Tonspuren: Erinnerungen an den Holocaust im Hörspiel der DDR (1945-1989) 9783110225907, 9783110225891

Ausgezeichnet mit dem Tiburtius-Preis 2010 - Preis der Berliner Hochschulen This study investigates the function of th

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Tonspuren: Erinnerungen an den Holocaust im Hörspiel der DDR (1945-1989)
 9783110225907, 9783110225891

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Manuela Gerlof Tonspuren

Media and Cultural Memory/ Medien und kulturelle Erinnerung Edited by / Herausgegeben von Astrid Erll · Ansgar Nünning

Editorial Board / Wissenschaftlicher Beirat Aleida Assmann · Mieke Bal · Marshall Brown · Vita Fortunati Udo J. Hebel · Claus Leggewie · Gunilla Lindberg-Wada Jürgen Reulecke · Jean Marie Schaeffer · Jürgen Schlaeger Siegfried J. Schmidt · Werner Sollors · Frederik Tygstrup Harald Welzer

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De Gruyter

Manuela Gerlof

Tonspuren Erinnerungen an den Holocaust im Hörspiel der DDR (1945-1989)

De Gruyter

Die Hörzitate auf der vormalig beigefügten Audio-CD sind nun online abrufbar! Nähere Informationen zu Link und Passwort befinden sich auf S. 356.

ISBN 978-3-11-022589-1 e-ISBN 978-3-11-022590-7 ISSN 1613-8961 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Einbandabbildung: STasker/Lifesize/Getty Images Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Meinen Eltern

Vorwort Die Fertigstellung dieser Studie wäre ohne die Förderung und Unterstützung von unterschiedlichster Seite nicht möglich gewesen. Ein Stipendium im DFG-Graduiertenkolleg „Codierung von Gewalt im medialen Wandel“ an der Humboldt-Universität zu Berlin ermöglichte es mir, große Teile der Arbeit in einem theoretisch und methodisch ambitionierten Umfeld zu verfassen. Mein Dank gilt der DFG, den anderen StipendiatInnen und den betreuenden ProfessorInnen für diese fruchtbare Zeit. Allen voran aber danke ich Inge Stephan, deren umsichtige Förderung ihre Rolle als ‚Doktormutter‘ bei weitem überschritt und die mich als Mentorin und Freundin nun schon mehr als ein Jahrzehnt begleitet. Ohne ihre kompetente fachliche Betreuung und ihre unermüdliche Motivation wäre diese Studie nie entstanden. Ebenso danke ich meinen FreundInnen und KollegInnen an der Humboldt-Universität und an der Universität Hamburg, vor allem Claudia Benthien, Julia Freytag, Alexandra Tacke und Tilo Renz, für den inspirierenden Dialog der vergangenen Jahre. Meine Kolleginnen und Kollegen im Verlag Walter de Gruyter, insbesondere Heiko Hartmann, Susanne Rade, Angelika Hermann, Maria Erge und Florian Ruppenstein, haben die Buchpublikation im Lektorat und in der Herstellung auf vielfältige Weise unterstützt. Ihnen danke ich ebenso wie Astrid Erll und Ansgar Nünning für die Aufnahme des Bandes in die von ihnen herausgegebene Reihe „Media and Cultural Memory“. Mein Dank gebührt darüber hinaus den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Deutschen Rundfunkarchivs Potsdam, namentlich Ingrid Pietrzynski, Angela Mehnert und Uwe Bräuner, die mir bei den Archivarbeiten zur Seite standen, zahlreiche Materialien bereitstellten, wertvolle Hinweise gaben und die Veröffentlichung der Hörzitate genehmigten. Schließlich möchte ich meiner Familie für das Verständnis und die vielfältige Unterstützung danken. Auch meine Freunde ertrugen klaglos die häufigen Zeiten meiner Abwesenheit und leisteten unermüdlichen Beistand: Ivo Vogel, Susann Barahona und Annette Pussert danke ich für ihre Ausdauer und für die sorgfältige und kritische Lektüre des Textes, Sebastian Fisahn und Sabine Krämer für die Hilfe bei der Erstellung der Audio-CD. Von Herzen danke ich meiner Freundin Gabriele Henschel für die glückliche Zeit mit und neben der Promotion und für ihren unbeirrbaren Optimismus, der sie häufig mehr als mich selbst an ein Gelingen glauben ließ.

Inhalt Einleitung ...............................................................................................................1 Kapitel I: Das vergessene Medium oder Das Medium gegen das Vergessen...................................................................................................... 29 1. Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR.................... 31 1.1. Judentum und jüdische ‚Opfer des Faschismus‘.............................. 33 1.2. Hierarchien und Konkurrenzen innerhalb der Opfergruppen ...... 35 1.3. ‚Antikosmopolitische Säuberungen‘ in den 1950er Jahren............. 38 1.4. Instrumentalisierung des Holocaust im Kalten Krieg..................... 42 1.5. ‚Sozialistische Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ ............................. 45 2. Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium..................................... 57 2.1. Kommunikationsinstrument mit Zeichencharakter: Ton .............. 62 2.2. Medientechnologien: Radio und Tonband ....................................... 79 2.3. Medienangebot: Hörspiel..................................................................... 83 2.4. Sozialsystemische Institution: Der Rundfunk in der DDR............ 89 Kapitel II: Der Jude als Integrationsfigur im Nachkriegsdeutschland und in den 1950er Jahren.................................................................................. 95 1. Die Hörbühne als moralische Anstalt. Bildung und Erziehung im Rundfunk der SBZ 1945–1949 ................................................................... 97 1.1. Die Gründung des ‚deutschen demokratischen Rundfunks‘ ......... 97 1.2. Das Hörspiel als Instrument von Bildung und Umerziehung ....... 99 1.3. Nationalsozialismus und Judenverfolgung im Nachkriegsradio .... 105 2. Zwischen Assimilation, Zionismus und antifaschistischem Widerstandskampf. Friedrich Wolf: „Professor Mamlock“ ................. 107 2.1. Friedrich Wolfs Rundfunkarbeit....................................................... 107 2.2. Judentum, Bildungsbürgertum und kommunistischer Widerstandskampf .............................................................................. 111 2.2.1. Judentum und Judenverfolgung im Drama „Professor Mamlock“ ................................................................................. 111 2.2.2. Die Hörspielbearbeitung von „Professor Mamlock“........ 114 2.2.3. Die Figurenkonstellation als Spektrum jüdischer Identitäten................................................................................. 117 2.2.4. Mamlock als bürgerliche Identifikations- und Integrationsfigur ...................................................................... 123

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Inhalt

2.3. Verfilmungen des Dramas................................................................. 127 2.3.1. PROFESSOR MAMLOCK unter der Regie von Herbert Rappaport und Adolf Minkin (UdSSR 1938) ..................... 127 2.3.2. PROFESSOR MAMLOCK unter der Regie von Konrad Wolf (DEFA 1961) ................................................................. 129 3. Zwischen Tabu und Tauwetter. Das DDR-Hörspiel in den 1950er Jahren ............................................................................................................ 133 4. Religiöse Versöhnung vs. Aufarbeitung historischer Schuld. Wolfgang Weyrauch: „Woher kennen wir uns bloß?“ ............ 145 4.1. Wolfgang Weyrauch als deutsch-deutscher Hörspielautor........... 145 4.2. Metaphysische Überhöhung und religiöse Versöhnung (NWDR 1952) ..................................................................................... 147 4.3. Aufarbeitung historischer Schuld (Berliner Rundfunk 1957) ...... 158 Kapitel III: Täter ohne Gedächtnis, Opfer ohne Stimme. NSVerbrechen vor Gericht (1959–1970)........................................................... 173 1. Im Westen nichts Neues. Instrumentalisierung des Holocaust im Kalten Krieg................................................................................................. 175 1.1. Der Holocaust im Hörspielprogramm des Deutschlandsenders............................................................................ 175 1.2. Der Holocaust im Hörspielprogramm anderer Radiosender der DDR............................................................................................... 183 2. Unerhörte Zeugenschaft. Günter de Bruyn: „Aussage unter Eid“...... 187 2.1. Die Hörspiele Günter de Bruyns...................................................... 187 2.2. Fakt und Fiktion im Hörspiel ........................................................... 189 2.2.1. Der Prozess um das Vernichtungslager Kulmhof als historische Referenz................................................................ 191 2.2.2. Die Bundesrepublik als bürgerlicher (Un-)Rechtsstaat ..... 195 2.2.3. Zeugnis der Gewalt................................................................. 204 3. Gesang von der Gerechtigkeit. Peter Weiss: „Die Ermittlung“........... 207 3.1. „Die Ermittlung“ zwischen den Fronten des Kalten Krieges ..... 209 3.2. Vom Drama zum Hörspiel................................................................ 211 3.3. Höllengelächter und Totenstille........................................................ 220 3.4. Das Schweigen der Opfer.................................................................. 224 3.5. Medienstimmen................................................................................... 229 3.6. Hörspielrezeption................................................................................ 235 Kapitel IV: Die Freiheit der Nische. Ästhetische und thematische Vielfalt (1971–1989)......................................................................................... 239 1. Konstruktionen von Judentum und jüdischen Identitäten im DDR-Hörspiel der 1970er und 1980er Jahre.......................................... 241

Inhalt

XI

2. Medium Mensch. Jurek Becker: „Jakob der Lügner“ ............................ 260 2.1. Vom Ende des antifaschistischen Mythos ...................................... 260 2.2. Zuschnitt der Romanvorlage............................................................. 265 2.3. Die ‚Auferstehung‘ des Juden im Radio der DDR ........................ 269 2.4. Hörbare Gewalt................................................................................... 271 3. „Der funktionale Mensch“. Heinar Kipphardt: „Bruder Eichmann“ ................................................................................................... 279 3.1. Adolf Eichmann vor Gericht............................................................ 279 3.2. „Bruder Eichmann“ und das dokumentarische Theater in Ost und West............................................................................................... 283 3.3. „Bruder Eichmann“ als Hörspiel im Radio der DDR .................. 292 3.3.1. Die Bearbeitung für den Rundfunk...................................... 292 3.3.2. „Amtssprache ist meine einzige Sprache“: Die Eichmann-Haltung.................................................................. 294 3.3.3. Bruder Eichmann. Die Analogieszenen im Hörspiel.......... 299 3.3.4. Die Stimmen der Opfer ......................................................... 305 3.3.5. Das ‚Tonband im Tonband‘: Authentifizierungsstrategien................................................................................... 308 4. Einbruch des Irrealen. Ilse Aichinger: „Knöpfe“................................... 312 4.1. Aichingers ‚Poetik der Übersetzung‘ als Schreibverfahren der Holocaust-Erinnerung........................................................................ 312 4.2. Das Motiv der Verwandlung in „Knöpfe“ ..................................... 316 4.2.1. Metamorphosen und Verwandlungen im Hörspiel der 1950er Jahre.............................................................................. 318 4.2.2. Die Verwandlung als Holocaust-Erinnerung in „Knöpfe“.................................................................................. 322 4.3. Spezifisch weibliche Holocaust-Erfahrungen................................. 332 4.4. Zwischen Romanze und Kriminalhörspiel (SDR/NWDR 1953)...................................................................................................... 339 4.5. Hörbilder des Holocaust (Berliner Rundfunk 1989)..................... 342 Resümee............................................................................................................. 346 Quellen und Literatur ...................................................................................... 355 1. Hörzitate auf der Audio-CD ................................................................. 357 2. Holocaust-Hörspiele im Rundfunk der SBZ/DDR.......................... 358 3. Tonträger im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam ......................... 360 4. Dokumente im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam...................... 361 5. Literatur .................................................................................................... 363 Personen- und Werkregister........................................................................... 389

Einleitung „Was vom Holocaust erinnert wird, hängt davon ab, wie es erinnert wird, und wie die Ereignisse erinnert werden, hängt wiederum von den Texten ab, die diesen Ereignissen heute Gestalt geben.“1 Diese Feststellung James E. Youngs markiert Ende der 1980er Jahre eine Zäsur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Repräsentation deutscher NSGeschichte in literarischen und medialen Artefakten. Die Forschung wird seither weniger von der Frage bestimmt, ob das zentrale Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten, der Genozid an den europäischen Juden, überhaupt darstellbar sei und wenn ja in welcher Form, sondern ist von der Erkenntnis geleitet, dass die Erinnerung an Krieg und Holocaust medial vermittelt und allgegenwärtig ist.2 In Anerkennung der Tatsache, dass es keinen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit geben kann, widmen sich wissenschaftliche Analysen den Prozessen der Konstruktion von Erinnerungen und ihrer Ikonographie als „kodifiziertes und lexikalisch verwaltetes Bildgedächtnis“3. Individuelle und kollektive Erinnerungsprozesse, ihre medialen Voraussetzungen und Folgen, das Verhältnis zwischen historischen Fakten und künstlerischer Fiktion, Authentizität und Zeugenschaft angesichts des Aussterbens letzter noch lebender Zeitzeugen bilden nun das Zentrum einer Debatte, die bereits bei der Bezeichnung des historischen Ereignisses einsetzt. Die Begriffe ‚Holocaust‘, ‚Shoah‘ und ‚Auschwitz‘ werden trotz ihrer unterschiedlichen Konnotationen inzwischen weitgehend synonym gebraucht.4 In der vorliegenden Untersuchung präferiere ich jedoch den dem Englischen entlehnten Begriff ‚Holocaust‘ mit der ursprünglich _____________ 1 2

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James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1997, S. 13 f. [engl. Orig.: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, 1988.] Vgl. auch Krankenhagen: „Nicht mehr ob eine Darstellung möglich ist, nicht mehr wie sie geschieht, muß den Fokus der Analyse bilden, sondern daß eine Darstellung von Auschwitz massenhaft vorhanden ist, muß Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit gegenwärtigen Darstellungsformen von Auschwitz sein.“ Stefan Krankenhagen: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln, Weimar, Wien 2001, S. 6. Andreas Köstler: Art. „Ikonographie“. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 273. Vgl. bspw. Krankenhagen: Auschwitz darstellen, S. 8.

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Einleitung

biblischen Bedeutung ‚Brandopfer‘.5 Im Gegensatz zur aus dem Hebräischen stammenden ‚Shoah‘ (‚Untergang‘, ‚Vernichtung‘)6, die für die innerjüdische Sicht auf die Leidensgeschichte des eigenen Volkes steht und bereits für das Jahr 1940 nachgewiesen wurde,7 verweist ‚Holocaust‘ – als Titel einer amerikanischen TV-Serie 1979 nach Deutschland importiert8 – auf eine zeitliche wie mediale Vermitteltheit und eine eher nicht-jüdische Perspektive. Der häufig synonym gebrauchte Ortsname ‚Auschwitz‘ ist zwischenzeitlich zum Symbol wie Schlagwort herangewachsen, das allerdings den Genozid an den europäischen Juden während der NS-Diktatur in Deutschland 1933–1945 auf seinen Kulminationspunkt eingrenzt und das komplexe System der Verfolgung und Vernichtung, dessen Höchstund Endstadium der industrielle Massenmord in Konzentrationslagern war, eher in den Hintergrund drängt. Die ‚Holocaust-Forschung‘ befasst sich in den letzten Jahren intensiv mit den Konstruktionsprozessen eines kollektiven Gedächtnisses. Hierbei richtet sich das akademische Interesse aber nahezu ausschließlich auf visuelle und audiovisuelle Medien. Titel wissenschaftlicher Publikationen wie Bilder des Holocaust9, Die Tat als Bild10, Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur11, Die Shoah im Bild12, Die Macht der Bilder13, Bilder trotz allem14 oder NachBilder des Holocaust15 untersuchen die Spezifika der Holocaust-Repräsentation in Literatur, Film, Theater, Fotografie und bil-

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Art. „Holocaust“. In: Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York 242002, S. 419. Duden. Das große Fremdwörterbuch. Mannheim, Leipzig u. a. 22003, S. 1213. Young: Beschreiben des Holocaust, S. 143 f. Der US-amerikanische Vierteiler mit dem Titel HOLOCAUST. Die Geschichte der Familie Weiss (1978) wurde vom 22. bis 26. Januar 1979 zeitgleich in allen dritten Programmen der ARD ausgestrahlt und von großen Teilen der Bevölkerung rezipiert. Das in der Serie dargestellte Schicksal einer deutsch-jüdischen Familie löste in der Bundesrepublik eine von emotionaler Betroffenheit bestimmte Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit aus. Manuel Köppen u. Klaus Scherpe (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – bildende Kunst. Köln, Weimar, Wien 1997. Habbo Knoch: Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur. Hamburg 2001. James E. Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur. Hamburg 2002. Sven Kramer (Hg.): Die Shoah im Bild. München 2003. Annette Krings: Die Macht der Bilder: zur Bedeutung der historischen Fotografien des Holocaust in der politischen Bildungsarbeit. Münster 2006. Georges Didi-Hubermann: Bilder trotz allem. München 2007. Inge Stephan u. Alexandra Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust. Köln, Weimar, Wien 2007.

