischen Prämissen des kommunistischen Welt- und Menschenbildes wird die Wissenschaft in ihren für das Bestehen des Herrschaftssystems wesentlichen Fachrichtungen geistig gelenkt und politisch mobilisiert. Neben den Mitteln der social control, wie gesellschaftliche Organisation, Erziehung und Propaganda, wird schließlich die Wissenschaft selbst zum Herrschafts mittel erster Ordnung gemacht. Aufgrund einer Wissenschaftsauffassung, welche die "Anleitung zum praktischen Handeln" als vornehmste Aufgabe der Theorie definiert, wird der Wissenschaft eine doppelte Funktion zugesprochen: 1. Werkzeug der gesellschaftlichen Umgestaltung in der Hand der politischen Führung zu sein und 2. der intellektuellen Legitimation der Herrschaft, der Sicherung und Verfestigung der herrschenden Ideologie und damit der Beeinflussung von Verhaltensweisen zu dienen. Vor diesem Hintergrund gewinnen zunehmend die Prozesse der Gleichschaltung und Funktionalisierung des Wissenschaftsbetriebes mit der Zielstellung der Perfektionierung der Herrschaft an Bedeutung. Drei Prozesse stehen dabei im Mittelpunkt: 1. Strukturzusammenhang von kommunistischer Ideologie und parteigelenkter Theoriebindung; 2. Auswirkung der Lenkungsprinzipien der "Einheit von Theorie und Praxis" und der "Parteilichkeit der Wissenschaft" sowie deren Umsetzung in Forschung und Lehre (z.B. Universität und Akademie der Wissenschaften); 3. Prozesse der Umbildungen des theoretischen Fundaments der kommunistischen Bewegung im Vollzug totalitärer Gesellschaftspraxis. Auf diese Prozesse werde ich im Punkt Planung und Leitung der Wissenschaft genauer eingehen. Hier mögen sie genügen, um die Ideologie als Machtinstrument der SEDFührung aufzuzeigen. Monistische Herrschaftsstruktur, totaler Herrschaftsumfang und totale Herrschaftsausübung, Instrumentallsierung des Staatsapparates durch die SED-Führung
Artikel 1 der Verfassung der DDR, noch stärker das höherrangige SED-Parteiprogramm weisen die SED als sog. "Avantgarde der führenden Arbeiterklasse" und damit als die eigentliche Führungsmacht in Staat und Gesellschaft der DDR aus. Im staatlichen Betrieb, im Regierungssystem, ist diese Führungsposition der SED durch das Prinzip der Machtkonzentration und Gewalteneinheit sowie durch das Prinzip des 114
demokratischen Zentralismus konsequent durchgesetzt und wirksam abgesichert. Gerade durch dieses unantastbare Monopol der Führung in den Händen der SED gewinnt das DDR-Regierungssystem seinen spezifischen Instrumentalcharakter. Es bestätigt sich hier die allgemeine Aussage von K. Loewenstein20 , daß der Typ der" Versammlungsregierung" , wie er nach dem ursprünglichen Vorbild der französischen Revolutionsverfassung von 1873 in der Stalinschen Verfassung der Sowjetunion von 1936 für den kommunistischen Bereich übernommen worden ist, auf besondere Weise dafür geeignet ist, die autokratische Macht einer einzelnen Partei über das gesamte Regierungssystem zu etablieren und auf Dauer zu stabilisieren. So gibt es im politischen System der DDR, speziell in dem gesamten DDR-Regierungssystem keine "Inter-Organ-Kontrolle" im Sinne der Verfassungslehre von Karl Loewenstein. Die Herrschaftsstruktur
Für die gegenwärtige Herrschaftsstruktur in der DDR ist der Dualismus 21 von Partei und Staat kennzeichnend. Das grundlegende Organisationsprinzip der über 2 Mio. Mitglieder der SED ist der "demokratische Zentralismus". Nach Punkt 23 des Statuts beinhaltet dieser Grundsatz: 1. Wählbarkeit aller Parteiorgane und ihre Pflicht zur Berichterstattung. 2. Straffe Parteidisziplin und Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit. 3. Unbedingte Verbindlichkeit der Beschlüsse übergeordneter Parteiorgane.
Auf der zentralistischen Seite wird vor allem der Inhalt der Parteidisziplin erörtert, zu der namentlich das Fraktionsverbot gehört. In der Praxis der SED kommen allerdings fast ausschließlich die zentralistischen Merkmale zur Geltung. Wahlen werden durch Kooptation oder Ernennung ersetzt, die demokratischen Prozeduren zu einem substanzlosen Ritual verwandelt, die nachgeordneten Parteiorgane als Durchführungsorgane und die Parteimitglieder als Befehlsempfänger betrachtet. Der Parteiaufbau beruht auf dem Territorial- und Produktionsprinzip mit einem streng hierarchischen System. Das SED-Statut bezeichnet als "höchste Parteiorgane" den Parteitag, das Zentralkomitee, das Politbüro, das Sekretariat, die Zentrale Revisionskommission und die Zentrale Parteikontrollkommission. Die drei erstgenannten Organe sind als Beschlußgremien konzipiert. Der formale Delegationszusammenhang erweist sich in der Praxis als eine Umkehrung der Rangordnung und führt zur totalen Machtkonzentration beim Politbüro. Das Politbüro ist die eigentliche Kommandozentrale der Macht. Seine Machtvervollkommnung ist uneingeschränkt, da sie nicht aus irgendwelchen Rechtsvorschriften, sondern aus den faktischen Verhältnissen resultiert. Das Politbüro bestimmt die Richtlinien der Innen-, Außen-, Wirtschafts-, Sicherheits- und Kulturpolitik, der Ideologie und nimmt die Besetzung der wichtigsten Partei- und Staatsämter vor. Über die Grundsatzentscheidung hinaus kann es beliebige Einzelfragen an sich ziehen und entscheiden. Das Sektretariat, das formell ebenfalls vom Zentralkomitee gewählt wird, ist das Exekutivorgan des Politbüros. 115
Das Parteistatut umschreibt seine Funktionen als Leitung der laufenden Arbeit, hauptsächlich Durchführung und Kontrolle der Parteibeschlüsse und Auswahl der Kader. Das Sekretariat gliedert sich in Abteilungen, die im staatlichen Bereich mit Ministerien vergleichbar sind. Die Stärke des Sekretariats liegt in seinem engen Verhältnis zum Parteiapparat, dessen Beherrschung zum entscheidenden Machtfaktor werden kann; denn die Beschlüsse des Politbüros haben nur wenig Durchs ~ J:l ';:;
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Tabelle 3
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Weitere zentrale Organe 1} (mit Leitungsfunktionen auf Teilgebietenl
11 Industrie ministerien
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r-----------------.....r-+---1 IFA-Kombinat Nutzkraftwagen, Ludwigsfelde IFA-Rombinat Personenkraftwagen, Karl-Marx-Stadt IFA-Kombinat Spezialaufbauten und Anhänger IFA-Kombinat Zweiradfahrzeuge Kombinat "Fortschritt)) Landmaschinen, Neustadt Kombinat Nagema Verpackungsmaschinen.Schokoladenmaschinen, und Wägetechnik, Dresden Kombinat Haushaltgeräte, Karl-Marx-Stadt Kombinat Wälzlager und Normteile, Karl-Marx-Stadt Kombinat Medizin- und Labortechnik, LeibZig Kombinat Spezialtechnik, Dresden
Kohle und Energie Erzbergbau, Metallurgie, Kali Chemische Industrie Elektrotechnik, Elektronik Schwermaschinen- und Anlagenbau Werkzeug- und Verarbeitungsmaschinenbau Leichtindustrie Allgemeiner Maschinen-, Landmaschinen und Fahrzeugbau Bezirksgeleitete Industrle- und lebensmittelindustrie Glas- und Keramikindustrie Geologie
Wissenscha(~ und Technik, für Materialwirtschaft, die StaatssekretarIate für Arbeit und Löhne, für Berufsbildung, die Amter für Preise, für Standardisierung, Messwesen und Warenprüfung, für Erfindungs- und Patent wesen.
1) Die Ministerien für Aussenhandel, für Handel und Versorgung, für Finanzen. für
Quelle: A. Scherzinger, Planungssystem, in: DDR und Osteuropa, Ein Handbuch, Köln-Opladen 1981, S. 41.
138
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Tabelle 4
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RGW-Komplex-Aufgaben verantwortliche/internationale Kooperationspartner
Leiter d. Forschungsgrundeinheiten (ForschungsalJfgabenverantwortliche)
ForschungsDereichsleiter (Leiter v. Grossforschungsvorhaben AdW-F-Beauftragte für (mehrere) WK/WTK/Programme\
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Hauptbeziehungen der Forschungseinrichtungen bei der Forschungsplanung
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Staatliches Komitee für Rundfunk
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Presseamt beim Vorsitzenden des Ministerrates
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Politbüro der SEO Abteilungen beim Zentralkomitee der SEO
Quelle: Zahlenspiegel, Bundesrepublik Deutschland/Deutsche Demokratische Republik - Ein Vergleich. Hrsg. Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, 2 . aktualisierte Auflage 1982, S. 76.
Anleitung der Massenmedien in der DDR (ohne Betriebszeitungen, Zeitschriften und Wochenpresse)
Zentralorgan der SED "Neues Deutschland" '", "'. Allgemeiner . . - Deutscher Bezirkspresse der SED Nachrichten14 Bezirkszeitungen dienst in 219 Kreisausgaben; ADN 1) "Berliner Zeitung"; "BZ am Abend"
7abelle 5
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..Bauem-Echo"; 'insges.1 Zeitung .
080: Zentralorgan
LOPO: Zentralorgan "Der Morgen"; i~sges. 5 Zeitungen
NOPD: Zentralorgan ••National-Zeitung" insges. 6 Zeitungen
COU: Zentralorgan ,:Neue Zeit"; inSges, 7 Zeitungen
Presse der Blockparteien
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Volksgruppe Sorben "Nowa Doba"
FOJ ..Junge Welt"
FOGB ..Tribüne"
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Presse der Massenorganisationen
+ '4
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Fernsehen der DDR I. Programm Femsehen der DDR U. Programm
1) Einzige Nachrichten- und Fotoagentur in der DDR. Quellen: 37; 38;39
..••.• ~Sprachregelungen, vor allem durch Textvorgaben
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• Radio DDR I, 11, und Berliner Rundfunk • Stimme der DDR • Radio Berlin International
MARTIN KRIELE
Die linksfaschistische Häresie - Zum Totalitarismus in Nicaragua* Der Gegensatz zwischen der aufgeklärten und der schwärmerischen Befreiungsidee - der unser Jahrhundert bestimmende Grundkonflikt - hat sich seit dem ersten Erscheinen dieses Buches weiter zugespitzt, vor allem auch in der inner kirchlichen Auseinandersetzung um die Befreiungstheologie und den künftigen Weg Lateinamerikas. Zwei kirchliche Instruktionen zu diesem Thema lehren, die Geister zu unterscheiden.! In der ersten Instruktion liegt der Schwerpunkt auf der Abgrenzung gegen die schwärmerischen, in der zweiten auf den positiven Hervorhebung der aufgeklärten Elemente der Befreiungstheologie. In den Medien fand man häufig die Version: die Kirche habe zwischen 1984 und 1986 eine Wende von der Verwerfung zur Bejahung der Befreiungstheologie vollzogen. In Wirklichkeit ergänzen beide Instruktionen einander und bilden zusammen eine Einheit. Die Instruktion von 1984 enthält die Ankündigung der positiven zweiten, diese eine ausdrückliche Bestätigung der abgrenzenden ersten Instruktion. Beide zeigen erneut die Versöhntheit von Kirche und politischer Aufklärung. Der seit den 60er Jahren unaufhaltsam erscheinende Siegeszug der schwärmerischen Befreiungsbewegung bricht sich aber nicht nur am Fels der Kirche, sondern auch an praktischen Erfahrungen. Allenthalben wächst die Tendenz zur Redemokratisierung der lateinamerikanischen Staaten. 2 Die Wirklichkeit in den "befreiten" Ländern Kuba und Nicaragua - nämlich zunehmende Unterdrückung und Verelendung - wird nicht mehr überall einfach nur verdrängt, sondern - wenn auch zum Teil noch widerstrebend - verarbeitet. Dies weckt das Interesse an den rechts- und staatsphilosophischen Hintergründen des Geschehens. Das Argument, wer die Befreiungsbewegung kritisch durchdenke, trete für eine "reaktionäre Kirche der Reichen" ein, verfängt nicht mehr. Die Diskussion gewinnt an Sachlichkeit, Verantwortlichkeit und Tiefe. Um den aktuellen Problemstand zu skizzieren, muß man zunächst an den Ausgangspunkt, den Übergang von der Theorie des "desarrollo" (Entwicklung) zur Theorie der "dependencia" (Abhängigkeit) in den 60er Jahren anknüpfen3 : Trotz der Entwicklungshilfe wurde die Armut größer, öffnete sich die Schere zwischen arm und reich weiter. Die Enttäuschung, ja Verzweiflung darüber machte aufnahmebereit für die Theorie, derzufolge sich die Armut der Dritten und der Reichtum der Ersten Welt gegenseitig bedingen: Die wirtschaftliche Abhängigkeit der Dritten Welt von den Industriestaaten, vor allem die Lateinamerikas von den USA, beruhe auf kapitalistischen und imperialistischen Ausbeutungsstrukturen. Von diesen gelte es, sich zu befreien. Eine Reihe von Tatsachen verlieh dieser Lehre ihre Überzeugungskraft: z. B. Verdrängung einheimischer Ökonomie durch internationale Konzerne, Erscheinungsformen eines in Lateinamerika durch einen ordnungspolitischen und sozialrechtlichen Rahmen .. Bei diesem Beitrag handelt es sich um das Nachwort zu M. Kriele: wBefreiung und politische Aufklärung, Plädoyer für die Wünsche des Menschen", 2. Auflage 1986, Verlag Huber, Freiburg/Br.
142
kaum gebändigten Frühkapitalismus, Interventionen der USA in :f..ateinamerika, Diktaturen im Namen der "nationalen Sicherheit" usw.. Es gab und gibt in der Tat politische und wirtschaftliche Strukturen, ohne deren Überwindung keine Aussicht auf Besserung besteht. Die lateinamerikanischen Bischofskonferenzen von Medellin (1968) und Puebla (1979) bekannten sich deshalb zu einer "Option für die Armen", und das hieß auch: zu einem politischen Engagement der Kirche für eine Befreiung von ungerechten Strukturen. Auch der Papst stimmte ausdrücklich zu. Ein lebendiges religiöses Leben in den Basisgemeinden artikulierte sich in den verschiedenen Varianten einer "Theologie der Befreiung", die, von deutschen Theologen vielfältig beeinflußt, von Lateinamerika nach Deutschland zurückstrahlte, wo sich eine idealistische Jugend mit dem Befreiungskampf der Dritten Welt solidarisierte. Vom Standpunkt der politischen Aufklärung war dies eine Entwicklung, die an sich zu Optimismus Anlaß gegeben hätte. Indes hat sich in dieser Befreiungsbewegung immer deutlicher ein schwärmerischer Ast in den Vordergrund geschoben, der sich sowohl von der politischen Aufklärung als auch vom Christentum entfernte und sich aus marxistischen, faschistischen und häretischen Komponenten zusammensetzte.
Die Ursachen der Armut Am Anfang stand die naiv-unkritis~he Übernahme der "dependencia-Theorie" in einer Gestalt, die die komplexen Probleme maßlos simplifizierte. Die Armut Lateinamerikas hat ja in Wirklichkeit vielfältige Ursachen, von denen die meisten mit der "Abhängigkeit von den USA" nichts zu tun haben. Wir kennen z. B. aus der Religionssoziologie seit Max Weber den Hintergrund der - im Sinne des modernen Industrialismus - "rückständigen" katholischen Länder nicht nur der Lateinamerikas, sondern auch etwa Spaniens und Portugals. Wir kennen die lateinischen großbürgerlichen Traditionen mit ihrem Mangel an sozialer Verantwortung und ihrer Anfälligkeit für reaktionäre Diktaturen. Wir kennen die unterentwickelte Sozialstaatlichkeit, aber auch die Nichtanwendung gerechter Gesetze durch korrupte Behörden, die Ausnutzung von Unwissenheit und Wehrlosigkeit der Armen, den spanischen Hochmut gegenüber den Indianern. Wir kennen die Einflüsse von Bevölkerungsvermehrung, Klima und ethnischen Besonderheiten, von Landflucht und Slumbildung in den Großstädten, von den Unzulänglichkeiten des Schulwesens und Gesundheitswesens. Wir kennen die Bedeutung von Handwerk und Mittelstand für die wirtschaftliche Entwicklung, den Segen von Agrarreform und Landverteilung - kurz, den Facettenreichtum der internen Probleme. Mit manchen von ihnen haben wir es in kleinerem Rahmen auch bei der Integration der iberischen Völker in die Europäische Gemeinschaft zu tun. Für Probleme dieser Art können die Amerikaner nicht, im Gegenteil: sie haben ihre Hilfsbereitschaft vielfach unter Beweis gestellt. Wenn man es mit der Überwindung von Verelendung und Unterdrückung ernst meint, so gilt es, die konkreten Probleme konkret anzupacken. Die simple Idee, an allem Übel sei monokausal die "Abhängigkeit" von den USA schuld, trägt statt dessen mit begeisterndem Schwung über die konkreten Probleme hinweg und macht ihre Lösung unmöglich. Aber Problemlösungen wurden als "Reformismus" verurteilt, der von der wirkli143
chen und endgültigen Befreiung vom Grundübel ablenke, nämlich von Marktwirtschaft und Privateigentum. "Befreiung" heißt nunmehr: Überwindung des "Kapitalismus" durch den "Sozialismus". Diese primitive dependencia-Theorie war in den Moskauer Propaganda-Zentren formuliert worden und ist auf die machtpolitischen Interessen des Sowjetimperialismus zugeschnitten. Ihre Hauptträger waren und sind aber vor allem Theologen und andere Intellektuelle mit großem moralischem Anspruch, aber ohne ökonomischen Sachverstand und politischer Urteilskraft. Aus ihrer Popularität bei ebenfalls unwissenden (und z.T. von ihnen selbst desinformierten) Menschen zogen sie den Schluß, sie seien die legitimen Anwälte der Armen und Unterdrückten. Sie haben aber die Armen und Unterdrückten in den "Sozialistischen" Ländern einfach aus dem Bewußtsein verdrängt. "Befreiung" hieß am Ende nur noch: Befreiung von der "bürgerlichen" Denk- und Lebensweise, auch wenn damit zunehmende Verelendung und schlimmere Unterdrückung einhergehen. "Einsatz für die Armen und Unterdrückten" wurde zur Chiffre, die meint: Kampf für sozialistische Herrschaftsmacht. In der Meinung, diese Art Befreiungskampf sei originär lateinamerikanisch und könne nur aus der aktiven Teilnahme heraus beurteilt werden, schnitten sich diese Schwärmer bewußt von der Tradition der politischen Aufklärung ab. 4 Die an Menschenrechten und Gewaltenteilung orientierte Demokratie galt ihnen als "europäische" und folglich unbeachtliche, ja gefährliche Idee, die dem Aufbau des Sozialismus im Wege stehe und Anti-Kommunismus zur Folge habe. Durch Aufklärung über die europäischen Erfahrungen mit dieser Art Sozialismus werde, so heißt es, "den lateinamerikanischen Christen auf neokolonialistische Weise vorgeschrieben, daß sie das Christentum auf die Weise des bürgerlichen Katholizismus Europas zu verwirklichen haben" (Norbert Greinacher).5 Also bleiben sie ungewarnt, bis sie - irreversibel - hereingefallen sind. Die Simplifikationen der dependencia-Theorie erzeugen ein Freund-Feind-Denken, in dem sachliche Argumente unwirksam werden. Der Feind steht in Washington, der Freund in Moskau. Diese marxistische Parteilichkeit bedeutet Inhumanität in dreierlei Hinsicht: Erstens die Verweigerung der Anerkennung des naturrechtlichen Anspruchs des Menschen, im Rechtszustand und nicht unter einer Willkürherrschaft zu leben Zynismus -, zweitens die Verweigerung der brüderlichen Solidarität mit den Millionen Opfern kommunistischer Herrschaft - Unbarmherzigkeit -, drittens die vorbereitende Mitwirkung an der Verführung anderer Völker, ja ganzer Kontinente in den Totalitarismus - Verantwortungslosigkeit. Der LInksfaschismus
Obwohl diese Art von "Befreiungsbewegung" im Kern marxistisch ist, ist sie doch von zahlreichen Elementen durchsetzt, die uns zugleich auch aus der Geschichte des Faschismus und Nationalsozialismus vertraut sind: Volksmystik (einschließlich" Volkskirche", "Volksgerichtshof" usw.), Führerkult (Fidel Castro wird "der Führer" genannt), Gewaltverherrlichung (der Guerilla mit der Kalaschnikow als Symbol christlicher Befreiung), ein an die Hexenverfolgung erinnernder Zurechnungswahn, der alle Übel, einschließlich der selbstverschuldeten, auf die Machenschaften des "Feindes" zurückführt 144
(an die Stelle der "jüdischen Weltverschwörung" ist der "amerikanische Imperialismus" getreten), hemmungslose Propaganda, Meinungskontrolle und Diffamierung, irrationalistische Verachtung von Vernunft und Wissenschaft (insbesondere von Rechtswissenschaft und Nationalökonomie), freiwillige Parteidisziplin mit Blockwartsystem (Komitee zur Verteidigung der Revolution), Sturmtrupps ("turbas"), Aufmärsche mit Liedern, Fahnen und Parolen ("Führung befiehl!"), Aufbruchstimmung in eine neue Zeit mit einem neuen Menschen, bedingungslose Parteinahme für die Herrschenden, Gleichgültigkeit gegenüber den Verfolgten. Auch in der zugehörigen Kunst finden wir jene eigentümliche Mischung von Heroismus, Idealismus, Sentimentalität, Selbstmitleid und Herzenskälte. Nicht zufällig gehört der Gründer der faschistischen "Blauhemden" Nicaraguas, der Dichter Jose Coronel Urtecho, der einst sang: "Somoza, du bist schöner als die Sonne" und: "Ich möchte einmal wählen, um nie wieder zu wählen", heute zu den am höchsten gefeierten Dichtern der sandinistischen Revolution. 6 Auch die Etablierung des Nationalsozialismus wurde ja als "Befreiung" gedeutet. Die westlichen Demokratien mit ih'ren aufklärerischen Institutionen von Gewaltenteilung und Menschenrechten galten als Inbegriff ungerechter Strukturen, die mit Plutokratie, Wallstreet-Kapitalismus, bourgeoisem Egoismus und "Zinsknechtschaft" die Armut und Unterdrückung des Volkes verschuldet hätten. Der nationale Sozialismus galt als Befreiung von diesen Strukturen und als chiliastischer Anbruch eines tausendjährigen Reiches der Freiheit. Und auch dies bildet eine Parallele: Die Zahl der wirklich überzeugten Nazis schätzt man verhältnismäßig klein, doch auf jeden von ihnen kamen hunderte von Mitläufern und Beschwichtigern, die sich für deren Idealismus und gute Absichten verbürgten, die um Verständnis vor allem für die befreiungsbegeisterte Jugend warben, die rieten, mit der Zeit zu gehen und das Beste daraus zu machen, die vor Polarisierung warnten und sich um Vermittlung bemühten, die Demokraten als konservativ und reaktionär verspotteten, und bei denen der Wunsch nach Popularität und Teilhabe am großen Gemeinschaftserlebnis größer war als Einsicht und Verantwortung. Diesen wohlmeinenden Beschwichtigern verdankte Hitler den Triumph, den er allein mit seinen Fanatikern nie erreicht hätte. Die Verschmelzung von Faschismus und Marxismus ist nicht überraschend, wenn man weiß, wie verwandt beide Bewegungen in ihren totalitären Staatssystemen sind und wieviel gegenseitige Entlehnungen es auch ideologisch von Anfang an gab. In den 20er und 30er Jahren standen sich zwar beide Bewegungen als feindliche Zwillinge gegenüber - als einander heftig bekämpfende Rivalen im Befreiungskampf gegen den gemeinsamen Feind. Zwar unterschieden sich beide nicht nur inhaltlich, sondern auch im Niveau: der Marxismus kann mit Recht einen höheren intellektuellen und moralischen Anspruch erheben und übt seine bezaubernde Verführungskraft auf sensiblere und geistigere Menschen entsprechend wirksamer aus. Ungeachtet dessen aber ist der gemeinsame Nenner beider Bewegungen die Ersetzung der Rechtsidee durch die Parteilichkeit und damit die Verwerfung der Achtung vor Menschenwürde, Freiheit und Gleichberechtigung. Ihr späteres Bündnis im Hitler-Stalin-Pakt war konsequent und wurde von Stalin auch gehalten: erst Hitlers Bruch erzwang das an sich unnatürliche Bündnis zwischen Westmächten und Sowjetunion. 10 löw. 2. A.
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Diese handelt in ihrem anti-westlichen Kampf aber nach wie vor folgerichtig, wenn sie sich mit der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung, trotz ihrer faschistischen Elemente, verbindet.7 Es bedurfte nur geringer ideologischer Konzessionen, um Denkstrukturen und psychologische Motivationen faschistischer Prägung in den Leninismus einzubinden und zu einem "Links-Faschismus" zu verschmelzen, der keineswegs nur Militärdiktaturen, sondern vor allem die Redemokratisierung Lateinamerikas bekämpft. Dieser sowjetischen Expansionspolitik kamen andererseits die faschistischen Denk- und Motivationsstrukturen von sich aus entgegen. Denn für sie sind zwei Elemente wesentlich: die Orientierung auf einen starken imperialistischen Staat und auf die geschichtliche Endsiegerwartung hin. Nach der endgültigen Niederlage der nationalsozialistischen und faschistischen Systeme in Europa bedurfte es einiger Jahrzehnte der Umorientierung. Als sich aber im Vietnamkrieg der Sieg der Kommunisten abzeichnete und die Überzeugung durchsetzte, der Sozialismus werde - weltgeschichtlich unaufhaltsam - in der Dritten Welt siegen, begann die faschistische Anlehnung an die großmächtige und siegreiche Sowjetunion, der "Abbau des anti-kommunistischen Feinbilds" und die Wiederbelebung des alten anti-amerikanischen Feindbilds. So konnten die faschistischen Strömungen zugleich Kontinuität wahren und zwanglos mit dem Prosowjetismus zusammenfließen. Westliche Demokraten werden mit folgender Formel beschwichtigt und gewonnen: Man müsse erst die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen" Voraussetzungen" für Demokratie und Gewaltenteilung schaffen. Das bedeutet praktisch: Die sozialistischen Herrscher stellen sich keiner Wahl und unterliegen keiner Effizienzkontrolle, sie sind niemandem Rechenschaft schuldig, auch wenn sie das Land in größeres Elend, in Terror, Krieg und Bürgerkrieg führen. Das Volk ist zum Schweigen verurteilt, lebt ohne Rechtssicherheit in Angst vor Verhaftung, Folter und Mord. Auch wenn sich die marxistische und die faschistische Rechtfertigungsideologie in einzelnen Elementen, insbesondere in der Akzentuierung der Zentralverwaltungswirtschaft, unterscheiden, so haben sie doch die staatsrechtliche Grundstruktur gemeinsam. Wenn man deshalb das politische System, auf das die schwärmerische Befreiungsbewegung zustrebt, als "Linksfaschismus" bezeichnet, so hat dieser Begriff keine polemische Bedeutung, sondern dient als sachliche politologische Kennzeichnung. Er besagt dreierlei: 1. Die Machtstrukturen weisen alle typischen Merkmale faschistischer Herrschaft auf. 2. Politik und Ideologie sind aber zugleich sowjetorientiert und sowjetgestützt. 3. Faschismus und Marxismus sind ideologisch und organisatorisch zu einer Einheit verschmolzen; das Engagement für die Armen und Unterdrückten mündet in Parteinahme für die Mächtigen und Privilegierten in den "befreiten", d. h. sozialistischen Staaten. - In diesem Sinne hat der Begriff "Linksfaschismus" also eine viel substantiellere Bedeutung als in seiner ursprünglichen Prägung durch Jürgen Habermas, der ihn nur auf naziähnliche Turbulenzen linker Studenten bezog. Er kennzeichnet den Staatstypus, den diese Befreiungsbewegung anstrebt, und die Methoden der Agitation und Propaganda, die seiner Unterstützung dienen.