Einleitung

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dender Kunst. Die auditive Dimension der Erinnerungen an die NSGeschichte wird dagegen nahezu vollständig ausgeblendet.16 Mit der vorliegenden Studie soll dieser Tendenz begegnet werden, indem die geisteswissenschaftlichen Diskurse um die Stichworte ‚kollektives Gedächtnis‘, ‚gesellschaftliche Erinnerung‘, ‚Medien‘ und ‚Holocaust‘ zusammengeführt und auf das Hörspiel als auditive Kunstform angewendet werden. Kulturwissenschaftliche Fragen nach der Beschaffenheit des kollektiven Gedächtnisses, seiner medialen Konstituierung und seiner Bedeutung für die Herausbildung nationaler Identitäten sowie jene nach Formen der Repräsentation des nationalsozialistischen Genozids in fiktionalen Kunstwerken werden miteinander verschränkt, um zu zeigen, welche Funktion und Relevanz dem Hörspiel in diesen kulturellen, ästhetischen und politischen Konstellationen zukommt. Anhand der auditiven Repräsentation der Vernichtung des europäischen Judentums während des Nationalsozialismus untersucht die vorliegende Arbeit die Funktion des Hörspiels als kulturelles Gedächtnismedium, das kollektive und individuelle Gewalterfahrungen akustisch codiert und mit seinen genuinen medialen Eigenschaften Erinnerungsprozesse generiert. Im Vergleich zur – bereits vielfach untersuchten – Darstellung des Holocaust in anderen Medien (Literatur, Film, Theater) werden die besonderen ästhetischen Mittel des Hörspiels und die Rolle des DDRRundfunks als politisches Machtinstrument in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung fokussiert. Auf diese Weise möchte die Studie das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium etablieren und zwei Desideraten begegnen: Zum einen soll die Rolle des Auditiven innerhalb der Konstruktion kollektiver Erinnerungen im Mediengefüge herausgearbeitet werden; zum anderen zielt die Arbeit darauf, einen Überblick über den kulturpolitischen Umgang mit dem Thema Holocaust in einem Massenmedium der SBZ/DDR über den gesamten Zeitraum ihrer Existenz differenziert nachzuzeichnen. Gegenstand sind Hörspiele, die zwischen 1945 und 1989 im Rundfunk der SBZ/DDR produziert und gesendet wurden; hierbei werden nicht nur eigens für den Rundfunk verfasste ‚Originalhörspiele‘ herangezogen, sondern auch solche, die auf einer literarischen oder filmischen Vorlage beruhen. Besondere Aufmerksamkeit gilt gerade den Interferen_____________ 16

Als Ausnahme von der Regel können die Beiträge von Bettina Schlüter und Eckhart Tramsen in Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung gelten, die sich mit Möglichkeiten einer „musikalischen Repräsentation der Shoah“ befassen. Eckhart Tramsen: „Schweigen in der Musik“. In: Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Hg. v. Bettina Bannasch u. Almuth Hammer. Frankfurt a. M. 2004. 281–292; Bettina Schlüter: „Hör-Bilder. Mediale Substitutions- und Transformationsprozesse in musikalischen Repräsentationen der Shoah“. In: ebd. 293–304.

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Einleitung

zen zwischen unterschiedlichen Medien, da auf diese Weise die Spezifika des Akustischen herausgearbeitet werden können. Auf Grundlage der Analyse von Manuskripten und erhaltenen Tonträgern sowie des Vergleichs von Hörspielen, die in beiden deutschen Staaten produziert wurden, entstanden exemplarische Einzelinterpretationen im Rahmen eines historischen Überblicks über den Umgang mit dem Holocaust im Radio der DDR, die ästhetische, kulturpolitische und mediale Aspekte berücksichtigen. Erinnerungsgebot vs. Repräsentationsverbot Die deutsche Debatte um eine angemessene Erinnerung an den Holocaust wurde in den 1960er Jahren eröffnet und mündete in einen „offenen Machtdiskurs“, der keineswegs abgeschlossen ist, wie Stefan Krankenhagen in seiner Studie Auschwitz darstellen diagnostiziert.17 Denn „[d]argestellt wird – auch in der Rede über Auschwitz – die Bedeutung, die das Wissen um die Vergangenheit der Vernichtungslager für die Gegenwart haben soll“.18 Die Auseinandersetzung um diese Deutung von Geschichte wird auf unterschiedlichen Ebenen geführt, die einander bedingen und überlagern: Vertreter von Politik, Religion, Wissenschaft, Kunst, Publizistik, Gedenkkultur sind nur die herausragenden Akteure in dieser Debatte, deren Ausgang auch über die jeweils eigene Identität entscheidet.19 Für die vorliegende Arbeit ist vorrangig die Auseinandersetzung um die ästhetischen Aspekte einer Repräsentation des Holocaust maßgeblich, wie sie in Deutschland geführt wurde und wird. Das in diesem Zusammenhang trotz oder gar wegen einer regelrechten Flut von HolocaustDarstellungen in Literatur, Film, Geschichtsschreibung, Museen usw. immer wieder aufscheinende Verdikt von der ‚Undarstellbarkeit‘ des Genozids geht zurück auf Adornos Aufsatz „Kulturkritik und Gesellschaft“ von 1951. Hier heißt es: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“20 _____________ 17 18 19

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Krankenhagen: Auschwitz darstellen, S. 3. Krankenhagen: Auschwitz darstellen, S. 3. Inge Stephan und Alexandra Tacke konstatieren mit Verweis auf TV-Ereignisse wie DRESDEN (2006) und DIE FLUCHT (2007) zu Recht eine Verschiebung der Debatte nach der deutschen Wiedervereinigung 1989, die die Deutschen selbst als Opfer Hitlers stilisieren: „Entschuldungs- und Entlastungsmechanismen werden wieder wirksam, die an die Mechanismen und Deutungsmuster der fünfziger Jahre erinnern.“ Stephan u. Tacke: NachBilder des Holocaust, S. 9. Theodor W. Adorno. „Kulturkritik und Gesellschaft“. In: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I (Prismen. Ohne Leitbild). Frankfurt a. M. 1977. 11–30, S. 30. Die Darlegung der philosophisch-ästhetischen Positionen zu

Einleitung

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Das Zitat und die hieran anschließenden Positionen dienten allerdings weniger der Durchsetzung eines buchstäblichen Darstellungsverbots als der „Legitimation spezifischer Darstellungsweisen“21 – vor allem solcher, die versuchten, die ‚Undarstellbarkeit‘ in ästhetische Konzepte zu überführen.22 Zur Verdeutlichung des möglichen Spektrums sei an zwei Holocaust-Filme der 1980er und 1990er Jahre erinnert, die im Vergleich eine wegweisende Diskussion provozierten: Während Steven Spielbergs SCHINDLERS LISTE (1993) als Hollywood-Spielfilm allen Anforderungen an ein Melodrama genügte und die Lebensgeschichte der historischen Figur Oskar Schindler einerseits fiktionalisierte, andererseits aber durch unterschiedliche Strategien authentifizierte,23 arbeitete Claude Lanzmanns SHOAH (1985) als monumentaler Dokumentarfilm gerade nicht mit einer Inszenierung der Vergangenheit, wie sie aus zahlreichen historischen Originalaufnahmen bekannt ist, sondern mit der Inszenierung der gegenwärtigen Erinnerung überlebender Zeitzeugen an Orten des Holocaust. Lanzmanns filmische Strategie, fragmentarisch die heutigen Schilderungen überlebender Juden und polnischer Bürger mit leitmotivischen Bildern von Zügen, Schienen, Bahnhöfen aneinanderzusetzen, steht der schwarz-weißen, bruchlosen Erzählung von einer deutschen Retterfigur und einem Happy-End Tausender vor dem Tod bewahrter Juden gegenüber. Adornos Befürchtung, das Leiden der Opfer durch die ästhetische Bebilderung zu profanisieren, als Kunst konsumier- und ökonomisch verwertbar zu machen, kulminiert im Jahrzehnte später geprägten Stichwort von der Americanization of the Holocaust24. Spielbergs Film kann als _____________

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diesem viel zitierten und diskutierten Satz Adornos kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Verwiesen sei auf die detaillierte Untersuchung seiner Rezeptionsgeschichte bei Krankenhagen: Auschwitz darstellen, speziell S. 21–121. Krankenhagen: Auschwitz darstellen, S. 16. Vgl. auch Bettina Bannasch u. Almuth Hammer: „Einleitung“. In: Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Shoah. Hg. v. dens. Frankfurt a. M. 2004. 9–21. Der mit einer unruhigen Kamera in schwarz-weiß aufgenommene Film erinnert stark an die Visualität historischer Filmdokumente, am Schluss des Films wechselt Spielberg in den Farbmodus und damit in die Gegenwart. Er zeigt die historischen Überlebenden mit ihren Darstellern am Grab Oskar Schindlers und lässt die Zeitzeugen den ‚Wahrheitsgehalt‘ seines Spielfilms auf diese Weise autorisieren. Der Begriff geht zurück auf den Sammelband von Hilene Flanzbaum (Hg.): The Americanization of the Holocaust. Baltimore 1999; vgl. auch das Kapitel von Stefan Krankenhagen: „The Americanization of the Holocaust. Die Ablösung des Darstellungsverbots“. In: Auschwitz darstellen. Ästhetische Positionen zwischen Adorno, Spielberg und Walser. Köln, Weimar, Wien 2001. 163–220, in dem er „die sinnhafte Rekontextualisierung, die Popularisierung der Darstellungselemente und die universelle Anwendbarkeit der historischen Geschichte“ am Beispiel des Washingtoner Holocaust Memorial Museums und Spielbergs SCHINDLERS LISTE ins Verhältnis setzt (S. 166).

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Einleitung

Paradebeispiel hierfür dienen25 und wurde aus diesem Grund u. a. von Lanzmann selbst heftig kritisiert. Die Ansicht des französischen Filmemachers gipfelte in einem regelrechten ‚Bilderverbot‘26: Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, daß er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist: Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, daß jede Darstellung verboten ist. […] Ich habe das Gefühl, Spielberg hat einen illustrierten „Shoah“ gemacht. Er hat Bilder eingesetzt, wo in „Shoah“ keine waren, und Bilder töten die Imagination.27

Ähnliche Positionen finden sich auch in der Bewertung literarischer Texte. Das Dilemma zwischen Erinnerungsgebot und Repräsentationsverbot zielt auch hier auf die Frage, wie das Grauen des millionenfachen industriellen Mordens textlich zu fassen sein könnte, ohne es zu relativieren. Jede Narration, auch die vermeintlich objektive der historischen Wissenschaft, basiert auf einer meist chronologischen Schilderung einzelner, vom Erzähler ausgewählter und kausal verknüpfter Ereignisse.28 Wie aber lassen sich dann das nicht in Worte zu überführende Trauma29, die „nichtassimilierbare Sinnlosigkeit“ und der „Zivilisationsbruch“30 des Holocaust in einen Text überführen, ohne im Ergebnis Sinnstiftung und Kontinuität vorzufinden? Wie lässt sich von Vernichtung und Tod berichten, ohne gleichzeitig das Überleben des erzählenden, häufig autobiographischen Ichs mitzuteilen? Wie lässt sich der Wahrheitsgehalt der geschilderten Ereignisse belegen, wenn das narrative Genre Fiktionalität und literarische Kon_____________ 25

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Mit SCHINDLER’S LIST erzielte Hollywood „die größten Kassenerfolge aller Zeiten“; der Film wurde mit sieben Oscars ausgezeichnet, und die europäischen Filmpremieren in Gegenwart von Politikern trugen den Charakter von „Staatsakten“. Vgl. Michael Töteberg: Art. „Schinder’s List“. In: Metzler Film Lexikon. Hg. v. dems. Stuttgart, Weimar 2002. 520– 522, S. 522. Vgl. Horst Bredekamp: „Blick in dunkle Kammern“. In: Die Zeit 44 (25.10. 2007): 63. Vgl. ausführlich zum „Bilderverbot“ Bettina Bannasch u. Almuth Hammer (Hg.): Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Shoah. Frankfurt a. M. 2004. Claude Lanzmann: „Ihr sollt nicht weinen. Einspruch gegen ‚Schindlers Liste‘“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 54 (03.03.1994): 27. „Es wird deutlich, dass Schreiben immer bedeutet, eine Auswahl zu treffen; immer wird aus irgendeiner Perspektive berichtet, und es gibt keine Fakten ohne Interpretationen und keine Wahrheit, keine Wirklichkeit, die nicht bearbeitet wäre.“ Sem Dresden: Holocaust und Literatur. Frankfurt a. M. 1997, S. 48 f. Aleida Assmann spricht von „Traumatisierungen […], die die Opfer des Holocaust nicht in rettende Symbole zu überführen vermögen. Durch eine Erfahrung, deren Exzeß das psychophysische Fassungsvermögen übersteigt, wird anschließend die Möglichkeit einer integralen Selbstkonstitution zerschlagen. Das Trauma stabilisiert eine Erfahrung, die dem Bewusstsein nicht zugänglich ist und sich im Schatten dieses Bewusstseins als eine latente Präsenz festsetzt.“ Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 258 f. Vgl. u. a. Dan Diner (Hg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt a. M. 1988.

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struktion repräsentiert? Gibt es einen unmittelbaren Zugang zum Erlebten, und wie verändert er sich durch die mediale Vermittlung? An Komplexität gewinnen diese Problemstellungen, wenn es sich beim Autor oder der Autorin eines Holocaust-Textes nicht um einen oder eine Überlebende handelt, dessen oder deren Äußerungen bereits durch die eigene Biographie authentifiziert scheinen. Doch worin unterscheiden sich die Äußerungen von jüdischen Autorinnen und Autoren der sogenannte zweiten oder dritten Generation von denen nichtjüdischer Nachgeborener? Letztlich bleibt auch die Relation von Historie und Kunst, Fakt und Fiktion zu bestimmen; denn kein anderes Genre wird so stark an seinem Verhältnis zur historischen Referenz gemessen wie die Holocaust-Literatur. Gerade weil der Holocaust von unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen als zentrales historisches Ereignis und somit als identitätsstiftend betrachtet wird und jede, auch jede fiktionale, Darstellung und Rede darüber die Erinnerungen und ihre Deutung mit formt, handelt es sich um einen Gegenstand, an dem sich Prozesse kollektiver Erinnerung exemplarisch untersuchen lassen. Kollektives Gedächtnis und gesellschaftliche Erinnerung ‚Erinnerung‘ und ‚Gedächtnis‘ sind zu „kulturwissenschaftlichen Leitbegriffen“ und „transdisziplinären“ Paradigmen geworden,31 denen sich zahlreiche Untersuchungen exemplarisch oder theoretisch widmen, um der Frage nachzugehen, wie Gemeinschaften ihre Vergangenheit in der Gegenwart thematisieren und wie sie ihre Identität über die gemeinsam erinnerte Vergangenheit konstruieren.32 Der von Maurice Halbwachs in den 1920er Jahren entwickelte Begriff des ‚kollektiven Gedächtnisses‘ erfuhr in den 1990er Jahren eine Renaissance, die – initiiert durch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann – die kulturwissenschaftliche Forschung zu Erinnerung und Gedächtnis maßgeblich prägt. Der Definition Jan Assmanns folgend, bezeichnet das kulturelle Gedächtnis den jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren „Pflege“ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.33

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Vgl. Aleida Assmann: „Das Gedächtnis – Brücke zwischen den Wissenschaften“. In: Humboldt Kosmos 03/2004. www.avh.de/kosmos/titel/2004_015.htm (10.02.2008). Martin Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive. Berlin, New York 2006, S. V u. 28. Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. v. dems. u. Tonio Hölscher. Frankfurt a. M. 1988. 9–19, S. 15.