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Beispiel: Nicaragua Nicaragua ist die Probe aufs Exempel: Die Befreiung von der Somoza-Tyrannei führte nicht in die Errichtung einer Demokratie mit Gewaltenteilung und Menschenrechten, sondern in einen totalitären "nationalen Sozialismus" mit eindeutiger Sowjetorientierung,s Das staatsrechtliche System sieht so aus: a) Es gibt keine Gewaltenteilung. Die neun Kommandanten sind gleichzeitig Gesetzgeber (sie regieren durch Dekrete), Chefs der Exekutive (einschließlich Wirtschaftsverwaltung, Militär, Polizei, geheimer Staatspolizei, Gefängnissen und politischen Sondergefängnissen) und Chefs der Partei (einschließlich ihrer Unterorganisationen, wie Sandinistische Staatsgewerkschaft, Sandinistische Jugendorganisation, Blockwartsystem - "Komitees zur sandinistischen Verteidigung", Volksgerichtshof - "tribunal popular"). b) Es gibt keine Demokratie. Die neun Kommandanten stellen sich keinen Wahlen. Sie leiten ihre Legitimation aus der Revolution von 1979 her, als das Volk ihnen zujubelte. Nachdem sie das Land in Terror, wirtschaftlichen Niedergang, außenpolitische Isolation und Bürgerkrieg geführt haben, riskieren sie nicht ihre Abwahl. Die Wahlen vom November 1984 bezogen sich nicht auf die Machthaber, sondern erstens auf den Staatspräsidenten und den Vize-Präsidenten, die als solche reine Repräsentativfunktion haben (die Machtstellung von Staatspräsident Ortega beruht darauf, daß er einer der neun Kommandanten ist), zweitens auf die "Nationalversammlung", die aber nicht, wie ihr Name nahelegt, Gesetzgebungsorgan, sondern ein reines Beratungsorgan ist: sie hat insbesondere die Aufgabe, einen Verfassungsentwurf vorzubereiten, der allerdings an den entscheidenden Machtstrukturen nichts ändern soll. Für die Demokratie ist entscheidend, daß das Volk die maßgeblichen Gesetzgebungsund Exekutivorgane wählt. Wenn eine Wahl, die diese unangetastet läßt, als "Beweis für die Demokratisierung Nicaraguas" ausgegeben wurde, so spiegelt sich darin jener andere Demokratiebegriff, wie er sowohl von faschistischen als auch von marxistischen Diktaturen verwandt wird. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Hinweise auf eine Manipulation der Wahlen: Behinderung des Wahlkampfes durch "turbas" (SA-ähnliche Brüll- und Schlägertrupps), durch Pressezensur und sandinistisch gesteuerte Medien, Einschüchterung der Bevölkerung durch die Komitees zur sandinistischen Verteidigung, mangelnde Geheimheit (die Registernummer des Wählers wurde auf dem Wahlschein vermerkt, außer wenn Wahlbeobachter zuschauten), unkontrollierte Stimmenauszählung. 9 Deshalb kann diese Wahl nicht einmal als "Akklamation" zu den - nicht zur Wahl stehenden unumschränkten Machthabern gewertet werden. c) Die Menschenrechte werden nicht geachtet. Die bürgerlichen und politischen Rechte scheitern sowohl an mangelnder Bindung der Exekutive an ein rechtsstaatliches Normensystem als auch an mangelnder persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit der Richter. Willkürliche, keine Grundrechte achtende Gesetzgebung, darüber hinaus Willkür der Behörden, der Milizen, der Parteiorganisationen und der geheimen Staatspolizei sowie parteigesteuerte Sondergerichte führen zur Einschüchterung der Bevöl147
kerung, zu willkürlichen Verhaftungen, zu zahlreichen Fällen von Folterungen und "Verschwindenlassen", zu umfassender Vorzensur. Auch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte werden nicht geachtet: Alle staatlichen Gewährungen und Erlaubnisse hängen von den Empfehlungsschreiben ("cartas de recomendaci6n") der Blockwarte ab, die eine strikte sandinistische Gesinnungskontrolle durchführen: Gewerbeerlaubnis, Arbeitserlaubnis, Erlaubnis zur Beschäftigung von Personen, Gewährung von Krediten, Führerschein, polizeiliches Führungszeugnis, Studienimmatrikulation, Stipendien, Reiseerlaubnis und - zwar inoffiziell, aber faktisch - Lebensmittelkarten und ärztliche Versorgung. Darüber hinaus hat die Wirtschaftspolitik zu erheblicher Ineffizienz der staatlichen Produktion und Verteilung und zu zahlreichen Zusammenbrüchen privater Firmen geführt. Dies, im Zusammenhang mit der Militarisierung des Landes, hat die Versorgung der Bevölkerung mit den elementarsten Gütern des täglichen Bedarf erheblich eingeschränkt.lO Der durchschnittliche Lebensstandard der Armen ist auf weniger als ein Viertel gesunken. Amerikanische Boykottmaßnahmen haben zur Verschärfung der wirtschaftlichen Situation weiter beigetragen, sind aber nicht, wie die Propaganda behauptet, die entscheidende Ursache der Verelendung, die schon vor diesen amerikanischen Maßnahmen eingetreten war und vor allem infolge des wirtschaftspolitischen Unverstands der Regierenden weiter voranschreitet. Die Sandinisten haben mit ihrer Nichtachtung der Menschenrechte einen Flüchtlingsstrom ohnegleichen ausgelöst: Die Schätzungen liegen bei mindestens 400000 und gehen bis zu 600000 bei einer Gesamtbevölkerung von 2,9 Millionen Einwohner. Sie haben darüber hinaus zuerst die Indianer der Ostregion, dann die Bauern des Nordens und Südens, schließlich fast die gesamte Kirche und demokratisch gesinnte Mehrheit der Bevölkerung in die Opposition und zu einem erheblichen Teil sogar in den bewaffenten Widerstand getrieben. Die sandinistische Regierung rechtfertigt einige besonders eklatante Menschenrechtsverletzungen mit dem "Ausnahmezustand", den sie im März 1982 proklamiert und im Oktober 1985, obwohl er ohnehin schon bestand, erneuert hat. Sie begründet den Ausnahmezustand mit der amerikanischen Unterstützung des Widerstands und schreibt auf diese Weise ihre eigenen Menschenrechtsverletzungen mittelbar dem amerikanischen Feind zu. Ihre These lautet: Die Sandinisten hätten das Volk in "demokratische" Unabhängigkeit geführt, dies habe den Amerikanern nicht gefallen, ihre Agenten hätten das Volk zum Aufstand verleitet, zu dem es von sich aus gar keinen Grund gesehen und mit dem es sich selbst ins Unglück gestürzt habe. Erst die amerikanische Unterstützung des Widerstands hätte die Regierung dann zur Ausrufung des Ausnahmezustandes und zu den bedauerlichen Repressionen veranlaßt. In Wirklichkeit ist die zeitliche und kausale Reihenfolge umgekehrt: Die Repression begann unmittelbar nach der sandinistischen Machtübernahme und steigerte sich in den Jahren 1980/81 so intensiv, daß es zum Aufstand und zu den Flüchtlingsströmen kam. Erst dann haben die Amerikaner - lange Zeit zögernd - die Widerstandskämpfer zu unterstützen begonnen. 148
Die Proklamation des Ausnahmezustandes tarnt nur die ohnehin unumschränkte Herrschaft der neun Kommandanten. Ein Ausnahmezustand hat seine Funktion in einem demokratischen Verfassungsstaat: Er suspendiert dort vorübergehend die bürgerlichen und politischen Rechte. Wird er aufgehoben, wie in Argentinien, so tritt die demokratische Verfassung wieder in Kraft, die bürgerlichen und politischen Rechte gelten erneut und die Wahlen beziehen sich auf den Gesetzgeber und tatsächlichen Machthaber. Würde in Nicaragua der Ausnahmezustand aufgehoben, so würde sich überhaupt nichts ändern: Die neun Kommandanten sind und bleiben unumschränkte Machthaber mit oder ohne ihn - ohne Gewaltenteilung, ohne Demokratie und ohne Respektierung der Menschenrechte. Die häretische "Befreiungs"-Theologie
Der schwärmerische Zweig der lateinamerikanischen Befreiungsbewegung erhält seine politische Stoßkraft erst durch die Unterstützung jener "Befreiungstheologie", die den christlichen Glauben in die politischen und weltanschaulichen Zusammenhänge des Linksfaschismus einschmilzt, ihn ihnen ein- und unterordnet, ihn umdeutet und instrumentalisiert. Einen vergleichbaren Vorgang finden wir in der Bewegung der "Deutschen Christen", gegen die sich die Barmer Theologische Erklärung vom 31. Mai 1934 gerichtet hat. Diese Erklärung verwarf in sechs Punkten "falsche Lehren", und alle diese Lehren begegnen uns in der heutigen Befreiungstheologie von neuem. l1 Mehr noch: wir erleben in ihr eine Auferstehung fast aller großen Häresien der Geschichte, die sich bündeln und gemeinsam mit Marxismus und Faschismus zu einem neuen großen Sturm auf das Christentum antreten: von der rigoros gesinnungsethischen Weltverachtung der Marcioniten über die Leugnung der Göttlichkeit Christi der Arianer Gesus, der Revolutionär) bis zum chiliastischen Streben nach Errichtung des himmlichen Jerusalem auf Erden der Schwärmer ("ubi Lenin, ibi Jerusalem").12 Auch der "liberale" Protestantismus, der sich aus den von den großen Reformatoren geprägten Traditionen "emanzipiert" hat und der schon das Hauptreservoir bildete, aus dem sich die Wählerschaft Hitlers rekrutierte 13 , liefert wieder Nachwuchs. Die Regel, wonach die Radikalen die Aktivsten sind und Verbände und Dachverbände - je höher, desto eindeutiger beherrschen, bewirkt, daß vor allem die politische Arbeit des ökumenischen Weltrats der Kirchen von Doppelmoral geprägt ist: Engagement für die Armen und Unterdrückten entfaltet sich in einer luxuriösen internationalen Tagungsbetriebsamkeit, gespeist aus den Opfergroschen der Gläubigen, erstreckt sich aber nicht auf die Armen und Unterdrückten in den "sozialistischen" Ländern, da diese ja schon befreit sind. Unheilvoll wirkt sich auch hier wieder die in der calvinistischen Tradition begründete Geringschätzung für Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit aus.!. Aber auch der "Lutherische Weltbund" hat die "Hauptursachen der sozialen ökonomischen Ungerechtigkeiten" in folgendem Bilde eines Baumes anschaulich zu machen versucht: "Die Wurzeln bilden die Sünde, der Stamm trägt den Namen Kapitalismus, die Baumkrone entfaltet sich in den Ästen der dependencia. "15 Demnach wäre man im "Sozialismus" von den Hauptursachen der sozialen und ökonomischen Ungerechtigkeiten befreit? Luther hätte sich gegen diesen Mißbrauch seines Namens gewiß mit allen Kraftworten der deutschen Sprache zur 149
Wehr gesetzt. Heute erheben die letzten gläubigen Lutheraner nur noch verschüchterte Einwände. Neue Überbietungen kommen hinzu und mischen sich in die Befreiungstheologie hinein: die" Theologie ohne Gott"16, oder die ausdrückliche Verherrlichung des "schöpferischen Hasses". Wer zudem noch in Nordkorea und Vietnam den Tyrannen geschmeichelt und die Armen und Unterdrückten dort übersehen hat, ist würdig, auf dem ökumenischen Weltkongreß die deutsche Theologie zu repräsentieren und die Dritte Welt zum Kampf gegen die Demokratie aufzurufen. Auch im katholischen Raum erzeugte das linksfaschistische Engagement einen geistigen Sog, in dem Priester, Ordensleute und Theologen abtrünnig werden, während sie aber zumeist ihre Ämter und Funktionen behalten und dann "Pluralismus und Toleranz in der Kirche" fordern.17 Ich habe im 7. Kapitel meines Buches "Befreiung und politische Aufklärung" ihre Denkmodelle an Beispielen dargestellt. Diese wären um zahlreiche weitere zu ergänzen, die sich jedoch alle am selben Grundmuster orientieren. Gegen ihre Verführungskünste leistet die Kirche zunehmend Widerstand, insbesondere dort, wo sie die in ihrer Konsequenz liegende Kirchenverfolgung unmittelbar zu spüren bekommt, insbesondere in Nicaragua. Vor allem ihr Erzbischof, Kardinal Obando, ein volksverbundener Indianer aus dem Campesino-Milieu, Anhänger der (aufgeklärten) Befreiungstheologie, Gründer der Basisgemeinden, engagierter Kämpfer schon gegen die Somoza-Tyrannei, wurde zum Fels, an dem sich die Wogen der Häresie brechen. Seine ruhige, menschenfreundliche, auf Frieden und Ausgleich bedachte, in Fragen des Glaubens und der Menschenrechte aber unbeugsame Haltung machte ihn zum Hindernis für die linksfaschistische U mfunktionierung der Kirche. Er ist heute der Hauptfeind der Häretiker, die ihn, unterstützt von der Welt der Ungläubigen, mit überlegener Medienmacht vergeblich in die Knie zu zwingen versuchen. Leider ist er auch der Stein des Anstoßes für all die vielen Beschwichtiger, die einen Mittelweg suchen zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Recht und Unrecht, zwischen Wirklichkeit und Propagandawelt, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge. Indes muß man eher seine sanfte Geduld und sein Bemühen anerkennen, selbst noch in den Häresien einen verständlichen Ansatz und ein edles Motiv aufzuspüren. Johannes oder Paulus haben Sünder zwar zurechtgewiesen, Umdeuter des Glaubens aber aus der Gemeinschaft der Christen verwiesen. Und wie reagierte Moses, als er vom Berge Sinai herabstieg und der Nachgiebigkeit Aarons, dem er sein Volk anvertraut hatte, ansichtig wurdeps Was würde Moses heute über die Frechheit derer sagen, die sich in immer neuen Wendungen auf den "Exodus" aus Ägypten als symbolisches Vorbild berufen, wenn sie die Menschen in das Sowjetsystem, das heutige "Haus der Hörigkeit", hineinzulocken versuchen? Die Erde würde von seinem Zorn erbeben. Das größte Ereignis, dessen Zeugen wir gegenwärtig sind, besteht aber in der Treue des nicaraguanischen Volkes zur Kirche und in seiner entschiedenen Abwendung von der sog. "Volkskirche" , die fast nur noch die Kirche der ausländischen Intellektuellen ist. Die sandinistische "Volkskirche" hat zwar einen großen Anhang im Volk, aber nicht im eigenen, sonderno im deutschen Volk. Selbst der Hauptvertreter der schwärmerischen
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Befreiungstheologie, Gutierrez, distanzierte sich von dieser Volkskirche l9 ; als reiner Gesinnungsethiker will er mit den vorhersehbar gewesenen praktischen Konsequenzen seiner Lehre nun nichts mehr zu tun haben, wie wir das auch von den idealistischen Kommunisten und Nazis her kennen. Wem es mit der "Option für die Armen und Unterdrückten" ernst ist, der wird sich von dem aus marxistischen, faschistischen und häretischen Elementen zusammengesetzten schwärmerischen Zweig der "Befreiungstheologie" entschieden trennen. Teilhabe an ihr verhilft zwar heute noch zu großer Popularität in unseren Medien und auf internationalen Tagungen, führt aber die Armen in größeres Elend und die Unterdrückten in schlimmere Unterdrückung. Daran mitzuwirken ist weder vernünftig noch ehrenhaft noch christlich. Der Weg der politische Aufklärung - der Weg über Menschenrechte, Gewaltenteilung und Demokratie - ist zugleich der Weg der konkreten Problemlösung. Er ist zwar mühsamer, aber allein erfolgversprechend. Und deshalb ist er allein der Weg der sozialen Verantwortung und der Achtung vor der Würde des Menschen. Anmerkungen 1) Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über .elnIge Aspekte der ,Theologie der Befreiung'" vom 6. August 1984; Instruktion über christliche Freiheit und Befreiung vom 22. März 1986. Ihr Hauptverfasser, Kardinal Ratzinger, hat sich in Vorträgen und Aufsätzen oft auf dieses Buch bezogen. Vgl. auch die Stellungnahme des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Höffner: Soziallehre der Kirche oder Theologie der Befreiung? vom 24.9.1984, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. 2) Vgl. Dieter Nohlen, Militärregime und Redemokratisierung in Lateinamerika; Heinrich-W. Krumwiede, Militärherrschaft und (Re)-Demokratisierung in Zentralamerika, heide in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament vom 1.3.1986. 3) Vgl. zum folgenden etwa Raul Fornet-Betancourt: Zur Geschichte und Entwicklung der lateinamerikanischen Philosophie der Befreiung, Concordia 1985, S.78 ff.; Reinhard Frieling, Befreiungstheologien, Göttingen 1984. 4) Dom Pedro Casadaglia, der führende Pro-Sandinist unter den Bischöfen Brasiliens, entwarf die .Grundzüge des neuen Menschen". Punkt 1 - also wohl der wichtigste - lautet: "Der neue Mensch verhält sich ,total kritisch' gegenüber den vermeintlichen Werten, den Medien, dem Konsum, den Strukturen, den Verträgen, den Gesetzen, den Verhaltensregeln, dem Konformismus, den Gewohnheiten." (Vgl. Eduardo Bonnin - Hg. -, Spiritualität und Befreiung in Lateinamerika, 1984, S.204 ff.) Wie anders Paulus: .Prüfet alles und behaltet das Beste". Zur menschlichen Reife gehört, Vater und Mutter zu ehren, und das heißt auch: aufgeschlossen und dankbar zu sein für alles Wahre, Gute und Weise, das uns die Tradition zu vermitteln vermag. 5) Norbert Greinacher (Hg.): Konflikte um die Theologie der Befreiung, 1985, S.12. Der Vertrieb dieses Buches ist z. Z. durch Gerichtsbeschluß unterbunden. 6) .Mit dieser Revolution gewinnen wir auch die eigene Geschichte zurück, die uns genommen wurde; die historische Würde unserer Rasse, unserer Nation", so singt dieser .Dichter und große alte Mann der nicaraguanischen Poesie" heute: Hermann Schulz, Nicaragua, eine amerikanische Vision, Reinbeck 1983, S.79. 7) Vgl. z. B. Wassilij N. Pasika: Die Theologie der Befreiung, in: Voprosy Filosofi I, 1985, S.99 ff., deutsch in: üsteuropa, 1985, S.A 598 ff.. 8) Vgl. hierzu M. Kriele, Nicaragua - das blutende Herz Amerikas, Serie Piper-Aktuell, Nr.554, 1985, 4. Aufl. 1986, vor allem das 2. Kapitel "Macht und Menschenrechte", insbesondere die Abschnitte 1 (Das politische System, S. 41 ff.), 2 (Die vier Herrschaftselemente, S. 45 ff.) und 7 (Sind die Sandinisten Marxisten-Leninisten?, S.78 ff.). Wie es der "CIDSE-Bericht" (der internationalen Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Solidarität) über Nicaragua vom August 1983 formuliert: "Natürlich versteht die
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Mehrheit der Bevölkerung die ,Revolution' nicht ganz, noch ist sie von ihren Zielen überzeugt. Obwohl sich alle einig waren, Somoza zu stürzen, erwarteten viele Menschen eine Veränderung in Richtung auf ein demokratisches Regime, das anderen westlichen Regierungen ähnlicher sein würde ... ,Was tatsächlich geschah, war eine wirkliche Revolution.'" Abgedruckt bei Norbert Greinacher (Hg.): Konflikte um die Theologie der Befreiung, 1985,5.280,284. 9) Vgl. Kriele, M.: Nicaragua - das blutende Herz Amerikas, 5.52 ff .. 10) Der nicaraguanische Kulturminister und suspendierte Priester Ernesto Cardenal besingt in einem neueren Gedicht wDie leeren Regale" in den Supermärkten: •... In ihnen gibt es weder nützliche noch unnütze Dinge, aber sie sind voller Opfermut, voller Stolz, die leeren Regale. Der Stolz, fast könnte man sagen: die Überheblichkeit eines Volkes, die leeren Regale. usw." Minister Cardenal gehört freilich zu den Privilegierten, die zu ihrem Höchstgehalt Dollarzuschläge und Zugang zum .Dollarshop" erhalten, einem Supermarkt, in dem es alles gibt, was das einfache Volk entbehren muß. 11) Vgl. M. Kriele, Die Präzedenzwirkung der Barmer Theologischen Erklärung, in: Kultusminister des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Barmer Theologische Erklärung und heutiges Staatsverständnis, Dokumentation einer Veranstaltung des Kultusministers in Wupp~rtal am 30. Mai 1984, Köln 1986. 12) Vgl. hierzu Rupert Hofmann, Die eschatologische Versuchung, Zur politischen Theologie nach Ernst Bloch, in: Die neue Ordnung 1986, 5.54 ff. (gekürzt, vollständig veröffentlicht in spanischer Sprache in .tierra nueva", estudios social-teologica en america latina, publicaci6n trimestral de Cedial - Centro de Estudios para el Desarrollo e Integraci6n de America Latina, Bogod., Colombia). 13)'Hierzu: M. Kriele, Staatsphilosophische Lehren aus dem Nationalsozialismus, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, Beiheft Nr.18, 1983,5.210 ff. 14) So formulierte z.B. die Presbyterianisch-Reformierte Kirche Kubas, gestützt vom Reformierten Weltbund und vom Weltrat der Kirchen, 1977 ein wneues Glaubensbekenntnis", in des es u. a. heißt: wDie marxistisch-leninistische Revolution hat bewiesen, daß sie der einzige Weg ist, der die technologische und ökologische Entwicklung ermöglicht und die Unterentwicklung mit Erfolg beendigt." (3 D. 07) Das Glaubensbekenntnis drückt seine .Freude" aus über wdie Festigung und die Entwicklung des ,sozialistischen Lagers' in der Welt von heute" und über wdie Ausdehnung und Intensivierung der antiimperialistischen Befreiungskämpfe". (4.B.07). Vgl. Klaus Stock (Hg.), Kubanisches Glaubensbekenntnis, 1980. Siehe hierzu bei Fußnote 12. 15) Hierzu kritisch: Martin Honecker, Wirtschaftliche Abhängigkeit - aus der Sicht der Theologien der Befreiung und der evangelischen Sozialethik, in: Jürgen Ern, Michael Spangen berg (Hg.), Theologien der Befreiung, Köln 1985, 5.71 ff. 16) Vgl. z. B. Dorothee Sölle: .Ist der radikal-kritische und zugleich neue Möglichkeiten der Befreiung eröffnende Gehalt des Satzes ,Gott ist tot' verstanden, so ist der Weg zu ,Gott ist rot' nicht mehr weit.", in: D. Sölle, K. Schmidt, Christen für den Sozialismus, 1975, S.14. 17) Als die nicaraguanischen Priester-Minister, die sich weigerten, ihr politisches Amt niederzulegen, von ihrem Priesteramt suspendiert wurden, sandte ihnen eine Konferenz der deutschen katholischen Studentenpfarrer ein Solidaritätstelegramm - eine Brüskierung des Papstes und eine Nichtachtung des kanonischen Rechts. 18) Valent in Tomberg beschreibt dieses Urmodell des Konflikts so: wWährend Moses oben, auf dem Berge, dem offenbarenden Gott gegenüberstand, stand Aaron unten, am Fuße des Berges, dem kollektiven Volkswillen gegenüber. Und während Moses die göttliche Offenbarung in die Sprache der menschlichen Begriffe und Vorstellungen übersetzte, übersetzte Aaron den Inhalt des kollektiven Volkswillens in die Sprache der Begriffe und Vorstellungen, die sich auf Anbetung des Göttlichen, auf Kultisches bezogen. Das Ergebnis waren das ,Goldene Kalb' und der Reigen des Volkes mit Gesang um das Standbild herum. - Was waren Bedürfnis und Sehnsucht des Volkswillens, die auf diese Art befriedigt wurden? Es war das urdemokratische Streben, ein Höheres anzubeten und ihm zu gehorchen, das man selbst gewollt hat, das aus dem eigenen Willen hinausprojiziert und geschaffen worden ist - das eine Inkarnation des ureigenen kollektiven Volkswillens ist, die eben deshalb Autorität hat, weil sie Inkarnation des kollektiven Volkswillens ist. Es war die Sehnsucht, nicht in einer verkündeten, ,dogmatisch aufgezwungenen', durch Moses empfangenen und weitergegebenen Offenbarung die höchste Autorität zu sehen, sondern im kollektiven Volkswillen, der eben dadurch überzeugt, daß er in allen Gliedern des Volkes gegenwärtig ist. Seine Gebote heißen nicht ,Du sollst', sondern ,Wir wollen'. Der an wenige Auserwählte offenbarte und von ihnen verkündete ,Gewissens-
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gott' wurde durch den ,Willensgott' ersetzt. Das Gewissen ist ja dem Willen bekanntlich eine Bürde des Zwangs, eine schwer zu tragende Last. Darum der frohlockende Reigentanz des Volks um das goldene Standbild - Ausdruck der Erleichterung des Volkes über seine ,Befreiung'. " (Valentin Tomberg, Die Verkündung auf dem Sinai - Der Bund und die Gebote - in: Lazarus, komm heraus, Basel 1985, 5.131.) 140. 19) Die" Volkskirche" in Nicaragua sei keine Ausdrucksform der" Theologie der Befreiung". Ein Denkprozeß könne niemals .mechanisch auf eine konkret sichtbare Erscheinungsform übertragen werden". Die Ansicht, .daß das, was jetzt in Nicaragua geschieht, ein Ergebnis der Befreiungstheologie ist", sei abzulehnen: KNA Nr.57 vom 7. März 1986.
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Weltanschauungen und Totalitarismus
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ALEXANDER SCHWAN
Vom totalitären Geist der Utopie Politische Utopie zielt auf die vollständige Verwirklichung eines absolut gelungenen Lebens aus eigenem menschlichem Vermögen in der irdischen Welt. Zwar hat der Erfinder des Begriffs, der christliche Politiker, Denker und Märtyrer 1bomas Morus, mit der ironischkritischen Skizzierung eines vollkommenen Gesellschaftszustandes auf der Insel "Utopia" noch das Nirgendwo, das Unerreichbare, gemeint, eine Art regulativer Idee, in deren Lichte die konkrete Politik und die tatsächlichen Zustände und Praktiken einzuschätzen und zu korrigieren seien. In ähnlichem Geiste sind während der nachfolgenden Jahrhunderte bis in die Zeit der Aufklärung Utopien als Mittel und Maßstab von Kritik und Korrektur konzipiert worden, am eindringlichsten, zugleich mit vernunftgemäß-selbstkritischer Vorsicht in Kants Spätschrift "Zum ewigen Frieden". In ihr scheint die Utopie des Weltbürgertums und universellen Friedensstaates als Idee auf, um die Richtung auf eine realistische Annäherungsbewegung hin zu einem Völkerbund freiheitlicher Republiken zu weisen. Doch seit dem 19. Jahrhundert verstehen wir unter politischer Utopie mehr, eine radikalere Version des absoluten Anspruchs auf Erfüllung. Dieser Anspruch will sich integral und total in der Zukunft realisieren und legitimiert dazu den Einsatz aller geeigneten Mittel, auch gewaltsamer. Diese Art der Utopie wird tendenziell totalitär, wie der Marximus gezeigt hat, und faktisch totalitär, wie bei dessen Umsetzung in die politische Praxis der leninistische und stalinistische Kommunismus erwies und bis heute erweist. Ich will im folgenden zuerst auf die noch ambivalente Frühform utopischen Denkens bei 1bomas Morus eingehen, um anschließend diesen neuen, gegenwartsnahen totalitären Geist der Utopie an Karl Marx, sodann auch an den Spät marxisten Ernst Bloch und Her· bert Marcuse zu demonstrieren. Der Totalitarismus als politisches System aus dem Geist der Utopie, also der leninistische und stalinistische Kommunismus selbst, ist dagegen hier nicht mein Thema.
I. Utopie als Gesellschaftskritik: Thomas Morus
Mit seiner 1516 erschienenen Schrift" Von der besten Staatsverfassung und von der neuen Insel Utopia", seiner "Utopie" hat 1bomas Morus eine neue literarische Gattung und politische Denkrichtung begründet; er hat ihr sogar erst den Namen gegeben, wenn er auch auf Platons Idealstaatskonstruktion dabei zurückgriff. Mit eben diesem Werk sieht sich die achtunggebietende Gestalt in die Sphäre so mancher Auseinandersetzungen und Zweifel gezogen. Andererseits hat es gerade diese umstrittenste, aber auch berühmteste seiner Schriften bewirkt, daß er aus der Reihe gleichsam "normaler" christlicher Heiliger und Märtyrer herausgehoben ist, daß man sich seiner über die kirchlichen Grenzen hinaus stets von neuem und bis heute besonders erinnert. Zur ganz großen geschichtswirksamen Gestalt ist Thomas Morus nicht zuletzt wegen seiner Utopie geworden. Doch damit bekam diese Gestalt zugleich ambivalente, schillernde, schwierige Züge. 157
Sozialistische und marxistische Autoren, von Karl Kautsky bis Ernst Bloch, haben Morus für ihre Theorien in Anspruch nehmen wollen. Konservative Interpreten bemühten sich im Gegenzug um den Nachweis, daß er ganz mittelalterlicher Gesinnung verhaftet gewesen sei, und haben Werk, Wirken und christliches Zeugnis zu harmonisieren versucht. Eine dritte Grundrichtung, der ich zuneige, versteht ihn primär als Zeugen seiner Zeit, der das große Anliegen verfocht, den frühneuzeitlichen Humanismus mit dem überlieferten Glauben zu verknüpfen. Ich meine im Blick auf "Utopia", daß Thomas Morus einem neuen Denken - mit dessen Licht- und Schattenseiten - angehört und Spannungen auszutragen hatte, die er nicht aufzulösen vermochte. Die Bewohner der auf den Entdeckungsreisen des historisch ja verbürgten italienischen Seefahrers Amerigo Vespucci angeblich mitentdeckten fiktiven Insel "Utopia" führen ein "vorbildliches" Gemeinschaftsleben. Sie leben in weitgehender ökonomischer Gleichheit, ohne Privateigentum und Geldverkehr, mit streng geregeltem Tagesablauf, beschäftigt mit nach einheitlichen Kriterien zugeteilter Arbeitskleidung (unwillkürlich denkt man an Maos China), in einheitlich nach gleichförmigem Straßenschema angelegten Städten, mit gelenkter Geburtenplanung, frühzeitiger Trennung der Kinder von den Eltern, kurz in einer alle individuellen und familiären Bande faktisch auflösenden Einheitsgesellschaft. Grundlegende Voraussetzung für deren Funktionieren ist das Bedürfnis nach konfliktfreier Harmonie. Niedere Dienste aber werden Sklaven - Verbrechern und Gefangenen - zugewiesen. Kriege führt man nur für Freunde, nicht für eigene Interessen. Bei materieller Genügsamkeit bringen es die Inselbewohner doch zu beträchtlichem Wohlstand und nicht zuletzt deshalb auch zu geistigem Wohlbehagen, geselliger Fröhlichkeit, gemeinschaftlicher Freude. Es handelt sich also um eine phantastische Kombination von Askese und Epikuräertum, von Frugalität und Behaglichkeit, polemisch zugespitzt gesagt: von Kaserne und Schlaraffenland. Sorgsam wird darauf geachtet, daß keiner dem Müßiggang verfällt; doch alle leben angeblich in innerer Freiheit. Neben diesen abstrusen, ja überwiegend abstoßenden Zügen gibt es in Morus' Utopie auch sehr schätzenswerte: Vernunft und Religion gelten als vereinbar, und vor allem werden Religionsfreiheit und geistige Toleranz gefordert und praktiziert. Der eigentliche Sinn dieser Konstruktion - die in ihrem illusionären Charakter abwegig erscheint und exemplarisch den Ungeist von Utopie repräsentiert, weil Freiheit primär doch durch Zwang bewirkt und damit verfehlt wird - liegt aber bei Thomas Morus in ihrer kritischen Funktion. Darin kommt ihre konkrete Bedeutung, ihr nachvollziehbarer Geist zum Ausdruck. Indem aufgezeigt wird, wie es anders sein könnte, entlarvt der Autor die Zustände seiner Zeit. In einem nachgeschobenen Stück, das dann als erster Teil dem zweiten der eigentlichen Utopie vorgeschaltet wurde, spricht er das auch deutlich aus. Dieser Teil ist der eigentlich faszinierende der Schrift. Thomas Morus prangert die Zustände im damaligen England schonungslos an: die hemmungslose Bereicherung und Verschwendungssucht auf Seiten der Könige, der Großgrundbesitzer, auch bei Teilen des aufstrebenden Bürgertums, demgegenüber die zunehmende Armut, Verelendung und Verrohung der Landbevölkerung. Damals wurden durch die Einhegung des Landes (enclosures) und den massiven Übergang vom Ackerbau zur Weidewirtschaft viele Bauern um ihre Arbeit und Einkünfte gebracht.
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Hier nun liegt das Besondere des neuzeitlichen Ansatzes dieser Kritik und des utopischen Gegenmodells: Thomas Morus zeigt, daß gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen das materielle, moralische und geistige Leben der Bevölkerung, ja ihre politische Verfassung mitbestimmen (nicht ausschließlich determinieren, aber doch stark prägen). Moralischer Verfall ist nicht der Masse des Volkes anzulasten, sofern es nicht Herr seiner Geschicke ist, sondern sozialen Zuständen, in denen die Herrschenden und Reichen ihren egoistischen Launen frönen. Damit verknüpft Morus den ethischen Zugang der alten, seit Aristoteles datierenden Praktischen Philosophie, die in ihrer Ordnungstheorie stets zwischen Gemeinwohlorientierung und Eigennutz der Machthaber unterschied, mit dem neuen wissenschaftlichen Interesse an den Funktionsbedingungen von Herrschaft, wie es bei seinem großen zeitgenössischen Antipoden, dem Florentiner Niccolo Machiavelli , ungeschminkt zur Sprache kam. Des Thomas Morus humanistisches und christliches Anliegen aber richtete sich darauf, die armen Schichten ihrer Not zu entheben und stärker zu Mitregenten ihrer Belange zu machen. Die in der "Utopie" entfaltete Gesellschafts- und Herrschaftskritik konnte gemäß solchem Verständnis über des AutorsZeit hinaus zum Anstoß einer sozialen und politischen Freiheitsbewegung werden. Diese Bewegung hob zwei Jahrhunderte später mit der Aufklärung an. Das utopische Gegenmodell hat dagegen unheilvoll gewirkt. Zwar gibt Thomas Morus seiner Insel eben den Namen U-topia, das heißt: Nicht-Ort, Nirgendwo. Es handelt sich hier noch nicht um eine existente oder herzustellende Wirklichkeit, eher um ein Gedankenspiel, um das Konstrukt eines lediglich denkmöglichen Anderen. Sofern dabei Unerreichbares vorgestellt ist, wäre Kants Denkfigur der regulativen Idee, wie anfangs schon bemerkt, seine adäquate Fortsetzung: der "ewige Friede" als die richtungsanweisende, aber empirisch selbst unrealisierbare Idee, die gleichwohl den pragmatischen Weg zur Gründung freiheitlicher Staaten und zu ihrer wechselseitigen Annäherung in einem Völkerbund weist. So weit so gut. Aber Morus tut mehr. Er konzipiert eben doch die "beste Staatsverfassung" bis in die Einzelheiten, und zwar mit hermetischer Stringenz. Er läßt seinen Philosophen Hythlodaeus (den "im Unsinn Erfahrenen", einen Narren von beinahe Shakespearescher Fasson) zwar sagen, er wolle die utopischen Einrichtungen nur darlegen, nicht rechtfertigen, doch sei "nirgends das Volk tüchtiger, nirgends der Staat glücklicher als dort", und es gebe "in der Verfassung der Utopie sehr vieles, was ich in unseren Staaten eingeführt sehen möchte; freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung"! (Vgl. Thomas Morus, Utopia. ReclamAusgabe Stuttgart 1983, S.101 u. 148). Damit hat Thomas Morus dem (Miß-)Verständnis doch Vorschub geleistet, als seien es die inhaltlichen Kollektiv- und Harmonieideale, auf die hin in einliniger Ausrichtung die kritischen Zustände seiner Zeit überwunden werden müßten und allein behoben werden könnten. Auf diese Weise hat Morus' "Utopia" Unheil gestiftet. Sie hat immer wieder zu ihrem Teil intellektuelle "Eliten" ermutigt, aus dem Vorauswissen des richtigen und total Anderen mit aller Schärfe und Härte gegen die bestehenden Verhältnisse anzurennen und utopische Inhalte doktrinär, ja diktatorisch in Politik umsetzen zu wollen.
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11. Utopie als Wissenschaft: Karl Marx
Die Kette dieser im Terror endenden Versuche beginnt in der Französischen Revolution mit den Jakobinern. Danton, Robespierre und Baboeuf sind die ersten Vollstrecker des von Morus auf die Bahn gebrachten neuzeitlichen utopischen Denkens. Die nächste große - durchschlagende - Bewegung war und ist der marxistisch-leninistische Kommunismus seit der Bolschewistischen Revolution. Maos Kulturrevolution und die vielfältigen, allerdings stets vergeblichen anarchistischen Bestrebungen (von der Pariser Commune bis zum Spanischen Bürgerkrieg) wären als weitere Experimente des Utopismus hervorzuheben. Bei vielen inhaltlichen Unterschieden sind diese alle dadurch einheitlich charakterisierbar, daß mit ihnen Utopie (das Nirgendwo) genau genommen in "Eutopie" (die "gute" Stätte des irdischen Paradieses) übergeht. Der Ausgriff auf die unerfüllte ideale Zukunft verschmilzt mit dem mehr oder minder plan vollen, den Einsatz aller Mittel rechtfertigenden Angriff auf ihre vollständige Herstellung hier und jetzt oder bald, in absehbarer Zeit. In der entschiedensten, eindrucksvollsten und bedenklichsten Weise geschieht das gerade dort, wo die "Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" proklamiert wird: so der Titel eines Aufsatzes von Friedrich Engels, der wie Karl Marx die Halbheiten und Inkonsequenzen der Frühsozialisten als Utopien abqualifiziert, um die Absetzbewegung für eine Geschichtstheorie und Politik zu schaffen, die ihre eigene utopische Konzeption mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit - und zwar der einzig echten Wissenschaftlichkeit - verbindet und damit in höchste Vermessenheit steigert. Jetzt soll die ferne Zukunft wirklich realisiert werden, und zwar vollständig und in absoluter menschlicher Selbstrnacht. Insofern gilt von jetzt an ausdrücklich die Aussage Kar! Kerenyis, daß die Utopie ausschließlich der humanistischen (d. h. der den Menschen ganz und gar aus sich verstehenden) Gedankenwelt zuzuordnen sei (vgl. Karl Kerenyi, Ursinn und Sinnwandel des Utopischen, in: Eranos-Jahrbuch 1963, Zürich 1964, S.10). Der junge Marx verschreibt sich einem revolutionären »kategorischen Imperativ, alle Ver· hältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verächtliches Wesen ist". Als notwendige philosophische Voraussetzung für seinen revolutionären Impetus aber erkennt Marx mit Ludwig Feuerbach den Grundsatz, daß "der Mensch selbst" als "Wurzel für den Menschen" angesehen werde, daß folglich "der Mensch das höchste Wesen für den Menschen" sei, nicht dagegen Gott oder ein anderer höchster Wert. Dieser radikale Humanismus vollendet alle neuzeitliche Kritik der Religion und der Metaphysik, indem er Gott, das Sein und die Welt zu Geschöpfen des Menschen erklärt und es ablehnt, den Menschen weiterhin als ein Geschöpf Gottes oder der Natur zu interpretieren (MEW, Bd. I, S. 385: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung). Die Konsequenz aus solcher philosophischen Voraussetzung lautet, daß der Mensch zum Produzenten seines eigenen Seins und Wesens wird. Das ist der Kerngehalt der Marxschen Anthropologie. Seine umfassende Bedeutung wird von Marx jedoch in einer Reihe von Reduktionsschritten immer mehr eingeengt, und zwar aus dem unbedingten Interesse an der tatsächlichen Verwirklichung der Utopie. Ich kann diese Schritte hier nur kurz skizzieren: Die Selbstproduktion, Selbstverwirklichung, Selbstdarstellung des Menschen (seine wesentliche Lebensaufgabe und Lebensleistung) wird festgemacht in der Produk160
tion solcher Produkte (der Natur), die der Mensch in seinen Besitz bringt und genießt, womit er sein Leben reproduziert; diese Produktion ist elementar und primär materielle Produktion und erst abgeleitet und sekundär auch geistige: Selbstproduktion wird somit zentral zur Reproduktion durch Arbeit; der sich selbst herstellende und verwirklichende Mensch ist Wesen der Arbeit. Die Arbeit aber entfremdet den Menschen an die Natur, die Arbeitsteilung entfremdet ihn an die Gesellschaft und gegenüber dem anderen Menschen, der bei Marx originär nur als Mitproduzent in der arbeitsteiligen Produktion begegnet. Es kommt dann um der Selbstverwirklichung des Menschen willen auf Befreiung aus der Entfremdung, also auf Emanzipation an, und zwar auf die Emanzipation von der Beherrschung durch die Natur und durch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das Ziel der Emanzipation liegt in der radikalen Umwandlung dieser Beherrschung des Menschen zugunsten seiner vollständigen Herrschaft über Natur und Gesellschaft. Damit wird der Humanismus absolut. Er vollendet sich, wie Marx sagt, in der "Reintegration des Menschen" und der "Resurrektion der Natur" unter der Herrschaft der "Sozialvernunft". Und dann gilt: "vollendeter Naturalismus = Humanismus" und "vollendeter Humanismus = Naturalismus", d.h. Mensch und Natur gelangen in ihre Wesensvollendung, Menschheits- und Naturgeschichte (die Naturgeschichte als bloße Vorgeschichte der Menschheitsgeschichte) in ihr Ziel, wenn die äußere und die menschliche Natur total humanisiert, d. h. der vollständigen Verfügung des gesellschaftlich in der richtigen Weise, nämlich in der klassenlosen Gesellschaft organisierten Menschen unterstellt ist (vgl. MEW, Erg. bd.I, S.536 ff.: Ökonomischphilosophische Manuskripte). So universal folglich auch wiederum die Idee der Emanzipation und des in ihr kulminierenden" vollendeten Humanismus" gefaßt ist, Marx reduziert sie ebenfalls aus dem dominanten Bedürfnis nach praktischer Umsetzung und Realisierung; mit ihr wird zugleich der Gedanke der menschlichen Selbstverwirklichung weiter verengt: Die so absolut gedachte Aufgabe der Emanzipation ist für Marx überhaupt nur lösbar, wenn sie als Aufgabe der menschlichen Gattung in der Geschichte, d. h. in der Zukunft gedacht wird. Menschliche Selbstverwirklichung und Emanzipation reduzieren sich faktisch auf eine Angelegenheit des Kollektivs Menschheit, das sie im Laufe eines revolutionären Geschichtsprozesses dereinst zu vollbringen hat. Wenn Natur und Geschichte von Marx radikal anthropozentrisch gewertet werden, so erweist sich als ihr eigentliches Zentrum ein Kollektiv, die Gattung. Natur und Geschichte sind Substrat der Produktion und Reproduktion der Gattung, die sich unter Entfremdungs-, d. h. Ausbeutungs-, d. h. Klassenherrschaftsverhältnissen abspielen. Forttreibend, fortschrittlich ist in der Geschichte der Kampf der unterdrückten gegen die herrschenden Klassen, in der Gegenwart der Kampf des Proletariats gegen Kapital und Bourgeoisie. Dem Proletariat allein obliegt deshalb jetzt und in Zukunft die Emanzipation, und da in Marx' Analyse die proletarische Entfremdung als die geschichtliche "Spitze aller Entfremdung" erscheint, führt seine emanzipatorische Mission zur menschli· chen Emanzipation überhaupt. Die proletarische wird zur geschichtlich, humanistisch, ja geradezu ontologisch privilegierten Klasse der Emanzipation schlechthin, ihre revolutionäre Praxis zur Praxis der menschlichen Selbstverwirklichung überhaupt, und zwar auf dem Wege der dadurch legitimierten "Diktatur des Proletariats". Da aber schon bei Marx 11 Löw, 2. A.
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und Engels das Vertrauen, daß das gesamte Proletariat diese Mission auch tatsächlich übernehmen wird, schwach entwickelt ist, so sehr es als das allein berechtigte "Subjekt der Geschichte" gilt, müssen die Kommunisten als sein bewußtester und aktivster Teil, als seine Vorhut (die bereits bei Marx und Engels deutliche Züge einer Partei des Proletariats und zugleich über dem Proletariat besitzt) diese Aufgabe politisch übernehmen (vgl. MEW, Bd.4: Manifest der Kommunistischen Partei). Schließlich wird so durch die Ahnherren des Marxismus-Leninismus, nicht nur durch seinen politisch entscheidenden Theoretiker und Praktiker, durch Lenin (seit der parteitheoretischen Programmschrift "Was tun?" von 1902/1903), dieser radikale, absolute, emanzipative Humanismus zugunsten der Legitimierung unbeschränkter, weil mit dem Schein geschichtlicher Notwendigkeit ausgestatteter Diktatur, ja totalitärer Herrschaft einer prinzipiell unappellablen Organisation und ihrer Führung verraten. Der universale Anspruch des Marxschen Humanismus und die Kette der um seiner Realisierung willen unternommenen Reduktionen zeitigen zusammen dieses Ergebnis ebenfalls mit Notwendigkeit. Die Theorie und Praxis radikaler Emanzipation von allen bisher geltenden Bindungen schlägt in neue, und zwar um so schärfere Entfremdung um.
111. Utopie als metaphysische Vision: Ernst Bloch Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre hat geltend gemacht, daß man die Dialektik menschlicher Freiheitsgeschichte (eine in seiner Sicht ganz ungesetzmäßige Dialektik) nicht nach Art des "Diamat", beginnend mit Engels und weltanschaulich systematisiert unter Stalin, auf die Natur, das Sein, die Welt im Ganzen übertragen dürfe. Ein Marxist, der eben dies zu tun beabsichtigt, aber in einer vom Dialektischen Materialismus sich abhebenden, ihn weiterentwickelnden "humanistischen" Form, ist Ernst Bloch. Bloch geht wie Marx vom Bild des Menschen als eines noch nicht festgestellten Wesens aus, das in der Zukunft liegt~ Der Mensch ist "Aufgabe" und "ein riesiger Behälter voll Zukunft" (Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M.1980, S.135). Aber er ist es bei Bloch "zusammen mit seiner Umwelt", mit der gesamten Natur. Doch daß dies so ist, daß das "Prinzip Hoffnung" auf die ganze Welt als metaphysisches Prinzip des ontologischen Werdens und Noch-Nicht-Seins übertragbar erscheint, liegt im zukünftigen Wesen des Menschen begründet. Zwar muß die materielle Natur in sich die Möglichkeit einer Zielgerichtetheit bergen, sie ist ein Ort von "Strahlungen" und "Gestalten", deren Substanz sich erst bildet, aber dies aktualisiert sich unter der Führung der menschlichen Subjektivität, durch die Entwicklung des Bewußtseins und HandeIns, die zum Schöpferischsten der Schöpfung wird (vgl. Zur Ontologie des Noch-Nicht-Seins). Blochs Hauptwerk "Das Prinzip Hoffnung" schließt mit der Apotheose: "Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heiSt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch ... "(8.1628).
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Was Sartre als eine Aufgabe der Wahl jedes Individuums hier und jetzt auffaßt, das wird von Bloch also (mit Marx) in die gesamte Menschheitsgeschichte verlegt und (über Marx hinaus) auf eine im Stande ihrer Vollendung in der "rechten", unentfremdeten, klassenlosen Gesellschaft erst beginnende, ganz neue Welt- und Naturgeschichte projiziert. Naturgeschichte ist nicht wie im orthodoxen Marxismus bloß die Vorgeschichte der menschlichen Geschichte, sondern - als ganz und gar hominisierte - die Nachgeschichte, besser: die eigentliche Geschichte als die Geschichte einer verheißenen, aber jetzt noch nicht auszumachenden Zukunft. Zum Angelpunkt dieser Anthropo-Ontologie der Hoffnung wird eine extensive Auslegung von Marx' bekanntem, von uns im IL Abschnitt bereits herangezogenen Diktum aus den Philosophisch-äkonomischen Manuskripten, daß dem Menschen in der kommunistischen Gesellschaft "sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen" werde, so daß diese Gesellschaft beanspruchen könne, "die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur" zu sein. Die Natur ist dann dem Menschen ganz dienstbar geworden, der Mensch ist in keiner Weise mehr Sklave der Natur, er hat sie sich vielmehr ganz und gar anverwandelt und untergeordnet (MEW, Erg. bd.I, S.538). Diese Gesellschaft in der so vorgenommenen Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur nun erklärt Bloch zur unverzichtbaren Voraussetzung der weiteren, der ganz neuen Welt- und Naturgeschichte. Ist die Geschichte der fernen Zukunft somit offen auf Hoffnung hin - und zwar total offen wegen der gänzlichen Konturenlosigkeit ihres Noch-Nicht-Seins -, so kennt die menschlich-politische Geschichte bis dorthin - also die Voraussettung ihrer Ermöglichung solche Offenheit gerade nicht: sie ist im Sinne streng gesetzmäßiger Entwicklung zur kommunistischen Gesellschaft hermetisch festgelegt. Deshalb konnte Bloch lange Zeit den Stalinismus als eine notwendig erscheinende Periode dieser Entwicklung durchaus rechtfertigen. Im Namen einer fernen, qualitativ anderen, deshalb sich vorerst entziehenden ZukuJIft kann das Handeln hier und jetzt diktatorisch und dogmatisch formiert werden. Vorbehalte dagegen wären kleingläubig vor dem "Geist der Utopie", der entgegen allem Bestehenden, Gegegenwärtigen und Seinshaften das unausgewiesene Versprechen auf ein unendliches Werden und Anderssein gibt. In dieses Versprechen ist auch die Verheißung einer Überwindung des Todes als des Signums menschlicher Endlichkeit zumindest mythologisch eingeschlossen (vgl. Das Prinzip Hoffnung, S.1355 ff., 1378 ff., 1385 ff.). Bloch skizziert das Bild einer total gelungenen Identität, zu der wir gelangen wollen, die Vision eines vollkommenen Menschentums, das das ganze Universum beseelt und neu schafft und deshalb an die Stelle Gottes treten kann, die Projektion eines neuen Äons als Folge nicht mehr religiös-transzendenten, sondern revolutionär-immanenten Bewußtseins, das aus der Anthropozentrik in kosmische Eschatologie und Apokalyptik sich ausweitet. Der polnische Philosoph Leszek Kolakowski meint zu Recht, diese "kommunistische Kosmologie" mit ihrer Aufhebung der Phänomene Sterblichkeit, Endlichkeit und Unvollkommenheit sei" wohl das (euphemistisch ausgedrückt) leichtfertigste Versprechen, das jemals im Namen irgendeiner politischen Bewegung abgegeben wurde"; Blochs Gedanke müsse einer christlichen Philoso11'
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phie "als ein Ausdruck wahnwitziger Hoffart erscheinen" (Die Hauptströmungen des Marxismus, Bd.ill, München 1979, S.475 f., 487). IV. Utopie als Erziehungsideologie: Herbert Marcuse
Dasselbe ist von Herbert Marcuses Theorie der Emanzipation zu sagen. Ihre Vorstellung vom zukünftigen Reich vollständiger menschlicher Freiheit und Naturbeherrschung ist ebenfalls noch emphatischer und dezidierter als bei Marx. Es soll dies das Reich einer durch nichts mehr - keinerlei "Zwänge" des Mangels, der Arbeit, der Leistung, der sozialen Unterdrückung, der politischen Herrschaft, der staatlichen Ordnung, der natürlichen Abhängigkeit - gehemmten Befriedigung der individuellen "Bedürfnisse", der libidinösen Triebstruktur nach gänzlich beliebigem Gutdünken sein. In Kritik und Umkehrung von Sigmund Freuds anthropologischem Grundmodell proklamiert Marcuse den unbeschränkten Sieg des "Lustprinzips" über das "Realitätsprinzip". Ungehindertes Ausleben aller menschlichen Triebenergien soll möglich werden durch die vorherige ungemessene Steigerung technologisch gesteuerter Produktivität (hier berührt sich Marcuse mit modernen technizistischen Utopien), was eine entsprechend weitreichende und tiefgreifende Ausschöpfung, ja Ausbeutung der äußeren Natur, ihren gänzlichen "Umbau" zu menschlichen Zwecken einschließt, und dies trotz gleichzeitigen Abbaus des Leistungsund Herrschaftsprinzips. Vor allem aber soll emanzipatorische Erziehung die bisherige, an die vielen "Unterdrückungsmechanismen" gewöhnte menschliche Natur selbst umwandeln, geradezu umschaffen zu jener neuen Qualität, die sie im Sinne vollkommener individueller Bedürfnisartikulation und -befriedigung zu erreichen hat: eine strikt objektiv verstandene Forderung, deren Erfüllung sich der Kompetenz des schlichten Individuums, des bloßen Subjekts entzieht. Die Subjekte müssen vielmehr von kompetenten Erziehern allererst in die Lage versetzt werden, sich hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und deren emanzipierter Befriedigung selbst zu bestimmen (vgl. Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1967, Zweiter Teil). Deshalb kann Erziehungsdiktatur durchaus ein angemessener Weg zur Emanzipation sein. Das (zukünftige) individuelle Glück ist keineswegs einfach "die Sache des Individuums" selbst (Kultur und Gesellschaft, Bd.II, Frankfurt/M. 1966, S.131 und ff.). Ja, Marcuse sagt mehr: Im Kampf um die "Freiheit", insofern "im Interesse des Ganzen gegen partikuläre Interessen der Unterdrückung kann Terror zur Notwendigkeit und Verpflichtung werden". Terror und revolutionäre Gewalt erscheinen gegebenenfalls - wann, das entscheiden die emanzipatorischen Erziehungsdiktatoren - "nicht nur als politisches Mittel, sondern als moralische Pflicht" (S.134). Was dermaleinst sich spielerisch und lustvoll ereignen soll, das muß also mit allen geeigneten Mitteln erkämpft, durchgesetzt und anerzogen werden. Es findet sich bei Marcuse keine gründliche Reflexion über die Frage, ob die eingesetzten Mittel, ihre Beherrschung und ihre Herrscher nicht das Ziel der Emanzipation bis in sein Gegenteil verfälschen müssen. Als strategische Mittel für das "objektive" Ziel befreiten Menschsein sind sie unter dem Aspekt ihrer Durchsetzungsfähigkeit gerechtfertigt. Aber selbst wenn die Mittel weniger repressiv eingesetzt werden - also nicht mit Gewalt, Revolution, Terror oder Erziehungsdiktatur, sondern in unmittelbarer Anwendung des Laisser faire-Prinzips oder der "großen Verweigerung" zum Zwecke der Zerset164
zung des tradierten Arbeits-, Leistungs- und Pflichtethos, mit schlimmen Folgen für die Orientierungsfähigkeit der solcherart emanzipatorisch Erzogenen -, dann bleibt doch unvermindert die Hybris des Anspruchs auf das Ziel. Dieser Anspruch bedeutet in letzter Konsequenz, gegen die menschliche Natur zu rebellieren. Daß dem Menschen - jedem Individuum - die Befriedigung jedweden Bedürfnisses in Fülle und Vollkommenheit möglich werden soll, heißt nicht nur, daß er sich über alle mitmenschlichen, sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Schranken hinwegzusetzen fähig sein muß. Schon dies ist undenkbar, also u-topisch, weil immer Individuen in den verschiedensten Lebensformen miteinander verbunden sind und dadurch ihre Begrenzung, aber auch ihre Erfüllung finden. Von ihnen gemeinsam müssen jene materiellen und kulturellen Güter produziert werden, die sie genießen wollen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen; das bedingt Arbeit (einschließlich der Organisation dieser Arbeit) und die dadurch wiederum gegebene Beschränkung, aber auch Erfüllung ihres Lebens. Darüberhinaus aber stößt das emanzipatorische Begehren auf die natürliche Schranke der Sterblichkeit jedes Menschen. Deshalb proklamiert Marcuse - die mythischen Urbilder des Orpheus und des Narziß zur Scheinlegitimation eines radikal humanistisch-anthropologisch gewendeten Anspruchs bemühend - nichts weniger als die" Überwindung der Zeit, insofern die Zeit zerstörerisch für die dauerhafte Befriedigung ist" (Triebstruktur und Gesellschaft, S.192). Es geht um "Auflehnung gegen die Vergänglichkeit", gegen den "zerstörerischen Ablauf der Zeit". "Nur das" - der Sieg in dieser letzten Schlacht von ontologischer Dimension gegen die Natur des Menschen selbst - "wäre das Wahrzeichen einer nicht-repressiven Kultur" (S.190). Gilt aber diese Voraussetzung, dann erweist sich die daran geknüpfte absolute Emanzipation als in sich unmöglich. Der Ausgriff auf sie zerstört die natürlichen menschlichen Möglichkeiten, statt sie freizusetzen. Es werden Erwartungen erweckt, die aufgrund ihrer Irrealität und Vermessenheit zu tiefgreifenden Enttäuschungen und Krisen führen müssen. "Frustrationen", Angst und Verzweiflung sind die verständlichen Folgen. Sie werden heute von den Emanzipationstheoretikern und -strategen selbst geradezu propagiert und zu Psychosen gesteigert. Dieselben, die zuvor mit dem Schlachtruf der totalen Befreiung ihre Zöglinge rücksichtslos überforderten, schüren nun die Angst unter ihnen, die sich einstellt, weil ihnen jeder natürliche Halt und gesellschaftliche Schutz bewußt entzogen wurde. Wie vordem die Emanzipation, so soll sich jetzt die Angst aber wieder aggressiv gegen die bestehende Gesellschaft und Ordnung kehren. Auch sie wird zum Mittel der Manipulation. Literarischer Ausdruck der Angstpsychosen sind die negativen Gegenutopien, die im 20. Jahrhundert ins Kraut geschossen sind. Orwells ,,1984" ist die bekannteste unter ihnen. Nach 1984 aber läßt sich sagen, und schon vorher konnten wir darauf vertrauen: Gegenüber allen Utopien und Gegenutopien steht die christliche Hoffnung, die von der bleibenden Erlösungsbedürftigkeit dieser Welt ausgeht und die Erlösung des Menschen und der Schöpfung in Gottes Hand weiß. Diese transzendente Hoffnung gerade macht frei und fähig für vernünftige pragmatische Politik, die sich geduldig für mehr Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in dieser Welt einsetzt, doch alle ihre Schritte als klein, relativ, vorläufig, kritik- und revisionsbedürftig erkennt. Dies ist die Grundlage freiheitlicher Gesittung und Kultur. 165
KONRAD LÖW
Totalitäre Elemente im originären Marxismus
Prolog In einem an mich gerichteten Brief aus Leipzig, der das Datum 3.3.1986 trägt, heißt es: .Neulich las ich eine scharfe polemisch-politische Wissenschaftskritik zu Ihrer Art Marx-Forschung in dem auch Ihnen sicher bekannten Artikel von Hanny WettengellGünter Wisotzki ,Karl Marx, Friedrich Engels und die Bedrohungslüge' ."
Aus diesem Artikel einige Passagen im Wortlaut: .Unter dem Eindruck des zunehmenden Einflusses des Marxismus sahen sich auch seine schärfsten Gegner gezwungen, sich mit Marx zu beschäftigen. Dabei versuchten sie, ihn auf ihre Weise zu interpretieren. Besonders die Vertreter der konservativen Richtung der bürgerlichen Ideologie bereiteten sich als Gefolgsleute des von Reagan propagierten Kreuzzuges gegen die Sowjetunion als das ,Zentrum des Bösen' in der Welt, insgesamt gegen den Marxismus-Leninismus und den realen Sozialismus, auf den 165. Geburtstag und den 100. Todestag von Karl Marx vor ... Dazu benutzten die Marx-Verfälscher vor allem ... die Verleumdung, daß die Gesamtlehre von Marx und Engels eine totalitäre, antihumane Selbstvernichtungstheorie sei. .. "1
Verleumdung oder Faktum, das ist hier die Frage.
Die Interdependenz von Marxismus und Totalitarismus Im Kaleidoskop der Meinungen 1959 wurde das Godesberger Programm der SPD verabschiedet. Es machte damals Schlagzeilen, insbesondere deshalb, weil sich die SPD, vormals .Erbin und Willensvollstreckerin von Marx und Engels"2, in augenfälliger Weise vom Marxismus trennte und stattdessen die christliche Ethik, der Humanismus und die klassische Philosophie als Nährboden des demokratischen Sozialismus gewürdigt wurden.3 Die SPD erteilte damals jeder Form des Totalitarismus eine entschiedene Absage\ nicht nur dem Nationalsozialismus, sondern auch dem Sowjetsystem.
Was aber hat das Sowjetsystem, die Sowjetideologie mit Marx zu tun? Diese Ideologie heißt offiziell "Marxismus-Leninismus". Aurel von Jüchen, evangelischer Pastor und Gründer der .Bruderschaft sozialistischer Theologen", in der SBZ aus der SED ausgeschlossen, von einem Leningrader Sondergericht zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, nach Stalins Tod begnadigt, in West-Berlin militanter Kämpfer gegen den Kommunismus sowjetischer Prägung, ist der Auffassung, der Irrweg beginne nicht erst mit Stalin, sondern schon mit Lenin. Doch, so von Jüchen: .Es gibt keine größere Lüge als die, die in dem Bindestrich zwischen den beiden Worten Marxismus-Leninismus liegt."5 166
Hat von Jüchen Recht mit dieser Behauptung? Im Schoße der SPD ist während der vorbereitenden Sitzungen des Godesberger Parteitags diese Frage lebhaft erörtert worden, wobei der Meinungswandel ins Auge fällt. Im Protokoll steht zu lesen: Dr. Fritz Borinski: "... Das Verhältnis von Totalitarismus und Marx muß stärker unterbaut werden ... "
Prof. Dr. Otto Stammer: " ... Wir sind zur Formel des ,vergewaltigten Marxismus' gekommen. Der junge Marx gehört innerlich ins westliche Lager hinein ... "
Willi Eichler: " . .. Die Marxsche Staatsauffassung spukt im heutigen Bolschewismus noch weiter. Die heutige russische Wirklichkeit ist zwar eine Verfälschung des Marxschen Wollens, aber ihre Vorstellungen gehen auf Marx zurück ... "
Prof. Dr. Gerhard Weisser: " ... Seid Ihr ganz sicher, daß wir mit der These vom ,vergewaltigten Marx' Recht haben? Hat nicht die Haßkomponente bei Marx und sein Verlangen nach Rechtgläubigkeit mindestens objektiv-geschichtlich so gewirkt, daß ein konformistisches Denken von da aus seinen Ausgang genommen hat? Auch darüber sollten wir einmal im engsten Kreise sprechen."
Borinski: "Zu Marx: Wenn wir die Wirkung von Marx gerade heute im Totalitarismus sehen, scheint es mir richtig zu sein, was Weisser sagt. ... Das Menschenbild von Marx ist ein für unsere heutige Zeiterfahrung vereinfachtes und verharmlostes. Gewisse Punkte wurden dabei verabsolutiert und von daher Ansatz zum Totalitarismus ... "
Dr. Christi an Gneuss: "Ich bin auch der Meinung, daß die Formel vom vergewaltigten Marx nicht ausreicht. Auch schon beim jungen Marx waren Ansätze zum Totalitarismus ... "
Stammer: " ... Auch ich glaube, daß wir am Marx-Bild selber und an der Marx-Lehre und -Ideologie etwas zu korrigieren haben."
Namhafte SPD-Mitglieder haben also damals behauptet, daß schon beim jungen Marx Ansätze zum Totalitarismus vorhanden seien und das gängige Marx-Bild einer Korrektur bedürfe. 167
Der Totalitarismusvorwurf gegen Marx ist alt und bis auf den heutigen Tag nicht verstummt. Als erster kann wohl der russische Anarchist Michail Bakunin angeführt werden, wenngleich er selbstverständlich eine Umschreibung wählen mußte: .Die Ausdrücke wissenschaftlicher Sozialist und wissenschaftlicher Sozialismus, die unaufhörlich in den Schriften der Marxisten wiederkehren, beweisen durch sich selbst, daß der sogenannte Volksstaat nichts andres sein wird als die despotische Regierung der proletarischen Massen durch eine neue und sehr beschränkte Autokratie von wahren und vorgeblichen Wissenschaftlern."7
Ihm folgt Eduard Bernstein, der an den wohl treuesten Jünger von Marx und Engels im 19. Jahrhundert, nämlich an August Bebel, die düsteren Worte richtete: .Mein Weg geht langsamer, aber er geht aufwärts, der Euere geht auf einen Abgrund hin, jenseits dessen Ihr das gelobte Land seht."8
Bei Alexander Rüstow lesen wir, .daß es sich im Falle Sowjetrußland nicht etwa um eine willkürliche und zufällige, bei weiteren Verwirklichungsversuchen vermeidbare Entgleisung oder um ,Kinderkrankheiten' handelt, sondern um eine Zwangsläufigkeit, die in der Struktur der marxistischen Theorie selber und in ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit begründet ist."g
Helmut Gollwitzer vertrat noch 1965 die Ansicht: .Schon bei Marx kündigt sich bei aller bezeichnenden Zurückhaltung die Perspektive einer totalitären Staatsmacht an, die im überlegenen, erleuchteten Wissen dessen, was ,vernünftig' ist, in das innerste Zentrum ihrer Bürger besserwissend, kontrollierend und dirigierend mit sanfterem oder härterem Drucke eingreift. In der Frage der Religion fällt die Entscheidung über die Selbstbegrenzung der Macht, also über ihren totalitären Charakter. Die Anmaßung, mit der von diesen Aufklärern über die Religion zu Gericht gesessen wird, wird hier zur Anmaßung von Menschen über Menschen im Namen der Vernunft und schickt sich an, anstelle der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Namen des Besitzes eine nicht weniger schreckliche Sklaverei zu errichten. "10
Ernst Topitsch: .Diese neuesten Forschungen haben im Zusammenwirken von biographisch-psychologischer, geistesgeschichtlicher, ideologiekritischer und wissenschaftstheoretischer Analyse die bereits zitierten Einwände bestätigt und vertieft. In ihrem Lichte kann kaum mehr ein Zweifel daran bestehen, daß in den Doktrinen des Karl Marx die folgerichtigste, bestgetarnte und daher auch gefährlichste und erfolgreichste Herrschaftsideologie der MenschheitsgeSChichte verborgen ist und daß deren totalitäre Konsequenzen bereits in der Grundkonzeption des jungen Revolutionärs vorgebildet sind. "11
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Bei Leszek Kolakowski heißt es entsprechend: "Wir können den Stalinismus als eine (nahezu perfekte) totalitäre Gesellschaft auf der Basis des Staatseigentums an den Produktionsmitteln charakterisieren. Ich verwende das Wort totalitär in einem allgemein gebräuchlichen Sinn ... "12 "Ich würde auch nicht die handgreifliche Tatsache leugnen, daß Marx' Denken viel reicher, differenzierter und subtiler war, als dies auf Grund der wenigen Zitate vermutet werden kann, die in der leninistisch-stalinistischen Ideologie endlos wiederholt werden, um das sowjetische Machtsystem zu rechtfertigen. Doch würde ich sagen, daß diese Zitate nicht wesentlich verzerrt waren; daß das dürre Gerüst des Marxismus, all seiner Komplexität beraubt, von der sowjetischen Ideologie als ein stark vereinfachter, aber nicht verfälschter Fahrplan für die Errichtung einer neuen Gesellschaft genommen wurde."13
Nach dem Mord an Hanns Martin Schleyer äußerte Walter Jens 1977: "Kein Satz, der gesprochen wird, ist vor Mißdeutung gefeit ... Rousseau ist nicht schuld an Robespierre. D. h. ein unmittelbares Ursache-Wirkungsverhältnis herzustellen ist zumindest außerordentlich problematisch ... "14
Die genau entgegengesetzes Position vertrat Heinrich Heine, ein Dichter, den Jens sonst durchaus schätzt: "Dieses merkt euch, ihr stolzen Männer der Tat, ihr seid nichts als unbewußte Handlanger der Gedankenmänner, die ... euch all euer Tun aufs bestimmteste vorgezeichnet haben. Maximilian Robespierre war nichts als die Hand von JeanJacques Rousseau. "15
Vorsichtiger Kar! Dietrich Bracher: "Auch in Rousseaus volonte generale klang der Totalitätsgedanke an; man findet ihn schließlich in der Erwartung der totalen Umwälzung oder Revolution auch bei Marx und Lassalle. "16
In seiner Studie "Theorie als Dienstmagd der Praxis/Systemwille und Parteilichkeit -
Von Marx zu Lenin" kommt Alexander Schwan zu einem Ergebnis, das der eingangs zitierten Auffassung von Jüchens direkt widerspricht: Schwan schließt mit dem Satz: "Wir haben demgegenüber zu zeigen versucht, daß Marx sehr wohl als der erste und der originäre ,Marxist' anzusehen ist und daß Lenin als der getreueste Nachfahre und Vollstrecker seiner Praxis-Theorie im 20. Jahrhundert gelten muß. Der Leninismus kam für die Marxsche Theorie wie gerufen, um ihr erst zu voller und eigentlicher geschichtlicher Wirksamkeit zu verhelfen."17
Nach Richard Löwenthai war "das diesseitsreligiöse, utopische Element der Marxschen Lehre gewiß eine Voraussetzung der späteren Entwicklung zur bolschewistischen Diktatur, aber keine
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hinreichende Voraussetzung; der totalitäre Staat war eine mögliche Folge der Marxschen Lehre, aber keine notwendige und gewiß keine von ihrem Schöpfer beabsichtigte Folge. "18
Ohne direkten Hinweis auf" Totalitarismus", aber doch das Phänomen vor Augen schreibt Wolfgang Schwerbrock, Redakteur der F AZ: "Mag man heute die Ideen von Marx und Engels als große wissenschaftliche Leistung preisen, die Folgen dieser Lehre im negativen Sinne - für die Marx und Engels nicht unmittelbar zur Verantwortung gezogen werden können - sind verheerend. Nimmt man das alles in allem und zieht man in Betracht, was in diesen unbekannten Briefen an Aufschlüssen über Marx' Temperament zutage tritt, so kommt man zu dem Schluß: Marx hat zwar den jetzigen Stand der Dinge nicht vorausgesehen, aber er würde wahrscheinlich frohlocken, erlebte er ihn. "19
Die meisten von denen, die Marx Mitverantwortung für den Totalitarismus des 20. Jahrhunderts anlasten, begnügen sich mit einer kurzen, geradezu apodiktischen Begründung. Im folgenden soll die aufgeworfene Frage unter Berücksichtigung der gesamten literarischen Hinterlassenschaft von Marx und Engels beantwortet werden. Angesichts der großen und inhaltlich stark variierenden Zahl von Totalitarismusbegriffen beschränke ich mich auf C.J. Friedrichs Totalitarismusthesen. Seine Arbeiten gelten - so Siegfried Jenkner "allgemein als das repräsentative Werk der klassischen Totalitarismusforschung".2o
Die Elemente des Totalitarismus nach C. J. Frledrich und die Klassiker des Sozialismus 1. Die totalitäre Ideologie
Bereits im Einleitungskapitel seines Buches" Totalitäre Diktatur" geht Friedrich auf die allgemeinen Kennzeichen der Ideologien totalitärer Staaten ein. Die totalitäre Ideologie sei "eine offizielle Lehrmeinung, die die bestehende Gesellschaft radikal verwirft und einen eschatologischen Wunschtraum an ihre Stelle setzt. Sie ist in diesem Sinne im wesentlichen utopisch und glaubt an ein Paradies auf dieser Erde. "21
Drei verschiedene Aussagen stecken in diesem Zitat: "Offizielle Lehrmeinung" (a), radikale Kritik des Bestehenden (b), utopischer Ersatz (c).
a) Offizielle Lehrmeinung "Offizielle Lehrmeinung" besagt, daß staatlicherseits nur eine Auffassung geduldet wird,
eine Auffassung zumindest deutlich privilegiert ist. 170
Entzieht sich der originäre Marxismus nicht bereits hier dem Totalitarismusverdacht? Marx und Engels haben doch das Absterben des Staates, das Ende aller Herrschaft von Menschen über Menschen prophezeit und darauf hingearbeitet. Auf diese Vorhersagen, die keineswegs so eindeutig sind und viele Fragen offen lassen22 , brauchen wir hier nicht einzugehen, denn das "Reich der Freiheit" muß erst in der Diktatur des Proletariats vorbereitet werden. Die Diktatur des Proletariats vollzieht sich aber im Staate und durch den Staat. Dieser Staat der Diktatur geht aus der sozialistischen Revolution hervor. Daß in diesem Staat die Gegner des Proletariats keine Freiheiten genießen, verdeutlicht Engels in einem Brief an August BebeI: "Da nun der Staat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, deren man sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Gegner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, vom freien Volksstaat zu sprechen: Solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner ... "23
Keine Lehrmeinung, keine Weltanschauung wird von Marx respektvoll gewürdigt. Schon in der Vorrede zu seiner Dissertation begegnen uns die befremdlichen Worte: "Sachverständige wissen, daß für den Gegenstand dieser Abhandlung keine irgendwie brauchbaren Vorarbeiten existieren. Was Cicero und Plutarch geschwatzt haben, ist bis auf die heutige Stunde nachgeschwatzt worden."24
Das Kommunistische Manifest verdeutliche die Meinung der Autoren, daß sich alle Sozialisten und Kommunisten vor Marx und Engels erheblich geirrt haben. Sie werden abqualifiziert als Anhänger des feudalen Sozialismus, des kleinbürgerlichen Sozialismus, des deutschen oder des "wahren" Sozialismus, des konservativen oder des Bourgeoissozialismus, des kritisch-utopischen Sozialismus und Kommunismus.25 Nur einer ist es, der halbwegs bestehen kann, nämlich Hegel. Aber auch von ihm heißt es bei Marx: "Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. ... " Es sei an der Zeit, Hegels Dialektik umzustülpen, "um den rationellen Kern in der mystischen Hülle zu entdecken. "26 Demgegenüber sonnt er sich im "Kommunistenstolz der Unfehlbarkeit"27. Im Gegensatz zu Engels hat Marx nie einen Irrtum eingestanden. Beide aber sind sich einig, daß Marx das Lebensgesetz der Menschheit entdeckt hat, eine Leistung, die überhaupt nur einem Deutschen gelingen konnte. Engels: "Wie Darwin das Gesetz der Entwicklung der organischen Natur, so entdeckte Marx das Entwicklungsgesetz der menschlichen Geschichte .... Damit nicht genug, Marx entdeckte auch das spezielle Bewegungsgesetz der heutigen kapitalistischen Produktionsweise und der von ihr erzeugten bürgerlichen Gese"schaft .... "28
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Marx selbst: "Du verstehst mich, my dear fellow, daß in einem Werke wie meinem manche shortcomings im detail existieren müssen. Aber die Komposition, der Zusammenhang, ist Triumph der deutschen Wissenschaft, den ein einzelner Deutscher eingestehen kann, da es in no way sein Verdienst ist, vielmehr der Nation gehört."
Und nochmals Engels: "Aber der wissenschaftliche Sozialismus ist nun einmal ein wesentlich deutsches Produkt und konnte nur bei der Nation entstehn, deren klassische Philosophie die Tradition der bewußten Dialektik lebendig erhalten hatte: in Deutschland. "30
Aus "Irrtum, Kämpfen und Leiden" führt Marx dank dem wissenschaftlichen Sozialismus, der ihr gemeinsames Verdienst ist. Verwiesen sei auf die ganze Schrift Engels: "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft")) Engels hat auch die notwendigen Konsequenzen, die sich aus diesem Selbstverständnis und der Einschätzung der eigenen Lehre ergeben, gezogen: "Damals [1848] die vielen unklaren Sektenevangelien mit ihren Panazeen, heute die eine [Sperrung im Original] allgemein anerkannte, durchsichtig klare, die letzten Zwecke des Kampfes scharf formulierende Theorie von Marx .... "32
Diese Zitate sprechen, wie ich meine, eine deutliche Sprache, sprechen dafür, daß nach Auffassung der Freunde der" wissenschaftliche Sozialismus", also ihre Lehre und nur ihre Lehre, in der Diktatur des Proletariats die offizielle Lehrmeinung zu sein hat.
b) Radikale Kritik des Bestehenden Die radikale Kritik alles Bestehenden ist bei den Freunden Marx und Engels so eindeutig ausgeprägt, daß sie nicht strittig ist und deshalb auch nicht ausführlich bewiesen werden muß. Ich begnüge mich daher mit einem halben Dutzend kurzer Zitate: "Der Kommunismus ist die Position als Negation der Negation, darum das wirkliche für die nächste geschichtliche Entwicklung notwendige Moment der menschlichen Emanzipation und Wiedergewinnung. "33" "Ist die Konstruktion der Zukunft und das Fertigwerden für alle Zeiten nicht unsere Sache, so ist desto gewisser, was wir gegenwärtig zu vollbringen haben, ich meine die rücksichtslose Kritik alles Bestehenden . .. -34 Während es "sich in Wirklichkeit und für den praktischen Materialisten, d. h. Kommunisten, darum handelt, die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundenen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern. "35 "Die erste Pflicht der Presse ist nun, alle Grundlagen des bestehenden politischen Zustandes zu unterwühlen. "36
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nEs kann sich für uns nicht um Veränderung des Privateigentums handeln, sondern nur um seine Vernichtung, nicht um Vertuschung der Klassengegensätze, sondern um Aufhebung der Klassen, nicht um Verbesserung der bestehenden Gesellschaft, sondern um Gründung einer neuen. "37
c) Der utopische Ersatz für das Bestehende Bei Friedrich lesen wir: nEine solche totale Veränderung und ein solcher Wiederaufbau bedeutet ihrer eigentlichen Natur nach eine Utopie, weshalb denn auch totalitäre Ideologien ihrem Wesen nach utopischer Natur sind:39
Trifft das auf den originären Marxismus zu? Der Große Duden verdeutscht Utopie mit nals undurchführbar geltender Plan, Idee ohne reale Grundlage". Dieses Wortverständnis dürfte Friedrichs Sprachgebrauch sehr nahe kommen. Die Ideen des Karl Marx mit Blick auf die kommunistische Zukunft waren ohne reale Grundlagen, ohne jegliches Erfahrungswissen. Wer glaubt heute noch, daß in den sogenannten kommunistischen Staaten der Kommunismus je Wirklichkeit werden wird, daß, eine weitere Vorhersage von Marx, der Kommunismus die Lösung aller Welträtsel.bewirkt40, daß dann Arbeitsteilung, Ausbeutung, Entfremdung, Klassenherrschaft ihr Ende gefunden haben werden4 !, daß dann, um ein bekanntes Bild von Marx vor Augen zu stellen, njeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden. "42
2. Die totalitäre Partei Als zweites Merkmal nennt Friedrich die totalitäre Partei: nDie für die totalitäre Diktatur typische Massenpartei, die im alleinigen Besitz der formellen Herrschaft ist, wird in der Regel von einem Mann, dem Diktator, geführt. .. Eine solche totalitäre Partei ist hierarchisch und oligarchisch aufgebaut ... "43
Greifen wir die einzelnen nach Friedrich typischen Wesenszüge heraus: Im Alleinbesitz der Herrschaft - Staatspartei (a), an der Spitze in der Regel ein Diktator (b), hierarchischer und oligarchischer Parteiaufbau (c). Marx und Engels haben uns keine systematischen Ausführungen zum Thema "Partei" hinterlassen. Andererseits gibt es eine Fülle von beiläufigen Bemerkungen, die zwar nicht frei von Widersprüchen sind, die aber doch schemenhaft eine Grundkonzeption erkennen lassen. 173
Die Akzentverlagerungen und substantiellen Verschiebungen sind nicht nur, nicht einmal in erster Linie, durch neue Umstände und neue Auffassungen zu erklären, sondern vor allem auf das jeweilige konkrete Verhältnis der Freunde zu den proletarischen Parteien zurückzuführen.'" Von 1847 bis 1852 waren sie Mitglieder des Bundes der Kommunisten, doch traten sie weder dem ADA V noch der SDAP noch dem Zusammenschluß aus beiden, der SPD, bei.
a) Staatspartei Zunächst vertreten die Freunde die Auffassung, daß mehrere proletarische Parteien nebeneinander ein Existenzrecht hätten, wenngleich die kommunistische Partei etwas besonderes sei. 45 Später wird jede sozialistische Konkurrenz als Sekte, als Anachronismus auf das entschiedenste verurteilt, woraus gefolgert werden muß, daß diese Parteien in der Phase der Diktatur des Proletariats hätten liquidiert werden müssen. Dazu einige Zitate: "Die Sekten, im Anfange Hebel der Bewegung, werden ein Hindernis, sowie dieselbe sie überholt; sie werden dann reaktionär; Beweis dafür sind die Sekten in Frankreich und England und letzthin die Lassalleaner in Deutschland, welche, nachdem sie jahrelang die Organisation des Proletariats gehemmt, schließlich einfache Polizeiwerkzeuge geworden sind. Kurz, sie stellen die Kindheit der Proletarierbewegung dar, wie die Astrologie und Alchemie die Kindheit der Wissenschaft."46 "Diejenigen, die den verborgenen Sinn des sich vor unseren Augen abspielenden Klassenkampfes am besten deuten - die Kommunisten -, sind die letzten, den Fehler zu begehen, Sektierertum zu billigen oder zu fördern."47 "Und die Geschichte der Internationalen war ein fortwährender Kampf des Generalrats gegen die Sekten und Amateurversuche, die sich gegen die wirkliche Bewegung der Arbeiterklasse innerhalb der Internationalen selbst zu behaupten suchten."48
b) An der Spitze ein Diktator Für Friedrich ist parteiinterne Diktatur kein notwendiges Element totalitärer Herrschaft. Eine solche Struktur sei nur die Regel. Marx und Engels fordern nirgendwo eine mit uneingeschränkten Vollmachten ausgestattete parteiinterne Führung. Aber damit ist die Frage noch nicht beantwortet: Das Pro und Contra, das in diesem Zusammenhang zu erwägen ist, hängt auf das engste mit dem hierarchischen und oligarchischen Aufbau zusammen, von dem Friedrich spricHt, so daß auf die folgenden Ausführungen verwiesen werden kann.
c) Hierarchischer und oligarchischer Parteiau/bau Mit diesem Kennzeichen meint Friedrich nicht, was für jede Vereinigung selbstverständlich ist, nämlich eine Abstufung der Kompetenzen, insbesondere aufgrund von Stel174
lungen, in die man hineingewählt worden ist. Für Friedrich geht es um die Frage der grundsätzlichen Offenheit, der grundsätzlichen Gleichberechtigung, die durch periodische Wahlen, die alles verändern können, gewährleistet wird. Waren Marx und Engels, die die Diktatur des Proletariats betrieben, für innerparteiliche Demokratie? Die Antworten variieren stark. Die meisten, die sich bei uns zu Worte melden, z. B. Karl Kautsky, Hermann Weber, Wolfgang Leonhard, teilen die Ansicht, die Georg Brunner in die Worte gekleidet hat: "Überhaupt standen die Vorstellungen von Marx und Engels über die Partei in diametralem Gegensatz zu den Ansichten Lenins... "49 Die Darstellung der kontroversen Argumente würde den Rahmen gänzlich sprengen. Es sei mir daher gestattet, daß ich das wiedergebe, was ich am Ende einer entsprechenden Untersuchung geschrieben habe: "Die Analyse aller einschlägigen Äußerungen von Marx und Engels ergibt. .. : Die Machthaber in den ,Staaten des realen Sozialismus' können ihre Theorie und Praxis mit weit besseren Marx- und Engels-Zitaten untermauern als die Sozialdemokraten. (Engels post Marx mortuum ist jedoch kein Gewährsmann für Lenin und seine Nachfolger.) Mit anderen Worten: Marx und Engels sind für eine elitäre konkurrenzlose kommunistische Partei. Innerparteiliche Demokratie lehnen sie ab. Sie fordern bedingungslos die Anerkennung ihrer Autorität. Wiederum trifft Engels mit einer Feststellung, die auf einen Dritten gemünzt ist, seine Freund Marx haargenau: ,Er war aber mehr, er war vollständiger Prophet, von seiner persönlichen Mission als prädestinierter Befreier des deutschen Proletariats überzeugt und als solcher direkter Prätendent auf die politische nicht minder als auf die militärische Diktatur. "'SO
3. Die terroristische Geheimpolizei "Die terroristische Geheimpolizei unterstützt einerseits die Partei, aber andererseits überwacht sie sie auch für den Führer. Charakteristischerweise bekämpft sie nicht nur die nachweisbaren Feinde des Regimes, sondern auch eigenmächtig ausgewählte Gruppen der Bevölkerung, die sogenannten ,potentiellen Feinde'."51
Von Geheimpolizei ist bei Marx und Engels nirgendwo im bejahenden Sinne die Rede, jedoch immer wieder von Terror, zu dem sie sich selbst ausdrücklich bekennen. Aus der Fülle der Belege52 einige Kostproben: Marx: "Die resultatlosen Metzeleien seit den Juni- und Oktober-Tagen, das langweilige Opfertest seit Februar und März, der Kannibalismus der Contre-Revolution selbst wird die Völker überzeugen, daß es nur ein Mittel gibt, die mörderischen Todeswehen der alten Gesellschaft, die blutigen Geburtswehen der neuen Gesellschaft abzukürzen, zu vereinfachen, zu konzentrieren, nur ein Mittel den revolutionären Terrorismus. "53
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Engels: nAuf die sentimentalen Brüderschaftsphrasen, die uns hier im Namen der kontrerevolutionärsten Nationen Europas dargeboten werden, antworten wir, daß der Russenhaß die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist; daß seit der Revolution der Tschechen- und Kroatenhaß hinzugekommen ist und daß wir, in Gemeinschaft mit Polen und Magyaren, nur durch den entschiedensten Terrorismus gegen diese slawischen Völker die Revolution sicherstellen können ... Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution."54 Marx:
nWirsind rücksichtslos, wir verlangen keine Rücksicht von euch. Wenn die Reihe an uns kömmt, wir werden den Terrorismus nicht beschönigen. "55
Engels: nHaben diese Herren nie eine Revolution gesehen? Eine Revolution ist gewiß das autoritärste Ding, das es gibt; sie ist der Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil seinen Willen vermittels Gewehren, Bajonetten und Kanonen, also mit denkbar autoritärsten Mitteln aufzwingt; und die siegreiche Partei muß, wenn sie nicht umsonst gekämpft haben will, dieser Herrschaft Dauer verleihen durch den Schrecken, den ihre Waffen den Reaktionären einflößen. u56
Auch Säuberungsaktionen in den eigenen Reihen sind dem Denken nicht fremd. Marx droht Bakunin: nEr soll sich in Acht nehmen, sonst wird er offiziell exkommuniziert. "57 Bakunin erinnert sich, daß Marx ihm gedroht habe: nWeißt Du, daß ich jetzt an der Spitze einer so gut disziplinierten geheimen kommunistischen Gesellschaft stehe, daß, wenn ich einem Mitglied derselben gesagt hätte: Geh und töte Bakunin, er dich töten würde?"58
Schon in den Statuten des Bundes der Kommunisten von Dezember 1847 heißt es: nArt. 41: Über Verbrechen gegen den Bund richtet die Kreisbehörde und sorgt für die Vollstreckung des Urteils. Art.42: Die entfernten und ausgestoßenen Individuen, sowie verdächtige Subjekte überhaupt, sind von Bundes wegen zu überwachen und unschädlich zu machen."59
Da also der Terror im Dienste des Fortschritts historisch gerechtfertigt ist, spielt es wohl keine große Rolle, ob er vom Volkszorn, vom Pöbel, von gedungenen Schergen oder, nach der eigenen Machtergreifung, von einer Geheimpolizei ausgeübt wird.
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4. Das Medienmonopol Dazu Friedrich: "Das nahezu vollkommene Monopol aller Nachrichtenmittel in der Hand der Partei und Kader ist technisch bedingt durch die moderne Entwicklung von Presse, Film usw."60 Von den uns heute bekannten Massenmedien gab es damals nur die Presse. Abgesehen von unbedeutenden Ausnahmen waren die Verlage alle Privateigentum. Heinrich Oberreuter schreibt in einer Buchbesprechung: "Kar! Man: war bekanntlich ein großer Publizist: Das Leiden an der Borniertheit der Zensur hat ihn aus dem Land getrieben. "61 Das besprochene Buch trägt den Titel "Kritik der marxistischen Kommunikationstheorie" und beginnt mit den Worten: "Nachdem die von Karl Marx brilliant redigierte ,Rheinische Zeitung' 1843 auf Anregung des Königs von preußischen Ministern unterdrückt worden war, erschien in Deutschland eine Allegorie auf das Verbot des Blattes. Die Karikatur zeigt Marx als gefesselten Prometheus. Ein gekrönter Adler hackt ihm die Eingeweide heraus. Nicht an den Kaukasus, sondern an eine Druckerpresse ist der große Publizist geschmiedet, mit derselben Kette gebändigt, die auch die Presse umschlingt und derart stillegt. .. Wenige Tage bevor die Zeitung ihr Erscheinen einstellt, tritt Marx der Zensurverhältnisse wegen aus ihrer Redaktion aus. Er war der Heuchelei, Dummheit und rohen Autorität müde geworden und hatte die eigene Wortklauberei und das Schmiegen und Rückendrehen gründlich satt. Um sich nicht selber verfälschen zu müssen, verließ Marx Preußen und ging nach Paris. Befreit freilich wurde der gefesselte Prometheus Marx zu seinen Lebzeiten nie."62
Zwei Seiten später lesen wir: "Im Marxismus von Marx und Engels läßt sich in dieser Betrachtungsweise nichts ausmachen, was - mit einem Wort Fritz Vii mars zu reden - in der Sowjetunion und in den ihrem Lager zugehörigen Staaten ,teilweise bösartig manifest geworden ist'. Vielmehr sind die dort etablierten Kommunikationssysteme den Intentionen der beiden ,Klassiker' ganz offensichtlich diametral entgegengesetzt."