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Das kollektive Gedächtnis speichert – im Unterschied zum individuellen – Erfahrungen einer Gruppe von Menschen, es bildet sich in vornehmlich sprachlichen kommunikativen Prozessen heraus und dient der Herstellung und Sicherung einer gemeinsamen Identität. Die Prozesse sind bestimmt von Selektivität, Konstruktivität und Narrativität, denn nicht alle Ereignisse der Vergangenheit werden wiederholt und überliefert, sondern nur einzelne Begebenheiten herausgegriffen und in einen sinnstiftenden Zusammenhang, eine Erzählung, gebracht. Größere Gemeinschaften – Aleida Assmann nennt „Ethnien, Nationen, Staaten“ – „machen“ sich ein kollektives Gedächtnis; das heißt, die Prozesse seiner Konstruktion werden zielgerichtet gelenkt und geprägt.34 An der Schwelle vom ‚kommunikativen Gedächtnis‘, das von noch lebenden Zeitzeugen an die folgenden beiden Generationen mündlich weitergegeben wird, zum ‚kulturellen Gedächtnis‘, das mediengestützt und epochenübergreifend wirkt, vollzieht sich eine von Hierarchien bestimmte Selektion: Was für das Selbstverständnis der jeweiligen Gruppe wichtig ist, wird gespeichert und überliefert, vermeintlich weniger Wichtiges fällt mit dem Tod der Zeitzeugen dem Vergessen zum Opfer. Aleida Assmann zufolge handelt es sich hierbei um einen brisanten politischen Vorgang: Das lebendige Gedächtnis weicht damit einem mediengestützten Gedächtnis, das sich auf materielle Träger wie Denkmäler, Gedenkstätten, Museen und Archive stützt. Während im Individuum Erinnerungsprozesse weitgehend spontan ablaufen und den allgemeinen Gesetzen psychischer Mechanismen folgen, werden auf kollektiver und institutioneller Ebene diese Prozesse durch eine gezielte Erinnerungs- bzw. Vergessenspolitik gesteuert. Da es keine Selbstorganisation eines kulturellen Gedächtnisses gibt, ist es auf Medien und Politik angewiesen. Der Übergang vom lebendigen individuellen zum künstlichen kulturellen Gedächtnis ist allerdings problematisch, weil er die Gefahr der Verzerrung, der Reduktion, der Instrumentalisierung von Erinnerung mit sich bringt.35

Im Rückblick schmilzt die eigentlich komplexe Geschichte häufig zu einem einzigen historischen Ereignis zusammen, das zu einer „gedächtniswirksamen ‚Ikone‘“36 stilisiert wird. Vereinfachung und Reduktion kennzeichnen den Umgang mit der Vergangenheit ebenso wie die bereits benannte politische Instrumentalisierung: „Dabei stellt das kollektive Gedächtnis ein symmetrisches Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft in einer Weise her, daß aus einer bestimmten Erinnerung ein bestimmter Anspruch abgeleitet wird“ und „aus der Stabilisierung einer bestimmten Erinnerung eine eindeutige Handlungsorientierung für die Zukunft resul_____________ 34 35 36

Assmann: „Das Gedächtnis – Brücke zwischen den Wissenschaften“. Assmann: Erinnerungsräume, S. 15. Assmann u. Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 42.

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tiert […] das kollektive Gedächtnis ist immer ein politisch instrumentalisiertes Gedächtnis.“37 In seiner systematisch-kritischen Bestandsaufnahme Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive plädiert Martin Zierold für eine schärfere Trennung der Termini Erinnerung und Gedächtnis. Während Aleida Assmann Gedächtnis im Sinne eines Speichers benutzt, dessen Inhalte im Prozess der Erinnerung aktiviert werden,38 unterscheidet Zierold bewusste und nicht-bewusste kognitive Prozesse: Er betrachtet das Gedächtnis als „Funktion des Gehirns“, die auch an den (bewussten) Erinnerungsprozessen beteiligt ist, darüber hinaus aber noch andere kognitive (nicht-bewusste) Funktionen erfüllt.39 Zierolds Begriff der „gesellschaftlichen Erinnerung“ steht zwar in der Tradition des Begriffs vom kollektiven Gedächtnis, stellt aber den gesellschaftlichen und prozesshaften Charakter der Erinnerung heraus. Wie Assmann betont Zierold die Konstruktivität, Selektivität und Narrativität von Erinnerung. Im Anschluss an Siegfried J. Schmidt40 formuliert er: Zusammenfassend können Erinnerungen somit als aktuelle Sinnproduktionen verstanden werden, die im Zusammenhang mit dem jeweils aktuellen Zustand des kognitiven Systems und dessen wahrgenommener Handlungsnotwendigkeiten stehen. Sie lassen sich als konstruktive Aktualisierungen von Erregungsmustern modellieren, die sich bei früheren Erfahrungen entwickelt und verstärkt haben […].41

Hierbei kann nicht auf eine authentische Vergangenheit zugegriffen werden, die sich ins Gedächtnis eingeschrieben hat; stattdessen wird Vergangenheit im Prozess der Erinnerung konstruiert und demnach erst generiert:42 „Erinnerungen können Vergangenes nicht abrufen, sie stellen vielmehr erst in der Gegenwart her, was für die Gegenwart als Vergangenheit gelten soll.“43 Jeder Erinnerungsanlass hat somit einerseits eine Konsolidierung und andererseits eine Modifikation der jeweiligen Erinnerung zur Folge. _____________ 37 38 39 40 41 42

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Assmann u. Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit, S. 42. Assmann differenziert bspw. das „kulturelle Gedächtnis“ in „Speichergedächtnis“ und „Funktionsgedächtnis“. Assmann: Erinnerungsräume, S. 409. „Gedächtnis als Funktion des Gehirns erbringt Leistungen für ganz verschiedene kognitive Prozesse, nicht ausschließlich für Erinnerungen.“ Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 43. Vgl. Siegfried J. Schmidt: „Gedächtnis – Erzählen – Identität“. In: Aleida Assmann u. Dietrich Harth: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M. 1991. 378–397, S. 386. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 48. Vgl. auch Astrid Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff“. In: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität – Historizität – Kulturspezifität. Hg. v. Ansgar Nünning u. Astrid Erll. Berlin, New York 2004. 3–22, S. 4. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 133.

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Hören, Hörspiel und Erinnerung Dem Hörsinn und den ihm zugeordneten auditiven Medien wendet sich die kultur- und medienwissenschaftliche Debatte nur zögerlich zu.44 Als mögliche Ursache hierfür können die allein auf Schallwellen beruhende Materialität des Tons und seine Flüchtigkeit angeführt werden. Nichtsdestotrotz gehört die akustische Wahrnehmung zu den Grundelementen menschlichen Lebens. Schon vor der Geburt, am Ende des 4. Monats der Schwangerschaft, ist der menschliche Hörapparat ausgebildet und nimmt der Fötus Geräusche und Stimmen der Umgebung wahr, die eine „Erinnerungsspur“ in seinem Gedächtnis hinterlassen.45 Im Vergleich zum Sehen ist das Spektrum des Hörens um ein Vielfaches größer und auch differenzierter: Der Mensch ist in der Lage, Schall mit einer Frequenz von 20 bis zu 20.000 Hertz wahrzunehmen.46 Der Wahrnehmungstheorie zufolge dient das Hören der Orientierung im Raum und der Informationsvermittlung von Geschehnissen außerhalb des Blickfeldes der hörenden Person oder bei Dunkelheit.47 Der Hörsinn wird daher auch als das „Frühwarnsystem“48 des Menschen bezeichnet, das aus diesem Grund nicht abzuschalten ist. Ohren sind – im Gegensatz zu den Augen – nicht oder nur unter besonderen Anstrengungen, wie sie beispielsweise im Mythos von Odysseus und den Sirenen überliefert sind, verschließbar. Noch im Schlaf nimmt das Gehör die Umgebung wahr und weckt den Schlafenden bei lauten oder unbekannten Geräuschen. _____________ 44

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In den letzten Jahren erschienen erste Publikationen, die eine Trendwende in der Beschäftigung mit den Medien signalisieren; bspw. Friedrich Kittler, Thomas Macho, Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002; Brigitte Felderer (Hg.): Phonorama. Eine Kulturgeschichte der STIMME als Medium. Berlin 2004; Nicola Gess, Florian Schreiner, Manuela K. Schulz (Hg.): Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Würzburg 2005. „Das bedeutet, daß sich bereits im fötalen Gehirn eine neuronale Repräsentation des Klangmusters der Stimme der Mutter gebildet hat, die beim wiederholten Hören aktiviert wird und mit anderen Klangmustern verglichen werden kann, die in einer anderen neuronalen Struktur repräsentiert sind oder werden.“ Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 54–55, Zitat S. 55. Vgl. bspw. Barbara Flückiger, die den Wahrnehmungsbereich des menschlichen Gehörs als zehnmal größer als den des Auges beziffert. Barbara Flückiger: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. Marburg 22002, S. 193. Vgl. auch Manfred Mixner: „Hörspiel – Politik“. In: Medien/Kultur. Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Knilli zum Sechzigsten. Hg. v. Knut Hickethier u. Siegfried Zielinski. Berlin 1991. 181–187, S. 183. Hickethier überträgt diese Funktion des Ohres auch auf das auditive Medium Radio, das durch die unmittelbare Aktualität der Nachrichtensendungen und Berichte ebenfalls als Frühwarnsystem fungiere. Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2003, S. 300; ders.: „Radio und Hörspiel im Zeitalter der Bilder“. In: Radioästhetik – Hörspielästhetik. Marburger Hefte zur Medienästhetik 26 (1997). 6–20, S. 9.

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Immer wieder wird das Gehör im Unterschied zum Auge als innerer Sinn begriffen. Hierbei wird die Richtung der Wahrnehmung von außen nach innen – die Schallwellen dringen in das Ohr ein und durchdringen den menschlichen Körper – der des Sehens von innen nach außen gegenübergestellt: „Das Auge ist nach außen gerichtet, das Ohr fokussiert nach innen. Es saugt Informationen auf. Richard Wagner sagte, daß der äußere Mensch sich an das Auge wendet, der innere an das Ohr.“49 Die physiologische Funktion der Sinneswahrnehmung wird häufig, wie auch im vorangehenden Zitat, auf psychologische Mechanismen übertragen mit dem Ergebnis, „dass Töne und Geräusche sehr viel direkter und präziser als Bilder in die für die Erregung von Gefühlen zuständigen Hirnregionen hineinzielen“50. Der Hörsinn fungiert im Sinnesvergleich als einender,51 distanzloser, passiver und emotionaler, auf das Innere der Person gerichteter Sinn, als „Tür zur Seele“. Ingrid Amon fasst zusammen: „Hören schafft Nähe und Intimität, Sehen distanziert die Menschen mehr voneinander.“52 Der Zusammenhang von Hörsinn und Innerlichkeit wurde gerade in der Hörspielästhetik der 1950er und 1960er Jahre immer wieder angeführt. Das „Ohr, das der innerlichste Sinn ist“, wie bereits Wickert 1954 bemerkte, galt als direkter Zugang zur Welt der Empfindung, Einfühlung und Illusionierung des Hörers.53 Dieser Auffassung nach spricht das Hörspiel den Einzelnen in seinem ‚Inneren‘ an; es eignet sich daher am besten zur Darstellung von Geschehnissen, die im ‚Inneren‘ des Menschen angesiedelt sind: Monologe, Zwiegespräche, Träume, Phantasien – und Erinnerungen. Heinz Schwitzke weist dem Hörspiel – im Vergleich zu Epik oder Dramatik – einen lyrischen Charakter zu, denn die Figuren „bieten sich uns dar als empfindende, lyrische Individuen, die im Augenblick gleichfalls _____________ 49 50 51

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Murray Schafer: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt a. M. 1988, S. 19. Harro Segeberg: „Der Sound und die Medien. Oder: Warum sich die Medienwissenschaft für den Ton interessieren sollte“. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Schüren 2005. 9–22, S. 10. Vgl. Walter Ong: „Das Sehen isoliert, das Hören bezieht ein. Während das Sehen den Beobachter außerhalb des Betrachteten hält, dringt ein Klang in den Hörer ein. Das Sehen zergliedert […]. Wenn ich jedoch höre, sammle ich den Klang gleichzeitig aus jeder Richtung: Ich bin ins Zentrum der Wahrnehmung und der Existenz versetzt. […] Man kann sich im Zuhören, im Klang vergessen. Ein ähnliches Vergessen ist beim Sehen nicht möglich. Im Gegensatz zum Sehen, dem zergliedernden Sinn, ist somit das Hören ein vereinender Sinn.“ Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Opladen 1987, S. 75. Ingrid Amon: Die Macht der Stimme. Wien u. Frankfurt 2002, S. 76. Erwin Wickert entwickelte 1954 in seinem gleichnamigen Aufsatz den für die weitere Hörspieltheorie zentralen Begriff der „inneren Bühne“, der auf den Vorstellungsraum in der Imagination der Hörer verweist. Erwin Wickert: „Die innere Bühne“. In: Akzente 1 (1954). 505–514.

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ihre inneren Erfahrungen machen“.54 Diese inneren Bewegungen der Hörspielfigur übertragen sich im Rezeptionsprozess auch auf den Hörer, der sich in seiner Imagination das Gehörte anverwandelt und mit eigenen Erfahrungen, Wünschen und Ängsten verquickt: Während der Film, das Fernsehen, auch die Bühne, den optischen Eindruck festlegen, die Szenerie vorgeben und auch das Aussehen der Darsteller fixieren, verlangt das „blinde“ Hörspiel, daß jeder Hörer in seiner eigenen Vorstellung den Helden oder das Opfer mit denjenigen Zügen begabt, die ihm persönlich am natürlichsten erscheinen, und daß er aus den sparsamen Signalen, die er aus dem Lautsprecher empfängt, in seiner Imagination genau diejenigen Räume entwirft, die seiner Auffassung von dem Geschehen entsprechen. Und es liegt auf der Hand, daß jene „Visionen“, die man selbst mit den jeweils ganz persönlichen Wünschen und Befürchtungen aus der eigenen Vorstellungskraft mitvollziehend hervorruft, zu den lebendigsten Eindrücken menschlichen Empfindens gehören.55

Es liegt nahe anzunehmen, dass sich die von Armin P. Frank benannte „eigene Vorstellungskraft“ aus Erinnerungen und Erlebnissen des Hörers speist, die seinem persönlichen, aber auch medialen Erfahrungsschatz entstammen und ihn gleichzeitig erweitern: „Das Hörspiel ist eines der intensivsten Erfahrungsinstrumente, die wir im ästhetischen Handeln entwickelt haben.“56 Außerhalb der Hörspieltheorie wurde der Zusammenhang von Hörsinn und Erinnerung ebenfalls nur am Rande behandelt. Der flüchtige Ton schien für das Speichern von Erfahrungen und Erinnerungen ungeeignet; und dennoch verzeichnet Heinz Hiebler in seiner „Medienkulturgeschichte der Tonträger“ die phonetische Schrift und Notationssysteme für Musik als erste „Tonträger“ eines akustischen kulturellen Gedächtnisses.57 Geräusche, Töne, Klänge und Melodien schreiben sich in das Gedächtnis des Einzelnen ein und evozieren an anderer Stelle Prozesse der Wiedererkennung und der Erinnerung – ebenso wie visuelle Wahrnehmungen dies tun. Mit der elektrischen Medienrevolution zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auch die Überlieferung von Tönen durch ihre Aufzeichnung und Wiedergabe möglich, seither steht ein unermessliches Repertoire gespeicherter Töne und Geräusche, vor allem aber Musik, zur Verfügung. Wie bei der Fotografie ist der hergestellte Zusammenhang zwischen Original und Abbild sehr eng: Eine besondere Authentizität haftet der ‚Tonspur‘ _____________ 54 55 56 57

Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Stuttgart 1963, S. 44. Armin P. Frank: Das englische und amerikanische Hörspiel. München 1981, S. 10. Manfred Mixner: „Hörspiel – Politik“, S. 187. Heinz Hiebler: „Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen. Eine Medienkulturgeschichte der Tonträger“. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Schüren 2005. 206–228, S. 206.

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an, die allein durch den technischen Apparat das flüchtige Original auf einer Schallplatte, einem Tonband, auf einer Festplatte oder CD bannt. Diese akustische Spur des Authentischen prädestiniert auditive Aufnahmen und somit auch das Hörspiel für eine dauerhafte Zeugenschaft. Die menschliche Stimme, deren Individualität und Identifizierbarkeit unbezweifelt ist, dient so als authentifizierendes Element und ist, aufgezeichnet auf einer Tonspur, in der Lage, die Narration der eigenen Erfahrung für die Nachwelt festzuhalten. Nichtsdestotrotz bleiben Stimmen, Töne, Klänge und Geräusche in der ausufernden kulturwissenschaftlichen Debatte um die mediale Repräsentation der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit weitgehend ausgeblendet. Während es eine Vielzahl an Publikationen zu literarischen Texten, Werken der bildenden Kunst und filmischen Darstellungen gibt, die sich mit den Formen der Erinnerung auseinandersetzen, fehlen Untersuchungen zu den auditiven Medien. Dies ist sicher auch auf die generelle Vernachlässigung des Hörsinns innerhalb der theoretischen Reflexionen zurückzuführen, fällt aber angesichts der ungebrochenen Präsenz auditiver Medien besonders ins Gewicht. Keinesfalls kann als Ursache für die fehlende Aufmerksamkeit von einer Ablösung der auditiven durch die audiovisuellen Medien die Rede sein. Hat beispielsweise der Tonfilm den Stummfilm binnen kürzester Zeit verdrängt, so erfreut sich das auditive Medium Radio trotz des allgegenwärtigen audiovisuellen Mediums Fernsehen auch im digitalen Zeitalter größter Beliebtheit.58 Die Untersuchung der Spezifika der auditiven Medien innerhalb des kollektiven Gedächtnisses muss also als dringendes Desiderat bezeichnet werden. Die vorliegende Untersuchung kann dies in seinem gesamten medien- und erinnerungstheoretischen Horizont nicht ausleuchten, soll aber ein Schlaglicht auf das technische Massenmedium der Nachkriegszeit und sein genuines künstlerisches Genre werfen: Radio und Hörspiel sind herausragende mediale Phänomene, denen mit Blick auf die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg noch einmal eine besondere Relevanz zukommt, denn gerade in den ersten Nachkriegsjahren war das Radio das Leitmedium angesichts zerstörter Kino- und Theaterbauten und rationierter Papierkontingente. Der ‚Volksempfänger‘ – von den Nationalsozialisten zur auditiven Mobilmachung verbreitet – hatte in vielen Haushalten den Krieg überdauert und stand nun den Alliierten zur Verfügung. Neben aktuellen Informationen und Bekanntmachungen sowie den üblichen Musiksendungen bildete sich sehr früh auch ein literarisches Rundfunk_____________ 58

Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, S. 29. Hickethier begründet dies mit der anthropologischen Notwendigkeit des Tons für die Orientierung im Raum, die dazu führt, dass bewegte Bilder ohne Ton unvollständig wirken und die Rezipienten irritieren, während der Ton „Welt hinreichend signalisieren“ könnte; ebd.

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programm heraus, das die unmittelbare Vergangenheit aufgriff, reflektierte und erste massenmediale Erinnerungselaborationen59 in den öffentlichen Raum trug. Forschungsstand Die vorliegende Studie führt mit den Gegenständen Erinnerung und Gedächtnis, Holocaust-Erinnerung und Holocaust-Repräsentation sowie Medientheorie und Mediengeschichte grundlegende geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungsfelder der letzten Jahre zusammen, die inzwischen eine unübersehbare Fülle an Veröffentlichungen hervorgebracht haben. Maßgebliche Publikationen zu Erinnerung und Gedächtnis, Holocaust-Erinnerung und Medientheorie werden im unmittelbar folgenden ersten Kapitel ausführlich behandelt und können daher an dieser Stelle ebenso vernachlässigt werden wie die z. T. umfangreiche Sekundärliteratur zu den in den Einzelinterpretationen behandelten Autorinnen, Autoren und Hörspielen, die in den späteren Kapiteln ausgewertet wird. Aus diesem Grund konzentriert sich der nun folgende kurze Forschungsüberblick auf jene Arbeiten, die nah an der gewählten Fragestellung liegen und sich mit dem Hörspiel als auditivem Medium einerseits und der medialen bzw. künstlerischen Holocaust-Erinnerung in der DDR andererseits befassen. Während erste Studien zu publizistischen Radiosendungen, die die NS-Vergangenheit thematisieren, bereits entstanden sind,60 blieb das Hörspiel als kulturelles Gedächtnismedium bisher außen vor.61 Dies ist umso unverständlicher, als die Interferenzen einzelner Medien des kulturellen Gedächtnisses – Literatur, Film, Theater, Radio – im Hörspiel klar hervortreten. Darüber hinaus verdeutlicht das Hörspiel der DDR die besondere Stellung des Rundfunks als Massenmedium unter staatlicher Führung und die Formung des kulturellen Gedächtnisses durch politische Interessen. Nur wenige, vornehmlich historische Untersuchungen widmen sich der Frage, ob und wie die DDR eine spezifische Erinnerungskultur um die Shoah etablierte.62 Der Verweis auf eine alles durchdringende politische Propaganda, ausgerichtet auf die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstandskampf, verhinderte eine interdisziplinäre Auseinandersetzung, _____________ 59 60 61

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Der Begriff ist der Arbeit Martin Zierolds entnommen. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 50. Bspw. Christoph Classen: Faschismus und Antifaschismus: die nationalsozialistische Vergangenheit im ostdeutschen Hörfunk (1945–1953). Köln, Weimar, Wien 2004. Die einzige mir bekannte explizite Nennung des Hörspiels als Teil des HolocaustDiskurses findet sich bei Stephan Braese u. Holger Gehle: „Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte nach dem Holocaust“. In: Literatur und Holocaust. Text + Kritik 144 (1999): 67–79, S. 67. Vgl. hierzu das folgende Kapitel I.1.

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die in der detaillierten Analyse historische Konjunkturen und Verschiebungen innerhalb des ostdeutschen Umgangs mit dem Holocaust hätte offenlegen können. Dies wiegt umso schwerer, als die politische Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg die Erinnerung und Aufarbeitung der eigenen Geschichte in beiden Systemen maßgeblich bestimmte und die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit immer verknüpft war mit der deutsch-deutschen Debatte. Jüngste Veröffentlichungen, bspw. jene zu Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989, signalisieren eine Trendwende und versuchen zu zeigen, „wie über das Zusammenspiel von narrativen, ikonischen und rituellen Formen das kulturelle Gedächtnis in den sich als ‚Diktatur des Proletariats‘ verstehenden Gesellschaften geformt wurde“.63 Doch auch in diesem Sammelband werden als „Institutionen, die entscheidend für die Ausformung des kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses in den Ländern des Real-Sozialismus waren“, lediglich „Verlage, Parteiapparat, Ministerium für Staatssicherheit, Schule“ benannt.64 Die Relevanz des Massenmediums Rundfunk für die Verbreitung literarischer Texte und die Herausbildung kollektiver Erinnerungen – gerade in der unmittelbaren Nachkriegszeit – bleibt auch hier ohne Beachtung. Ähnliches gilt für die Hörspielforschung: Wenn über Literatur und Radio der deutschen Nachkriegszeit geschrieben wird, wendet man sich in der Regel den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik zu.65 Untersuchungen zur spezifischen Situation in der DDR werden marginalisiert und als exotistisch gekennzeichnet. Neben dem bis zur Wiedervereinigung zu Recht beklagten schwierigen Zugang zu Materialien und Gegenständen,66 wird in anderen Arbeiten eine Beschäftigung mit _____________ 63 64 65

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Carsten Gansel (Hg.): „Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus – Vorbemerkungen“. In: ders.: Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des Real-Sozialismus zwischen 1945 und 1989. Göttingen 2007. 7–12, S. 11. Gansel (Hg.): „Gedächtnis und Literatur in den ‚geschlossenen Gesellschaften‘ des RealSozialismus – Vorbemerkungen“, S. 11. Siehe bspw. Horst-Walter Krautkrämer: Das deutsche Hörspiel 1945–1961. Grundthemen, künstlerische Struktur und soziologische Funktion. Heidelberg 1962; Irmela Schneider: „Zwischen den Fronten des oft Gehörten und nicht zu Entziffernden. Das deutsche Hörspiel“. In: Grundzüge der Geschichte des europäischen Hörspiels. Hg. v. Ch. W. Thomsen u. I. Schneider. Darmstadt 1985. 175–204; Christiane Timper: Hörspielmusik in der deutschen Rundfunkgeschichte. Originalkopositionen im deutschen Hörspiel 1923–1986. Berlin 1990. Eine rühmliche Ausnahme bildet Stephan B. Würffel, der das letzte Kapitel seiner Darstellung dem DDR-Hörspiel widmet und sowohl das Desiderat innerhalb der einschlägigen Forschung als auch die eine Auseinandersetzung verhindernden Vorurteile klar benennt. Stephan B. Würffel: „Das Hörspiel in der DDR“. In: ders.: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart 1978. 186–223. „Die Thematik der vorliegenden Studie entstand aus dem Bewusstsein und der gleichzeitigen Unzufriedenheit darüber, dass in der Bundesrepublik Deutschland Materialien und Analysen zum wichtigsten Propagandainstrument der DDR, dem Rundfunk, kaum vorhanden sind. Warum dieses spezielle Thema aus dem Bereich der Rundfunkforschung in

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dem Hörspiel in der DDR aus ästhetischen und ideologischen Gründen abgelehnt. So pauschalisiert Heinz Schwitzke in seiner für die 1960er Jahre maßgeblichen Studie Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte: Das Hörspiel ist – wie die heutige Lyrik – eine sprachlich sehr extreme Möglichkeit, extrem modern, extrem ‚westlich‘ […], es ist noch immer viel zu wenig bekannt, daß es ein nazistisches Hörspiel nicht gab und wohl auch nicht geben konnte, daß es ein kommunistisches nicht gibt. […] Jenseits der Mauer wird auch im Hörspiel nur trostloser ‚sozialistischer Realismus‘ im Dienste der Planerfüllung getrieben.67

In seiner im selben Jahr erschienen Untersuchung Das Hörspiel. Vergleichende Beschreibung und Analyse einer neuen Kunstform schließt auch Armin P. Frank das DDR-Hörspiel mit folgenden Worten aus der Betrachtung aus: Der Rundfunk in der sowjetisch besetzten Zone offenbarte […] seine wahre Natur als ausschließliches Propagandainstrument in den Händen einer neuen Diktatur. Die von ihm verbreiteten Hörspiele, die im Druck vorliegen, bezeugen beredt diesen Sachverhalt.68

Erst 1994 gab Heide Riedel einen Sammelband mit Untersuchungen zu „40 Jahren DDR-Medien“ heraus, in dem sich auch ein Beitrag zum DDR-Hörspiel findet.69 Im selben Jahr veröffentlichte Sibylle Bolik ihre Pionierarbeit Das Hörspiel in der DDR, die noch 14 Jahre später als einzige Monographie zum Thema im wissenschaftlichen Raum steht. Um die umfassende Periode von 1949 bis 1989 vorzustellen, musste Bolik den ihrer Arbeit zugrundegelegten Gegenstand stark einschränken: Sie wertete allein Originalhörspiele aus und ließ zudem die auf Tonträgern überlieferten Produktionen weitgehend unbeachtet. Ihre Analyse stützt sich vornehmlich auf die erhaltenen Manuskripte.70 Ungeachtet des wenig medienspezifischen Zugangs, gibt Boliks Arbeit einen umfassenden Überblick _____________

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der Bundesrepublik bisher so vernachlässigt wurde, mag am erschwerten Zugang zum Forschungsobjekt liegen, was die Verfasserin auch selbst feststellen konnte […].“ Heide Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der DDR. Funktion, Struktur und Programm des Rundfunks in der DDR. Köln 1977, S. 7. Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln, Berlin 1963, S. 186. Würffel verweist darauf, dass auch im von Schwitzke herausgegebenen Hörspielführer nur drei von 420 Hörspielen aus der DDR stammten, von denen allerdings wiederum zwei von Manfred Bieler verfasst wurden, der die DDR 1968 verließ. Vgl. Würffel: Das deutsche Hörspiel, S. 186; Heinz Schwitzke (Hg.): Reclams Hörspielführer. Stuttgart 1969. Frank: Das Hörspiel, S. 57. Heide Riedel: Mit uns zieht die neue Zeit ... 40 Jahre DDR-Medien. Eine Ausstellung des Deutschen Rundfunk-Museums 25. August 1993 bis 31. Januar 1994. Berlin 1995. Vgl. die Rezension von Hans-Ulrich Wagner in: Studienkreis Rundfunk und Geschichte: Mitteilungen 20 (1994): 152–153 und die scharfe Kritik von Ingrid Pietrzynski: „Das Hörspiel in der DDR. Eine Zuschrift an die Redaktion zur Rezension des Buches von Sibylle Bolik“. Ebd., S. 246.

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über personelle, thematische und ästhetische Entwicklungen innerhalb des DDR-Rundfunks. Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf die Erkenntnisse von Sibylle Bolik, zieht darüber hinaus aber auch jene kritische Reflexion des Hörspiels heran, die seit seiner Entstehung in den 1920er Jahren anhält, im Gegensatz zur theater- und filmwissenschaftlichen Forschung jedoch keinen verbindlichen theoretischen Zugang hervorgebracht hat. Die Sekundärliteratur zum Hörspiel beschäftigt sich immer wieder mit der geschichtlichen Entwicklung der Gattung,71 ihren ästhetischen Möglichkeiten,72 und – seltener – mit dem Hörspielwerk einzelner Autorinnen und Autoren.73 Die bundesrepublikanische Hörspielproduktion steht hierbei, wie bereits erwähnt, im Mittelpunkt; auf ostdeutsche Hörspiele wird bestenfalls verwiesen.74 Interdisziplinäre Ansätze werden ebenfalls selten verfolgt. Die Verfasser und Verfasserinnen entscheiden sich entweder für die medienästhetische Diskussion der akustischen Mittel und Möglichkeiten, oder sie setzen sich – und das ist überwiegend der Fall – unter literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten mit der Interpretation einzelner Hörspiele auseinander.75 Versuche, eine thematische Kategorisierung der vorhandenen Hörspiele einzelner Epochen vorzunehmen, führten häufig zu ideologischen Verallgemeinerungen.76 Während in historischen Überblicken die Themenkomplexe Krieg oder Heimkehr dominieren, bildet die Judenverfolgung trotz einer starken Präsenz des Themas in verwandten Disziplinen nur einen _____________ 71 72

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Christian W. Thomsen u. Irmela Schneider: Grundzüge der Geschichte des europäischen Hörspiels. Darmstadt 1985. Beispielhaft dafür ist die Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des sogenannten traditionellen und denen des Neuen Hörspiels. Vgl. Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln, Berlin 1963; Friedrich Knilli: Das Hörspiel. Mittel und Möglichkeiten eines totalen Schallspiels. Stuttgart 1961; Klaus Schöning: Das Neue Hörspiel. Texte und Partituren. Frankfurt a. M. 1969. Das betrifft fast ausschließlich das Hörspielwerk Günter Eichs; vgl. bspw. Marlies Goß: Günter Eich und das Hörspiel der fünfziger Jahre. Frankfurt a. M. 1988. Stephan B. Würffel: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart 1978 kann hierbei noch als positives Beispiel angeführt werden, wenn er nahezu 40 von 225 Seiten seines Buches dem „Hörspiel in der DDR“ widmet. Bspw. Rainer Hannes: Erzählen und Erzähler im Hörspiel. Ein linguistischer Beschreibungsansatz. Marburg 1990; Ruth Schmitt-Lederhaus: Günter Eichs „Träume“. Hörspiel und Rezeption. Frankfurt a. M. 1989. Um ihrer pauschalen These von den restaurativen Tendenzen des traditionellen Hörspiels zur Allgemeingültigkeit zu verhelfen, klammert beispielsweise Bloom das Hörspielschaffen so wichtiger Autoren wie Eich, Frisch, Dürrenmatt und Hildesheimer von vornherein aus. Margret Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel. Frankfurt a. M. 1985.