Man: hat die - damals wie heute, wenngleich unterschiedlich limitierte - Pressefreiheit in extenso genutzt, auch um die Zensur abzuschaffen. Es gibt ein eigenes Buch, herausgegeben von Iring Fetscher, mit dem Titel "Karl Man: - Pressefreiheit und Zensur", das mit einschlägigen Äußerungen gefüllt ist. Insofern könnte Man: durchaus als einer der literarischen Wegbereiter der Pressefreiheit angesprochen werden und damit als Widersacher gegen jede Form der Maulkorbpresse, der gelenkten oder gar der monopolisierten Presse, also jener Presse, die dem Totalitarismus eigen ist. 12 Löw. 2. A.
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Wer die Dinge so sieht und andere Motive für dieses medienbezogene Freiheitspathos für ausgeschlossen hält, bedenkt nicht, daß die Verteidigung staatsbürgerlicher Rechte durch Angehörige der jeweiligen Opposition geradezu selbstverständlich ist. Insofern hat Kautsky völlig Recht, wenn er schreibt: "Denn so sehr die Kommunisten die Demokratie dort verabscheuen, wo sie die Macht errungen haben, so sehr bedürfen sie ihrer dort, wo sie in der Opposition sind. Und niemand nutzt die Demokratie mehr aus als sie."63
Ist Marx vielleicht einer von diesen Kommunisten? Drei Gesichtspunkte sind bei der Beantwortung zu berücksichtigen: a) Dort, wo Marx als Chefredakteur das Sagen hat, geriert er sich als Diktator. Engels erinnert sich: "Die Verfassung der Redaktion war die einfache Diktatur von Marx. "64 Und Marx selbst ist es, der die innere Pressefreiheit ausdrücklich verwirft: "Ich halte es für unumgänglich, daß die ,Rheinische Zeitung' nicht sowohl von ihren Mitarbeitern geleitet wird, als daß sie vielmehr umgekehrt ihre Mitarbeiter leitet. Aufsätze wie der berührte geben die beste Gelegenheit, einen bestimmten Operationsplan den Mitarbeitern anzudeuten. Der einzelne Schriftsteller kann nicht in der Weise das Ganze vor Augen haben als die Zeitung. "65
b) In eigentümlicher Konsequenz hört Marxens Kampf um die Pressefreiheit auf, sobald Marx für die Diktatur des Proletariats zu werben beginnt, anders ausgedrückt: Alle schönen Worte, den Wert der freien Presse betreffend, stammen aus den ersten Jahren seines öffentlichen Wirkens, meist sogar aus der Zeit vor seiner Konversion zum Kommunismus. Doch das bleibt unerwähnt, wenn Marx als Protagonist der Pressefreiheit gefeiert wird. Von dieser Aura umgeben, überliefert sich sein Bild durch die Generationen. So stehen in der vom amtlichen Bonn gratis verbreiteten PZ folgende MarxZitate zu lesen: "Eine zensierte Presse dient nur dazu, zu demoralisieren. Jenes größte aller Laster, die Heuchelei, ist untrennbar mit ihr verbunden .... " "Die Regierung hört nur ihre eigene Stimme, während sie sich ständig etwas vormacht: Sie gibt vor, die Stimme des Volkes zu hören, und verlangt, daß es diese Anmaßung noch unterstützt."
Die Jahreszahl, 1842, wird nicht unterschlagen. Aber nicht einer unter hundert Lesern weiß, welche Bewandnis es mit 1842 im Leben des Karl Marx hat. c) Iring Fetscher, der, wie erwähnt, "Karl Marx, Friedrich Engels - Pressefreiheit und Zensur" herausgegeben hat, schreibt gegen Ende seiner Einleitung: "Es wäre sicher falsch, wollte man alle Äußerungen des frühen Marx zur Pressefreiheit unverändert auch dem späten Marx zuschreiben." Insofern pflichte ich ihm bei, meine aber, man müßte es weit deutlicher sagen. Fetscher fährt fort: 178
"Gewiß aber blieb er stets von der Notwendigkeit einer freien, kritischen Presse - auch in einer sozialistischen Zukunftsgesellschaft - überzeugt. Er konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß der Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus mit einem Abbau der Freiheiten verbunden sein könnte. "67
Für diese positive Unterstellung hat Fetscher keinerlei Belege. Im Gegenteil: Alles, was oben über den weltanschaulichen Solipsismus, über die Rechtfertigung von Unfreiheit und Terror gesagt worden ist, zwingt zu der Annahme, daß die Diktatur des Proletariats die Diktatur über die Massenmedien und durch die Massenmedien einschließen sollte. 68 Oben wurde die Allegorie vor Augen gestellt: Marx: als gefesselter Prometheus. "Nicht an den Kaukasus, sondern an eine Druckpresse ist der große Publizist geschmiedet, mit derselben Kette gebändigt, die auch die Presse umschlingt." Wer hätte nicht Mitleid mit ihm und würde nicht voll Verachtung auf die damaligen Zustände herabschauen. Wer diese Gefühle konservieren möchte, soll es tunlichst unterlassen, näher hinzusehen, denn sonst erfährt er, was Isaiah Berlin in seiner Marx-Biographie zu berichten weiß: "Durch ... Duldsamkeit ermutigt, verschärfte Marx seine Angriffe. Doch als er zum Krieg gegen Rußland aufrief, wurde 1843 das Verbot der Rheinischen Zeitung ausgesprochen. "69 Ein Blatt wie die "Neue Rheinische Zeitung", Chefredakteur wieder Karl Marx:, das 1849 verboten wurde, müßte auch heute wegen" Volksverhetzung", "Verherrlichung von Gewalt", "Aufstachelung zum Rassenhaß" (§§ 130 und 131 StGB) mit Schwierigkeiten rechnen, ja mit harten Strafen, Freiheitsentzug und Aberkennung des Grundrechts der Pressefreiheit gemäß Art.18 GG. 5. Das Waffenmonopol
Friedrich: "Ebenso ist das fast vollkommene Waffen monopol technisch bedingt, was das Verschwinden jeder Möglichkeit bewaffneten Widerstandes bedeutet. "70 Das Waffenmonopol als Merkmal des Totalitarismus überrascht, und wohl keiner von uns möchte, daß sich der Staat, in dem wir leben, in diesem Punkt von den totalitären Staaten unterscheidet. Wir brauchen daher auf dieses fragwürdige Merkmal nicht umfassend einzugehen. Nur folgendes sei erwähnt: Marx und Engels machen sich immer wieder für eine allgemeine Volksbewaffnung stark, aus der unverblümten Überlegung heraus, daß nur so das Volk eine reelle Chance habe, die bewaffnete Macht zu stürzen.7' Der spätere Engels glaubt jedoch nicht mehr an die Möglichkeit, daß das Volk gegen das Militär Revolution machen könne: "Die Ära der Barrikaden und Straßenschlachten ist für immer vorüber; wenn die Truppe sich schlägt, wird der Widerstand Wahnsinn. Also ist man verpflichtet, eine neue revolutionäre Taktik zu finden. "72
Was nach der geglückten sozialistischen Revolution mit den Waffen geschehen soll Waffenmonopol oder nicht? - darüber gibt es verständlicherweise keine Äußerungen der 12·
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Freunde. Aber nach all dem, was wir aus ihrem Munde über die Zustände während der Diktatur des Proletariats gehört haben, sollte es als erwiesen gelten, daß man denen, die man mit allen Mitteln zu bekämpfen entschlossen ist, keine Waffen zuteilt. 6. Die zentralgelenkte Wirtschaft
Friedrich: "Die zentrale Lenkung und Beherrschung der gesamten Wirtschaft wird verwirklicht durch eine bürokratische Gleichschaltung aller vorher unabhängigen Wirtschaftskörper. "73 Ein Staat ist nicht totalitär, wenn er nicht für sich das Recht beansprucht, auch im Bereich der Wirtschaft seinen Willen ganz durchzusetzen. Wieviele Wirtschaftssubjekte es in der anzustrebenden kommunistischen Wirtschaft geben sollte, hat Marx nicht verraten. Darauf kommt es nach Friedrich auch nicht an. Entscheidend ist der große Plan, dem sich alle beugen müssen. Die oben wiedergegebene Schilderung des Lebens im Kommunismus, wo es mir gestattet ist, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe ... "74, ist mit dem großen Plan aber doch gänzlich unvereinbar? Marx selbst ist es, der in verwirrender Dialektik aus den handgreiflichsten Widersprüchen eine sprachliche Einheit schmiedet. Denn im gleichen Satz, der uns die große Freiheit des beliebigen Jagens, Fischens und Kritisierens verheißt, steht einleitend, daß die "Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt". Großer Plan und individuelle Willkür schließen sich notwendig aus. Einige Jahrzehnte später ist Marx nüchterner geworden. Da heißt es dann zum Verhältnis Freiheit und Plan: "Das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört ... Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen ... so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. "75
Im Zusammenhang mit den Themen Plan, Freiheit und Totalitarismus erscheint ein anderes Zitat noch bemerkenswerter: "Sollte aber einmal die kommunistische Gesellschaft sich genötigt sehn, die Produktion von Menschen ebenso zu regeln, wie sie die Produktion von Dingen schon geregelt hat, so wird gerade sie und allein sie es sein, die dies ohne Schwierigkeiten ausführt. "76
Gerade dieses Zitat verdeutlicht, daß der kommunistische Staat, mag er sich nun Staat nennen oder Gesellschaft oder sonstwie, die Bezeichnung spielt keine Rolle, über mehr innenpolitische Macht, über mehr Durchsetzungsvermögen verfügt, als der bürgerliche.
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Zusammenfassung und Schlußbetrachtung
Die Untersuchung hat gezeigt, daß der genuine Marx im 19. Jahrhundert theoretisch vorwegnimmt, was in politischen Systemen des 20. Jahrhunderts als Totalitarismus im Sinne C.J.Friedrichs Wirklichkeit geworden ist. Die Diktatur des Proletariats nach Marx ist gekennzeichnet durch eine intolerante offizielle Lehrmeinung, durch eine allein entscheidungsbefugte Staatspartei, durch rechtlich ungezügelten Terror, durch eine funktionalisierte Presse und den großen Plan. Mit dieser Feststellung verbinde ich nicht die Behauptung, Marx sei für diese Entwicklung allein- oder auch nur mitverantwortlich, obwohl die Mitursächlichkeit im juristischen Sinne als conditio sine qua non ita kaum bezweifelt werden kann. Alle Veröffentlichungen Lenins, des Begründers des ersten totalitären Staates, atmen den Geist des Karl MarxJ7 Auf Schritt und Tritt wird Marx als Gewährsmann zitiert. üb Marx das, was er mitverursacht hat, auch gewollt hat, bleibt offen. Tatsache ist, daß seine Lebensführung, d. h. seine persönliche Praxis, ähnlich brutal war wie seine Lehre. Mit der Behauptung, Marx sei ein Vordenker des Totalitarismus gewesen, setze ich mich einem schweren Vorwurf aus. In einer Kolumne äußert Peter Glotz die Ansicht: "Es ist eine uralte, bösartige, wirksame Schablone: Eine Verfehlung, eine Untat, ein Verbrechen wird assoziativ mit einer Philosophie, einem Kunstwerk, einer wissenschaftlichen Schule in Verbindung gebracht. Man kann es das ,Denkmodell geistiger Vater' nennen. Normalerweise verwenden es die Konservativen gegen die Linken. "78
Glotz hat insofern Recht, als jede leichtfertige Assoziation politischer Theorien mit politischen Verbrechen selbst ein moralisches Verbrechen, ein Rufmord ist. Aber es wäre eine gewaltige Torheit, wollte man die praktische Bedeutung politischer Theorien leugnen. Lenin schreibt: "Es ist schon längst gesagt worden, daß es ohne revolutionäre Theorie auch keine revolutionäre Bewegung geben kann. "79 Einer von denen, die es vorher schon gesagt haben, ist wiederum sein Lehrer Kar! Marx: "Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift. "80
Aus dieser Erkenntnis heraus haben Marx, Engels und Lenin Gewaltiges bewirkt. In Max Frischs Spiel "Andorra" erkennt Mercier im Korridor der Conciergerie das Prinzip der Revolution: "Blickt um euch, das alles habt ihr gesprochen. Diese Elenden und ihre Henker und die Guillotine sind eure lebendig gewordenen Reden."81 Und speziell mit Blick auf Marx heißt es bei Kolakowski: "Es wäre völlig falsch, zu sagen, niemand hätte ein solches Ergebnis des marxsehen humanistischen Sozialismus voraussagen können. In Wirklichkeit wurde von anarchistischen Schriftstellern lange vor der sozialistischen Revolution vorausgesagt, daß eine auf Marx' ideologischen Grundsätzen beruhende Gesell181
schaft Sklaverei und Despotismus produziert. Wenigstens in dieser Hinsicht kann sich die Menschheit nicht beschweren, daß die Große Geschichte sie mit unvorhersehbaren Zusammenhängen der Dinge getäuscht und überrascht habe. u82
Daher, so meine ich, laden wir Schuld auf uns, wenn wir, aus welchen Gründen auch immer, politische Theorien verharmlosen. Vor mir liegt ein Foto, das ein DDR-Schaufenster zeigt. In ihm eine riesige Tafel, darauf Karl Marx und die Worte: "Seine Ideen sind bei uns verwirklicht u ,83 Epilog
Der Schreiber des im Prolog zitierten Briefes schloß mit den Sätzen: "Wird in Ihren Veröffentlichungen das Marxsche Erbe zweckbetont negativ interpretiert oder gibt es reale inhaltliche Rechtfertigungen für Ihre oben zitierte Aktualisierung? Falls es Ihnen möglich ist, schreiben Sie mir bitte zur persönlichen Information und bedenken Sie, daß ich Ihre Auffassung zur Sache nur aus einer Sekundärquelle rekapituliere. Für ihre Korrespondenz bedanke ich mich!U
Meine "Korrespondenzu blieb recht dürftig: "Dank für Ihr Schreiben vom 3.3.1986. In Ihrem letzten Absatz betonen Sie, daß Sie meine Auffassung zur Sache nur aus einer Sekundärquelle kennen ... Wenn ich recht informiert bin, ist es Ihnen nicht gestattet, von mir Auszüge aus diesen meinen Publikationen entgegenzunehmen. Falls Sie jedoch keine Bedenken haben, sende ich Ihnen Fotokopien ... Erst nach der Lektüre des authentischen Marx können wir in einen fruchtbaren Dialog eintreten. In Erwartung Ihrer Antwort ... u
Die Antwort blieb aus. Stattdessen schrieb mir am 7.7.1986 ein Westberliner Anwalt, daß mein Briefpartner wegen gesetzwidriger Verbindungsaufnahme mit dem Ausland verhaftet worden sei. Nur wenige Wochen später ergänzte er, mein "Briefpartneru habe sein Suchen nach der "marxistischen Wahrheit mit drei Jahren Freiheitsentzug bezahlen müssen. - Eines von Millionen Opfern totalitärer Herrschaft. U
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Anmerkungen: 1) Hanni WettengellGüntcr Wisotzki: .Karl Marx. Fricdrich Engels und die Bedrohungslügc· in .Beiträge zur Geschichte dcr Arbeitcrbewegung·. Berlin (Ost) 1/85. 5.3 f. 2) Nach Susanne Miller: .Das Problem der Freiheit im Sozialismus·. Berlin 1974.5.19. 3) Godesberger Programm zitiert nach Susanne Millcr und Heinrich PotthoH: .K1einc Geschichte der SPD ...•• Bonn 1981.5.81. 4) Siehe Konrad Löw: .Darüber sollten wir im engsten Kreise sprechen ... • Politische Studien 1985. Nr.281.S.279. 5) Nach Walter Dirks u.a.: .Christen für den Sozialismus n Dokumente (1945-1959)". Stuttgart 1975. 5.35. Sinngemäß auch Iring Fetscher. Wolfgang Leonhard. jeweils passim. 6) Kassette 01702 .Archiv der sozialen Demokratie·. 7) Michail Bakunin: .Staatlichkeit und Anarchie·. Berlin 1972.5.234. 8) Nach Miller (Anm.2). 5.285. 9) Alexander Rüstow: .Ortsbcstimmung der Gegenwart· m. Erlenbach-Zürich 1957.5.318. 10) Helmut Gollwitzcr: .Die marxistische Religionskritik und der christlichc Glaube·. München 1965. 5.42. 11) Ernst Topitsch: .Marxismus als Herrschaftsideologie· in Hochschulverband .Bilanz einer Reform ...•• Bonn 1977. 5.465. 12) Leszek Kolakowski: .Leben trotz Geschichte .. .". Münchcn 1977.5.259 f. 13) Kolakowski (ebcnda) 5.278 f. Ähnlich an mehrcrcn andercn Stellen. z.B. in .Marxismus und Menschenrechte·. Kontinent 3/85. 5.11 f. 14) Gerd-K1aus Kaltenbrunner (Hrsg.): • Weltkrieg der Propagandisten·. Münchcn 1985.5.154 f. 15) Nach Jacob L. Talmon: .Die Ursprüngc der totalitären Demokratie". Opladcn 1961.5.14. 16) Karl Dietrich Brachcr: .Der umstrittene Totalitarismus: Erfahrung und Aktualität" in Manfred Funke .Totalitarismus .. .". Düsseldorf 1978. 5.89. 17) Alexander Schwan: .Theorie als Dienstmagd der Praxis .. .". Stuttgart 1983.5.255. 18) Richard LöwenthaI: .Der Prophct einer dicsscitigen Erlösung - Karl Marx - Glaubensstifter. Wissenschaftler. Politiker·. FAZ v.12. März 1983. 19) Wolfgang Schwerbrock: .Karl Marx privat·. München 1962. S.16 f. 20) So Siegfried Jenkner: .Entwicklung und Stand dcr Totalitarismusforschung·. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 31/84. 5.17; ähnlich Uwc Dietrich Adam: .Anmerkungen zu methodologischcn Fragen in den Sozialwissenschaften .. ." (Anm.16), 5.17. 21) c.]. Friedrich: • Totalitäre Diktatur", Stuttgart 1957, S.22. 22) Siehe Konrad Löw: .Marxismus-Quellenlexikon .. .", Köln 1988, .Staat". 23) Karl Marx/Friedrich Engels-Werke, hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED Berlin (Ost) 1956 H., Bd.34, 129. 24) MEW (Anm.23), Ergbd.1, 261. 25) MEW (Anm.23), 4, 482 H. 26) MEW (Anm. 23), 23, 27. 27) MEW (Anm. 23), 27. 324. 28) MEW (Anm.23), 19,335 f. 29) MEW (Anm.23). 31,183. 30) MEW (Anm.23), 19, 189. 31) MEW (Anm.23), 19, 177 H. 32) MEW (Anm.23). 22, 515 cbenso 7, 517. 33) MEW (Anm.23). Ergbd.1, 546. 34) MEW (Anm. 23), 1, 344. 35) MEW (Anm. 23), 3, 42. 36) MEW (Anm.23), 6, 234. 37) MEW (Anm.23), 7, 565. 39) (wie Anm.21). S.27. 40) MEW (Anm.23). Ergbd.1. 536. 41) (Anm.22) .Entfremdung·, .Ausbcutung·, .Arbcitsteilung", .Kommunismus·. 42) MEW (Anm.23), 3, 33.
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43) (Anm.21), S.19. 44) Siehe dazu Fred Oldenburg: .Der Paneibegriff der SED und Karl Marx" in Konrad Löw: .Karl Marx und das politische System der DDR", Asperg 1982, S.153 ff. 45) MEW (Anm.23), 4, 474. 46) MEW (Anm.23), 18, 33 f. 47) MEW (Anm.23), 32, 671. 48) MEW (Anm.23), 33, 328 f. 49) Georg Brunner: .Das Paneistatut der KPdSU 1903-1961", Köln 1965, S.10. 50) Konrad Löw: .Die Lehre des Karl Marx - Dokumentation/Kritik", Köln 1982, S.339. 51) (Anm.21), S.19. 52) (Anm.22), • Terror". 53) MEW (Anm.23), 5, 557. 54) MEW (Anm.23), 6, 286. 55) MEW (Anm. 23), 6, 505. 56) MEW (Anm. 23), 18, 308. 57) MEW (Anm.23), 32, 349 und ebenso 351. 58) Michail Bakunin: .Gesammelte Werke", Berlin 1924, Bd.3, S.213. 59) MEW (Anm.23), 4, 600. 60) (Anm.21), S.20. 61) Rheinischer Merkur v.19. Oktober 1984, S.22. 62) Erhard Schreiber: .Kritik der marxistischen Kommunikationstheorie", München 1984, S.7. 63) Nach Hermann Weber: .Das Prinzip Links", 0.0.1973, S.211. 64) MEW (Anm.23), 21,19. 65) MEW (Anm.23), 27, 410. 66) PZ Dez. 1983, S.28. 67) Iring Fetscher (Hrsg.): .Karl Marx, Friedrich Engels - Pressefreiheit und Zensur", Frankfurt 1969, S.15. 68) Fetscher (Anm.67) geht weder auf diese Argumentation noch auf die Belege, die als Nachweis unterbreitet wurden oder hätten unterbreitete werden können, ein. Was mit Blick auf Marx nicht ins Konzept paßt, wird nicht berücksichtigt! 69) (Anm.19), S.18 f. 70) (Anm.21), S.20. 71) z.B. MEW (Anm.23), 4, 604; 5, 3, 86 f. 72) MEW (Anm.23), 36, 255. 73) (Anm.21), S.20. 74) MEW (Anm.23), 3, 33. 75) MEW (Anm.23), 25, 828. Ob dieser Text wirklich von Marx stammt oder nicht vielmehr eine Korrektur Engels' an Marx ist, wird sich in wenigen Jahren zeigen. 76) MEW (Anm.23), 35,151. 77) Ebenso Schwan (Anm.17), S.255. 78) Rheinischer Merkur v.20.8.1982. 79) Lenin: • Werke", 40 Bände, Berlin-Ost 1958-1964,2,346. 80) MEW (Anm.23), 1,385. 81) Nach .Zur Debatte" Juli/August 1982, S.10. 82) (Anm.12), S.280. 83) Titelseite von .Christen drüben" Dez.1986.
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KONRAD LÖW
Die "Weltanschauung des Grundgesetzes" und der Totalitarismus Aufriß der Problematik Das Grundgesetz ist trotz aller ursprünglich gemachten Vorbehalte die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Als solche ist es das ranghöchste Normengefüge, die Basis aller Gesetze und Verordnungen, ein historischer Komprorniß und in weiten Teilen Fundamentalkonsens der 1949 herrschenden politischen Kräfte und Strömungen, ein integrierender Faktor, insofern ähnlich dem Bundespräsidenten, ein staatsbürgerliches Lesebuch von besonderer Würde und Weihe. Der Totalitarismus ist eine Ideologie, die, wenn sie zum staatstragenden Prinzip wird, - innenpolitisch die staatliche Souveränität verabsolutiert und dabei den Staatsbürger in einen gänzlich disponiblen Untertanen verwandelt, - nach außen, wegen der unkontrollierten Machtkonzentration im Innern, den Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Völker bedroht. Als Prototypen totalitärer Herrschaft galten und gelten die Sowjetunion unter Stalin und das Deutsche Reich unter Hitler. Die Fragen, die im folgenden beantwortet werden sollen, lauten: Ist" Totalitarismus" ein Thema des Grundgesetzes und, falls ja, wie wird es in ihm abgehandelt? Welche historischen Erfahrungen sind in seine Struktur eingeflossen? Ergeben sich daraus Rechte und Pflichten für den einzelnen wie für das staatliche Handeln?
Ist das Grundgesetz antifaschistisch oder antitotalitär?
Die AntiJaschismusthese Im Text des Grundgesetzes kommt das Wort "Totalitarismus" nicht vor. Auch die vom gleichen Wortstamm abgeleiteten Ausdrücke: total, totalitär, Totalität - finden sich nicht. Hingegen ist von der "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" die Rede (Art. 139}, was manche veranlaßt, von einer im Grundgesetz ausformulierten "Frontstellung ... gegen Faschismus, autoritären Staat und Militarismus"! zu sprechen. Martin Kutscha füllt Seiten unter den Überschriften "Der antifaschistische Gehalt des Grundrechtskatalogs"2, "Art.139 GG als Grundsatzaussage"3, "Die antifaschistischen Befreiungsvorschriften des Art. 139 GG"4. Typisch sind darin Sätze wie: "Nur mit Blick auf diese ,dezidiert antinazistische' Tendenz werden überhaupt auch erst die SChutzbestimmungen des Grundgesetzes verständlich, welche die ,streitbare Demokratie' ausmachen und eine Besonderheit gegenüber allen
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anderen westeuropäischen bürgerlich-demokratischen Verfassungen darstellen .... Als Beispiel für einen Verwirkungsfall nannte etwa der Abgeordnete Bergsträsser den Eigentumsgebrauch, ,wie gewisse große Firmen es getan haben, um Herrn Hitler gegen das Wohl der Allgemeinheit zu subventionieren' .... Hiermit schwerlich vereinbaren läßt sich die verfassungsrechtlich relevante Gleichsetzung von Kommunisten und Nationalsozialisten, indem den auf Grund konkreter historischer Erfahrung antinational angelegten sozialistischen Verfassungsschutzbestimmungen nachträglich eine abstrakte ,antitotalitäre' Stoßrichtung imputiert wird .... Es verleiht dafür aber dem allgemeinen Konsens dieser Kräfte Ausdruck, dem Nationalsozialismus und Faschismus künftig die Teilnahme an der freien politischen Auseinandersetzung mit allen Mitteln zu verwehren. Gegenüber diesem allgemein akzeptierten Grundkonzept des Verfassunggebers kann die möglicherweise vorhandene reservatio mentalis einiger Abgeordneter des Parlamentarischen Rates, sich mit den Verfassungsschutzbestimmungen eine willkommene Waffe gegen die - ihrerseits selbst an der Verfassungsschöpfung beteiligten - Kräfte der politischen Linken zu schaffen, keine bestimmende Kraft entfalten. Derlei untergründige Motive werden aber letztlich über den allgemeinen Verfassungskonsens gestellt und damit die ,streitbaren' Elemente des Grundgesetzes aus dessen konzeptionellem Entstehungszusammenhang herausgerissen, wenn man diese im nachhinein ,antitotalitär' auflädt. "5
Ist diese Sicht richtig?
Das politische Klima während der Tagungen des Parlamentarischen Rates Am 8. Mai 1945 unterzeichneten Vertreter der deutschen Wehrmacht die bedingungslose Kapitulation. Deutschland wurde Besatzungsgebiet der Hauptsiegermächte. Die oberste Gewalt für die Deutschland als Ganzes betreffenden Angelegenheiten ging auf den alliierten Kontrollrat über, der infolge unüberbrückbarer Gegensätze letztmalig am 20. März 1948 zusammentrat. Am 1. Juli 1948 erteilten die Militärgouverneure der drei Westzonen in Frankfurt den westdeutschen Ministerpräsidenten die Vollmacht zur Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung für die Errichtung eines deutschen Bundesstaates. In der Zeit vom 10. bis 28. August arbeitete der Verfassungskonvent von Herrenchiemsee den Entwurf eines Grundgesetzes aus. Am 8. September begann der Parlamentarische Rat mit seinen Verfassungsberatungen. Er verabschiedete am 8. Mai 1949, also genau vier Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation, das "Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland". Allen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates war die imperialistische Willkürherrschaft Hitlers in bester Erinnerung. Viele gehörten selbst zu den Opfern der braunen Diktatur. Keines dachte daran, die ideologischen Trümmer des Nationalsozialismus als Bau186
steine des neuen Deutschland zu verwenden. Die schlimmen Erfahrungen führten zu Einsichten, die sich, und das ist unbestritten, in vielfältiger Weise im Text des Grundgesetzes niedergeschlagen haben. Ohne Hitler, ohne Nationalsozialismus würden wir heute in einer wesentlich anderen Verfassungsordnung leben, ohne ausdrückliche Anerkennung der Menschenwürde, ohne Bekenntnis zu den Menschenrechten. Allen von den Erfahrungen im NS-Staat geprägten Mitgliedern des Parlamentarischen Rates stand zugleich eine gegenwärtige Wirklichkeit vor Augen, die nicht minder stark ihr Denken beeinflußt haben dürfte. Um diese Vermutung plausibel zu machen, einige Fakten: Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war Dr.Kurt Schumacher, während der NS-Zeit viele Jahre Häftling verschiedener Konzentrationslager. Bereits 1946 sprach er mit Blick auf führende Kommunisten der Sowjetischen Besatzungszone von "rotlackierten Nazis"6. Anlaß für diese an Schärfe kaum zu überbietende Attacke war u.a. die Zwangsfusionierung von SPD und KPD unter Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche, sowie die Fortexistenz der NS-Konzentrationslager Buchenwald, Sachsenhausen und Bautzen, nun unter dem Roten Stern. Bei Hermann Weber lesen wir diesbezüglich: "Bis zur Auflösung der KZs Anfang 1950 waren dort ca.130 000 politische Gefangene inhaftiert, von denen etwa 50000 ums Leben gekommen sein sollen. Weitere 30000 bis 50000 starben bereits in der Untersuchungshaft oder wurden direkt in die Sowjetunion deportiert. Nur ein Teil der Internierten waren NS-Verbrecher; schon bald kamen als unzuverlässig bezeichnete oder wahllos denunzierte Personen in die Lager. Die KZs sollten der ,Vernichtung der Kader der Bourgeoisie' dienen, doch inhaftierte die NKWD ebenso Sozialdemokraten und oppositionelle Kommunisten."7
Am 18.6.1948 begann die Blockade Berlins. Die Landwege der drei Westsektoren der Stadt waren ins westliche Ausland, insbesondere aber auch zu den drei Westzonen, total abgeriegelt und konnten während der folgenden elf Monate nur über eine Luftbrücke versorgt werden. Dieser gewaltsame Versuch der Sowjets, dem eigenen Machtbereich auch Westberlin einzuverleiben, bildete in Schlagzeilen und Nachrichten den tagtäglichen politischen Hintergrund während der gesamten Sitzungsperiode des Parlamentarischen Rates. Nirgendwo in der sowjetischen Besatzungszone auch nur ansatzweise die Respektierung des Selbstbestimmungsrechts der Bevölkerung. Und dort, wo zunächst wieder demokratische Zustände eingekehrt waren wie in der Tschechoslowakei, wurde das demokratische Leben abgewürgt. Wer sich diese hochbrisanten Vorgänge vergegenwärtigt, kann nicht daran zweifeln, daß sie das Denken und Tun der Mitglieder des Parlamentarischen Rates ähnlich nachhaltig beeinflußt haben wie die NS-Vergangenheit. Schumachers einprägsam formulierte Weigerung, zwischen den Nationalsozialisten und den moskauhörigen Kommunisten fundamentale Unterschiede anzuerkennen, entsprach der Überzeugung der großen Mehrheit der Bevölkerung. Von kommunistischer Seite wird ihm daher, nicht ohne inneren Widerspruch, aber durchaus zurecht vorgehalten, er habe mit diesem Ausspruch "die alte Totalitarismusthese wieder aufgefrischt".8 187
Die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates Der Parlamentarische Rat tagte als Plenum. Daneben gab es den Hauptausschuß und fünf weitere Ausschüsse. Im folgenden soll dokumentiert werden, daß und wie sowohl der Hauptausschuß als auch das Plenum zu der uns interessierenden Frage Stellung nahmen. Die Protokolle bestätigen, was die schon geschilderte politische Atmosphäre dieser Monate, Wochen und Tage vermuten ließ. Beide Phänomene, der Nationalsozialismus und der Sowjetsozialismus, haben als Menetekel den Gang der Verhandlungen begleitet. Viele dieser Texte sind es wert, erneut ins Bewußtsein gerufen zu werden. Obgleich schon fast vier Jahrzehnte alt, sind sie mehr als nur historische Dokumente und Interpretationshilfen. Hier nur einige Kostproben: Am 8. Dezember 1948 äußerte der CDU-Abgeordnete Dr.Adolf Süsterhenn im Hauptausschuß: "Wir sind der Meinung, daß wir eine demokratische Verfassung zu schaffen haben, in der vor allem der Gedanke der persönlichen Freiheit gegen totalitäre Staatsbestrebungen gesichert werden muß. Wir können diese Verfassung nicht in den luftleeren Raum hineinbauen, sondern müssen sie in die konkrete geschichtliche Situation hineinfügen. "9
Nicht minder deutlich am gleichen Tage der SPD-Abgeordnete Dr.Fritz Eberhard: "Nachdem das Wort ,Kulturkampf' in Anlehnung an die alte Zeit gefallen ist, möchte ich folgendes sagen: Die Haltung unserer Fraktion gestern und heute ist weitgehend von dem Grundsatz bestimmt: Ein Kulturkampf findet heute nicht statt; er darf heute und hier nicht stattfinden; denn wir haben ja nun einmal im europäischen und Weitmaßstab so etwas wie einen Kulturkampf, und in diesem Kampf stehen die beiden großen Parteien, CDU und SPD, in Berlin und anderwärts, wie ich hoffe, auf derselben Seite.... Die Widerstandskraft, die die Kirchen gegen totalitäre Willkür in der Vergangenheit an den Tag legten und auch in der Gegenwart zeigen, verdient durchaus eine gerechte Würdigung. Sie war nicht bei allen Kirchen und zu allen Zeiten gleich groß und stark. Aber man muß wohl sagen, daß die Widerstandskraft gerade der katholischen Kirche weitgehend in derselben Richtung wie die der sozialistischen Arbeiterbewegung gewirkt hat. Sie wird bei der Abwehr weiterer totalitärer Angriffe von Bedeutung sein."10
Darauf der KPD-Abgeordnete Heinz Renner: "Ich möchte mich zunächst mit dem letzten Redner befassen, der, wie er sagte, den Versuch unternommen hat, den Standpunkt der SPD zu dieser Frage noch etwas zu untermauern. Er hat seine Auffassung so formuliert, daß der heutige Kulturkampf, den die SPD zusammen mit der CDU und den übrigen bürgerlichen Parteien führt, seinen Ausdruck beim Wahlkampf in Berlin gefunden habe. Er hat damit eindeutig den Kampf gemeint, den man schlechthin mit dem politischen Schlagwort: Kampf der westlichen, der abendländischen Kultur gegen die Unkultur des bolschewistischen Ostens bezeichnet. So ist doch Ihre Formulie-
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rung. Dazu stelle ich nur eines fest: Es ist immerhin sehr beachtlich, daß die SPD diese Art von Kampf auch hier als ihren eigenen Kampf deklariert."11
Am 12. Januar 1949 erklärte der SPD-Abgeordnete Dr. Rudolf Katz: .Wir wollen mit unserem Vorschlag einer kämpferischen Demokratie die Möglichkeit geben, bei der Abwehr von antidemokratischen Angriffen auch die entsprechenden Mittel anzuwenden. Das Vertrauen auf die guten Bürger, die ihre Schlafmützen herunterziehen werden, wenn, sagen wir, ein faschistischer oder antidemokratischer Angriff kommen sollte, habe ich leider nicht. Da muß der Staat gewisse scharfe Machtmittel haben, um einen derartigen Angriff niederzuschlagen. Dazu ist die Suspension gewisser Grundrechte nötig. Die kämpferische Demokratie soll sich gegen Angriffe auf die Demokratie verteidigen können ... "12
Heinz Renner, KPD, wußte, gegen wen die Demokratie auch geschützt werden sollte. Deshalb äußerte er in diesem Zusammenhang: "Sie meinen ja nicht die Nazis."13 Und derselbe am 9. Februar 1949: .Und das, was im Hitler-Staat erzielt werden sollte, diese ,saubere Verwaltung' und die ,Beseitigung der Sauwirtschaft' - ich wiederhole nur ein Wort -, ist in das Gegenteil umgedreht worden. Wir haben nie eine korruptere Verwaltung gehabt, wir haben nie eine undemokratischere Verwaltung gehabt ... "14
Dazu der SPD-Abgeordnete Dr.Fritz LöwenthaI mit einem Zwischenruf: "als in der Ostzone!" Bereits am 8. September 1948 äußerte Dr.Süsterhenn vor dem Plenum: "Die uns aufgetragene Arbeit erfordert von uns auch eine letzte geistige Entscheidung. Der politische Alpdruck, der seit der Machtergreifung Mussolinis 1922 über Italien, seit der Machtergreifung Hitlers 1933 über Deutschland, seit der deutschen Aggression 1939 über ganz Europa lag, ist auch im gegenwärtigen Augenblick noch nicht geschwunden. Nicht nur die Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, nicht nur die deutsche Ostzone und Berlin, sondern ganz Europa steht im gegenwärtigen Augenblick noch unter der Bedrohung eines totalitären zentralistischen Zwangssystems, für das persönliche Freiheit und Menschenwürde keinen ethischen oder zumindest keinen politischen Wert besitzen. "16
Der Abgeordnete Johannes Brockmann vom Zentrum: "Die Freiheit ist das höchste Gut eines Volkes. Wir haben nicht in den Konzentrationslagern, in den Gefängnissen und in den Zuchthäusern der Nazizeit gesessen, in aktiver Resistenz gegen dieses Terrorsystem, um ein neues Terrorsystem in einem anderen Gewande dagegen einzutauschen."17
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Schließlich sei noch der Berliner Abgeordnete Jakob Kaiser zitiert, bis zur Absetzung durch die sowjetische Militäradministration Deutschlands im Dezember 1947 Vorsitzender der Ost-CDU: "Lassen Sie mich dieses sagen: In Berlin spielt sich ein Weltdrama ab .... Es geht in Berlin nicht um Rußland. Es geht in Berlin nicht um Amerika. Es geht einzig und allein - und das ist die geschichtliche Aufgabe dieser Stadt Berlin und ihrer Bevölkerung - um die Aufhaltung, um die Zurückdämmung eines Systems, das Deutschland und ganz Europa gefährdet. ... Es bleibt Deutschland aufgegeben, Berlin und die Ostzone in dem ihm aufgezwungenen geschichtlichen Kampf mit aller Kraft zu unterstützen ... Wir bräuchten uns allerdings über die Absichten und Handlungen der Kommunisten keine Sorgen zu machen, wenn hinter ihnen nicht fremde Bajonette sie schützend stehen würden. "18
Daß es sich dabei nicht um verirrte Stimmen einzelner Abgeordneter gehandelt hat, ist offensichtlich. Der letzte mögliche Zweifel wird ausgeräumt durch den Text einer von Konrad Adenauer verlesenen Entschließung. Sie fand die Zustimmung aller Abgeordneten, den Vertreter der KPD ausgenommen. Einige markante Sätze aus diesem Text: "Zu dieser Zeit, da wir im Westen die Grundlagen einer neuen demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung schaffen, werden in Berlin und in der Ostzone dem Volk die elementarsten Lebensrechte verweigert. Die Diktatur, die mit dem Siege der alliierten Mächte endgültig gestürzt schien, erschien unter neuen Zeichen. Mit Bestürzung hat das deutsche Volk vernommen, daß ein russisches Militärgericht fünf Teilnehmer an der Freiheitsdemonstration der Berliner Bevölkerung je zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt hat. Weiteren droht dasselbe Schicksal. Ganz offensichtlich haben diese Urteile den einzigen Zweck, durch in Rechtsform gekleideten Terror das Berliner Volk in Furcht und Schrecken zu versetzen, um seinen Widerstand zu lähmen. Diese Maßnahme ist nur ein Glied in der langen Kette planvoll erdachter und unbarmherzig durchgeführter Unterdrückungshandlungen. "19
Angesichts dieser Fakten ist es grotesk, dem Parlamentarischen Rat eine ausschließlich oder überwiegend antifaschistische Grundstimmung andichten zu wollen, es sei denn, daß der Bolschewismus als eine der Spielarten des Faschismus verstanden wird, worauf die zitierte Äußerung Kurt Schumachers hindeutet. Auch der Hinweis auf Art. 139, wonach "die zur ,Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus' erlassenen Rechtsvorschriften" von den Bestimmungen des Grundgesetzes nicht berührt werden, kann diese Erkenntnis nicht glaubwürdig erschüttern. Denn Art. 139 steht nicht zufällig unter der Überschrift "Übergangsund Schlußbestimmungen". Bemerkenswert ist auch, daß die Worte "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" im Text der Norm zwischen Anführungszeichen stehen. Das wurde veranlaßt, um klarzustellen, daß es sich um das im Zusammenhang mit dem Kontrollratsgesetz der Alliierten erlassene Recht handelt.20
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"Freiheitliche Demokratische Grundordnung" als positiv formulierte Verneinung des Totalitarismus und pädagogische Alternative
Schon eingangs wurde darauf hingewiesen, daß sich das Grundgesetz nirgendwo expressis verbis gegen den Totalitarismus ausspricht. Daraus den Schluß zu ziehen, das Grundgesetz verkenne, trotz zahlreicher einschlägiger Äußerungen der es beratenden Persönlichkeiten, "das politische Phänomen des 20. Jahrhunderts"21, wäre jedoch ein gewaltiger Irrtum. Das Grundgesetz lehnt den Totalitarismus ab, indem es jene Werte in den Verlassungsrang erhebt, die der Totalitarismus bekämpft. Das Grundgesetz unterstellt sogar einen vor- und überstaatlichen Status einiger dieser Werte, der sie jedem Zugriff, auch der Konstituante, entzieht. Dies geschieht insbesondere durch das, was die Wortkombination "freiheitliche demokratische Grundordnung" beinhaltet, bezweckt und bewirkt. Die freiheitliche demokratische Grundordnung ist gleichsam die ins Positive gewendete Negation des Totalitarismus, oder anders ausgedrückt: Aus dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung folgt notwendigerweise die Ablehnung jeder Form totalitären Denkens, totalitären HandeIns, totalitärer Herrschaft. Diese Sicht wird von Anfang seiner Tätigkeit an vom Bundesverfassungsgericht vertreten, so im Urteil gegen die Sozialistische Reichspartei, 1952: "Diese Grundwerte bilden die freiheitliche demokratische Grundordnung, die das Grundgesetz innerhalb der staatlichen Gesamtordnung - der ,verfassungsmäßigen Ordnung' - als fundamental ansieht. Dieser Grundordnung liegt letztlich nach der im Grundgesetz selbst getroffenen verfassungsrechtlichen Entscheidung die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt und Freiheit und Gleichheit dauernde Grundwerte der staatlichen Einheit sind. Daher ist die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt. "22
Im KPD-Urteil, 1956, heißt es ergänzend und das schon oben Ausgeführte unterstreichend: "Der verfassungsgeschichtliche Standort des Grundgesetzes ergibt sich daraus, daß es unmittelbar nach der - zudem nur durch Einwirkungen äußerer Gewalt ermöglichten - Vernichtung eines totalitären Staatssystems eine freiheitliche Ordnung erst wieder einzurichten hatte. Die Haltung des Grundgesetzes zu den politischen Parteien - wie überhaupt die von ihm verwirklichte spezifische Ausformung der freiheitlichen Demokratie - ist nur verständlich auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Kampfes mit diesem totalitären System. Der Einbau wirksamer rechtlicher Sicherungen dagegen, daß solche politischen Richtungen jemals wieder Einfluß auf den Staat gewinnen könnten, beherrschte das Denken des Verfassungsgebers. "23
Ebenso wird das Grundgesetz und speziell die freiheitliche demokratische Grundordnung von den führenden Kommentaren und Lehrbüchern verstanden. Zum Beispiel heißt es im Kommentar von Maunz/Dürig/Herzog/Scholz: 191
"Die Merkmale dieses Begriffs werden vielmehr ganz spezifisch durch ihren Gegensatz zum totalitären Staat geprägt, also von der Vorstellung einer Grundordnung her, wie sie nicht sein soll. Es ist nichts Ungewöhnliches bei der Interpretation eines Verfassungswertes, wenn man seine positive Aussagekraft im ,Substraktionswege' gewinnt, also durch Abzug dessen, was nach früherem und gegenwärtig fremdem totalitärem Anschauungsunterricht bei uns nicht rechtens sein solL"
Die freiheitliche demokratische Grundordnung "nimmt eine Gegenposition ein zum Totalitarismus und trachtet daher danach, darauf abzielende Bestrebungen von vornherein zu verhindern. "24 Und Klaus Stern schreibt in seinem "Staatsrecht": "Mit dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung hat der Verfassungsgeber nicht nur eine Abkehr vom vorausgegangenen System des Totalitarismus vollzogen, sondern die demokratische Grundordnung zugleich inhaltlich (materiell) ausgefüllt und damit der relativen Demokratie, wie sie die Weimarer Reichsverfassung verstand, eine Absage erteilt."25
Im Kampf der Geister und Ideologien sind Stimmen nicht selten, die die Ansicht vertreten: Die freiheitliche demokratische Grundordnung werde von Politikern häufig als vollwertige Alternative zum marxistischen System, als Gegenideologie indirekt beschworen. Doch, so meinen Kritiker, eine solche Bedeutung könne die freiheitliche Verfassung nicht gewinnen. Sie stelle keine geschlossene, staatlich organisierte Lebensund Heilsordnung dar, wie der Sozialismus sie anbiete. - Wörtlich: "Die Alltagsmisere der sozialistischen Bürokratie wird als Advent gedeutet, der auf ein kommunistisches Weihnachten vorbereitet, an dem die Staatsgewalt abstirbt und der herrschaftsfreie Diskurs erreicht ist. Die Parteioligarchie, die kraft ihres ,richtigen Bewußtseins' sich zur Herrschaft berufen sieht, verwaltet die sozialistische Wahrheit und legitimiert ihre Erziehungsdiktatur. Der Marxismus, der die Ankunft des Heils im Laufe der Geschichte verheißt, vermag religiöse Bedürfnisse, die auch in der entkirchlichten, säkularisierten Gesellschaft wirkmächtig sind, an sich zu ziehen. Das freiheitliche System besitzt eine solche Anziehungskraft nicht. "26
Josef Isensee, von dem diese Sätze stammen, räumt aber ein, daß Menschenrechte und Demokratie Menschheitshoffnungen zu Zeiten seien, in denen sie von der Tyrannis unterdrückt werden: "Hier kann die Freiheit ihre Märtyrer finden. Das liberale Pathos des ,in tyrannos' verstummt allerdings, wenn die Despotie beseitigt und die freiheitliche Verfassung hergestellt ist."