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Unterpunkt der „Vergangenheitsbewältigung“.77 Dass die neuere Hörfunk-Forschung dieses Desiderat inzwischen erkannt hat, zeigen Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs, die jedoch entweder nur nicht-fiktionale Sendungen der ARD auswerten78 oder lediglich einen einzelnen Rundfunksender in einem sehr engen Zeitrahmen berücksichtigen.79 Die Hörspielproduktionen in beiden deutschen Staaten dokumentieren die Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs für die Jahre 1945–1949, 1950–1951 und 1952–1953.80 In Anlehnung an die ARDHörspielbücher führen sie alle Hörspielproduktionen mit Produktionsdaten und Inhaltsangabe in chronologischer Reihenfolge auf. Allerdings fehlen bislang Darstellungen, die das vorliegende Material auswerten und das Hörspiel der DDR dem in der Bundesrepublik über größere Zeiträume hinweg vergleichend gegenüberstellen.81 Als rühmliche Ausnahme muss die Arbeit von Hans-Ulrich Wagner genannt werden, der das Hörspielprogramm aller Sender in den vier Besatzungszonen Deutschlands für die Jahre 1945 bis 1949 auswertet und hierbei Organisationsstrukturen, Produktionsbedingungen, personelle Ausstattung und Hörspielprogramme aus „sozialfunktionaler“82 und programmgeschichtlicher Perspektive herausstellt. Wagner unterscheidet nicht zwischen originalen und adaptierenden Hörspielen, sondern listet alle „Sendungen, die von den Hörspielabteilungen produziert bzw. verantwortet und auf einem speziellen Programmplatz gesendet wurden“ auf.83 Erst in den letzten Jahren entstanden Studien, die versuchten, das Hörspiel als akustische Kunst auf theoretischer Ebene zu fassen. Hier ist besonders an Götz Schmedes und Elke Huwiler zu denken. Während _____________ 77 78 79 80 81

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Vgl. bspw. die thematische Kategorisierung in Susanne Weichselbaumer: Das Hörspiel der fünfziger Jahre. „Regionalliga Süd“ und „Champions League“. Frankfurt a. M. 2007. Deutsches Rundfunkarchiv (Hg.): Judenverfolgung und jüdisches Leben unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Bd. 2.1. u. 2.2.: Tondokumente und Rundfunksendungen 1947–1990. Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs 8. Potsdam 1997. Christof Schneider: Nationalsozialismus als Thema im Programm des Nordwestdeutschen Rundfunks (1945–1948). Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs 23. Potsdam 1999. Bernd Löw: Hörspiel 1945–1949. Eine Dokumentation. Potsdam 1997; Ulrike Schlieper: Hörspiel 1950–1951. Eine Dokumentation. Potsdam 2003; dies.: Hörspiel 1952–1953. Eine Dokumentation. Potsdam 2004. Würffel weist auf die desolate Forschungslage hin und kann selbst nur ein kurzes Kapitel zum Hörspiel in der DDR anfügen (Würffel: Das deutsche Hörspiel, 186–223). Mit der Arbeit von Wagner liegt ein erster Ansatz für eine gegenüberstellende Darstellung vor, die jedoch auf die unmittelbare Nachkriegszeit beschränkt bleibt. Hans-Ulrich Wagner: „Der gute Wille etwas Neues zu schaffen“. Das Hörspielprogramm in Deutschland von 1945–1949. Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs 11. Potsdam 1997. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 19. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 15.

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Schmedes eine dringend notwendige semiotische Hörspieltheorie mit umfassendem Analyseapparat vorlegte,84 stellte Huwiler Hörspieladaptionen literarischer Texte und ihre narratologischen Aspekte in den Mittelpunkt.85 Da die für meine Fragestellung wesentlichen Ergebnisse der medientheoretischen Hörspielforschung im Kap. I ebenso ausführlich referiert werden wie die des Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurses, kann an dieser Stelle auf eine weiterführende Darstellung verzichtet werden. Fragestellung, Gegenstand, Methode Für die Untersuchung des Holocaust im kollektiven Gedächtnismedium Hörspiel ergeben sich demnach folgende Fragenkomplexe, die sowohl die Repräsentation des Genozids an den Juden im akustischen Medium betreffen als auch die Funktion von Holocaust-Hörspielen innerhalb der deutschen gesellschaftlichen Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit: - Welche Aspekte struktureller oder physischer Gewalt gegen Juden werden im Hörspiel dargestellt? Wie löst bzw. reflektiert das Hörspiel dabei das Problem der Repräsentierbarkeit des Holocaust? - Gibt es eine spezifisch akustische Signatur des Holocaust? Wie verändert sich die akustische Zeichensprache innerhalb der ästhetischen und technischen Entwicklung des Mediums? Welche Relevanz kommt dem Hörspiel als kollektivem Gedächtnismedium im Mediengefüge zu? - Mit welchen akustischen Mitteln werden Alterität und Fremdheit (Zugehörigkeit zu Rasse, Klasse und Geschlecht) im Hörspiel codiert? Werden stereotype Zuschreibungen fortgesetzt oder konterkariert? - In welchem Verhältnis stehen die Hörspiele zum zeitgenössischen öffentlichen und politischen Umgang mit dem Holocaust? Inwiefern werden Vergessen und Verdrängung thematisiert? Ist die kulturelle Erinnerung an den Holocaust im Hörspiel an einer kollektiven bzw. nationalen Identitätsbildung beteiligt? Welche Interferenzen der deutschdeutschen Politik bestimmen die Erinnerungselaborationen? - Welchen Einfluss haben kulturpolitische Entwicklungen auf die Hörspielproduktion, und wie situieren sich einzelne Autorinnen und Autoren innerhalb dieser Koordinaten? Im Mittelpunkt stehen Hörspiele, die zwischen 1945 und 1989 im Rundfunk der SBZ/DDR gesendet wurden und auf deutschsprachigen Text-

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Götz Schmedes: Medientext Hörspiel. Münster 2003. Elke Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst. Paderborn 2005, S. 11 f.

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vorlagen beruhen.86 Der in der Arbeit zugrundegelegte Hörspielbegriff umfasst dabei nicht nur eigens für den Rundfunk verfasste sogenannte Originalhörspiele, sondern auch Adaptionen von literarischen, dramatischen oder filmischen Texten. Wie bereits Elke Huwiler bemerkte, gibt es für eine Unterscheidung zwischen Originalhörspielen und Adaptionen literarischer Texte für den Rundfunk keine Notwendigkeit, da „HörspielAdaptationen ebenso genuine künstlerische Erzeugnisse sein können wie sogenannte Original-Hörspiele“.87 Nichtsdestotrotz werden Adaptionen in der Forschung meistenteils vernachlässigt und von Hörspielfestivals und Hörspielpreisen weitgehend ausgeschlossen.88 Gerade für die Programmgeschichte des DDR-Hörspiels ist es jedoch unmöglich, literarische Adaptionen oder Übernahmen von Hörspielen aus der Bundesrepublik oder dem Ausland zu vernachlässigen, da somit der größte Teil des Repertoires unberücksichtigt bleiben würde. Tatsächliche ‚Originalentwicklungen‘ des DDR-Rundfunks sind Auftragsarbeiten der Hörspielabteilung gewesen und machen nicht einmal die Hälfte der gesendeten Hörspiele aus. Der Großteil jener Hörspiele, die den nationalsozialistischen Genozid an den Juden im DDR-Rundfunk thematisieren, stammt aus der Bundesrepublik. Sie wurden auf der im westlichen Teil Deutschlands entstandenen Textgrundlage für den Rundfunk der DDR neu produziert und gesendet. Die in der vorliegenden Untersuchung fokussierten Einzelinterpretationen werden aus diesem Grund Hörspiele von Autorinnen und Autoren aus beiden deutschen Staaten und Österreich berücksichtigen und, sofern sie vorliegen, ost- und westdeutsche Hörfassungen vergleichen. Das Hörspiel muss als genuin radiophones Kunstwerk betrachtet werden. Die vorliegenden Analysen des Hörspiels als Gedächtnismedium stützen sich daher auf die im Rundfunk tatsächlich gesendeten und meistenteils auf Tonträgern überlieferten auditiven Fassungen, die dann wiederum mit anderen medialen Texten wie unterschiedlichen Hörspiel- oder Filmfassungen, Textvorlagen u. ä. in Bezug gesetzt werden. _____________ 86

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Die Analyse fremdsprachiger Textvorlagen, vor allem aus dem osteuropäischen Bereich, war kaum zu leisten, ohne den philologischen Anspruch, der dieser Arbeit zugrunde liegt, zu gefährden. Einzelne Hörspiele werden trotzdem thematisch ausgewertet, sind aber nicht Gegenstand einer Einzelanalyse. Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel, S. 10. Der Hörspielpreis der Kriegsblinden wird als wichtigste deutsche Auszeichnung für radiophone Kunstwerke seit 1951 an den Autor oder die Autorin „des bedeutendsten in deutscher Sprache geschriebenen Originalhörspiels ..., das im vorangegangenen Jahr von einer Rundfunkanstalt der ARD urgesendet worden ist“, verliehen. Zit. n. Heinrich Vormweg: „Nach den Reden. Zur Geschichte des Hörspielpreises der Kriegsblinden“. In: Schriftsteller und Hörspiel. Reden zum Hörspielpreis der Kriegsblinden. Hg. v. Klaus Schöning. Königstein/Ts. 1981. 130–136, S. 130; leider ohne Zitatnachweis.

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Diese Vorgehensweise scheint naheliegend, ist aber keineswegs selbstverständlich, wie beispielsweise die Arbeit von Sibylle Bolik zum DDRHörspiel beweist. Kritisiert Bolik in ihrem historischen Abriss eine fehlende Hörspieltheorie und -ästhetik im DDR-Rundfunk,89 so arbeitet sie selbst mit einem stark eingeschränkten Hörspielbegriff, wenn sie ausschließlich „Originalhörspiele“, also Hörspiele die allein für den Rundfunk verfasst wurden und nicht auf Adaptionen anderer Medientexte beruhen, berücksichtigt.90 Bolik betrachtet diese begrenzte Auswahl gesendeter Hörspiele darüber hinaus zum überwiegenden Teil ausschließlich auf der Textebene und lässt die radiophonen Umsetzungen unberücksichtigt, „da Abweichungen vom üblichen ‚Sound‘ nicht zu erwarten waren“.91 Im Gegensatz dazu stützt sich die vorliegende Studie auf die Auswertung der im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA) erhaltenen Tonträger in Form ausführlicher Hörprotokolle. Das DRA sammelt und verwaltet an seinem Standort Potsdam-Babelsberg Bild-, Ton- und Textdokumente der Radio- und Fernsehgeschichte der DDR. Als umfassender Speicher bewahrt und systematisiert es Gedächtnisinhalte, die aus der historischen Distanz abgerufen werden können. Der Korpus zum Hörspiel umfasst vor allem Tonbänder, die durch Manuskripte, Sendemanuskripte, Kontrollexemplare92, Kritiken sowie Protokolle, Dokumente und Korrespondenzen der Rundfunkverwaltung ergänzt werden. Das Hörspiel als Gedächtnismedium kann auf dieser Grundlage in seinen vielfältigen Bezügen und medialen Aspekten an der Schnittstelle von Massenmedium, Literatur, Politik und Geschichte untersucht werden. In empirischer Forschungsarbeit wurde als Arbeitsgrundlage eine Übersicht mit Hörspielen des Untersuchungszeitraums erstellt, die den nationalsozialistischen Genozid an den Juden explizit thematisieren (siehe Anhang). Da zur Zeit der Archivarbeit das Tonmaterial noch nicht vollständig ausgewertet und digitalisiert war, stützt sich die Untersuchung neben der elektronischen Recherche auf die Ergebnisse des systematischen Hörens vermutlich einschlägiger Titel sowie auf Hinweise der Mitarbeiterinnen des DRA.93 Aus diesem Grund kann die Übersicht als empi_____________ 89 90 91 92 93

Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 13–21. Bolik begründet diese Vorgehensweise mit der „herkömmlichen Hierarchisierung von originalen und adaptierten Hörstücken“, die auch im Radio der DDR wirksam gewesen wäre. Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 22 f. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 26. Kontrollexemplare dokumentieren schriftlich die abgehörte Fassung der Produktion. Sie halten auch kleinste Textveränderungen fest und bildeten die Grundlage für die endgültige Genehmigung der Sendung. An dieser Stelle sei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des DRA Potsdam, vor allem Frau Dr. Pietrzynski, Herrn Dr. Fischer, Herrn Ossmanns und Frau Mehnert, für die vielfältige Unterstützung gedankt.

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risch hinreichende Grundlage betrachtet werden, jedoch keine Vollständigkeit beanspruchen. Grundsätzlich unbeachtet blieben aufgrund ihres vordergründig didaktischen Interesses Kinder- und Jugendhörspiele sowie nichtfiktionale Dokumentationen, Features und kurze ‚Hörbilder‘. Gewählt wurde ein thematischer Zugang, der das Gedächtnismedium Hörspiel in zweifacher Hinsicht betrachtet: Zum einen als Speicher fiktionaler Medienangebote, die einen Bezug zur historischen Vergangenheit aufweisen, indem sie den Holocaust während der NS-Diktatur in Deutschland thematisieren. Zum zweiten aber werden die einzelnen Hörspiele selbst als historische Dokumente behandelt, die Auskunft geben über den jeweiligen zeitgenössischen Umgang mit der eigenen Geschichte in der DDR und in der Bundesrepublik sowie den medienästhetischen und medienhistorischen Stand des Hörspiels. Auf der Grundlage der abgehörten und analysierten Sendebänder sollen exemplarische und herausragende Hörspiele interpretiert und der Umgang mit dem Holocaust im auditiven Massenmedium der DDR unter Berücksichtigung ästhetischer, thematischer, kulturpolitischer und technologischer Gesichtspunkte nachgezeichnet werden. In der Hörspielanalyse folgt die vorliegende Arbeit theoretisch der von Mira Djordjevic entwickelten „Audiophilologie“, die im Anschluss an Kanzogs „Filmphilologie“94 von Reinhard Döhl als „Hörspielphilologie“ begründet wurde95 und bei Djordjevic auf die „Beurteilung der Hörspielforschung als eines ernstzunehmenden Teilbereichs der Literaturwissenschaft“ zielt. Djordjevic betrachtet das Hörspiel als eine „in ihrem Wesen akustisch strukturierte Ausdrucksform der Radiokunst“ und fordert eine „medienbedingte, interdisziplinäre Methode des Prüfens, Auslegens und Deutens akustischer Literatur, d. h. der einzelnen Hörspieltexte“ ein. Im Mittelpunkt der Analyse steht der Vergleich zwischen dem „genauen Wortlaut der literarisch formulierten […] Textvorlage“ und „dem Gesamteindruck des Gehörten“.96 Hieran anschließend, ist der zentrale Gegenstand der vorliegenden Untersuchung die im Rundfunk der DDR tat-

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„Die Literarizität des Drehbuchs und des Filmprotokolls. Über die Aufgaben einer zukünftigen Filmphilologie“. In: Akten des 6. Internationalen Germanistenkongresses. Bd. 3. Basel 1980. 259–264. Reinhard Döhl: „Hörspielphilologie?“ In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982): 489–511. Mira Djordjevic: „‚Audiophilologie‘ als Methode der Hörspielforschung“. In: Medien/ Kultur. Schnittstellen zwischen Medienwissenschaft, Medienpraxis und gesellschaftlicher Kommunikation. Knilli zum Sechzigsten. Hg. v. Knut Hickethier u. Siegfried Zielinski. Berlin 1991. 207–215, S. 209.

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sächlich gesendete Produktion, das heißt, die auditive Fassung des jeweiligen Hörspiels.97 Da von einem verbindlichen Theorie- und Methodenapparat für das Hörspiel jedoch noch immer nicht gesprochen werden kann, liegt der Untersuchung – wie von Djordjevic gefordert98 – ein interdisziplinärer Ansatz zugrunde: Verfahren der Literaturwissenschaft (Rekonstruktion der Textgenese, close reading, Vergleich literarischer Vorlagen mit der akustischen Realisierung), der Kulturwissenschaft (Erinnerungs- und Gedächtnisforschung, Mediengeschichte und Medientheorie) sowie der Theaterund Kommunikationswissenschaft (Dramaturgie, Rezeptionsforschung, Inszenierungsanalyse) werden miteinander verknüpft. Die Einzelinterpretationen sollen den z. T. zahlreichen Forschungsarbeiten zu den literarischen Vorlagen keine weiteren hinzufügen, sondern Ergebnisse literaturwissenschaftlicher Arbeiten bilden die Folie, von der sich das Medienspezifische der Hörspielfassungen abheben soll, um das Hörspiel als eigenständiges Kunstwerk zu begreifen. Grundlage der Hörspielanalyse selbst sind die Hörprotokolle der gesendeten Produktionen. Diese Hörprotokolle nutzen das von Götz Schmedes zur Verfügung gestellte Instrumentarium zur wissenschaftlichen Beschreibung und Analyse der akustischen Dimension von Hörspielen. Sie renotieren die verschiedenen Zeichensysteme in ihren einzelnen Elementen, d. h., sie vermerken Sprache, Musik, Geräusche, elektroakustische Manipulationen, Schnitte, Blenden u. ä. als einzelne Komponenten, die dann auf der Bedeutungsebene wieder zusammengeführt werden. Eine erschöpfende Notation war hierbei aufgrund der Komplexität und Vielzahl des untersuchten Tonmaterials nicht möglich.99 Stattdessen wird in dieser Arbeit versucht, für die Fragestellung wesentliche akustische Elemente nachvollziehbar zu beschreiben und ihre Wechselwirkung untereinander zu verdeutlichen. Da nicht alle Zeichensysteme in jedem Hörspiel von gleicher Bedeutung sind, werden die unter der konkreten Fragestellung maßgeblichen herausgear_____________ 97 98

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Vgl. auch Elke Huwiler: „Soll also das Hörspiel als akustisches künstlerisches Erzeugnis analysiert werden, ist immer direkt auf die Realisation zurückzugreifen.“ Huwiler: Erzählströme im Hörspiel, 43. „Als literarisch fixierte Gattung einer eigenständig medienbedingten Hörspielkunst – einer Wortkunst des Radios –, die, wie gesagt, nicht nur aus Sprache, sondern aus einer Reihe gleichwertiger akustischer Signale besteht, erfordert das Hörspiel verständlicherweise einen völlig neuen interdisziplinären Zugang.“ Mira Djordjevic: „‚Audiophilologie‘ als Methode der Hörspielforschung“, S. 208. Vgl. auch Huwiler, die feststellt: „Die jeweiligen ‚zitativen‘ Transkriptionen sind also bewusst nur auf bestimmte Aspekte ausgerichtet, da das Erfassen aller Aspekte gar nicht möglich ist: ‚auch die komplexeste Partitur multicodaler Information ist reduktionistisch und muß es aus methodischen und theoretischen Gründen auch sein, da nun einmal die optimale Notation eines multimodal codierten Textes die multimediale Codierung ist.‘“ Huwiler: Erzählströme im Hörspiel, S. 44.