Isensee muß sich fragen lassen, ob das Faszinosum des Marxismus nicht schon längst im "realen Sozialismus" sein Grab gefunden habe. Natürlich werden schwärmerisch veran-
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lagte Tagträumer zunächst nach dem Marxschen Kommunismus greifen, der die Lösung aller Welträtsel verspricht. Aber das Erwachen dürfte um so ernüchternder sein. Auch der Offenbarungseid der nationalsozialistischen Ideologie müßte bei entsprechender Auswertung den bundesdeutschen "Verfassungspatriotismus"27 kräftig fördern. Aus höchstpersönlicher Erfahrung als Staatsbürger und Lehrer vertrete ich daher die Gegenposition zu Isensee und meine, daß die freiheitliche demokratische Ordnung bei entsprechender Vermittlung politisches Selbst bewußtsein wecken und die Sinnfrage, wenn auch nur partiell, befriedigend beantworten kann.
Die freiheitliche demokratische Grundordnung eine totalitäre Gefahr? Seinen umfangreichen Reader, betitelt "Freiheitliche demokratische Grundordnung", beginnt Denninger mit den Worten: "Wo immer in der Bundesrepublik über innenpolitische Fragen diskutiert, aber auch entschieden wird, da geht die Rede von der ,freiheitlichen demokratischen Grundordnung' ... "28
Und in der Tat, die freiheitliche demokratische Grundordnung ist ein zentraler Begriff unserer Verfassung, begegnet uns innerhalb und außerhalb des Verfassungstextes an wichtigen Stellen, schützt überragende Werte, darf, ja muß notfalls mit harten Bandagen verteidigt werden. Zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darf in das Brief-, Postund Fernmeldegeheimnis eingegriffen (Art.l0 Abs.2), darf die Freizügigkeit eingeschränkt (Art.ll Abs.2), dürfen eminente Grundrechte als verwirkt aberkannt (Art.18) und Parteien als verfassungswidrig verboten werden (Art. 21 Abs.2). Zum Schutze dieser Verfassungswerte kann die Bundesregierung die Streitkräfte zur Unterstützung von Polizei und Bundesgrenzschutz heranziehen (Art. 87 a). Die Beamtengesetze des Bundes und aller Bundesländer gestatten nur die Berufung solcher Personen in dieses besondere Dienst- und Treueverhältnis, die jederzeit bereit sind, für die freiheitliche demokratische Grundordnung einzutreten. Wer als Beamter diese Voraussetzung nicht mehr erfüllt, muß entlassen werden. Auch sonst spielt die freiheitliche demokratische Grundordnung eine große rechtliche und gesellschaftspolitische Rolle. So heißt es beispielsweise in § 2 Abs.2 des Staatsvertrags über die Errichtung des "Zweiten Deutschen Fernsehens": "Diese Sendungen... müssen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung entsprechen .... " Daraus folgt: Die zum Schutze dieser Ordnung geschaffenen gesetzlichen Möglichkeiten sind Waffen, deren Schärfe beachtlich ist und auch nicht heruntergespielt werden darf. Letzteres geschieht jedoch, wenn renommierte Stimmen, angeführt vom Bundesverfassungsgericht, die weltanschauliche Neutralität des Grundgesetzes vorbehaltslos proklamieren. So heißt es in einem Urteil: "Dieses Offensein des Staates für die Vielfalt der Formen und Inhalte, in denen Schule sich darstellen kann, entspricht den Wertvorstellungen der freiheitlichen 13 Löw, 2. A.
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· demokratischen Grundordnung, die sich zur Würde des Menschen und zur religiösen und weltanschaulichen Neutralität bekennt."29
Das Gericht unterläßt es hier leider, jene Einschränkung zu wiederholen, die es an anderer Stelle gemacht hat, zum Beispiel im KPD-Urteil: wWenn das Grundgesetz so einerseits noch der traditionellen freiheitlich-demokratischen Linie folgt, die den politischen Parteien gegenüber grundsätzlich Toleranz fordert, so geht es doch nicht mehr so weit, aus bloBer Unparteilichkeit auf die Aufstellung und den Schutz eines eigenen Wertesystems überhaupt zu verzichten. Es nimmt aus dem Pluralismus von Zielen und Wertungen, die in den politischen Parteien Gestalt gewonnen haben, gewisse Grundprinzipien der Staatsgestaltung heraus, die, wenn sie einmal auf demokratische Weise gebilligt sind, als absolute Werte anerkannt und deshalb entschlossen gegen alle Angriffe verteidigt werden sollen; soweit zum Zwecke dieser Verteidigung Einschränkungen der politischen Betätigungsfreiheit der Gegner erforderlich sind, werden sie in Kauf genommen. 30
Auch die Staatsrechtler und Politologen Konrad Hesse 3!, Hans Maier32 , Otto Kimminich 33 , Ernst Friesenhahn34, Klaus Stern35 sprechen vorbehaltlos von der weltanschaulichen Neutralität des Grundgesetzes. Aber ist diese Behauptung richtig? Wenn Weltanschauungen Wertungen beinhalten - und wer wollte das bestreiten? -, dann kann der, der nicht wertblind ist, auch nicht weltanschaulich neutral sein. Als Beweis für das Gegenteil wird immer wieder, zum Beispiel von Maier und Stern, auf Klaus Schlaichs Buch "Neutralität als Verfassungsprinzip" hingewiesen. 36 Doch kann damit der Nachweis für die Richtigkeit der kritisierten These nicht geführt werden. Dort ist zwar, selbst noch auf der letzten Textseite, vom "weltanschaulich neutralen Staat des Grundgesetzes" die Rede, der aber, und das ist die entscheidende Ergänzung, "seine wertgebundene Grundlage in der Rechtsstaatlichkeit und in der Demokratie hat. Hierin verwehrt die Verfassung eine Neutralität."37 Insoweit also Weltanschauungen die Themen "Rechtsstaatlichkeit" und "Demokratie", kurz: den Verfassungskern ansprechen, wird das Grundgesetz wachsam und Partei. Es entspricht unserem Sprachgebrauch von "Hitlers Weltanschauung", so der Titel eines Buches von Eberhard Jäckel38 , vom "Marxismus als atheistische Weltanschauung", so der Titel eines Buches von Angelika Senge39 , zu sprechen. Gerade die Negation der Rechtsstaatlichkeit ist ein Essentiale beider Weltanschauungen, so daß das Grundgesetz diesen Weltanschauungen gegenüber eben nicht neutral ist. 40 Angesichts der das 20. Jahrhundert prägenden Auswirkungen dieser Weltanschauungen kann man sie auch nicht unberücksichtigt lassen. Stern bringt am Ende seiner Ausführungen ein ungewöhnlich langes Zitat, das er mit den Worten einleitet: wFreiheitliche demokratische Grundordnung will eine Staats- und Gesellschaftsordnung, in der das Individuum und seine Würde (Art.1 GG) unantastbar und 194
höchster Richtwerte allen staatlichen Handeins sind. Den überzeugenden Worten des Bundesverfassungsgerichts ist nichts hinzuzufügen."41" Das ganze lange Zitat beweist aber nur die Inkompatibilität der marxistischen Weltanschauung mit dem Grundgesetz. Einige Sätze zur Verdeutlichung: "Der kommunistische Begriff von ,Unterdrückung', der in jeder staatlichen Machtausübung überhaupt gesehen wird, ist dem System der freiheitlichen Demokratie von Grund aus fremd; ,Unterdrückung' entspringt einer auch den Staat erniedrigenden im Grunde inhumanen Vorstellungswelt. Der Staat ist ein Instrument der ausgleichenden sozialen Gestaltung, nicht der Unterdrückung durch die Ausbeuter zur Aufrechterhaltung ihrer AusbeutersteIlung. Es wird zwischen notwendiger Ordnung und Unterdrückung unterschieden. "42 Das Grundgesetz mißbilligt also die weltanschaulichen Grundlagen des Marxismus in vielen entscheidenden Punkten. Die" weltanschauliche Neutralität" des Grundgesetzes ist ein Grundsatz, der bei näherem Zusehen vier Abstufungen und Einschränkungen aufweist: 43 1. Es ist unbestritten, daß die Verfasser des Grundgesetzes weder eine der gängigen Weltanschauungen im Grundgesetz ausformulieren wollten noch tatsächlich ausformuliert haben, vielmehr finden sich neben primär christlichen Elementen solche liberalen und solche sozialistischen Ursprungs. Das Resultat der Arbeiten des Parlamentarischen Rates könnte geradezu als eigene Weltanschauung angesehen werden, zumal wenn der weite Weltanschauungsbegriff des Grundgesetzes, wie er in Art.4 Abs.l und Art 140 i.V. mit Art.137 WV seinen Niederschlag gefunden hat, zugrunde gelegt wird. 44 (Ein Verein, der sich gemeinschaftliche Pflege der Werte des Grundgesetzes zur Aufgabe machen würde, wäre doch eine Weltanschauungsvereinigung im Sinne der letzterwähnten Norm.) Daher erscheint es nicht abwegig, von eineli "Weltanschauung des Grundgesetzes" als Inbegriff der ausformulierten Annahmen, Werte und Ziele zu sprechen. (Doch hat die Wortwahl keine juristischen Konsequenzen.) In ihr wird Gott angerufen. Das hat nur dann einen Sinn, wenn man an einen Gott glaubt, der sich um die Menschen kümmert. Der Atheist oder Deist kommt nicht auf die Idee, von "seiner Verantwortung vor Gott" zu sprechen. Dieses Beispiel steht für viele. Erwähnenswert ist insbesondere auch "das Menschenbild des Grundgesetzes", dem wir in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrmals begegnen. 2. Neben dieser komplexen" Weltanschauung des Grundgesetzes" gibt es jenen Kernbestand an Normen, die die freiheitliche demokratische Grundordnung bilden. Wer auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, aber andere Elemente der" Weltanschauung des Grundgesetzes" negiert, hat in der Regel keine Nachteile zu gewärtigen. Ausnahmen sind insbesondere dort möglich, wo staatliche Stellen nach ihrem Ermessen eine Förderung bewilligen oder verweigern können. Wer ein Buch schreibt, das dem deutschen Volk entgegen dem Text der Präambel "seine nationale und staatliche Einheit" auszureden versucht, kann nicht damit rechnen, daß sein Buch von staatlichen Stellen angekauft wird. Ein Familienverband, der bestrebt ist, 13"
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den Schutz von Ehe und Familie in Übereinstimmung mit Art. 6 des Grundgesetzes zu untermauern, darf staatlicherseits subventioniert werden. Eine Vereinigung hingegen, die auf die Abschaffung der Ehe hin wirkt, verdient keine Förderung; die Förderung wäre sogar verfassungswidrig (Art. 6 Abs.1 und 2 GG). 3. Wer nicht auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung steht, z. B. weil er für eine konstitutionelle Monarchie eintritt oder in seinen U nterhaltun gen eine Diskriminierung aus rassistischen Gründen gutheißt, macht sich zwar nicht strafbar, kann aber kein Beamter sein. 4. Mit schwerwiegenden Konsequenzen muß rechnen, wer kämpferisch die freiheitliche demokratische Grundordnung oder wesentliche ihrer Elemente negiert, was oben schon ausgeführt worden ist. Wegen der scharfen Waffen, die der wehrhaften Demokratie zu Gebote stehen, befürchten manche, daß von jenen Gegnern des Totalitarismus, die sich zu wehrhafter Demokratie bekennen, eine totalitäre Gefahr ausgehe, anders ausgedrückt, zur Verdeutlichung dieses Paradoxons: um den Teufel in Schranken zu halten, würden sich die abwehrbereiten Demokraten des Beelzebub bedienen.
In diese Richtung weist ein Wort C.]. Friedrichs: Die totalitären Staaten hätten in Demokratien "quasi-totalitäre Tendenzen, so die Entwicklung von Geheimpolizei, staatlicher Propaganda und Wirtschaftsdirigismus befördert oder ausgelöst. "~5 Diese Behauptung mag auf manche Demokratien zutreffen, nicht jedoch auf die Bundesrepublik Deutschland. Auch wenn wir den Bundesnachrichtendienst und das Bundesamt sowie die Landesämter für Verfassungsschutz als geheime Dienste ansprechen, so haben wir doch keine Geheimpolizei, da die erwähnten Dienste nicht nur eigene gesetzliche Grundlagen haben und parlamentarisch überprüft werden, sondern auch über keinerlei polizeiliche Kompetenz verfügen. Die staatliche Propaganda steht bei uns unter einer scharfen Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts und hat die Pressefreiheit nicht beeinträchtigt, verhindert vielmehr Informationsdefizite, die andernfalls dadurch entstünden, daß die Medien Negatives bevorzugen. Der Wirtschaftsdirigismus ist weit stärker bedingt durch das soziale Element unserer Marktwirtschaft als durch sicherheitspolitische Überlegungen. Soviel zu Friedrich. Noch besorgter äußert sich Eckart Bulla: "Es steht zu befürchten, daß die ,Lehre von der streitbaren Demokratie' - konsequent weitergeführt - in ein autoritäres oder gar totalitäres Staatsverständnis einmünden kann. "46
Dankenswerterweise wird Bulla deutlich und nennt den Fall eines Stabsunteroffiziers, der während des Dienstes in Anwesenheit auch von Untergebenen geäußert hat, er werde rechtmäßigen Befehlen im Rahmen eines Einsatzes der Bundeswehr im Innern nicht Folge leisten. Der Soldat wurde fristlos entlassen. Bei der Überprüfung kam das Bundes196
verfassungsgericht zu dem Ergebnis, daß ein auf das Prinzip der streitbaren Demokratie gegründetes Gemeinwesen es nicht dulden könne, daß seine freiheitliche Ordnung bei politischen Diskussionen innerhalb der Truppe und während des Dienstes von militärischen Vorgesetzten in Frage gestellt, geschweige denn bekämpft werdeY Bulla meint, das Gericht verwechsle "augenscheinlich die freiheitliche demokratische Grundordnung mit den bestehenden politischen und sozialen Verhältnissen".4 8 Doch Bulla verkennt offenbar, daß es die freiheitliche demokratische Grundordnung als solche in der Wirklichkeit nie geben kann, sondern immer nur konkrete Ausformungen. Der Staat würde sich in Anarchie auflösen, bliebe es der Exekutive überlassen, dem Gesetz im Anwendungsfalle den Gehorsam zu verweigern, vorausgesetzt daß sie sich verbal und generell zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennt. 49 Ernst-Wolfgang Böckenförde wittert gleichfalls eine solche Gefahr. Auch nach seiner Ansicht bedarf die Demokratie eines Fundamentalkonsenses: "Aber die Frage ist, ob diese Einigkeit, die ein politisches Gemeinwesen nicht entbehren kann, nicht vorausgesetzt werden muß und ob sie überhaupt, wenn sie streitig geworden ist, durch Verfassungs- oder Rechtsgebot, das im Streitfall von der Mehrheit ausgeht, geschaffen oder erhalten werden kann. Liegt darin nicht der Ansatz zu einem Verfassungstotalitarismus?"50
Wird hier nicht die Form über das Wesen gestellt? Art. 1 Abs.1 GG ist ähnlich apodiktisch formuliert, wie wir das von den Herolden totalitärer Ideologien gewohnt sind. Inhaltlich aber ist er ein entschiedenes Nein zu dem, was das Wesen des Totalitarismus ausmacht. Gerade der Relativismus wurde zum Steigbügel für totalitäre Herrschaft. Antitotalitarismus als Verfassungsgebot?
Das Grundgesetz ist antifaschistisch. Es ist aber auch antimarxistisch, antitotalitär, antiautoritär. Das Grundgesetz ist gegen jede politische Ordnung, die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes widerspricht. Daher gibt es keinen Totalitarismusbegriff des Grundgesetzes, ebenso wie es keinen Begriff des autoritären Staates kennt. Es mischt sich nicht ein in den Streit der Theorien und Schulen. Die Unterscheidung zwischen autoritärer und totalitärer Staatsordnung, wie sie heute in der Politik wissenschaft üblich ist, widerstreitet aber nicht dem Geist des Grundgesetzes, im Gegenteil: Politische Ordnungsformen, die nicht in Einklang stehen mit den Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, können davon in wenigen, in vielen, in allen Punkten abweichen. Dem entspricht in etwa die Einteilung in autoritäre Staaten mit Gewaltenteilung, autoritäre Staaten ohne Gewaltenteilung, totalitäre Staaten. Aus der Sicht des Grundgesetzes ist demnach der autoritäre Staat mit Gewaltenteilung gegenüber dem totalitären Staat das weit geringere Übel. Die Antihaltung des Grundgesetzes ist nicht das Primäre, sondern die Konsequenz aus kompromißloser Bejahung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Die Bereitschaft, diese Ordnung zu verteidigen, ist, im Rahmen ihrer Kompetenzen, Rechts197
pflicht aller Staatsorgane und aller Staatsdiener innerhalb und außerhalb des Dienstes. Eine Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit Verboten und Strafen ist aber um so weniger notwendig, je stärker sie in den Herzen der Bürger verankert ist, von ihnen bejaht und getragen wird. Das verantwortungsbewußte, opferbereite Ja der Bürger zu ihrer freiheitlichen Verfassung ist die optimale Bestandsgarantie.
Anmerkungen 1) 2) 3) 4) 5)
Jürgen Seifert: .Grundgesetz und Restauration" 1977, S.13. Marin Kutscha: .Verfassung und ,streitbare Demokratie'", Köln 1979, S.56. Ders.: a.a.O., S.58. Ders.: a.a.O., S.loo. Ders.: a.a.O., S.65 ff. Im gleichen Sinne äußert sich z. B. auch Bernhard Gromoll in Udo Mayer und Gerhard Stuby (Hrsg.) in .Die Entstehung des Grundgesetzes - Beiträge und Dokumente", Köln 1976, S.112. 6) Arno Scholz u.a.: .Turmwächter der Demokratie, ein Lebensbild von Kurt Schumacher", Berlin (West) 1953, Bd.2, S.23. 7) Hermann Weber: • Von der SBZ zur DDR 1945-1968", Hannover 1968, S.23 f. 8) Udo Mayer: • Vom Potsdamer Abkommen zum Grundgesetz" in: Udo MayeriGerhard Stuby (Hrsg): .Die Entstehung des Grundgesetzes - Beiträge und Dokumente", Köln 1976, S.97. 9) .Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, 1948/49", Bonn 1950, S.255. 10) A.a.O., S.258. 11) A.a.O., S.258. 12) A.a.O., S.458. 13) A.a.O., S.458. 14) A.a.O., S.639. 15) A.a.O., S.639. 16) .Parlamentarischer Rat - Stenografischer Bericht über die Plenarsitzungen", Bonn 1949, S.20. 17) A.a.O., S.64. 18) A.a.O., S.64 f. 19) A.a.O., S.59 f. 20) A.a.O., S.231. 21) Gerhard Leibholz: .Das Phänomen des totalen Staates· in: B. Seidel/So Jenker (Hrsg.): • Wege der T otalitarismusforschung", Darmstadt 1974, S.123. 22) Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) 2, 12 f. 23) BVerfGE 5, 138. 24) Maunz/Dürig/Herzog/Scholz: .Kommentar zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland", München 1974, Art.18 Rdnr.48. 25) Klaus Stern: .Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland", München 1984, Bd.l, S.558. 26) Josef Isensee: .Ethische Grundwerte" in: Ansgar Paus (Hrsg.): • Werke, Reden, Normen, Vorlesungen der Salzburger Hochschulwochen 1978", Graz 1979, S.131 f. 27) So Dolf Sternberger: • Verfassungspatriotismus" in: Frankfurter Allgemeine Zeitung V. 31.8.1982, S.9. 28) Eberhard Denninger (Hrsg.): .Freiheitliche demokratische Grundordnung - Materialien zum Staatsverständnis und zur Verfassungswirklichkeit in der Bundesrepublik", Frankfurt 1977, Bd.l, S.7. 29) BVerfGE 27, 201. 30) BVerfGE 5, 138 f. 31) Konrad Hesse: .Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland", Karlsruhe 1975, S.12 f. 32) Hans Maier: .Grundwerte in Staat und Erziehung", Würzburg 1977, S.8. 33) Otto Kimminich: .Die Grundwerte im demokratischen Rechtsstaat", Zeitschrift für Politik 77, 14 f. 34) Ernst Friesenhahn: .Bewahrung und Bewährung der Verfassung" in: Jahres- und Tagungsbericht der Görres-Gesellschaft 1982", Köln 1983, S.16.
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35) Stern: wie Anm.25, S.570. 36) Klaus Schlaich .Neutralität als Verfassungsprinzip - vornehmlich im Kulturverfassungs- und Staatskirchenrecht", Tübingen 1972. 37) Schlaich: wie Anm. 36, S.264. - Jene, die ihn als Eidhelfer bemühen, übersehen m. E. schon die zweite Hälfte des Buchtitels. Mit den uns hier interessierenden Fragen setzt sich Schlaich so gut wie nicht auseinander. 38) Eberhard Jäckel: .Hitlers Weltanschauung - Entwurf einer Herrschaft", Stuttgart 1981. 39) Angelika Senge: .Marxismus als atheistische Weltanschauung - Zum Stellenwert des Atheismus im Gefüge marxistischen Denkens", Paderborn 1983. 40) Bezüglich Nationalsozialismus dürfte insofern keine Meinungsverschiedenheit bestehen, bezüglich Marxismus siehe Konrad Löw: .Marxismus-Quellenlexikon", Köln 1988, .Recht, Rechtsstaat". 41) Stern: wie Anm.25, S.572. 42) BVerfGE 5, 205. 43) Siehe auch Denninger: wie Anm.28, S.23 ff. 44) Siehe BVerfGE 12, 3; 35,49. 45) c.J. Friedrich: .Demokratie" in .Handbuch der Sozialwissenschaften", Stuttgart 1959, S.565. 46) Eckard Bulla: .Die Lehre von der streitbaren Demokratie - Versuch einer kritischen Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts", Archiv für öffentliches Recht 1973, S.360. 47) BVerfGE 28, S.36 ff, insbesondere S.48 f. 48) Bulla: a.a.O. S.357. 49) Siehe auch Friedricke Fuchs/Eckhard Jesse: .Der Streit um die ,streitbare Demokratie' - Zur Kontroverse um die Beschäftigung von Extremisten im Öffentlichen Dienst" in: Beilage zur Wochenzeitung .Das Parlament" B 3/78, S.25. 50) Ernst-Wolfgang Böckenförde: .Staat, Gesellschaft, Freiheit - Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht", Frankfurt 1976, S.83.
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ANTON RAUSCHER
Katholische Kirche und Totalitarismus In dem 1965 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch "Die katholische Kirche und das Dritte Reich" stellt Guenter Lewy im Schlußabschnitt die These auf, es gebe zwischen der Katholischen Kirche und dem totalitären Staat Verbindungslinien. Die Katholische Kirche sei nämlich einem Obrigkeitsgeist verhaftet, der den Widerstand gegen den Totalitarismus hemme. Die Bischöfe, zahlreiche Mitglieder des niederen Klerus und Gläubige hätten mit vielen nationalsozialistischen Zielen übereingestimmt. Sie hätten den Antikommunismus der Nationalsozialisten als ein Gegenwicht zu den liberalen, antiklerikalen urid atheistischen Strömungen der Weimarer Republik begrüßt. Selbst als die Bischöfe erkannt hätten, daß Hitler die Kirche vernichten wollte, entsprang ihr Widerstand "mehr der Sorge um institutionelle Interessen als dem Glauben an Freiheit und Gerechtigkeit für alle Menschen. Der deutsche Episkopat verfolgte somit eine Politik, die durchaus im Einklang mit der traditionellen Handlungs- und Denkweise der Kirche stand"!. Auch wenn dieses Buch, das damals im Sog der Hochhuthwelle größter Aufmerksamkeit gewiß sei konnte, inzwischen von der Geschichtsforschung auf seinen Wahrheitsgehalt zurückgeführt und viele Einseitigkeiten und bloße Vermutungen offengelegt wurden2, so kann uns die darin entwickelte Argumentationslinie nicht gleichgültig lassen. Es gibt nämlich bis heute immer wieder Versuche von Gegnern und von Kritikern der Kirche, die sie verdächtigen, wegen ihrer hierarchischen Struktur und wegen ihres lehramtlichen Anspruchs eine Art Geistesverwandtschaft mit autoritären Regimen, ja sogar mit totalitären Systemen zu besitzen. "Die Anpassung an autoritäre und diktatorische Regierungssysteme", heißt es bei Lewy, "wurde durch die hierarchische Ordnung der Kirche erleichtert und durch die Affinität zu autoritärem Gedankengut, die sich aus dieser Ordnung ergab"3. Diese These reicht weit über den Vorwurf des moralischen Versagens hinaus, den Hochhuth gegen die Katholische Kirche und im besonderen gegen Papst Pius XII. geschleudert hatte, weil die Kirche nicht alle ihre Möglichkeiten genutzt habe, um dem Völkermord an den Juden Einhalt zu gebieten oder dagegen öffentlichen Protest zu erheben und das Gewissen der Welt wachzurütteln. Bei Lewy und vielen Kritikern außerhalb und auch innerhalb der Kirche geht es um mehr. Die behauptete Anfälligkeit
Welches sind die Argumente, auf die sich der Vorwurf der Geistesverwandtschaft zwischen Katholischer Kirche und autoritären bzw. totalitären politischen Machtstrukturen stützt? Lewy verweist in erster Linie auf die Einstellung der Kirche zur Demokratie. Er knüpft damit an den Tatbestand an, daß sich die Katholische Kirche, durch lange Jahrhunderte hindurch an das sogenannte Bündnis von Thron und Altar gewöhnt, gegen die Entstehung demokratischer Herrschaftsverhältnisse gewandt habe und für die Beibehaltung der Monarchie eingetreten sei 4 •
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Zur Stützung seiner These zieht Lewy eine Äußerung des englischen Kulturkritikers und Religionsphilosophen Christopher Dawson heran. Im Jahre 1936 hatte dieser das Buch "Religion and the Modern State" veröffentlicht und darin festgestellt, der Katholizismus sei "dem autoritären Ideal des Staates keineswegs feindlich gesinnt. Gegenüber den liberalen Lehren über die heiligen Rechte der Volks mehrheit und die uneingeschränkte Meinungsfreiheit hat die Kirche immer die Grundsätze von Autorität und Hierarchie verteidigt und die Vorrechte des Staates hochgehalten. " Er hatte hinzugefügt, die katholischen sozialen Ideale, wie sie in den Enzykliken Leo XIII. und Pius XI. dargelegt werden, hätten "sehr viel mehr Ähnlichkeit mit den Idealen des Faschismus als mit denen des Liberalismus oder Sozialismus." Das politische Denken der Katholischen Kirche stimme, "wenigstens in der Theorie, sehr viel mehr mit der faschistischen Auffassung von der Funktion des Führers und der berufsmäßigen Hierarchie des faschistischen Staates überein als mit dem System einer demokratisch-parlamentarischen Parteienregierung... "5. Im Rahmen des mir gestellten Themas ist es nicht möglich, auf die Hintergründe und Zusammenhänge näher einzugehen, die Dawson zu dieser Ansicht verleitet haben mögen. Offenkundig war er der Auffassung, die ideengeschichtlichen und politik-wissenschaftlichen Tatbestände und Entwicklungen überall aufder Welt mit demselben Kategorienraster messen zu können, wie er für den angelsächsischen Raum galt. Eine solche Sichtweise konnte freilich jene Naivitäten nicht verhindern, die damals z.B. zu einer falschen Einschätzung der Verhältnisse in Deutschland aus Anlaß der Olympischen Spiele im Jahre 1936 in Berlin führten; sie konnte auch jene Defizite nicht beseitigen, die daraus entstanden, daß nicht wenige Politiker, aber auch Wissenschaftler über die Geschichte, über die Entwicklung der sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen, religiösen und politischen Verhältnisse in den europäischen Ländern, über die Macht von Ideologien und Bewegungen verhältnismäßig dürftig Bescheid wußten. Unwillkürlich erinnert man sich an die bei vielen Amerikanern nach Kriegsende herrschende Vorstellung, man müsse nur in allen Ländern der Weh die Demokratie einführen, womöglich nach amerikanischem Muster, dann würden sich die politischen Probleme von selbst lösen. Der weitere Gang der Ereignisse hat außerordentlich ernüchternd gewirkt. Auch die Vorstellungen über die Katholische Kirche waren damals arg verschwommen. Das Unverständnis wirkte sich freilich nicht sonderlich belastend aus, weil damals in den USA die Katholiken nur eine kleine Minderheit bildeten und den unteren S'chichten der Bevölkerung angehörten. Inzwischen wurden Fehleinschätzungen und Mißdeutungen längst korrigiert. Wenn ein Autor wie Lewy seine Überlegungen auf die Meinung Dawsons stützen zu können glaubt, ohne diese Meinung selbst kritisch zu befragen, so kann man dies nur von der persönlichen Betroffenheit des Autors her verstehen. Auf einige Aspekte dieser Argumentation wird noch zurückzukommen sein, auch auf die Beurteilung des Liberalismus und des Sozialismus in den ersten beiden Sozialenzykliken "Rerum novarum" (1891) und "Quadragesimo anno" (1931). Die Wurzel, warum die Katholische Kirche so lange kein Verhältnis zur Demokratie entwickelte, liegt nach Lewy - und dies ist ein weiteres, ein zentrales Argument - in der "Mehrdeutigkeit" der Dogmen, die es der Kirche gestatten sollen, sich einer Vielzahl politischer Umstände anzupassen, "wobei die Skala von der Demokratie bis zur totalitären 201
Diktatur reicht"6. Es sind die "äußerst abstrakten theologischen und metaphysischen Grundlagen der katholischen politischen Theorie", die die Anpassungsfähigkeit der Kirche an die unterschiedlichsten Verhältnisse ermöglichen sollen. Näherhin wird die "naturrechtliche Ethik" dafür verantwortlich gemacht. Bei Jacques Maritain habe diese Ethik zwar zur Bejahung der Menschenrechte geführt und von da zur Verteidigung der Demokratie als dem einzigen politischen System, das diese Rechte auch garantieren könne; bei den Päpsten hingegen habe man die lange gelehrte Formel, wonach die Monarchie die beste Regierungsform sei, ein wenig abgewandelt und die Auffassung, wonach die Kirche den verschiedenen Regierungsformen gegenüber neutral bleiben müsse, als naturrechtliche Position ausgegeben. Mit dieser Position habe man das Verhältnis der Kirche auch zu autoritären Regimen, zu faschistischen und totalitären Systemen bestimmen können, zu denen die Kirche nur dann in Konflikt geraten sei, wenn und soweit diese die Kirche bekämpften. Erst als die Niederlage der Achsenmächte bevorstand, habe Pius XII., der nach Lewy mehr noch als sein Vorgänger" von der Nützlichkeit antikommunistischer, rechtsextremistischer Bewegungen" überzeugt gewesen sei, betont, daß "vielen die demokratische Regierungsform als eine von der Vernunft selbst gestellte natürliche Forderung" erscheine7• Und erst nach dem Untergang der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft habe sich dieser Papst mit dem Totalitarismusproblem stärker auseinandergesetzt. Dieselbe Mehrdeutigkeit sei im Verhalten der Kirche gegenüber der Tyrannei und dem Recht auf Widerstand festzustellen. Seit der Scholastik, näherhin seit der Spätscholastik gebe es die Lehre vom Widerstand gegen die Staatsgewalt unter bestimmten Bedingungen und vom Tyrannenmord. Die Anwendung und die Auslegung dieser Lehre aber seien von der Katholischen Kirche ganz unterschiedlich vorgenommen worden. In den Jahrhunderten des Kampfes zwischen Imperium und Sacerdotium hätten die Päpste diese Lehre zu nutzen verstanden und die Untertanen von ihrer Treuepflicht gegenüber ketzerischen Herrschern entbunden. Anders die revolutionären Bewegungen seit 1789, die auch die Privilegien der Kirche bedrohten. Sie wurden von Gregor XVI. und von Pius IX. im Syllabus verworfen. 1937 unterschied Pius XI. zwischen gerechten und ungerechten Revolutionen, wobei er die Rebellion General Francos gegen die gewählte Regierung als Akt der "Selbstverteidigung" bezeichnete. Eine andere Variante betreffe die Anerkennung von Regierungen, die durch Staatsstreich an die Macht gelangen und sich etablieren können. Hier berufe sich die Kirche auf die Erfordernisse des Gemeinwohls und auf die Notwendigkeit, einem Bürgerkrieg und der drohenden Anarchie vorzubeugen. Die Praxis der Kirche sei davon bestimmt, allen Regierungen eine "potentielle Legitimität" einzuräumen unter der Voraussetzung, daß die Regierungen fest im Besitz der Macht sind. Das Recht auf Widerstand werde im allgemeinen nur dann eingefordert und gerechtfertigt, wenn es gelte, die Interessen der Kirche zu schützen. Schließlich erinnert Lewy an die moralische Dimension in der Politik und stellt die These auf, die Katholische Kirche sei, weil sie eine überwiegend konservative, relativ weltbejahende, massenbeherrschende Organisation ist, gewöhnlich nicht in der Lage, ihre ideellen Ziele von ihrem Interesse am Überleben zu trennen und sie habe häufig ihr eigenes Evangelium als Last empfunden statt als Kraftquelle. Anstatt Salz der Erde' zu sein, sei sie zu
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einer Macht geworden, die in tragischer Weise mitgeholfen habe, "Unrecht und Tyrannei" aufrechtzuerhalten. Sie sei nicht über ihre institutionellen Interessen an der Erhaltung von Ordnung und Autorität hinausgewachsen. Sie handle eher opportunistisch als prophetisch. Wenn sich die Kirche als Hüterin der menschlichen Moral verstehe und auf das Naturrecht verweise, so werde nur das Dilemma sichtbar. Denn die Kluft zwischen dem abstrakten Prinzip und dem zur Debatte stehenden konkreten Fall werde durch Lösungen überbrückt, die eng mit den Interessen der Kirche als Institution verquickt seien. Die Antwort auf die Frage nämlich, ob man eine politische Autorität durch seine Mitwirkung stützen oder ob man sich ihr widersetzen soll, lasse sich nicht aus den eindeutigen Geboten des Naturrechts herleiten, sondern erwachse aus den Erfordernissen kirchlicher Taktik in einer bestimmten Situation8• Mit anderen Worten: Nicht die Wahrheit, nicht die Würde und die Rechte der Menschen, sondern die eigene Machterhaltung wäre für die Kirche die ureigenste Triebfeder, auch, was ihr Verhältnis zum Totalitarismus betreffe. Frühe Elemente der Kritik am Totalitarismus
Bevor ich mich mit den hier kurz skizzierten kritischen Anfragen und Vorwürfen an die Katholische Kirche auseinandersetze, wird es zweckmäßig sein, auf die frühen Äußerungen zum Totalitarismusproblem einzugehen, soweit sie im Schrifttum katholischer Sozialwissenschaftlicher und in den Dokumenten der Päpste vorliegen. Für das christlich-soziale Denken ist seit Bischof Ketteler die Unterscheidung zwischen Liberalismus, Sozialismus und christlicher Gesellschaftsordnung maßgeblich geworden9 • Es war Heinrich Pesch, der den Versuch unternahm, die Grundlagen der katholischen Sozialphilosophie neu zu bestimmen 1o • Was die Reflexion, Analyse und Interpretation der Gesellschaft anlangt, so unterschied er zwischen Individualismus, Sozialismus und Solidarismus, wobei unter Sozialismus sowohl der Kommunismus als auch der Revisionismus subsumiert ·wurden. Pesch sprach in diesem Zusammenhang vom "totalen" Kommunismus, bezog dies aber nur auf die Frage des privaten Eigentums und des persönlichen Einkommens. Erst die Reflexion über die neue entstandene Lage in der Sowjetunion nach der Oktoberrevolution und im faschistischen Italien hat im christlich-sozialen Denken in Deutschland zu einer Neugruppierung der Begriffe und der Inhalte geführt. Die Überlegungen konzentrieren sich nicht direkt auf das Problem des Totalitären, sondern auf den "Kollektivismus" als Gegensatz zum "Individualismus". Aufschlußreich ist diesbezüglich die Argumentationsweise, wie sie Gustav Gundlach, der nachhaltig die katholische Sozialphilosophie und die Beurteilung der großen geistigen Strömungen der Zeit geprägt hat, in seinen in den Jahren 1931/32 entstandenen Vorlesungsmanuskripten entwickelte". In dem Kapitel "Einige Gesellschaftssysteme" werden an erster Stelle "Individualistische Systeme" behandelt, zu denen "Der bürgerliche Individualismus (Liberalismus)" und "Der Sozialistische Individualismus (proletarischer Liberalismus)" gerechnet werden. Davon werden unterschieden "Kollektivistische Systeme", 203
zu denen "Der Kommunismus", "Der Faschismus", "Der Nationalsozialismus" gezählt werden. Von beiden Systemen, die Gundlach als in der Krise befindlich sah, werden "Solidarische Systeme" abgehoben, wobei "Der Solidarismus in der individualistischen Ära" und "Der Solidarismus und die kollektivistischen Systeme" behandelt werden. Mit dieser Nomenklatur erfolgte eine auch für die Sozialverkündigung der Kirche bedeutsame Weichenstellung. Angefangen von "Quadragesimo anno" bis hin zur jüngsten Enzyklika Johannes Paul 11. "Laborem exercens" findet sich die Abgrenzung der auf den christlichen Wahrheiten und Werten beruhenden Gesellschaftsauffassung von ideologischen Entwürfen entweder individualistischer oder kollektivistischer Natur. Nicht so sehr der Liberalismus und Sozialismus, liberal und totalitär, auch nicht kapitalistisch und demokratisch sind die Unterscheidungskriterien, sondern Individualismus und Kollektivismus. Dies ist schon deshalb wichtig, weil es eben auch totalitäre Demokratien, "Volksdemokratien" geben kann, so wie auch ein totalitärer Mehrheitswille in der Demokratie die Rechte von Minderheiten überrollen könnte, wenn nicht das Fundament des Zusammenlebens dadurch gesichert ist, daß darüber weder abgestimmt noch macht mäßig verfügt werden kann. In den kollektivistischen Systemen gibt es nach Gundlach immer einen "Grundwert", sei es das Proletariat im Kommunismus, sei es die Nation im Faschismus, sei es die Rasse im Nationalsozialismus l2 • In allen Fällen kommt dem Staat nur der Charakter eines "Instruments", eines" Werkzeugs der Bewegung" zu. Der Staat ist "autoritär", das heißt, daß eine Willens beteiligung der Staatsglieder bei der Bildung des staatlichen Willens im Sinne einer Mitentscheidung ausgeschlossen ist. Der Staat ist zugleich "total", weil alle Lebensbereiche von dem tragenden Grundwert ihren Sinn bekommen, was darauf hinausläuft, daß der Staat als die allein entscheidende Gewalt auch über die Gesamtheit aller Lebensbereiche verfügt. Sehr eingehend entwickelte Gundlach seine Konzeption im Hinblick auf den N ationalsozialismus, der "autoritär" und "total" seiD. Es gebe nämlich keine freien gesellschaftlichen Strukturen zwischen dem Einzelnen und dem Staat. "Das Parlament als willensbildendes Organ des staatlichen Lebens ist also aufgehoben; es stellt lediglich noch den Raum dar, in dem die Staatsgenossen den Entscheidungen des Führers akklamieren." Die "öffentliche Meinung" verliere entsprechend ihre bisherige Funktion. "Ebenfalls ist der Staat total wie im Faschismus, d. h. als organisatorischer Ausdruck des einzig wirklichen Grundwertes der Rassengemeinschaft bestimmt er allein und aus seinem Selbstbehauptungswillen heraus Inhalt und Richtung des Lebens in sämtlichen einzelnen Bereichen der Kultur. Das zentrale Führerprinzip wird auf alle Gebiete des gesellschaftlichen Lebens übertragen, jegliche genossenschaftliche Formung und jegliche Struktur echter Selbstverwaltung des reinen Herrschaftsverbandes werden zurückgedrängt. Die FührerGefolgschaftsidee tritt an die Stelle der freien genossenschaftlichen Verbundenheit selbständiger Persönlichkeiten, geeint in der gemeinsamen Verantwortung für die gleiche Aufgabe; es gibt nur eine ,Partei', die als die organisatorische Form der ,Elite', oder dynamisch ausgedrückt, der ,Bewegung' zu betrachten ist."