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beitet und interpretiert.100 Zentrale Szenen können auf dem diesem Buch beigegebenen Tonträger nachgehört werden. Auf diese Hörzitate wird im Text mit dem Symbol • verwiesen. Aufbau der Untersuchung Die folgende Untersuchung setzt ein mit einem historischen und medientheoretischen Überblick (Kapitel I). Sie bietet zunächst einen Abriss des öffentlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit in der SBZ und späteren DDR. Epochen von Restriktion und politischer Liberalisierung wechselten einander ab und bestimmten auch die Thematisierung von Judentum und Judenverfolgung innerhalb der Erinnerung an die nationalsozialistische Diktatur. Da der Rundfunk der DDR der ostdeutschen Partei- und Staatsführung unterstand, waren die Interferenzen von Politik, Literatur und Rundfunk erheblich. Die literarisch-künstlerischen Ausprägungen des Stoffes erfordern daher eine zumindest überblicksartige Darstellung der historisch-politischen Entwicklung der kollektiven Erinnerung in der DDR. Im Anschluss hieran wird zunächst die theoretische Konturierung des Begriffs vom kollektiven Gedächtnismedium aufgenommen, um in der Folge das Hörspiel als solches zu charakterisieren. Der in der Forschung geäußerten Ansicht, „der in Arbeiten zum Hörspiel häufig auftauchende Begriff ‚Medium Hörspiel‘“ sei „als nicht trennscharf genug zurückzuweisen, denn mit ihm“ seien „das Radio und die darin verankerte Kunstform nicht ausreichend voneinander abgegrenzt“,101 ist an dieser Stelle zu begegnen. Entlang des von Astrid Erll entwickelten Begriffs „kollektives Gedächtnismedium“ werden die folgenden vier konstituierenden Komponenten aufgegriffen und theoretisch bestimmt: der Ton als Zeichensystem, Radio und Tonband als Medientechnologien, das Hörspiel als Medienangebot und der Rundfunk als sozialsystemische Institution. Es folgen drei Kapitel, die sich der Thematisierung des Holocaust im Hörspiel in chronologischer Anordnung widmen. Beginnend mit der unmittelbaren Nachkriegszeit und den 1950er Jahren (Kapitel II), über die 1960er Jahre, die von den Auseinandersetzungen des Kalten Krieges geprägt sind (Kapitel III), bis hin zu den 1970er und 1980er Jahren, die eine zunehmende ästhetische und politische Öffnung markieren (Kapitel IV), bildet die Arbeit den gesamten Zeitraum der politischen Teilung Deutsch_____________ 100 Ich folge hierin der Ansicht Götz Schmedes’, dass es völlig unmöglich und auch wenig sinnvoll ist, das gesamte Klangerlebnis eines Hörspiels in die kleinsten Verästelungen hinein in ein Protokoll zu überführen. Götz Schmedes: Medientext Hörspiel. Münster 2003, S. 114. 101 Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 69.

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lands ab. Sie endet mit dem Jahr der ‚Wende‘ 1989 als Beginn des deutschen Vereinigungsprozesses.102 Jedes der drei Kapitel eröffnet ein einführender Abschnitt, in dem die wesentlichen Entwicklungen im Rundfunk der DDR im Hinblick auf den zeitgenössischen Umgang mit dem Thema Holocaust im Hörspiel vorangestellt werden. Im Zentrum stehen anschließend Untersuchungen exemplarischer sowie herausragender, sich dem generellen Trend widersetzender Hörspiele. Da es sich bei allen Hörstücken um Autorenwerke handelt, berücksichtigt die Auswertung auch das literarische Schaffen des jeweiligen Autors oder der Autorin im Hinblick auf die Rundfunkarbeit einerseits und sein bzw. ihr Verhältnis zum Judentum andererseits. Es folgen werknahe Interpretationen, detaillierte Analysen der medialen Umsetzung und Reflexionen der jeweiligen Rezeptionsgeschichte, um auf diese Weise Rückschlüsse auf Form und Funktion des Hörspiels innerhalb der Erinnerungskultur des Holocaust zu ziehen. Aus den knapp 50 relevanten Hörspielen wurden sieben für eine nähere Betrachtung ausgewählt. Die Funkadaption des Exildramas Professor Mamlock eröffnet bereits im November 1945 die Reihe der HolocaustHörspiele. Im Rückgriff auf eine frühere Fassung des Stückes entwirft Friedrich Wolf ein differenziertes Bild des Juden im Deutschland der 1930er Jahre, das vom assimilierten Bildungsbürger über den religiösen Zionisten hin zum kommunistischen Widerstandskämpfer reicht. Als zentrale Identifikations- und Integrationsfigur macht Mamlock der Nachkriegshörerschaft ein Entlastungsangebot, das diese bereitwillig annahm. Nach einer Phase der weitgehenden Marginalisierung von Judentum und Holocaust-Erinnerung findet mit Wolfgang Weyrauchs Woher kennen wir uns bloß? (1957) ein traditionelles Hörspiel der 1950er Jahre Eingang in das ostdeutsche Rundfunkprogramm, das in seiner Abkehr von der im Text angelegten metaphysischen Überhöhung und religiösen Versöhnung ebenso wie in seiner innovativen auditiven Umsetzung für das Hörspiel der DDR herausragend ist. Ein Vergleich der bundesdeutschen Produktion im NWDR von 1952 mit der Inszenierung im DDR-Rundfunk von 1957 offenbart die innovative mediale Umsetzung und Bearbeitung der Textvorlage. Die 1960er Jahre sind auch im DDR-Radioprogramm bestimmt von den deutsch-deutschen politischen Auseinandersetzungen. Aus den zahl_____________ 102 Mit der wiedererlangten deutschen Einheit erfährt die nun als gemeinsam wahrgenommene deutsche Geschichte bis 1945 eine enorme Aufmerksamkeit. Die hieraus resultierenden gesellschaftlich-kulturellen Verschiebungen überschreiten den hier gewählten Untersuchungsrahmen, sind aber in anderen Arbeiten bereits ausführlich thematisiert worden. Vgl. bspw. Assmann u. Frevert: Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit oder Stephan u. Tacke (Hg.): NachBilder des Holocaust.

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reichen Hörspielen, die nationalsozialistische Kontinuitäten in der Bundesrepublik aufzeigen, wurde das Gerichtshörspiel Aussage unter Eid von Günter de Bruyn, eines der wenigen Originalhörspiele zum Thema aus der Feder eines ostdeutschen Schriftstellers, ausgewählt. Das Stück entstand auf Initiative des Ministeriums für Staatssicherheit auf der Grundlage von Prozessakten und offenbart die enge Verquickung von Zeitgeschichte, politischen Interessen und literarischem Rundfunkprogramm. Wie auch die Funkfassung von Peter Weiss’ Die Ermittlung lief Aussage unter Eid im Deutschlandsender, dessen Programm speziell auf die Agitation der westdeutschen Bevölkerung zielte. Die Ermittlung, fast zeitgleich als Schauspiel und Hörspiel in einer deutschlandweiten Uraufführung bzw. Erstsendung von monumentalem Ausmaß inszeniert, kann als zentrales Kunstwerk des kollektiven Gedächtnisses die Wechselwirkungen zwischen HolocaustErinnerung in Ost und West illustrieren und gleichzeitig die Möglichkeiten einer medialen Repräsentation ausleuchten. Die 1970er und 1980er Jahre sind einerseits von der partiellen politischen Liberalisierung der DDR geprägt, die mit der Machtübernahme Honeckers die verschiedenen Bereiche des öffentlichen und kulturellen Lebens erreichte. Darüber hinaus fristete das Hörspiel als literarisches Genre des Rundfunks in zunehmendem Maße ein Nischendasein, da das Fernsehen inzwischen auch in der DDR die Abendunterhaltung dominierte. Beide Ursachen führten zu einer merklichen Präsenz des Holocaust im Hörspielprogramm und zu einer ebenso thematischen wie ästhetischen Liberalisierung: Mit Jakob der Lügner, der Adaption des Romans von Jurek Becker, betritt 1973 ein jüdischer Antiheld die Hörbühne, der das Paradigma des Widerstandskämpfers konterkariert. Der Fassungsvergleich mit der Romanvorlage und die Analyse der Hörspielinszenierung offenbaren eine mediale Umsetzung, die die auf der sprachlich-semantischen Ebene vorgenommenen Zurichtungen des Textes auf der auditiven Ebene wieder unterlaufen. Heinar Kipphardts Bruder Eichmann (1984) knüpft thematisch an das dokumentarische Theater und die Gerichtshörspiele der 1960er Jahre an, stellt aber eine psychologisch motivierte Täterbiographie in den Mittelpunkt. In Anlehnung an Hannah Arendts These von der „Banalität des Bösen“ richtet das Hörspiel den Fokus auf einen Schreibtischtäter, dessen Mentalität nicht an die NS-Diktatur gebunden, sondern weiten Teilen der Bevölkerung eigen ist. Das Hörspiel richtet so den Blick auf die gesellschaftlichen Grundlagen des NS-Systems; potentiell aber auch auf die der DDR-Gesellschaft. Die Analyse der Hörspielbearbeitung durch den ostdeutschen Rundfunk offenbart, dass trotz des zunehmenden ideologischen Spielraums der Rundfunk bis in die 1980er Jahre hinein für die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner instrumentalisiert wurde.

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Das kollektive Gedächtnismedium Hörspiel unterlag auch zum Ende der DDR hin noch immer ideologischen Zwängen, die bspw. das Buch – individuell und in geringerer Anzahl rezipiert – partiell bereits hinter sich lassen konnte. Nichtsdestotrotz werden diese Zwänge, die sich vor allem in Textbearbeitungen niederschlagen, aber in der akustischen Umsetzung auf der Ebene der auditiven und damit flüchtigen Zeichen unterlaufen. Hierin besteht, wie zu zeigen sein wird, das spezifische Potential des Hörspiels im Mediengefüge der kollektiven Erinnerungen an den Holocaust. Schließlich wird mit der ästhetischen Öffnung des Hörspiels zum Ende der 1980er Jahre auch eine Hinwendung zu jenen Hörspielen möglich, die aufgrund des Realismusverdikts bisher nicht gesendet werden konnten. Im Programm laufen nun Stücke des traditionellen Hörspiels, die in der Bundesrepublik bereits in den 1950er Jahren gesendet wurden. Ilse Aichinger überblendet in ihrem Verwandlungshörspiel Knöpfe Entmenschlichung in Zwangsarbeit und Vernichtung mit erstarrten Geschlechterverhältnissen und eröffnet so eine spezifisch weibliche Perspektive der Holocaust-Erinnerung. Die Inszenierung im Berliner Rundfunk, gesendet im Dezember 1989, markiert – gerade im Vergleich zur Produktion im SDR/NWDR (1953) – einen späten Höhepunkt der Nutzung auditiver Zeichen im Hörspielprogramm der DDR. Eine ausführliche Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse schließt die Arbeit ab. Sie führt nicht nur die Wandlungen des kollektiven Gedächtnismediums Hörspiel innerhalb des jeweiligen historischen Umgangs mit der Erinnerung an den Holocaust in der DDR vor Augen, sondern trifft darüber hinaus grundsätzliche Aussagen zur auditiven Repräsentation des Holocaust.

Kapitel I Das vergessene Medium oder Das Medium gegen das Vergessen

1. Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR Mit Blick auf die deutsche Geschichte eröffnen sich historisch unterschiedliche Bezugsrahmen der kollektiven Erinnerung für Ost- und Westdeutschland. Je nach politischer Konstellation berief man sich auf verschiedene historische Ereignisse, die es zu erinnern und zu interpretieren galt. Aleida Assmann entwickelt zur Beschreibung der nationalen Identitätskonstruktion anhand der deutschen Geschichte die Kategorien eines „Sieger-“ und „Verlierer-“ sowie eines „Opfer-“ und „Tätergedächtnisses“. Sie kennzeichnet das kollektive Gedächtnis der Deutschen nach 1871 als Siegergedächtnis, das in „heroische[r] Selbststilisierung“ an die „ruhmreichen Stationen“ der eigenen Geschichte erinnerte, um bestehende Machtverhältnisse zu stabilisieren. Hingegen herrschte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein Verlierergedächtnis vor, das an eine „verletzende und demütigende Erfahrung“ erinnerte, um „politische Energien für eine andere Zukunft“ freizusetzen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konstatiert Assmann für Deutschland die „lähmende Wirkung eines Tätergedächtnisses“, das von Schweigen und Verdrängung gekennzeichnet ist und von den Mahnungen des Opfergedächtnisses, die von außen an die Deutschen herangetragen wurden.1 Ist das kollektive Gedächtnis, wie an anderer Stelle bereits dargestellt, maßgeblich von Gruppeninteressen bestimmt, muss die Herausbildung zweier deutscher Staaten, die in heterogene politische Systeme eingebunden waren, auch unterschiedliche kollektive Erinnerungen hervorbringen, obwohl sie sich auf das gleiche historische Ereignis – den Zweiten Weltkrieg – bezogen. In der genannten Terminologie bleibend, beschreibt das Assmann’sche Tätergedächtnis in erster Linie die Verhältnisse in der Bundesrepublik, die bis zum Ende der 1960er Jahre vornehmlich von Verdrängung bestimmt waren.2 Um die Konstruktion eines kollektiven Gedächtnisses für die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) und spätere DDR zu beschreiben, lässt sich dagegen treffender von einem Siegergedächtnis sprechen. Diese Behauptung mag auf den ersten Blick überraschen, lässt sich aber schnell erhärten: Im Unterschied zu den westlichen Besatzungszonen und der späteren Bundesrepublik stellte die politische Führung im Osten Deutschlands sich selbst nicht in die Tradition einer deutschen _____________ 1 2

Aleida Assmann u. Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999, S. 46 f. Vgl. das Psychogramm der bundesrepublikanischen Gesellschaft durch Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1968.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

Täternation, sondern in die des ‚antifaschistischen Widerstandskampfes‘. Der Krieg wird darum nicht als ein nationaler – die deutsche Nation gegen die europäischen Nachbarländer – verstanden, sondern als ein politischer: der nationenübergreifende antifaschistisch-kommunistische Kampf gegen einen Faschismus, der als Auswuchs des imperialistischen Kapitalismus ebenfalls nicht national einzugrenzen war. Da die politische Elite der DDR tatsächlich aus Kommunisten bestand, die entweder Überlebende der Konzentrationslager oder zurückgekehrte Exulanten waren, betrachtete sie das Ende des Zweiten Weltkriegs als einen Sieg, der auch ihr persönliches Verdienst darstellte. In der Ausblendung der historischen Konstellationen wie bspw. der Zusammensetzung der Alliierten und der politischen Orientierung innerhalb der deutschen Bevölkerung entstand ein kollektives Siegergedächtnis, das den Triumph der russischen Roten Armee, der deutschen Widerstandskämpfer und des ‚unschuldigen‘ deutschen Volkes über Faschismus und Kapitalismus konstruierte. Die zahlenmäßig kleine Gruppe der Kommunisten repräsentierte nun die Gesamtheit der ostdeutschen Nation wie die Sowjetarmee die der Alliierten. Phraseologien wie „der Sieg der ruhmreichen Roten Armee“ oder „der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ (nicht vom deutschen Nationalsozialismus) wurden zu festen Wendungen in der Erinnerungspolitik Ostdeutschlands, während man sich im Westen am 8. Mai der „Kapitulation“ erinnerte und der eigenen Gefallenen, wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg, am Volkstrauertag gedachte.3 In beiden Staaten spielte die Erinnerung an den nationalsozialistischen Genozid an den Juden vorerst eine untergeordnete Rolle für das Selbstverständnis. Die Forderung wurde eher von außen an die Deutschen herangetragen, oder sie wurde für eigene politische Interessen aktiviert. Hierbei zeigen die historischen Entwicklungen nach 1945 paradoxerweise mit historischer Distanz keine abnehmende, sondern vielmehr eine zunehmende Bedeutung, die dem Ereignis beigemessen wird. Im Folgenden soll für die Jahre der deutschen Teilung 1945 bis 1989 der Umgang mit dem Holocaust in der SBZ/DDR skizziert werden. Hierbei handelt es sich um einen exemplarischen Fall der Verschränkung von kollektivem Gedächtnis und politischer Instrumentalisierung.