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Die Überlegungen Gundlachs gehören zu den frühesten wissenschaftlichen Bemühungen um eine Theorie über den Totalitarismus, die noch vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten einsetzten. Damals gab es wenige vergleichbare Versuche 14 • Wenn der Denkansatz bei "individualistischen" und "kollektivistischen" Systemen liegt, so wird darin deutlich, daß es sich nicht primär um einen politikwissenschaftlichen, sondern um einen sozialwissenschaftlichen Ansatz handelt. Das bedeutet keineswegs eine Verharmlosung des Totalitarismus-Problems; sehr wohl aber wird hier bereits sichtbar, daß sich totalitäre Herrschaftsformen mit sehr verschiedenen Sozialmodellen verbinden können. Ausdrücklich betonte Gundlach in einem kritischen Beitrag "Zur Arbeitsdienstpflicht" im Jahre 1932 den Gegensatz zwischen der nationalsozialistischen und der katholischen Ideenwelt: "Das Ordnungsbild von Gesellschaft und Staat sieht in katholischer Zeichnung anders aus als das eben angedeutete Bild vom ,totalen Staat', dessen Totalität doch schießlich allein auf der autoritär-diktatorischen ,Kommandogewalt' der Staatsmacht beruht. ... Unverkennbar ist nämlich, daß die katholischen Kundgebungen zum Staats- und Gesellschaftsleben - allen voran die jüngste soziale Enzyklika Quadragesimo anno - weniger dem Macht- und Entscheidungswillen staatlicher Autorität, als den im Staatsvolk lebendig bewußten und ertaßten inhaltlichen Aufgaben und Zwecken eines wahren Gesellschafts- und Staatslebens die Einheit und Totalität stiftende Rolle zuweisen. Eine einseitige Verlagerung der Gesellschafts- und Staatsmetaphysik auf das Autoritäre liegt mithin nicht in der katholischen Linie. "15
Der Nationalsozialismus wird hier in seinem totalitären Charakter eindeutig markiert. Bei der Bedeutung, die Gundlach und die "Soldaristen" schon bei der Erarbeitung des Entwurfs für die Enzyklika "Quadragesimo anno" und dann durch die ganze Regierungszeit Pius XII. hindurch hatten, nimmt es nicht wunder, daß auch die Sozialverkündigung der Kirche, die unter den Pius-Päpsten ein großes Gewicht erlangte, dieselben Grundlinien aufweist. Es ist bedauerlich, daß sich weder Dawson noch Lewy noch andere Kritiker der Mühe unterzogen haben, ein wenig mehr über die katholische Sozialphilosophie nachzuforschen. Unverständlich bleibt auch, warum das Subsidiaritätsprinzip kaum gewürdigt wird. Dieses Prinzip ist, wie Joseph Höffner betont, seinem Inhalt nach "uralte christliche Tradition"!6; dennoch wurde es erst in der Enzyklika "Quadragesimo anno" formuliert!7. Es richtet sich gegen autoritäre Regime und gegen totalitäre Systeme, die alle gesellschaftlichen Lebensbereiche zwischen dem Einzelnen und dem Staat beherrschen wollen. Das Subsidiaritätsprinzip schützt die Eigenständigkeit und die Eigenverantwortung der solidarisch verbundenen Menschen. Es ist auch die natürliche Verbündete aller nicht-totalitären Systeme, auch der Demokratie. Weil das Subsidiaritätsprinzip nicht in das von den Kritikern konstruierte Bild von der Katholischen Kirche paßt, wird es mit Schweigen übergangen oder nur beiläufig erwähnt. Die Sozialenzykliken haben den weltanschaulichen Liberalismus, der im 19. Jahrhundert eine antikirchliche Stoßrichtung hatte, und besonders den Wirtschaftsliberalismus abgelehnt und verworfen. Es handelte sich um jenen Paläoliberalismus, der ohne Zweifel die Soziale Frage im 19. Jahrhundert mitverursachte!8. Die Veurteilung dieses Liberalismus 205
in "Rerum novarum" und "Quadragesimo anno" darf freilich nicht als ein Mißtrauen und eine Absage an die Freiheit und als eine Hinneigung zu autoritären Konzepten gedeutet werden. Die katholische Soziallehre kämpfte gegen den Liberalismus nicht deswegen, weil dieser für die Freiheit eintrat, sondern deshalb, weil er die Gesetze des Marktes mechanistisch-kausal erklären wollte und eine individualistische Gesellschaftsauffassung vertrat. Die Zerstörung der sozialen Bindungen und noch mehr die Unfähigkeit, neue soziale Bindungen für die werdende Industriegesellschaft aufzubauen und der wirtschaftlichen Dynamik ein soziales Korsett einzuziehen, dies mußte auf die Dauer zu einer Auflösung der Verhältnisse und zu einem Umschlag in kollektiv-totalitäre Verhältnisse führen. Wer nur noch von Freiheit und von Demokratie redet, aber nicht mehr von den Aufgaben und Zielen, die in gemeinsamer Anstrengung verwirklicht werden sollen, der wird leicht zum Katalysator kollektiv-autoritärer und totalitärer Systeme. Der Gegensatz von Autorität und autoritärer Herrschaft
Aber ist die Katholische Kirche, auch wenn die von ihr vertretene Sozialdoktrin auf ganz anderen Grundlagen beruht als autoritäre oder gar totalitäre Systeme, wegen der Bedeutung, die sie der Autorität zumißt, und wegen ihrer hierarchischen Struktur nicht doch in gewisser Weise anfällig für autoritären und totalitären Ungeist? Hat sie nicht doch eine Vorliebe für das Schema Obrigkeit und Gehorsam und eine Abneigung gegen liberale und demokratische Elemente? Besteht nicht eine Art Parallelität zwischen der hierarchischen Kirche und dem Obrigkeitsstaat? Daß dieser Fragenkomplex nicht mit einfachen Formeln angegangen werden kann, dies ergibt sich zumindest für den Historiker schon aus der Überlegung, warum die evangelischen Kirchen in Deutschland, die keine hierarchische Struktur haben und auch nicht wie die Katholische Kirche einen Autoritätsanspruch erheben, so eng an die Landesherren gebunden waren. Auch was den Widerstand gegen den Nationalsozialismus angeht, wird die Position Lewys nicht gestützt. Wenn seine These zutreffen würde, daß Autorität und Hierarchie eine Geistesverwandtschaft mit autoritären und totalitären Systemen begründen oder begünstigen, dann müßte nämlich auch der Umkehrschluß gelten, daß eine Kirche ohne hierarchische Struktur und ohne Autoritätsanspruch ein vornehmlicher Träger des Widerstandes hätte sein müssen. Nun liegen nach katholischem Verständnis Autorität und Hierarchie in der Stiftung der Kirche durch Jesus Christus begründet. Aber schon die Feststellung Pius XII., daß das Subsidiaritätsprinzip wie für jede menschliche Gemeinschaft so auch für die Kirche Geltung habe l9 , muß uns vorsichtig machen, Verbindungslinien zwischen' Autorität und Hierarchie auf der einen und autoritären und totalitären Systemen auf der anderen Seite zu ziehen. Sicherlich gab und gibt es auch in der Kirche Auffassungen wie diejenige des verstorbenen Kardinals Ottaviani, der meinte, das Subsidiaritätsprinzip gelte nur für die Gesellschaft, aber nicht für die Kirche wegen ihrer göttlichen Stiftung. Und es kamen im Laufe der langen Geschichte der Kirche auch immer wieder Praktiken vor, die in der Tat eine Parallele mit autoritären Herrschaftsverhältnissen aufwiesen. Auch Kirchenobere sind nicht gegen Machtmißbrauch gefeilt. Dennoch bezeugt die Geschichte, daß die Kirche in den
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zurückliegenden Zeiten eine Institution war, die sehr viel weniger, als dies manche Kritiker wahrhaben wollen, autoritären Bestrebungen nachgab, die schon gar nicht totalitäre Praktiken und Theorien in ihren eigenen Reihen duldete und ihnen auch nicht Vorschub leistete. Dafür gäbe es viele Belege, angefangen etwa von dem Grundatz, daß niemand gegen seinen Willen, auch kein Kind gegen den Willen seiner Eltern getauft werden darf, über die Lehre von der Glaubens- und Gewissensfreiheit bis hin zu dem von Thomas entwickelten Prinzip, wonach Ordnung nicht auf dem Schema Befehl - Gehorsam beruht, sondern als Einheit in wohlgegliederter Vielfalt zu verstehen ist. Im übrigen setzt Kultur immer ein hohes Maß an Solidarität voraus, an Gemeinsinn und Kooperationsbereitschaft. Auch die christliche Kultur in Europa, die die Touristen heute bestaunen, konnte nicht befohlen werden, auch nicht von der Kirche. Die Kirche lebt natürlich in der Geschichte und inmitten der Gesellschaft. Insofern darf es nicht wunder nehmen, wenn Autorität und Hierarchie in ihren konkreten Ausprägungen jeweils auch Züge aufweisen, wie wir sie im weltlichen Bereich antreffen. In der theologischen Reflexion im Mittelalter finden sich Überlegungen, die die feudalen Herrschaftsverhältnisse, insbesondere das Gottesgnadentum religiös sanktioniert haben. Allerdings waren damals autoritäre oder gar totalitäre Herrscher (Tyrannen) die seltene Ausnahme. Auch Kaiser wie Karl V. waren existentiell von ihrer Verantwortung vor Gott durchdrungen. Das Verhältnis von Obrigkeit und Unt~rtanen war keineswegs ein Verhältnis der Unterdrückung oder Ausbeutung. Wo immer die Autorität der Regierenden in dieser Weise degenerierte, da kam es zu Aufständen und zum Widerstand. Zu dieser Art von Obrigkeit konnte die Kirche durchaus ein positives Verhältnis entwickeln; sie war meilenweit von der autoritären Herrschaft der römischen Kaiser entfernt, ebenso von dem aufgeklärten Absolutismus, wie er sich nach der Trennung von Recht und Moral bei Machiavelli in Europa breitrnachen konnte. Es ist interessant, daß Gustav Gundlach in seiner 1927 erschienenen Dissertation der Frage nachging, ob nicht die hierarchische Verfassung der Kirche und die auf dem Gehorsamsgelübde ruhende Struktur der katholischen Orden, vor allem des Jesuitenordens, eine Annäherung an den demokratischen Gedanken ausschließen20 • Demgegenüber verweist Gundlach auf "die genossenschaftlichen Züge" der Kirche, die dann leicht übersehen würden, wenn man eine Zweiteilung der Kirche vornehme, in einen aktiven Teil, den Klerus, und in einen passiven Teil, das Laientum. Dies aber sei eine falsche Sichtweise, da die Kirche ein lebendiges Gebilde darstelle, für dessen Wohl beide Teile verantwortlich sind. Überdies sei das Verhältnis dieses Teils von einer "stets austauschenden Wechselwirkung" bestimmt. Sicherlich hat die Kirche nicht frühzeitig den tiefgreifenden Wandel erkannt, der gegen Ende des 18. Jahrhunderts alle gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse erfaßte und der auch zur Ablösung des monarchisch-feudalen Systems durch demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse führte. Bei der Frage jedoch, ob die Kirche, weil sie sich mit der Demokratie schwer getan hat, nicht zu autoritären Strukturen eine Geistesverwandtschaft aufweise, wird gewöhnlich übersehen, daß die Demokratie selbst auf Autorität nicht verzichten kann. Leider wird in der theoretischen Reflexion der Zusammenhang von Demokratie und Autorität kaum behandelt. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, als ob Demokratie bei nicht wenigen Denkern im Sinne einer herrschaftsfreien 207
Gesellschaft verstanden wird. Und auch im demokratischen Alltag wird im allgemeinen die Bedeutung von Autorität erst deutlich, wenn Sand ins Getriebe geraten ist und die Parteien sich nicht mehr zu einer zielstrebigen Politik durchringen können, wenn womöglich der Ruf nach dem starken Mann laut wird, der die Dinge wieder ins Lot bringen und das Gemeinwohl besorgen kann. In der Sozialdoktrin der Kirche wird die Autorität begründet mit der Notwendigkeit, daß die Menschen ihre sozialen Ziele und Zwecke, die sie anstreben, nur verwirklichen können, wenn die Autorität und ein System von Rechtsregeln die Bündelung der vielen Einzelnen und ihre Zusammenarbeit ermöglicht und gewährleistet. Um nur eine Stelle aus dem Rundschreiben "Pacem in terris" Johannes XXIII. anzuführen: "Die menschliche Gesellschaft kann weder gut geordnet noch fruchtbar sein, wenn es in ihr niemanden gibt, der mit rechtmäßiger Autorität die Ordnung aufrechterhält und mit der notwendigen Sorgfalt auf das allgemeine Wohl bedacht ist. Alle Autorität aber leitet sich von Gott her, wie der heilige Paulus lehrt: ,Es gibt keine Gewalt, außer von Gott' (Röm 13, 1-6)"21.
Die Kirche mißtraut den Konzepten von einer herrschaftsfreien Gesellschaft, die in der Geschichte oft genug nur in eine schlimme Diktatur umgeschlagen sind. Auch die Französische Revolution von 1789 ist unter dieser Rücksicht nicht ermutigend. Der tiefere Grund für die kirchliche Position ist freilich darin zu suchen, daß einerseits die Gesellschaft ohne Autorität keinen Bestand hätte, daß andererseits Autorität für den Menschen nur dann erträglich ist, wenn Autorität mit den sozialen Zwecken, auf die der Mensch hingeordnet ist, vorgegeben ist und wenn sie zugleich auf diese Zwecke hin begrenzt ist. Autorität muß in den gesellschaftlichen Verhältnissen sittlich begründet sein, sie ist niemals ein Freibrief, um Macht über andere auszuüben. Autorität ist deshalb gerade nicht gleichbedeutend mit der Vorliebe für autoritäre Verhältnisse, für einen autoritären Staat. "Die christliche Gesellschaftslehre", sagt Oswald von Nell-Breuning in der ersten Publikation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, "bejaht den starken, mit echter Autorität umkleideten Staat; den sog. autoritären Staat lehnt sie bedingungslos ab"22. Um die Würde des Menschen
Auch was das Verhältnis der Katholischen Kirche zum Totalitarismus angeht, gelangt von Nell-Breuning zu einem ganz anderen Urteil als Lewy und so manche Kritiker. Schon von Pius XI. heißt es, daß er sich mit dem "Stato totalitario", gemeint ist der faschistische Staat in Italien, auseinandersetzen mußte, wobei der Totalitarismus als "die staatliche Erscheinungsform des Kollektivismus" gilt. Wörtlich fügt er hinzu: "Papst Pius XII. aber ist seit Beginn dieses Pontifikates nicht müde geworden, in Rundschreiben und Botschaft gegen den totalitären Staat Stellung zu nehmen, die unverletzliche Personenwürde des Menschen gegen den Totalitätsanspruch des Staates in Schutz zu nehmen"23
Heute, wo die Mehrzahl der Menschen keine persönlichen Erfahrungen mit dem totalitären Systemen des Nationalsozialismus mehr hat, ist es Mode geworden, wenn überhaupt, dann eine gewisse Hinwendung der Kirche zu den Menschenrechten erst mit 208
Johannes xxm. beginnen zu lassen. Dabei wird willentlich oder aus Unkenntnis übersehen, daß die Enzyklika "Pacem in terris" (1963), die den Begrif der Menschenrechte in die Katholische Soziallehre rezipiert hat, in fast allen wesentlichen Teilen auf Aussagen Pius xn. zurückgreift. Mit dem Pacelli-Papst ist ohne Zweifel der christliche Personalismus zum Durchbruch gelangt, auch wenn das Wort "Menschenrechte" noch nicht in der heute üblichen Form verwandt wird. Dies hängt damit zusammen, daß der Begriff der Menschenrechte, wie ihn die Erklärung der Vereinigten Nationen im Jahre 1948 gebraucht, einen erheblichen Bedeutungswandel durchgemacht hat, und zwar gerade in jenem Punkt, der für die christliche Betrachtungsweise entscheidend ist 24 . Die Menschenrechte, wie sie von der Französischen Revolution gefordert wurden, waren in ihrem Kern Rechte, die vom Staat erkämpft werden mußten. Sie wurden nicht als" vorgegebene" Rechte angesehen, die der Mensch von seinem Wesen her besitzt und schon mit auf die Welt bringt. Die Menschenrechte wurden nicht als Rechte betrachtet, die Gott der Schöpfer jedem Menschen verleiht. Noch die Weimarer Rechtsverfassung hat die Menschenrechte als vom Staat eingeräumte Rechte angesehen. Was aber der Staat verliehen bzw. eingeräumt hat, das kann er im Grunde auch wieder zurücknehmen oder ändern. Diese Denkstruktur ist übrigens auch bei einem unkritischen Verständnis von Demokratie zu finden, wenn und insofern die Mehrheit bzw. der Mehrheitswille als mit absoluter Macht ausgestattet gedacht wird. Hier hätte der Mehrheitswille keinerlei innere Schranken; er würde bis hin zur Aufhebung der Demokratie reichen. Talmon hat sehr gut die Ursprünge der "totalitären Demokratie" herausgearbeitet 25 . Wo nicht vorgegebene Rechte und Pflichten anerkannt werden, die sowohl die Mehrheit als auch die Minderheit binden, ist die Demokratie immer in Gefahr, zum Herrschaftsinstrument der Mehrheit zu degradieren. Auch Parlamente sind nicht souverän, sondern gebunden an Grundrechte, an nicht abstimm bare und in diesem Sinne vorgegebene Grundwerte und -normen. In der falsch verstandenen Volkssouveränität lag der eigentliche Grund dafür, warum sich die Kirche mit solchen Konzepten von Demokratie und rein innerweltlich begründeten Menschenrechten nicht zufrieden geben konnte. Diese Situation änderte sich nach den furchtbaren Erschütterungen der roten und der braunen Diktaturen und des Zweiten Weltkriegs. Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen beinhaltet die Wendung, daß die Menschenrechte "unantastbar" sind. Damit wurde der alte Begriff, wonach die Menschenrechte als Ergebnis des modernen Kulturprozesses und vom Staat verliehene Rechte angesehen werden konnten, weiter entwickelt, und die Menschenrechte als "vorstaatliche", jedem Menschen als ursprünglich eignende Rechte verstanden. Dieses Verständnis der Menschenrechte konnte auch die Kirche voll übernehmen, weil der Begriff "unantastbar" auf einen außerweltlichen, transzendenten Ursprung der Menschenrechte verweist. In der Pastoralkonstitution "Gaudium et Spes" des Zweiten Vatikanischen Konzils heißt es: "Die Kirche, die in keiner Weise hinsichtlich ihrer Aufgabe und Zuständigkeit mit der politischen Gemeinschaft verwechselt werden darf noch auch an irgendein politisches System gebunden ist, ist zugleich Zeichen und Schutz der Transzendenz der menschlichen Person"26. Seither haben sich die Päpste, besonders der aus Polen stammende 14 Löw, 2. A.
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Johannes Paul Il., unermüdlich für die Würde und die Grundrechte jedes Menschen eingesetzt und gegen die Verletzungen und Unterdrückungen protestiert, die von autoritären Regimen und von totalitären Diktaturen praktiziert werden. Hans Buchheim hat aufgewiesen, was den Menschen durch totalitäre Herrschaft bedroht. Man denke dabei an Konzentrationslager, Folter und grausamen Tod. Totalitäre Herrschaft bedeute aber auch: - Zerstörung der Freiheit, und damit die Verletzung und Verformung des menschlichen Wesens; - Verwirrung des Gewissens und kollektive Verwirrung; das heißt: nicht Irrtum in dem einfachen Sinn, daß man einzelne Tatsachen falsch sieht und einschätzt, sondern Irrtum im Sinne von Verblendung; schuldig und mit-schuldig werden als Folge von Verblendung und des durch totalitäre Praxis pervertierten Zustandes der Gesellschaft 27 • Entscheidend ist die Frage, wie die Würde und wie die Grundrechte jedes Menschen gegen den Anschlag totalitärer Bestrebungen gesichert werden können. Noch wichtiger als die dem Recht dienende Macht ist die Sicherheit, daß nicht durch Fehldeutungen und Uminterpretationen dessen, was Würde ist und was Grundrechte beinhalten, einer totalitären Herrschaft der Weg geebnet wird. Genau an diesem Punkt setzt die Lehre der Kirche ein. Wenn die Würde und die Grundrechte nicht durch vorgegebene, also letzten Endes transzendent begründete Normen und Strukturen gewährleistet sind, dann wären sie im geschichtlichen Prozeß ständig gefährdet. Gewiß: Die naturrechtliche Argumentation darf nicht strapaziert werden; sie ist auch keineswegs ein Füllhorn, aus dem man nach Belieben Lösungen für Probleme hervorzaubern könnte. Aber das Naturrecht bietet für die Würde und für die Grundrechte des Menschen jene absolute Bezugsbasis, die durch partikuläre oder auch kollektive Nutzenüberlegungen nicht aus den Angeln gehoben werden kann, die auch nicht vor den echten oder auch nur vermeintlichen Ansprüchen des Gemeinwohls und der politischen Macht zurückweicht. Die transzendente Verankerung des Lebens eines jeden Menschen, der im christlichen Verständnis "Bild Gottes" und der deshalb auch Träger ursprünglicher Rechte und Pflichten ist, diese Wahrheit immer neu ins Bewußtsein der Einzelnen und der Öffentlichkeit zu rücken, ist ein unverzichtbarer Dienst, den die Kirche an der Welt leistet, auch gegenüber allen Bedrohungen totalitären Denkens, totalitärer Praxis, totalitärer Herrschaft. Schon im Jahre 1975 hat Hermann Lübbe davor gewarnt, Begriff und Gehalt des Totalitarismus zu ideologisieren, indem man ihn nur noch auf rechte Diktaturen, auf Faschismus und Nationalsozialismus sowie auf Militärherrschaften anwendet, aber nicht mehr auf linke Diktaturen, auf die Volksdemokratien der verschiedensten Art28 • Zwar habe der Totalitarismus-Begriff durch die Politik der Entspannung und die Bemühungen um Koexistenz an Aktualität eingebüßt, aber er sei deshalb nicht unbrauchbar, überholt und unzeitgemäß geworden. Totalitäre Herrschaft kann nicht legitimiert oder entschuldigt werden, wenn sie linke Ziele und Gesellschaftsideale durchsetzen will. Leider gibt es auch in der Katholischen 210
Kirche heute Gruppen und Bestrebungen, die der Verwischung ideologischer und politischer Systemgrenzen bewußt oder auch unbewußt das Wort reden. Die Aufgabe, den Blick für das Grundübel unserer Zeit, für den Totalitarismus zu schärfen, wo immer er herrscht oder wo er sich ankündigt, diese Aufgabe ist vorrangig. Die Kirche würde ihren Dienst am Menschen verfehlen und unglaubwürdig werden, wenn sie mit solchen Ideen und Bestrebungen Kompromisse einginge.
Anmerkungen 1) Guenter Lewy, Die katholische Kirche und das Dritte Reich, München 1965, S. 352f. - Die Original. ausgabe war 1964 unter dem Titel • The Catholic Church and Nazi Germany· in New York erschienen. 2) Noch vor Erscheinen der deutschen Ausgabe unterzog Ludwig Volk das Buch Lewys einer eingehenden Würdigung und Kritik: Zwischen Geschichtsschreibung und Hochhuthprosa. Kritisches und Grundsätzliches zu einer Neuerscheinung über Kirche und Nationalsozialismus, in: Stimmen der Zeit 176 (1964/65), S.29-41. Wiederabgedruckt in: Dieter Albrecht (Hg), Katholische Kirche im Dritten Reich. Eine Aufsatzsammlung, Mainz 1976, S.194-210. - Die Kommission für Zeitgeschichte hat inzwischen zahlreiche Forschungsvorhaben zu diesem Problembereich durchgeführt und viele der einschlägigen Quellen aufgearbeitet. Vgl. dazu Ulrich von Hehl, Kirche, Katholizismus und das nationalsozialistische Deutschland. Ein Forschungsüberblick, in: Dieter Albrecht (Hg), S.219-251. 3) A.a.O., S.355. 4) Albrecht Langner hat den Prozeß der allmählichen Abwendung der Kirche vom Obrigkeitsstaat und ihre Öffnung für die Demokratie und deren Wertgrundlagen aufgewiesen: Die politische Gemeinschaft, Köln 1968, S. 88 ff. 5) Christopher Dawson, Religion and the Modern State, New York 1936, S.135f. 6) Guenter Lewy, S.353. 7) Ebda, S.356. - Lewy bezieht sich an dieser Stelle auf die Weihnachtsansprache Pius XII. des Jahres 1944, die der Demokratie gewidmet war. 8) Ebda, S. 364 ff. 9) Vgl. Anton Rauscher, Sozialer und politischer Katholizismus nach Ketteler, in: Anton Rauscher / Lothar Roos, Die soziale Verantwortung der Kirche. Wege und Erfahrungen von KetteIer bis heute, Köln 1979, S.90. 10) Heinrich Pesch, Lehrbuch der Nationalökonomie, erster Bd., dritte und vierte Auflage, Freiburg i. Br. 1924, S.281-455. 11) Gustav Gundlach, Grundzüge der Gesellschaftslehre, abgedruckt in: Ders., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, erster Bd., Köln 1964, S. 66 ff. 12) Gustav Gundlach, S. 92 ff. 13) Hier und für die folgenden Zitate: ebda, S.95-1OO. 14) Vgl. Walter Schlangen, Die Totalitarismus-Theorie. Entwicklung und Probleme, Stuttgart 1976, bes. S.32,37ff. 15) Gustav Gundlach, Zur Arbeitsdienstpflicht, in: Stimmen der Zeit, Bd.124 (1932), S. 56-59; wieder abgedruckt in: Ders., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Zweiter Bd., Köln 1964, S.23. 16) Joseph Höffner, Christliche Gesellschaftslehre, Studienausgabe, Kevelaer 1975, S.53. 17) Pius XI., Enzyklika .Quadragesimo anno·, Nr.79. 18) Vgl. zu dieser Fragestellung Anton Rauscher, Katholische Soziallehre und liberale Wirtschaftsauffassung, in: Ders. (Hg), Selbstinteresse und Gemeinwohl (Soziale Orientierung, Bd.5), Berlin 1985, S. 279 ff. 19) Pius XII., Ansprache an das Heilige Kollegium vom 20.2.1946; abgedruckt in: A.F. Utz,J.-F. Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius XII., Nr.4094. 20) Gustav Gundlach, Zur Soziologie der katholischen Ideenwelt und des Jesuitenordens, wieder abgedruckt in: Ders., Die Ordnung der menschlichen Gesellschaft, Erster Bd., S.255ff. 21) Johannes xxm., Enzyklika .Pacem in terris· (1963), Nr.46. 14"
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22) Oswald von Nell-Breuning, Artikel Autoritärer Staat, in: Beiträge zum Wönerbuch der Politik, Heft 2: Zur christlichen Staatslehre, Freiburg i.Br. 1948,Sp.74. 23) Ebda, Sp.75f. 24) Josef Punt, Die Idee der Menschenrechte. Ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Rezeption durch die moderne katholische Sozialverkündigung, Paderborn, München, Wien, Zürich 1987. 25) H. L. Talmon, Die Ursprunge der totalitären Demokratie, Köln und Opladen 1961. - Hierzu auch die Untersuchung von Lothar Roos, Demokratie als Lebensform, Paderborn 1969. 26) II. Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution Gaudium et Spes, Nr.76. 27) Hans Buchheim, Die totalitäre Bedrohung des Menschen, Reihe: Kirche und Gesellschaft Nr.l02, Köln 1983,5.3. - Ders., Totalitäre Herrschaft. Wesen und Merkmale, München 1962. 28) Hermann Lübbe, Haltet den Begriff! Wer über Totalitarismus redet, gilt als Gegner der Entspannung, in: Deutsche Zeitung vom 5. September 1975. - Vgl. auch Paul Kevenhörster, Eine unbequeme Alternative: Demokratische und totalitäre Herrschaft - Zur Kongruenz von linkem und rechtem T otalitarismus, in: Zeitschrift für Politik, Jg.21, N.F., H.l, Köln 1974,5.61-67.
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KLAUS MOTSCHMANN
Evangelische Kirche und politischer Totalitarismus Kontinuität und Wandel In der Auseinandersetzung um und mit dem politischen Totalitarismus wird dem Verhalten der beiden christlichen Kirchen ein maßgebender Stellenwert zuerkannt. Tatsächlich wurden und werden die Kirchen durch die totalitären Ideologien und Herrschaftsanspruche in besonderem Maße herausgefordert. Haben sie sich dieser Herausforderung im Sinne von Toynbees "challenge and response" - gewachsen gezeigt? Die Antworten auf diese ebenso naheliegende wie legitime Frage lassen einen bemerkenswerten Wandel erkennen, sowohl im Verhalten der Kirchen zum politischen Totalitarismus als auch in der Be(und Ver-)urteilung dieses Verhaltens in der akademischen, kirchlichen und politischen Auseinandersetzung. Anders als in den anderen Bereichen der Totalitarismusforschung wird die Auseinandersetzung um das Verhältnis der Kirchen zum Totalitarismus sehr nachhaltig von den "unaustragbar gegensätzlichen Maximen" der Gesinnungs- und Verantwortungsethik (Max Weber) bestimmt, wobei die Maximen der Gesinnungsethik inzwischen eindeutig dominieren. Als Musterbeispiel sei an Rolf Hochhuths Schauspiel "Der Stellvertreter" erinnert, mit dessen Premiere in Berlin Anfang 1963 - also nur kurze Zeit nach dem Mauerbau in Berlin! - die zweite Phase der Vergangenheitsbewältigung eingeleitet wurde.! Sie zielte (und zielt noch immer) darauf ab, den Begriff"Totalitarismus" als Sammelbezeichnung für Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus aufzuspalten und allein auf den Nationalsozialismus/Faschismus zu beziehen und sich damit der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Totalitarismus - wie er sich durch den Bau der Berliner Mauer u. a. (!) manifestierte - zu entziehen. Die Versuchung der Flucht aus der konkreten Verantwortung in der Gegenwart in eine gesinnungsethische Bewältigung der Vergangenheit hat es - trotz entsprechender Warnungen seriöser Geschichts- und Sozialwissenschaftler - zu allen Zeiten gegeben. Aus der Fülle von Beispieln nur das Votum von Max Weber gegen derartige akademische und politische "Absetzungsbewegungen": "An statt sich um das zu kümmern, was den Politiker angeht: die Zukunft und die Verantwortung vor ihr, befaßt sie sich mit politisch sterilen, weil unaustragbaren Fragen der Schuld in der Vergangenheit. Dies zu tun, ist politische Schuld, wenn es irgendeine gibt. Und dabei wird überdies die unvermeidliche Verfälschung des ganzen Problems durch sehr materielle Interessen übersehen: Interessen des Siegers am höchstmöglichen Gewinn - moralischen wie materiellen -, Hoffnungen des Besiegten darauf, durch Schuldbekenntnisse Vorteile einzuhandeln: wenn es irgend etwas gibt, was gemein ist, dann dies, und das ist die Folge dieser Art von Benutzung der ,Ethik' als Mittel des ,Rechthabens' ."2 213
Die Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis der Kirchen zum politischen T otalitarismus leidet seit Jahren - und in stets zunehmendem Maße - an der völlig einseitigen "Benutzung der ,Ethik' als Mittel des ,Rechthabens'" . Von dem Bemühen um eine Darstellung, "wie es eigentlich gewesen ist", ist immer weniger zu spüren. Sowohl wissenschaftlich als auch politisch ein bedenkliches Manko!
Allgemeine Vorbemerkungen Eugen Kogon hat zu Recht festgestellt, daß man totalitäre Systeme nicht bekämpfen kann, wenn sie sich etabliert haben, sondern nur in der Phase ihrer Entstehung. Wenn es aber den demokratischen Parteien und Gewerkschaften, der Kommunistischen Internationale und dem internationalen PEN-Club, den Zeitungen und Zeitschriften in Millionenauflagen und dem allgemeinen Literatur- und Kunstbetrieb der Weimarer Republik nicht gelungen ist, mit ihren teilweise erheblich größeren Möglichkeiten das Aufkommen des Nationalsozialismus zu verhindern, dann sollte man die angeblichen, aber auch tatsächlichen Versäumnisse der Kirchen in dieser Hinsicht etwas zurückhaltender be- und verurteilen, als dies durchgängig geschieht.
Grundgesetze der Massenpsychologie beachten I Es ist richtig, daß beide Kirchen in der Weimarer Republik in der Auseinandersetzung mit dem politischen Totalitarismus in erster Linie auf den bereits "realexistierenden" Kommunismus und weniger auf den zunächst nur langsam aufkommenden Nationalsozialismus fixiert waren. Es würde den einfachsten Grundregeln der Massenpsychologie widersprechen, wenn es anders gewesen wäre! 1928 lag der Stimmenanteil der NSDAP bei den Reichstagswahlen bei 2,6%, so daß von einer realen Gefahr noch nicht gesprochen werden konnte. Selbst die KPD unterschätzte lange Zeit die politische Potenz des Nationalsozialismus und richtete ihren "Hauptstoß" nach dem Parteitag von 1929 - in Übereinstimmung mit der Kommunistischen Internationale - nicht gegen die NSDAP, sondern gegen die "Sozialfaschisten", d.h. die SPD. Anders der Kommunismus! Er konnte seit 1917 nicht nur in der Theorie, sondern in der politischen Praxis studiert werden. Diese Praxis bestätigte alle Befürchtungen, die man in Deutschland von der SPD bis in das konservativ-bürgerliche Lager aus der marxistischen Ideologie und den entsprechenden Parteiprogrammen abgeleitet hatte. Allein die hohe Zahl der Opfer des sog. Roten Terrors der Jahre 1921123 - nach vorsichtigen Schätzungen des Roten Kreuzes ca. 4 Millionen Menschen, darunter ca. 40000 Geistliche - 3 blockierte jede Bereitschaft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Kommunismus, wie sie in bestimmten Intellektuellenzirkeln gepflegt wurde - auch in der evangelischen Kirche von den sog. Barthianern. So hatte Karl Barth in seinem epochemachenden "Römerbrief" (1919) immerhin die Hoffnung auf die "Auferstehung einer sozialistischen Kirche in einer sozialistisch gewordenen Welt"4 geäußert - und gleichzeitig das Verlöschen der "Glut des marxistischen Dogmas" bedauert. Wie im einzelnen noch darzustellen ist, hat Karl Barth die wesentlichen Maßstäbe der Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus in der evangelischen Kirche gesetzt, wenn214
gleich er es schwer hatte, sich mit seinen Ansichten zur sozialistischen Revolution in der breiten Masse des Kirchenvolks und der Pfarrerschaft Gehör und Geltung zu verschaffen. Die "eigentliche" Gefahr für die evangelische Kirche
Aus diesem Grund führte auch Karl Barth den "Hauptstoß" nicht gegen den aufkommenden Nationalsozialismus bzw. gegen die Deutschen Christen, sondern gegen die lutherisch geprägte Vermittlungstheologie, wie sie von maßgebenden Repräsentanten der evangelischen Kirche auch nach dem Zusammenbruch von 1918 vertreten wurde. Karl Barth meinte, wie den zitierten Bemerkungen zur Revolution zu entnehmen ist, daß in der evangelischen Kirche ein radikaler Prozeß der Neubesinnung hätte einsetzen müssen. Einen Eindruck von der Härte der Kritik an der vorherrschenden Theologie und Kirchlichkeit in der evangelischen Kirche vermittelt eine Antwort Karl Barths auf einen Artikel von Johannes Schneider in dem von diesem redigierten "Kirchlichen Jahrbuch" (1930): .Es ist ein zum Himmel schreiender Skandal, daß die deutsche evangelische Kirche andauernd diese Sprache redet. - Und so werde ich grob und sage: wo diese Sprache geredet wird, da ist Catilina, da ist die eigentliche, gefährliChste Verschwörung gegen die Substanz der evangelischen Kirche. Gefährlicher als das Gefährlichste, was Katholiken, Juden und Freidenker nach den Schauergeschichten, mit denen ihr je und je euer ,Kirchenvolk' außer Atem zu halten sucht, gegen sie im Schilde führen können. Gefährlicher als alles, was etwa der SowjetAtheismus gegen das ,Christentum' unternehmen und vollbringen kann. Mögen solche Angriffe gegen die Kirche ausrichten, was sie können und dürfen, eines werden sie nicht können und dürfen: die Substanz der Kirche werden sie nicht einmal anrühren, geschweige denn verzehren"5
Vom Nationalsozialismus bzw. der deutsch-christlichen Theologie ist keine Rede - im Jahre 1930! Sie waren für Karl Barth kein neuartiges geistiges oder politisches Phänomen, sondern ein geradezu zwangsläufiges Produkt der christlich-bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen, des deutchen Luthertums im besonderen. Insofern galt der eigentliche Kampf den geistigen, theologischen Ursachen des Nationalsozialismus, nicht seinen äußeren Erscheinungsformen. (Nur am Rande sei bemerkt, daß auch die Kommunisten im Nationalsozialismus/Faschismus kein qualitativ neues politisches System sahen, sondern lediglich eine quantitative Steigerung des Kapitalismus, wie es in der bekannten Faschismus-Definition Dimitroffs zum Ausdruck kommt: "Die offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzka. Is. "6) . plta Karl Barth ist dieser Linie auch nach der Machtergreifung Hitlers gefolgt und hat sich deutlich gegen eine bloß taktische Bekenntnisfront gegen den Einbruch der nationalsozialistischen Irrlehren in die Kirche ausgesprochen. Im Jahre 1934 konnte er noch schreiben: .Die auf den ersten Blick als solche erkennbaren Irrlehren unserer Zeit (die sog. völkische Theologie, K. M.) sind, wenn nicht alles täuscht, schon im Begriff zu
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gehen, wie sie gekommen sind: Ich wundere mich manchmal selbst darüber, daß man überhaupt in die Lage kommen konnte, sich so ausdrücklich und entschieden dagegen verwahren zu müssen, wie es in diesen Jahren der Fall war. Ich habe aber in dem ganzen Streit, der in diesen Jahren zu führen war, immer wieder - und nicht immer zur Freude der Strategen der Bekenntnisfront darauf hingewiesen, daß die eigentliche Gefahr nicht bei dem Gegner zu suchen sei, den es zunächst zu bekämpfen galt und noch gilt, sondern bei derjenigen künftigen Kirchlichkeit und Theologie, die, getragen von den vielen Unentschiedenen und Kompromißbereiten auf beiden Seiten des heutigen Grabens, am Ende alles dessen stehen könnte, was wir heute durchzumachen haben - an einem Ende, das dann doch nur ein gemächliches oder auch geschäftiges Weiterverfahren auf den Geleisen bedeuten würde, auf denen wir in die gegenwärtige Katastrophe hineingefahren sind und auf denen es auch in Zukunft nur zu noch größeren Katastrophen kommen könnte."7
Damit soll der maßgebende Beitrag Karl Barths in der Auseinandersetzung der Bekennenden Kirche mit dem nationalsozialistischen System überhaupt nicht geschmälert werden. Im Gegenteil! Zu Recht wird Karl Barth als einer der wesentlichen Repräsentanten der Bekennenden Kirche gewürdigt, und man kann auch denen kaum widersprechen, die ihn als den "geistigen Vater" der Bekennenden Kirche verstehen. Allerdings sollten sehr viel deutlicher als bisher üblich die eigentlichen Intentionen Karl Barths bei dieser Auseinandersetzung bedacht werden, die sich aus der klaren Beschreibung seiner eigentlichen Gegner erkennen lassen: Es waren nur in einem sehr vordergründigen Sinne die Nationalsozialisten.
Fortsetzung des Kirchenkampfes nach 1945
Es dürfte nach dem bisher Gesagten keine Überraschung sein, wenn man feststellt, daß für Karl Barth und seine Freunde der Kirchenkampf mit dem Untergang des Nationalsozialismus keinesfalls beendet war. Mit einiger Zuspitzung darf man sagen: Er trat erst jetzt in die entscheidende Phase! In einem - sicher sehr wohlüberlegten - Aufsatz unmittelbar nach Kriegsende richtete Karl Barth folgende Warnung an die evangelischen Christen in Deutschland - und an die Besatzungsmächte!: "Die deutsche evangelische Kirche ist jetzt in eine merkwürdige Zeit eingetreten. Der grobe (und dumme) Teufel ist mit Gestank abgegangen. Die Stunde des feinen (und klugen) Teufels scheint angebrochen: die Stunde der großen verkannten Antinazis, Bekenner, Helden und Beinahe-Märtyrer, die Stunde der glänzenden Alibis - die Stunde, wo der alte theologisch-kirchlich-politische Essig (womöglich unter dem Segen ahnungsloser alliierter Besatzungsbehörden, offenbar unter dem Segen der ökumenischen Bewegung und sicher sub specie aeternitatis) eilig, geschickt und fromm, statt weggeschüttet, aus der dritten in die vierte Flasche umgegossen werden soll. Wer das gutheißt, der bewundere, propagiere, fördere und pflege - in Deutschland selbst oder von der Schweiz aus - den Typus Eugen Gerstenmaier!"8 216
Zum Verständnis dieses Textes ist die tiefe Enttäuschung Karl Barths und seiner Freunde über das rasche Verlöschen der revolutionären Glut nach dem 1. Weltkrieg und die angeblich restaurative Entwicklung in der Weimarer Republik zu bedenken. Die Chance eines radikalen Neubeginns sollte nun, nach dem Ende des 2. Weltkrieges, nicht ein zweites Mal verspielt werden. In einem damals weitverbreiteten "Wort an die Deutschen" warnte Barth denn auch die Deutschen, sich nicht "darauf zu versteifen, nun möglichst schnell und völlig zu den Zuständen der Zeit vor 1933 zuruckzukehren",9 aus denen doch der nationalsozialistische Totalitarismus hervorgekommen war. Deshalb konnte bloßer Widerstand gegen den nationalsozialistischen Staat - wie ihn ja der" Typus Eugen Gerstenmaier" geübt hatte - als Qualifikation für eine maßgebende Beteiligung beim Neuaufbau Deutschlands nicht ausreichen. Verlangt wurde vielmehr die Bereitschaft, mit allen Wurzeln und allen Überlieferungen zu brechen, die das Aufkommen des Nationalsozialismus ermöglicht oder auch nur begünstigt hatten. Dazu gehörte - neben manchem anderen! - vor allem die lutherische Theologie im allgemeinen, die lutherische Zwei-Reiche-Lehre im besonderen, in der dem Staat eine eigengesetzliche, von der Kirche unabhängige Würde zuerkannt war. Daß daraus nicht unbedingt eine Untertanengesinnung (Röm 13: "Seid Untertan der Obrigkeit") erwachsen mußte, beweist die Entwicklung in den durch und durch lutherisch geprägten skandinavischen Musterdemokratien. Das Verhältnis von Staat und Kirche sollte nun nach Maßgabe der aus der calvinistischen Theologie entwickelten "Königsherrschaft Christi" gestaltet werden, die dem Staat eine Eigengesetzlichkeit abspricht und als direkte, gnädige Anordnung Gottes versteht. Staat und Kirche haben - im Unterschied zum lutherischen Verständnis - "sowohl den Ursprung als auch das Zentrum gemeinsam".t o Politisches Handeln ist deshalb immer im "Zusammenhang mit Gottes Heils- und Gnadenordnung" zu sehen; der Staat empfängt von dorther seine Legitimation und wird von dorther beurteilt. Tendenzen zu einer theokratischen Bevormundung des Staates durch die Kirche werden durch diese Theologie stark begünstigt, wie die weitere Entwicklung auch bestätigte. Dieser Hinweis ist insofern belangvoll, um den zielstrebigen Wandel der evangelischen Kirche im Verhältnis zum Kommunismus verständlich zu machen, der sich im Zuge der verordneten radikalen Neubesinnung auch tatsächlich vollzog. "Aufgeschlossenheit und Verständniswilligkeit" gegenüber dem Kommunismus
Die Bereitschaft zu einem verheißungsvollen Neuanfang sollte sich - so jedenfalls Karl Barth - vor allem auch in einer neuen Einstellung zum Kommunismus erweisen. In dem bereits erwähnten "Wort an die Deutschen" heißt es dazu: "Und weil der russische Kommunismus im künftigen Deutschland auf alle Fälle eine politische, eine wirtschaftliche, eine geistige Macht sein wird, so wäre es weise, hinzuzufügen: man wird dieser Begegnung nur dann gewachsen sein, wenn man ihr ungehel!1mt durch überlieferte, ungehemmt auch durch gewisse neu aufgekommene Vorurteile jedenfalls aufgeschlossen und verständniswillig entgegengeht. Und was jetzt kommen muß, das müssen auf alle Fälle solche 217
deutschen Zustände und ein solcher deutscher Geist sein, die es dem deutschen Menschen erlauben, in der Auseinandersetzung mit den heute für ihn so akut gewordenen Ideen und Forderungen des Ostens ein gutes Gewissen zu haben."11
Selbstverständlich fand Karl Banh im Deutschland des Jahres 1945/46 kaum Verständnis für seine Forderungen, einfach deshalb nicht, weil er den Erlebnis- und Erfahrungshorizont der Menschen völlig außer acht ließ. Die Erlebnisse der Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, der Kriegsgefangenen, der Menschen in der sowjetischen Besatzungszone als "gewisse neu aufkommende Vorurteile" zu qualifizieren, zeugt von einer souveränen Mißachtung der subjektiven Faktoren im Prozeß der politischen Urteils- und Willensbildung. Und mochte man die Erlebnisse der Deutschen in der Begegnung mit dem Kommunismus objektiv aus dem "deutschen Irrweg" (Alexander Abusch) erklären; wie sollte man die entsprechenden Erlebnisse der Polen und Tschechen, der baltischen Völker, der Ungarn, Rumänen und Bulgaren erklären? Gerade in diesen Völkern vermochte man keinen Unterschied zwischen nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft festzustellen. Auch in den angelsächsischen Demokratien stellte man sich mehr und mehr die Frage, warum man sechs Jahre Krieg zur Befreiung der europäischen Völker von der nationalsozialistischen Diktatur geführt hat, wenn man nur einen Wechsel zu einer kommunistischen Diktatur bewirkte. Kurt Schumachers Vergleich von den Kommunisten als den "rotlackierten Nazis" drückte das allgemeine Zeitempfinden nicht nur in Deutschland! - präzise aus. In Wissenschaft und Politik sprach man durchgängig vom" Totalitarismus", unter dem man sowohl Nationalsozialismus/Faschismus als auch Kommunismus subsumierte. Karl Barth widersprach dieser Gleichsetzung leidenschaftlich! In einer großen, öffentlichen und für die Öffentlichkeit bestimmten Rede im Berner Münster führte er dazu im Jahre 1949, also auf dem Höhepunkt der Bolschewisierung Osteuropas, folgendes aus: "Rot wie Braun, ein Totalitarismus wie der andere - also! ruft man uns heute zu. - Dann ist es am Platze, auch im Blick auf den Kommunismus von heute das Unterscheiden nicht zu unterlassen: das Unterscheiden zwischen seinen totalitären Greueln als solchen und dem, was dabei positiv gemeint und beabsichtigt ist. Und dann kann man vom Kommunismus eben das nicht sagen, was man vom Nationalsozialismus vor zehn Jahren sagen mußte: daß es sich bei dem, was er meint und beabsichtigt, um helle Unvernunft, um eine Ausgeburt des Wahnsinns und Verbrechens handelt. Es entbehrte nun wirklich alles Sinnes, wenn man den Marxismus mit dem ,Gedankengut' des Dritten Reiches, wenn man einen Mann von dem Format von Joseph Stalin mit solchen Scharlatanen wie'Hitler, Göring, Heß, Goebbels, Himmler, Ribbentrop, Rosenberg, Streicher usw. es gewesen sind, auch nur einen Augenblick im gleichen Atem nennen wollte. Was in Sowjetrußland - es sei denn: mit sehr schmutzigen und blutigen Händen, in einer uns mit Recht empörenden Weise - angefaßt worden ist, das ist immerhin eine konstruktive Idee, immerhin die Lösung einer Frage, die auch tür uns eine ernsthafte und brennende Frage ist -: der sozialen Frage" ,12
Die Eindeutigkeit dieser Aussagen läßt keinen Raum für Interpretationen! Es bedarf auch kaum des besonderen Hinweises, welche propagandistischen Wirkungen es haben mußte,
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wenn der größte (evangelische) Theologe der Zeit in einer der größten Kathedralen Westeuropas die Christen zur "Differenzierung" bei der Verwendung des Begriffes Totalitarismus auffordert, der Gleichung Rot =Braun entschieden widerspricht und den Stalinismus als eine "konstruktive Idee" zur Lösung der sozialen Frage qualifiziert. Kurze Zeit zuvor hatte sich Kar! Barths Freund und Kollege, der tschechische Theologe Josef Hromadka, in ähnlichem Sinne vor der Weltkirchenkonferenz in Amsterdam geäußert. Damit begann ein systematisches Aufbrechen des Begriffs" Totalitarismus" in der evangelischen Kirche, lange bevor Christian Peter Ludz im Jahre 1961 "Offene Fragen in der Totalitarismus-Forschung"13 ausmachte und damit die wissenschaftliche "Differenzierung" von kommunistischem und nationalsozialistischem Totalitarismus einleitete. Man muß in diesem Falle von einem mustergültigen Diffusionsprozeß sprechen, wie man in der Kommunikationswissenschaft die erfolgreiche Durchsetzung einer neuen Idee einzelner "opinion leader" in einer großen Mehrheit bezeichnet. Begünstigt wurde die relativ rasche Ausbreitung dieser Anti-AntikommunismusTheologie durch die Tatsache, daß die "Mehrheit" faktisch zum Schweigen verurteilt war und jeglicher Widerspruch als Unbußfertigkeit, Verstocktheit, Fortschreiten auf den alten Wegen in einen neuen Abgrund usw. denunziert werden konnte. Immerhin hatten maßgebende Repräsentanten der verschiedenen evangelischen Landeskirchen im Oktober 1945 in Stuttgart ein "Schuldbekenntnis" stellvertretend für alle evangelischen Christen abgelegt und damit den Willen zu einem "neuen Anfang" bekundet. Sollte der "neue Anfang" in der Fortsetzung eines alten Streites um das Verhältnis von Chrsitentum und Marxismus erstickt werden? Der radikale Wandel in der theologisch-kirchlichen Einschätzung der politischen Verhältnisse in Deutschland bzw. Europa, läßt sich u.a. auch daran ablesen, daß man in bestimmten meinungsbildenden Gruppen und Gremien der evangelischen Kirche zwar jede Parallelisieru!1g zwischen Kommunismus und Nationalsozialismus ablehnte, aber keine Bedenken hatte, entsprechende Parallelen zwischen der Bundesrepublik und dem Dritten Reich zu ziehen. Das Bild vom großen, dummen Teufel und kleinen, klugen Teufel fortführend konnte sich Kar! Barth 1954 in einer Rede zum Volkstrauertag 1954 zu der Feststellung versteigen, daß "die schwarze Magie auch andere Gestalten (hat) als die, in der sie uns damals begegnet ist. Das Chaos könnte uns auch überschleichen, wie es uns damals überfallen hat. "14
Ausdrücklich wurden dabei "die Wiederaufrichtung eines deutschen Obrigkeitsstaates" (in der Bundesrepublik!) und die" Wiederbewaffnung Westdeutschlands" genannt. Bertold Brechts "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch" - ein damals beliebter Propaganda-Slogan der Kommunisten gegen die "Restaurationspolitik in Westdeutschland" - ist auf diese Weise von theologischer Seite wirkungsvoll unterstrichen worden.
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"Die Brüder Atheisten totlleben"
Daß es sich dabei nicht um politisch belanglose Minderheitenvoten handelt, sondern um nachhaltig wirkende Proklamationen zum theologischen und politischen Selbstverständnis des deutschen Protestantismus, veranschaulicht die aufgewühlte und aufwühlende Auseinandersetzung um eine kleine Schrift des damaligen Ratsvorsitzenden der EKD und Berliner Bischofs D. Dibelius zur Auslegung von Römer 13 unter dem Titel "Obrigkeit?" (1959). Auf die Frage nach einer zeitgemäßen Auslegung der apostolischen Mahnung "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat" (Röm 13,1), hatte Dibelius festgestellt, daß die in der DDR nach sowjetischem Vorbild geschaffene Ordnung auf gar keinen Fall "Obrigkeit" im Sinne des Neuen Testaments und der Bekenntnisschriften der evangelischen Kirche sei. Dibelius argumentierte dabei im wesentlichen mit Erkenntnissen aus dem Kirchenkampf im Dritten Reich und den nach 1945 erhobenen Vorwürfen, daß die beiden Kirchen nicht entschiedener Widerstand geleistet hätten. Als einer der Mitunterzeichner des Stuttgarter Schuldbekenntnisses wollte es Dibelius nicht beim Bekennen der Schuld in der Vergangenheit bewenden lassen, sondern keine neue Schuld durch Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Totalitarismus auf sich nehmen. Im (alten) Gegensatz zu Karl Barth vermochte Dibelius keine qualitativen Unterscheide zwischen den beiden totalitären Systemen auszumachen. Das beiden Systemen gemeinsame Merkmal sei die Abschaffung individueller Rechte: "In einem totalitären Bereich gibt es überhaupt kein Recht im christlichen Sinne des Wortes. Weder ein Maximum noch ein Minimum, sondern überhaupt kein Recht. Es ist doch kein Zufall, daß in der DDR das Wort ,Recht' mehr und mehr in Fortfall kommt. Es gibt dort nur noch eine ,Gesetzlichkeit', d. h. eine Anzahl von Bestimmungen, die die Machthaber im Interesse ihrer Macht erlassen und mit ihren Machtmitteln durchsetzen. Das ,Dir zu gut' des Paulus ist ebenso außer Kraft gesetzt wie das Wort von der ,Dienerin Gottes'."1S
Dibelius hatte in seiner kleinen Schrift, mit der er ausdrücklich zur Diskussion anregen wollte, nur das ausgesprochen, was viele Pfarrer und Gemeindeglieder dachten, sich aber nicht mehr zu sagen wagten. Eine Erklärung für diese Zurückhaltung bietet die geballte Kritik, die Dibelius von Synoden und Pfarrerkreisen, Fakultäten und Studentengemeinden, Kirchenzeitungen und Akademien erfahren mußte. Vor der eigenen Synode in Berlin erklärte der Theologe Heinrich Vogel: "Warum nimmt die Kirche ihn (den kommunistischen Atheismus', K.M.) in einer so falschen Weise ernst, um nicht zu sagen: tragisch?! Der Atheismus will totgeliebt werden, damit die Brüder Atheisten es lernen, mit uns Gott zu loben. Warum fehlt dieser Ton in Ihrer Musik? - Und wenn sie hundertmal recht hätten, was doch in vielem, was Sie behaupten, nicht der Fall ist, so ist es doch nicht das Evangeliumsrecht, das hier auf Ihrer Seite ist. Darum können die ,andern', ich meine jene Atheisten und vor allem die Männer des sozialistischen Staates und der kommunistischen Politik, die Wahrheit, die Sie und wir und die ganze Kirche ihnen jetzt schuldig sind, nicht vernehmen. "16
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Dafür konnten die Kommunisten allerdings etwas für sie sehr viel Wichtigeres vernehmen: daß die "freiwillige Selbstkontrolle" und der innere Gleichschaltungsprozeß der evangelischen Kirche sehr viel rascher und gründlicher vorangeschritten war, als es zu vermuten war. Wo gab es eine "Bekenntnissynode" wie im Dritten Reich, wo eine Bekennende Kirche, die sich gegen die zunehmenden Machtansprüche des Staates gegenüber der Kirche im allgemeinen, gegenüber einzelnen Christen im besonderen zur Wehr setzte? Es bedarf keines ausgeprägten psychologischen Feinempfindens, um sich die disziplinierenden Wirkungen der Kampagne gegen Bischof Dibelius auf den sog. Klerus minor, auf die Kirchenvorstände und auf die evangelischen Gemeinden vorzustellen. Mit einem ernsthaften Widerstand gegen die Maßnahmen des SED-Staates brauchte fortan nicht mehr gerechnet zu werden, - selbst dann nicht, als die SED im Zuge ihrer Abgrenzungspolitik in der Mitte der sechziger Jahre die Auflösung der organisatorischen Einheit der EKD als der letzten "gesamtdeutschen Institution" betrieb. Zwar regte sich in den Gliedkirchen der DDR in diesem Zusammenhang noch einmal deutlicher Widerspruch. Im Jahre 1967 erklärten die in Fürstenwalde/Spree versammelten Synodalen der formal noch bestehenden EKD: "Wir können nicht erkennen, daß der Herr die EKD nicht mehr brauchen will, seinen Auftrag auszuführen, das Evangelium allem Volk zu verkündigen. Die Kirchen der EKD sind beieinander. Unser evangelisches Bekenntnis weist uns an, kirchliche Gemeinschaft nur dann aufzukündigen, wenn der Bruder in Irrlehre oder Ungehorsam gegen den Herrn der Kirche beharrt. Diese Gründe zu einer Trennung der Kirche innerhalb der EKD liegen nicht vor. - Die Kirchen werden aufgefordert, ihre Einheit in der EKD aufzugeben, weil sie sonst den Menschen, die in zwei entgegengesetzten Gesellschaftsordnungen leben, nicht mehr dienen könnten. Damit wird die Gesellschaftsordnung zur Herrin über den Christusdienst gemacht. Gerade dadurch wird der Christusdienst gehindert. Denn die Menschen sind in allen Situationen und Gesellschaftsordnungen einander darin gleich, daß sie Christus nötig haben."17
Diese ebenso mutige wie bekenntnistreue Haltung wurde von den westlichen Gliedkirchen der EKD nicht ausreichend unterstützt, um nur ja nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, die EKD sei ein "Restbestand alter nationaler Einheit"18. Unter dem zunehmenden Druck der SED haben die Synoden dann 1969 beschlossen, sich gegenseitig "freizugeben", wie es euphemistisch hieß. Faktisch bedeutete dies Spaltung der EKD und Rückfall in ein überwunden geglaubtes Staatskirchenrecht: "Die Kirchen wissen sich zur Beachtung der Gesetze unseres Staates bei der Gestaltung ihrer eigenen Strukturen und Ordnungen verpflichtet. Die Staatsgrenzen der Deutschen Demokratischen Republik bilden auch die Grenze für die kirchlichen Organisationsmöglichkeiten" - so der thüringische Bischof Mitzenheim. 19 Damit hat die evangelische Kirche gegen einen elementaren Grundsatz der Barmer Erklärung von 1934 verstoßen, mit dem sie sich gegen die Machtansprüche des nationalsozialistischen Totalitarismus noch gewehrt hatte:
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"Wir verwerfen die falsche Lehre, als dürfe die Kirche die Gestalt ihrer Botschaft und ihrer Ordnung ihrem Belieben oder dem Wechsel der jeweils herrschenden weltanschaulichen und politischen Überzeugungen überlassen." (These 111).
Dieser Verstoß wirkt um so nachhaltiger, als die in Fürstenwalde versammelten Synodalen sich ausdrücklich auf die Erkenntnisse des Kirchenkampfes im Dritten Reich und inbesondere auf das Stuttgarter Schuldbekenntnis berufen hatten. Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Kirche in der Auseinandersetzung mit dem politischen Totalitarismus ist durch das Verhalten der westlichen Gliedkirchen der EKD für längere Dauer schwer erschüttert worden. Die heute übliche Schutzbehauptung, daß die Spaltung der EKD durch den politischen Druck der SED verursacht worden sei, überzeugt insofern nicht, als die evangelische Kirche durch ihre dargestellte Haltung diesen Druck geradezu herausgefordert hat. Weshalb hat z. B die katholische Kirche nicht auch ihre Bistumsgrenzen den Staatsgrenzen der DDR angepaßt? Und weshalb hat die evangelische Kirche in der Bundesrepublik nicht gegen diesen staatlichen Druck zur Veränderung der inneren Verfassung der EKD protestiert? Wie steht es überhaupt mit deutlich vernehmbarer Kritik an Theorie und Praxis eines totalitären Systems, das derartigen Druck ausübt, - und zwar nicht nur auf die evangelische Kirche? Diese Fragen stellen sich um so zwingender, als in weiten Bereichen der evangelischen Kirche die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik überaus kritisch be- und verurteilt werden. Die Pfarrer seien nicht auf das Grundgesetz ordiniert, sondern auf die Heilige Schrift und die Bekenntnisschriften (wenn sich doch wenigstens alle daran erinnern würden!!), woraus die bekannten "Nein ohne jedes Wenn und Aber" gerechtfertigt werden. Dabei handelt es sich inzwischen längst nicht mehr um vereinzelte Stellungnahmen, sondern um eine weitverbreitete Distanz zur demokratischen Ordnung der Bundesrepublik. Es sollte zu denken geben, daß ein so kenntnisreicher wie bislang wohlwollender Beobachter des Weges der evangelischen Kirche nach 1945 wie Trutz Rendtorff sehr eindringlich die Frage nach der "Demokratiefähigkeit" der evangelischen Kirche stellt und sie auffordert, "aus den Einstellungen, die den Weg zu 1933 geebnet haben, heute die richtigen Folgerungen zu ziehen." Und das heißt konkret: "Es gibt keinen Ausstieg aus Recht und Verfassung, auch nicht im Namen eines ,Widerstandes im höheren Chor'. Wer politisch ,Nein' sagt, muß wissen, wo er im Blick auf das Verfahren Ja' sagt. Zur demokratischen Bildung gehört das Bewußtsein, daß die in der Kritik jeweils negierte andere Position auch in der Kritik noch anerkannt wird. "20 Dem ist nichts hinzuzufügen!
Anmerkungen 1) Vgl. dazu den Sammelband ftSumma iniuria oder Durfte der Papst schweigen? Hochhuths ,Stellvertreter' in der öffentlichen Kritik. Hrgb. von Fritz J. Raddatz. 1963. 2) Max Weber: Politik als Beruf. 1919. (Diverse Ausgaben) 3) Hans Graf Huyn: Der Angriff. Der Vorstoß Moskaus zur Weltherrschaft. 1978. S.26f. 4) Karl Barth: Der Römerbrief. 1919. S.332. Übernommen von Dorothee Sölle/Klaus Schmidt: Einleitung zu .Christentum und Sozialismus·, 1974. S.12.
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5) Karl Banh: Quousque tandem ... ? 1930. In: Karl Banh: .Der Götze wackelt". Zeitkritische Aufsätze, Reden und Briefe von 1930-1960. Hrgb. von Karl Kupisch. 2. Auf!. 1964. S.28. 6) Philosophisches Wörterbuch. Hrgb. von G. Klaus u. M. Buhr. Leipzig 1965. S.191 (Stichwort .Faschismus"). 7) Karl Banh: Nein! Antwort an Emil Brunner. Theologische Exitenz heute, Heft 14. München 1934. S.5. 8) Kirchenblatt für die reformierte Schweiz v. 12.7.1945. Später aufgenommen in Theologische Existenz heute (Neue Folge), Heft 49. S.89. 9) In: .Der Götze wackelt", a.a.O. (Anm.5), S.94. 10) Karl Banh: Christengemeinde und Bürgergemeinde. 1946. Zif.6. 11) In: .Der Götze wackelt", a.a.O. (Anm.5), S.95. 12) Ebenda, S.135 u. 137. 13) In: Wege der Totalitarismusforschung. Hrgb. von B. Seidel und S. Jenkner. (Wege der Forschung, Bd. CXL.) 1974. S.466ff. 14) In: .Der Götze wackelt", a.a.O. (Anm.5), S.174. 15) In: Dokumente zur Frage der Obrigkeit. Zur Auseinandersetzung um die Obrigkeitsschrift von Bischof D. Otto Dibelius. Hrgb. von H. Mochalski u. H. Werner. 1960. S.28. 16) Ebenda, S.110. 17) In: Peter Fischer: Kirche und Christen in der DDR. 1978. S.87f. 18) Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof D. Kurt Scharf, vor der EKD-Synode 1965 in seinem Rechenschaftsbericht. 19) Übernommen aus dem Kommentar zur Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, hrgb. von K. Sorgenicht u.a. Berlin (Ost) 1969, Bd.2, S.173. 20) Zeitschrift für Evangelische Ethik, 27. Jg., 1983, Heft 3, S.256.
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GREGOR M. MANOUSAKIS
Der Islam - eine totalitäre Gefahr? In meinem Referat habe ich die Frage zu beantworten, ob der Islam eine totalitäre Gefahr ist oder nicht. Bevor ich auf diese Frage eingehe, möchte ich in aller Kürze klarstellen, was ich unter Totalitarismus verstehe.
Vor allem in Deutschland ist man bemüht, den Totalitarismus als eine spezifische Erscheinung unseres Jahrhunderts, als "das politische Phänomen des 20. Jahrhunderts" nach Leibholz - zu begreifen. Diese Ansicht halte ich aus zwei Gründen für unhaltbar: Erstens weil sie das Schicksal des Menschen und des Geistes in anderen totalitären Herrschaftsformen, die in der Geschichte vorgekommen sind, verkennt, und zweitens, weil sie die Neigung der Deut· sehen widerspiegelt, ein uraltes historisches Phänomen deshalb für einmalig zu erklären, um ihren Abscheu vor dem Nationalsozialismus auszudrücken und das eigene Schicksal - als Volk und Nation - unter der nationalsozialistischen Herrschaft zu beklagen. Darin liegen meiner Ansicht nach die Wurzeln der Misere der Totalitarismus-Diskussion in Deutschland. Die Politikwissenschaft verfolgt hier zwei, nicht miteinander vereinbare Ziele: Sie will Systemvergleiche anstellen, zugleich aber auch Vergangenheitsbewältigung betreiben. Aus diesen Gründen ist sie an einem Totalitarismus-Verständnis orientiert, das vornehmlich den Nationalsozialismus im Auge hat und um eine Totalitarismus-Definition bemüht, die eher die Entstehungsbedingungen, die Erscheinungsformen und die konstitutive Elemente des totalitären Staates als das Schicksal des Menschen - als Maß aller Dinge - herausstellt. Die Folgen sind bekannt: Der Totalitarismus-Begriff ist zerredet worden, die Linke lehnt seine Anwendung auf den Kommunismus ab. Andere reden gar vom pluralistischen Charakter des Nationalsozialismus. Entgegen diesen Neigungen bin ich der Ansicht, daß es in der Geschichte immer wieder zu totalitären Geisteshaltungen gekommen ist, die zu totalitären Herrschaftsformen geführt haben - auch ohne Kriegsniederlagen, Wirtschaftskrisen, Einheitsparteien, Vernichtungslager und .. Volksempfänger". Ein totalitäres Herrschaftssystem liegt meines Erachtens dann vor, wenn es auf der Grundlage einer Ideologie die totale Reglementierung des geistigen, politischen und sozialen Lebens beansprucht und sie mittels Gewalt tatsächlich durchsetzt, seinen alle Lebensbereiche umfassenden Standpunkt als absolute Wahrheit zu Lastep der Vernunft und der geistigen und materiellen Bedürfnisse des Menschen erzwingt und jede Art der Opposition und individuellen Freiheit zu Gunsten der ideologischen Einheit gewaltsam unterdrückt und die positive Einstellung zu ihm und seine offene Bejahung verlangt. Auf der Grundlage dieser Kriterien möchte ich die totalitären Systeme, die in der Geschichte vorgekommen sind, in drei Kategorien unterteilen:
Erstens den auf dem Gesetz fußenden Totalitarismus, wofür Sparta nicht das einzige, aber das ausgeprägteste Beispiel liefert. Das politische System Spartas hat weder in der Antike noch in der Neuzeit seinesgleichen. Der Spartaner war Bürger mit unantastbaren 224
Rechten, der sich aber dem strengen lykurgischen Gesetz unterwarf, bis hin zur totalen Vernichtung seiner Person innerhalb der Gemeinschaft der Bürger. Die lykurgischen Gesetze waren zweierlei: a) totales Reglement des geistigen, politischen und sozialen Lebens des Einzelnen und der Gemeinschaft der Bürger und b) antidemokratische Ideologie. Die zweite Kategorie totalitärer Herrschaftsformen ist der auf der Religion fußende Totalitarismus. Jede Religion hat insofern einen totalen Charakter, als sie den Anspruch erhebt, alleinige Vertreterin der absoluten Wahrheit zu sein. Wenn dieser Anspruch auf den Staat übergeht und dieser die philosophische Reife besitzt, ihn zur Grundlage seiner eigenen Existenz und seines eigenen Wirkens zu gestalten, so entsteht eine totalitäre Herrschaftsform, die alle drei oben genannten Voraussetzungen mehr oder weniger erfüllt. Ein interessantes Beispiel dieser Art von totalitärem Staat war das Byzantinische Reich.! Der byzantinische Kaiser war die einzige Quelle des Gesetzes, "jedoch auf eine merkwürdige Weise stand das Gesetz stets etwas höher als der Autocrator"2, wie Runciman bemerkt. Der Byzantiner war zu keiner Zeit ein rechtloses Subjekt und die ausgebauten sozialen Einrichtungen des Staates schützten ihn vor der Verelendung. Doch die" wilde Intensität") der Frömmigkeit, die fanatische Orientierung an das Transzendente, die angenommene Identität von Kaisertum, Staat und Kirche sowie der Anspruch des Staates, Beschützer der reinen Glaubenslehre zu sein, verliehen dem sozialistisch ausgerichteten Byzantinischen Reich eine neuartige Totalität, der der antike Geist und die Freiheit zum Opfer fielen. Der gute Byzantiner mußte orthodoxer Christ sein und jede Häresie wurde mit aller Härte als Verbrechen gegen den Staat verfolgt, obwohl sie oft nichts anderes als Auflehnungsversuche der Völker des Ostens gegen die griechische Vormundschaft waren. Zu der dritten Kategorie totalitärer Herrschaftssysteme gehören die uns aus unserem Jahrhundert bekannten. Diese möchte ich mit Eric Voegelin parusistische Herrschaftssysteme nennen. Voegelin definiert in diesem Zusammenhang den Parusismus als die "Geisteshaltung, in der die Erlösung von dem Übel der Zeit durch die Ankunft, den Advent, des immanent Verstandenseins, in seiner Fülle zu erwarten ist"4. Vom Kommunismus in allen seinen Variationen bis zum Faschismus und Nationalsozialismus hin haben alle modernen totalitären Herrschaftssysteme eine in der unbestimmten Zukunft liegende Spekulation des Seins gemeinsam, wegen dessen Parusie, Ankunft, der Mensch in einer wie auch immer verstandenen Einheit mittels Willkür und Gewalt geistig, politisch und sozial gezwungen wird, auf sie hin zu arbeiten und auf sie zu warten. In einer solchen Herrschaftsform gibt es weder Bürger noch Untertanen, der Einzelne gilt nichts, die Würde des Menschen geht vollends zu Grunde, die Perversion der Moral wird als geschichtliche Notwendigkeit verteidigt. Das interessanteste Beispiel eines auf der Religion fußenden totalitären Staates ist der islamische Staat, den Mohammed in Medina nach 622 n. Chr. schuf. Er war von vornherein "Religion und Staat". Eine Feststellung, die wir in Europa leichter aussprechen als sie in ihrer wirklichen Dimension nachvollziehen können. Der Islam ist ursprünglich als eine religiöse Gemeinschaft entstanden, jedoch mit dem Anspruch, die Lebensform in der der 15 Löw, 2. A.