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Assmann verweist auf die späte Herausbildung eines kollektiven Gedächtnisses in der Bundesrepublik: „Sie entwickelt keine stringente Geschichtspolitik und ermöglicht damit eine Vielfalt von Erinnerungskonstruktionen, die erst in den achtziger und neunziger Jahren zu einem relativ homogenen Kollektivgedächtnis verschmelzen.“ Ute Frevert u. Aleida Assmann: „Einleitung“. In: dies.: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit: vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945. Stuttgart 1999. 9–15, S. 13.

Judentum und jüdische ‚Opfer des Faschismus‘

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1.1. Judentum und jüdische ‚Opfer des Faschismus‘ Die Auseinandersetzung mit der sogenannten „jüdischen Frage“4 in der Sowjetischen Besatzungszone und der späteren DDR war von Beginn an durch Ideologisierungen geprägt. Bis 1950 fand in Ostdeutschland eine umfassende Entnazifizierung statt, die dazu führte, „daß die alten belasteten Eliten in erheblichem Umfang ausgeschaltet wurden“.5 Ihre Führungspositionen in Regierung, Verwaltung, Wirtschaft und Kultur nahmen nun zum Großteil jene Antifaschisten ein, die das ‚Dritte Reich‘ überlebt hatten. Das „andere, bessere Deutschland“6, das auf diese Weise errichtet werden sollte, betrachtete sich nicht mehr als Teil einer deutschen Nationalgeschichte, sondern hatte mit dem ‚Imperialismus‘, ‚Militarismus‘ und ‚Revanchismus‘ des Dritten Reiches gebrochen und sich selbst in eine antifaschistische Tradition gestellt. Fragen von Schuld und Verantwortung konnten auf einzelne ‚verbrecherische Individuen‘ abgewälzt und die Bevölkerung als ehemals machtlose Masse dargestellt werden, die unter der jungen antifaschistischen Diktatur einen neuen Anfang wagen konnte, ohne auf ihre dunkle Geschichte zurückzublicken: „Als Gegenleistung für eine Zustimmung zum Regime ermöglichten die an der Macht stehenden antifaschistischen Helden ihrem Volk, sich als quitt mit seiner Vergangenheit zu betrachten.“7 Ausgehend von der Dimitroff’schen Faschismusdefinition, die ihn als „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“8 _____________ 4

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Die Formulierung stammt von Jeffrey Herf. Sie ist abgeleitet vom Terminus „Judenfrage“, der ohne antisemitische Implikationen „im zeitgenössischen kommunistischen und sozialistischen Denken“ benutzt wurde und als „umfassender Verweis auf die Stellung von Juden in der deutschen und europäischen Gesellschaft“ diente. Jeffrey Herf: Zweierlei Erinnerung. Die NS-Vergangenheit im geteilten Deutschland. Berlin 1998, S. 10. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 91. Vgl. aber auch die von Herf angeführten Beispiele für Nationalsozialisten, die auch in der DDR wieder Funktionen bekleideten (ebd., S. 221–226) und seine zusammenfassende Einschätzung: „Im westdeutschen Regierungsapparat gab es zwar wesentlich mehr ehemalige Nationalsozialisten als im ostdeutschen, aber das Bild eines unbefleckten antifaschistischen, von allen ehemaligen Nationalsozialisten gesäuberten Staats entsprach eher der antifaschistischen Mythologie als der Realität.“ Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 225. Vgl. die Rede Franz Dahlems auf der Gründungskonferenz der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes im Februar 1947, indirekt zitiert bei Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 104. Sonja Combe: „DDR: Die letzten Tage der deutsch-jüdischen Symbiose“. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hg. v. Bernhard Moltmann u. a. Frankfurt a. M. 1993. 137–148, S. 138. Georgi Dimitroff: „Die Offensive des Faschismus und die Aufgaben der Kommunistischen Internationale im Kampf für die Einheit der Arbeiterklasse gegen den Faschismus. Referat auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. 2. August 1935“.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

beschrieb, wurde der deutsche Nationalsozialismus als Faschismus unter ökonomischen Gesichtspunkten interpretiert. In dieses Modell passte die außerordentliche Stellung der Verfolgung und Ermordung des jüdischen Volkes während des ‚Dritten Reiches‘ in mehrfacher Hinsicht nicht: In erster Linie sollte das Gedenken jenen Opfern gelten, die auf Seiten der Sowjetunion zu beklagen waren, dicht gefolgt von den antifaschistischen Widerstandskämpfern. Juden bildeten mit den anderen aus rassischen oder religiösen Gründen Verfolgten eine Kategorie und spielten in dieser Hinsicht eine nur untergeordnete Rolle. Ihr Schicksal eignete sich weder für die Umdeutung von passiven Opfern in aktive Kämpfer und Sieger, wie es das der Widerstandskämpfer nahelegte,9 noch für die Darstellung der Nationalsozialisten als reine „Büttel des Finanzkapitals“: Das Gedächtnis von Opfergruppen, die weder aus politischem Widerstand noch der ökonomischen Ausbeutung, sondern allein ihrer Herkunft wegen von den Nazis zum Tode hin stigmatisiert worden waren, kollidierte mit dem offiziösen, auf dem staatstragenden Antifaschismus beruhenden Selbstverständnis der DDR.10

Zudem schien in der antifaschistischen Ideologie eine besondere Beschäftigung mit der jüdischen Situation in der neuen Gesellschaftsordnung nicht mehr notwendig. Der Sozialismus und später der Kommunismus würden zu einer klassen- und religionslosen Gesellschaft führen, in der rassische wie ethnische Konflikte keine Rolle mehr spielten. Ziel war daher bis in die 1970er Jahre hinein eine möglichst vollständige Assimilation der jüdischen Bevölkerung Ostdeutschlands und die grundsätzliche Überwindung der Religion als „Opium des Volkes“11. Im Gegensatz zur eigenen Entwicklung, die auf einem Bruch mit der deutschen Geschichte bis 1945 beruhte, sah man die Bundesrepublik in der Tradition eben jener gesellschaftlichen Strukturen und Kräfte, die den Westen Deutschlands für eine erneute faschistische Entwicklung disponierte. Während der gesamten Zeit des Bestehens der DDR bestimmten Marginalisierung und Ideologisierung die Auseinandersetzung mit dem Holocaust und mit der eng daran anschließenden ‚jüdischen Frage‘. Trotzdem können Wandlungen und Entwicklungen im öffentlichen Um_____________ 9 10 11

In: ders.: Gegen Faschismus und Krieg. Ausgewählte Reden und Schriften. Leipzig 1962. 49–136, S. 50. Ein singuläres Ereignis, das Juden als Widerstandskämpfer auswies, war der Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Im kollektiven Gedächtnis der DDR kam ihm darum eine herausragende Position zu. Dan Diner: „Zur Ideologie des Antifaschismus“. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hg. v. Bernhard Moltmann u. a. Frankfurt a. M. 1993. 21–29, S. 27. Karl Marx: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung“. In: ders. u. Friedrich Engels: Werke. Bd. 1. Berlin 1976. 378–391, S. 378.

Hierarchien und Konkurrenzen innerhalb der Opfergruppen

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gang mit dem Thema konstatiert werden, denn: „Die Geschichte des DDR-Umganges mit dem Holocaust und damit mit ihrer jüdischen Minderheit war keine lineare. Er war kein gradliniger Weg, sondern ein mehrfach gebrochener Pfad mit verschiedenen Phasen und Etappen.“12 Da hierzu mittlerweile detaillierte Untersuchungen vorliegen, sollen diese Perioden im Folgenden lediglich in aller Kürze nachvollzogen werden. 1.2. Hierarchien und Konkurrenzen innerhalb der Opfergruppen Von 1945 bis 1949 bestimmten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die Konfrontation der Deutschen mit den Verbrechen der Nationalsozialisten und die Entschädigung der Opfer die öffentliche Debatte. In den ersten Monaten nach Kriegsende informierte die Presse die Bevölkerung über die grauenhaften Vorgänge in den Konzentrationslagern des ‚Dritten Reiches‘. Diese ausführliche Berichterstattung verfolgte vor allem die Nürnberger Prozesse, wobei die besondere Aufmerksamkeit nicht der Judenverfolgung, sondern den Verbrechen gegen die Sowjetunion galt.13 In den Jahren 1945 bis 1948 diskutierte man bezüglich der ‚Opfer des Faschismus‘ ausführlich Formen der Wiedergutmachung und des offiziellen Gedenkens. Dabei bildete sich schon früh eine Hierarchie der Opfergruppen heraus: Opfer des Faschismus sind Millionen Menschen, sind alle diejenigen, die ihr Heim, ihre Wohnung, ihren Besitz verloren haben. Opfer des Faschismus sind die Männer, die Soldat werden mußten und in die Bataillone Hitlers eingereiht wurden, sind alle, die für Hitlers verbrecherischen Krieg ihr Leben lassen mußten. Opfer des Faschismus sind die Juden, die als Opfer des faschistischen Rassenwahns verfolgt und ermordet wurden, sind die Bibelforscher und die ‚Arbeitsvertragssünder‘. Aber so weit können wir den Begriff ‚Opfer des Faschismus‘ nicht ziehen. Sie haben alle geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft! Diesen Menschen wird und muß im Rahmen der allgemeinen Fürsorge geholfen werden.14

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Olaf Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“. In: Olaf Groehler u. Mario Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR. Hefte zur DDR-Geschichte 26. Berlin 1995. 5–31, S. 5. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 89. „Erste Vollsitzung des Hauptausschusses ‚Opfer des Faschismus‘“. Deutsche Volkszeitung. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands 17 (1.7.1945): 4. Einem späteren Beschluss zufolge wurden auch die rassisch Verfolgten in den Kreis der vom Hauptausschuss betreuten Personengruppen aufgenommen. Eine besondere Abteilung kümmerte sich um „Sternträger, Mischlinge, Kinder und Frauen, auch ‚arische‘, von getöteten Sternträgern“. Vgl. „Juden sind auch Opfer des Faschismus. Arbeitsprogramm der antifaschistischen Kämpfer“. Deutsche Volkszeitung. Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschland 91 (26.9.1945): 3. Allerdings kamen den rassisch Verfolgten im Gegensatz zu den Widerstandskämpfern nur

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

Diese Differenzierung zwischen jenen, die wegen ihres ‚aktiven‘ (kommunistischen) antifaschistischen Widerstandskampfes im ‚Dritten Reich‘ verfolgt worden waren und jenen, die aus rassischen oder religiösen Gründen zu ‚passiven‘ Opfern des Nationalsozialismus wurden, vollzieht der Hauptausschuss ‚Opfer des Faschismus‘ bereits auf seiner ersten Vollsitzung am 23. Juni 1945, also nicht einmal zwei Monate nach Kriegsende. Sie wird die Auseinandersetzung mit der „jüdischen Frage“ in der DDR in den folgenden Jahren bestimmen. Indem die millionenfach verfolgten und ermordeten Juden mit allen anderen Opfern außer den Kommunisten gleichgesetzt wurden, „blieb das Kernereignis des Nationalsozialismus – die Massentötungen in den Vernichtungslagern – wesentlich ausgespart“15. Obwohl die rassisch Verfolgten in der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN)16 die Majorität ausmachten, wurden sie schon sehr früh an den Rand der Aufmerksamkeit gedrängt. Wenn es bei Jeffrey Herf heißt: „Die Juden waren Konkurrenten um knappe politische und emotionale Ressourcen“17, so sind ‚ökonomische‘ noch zu ergänzen, denn nicht umsonst fand die Hierarchisierung der verschiedenen Opfergruppen und die Abwertung der zahlenmäßig größten unter ihnen im Rahmen der Auseinandersetzung um Entschädigungen statt. Die Anerkennung als ‚Opfer des Faschismus‘ hatte in der DDR zahlreiche Maßnahmen der Wiedergutmachung und Förderung zur Folge. Diese Privilegien sollten jedoch jenen vorbehalten bleiben, die nicht nur in der Vergangenheit eindeutig politische Positionen vertraten, sondern auch in Gegenwart und Zukunft loyal gegenüber der jungen ‚Diktatur der Arbeiterklasse‘ auftreten würden.18 Als Ergebnis der intensiven Auseinandersetzungen um die Anerkennung und Entschädigung der Juden als Opfer des Faschismus seit 1945 wurde in der „Anordnung zur Sicherung der rechtlichen Stellung der anerkannten Verfolgten des Naziregimes“ am 5. Oktober 1949 die Hierarchisierung zwischen „Kämpfern“ und „Opfern“ festgeschrieben, eine Rückgabe jüdischen Eigentums an Einzelpersonen oder jüdische Organisationen ausgeschlossen und die _____________ 15 16 17 18

bestimmte Hilfsmaßnahmen zugute. Vgl. auch Ulrike Offenberg: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945–1990. Berlin 1998, S. 45. Diner: „Zur Ideologie des Antifaschismus“, S. 21. Im März 1947 waren von 20.000 anerkannten Opfern des Faschismus 11.000 rassisch Verfolgte und 9.000 politische Kämpfer. Vgl. Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“, S. 9. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 52. Siehe z. B. die Richtlinie der Deutschen Verwaltung für Arbeit und Sozialfürsorge vom Januar 1947, die u. a. besagte, dass gewährte Leistungen widerrufen werden konnten, „wenn ein Begünstigter, ob Kämpfer oder Opfer, der ‚Aufforderung, sich für den Aufbau eines antifaschistischen demokratischen Deutschlands einzusetzen, ohne triftigen Grund nicht‘ nachkam“; Herf: Zweierlei Erinnerung, 107 f.