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Außenwelt fernen Wüstenstadt Medina vollends zu gestalten. Der Islam setzte in Medina diesen Anspruch durch, trug ihn siegreich über die Wüste Arabiens hinaus und schuf ein Reich, das für lange Jahrhunderte, hauptsächlich in der Zeit der ersten Kalifen, eher eine organisierte religiöse Gemeinschaft als ein Staatswesen im europäischen Sinne war. Der Koran wird daher auch als Staatsverfassung des Islam angesehen. Dies stimmt, jedoch mit der Einschränkung, daß seine staatsrechtlichen Elemente meistens als Schlußfolgerungen aus dem Rechtssystem hervorgehen, das die religiösen Vorschriften des Korans schaffen. Er ist als Kodex einer religiösen Gemeinschaft konzipiert worden. Folgerichtig tritt im Islam der Koran an die Stelle des christlichen heilbringenden Erlösers. Jeder Moslem vermag durch das Wissen, das ihm durch den Koran vermittelt wird, seine Aufgabe in dieser Welt zu erfüllen. 5 Daher existieren im Islam weder Priester noch Kirche in unserem Sinne: Mittler zwischen Himmel und Erde ist der Koran selbst. Für den Moslem ist daher zu seinen Lebzeiten klar, daß die Einhaltung der Vorschriften des Korans, so wie er ihn versteht, ihn sicher ins Paradies bringen wird. Das macht die radikale Diesseitigkeit des Islam aus und daraus resultiert seine Intoleranz: "Haus des Islam" mit den guten Moslems und den frevelhaften Christen und Juden, denen man lediglich eine Existenz als Untertanen zuerkennt, dort das "Haus des Krieges", die "ungläubige" und heidnische Welt, die notfalls mit dem Schwert bekehrt werden muß. Die Identität zwischen Religion und Staat findet ihre Entsprechung in der religiösen und weltlichen Einheit der Gesellschaft des Islam, der "Umrna". Ihr gehören alle gläubigen Moslems an, sie sind nach der Lehre gleichberechtigt, unabhängig von Staat, Rasse oder Nationalität. Die Existenz politischer Parteien mit divergierenden Interessen innerhalb der "Umrna" ist undenkbar. Einheit und Identität stehen über allem. Der Groß-Imam der AI-Azhar-Moschee in Kairo, Abdel Monim Nimr, drückt diese totale Identität von Reli. gion, Staat und Gesellschaft wie folgt aus: "Der totalitäre Charakter des Islam geht auch aus seinem Selbstverständnis als Staat und Religion zugleich hervor. Er ist gleichsam göttliche, geistige, politische, rechtliche, wirtschaftliche und soziale Ordnung. Folgerichtig verstand sich der Islam von Anfang an als Staat und Religion zugleich. Die Vorstellung von der Trennung zwischen Religion und Staat in dem Sinne, daß die Beziehungen zwischen dem Gläubigen und seinem Gott durch die Religion geregelt werden, Staatsform und Verwaltung aber davon losgelöst und von menschlichem Gutdünken abhängig seien, ist dem islamischen Denken völlig fremd. Denn die Freiheit des Menschen, nach Belieben über diese Dinge zu entscheiden, führt zu Nichtigkeit und Übe1 M • 6
Und weiter: "Der Islam ist eben eine Religion totaler Art, eine Religion für das volle Leben und nicht nur für die Seltenstuben der Pietät".7
Im Islam haben wir also: die Einheit von Religion und Staat, den Koran als Mittler zwischen Himmel und Erde, die "Umrna", die einheitliche islamische Gemeinschaft und die "Scharia" als ihr allumfassendes Gesetz. Das so entstehende Staatswesen gipfelt in der Institution des Kalifats und der Kalif ist sein Kriegsherr und Repräsentant, mit dem konkreten Auftrag, den Machtbereich des Islam zu erweitern.8 226
Fast erübrigt es sich, hier darauf hinzuweisen, daß in einem solchen System der freie Mensch völlig untergeht. Sein Leben, von der Einteilung des Tages - wegen der obligatorischen Gebete - bis zur Gestaltung der Speisekarte, ist von der ~Scharia" genau vorgeschrieben. Politische Betätigung ist nur im Rahmen der einheitlichen "Umrna" möglich, und der Geist ist fast ausschließlich auf das Studium des Korans konzentriert. Die geistige Blütezeit des Islam, vor allem unter den Abbasiden (750-1258) kam wegen der raschen und umfassenden Berührung des jungen arabischen Volkes mit dem weitentwickelten Christentum des Ostens zustande. Die damals empfangenen Anregungen verbrauchten sich rasch und kamen zum Erliegen. Seitdem, und bis in unsere Tage, vergrößert sich die Rückständigkeit der islamischen gegenüber der christlichen Welt ständig. Noch während der Kolonialzeit haben die islamischen Länder, hauptsächlich die Araber, gemeint, die Abschüttelung der Kolonialherrschaft würde genügen, damit Arabien seinen einstigen Glanz wiedererlange. Auf diese Weise entstanden verschiedene Ideologien in der arabischen Welt, etwa der Baathismus Michael Aflaqs in Syrien oder der Nasserismus in Ägypten. Beide fußten auf der Verbindung eines radikalen Sozialismus mit einem ebenso radikalen Nationalismus. Die Abschüttelung des Kolonialismus in den fünfziger und sechziger Jahren war die Folge dieser politischen Bewegung. Doch auch nach der Erlangung der politischen U nabhängigkeit mußten alle arabischen Länder feststellen, daß ihre Abhängigkeit von den verhaßten Kolonialherren in politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht weiter bestehen blieb. Dazu schritt der Verlust der eigenen Identität immer weiter fort, durch die vielfältigen Einflüsse, die die arabische Welt notgedrungen au~ Europa und Nordamerika empfängt. Der Versuch also, eine Renaissance der arabischen Welt mit Hilfe nichtislamischer Ideen wie Sozialismus und Nationalismus durchzusetzen, scheiterte. Eine Tatsache, die etwa gegen Ende der sechziger Jahre allgemein in das Bewußtsein der gesamten islamischen Welt eingedrungen ist. Was darauf folgte, war fast zwangsläufig: Die Mobilisierung des Islam selbst als politische Ideologie und Waffe im Kampf gegen Rückständigkeit und für die Unabhängigkeit. Diesen Einsatz des Islam als politische Ideologie nennen die Moslems selbst "zweites Erwachen". Der uns bereits bekannte Nimr beschreibt dieses zweite Erwachen am besten: "Wir sind aufs Neue erwacht, kehren zurück zu unseren ursprünglichen Werten, zum geraden Weg und zu allem, was der Islam seit altersher gebietet. Aus West und Ost hatten den Islam fremde Vorstellungen und Vorschriften um unser eigenes Erbe zu bringen versucht, unsere Lebensart zu einem Schatten und Abklatsch der Fremde gemacht. Selbst die Wiedererlangung unserer politischen Unabhängigkeit hatte daran zunächst nichts geändert. Geistliches und geistiges Leben blieben von außer-islamischen Leitbildern durchdrungen. Und hier setzte die heutige Re-Islamisierungsbewegung ein: Zur Erlangung unserer geistigen, geistlichen und rechtlichen Unabhängigkeit, und nicht nur der staatlichen Unabhängigkeit. Für mich und die islamische Geistlichkeit ist die geistige Eigenständigkeit sogar noch wichtiger als die politische. Nur die Wiedererlangung der Unabhängigkeit auf geistigem Gebiet wird einer der schlimmsten Folgeerschei-
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nungen der kolonialen Ära Herr: der Selbstentfremdung ganzer Religionen, Völker und Kulturen. Was nützt es, die Herrschaft des Kolonialismus abzuschütteln, wenn seine Ideen und Ideologien weiter geistige Knechtschaft ausüben? Dieser Sachverhalt ist uns eben bewußt geworden. Daher unser Erwachen, die Re-Islamisierungsbewegung zur Befreiung von allem, was in unser Denken und Leben, in unsere Kultur und unsere Sitten an Fremdem eingedrungen ist, Rückbesinnung auf unsere eigene Tradition und Geschichte.... Das Wort Re-Islamisierung gefällt mir allerdings nicht, ich möchte lieber von einem Erwachen und Erheben der islamischen "UmmaM aus langem Schlaf und tiefer Fremdhypnose sprechen M • 9
Das ist die geistespolitische Situation, in der der Islam sich heute befindet, das ist der eigentliche Grund der Unruhe, die aus der gesamten islamischen Welt hervorgeht: Der Glaube, daß die Rückkehr zu den Wurzeln des Islams, der Islam als politisches System, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Probleme der islamischen Welt lösen werde. Gehen daraus totalitäre Gefahren hervor und welche? Das sind die Fragen, denen wir uns nun zuwenden müssen: Nicht nur weil wir das persische Beispiel vor Augen haben, fällt die Antwort auf diese Frage, mit Blick auf die islamische Welt, leicht: Ja! Der Islam stellt eine totalitäre Gefahr für die gesamte islamische Welt dar. In Nordafrika, vom Atlantik bis zum Indik und darüber hinaus in den asiatischen und fernöstlichen islamischen Staaten treffen wir überall fast die gleiche Problematik: politische, wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit, ein enormes Bevölkerungswachstum von über drei Prozent jährlich, schwache Monarchien und wie auch immer bemäntelte unstabile Diktaturen, Entfremdung von der eigenen Kultur und ein fortschreitender Verlust der Identität der Moslems, glühender und nach allen Richtungen auswuchernder Nationalismus und politische Ohnmacht, die unmittelbaren Probleme der Innenpolitik dieser Staaten zu lösen, geschweige denn ihre sehr hoch gesteckten Ziele in der Außenpolitik zu realisieren: etwa die arabische Einheit zu erreichen - davon träumen alle Araber - oder den Staat Israel zu vernichten. Europäische Wissenschaftler und in Europa ansässige Moslems meinen die Lösung dieser Probleme in der Zauberformel: Industrialisierung der islamischen Länder und Säkularisierung des Islam, gefunden zu haben.l 0 Wie fast alle westlichen Entwicklungstheoretiker übersehen sie dabei, daß Unterentwicklung nicht primär eine Folge der fehlenden Maschinen oder des fehlenden Kapitals, sondern eine Folge der allgemeinen Rückständigkeit, insbesondere der des Menschen, ist. Diese kann nicht abrupt, etwa in einer Generation, überwunden werden, denn der Mensch kann die rasche, aus der Fremde kommende Entwicklung nicht nachvollziehen. Infolgedessen hat jeder Schritt in Richtung Industrialisierung zunächst die Intensivierung der Entfremdung und des Indentitätsverlustes zur Folge. Und dies wird politisch umso wirksamer, als der Islam unbeweglich bleibt, d. h. die einfachsten Dinge des Lebens und die einfachsten Verhaltensweisen im Berufsleben als Teufelswerk verdammt. Das Beispiel Persiens unter dem Schah ist bezeichnend dafür. Die Lösung der Probleme der islamischen Welt kann aber nicht auf Generationen hinausgeschoben werden. Genau hier liegt die Chance der Fundamentalisten. Ihre Verheißung, der Islam als politisches System würde automatisch auch die baldige Lösung aller Pro-
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bleme mit sich bringen, und zwar ohne Verletzung der islamischen Lebensweise, ohne Entfremdung und ohne Indentitätsverlust - genau das predigen die Fundamentalisten ist wohl irrational, klingt aber in den Ohren des einfachen Volkes plausibler als die komplizierten Entwicklungstheorien. In Persien hat das in rasende Begeisterung geratene Volk, ob der Wiederkehr des Mahdi und der Errichtung des idealen islamischen Staates, binnen weniger Tage alles zerstört, was das Schahregime in den letzten 20 Jahren geschaffen hatte - von der Bodenreform bis zu den deutlichen Ansätzen einer Industrialisierung. Dabei sind die Perser nicht auf die Idee gekommen, daß sie eine Selbstzerfleischung von bis dahin ungeahnten Ausmaßen betrieben. Vielmehr sind noch heute Chomeini und auch mehrheitlich die Perser der Ansicht, alles was vor der islamischen Revolution war, sei Teufelswerk, es müsse zerstört werden, um das Gotteswerk des neuen Regimes gedeihen zu lassen. Und das neue Regime "gedeiht" in der Tat. Chomeini hat in Persien innerhalb von wenigen Monaten einen streng islamischen Staat aufgebaut, von bisher unbekannter Totalität: Chomeini, der in der Vorstellung der Perser den verborgenen Mahdi verkörpert, als unumschränkter Herr und kriegführender Imam, sich allein und sonst niemandem verantwortlich. Unter ihm die "Umrna" als Fiktion der Einheit aller Perser, die die Diesseitigkeit nach den Geboten Chomeinis erlebt, um das Jenseits zu gewinnen: soweit erlebt und sich beugt, daß das Regime offiziell, also nicht etwa heimlich, minderjährige Kinder wegen angeblicher Übertretungen der "Scharia" hinrichten läßt, daß Eltern ihre Kinder und diese die Eltern denunzieren, soweit, daß das Regime keine Probleme hat, Tausende von Freiwilligen zu finden, die, Koranverse rezitierend über die Minenfelder gehen, um Schneisen für den persischen Panzerangriff an der Abadan-Front zu öffnen - so geschehen in großem Ausmaß beim Gegenangriff der Perser im Mai 1983 bei Korramschar, und so geschieht es fast täglich im Golfkrieg: Perser schmeißen einfach ihr Leben vor den Maschinengewehren hin, nur um als "Märtyrer" vor Allah treten zu können - so hat es ihnen Chomeini erzählt. Lange Zeit hatte sich die Politikwissenschaft mit der Ansicht beruhigt, aus der Dritten Welt drohe trotz vielfältiger Ansätze keine totalitäre Gefahr, weil dort alle Voraussetzungen fehlen, darunter und vor allem der durchorganisierte Staat, den die durchorganisierte Einheitspartei beherrschen und für sich einsetzen kann. Die Politikwissenschaft hatte den Islam übersehen. In Persien sind die rund 180000 Schriftgelehrten aller Grade der islamische Staat und die Einheitspartei in Personalunion. Nie bekamen Hitler oder Stalin das deutsche bzw. russische Volk so vollständig in die Hand wie Chomeini das persische. Chomeini hat nach der Festigung seiner Macht gemäß dem wahren Auftrag des Kalifen (Imam) sich beeilt, den Machtbereich seines Islams zu erweitern. Im September 1980 befand er sich bereits im Krieg mit dem Irak. Der Westen, mit den Vereinigten Staaten an der Spitze, begeht einen großen Irrtum, wenn er meint, im Golfkrieg gehe es um die uralte Fehde zwischen Mesopotamien und Persien. So ist es nicht. Es geht allein um die Expansion der islamischen Revolution, und ihr Ziel ist vorerst die gesamte arabische Halbinsel mit ihren Ölquellen. Bagdad ist nur eine Etappe. 1I Angesichts der Virulenz, die trotz dieser persischen Erfahrungen den Fundamentalismus in der gesamten islamischen Welt kennzeichnet, sind seine Chancen, auch in anderen ara-
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bischen Ländern die Macht zu ergreifen, nicht von der Hand zu weisen. Ägypten, bei dem sich die Probleme der gesamten arabischen Welt akkumulieren und wo die Moslembruderschaft - die größte und radikalste fundamentalistische Organisation innerhalb des sunnitischen Islam - sehr mächtig ist, scheint mir heute am gefährdetsten von allen übrigen arabischen Staaten zu sein. Die Probleme der Überbevölkerung Ägyptens, der um sich greifenden Verelendung der Massen oder der zunehmenden Versalzung des Niltals durch den Assuandamm, sind nicht kurzfristig lösbar. Der jetzige ägyptische Staatspräsident, Hosni Mubarak, hat die schon von Sadat eingeleitete Demokratisierung Ägyptens mit der Durchführung von freien Wahlen im Mai 1984 einen Schritt weiter geführt. Sollte dieses Experiment scheitern, so wird Ägypten den Weg Persiens gehen - ohnehin ist bereits der ägyptische Staat von der Moslembruderschaft stark unterwandert. Die Errichtung eines islamischen Staates nach Persiens Vorbild wird aller Wahrscheinlichkeit nach eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes auslösen: In Ägypten leben zwischen vier und acht Millionen koptische Christen, die den Moslembrüdern ein Dorn im Auge sind. Die physische Existenz dieser Minderheit in einem vom islamischen Fundamentalismus beherrschten Ägypten ist kaum denkbar. Die Machtergreifung des islamischen Fundamentalismus kann nicht nur durch Gewalt und Revolution erfolgen, sie ist auch auf kaltem Wege möglich. Um den eventuellen Weg dorthin zu zeigen, möchte ich ganz schematisch die heutige Situation in allen islamischen Ländern wie folgt beschreiben: Die fundamentalistische Bewegung ist in allen islamischen Ländern in unterschiedlicher Stärke vorhanden. Überall stellt sie die wirkliche Opposition dar, ob dies nun offensichtlich ist, wie etwa in Ägypten oder nicht, wie z. B. in Syrien. Ständige Forderung dieser Opposition ist die Einführung der "Scharia", des islamischen Gesetzes. Die verschiedenen Regierungen lehnen diese Forderung ab, sei es aus ideologischen, sei es aus pragmatischen Gründen. Da jedoch die islamischen Länder mit sehr schwierigen Problemen konfrontiert sind, kommt es dort immer wieder zu Krisensituationen, die unter anderem auch dadurch bewältigt werden, daß man der Opposition mit Blick auf die "Scharia" Konzessionen macht. So konnte z.B. die islamische Bewegung in Ägypten die Annullierung zweier Gesetze aus der Zeit Sadats durchsetzen, die im Gegensatz zu der "Scharia" standen: den freien Ausschank alkoholischer Getränke und die Verbesserung der Stellung der Frau im Eherecht. Eine ähnliche Entwicklung macht die Türkei seit Anfang der fünfziger Jahre durch. Der von Kemal Atatürk eingeführte Laizismus wird immer mehr vom wiedererwachten Islam zurückgedrängt,12 Diese Entwicklung wurde nach dem Militärputsch von 1980 aus zwei Gründen verstärkt. Zunächst suchte das Militärregime Anlehnung an die konservativen islamischen Länder der Golfregion, um von dort Hilfe für die erdrückenden wirtschaftlichen Probleme der Türkei zu erhalten. Diese Politik war erfolgreich und Ministerpräsident Türgüt Özal hat sie nach seiner Machtübernahme im Dezember 1983 beibehalten. Seitdem erfährt aber diese Politik der Öffnung zu islamischen Staaten eine innenpolitische Komponente, indem Özal, selbst gläubiger Moslem und Mekka-Pilger, den Islam immer mehr von den kemalistischen Fesseln befreit. Özal "will die islamische Identität des nun einmal muslimischen Türkenvolkes stärken" - stellt Lerch fest. n Lerch, sicherlich der beste Islamkenner in der deutschen Publizistik, unterschätzt hier offensichtlich, was in Wirklichkeit "Stärkung der islamischen Identität" bedeutet, unabhängig 230
davon, ob man dies in der Türkei, "dem vielleicht am meisten verwestlichten Land des Islam"!., oder anderswo tut. Jede bewußte "Stärkung der islamischen Identität" kann nur mit dem "Öl ins Feuer gießen" verglichen werden, sie muß in aggressiven Nationalismus und Haß gegen die "Ungläubigen" ausarten. Folgerichtig geht nun die "Stärkung der islamischen Identität" in der Türkei mit den immer schärfer werdenden Verfolgungen der christlichen Minderheiten einher: den Assyrern im Südosten an der türkisch-syrischen Grenze,15 den Armeniern, den Juden und den Griechen. Jüngstes Beispiel: Im September 1986 wurde in Istanbul eine Kommission gegründet, deren einzige Aufgabe ist, die "Armenität" (also das Armenischsein) der Kinder der Armenier zu überprüfen, die die Schulen der armenischen Minderheit besuchen wollen.!6 Zur gleichen Zeit erklärte die Regierung Özal in Ankara, daß sie trotz der Proteste der Minderheiten an ihrem Beschluß festhalten wolle, den Islam in den Schulen der Minderheiten zu lehrenP Dies wohlgemerkt in einer Zeit, in der moslemische Eltern in Westeuropa die Entfernung des Kruzifixes aus den Schulklassen verlangen, die auch von ihren Kindern besucht werden - und dies tatsächlich erreichen. Umso leichter sollte erkannt werden, daß die totalitäre Gefahr, die aus dem Islam hervorgeht, sich nicht nur auf die islamische Welt beschränkt. Auch für die westeuropäischen Demokratien stellt der Islam eine indirekte Gefahr dar. Vor allem nach der Gründung des Staates Israel, also nach 1948, wurde islamischerseits versucht, die religiöse Komponente der arabischen Feindschaft gegen Israel herunterzuspielen - aus wohl verständlichen Gründen. Im Zuge dieser Bemühungen wurde in den arabischen Ländern eine Reihe von Schriften in europäischen Sprachen über den Islam veröffentlicht. In diesen Schriften wird der Islam als eine Religion der Liebe, der Versöhnlichkeit, des Friedens und der demokratischen Idee präsentiert, ein Vorhaben allerdings, das nicht immer gelingt, wegen der sich widersprechenden Korantexte und Koranauslegungen, die in diesen Schriften zitiert werden. Möglicherweise handelt es sich bei diesen Schriften, meistens in Form von Broschüren, um die ersten über den Islam, die der Durchschnittseuropäer in einer Zeit zu Gesicht bekam, als niemand sich für islamische Fragen interessierte. Dazu kommt in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Schriften von Moslems heraus, die lange in Europa gelebt haben. Diese Moslems stellen den Islam meistens dermaßen aufgeklärt dar, daß er mit dem in den islamischen Ländern praktizierten Islam kaum noch etwas gemeinsam hat. Aus diesen Gründen haben die Schriften von Moslems in europäischen Sprachen nicht nur keine Resonanz in der islamischen Welt, sondern werden in aller Schärfe abgelehnt, und zwar Schriften und Verfasser. Es ist daher kein Wunder, daß in Europa überall die Neigung festzustellen ist, den Islam als eine Religion wie jede andere aufzufassen, was nichts anderes als seine unerlaubte Verniedlichung impliziert. Ein Beispiel: Der Kampf, der Krieg, ist dem Islam wesenseigen und hat folgerichtig seine Geschichte geprägt. Der Islam ist eine kriegerische Religion. Der Kampf wird in mehreren Koran-Suren direkt erwähnt oder angedeutet. Der Moslem ist verpflichtet, für die Verbreitung seines Glaubens zu kämpfen.
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Dennoch heißt es in einer Broschüre über den "Begriff des Krieges", die in Kairo herausgegeben worden ist, daß der Krieg im Islam nur als Abwehr eines Angriffes möglich sei. t8 In der gleichen Broschüre heißt es, "wenn aber ein Despot grausam sein Volk bedrückt, seine Gedankenfreiheit einschränkt, und verhindert, daß die Wahrheit es erreichen kann, so soll der Prediger in diesem Fall alle Schranken zwischen diesem erniedrigten Volk und seiner Botschaft niederbrechen, falls er die dazu notwendige Macht hat, damit die Menschen die neuen Wahrheiten annehmen und sich zu ihnen bekennen können, wenn sie zum Glauben an sie gelangt sind".19
In einer ähnlichen Schrift über den Islam (herausgegeben vom Islamischen Zentrum Genf und dem Islamischen Zentrum Paris), heißt es über den "Heiligen Krieg": "Jeder Krieg ist im Islam verboten, wenn er nicht für eine gerechte Sache, die durch göttliches Gebot befohlen ist, geführt wird".20 "Das Ziel der von Mohammed ... geführten Kriege war es, der Welt die Freiheit des Gewissens zu schenken. Der Heilige Krieg der Muslime ist daher durchaus kein Eroberungsfeldzug, sondern er wird geführt in einem Opfergeist und bezweckt einzig und allein die Erlangung der Vorherrschaft für das Wort Gottes".21
Solche oder ähnliche Texte haben offensichtlich die katholischen Bischöfe soweit überzeugt, daß sie nun zu wissen glauben: "wo Muslime von Dschihad sprechen, meinen sie zunächst nicht den ,Heiligen Krieg', sondern ihr Bemühen um die Unterwerfung unter den göttlichen Willen und die Ausbreitung des Islam".22 Das ist aber in Wirklichkeit keineswegs die Meinung der Moslems. Der "Dschihat", was "Kampf" oder "Streben" bedeutet, heißt bei uns "Heiliger Krieg", weil es sich um einen Schlachtruf handelt, der stets zusammen mit dem Namen Allahs ausgerufen wird. Es gibt kaum einen muslimischen Krieg, der nicht als "Dschihat" bezeichnet wird, und auf keinen Fall, wenn es um Krieg gegen Nicht-Moslems geht. Der Moslem hat sich außerdem iu keiner Zeit und nirgendwo um die friedliche Verbreitung des Islams bemüht - ganz Afrika stand ihm zur Verfügung für ein großes missionarisches und kolonisatorisches Werk, wenn er gewollt hätte. Dennoch zog er in den Krieg gegen den christlichen Osten. Erst in unseren Tagen haben Kadhafi und die Saudis mit großen Geldeinsatz in Afrika Konversion betrieben. Was hier im Zusammenhang mit dem "Heiligen Krieg" gezeigt worden ist, ist symptomatisch für die Leichtfertigkeit, mit der in der Bundesrepublik Deutschland und in Westeuropa überhaupt die komplizierten Aspekte des Islam vereinfacht und verniedlicht werden. Daraus entsteht ein schiefes Bild vom Islam, das nicht mit dem Bild übereinstimmt, das der gläubige Moslem in einem christlichen Land in Wirklichkeit bietet. Stimmen, wie jene des Bischofs von Münster, Lettmann, die z.B. "nachdrücklich" vor Ehen zwischen Christinnen und Muslimen warnen23, kommen zu spät und gehen ohnehin in der allgemeinen Euphorie über die angeblich problemlose Möglichkeit, eine größere Zahl von Moslems in Europa anzusiedeln, unter. Diese Euphorie ist falsch. Europa, das möchte ich hier in aller Offenheit sagen, kann nur durch Prosperität integrieren - einen anderen starken Glauben, weder religiösen noch politischen, hat es nicht mehr. Europa kann daher einen gläubigen Moslem bestenfalls 232
kaufen, ihn aber nicht überzeugen. Es gibt einige Hoffnungsansätze, daß Europa dabei ist, sich wiederzufinden, wie z.B. die langsame Zuruckdrängung des Versorgungsstaates. Andere Erscheinungen truben diese Hoffnung, wie z.B. der allgegenwärtige Trugschluß, durch Freiheit Frieden einzutauschen. Wir befinden uns in einer Übergangszeit und dabei sollten Reaktionen nicht provoziert werden. Die bewußte Unterschätzung des Islam, die falschen Integrationshoffnungen, die man sich über die Moslems macht, laufen aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine große Provokation der breiten Massen der Europäer und somit auf eine indirekte Gefährdung der Demokratie hinaus. Le Pen und seine rechtsextreme "Nationale Front" sind keine Erscheinungen, die nur in Frankreich möglich sind. Bracher, und damit möchte ich abschließen, schrieb: "Ideen und Ansprüche totalitärer Staats- und Gesellschaftsorganisationen sind kein Phänomen der Vergangenheit, der vorübergehenden Zeit zwischen den Weltkriegen. Sie bleiben eine stets gegenwärtige Versuchung, eine mögliche Konsequenz gerade auch der Modernisierungsprozesse. Entgegen dem Optimismus der Aufklärungs- und Sozialismustheoretiker bedrängen sie alte und neue Nationen in der Ära der Massendemokratien und Großbürokratien, der Entwicklungsdiktaturen und pseudoreligiösen Ideologien" .24
Importieren wir nicht Probleme nach Europa, die die Argumentation der Radikalen erleichtern! Anmerkungen 1) Hier muß ich mich auf wenige Literaturhinweise beschränken, die aber hinreichend Wesen und Charakter des Byzantinischen Reiches vermitteln: Spyridon Zampelios, Volkslieder Griechenlands, hrsg. mit einer historischen Studie über das mittelalterliche Griechenland, Kerkyra 1852 (um Mißverständnisse zu vermeiden, von den 767 S. des Werkes beansprucht die Studie die ersten 596 S.), und Steven Runciman, Byzantinische Kultur (gr. Übers. seiner Byzantine Civilisation), 2. Aufl., Athen 1983; D. K. Esseling, Byzanz und Byzantinische Kultur (gr. Übers. aus dem Holländischen), 2. Aufl., Athen 1970 und Dimitrios K. Sfaellos, Politische Charakterisierung der Byzantinischen Staatsform, Athen 1977. 2) S. S. Runciman, a.a.O., S.84. 3) Ebenda, S.237-238. 4) S. Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1959, S.60. 5) Vgl. Walter Beiz, Die Mythen des Koran, Der Schlüssel zum Islam, Düsseldorf 1980, S.30-31. 6) S. Gregor M. Manousakis, Die Rückkehr des Propheten. Der Wiederaufstieg des Islam, Berg am See 1979, S.22. 7) Die Weltwoche, Zürich, vom 14.2.1979. 8) Vgl. hierzu W. BeIz, wie Anm.6, S.227. 9) G. M. Manousakis, a.a.O., S.34. 10) Einschlägig in diesem Zusammenhang Bassam Tibi, Die Krise des modernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, München 1981. 11) Über den Golfkrieg und seine Hintergründe s. Gregor M. Manousakis, Wege zum Öl. Das Krisengebiet Nahost als Faktor europäischer Sicherheit, Koblenz 1984. 12) Eingehend über die Entwicklung der Re-Islamisierung in der Türkei nach 1950 s. bei G.M. Manousakis, wie Anm. 6, S. 76 H. 13) S. Wolfgang Günter Lerch, Waren die Osmanen laizistisch gesinnt? In: FAZ vom 8.10.1985. 14) So Wolfgang Günter Lerch, Die Islamische Welt mauen sich ein, in: Das Parlament, vom 1.3.1986. 15) Immer noch aktuell, Gabriele Yonan, Assyrer heute. Kultur, Sprache, Nationalbewegung der aramäisch sprechenden Christen im Nahen Osten, Reihe pogrom, Hamburg und Wien 1978.
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16) S. Zeitung Eleftherotypia, Athen vom 21.11.1986. 17) S. Zeitung Eleftherotypia, Athen vom 31.10.1986. 18) S. Scheich Muhammed Abu Sahra, Der Begriff des Krieges im Islam, Reihe: Studien über den Islam, veröffentlicht auf Veranlassung des Obersten Rates für islamische Angelegenheiten, Kairo o.J., S.15. 19) Ebenda, S.17. 20) S. Der Islam, Geschichte, Religion, Kultur, hrsg. vom Islamischen Zentrum Genf und Islamischen Zentrum Paris, Ankara/Türkei 1973, S.27&-277. 21) Ebenda, S.277. 22) S. Muslime in Deutschland, Hrsg. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1982, S.31. 23) S. FAZ, vom 5.11.1986. 24) S. Karl Dietrich Bracher, Streit um politische Begriffe und Erfahrungen: Totalitarismus- und Faschismusforschung in der Bundesrepublik Deutschland, in von ihm u. a.: Entwicklungslinien der Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, Forschungsbericht 17 der Konrad-AdenauerStiftung, Meile 1982, S.149-150.
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Die Autoren
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Karl Dietrich Bracher Dr. phi!., Dr. hum.lett. h. c., Dr. jur. h. c., geb. 1922 in Stuttgart; em. ord. Professor für Wissenschaft von der Politik und Zeitgeschichte an der Universität Bonn. Veröffentlichungen zum Thema u.a.: Die Auflösung der Weimarer Republik, 19846; (mit G. Schulz und W. Sauer) Die nationalsozialistische Machtergreifung, 19743; Die deutsche Diktatur, 19796 ; Europa in der Krise, 19792; Zeitgeschichtliche Kontroversen, 19845; Schlüsselwörter in der Geschichte, 1978; Geschichte und Gewalt, 1981; Zeit der Ideologien, 19842; Die totalitäre Erfahrung, 1987. Karl Wllhelm Frlcke geb. 1929 in Hoym/ Anhalt; Leiter der Ost-West-Abteilung beim Deutschlandfunk. Veröffentlichungen zum Thema: Selbstbehauptung und Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, 1964; Warten auf Gerechtigkeit, 1971; Programm und Statut der SED, 1976; Politik und Justiz in der DDR, 1979; Opposition und Widerstand in der DDR, 1984; Die DDR-Staatssicherheit, 19842. Manfred Funke Dr. phi!., geb. 1939 in Recklinghausen; Studiendirektor am Seminar für Politische Wissenschaft der Universität Bonn. Veröffentlichungen zum Thema: Führer-Prinzip und Kompetenz-Anarchie im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, in NPL 20 (1975); Extremismus und offene Gesellschaft - Anmerkungen zur Gefährdung und Selbstgefährdung des demokratischen Rechtsstaates, in: (Hrsg.) Extremismus im demokratischen Rechtsstaat, 1978; (Hrsg.) Hitler, Deutschland und die Mächte. Materialien zur Außenpolitik des Dritten Reiches, 19782; (Hrsg.) Totalitarismus. Ein Studien-Reader zur Herrschaftsanalyse moderner Diktaturen, 1978; (Hrsg. mit K. D. Bracher und H.-A. Jacobsen) Nationalsozialistische Diktatur 1933-1945. Eine Bilanz, 1983; (Hrsg. mit H.-A. Jacobsen, H.-H. Knütter und H.-P. Schwarz) Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, 1987; (Hrsg.) Entscheidung für den Westen, 1988. Eckhard Jesse Dr. phi!., geb. 1948 in Wurzen/Leipzig; Hochschulassistent im Fach Politikwissenschaft an der Universität Trier. Veröffentlichungen zum Thema: (mit U. Backes) Demokratie und Extremismus. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 44/1983; Streitbare Demokratie. Theorie, Praxis und Herausforderungen in der Bundesrepublik Deutschland, 19812; (Hrsg. und Beiträge) Bundesrepublik Deutschland und Deutsche Demokratische Republik. Die beiden deutschen Staaten im Vergleich, 19854 ; (mit U. Backes) Totalitarismus - Extremismus - Terrorismus. Ein Literaturführer und Wegweiser im Lichte deutscher Erfahrung, 19852; Demokratie - Autoritarismus - Totalitarismus. Anmerkungen zur Klassifikation politischer Systeme, in: Politische Bildung 18 (1985), H.2. Hans-Helmuth Knütter Dr. phi!., geb. 1934 in Stralsund; Professor der Politischen Wissenschaft an der Universität Bonn. Veröffentlichungen zum Thema: Ideologien des Rechtsradikalismus im Nach-
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kriegsdeutschland, 19622 ; Die Juden und die deutsche Linke in der Weimarer Republik, 1971; Hat der Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland eine Chance?, in: Verfassungsschutz und Rechtsstaat. Beiträge aus Wissenschaft und Praxis, Köln 1981; (Hrsg.) Politische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland, 1984; Rechtsextremismus, in: P. Gutjahr-Löser/K. Hornung, Politisch-pädagogisches Handwörterbuch, 19852; Antifaschismus und politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland, in: M. Funke/H.-A. Jacobsen/H.-H. Knütter/H.-P. Schwarz (Hrsg.), Demokratie und Diktatur. Geist und Gestalt politischer Herrschaft in Deutschland und Europa, 1987. Martln Krlele Dr. jur., geb. 1931 in Opladen; Professor für Allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht und Direktor des Seminars für Staatsphilosophie und Rechspolitik der Universität Köln. Veröffentlichungen zum Thema: Einführung in die Staatslehre, 19883; Legitimitätsprobleme der Bundesrepublik, 1977; Die Menschenrechte zwischen Ost und West, 19792; Recht und praktische Vernunft, 1979; Befreiung und politische Aufklärung, 19862; Nicaragua - das blutende Herz Amerikas, 19864; Die demokratische Weltrevolution, 1988 2• Konrad Löw Dr. jur., geb. 1931 in München; Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Buchveröffentlichungen zum Thema: Die Grundrechte - Verständnis und Wirklichkeit in beiden Teilen Deutschlands, München 19822; Die Lehre des Karl Marx. Dokumentation - Kritik, Köln 1982; Rechtsstaat, Demokratie, Sozialstaat. Verständnis und Wirklichkeit in beiden Teilen Deutschlands, München 19835; Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, Köln 19833; Warum fasziniert der Kommunismus. Eine systematische Untersuchung, München 19855; Kann ein Christ Marxist sein?, München 19872; Marxismus-Quellenlexikon, Köln 19882 • Siegfried Mampel Dr. jur., geb. 1913 in Halle an der Saale; Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Gesellschaft für Deutschlandforschung. Veröffentlichungen u. a. zum Thema: Der Sowjetsektor von Berlin. Eine Analyse seines äußeren und inneren Status, 1963; Arbeitsverfassung und Arbeitsrecht in Mitteldeutschland, 1966; Herrschaftssystem und Verfassungsstruktur in Mitteldeutschland, 1968; Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Text und Kommentar, 19822• Gregor M. Manousakls Dr., geb. 1935 in Rethymnon/Kreta; Publizist. Veröffentlichungen zum Thema: Die Rückkehr des Propheten. Der Wiederaufstieg des Islam, 1979; Der Islam und die NATO. Bedrohung an der Südflanke, 1980; Wege zum Öl. Die Situation im Nahen Osten, 1984. Bernhard Marquardt Dr. rer. oec., geb. 1950 in Wernigerode/DDR; wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Gesellschaft zur Erforschung der politischen Systeme in Deutschland e.V., Würzburg. Veröffentlichungen zum Thema: Soziologie und Politik an der AdW der DDR. Fallstudie
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zur Entscheidungsvorbereitung der Politik der SED, 1985; DDR - totalitär oder autoritär?, 1986; Die Gefahr des Totalitarismus, in: L. Bossle (Hrsg.), Wirkung des Schöpferischen, 1986; (mit E. Schmickl) Wissenschaft, Macht und Modernisierung in der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 3/1987. Klaus Motschmann Dr. phil., geb. 1934 in Berlin; Professor für Politische Wissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin. Veröffentlichungen zum Thema: Evangelische Kirche und Staat in den Anfangs;ahren der Weimarer Republik, 1970; Sozialismus. Das Geschäft mit der Lüge, 1977; Oskar Bcüsewitz: Sein Protest, sein Tod, seine Mahnung, 1978; Sozialismus und Nation. Wie deutsch ist die DDR?, 1979; Zwischen Widerstand und Anpassung. Positionen der evangelischen Kirche zum Totalitarismus, 1980; Herrschaft der Minderheit, 1983; Angst als Waffe, 1984. Anton Rauscher Dr. theol., lic. phil., geb. 1928 in München; Lehrstuhl für Christliche Gesellschaftslehre an der Universität Augsburg. Veröffentlichungen zum Thema: Subsidiaritätsprinzip und berufsständische Ordnung, 1958; (Hrsg.) Festschrift für Gystav Gundlach, 1962; Die soziale Rechtsidee und die Überwindung des wirtschaftsliberalen Denkens. Hermann Roesler und sein Beitrag zum Verständnis von Wirtschaft und Gesellschaft, 1969. Verschiedene Lexikonartikel; Autor zahlreicher Beiträge aus dem Fachgebiet; Herausgeber verschiedener wissenschaftlicher Reihen. Alexander Schwan Dr. phil., geb. 1931 in Berlin; Professor für Geschichte der politischen Theorien an der Freien Universität Berlin. Veröffentlichungen zum Thema: Wahrheit - Pluralität Freiheit, 1976; Grundwerte der Demokratie, 1978; Theorie als Dienstmagd der Praxis, 1983; Der normative Horizont moderner Politik, 1985; Grundlagen der politischen Kultur des Westens, 1987.
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