Hierarchien und Konkurrenzen innerhalb der Opfergruppen

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Gewährung der Leistungen von politischem Wohlverhalten abhängig gemacht.19 Seit ihrer Anerkennung als ‚Opfer des Faschismus‘ kamen jüdische Überlebende in der DDR in den Genuss von Vergünstigungen, die u.a. das herabgesetzte Rentenalter und eine Rente umfassten, die vergleichsweise hoch, jedoch geringer als die der kommunistischen Widerstandskämpfer, ausfiel.20 Auch die Auseinandersetzungen um Formen des Gedenkens fanden unter ähnlichen Vorzeichen statt. Am Beispiel der Gedenkstätte im Konzentrationslager Buchenwald zeigt sich, wie in der offiziellen Politik eine Umdeutung der Opfer des Nationalsozialismus in Kämpfer und Sieger vollzogen wurde. Als bezeichnend kann in diesem Zusammenhang „die spätestens seit 1947 kanonische Geschichtsgeschichte von der Selbstbefreiung des KZ Buchenwald am 11.4.1945 unter Führung der illegalen, überwiegend kommunistisch zusammengesetzten Lagerleitung“21 gelten. Dieser Mythos wurde von Bruno Apitz in seinem Roman Nackt unter Wölfen am Ende der 1950er Jahre an die Rettung eines jüdischen Kindes geknüpft und ging als Schullektüre ins kollektive Gedächtnis ein: Das Leiden der Juden endete mit dem Sieg des antifaschistischen Kampfes und der Errichtung eines sozialistischen Staates.22 „Vom Sterben durch Kämpfen zum Sieg“ – das Leitmotiv der Ausstellung in Buchenwald – lässt den Tod als Durchgangsstadium und Voraussetzung für ein besseres Leben in der Zukunft erscheinen.23 Als zentrales Emblem der Gedenkstätte diente bis 1950 das rote Dreieck – ehemals Kennzeichen der politischen Häftlinge –, und die „Straße der Nationen“, Teil des 1958 eingeweihten Mahnmals in Buchenwald, erinnerte an Opfer unterschiedlichster Herkunft; unter den _____________ 19 20 21

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Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 117. Vgl. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 100; sowie Manfred Hantke: Zur Bewältigung der NSVergangenheit in der DDR. Defizite und Neubewertungen. Hg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1989, S. 57. Volkhard Knigge zufolge entstand dieser Mythos erst einige Zeit nach Kriegsende, denn noch 1946 wurde zum ersten Jahrestag den Amerikanern für die Befreiung des KZ gedankt. Vgl. Volkhard Knigge: „Antifaschistischer Widerstand und Holocaust. Zur Geschichte der KZ-Gedenkstätten in der DDR“. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hg. v. Bernhard Moltmann u. a. Frankfurt a. M. 1993. 67–77, S. 69. In der Deutschen Volkszeitung findet sich allerdings bereits am 22. August 1945 der Augenzeugenbericht eines politischen Häftlings unter dem Titel: „Die Selbstbefreiung des KZ Buchenwald“. Deutsche Volkszeitung 61 (22.8.1945): 3. Nach Ursula Heukenkamp findet sich dieses Muster auch in anderen literarischen Werken, die seit Anfang der 1950er Jahre in der DDR entstanden. Vgl. Ursula Heukenkamp: „Jüdische Figuren in der Nachkriegsliteratur der SBZ und DDR“. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hg. v. Bernhard Moltmann u. a. Frankfurt a. M. 1993. 189–203, S. 199. Volkhard Knigge weist darauf hin, dass hier christliche Heilsgeschichte profanisiert und zu einer innerweltlichen gewendet wird. Knigge: „Antifaschistischer Widerstand und Holocaust“, S. 69.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

Pylonen, die 18 Nationalitäten symbolisierten, fand sich jedoch keines für Juden.24 1.3. ‚Antikosmopolitische Säuberungen‘ in den 1950er Jahren Mit dem Beginn des Kalten Krieges und der Stalinisierung der DDR Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre kehrte sich der bis dahin immer noch wohlwollende Umgang mit den jüdischen Überlebenden in eine antisemitische Kampagne nach sowjetischem Vorbild um. Es wurde ein Zusammenhang unterstellt zwischen Judentum, Kapitalismus, Kosmopolitismus und Verbindungen ins kapitalistische Ausland, der alte antisemitische Stereotype in Erinnerung rief.25 Bereits im Frühjahr 1950 vermerkte man bei der Überprüfung von SED-Funktionären, die während der Nazidiktatur ins westliche Ausland emigriert waren, ihre jüdische oder jüdisch-bürgerliche Herkunft.26 Wie schon zuvor im Zusammenhang mit dem Rajk-Prozess in Ungarn, aber auch in Bulgarien und der Tschechoslowakei ging man nun gegen ostdeutsche – vorwiegend jüdische – Kommunisten vor, die während des Krieges Kontakt zu Noel Field hatten, einem amerikanischen Linken in Frankreich, der deutsche Exulanten auf der Flucht nach Mexiko unterstützte. Am 24. August 1950 veröffentlichten das Zentralkomitee (ZK) und die Zentrale Parteikontrollkommission (ZPKK) der SED eine Erklärung über „Verbindungen ehemaliger deutscher politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian Service Comittee Noel H. Field“. Hohe Parteifunktionäre wie Paul Merker, Leo Bauer, Bruno Goldhammer, Lex Ende und Maria Weiterer wurden wegen ihrer Zusammenarbeit mit dem „amerikanischen Agenten“ Field und angeblicher Spionagetätigkeit ihrer Ämter enthoben, aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet.27 Merker, als einziger der genannten nicht jüdischer Abstammung, hatte sich seit den frühen 1940er Jahren für eine umfassende, von ihrem Aufenthaltsort unabhängige Entschädigung jüdischer Verfolgter des Nationalsozialismus und die Inanspruchnahme von Minderheitenrechten eingesetzt. Darüber hinaus betonte er die zentrale Stellung des rassistischen Antisemitismus innerhalb der nationalsozialistischen Ideologie und Poli_____________ 24 25 26 27

Knigge: „Antifaschistischer Widerstand und Holocaust“, S. 73. Herf weist auf die „Schrift über die Judenfrage“ hin, in der schon Karl Marx Juden mit Kapitalismus und Bürgertum identifiziert; Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 26. Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“, S. 15. Vgl. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 139.

‚Antikosmopolitische Säuberungen‘ in den 1950er Jahren

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tik.28 Damit hatte er nicht nur die paradigmatische Opferhierarchie angegriffen, sondern auch das „Stalinsche Nationalitätenprinzip, das den Juden Minderheitenrechte ausdrücklich verweigerte“.29 Den Schauprozessen im November 1952 gegen Rudolf Slánský und andere hochrangige Funktionäre der Kommunistischen Partei in Prag30 folgten die „Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slánský“31, die sich vor allem gegen Paul Merker, bis 1950 selbst Mitglied des Politbüros, richteten. Im „Beschluss des ZK der SED vom 20. Dezember 1952“ heißt es u. a.: Die Entlarvung der Zionisten als einer Agentur des amerikanischen Imperialismus entlarvt zugleich die feindliche Rolle des Agenten Paul Merker in der Deutschen Emigrationsgruppe in Mexiko von 1942 bis 1946. [...] Die von dem Genossen Alexander Abusch mit vielen Beiträgen von Paul Merker, André Simone und des Genossen Erich Jungmann in Mexiko herausgegebene Zeitschrift „Freies Deutschland“ entwickelte sich immer mehr zu einem Publikations-Organ zionistischer Auffassungen. [...] Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß Merker ein Subjekt der USA-Finanz-Oligarchie ist, der die Entschädigung der jüdischen Vermögen nur forderte, um dem USA-Finanz-Kapital das Eindringen in Deutschland zu ermöglichen. [...] Merker fälschte die aus den deutschen und ausländischen Arbeitern herausgepreßten Maximal-Profite der Monopol-Kapitalisten in angebliches Eigentum des jüdischen Volkes um. In Wirklichkeit sind bei der Arisierung dieses Kapitals nur die Profite „jüdischer“ Monopol-Kapitalisten in die Hände „arischer“ Monopol-Kapitalisten übergewechselt.32

Daraufhin wird das Fazit gezogen: „Die Entlarvung und Unschädlichmachung von Agenten wie Merker ist für die Partei heute von größter Wichtigkeit. In der Periode des sozialistischen Aufbaus kann die Partei keine Abweichungen, keine doppelten Meinungen in ihren Reihen dulden.“33 _____________ 28 29 30

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Vgl. Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“, S. 11 f. Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“, S. 12. Im Prozess gegen Rudolf Slánský, 1945–1951 Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, und andere hochrangige Kommunisten wurden 14 Angeklagte, hiervon 11 jüdischer Herkunft, wegen „titoistischer“ und „zionistischer Umtriebe“ für schuldig befunden. Drei von ihnen erhielten lebenslange Haftstrafen, die anderen elf wurden zum Tode verurteilt und am 30. November 1952 hingerichtet. Der Beschluss wurde am 4. Januar 1953 im Neuen Deutschland veröffentlicht. Auszüge hieraus finden sich in: Olaf Groehler u. Mario Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR. Hefte zur DDR-Geschichte 26. Berlin 1995, S. 5–31 u. 57–60. Dokument Nr. 2 in: Groehler u. Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR, S. 57 f. Dokument Nr. 2 in: Groehler u. Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR, S. 60.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

Paul Merker wurde im Dezember 1952 verhaftet, blieb bis zum März 1955 in Untersuchungshaft und wurde in einem geheimen Prozess am 29. und 30. März 1955 zu acht Jahren Haft verurteilt. Obwohl er 1956 aus der Haft entlassen und freigesprochen wurde, konnte er nie in seine politischen Ämter zurückkehren.34 An seinen Ansichten zur jüdischen Problematik hielt er auch nach seiner Rehabilitierung fest, bezog hierzu allerdings nie wieder öffentlich Stellung.35 Der Fall Merker aber war nur das prominenteste Beispiel dieser Vorgehensweise gegen Kommunisten in den eigenen Reihen. Am 21. Januar 1953 veröffentlichte das Neue Deutschland die Erklärung des Zentralvorstandes der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, in der über den „Ausschluß zionistischer Agenten aus der VVN“ berichtet wird. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlin und des Verbandes Jüdischer Gemeinden in der DDR, Julius Meyer, und die Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinden Leipzig (Helmut Lohser), Erfurt (Günther Singer) und Dresden (Leo Löwenkopf) seien als „zionistische Agenten“ entlarvt worden und nach Westberlin geflüchtet. Am 23. Februar 1953 löste das Politbüro die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ als Organisation gänzlich auf.36 Auf diese Weise wurde die einzige Organisation, in der rassisch Verfolgte ihre Interessen vertreten konnten, durch ein Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer ersetzt. Die ‚antikosmopolitischen Säuberungsaktionen‘ standen in einem engen Zusammenhang mit sowjetischen Vorgaben, können aber nicht allein aus antisemitischen Ressentiments hergeleitet werden. So kommen auch Vertreter des jüdischen Weltkongresses und des State Departments in ihrem Abschlussbericht vom 14. April 1953 zu der Einschätzung, „daß die antisemitische Kampagne in Ostdeutschland und in anderen kommunistischen Ländern nicht auf einem rassisch oder religiösen Antisemitismus beruht“, sondern eher auf „politischer Zweckdienlichkeit“ und „auf einem Mißtrauen gegenüber den jüdischen Elementen, weil sie westlich eingestellt sind“.37 Hierfür spricht auch, dass die Kampagne offensichtlich ausschließlich Personen betraf, die „sowohl aktive Kommunisten wie aktive _____________ 34 35 36

37

Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 185. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 188. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 160. Groehler weist darauf hin, dass die Auflösung der VVN sich nicht nur gegen die Interessenvertretung rassisch Verfolgter richtete, sondern auch gegen eine „Überbewertung des inneren Widerstandes von Kommunisten (im Vergleich zur Moskauer Emigration) wie auch gegen eine Unterschätzung der Befreiungs- und Führungsmission der Sowjetunion“. Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“, S. 21 f. Abschlussbericht des Jüdischen Weltkongresses und des State Departments vom 14. April 1953; zit. n. Groehler: „Antifaschismus und jüdische Problematik in der SBZ und der frühen DDR“, S. 22.

‚Antikosmopolitische Säuberungen‘ in den 1950er Jahren

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Juden“ waren.38 Dessen ungeachtet verließ bis 1957 fast die Hälfte der jüdischen Bevölkerung die DDR.39 Es ist offensichtlich, dass die politischen Machtkämpfe der 1950er Jahre nicht von der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu trennen waren. Für die politische Führung der DDR galt es nicht nur, Gegenwart und Zukunft, sondern auch Vergangenheit und Geschichtsschreibung ideologisch zu besetzen. Waren am Ende der 1940er Jahre erste Überblicksdarstellungen zum Schicksal der Juden während des Nationalsozialismus entstanden,40 so erstarb in den 1950er Jahren auch die historische Beschäftigung mit der Judenverfolgung. Bis in die 1960er Jahre hinein ist das Schicksal der Juden während des Nationalsozialismus weder ein Thema der öffentlichen Erinnerungspolitik noch der Geschichtswissenschaft. So stellt Olaf Groehler in bezug auf die DDRGeschichtsschreibung fest: Als Walter Bartel 1955 den Entwurf des ersten Hochschullehrerbuches über die NS-Zeit veröffentlichte, war die Rede von vier Millionen Ermordeten aus vielen Ländern Europas und der USA im Konzentrationslager Auschwitz, ohne daß das Wort Jude überhaupt gebraucht wurde oder fiel.41

Und selbst bereits erschienene Publikationen über jüdischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus wie „Widerstand in Auschwitz“, herausgegeben 1949 von Bruno Baum,42 wurden 1953 als „nicht mehr zeitgemäߓ betrachtet und aus den Bibliotheken entfernt.43 Erst die Entstalinisierung, die Ende der 1950er Jahre einsetzte, ermöglichte auch eine Öffnung der Diskussion und eine Beschäftigung mit den Leiden der jüdischen Bevölkerung im NS-System.

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Julius Meyer, bis 1953 Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlins und des Verbandes Jüdischer Gemeinden in der DDR, in den Verhören durch die amerikanischen Behörden; zit. n. Groehler u. Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR, S. 22. Groehler u. Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR, S. 19. Beispielsweise Siegbert Kahn: Antisemitismus und Rassenhetze. Eine Übersicht über die Entwicklung in Deutschland. Berlin 1948; Stefan Heymann: Marxismus und Rassenfrage. Berlin 1948. Olaf Groehler: „Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR“. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hg. v. Bernhard Moltmann u. a. Frankfurt a. M. 1993. 47–65, S. 52. Bruno Baum: Widerstand in Auschwitz. Bericht der internationalen antifaschistischen Lagerleitung. Berlin, Potsdam 1949. Groehler u. Keßler: Die SED-Politik, der Antifaschismus und die Juden in der SBZ und der frühen DDR, S. 25.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

1.4. Instrumentalisierung des Holocaust im Kalten Krieg Spielte die besondere Problematik der Judenverfolgung innerhalb der offiziellen Erinnerungspolitik der DDR nur eine marginale Rolle, so nutzte die SED-Führung das Potential des Themas in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Ging man in der DDR davon aus, durch die Beseitigung des kapitalistischen Systems dem Faschismus und damit auch dem Antisemitismus die Grundlage entzogen zu haben, so musste in der Umkehrung das kapitalistische Westdeutschland als Nährboden neofaschistischer Tendenzen angesehen werden. Dementsprechend aufmerksam verfolgte man in Ostdeutschland antisemitische Vorkommnisse jenseits der Grenze und nutzte diese für eigene Interessen. Für die Propaganda gegen die Bundesrepublik Deutschland wurde eigens der „Ausschuß für Deutsche Einheit“ geschaffen, der seine Arbeit 1954 aufnahm und in seinen ersten Veröffentlichungen vor allem Fälle von Antisemitismus und faschistische Tendenzen in der BRD dokumentierte.44 Diese Kampagne erhielt 1959 einen erneuten Aufschwung, als es zu Synagogenschändungen in Düsseldorf und Köln und im Anschluss daran zu zahlreichen Vorfällen in der ganzen Bundesrepublik kam.45 Darüber hinaus existierte im Politbüro seit 1959/60 eine „Kommission für gesamtdeutsche Arbeit“, nach dem Mauerbau 1961 nur noch als „Westkommission“ bezeichnet, die für SED-Propagandaarbeit gegen die Bundesrepublik zuständig war.46 Zu ihren Aufgaben zählte unter anderem die „Entwicklung des Widerstandes gegen antidemokratische Maßnahmen, Faschisierung und Kriegsvorbereitung der Bonner Regierung“47. Ziel der Propaganda nach innen und außen war es, auf der Folie der potentiell faschistischen Bundesrepublik als das ‚bessere Deutschland‘ zu erscheinen, in dem ‚der Faschismus samt seiner Wurzeln‘ erfolgreich ‚ausgerottet‘ worden war. Einen aktuellen Impuls erhielt diese nach Westen gerichtete Aufmerksamkeit durch die Berichterstattung über den sogenannten EichmannProzess zu Beginn der 1960er Jahre, die in Ost- wie Westdeutschland von _____________ 44 45 46

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Vgl. Jutta Illichmann: Die DDR und die Juden. Die deutschlandpolitische Instrumentalisierung von Juden und Judentum durch die Partei- und Staatsführung der SBZ/DDR von 1945 bis 1990. Frankfurt a. M. 1997, S. 138. Von Weihnachten 1959 bis Ende Januar 1960 zählte die Bundesregierung 470 „antisemitische und nazistische Vorfälle“. Vgl. Die antisemitischen und nazistischen Vorfälle in der Zeit vom 25. Dezember 1959 bis zum 28. Januar 1960. Hg. v. der Bundesregierung. Bonn 1960, S. 14. Vgl. Jochen Staadt: Die geheime Westpolitik der SED 1960–1970. Berlin 1993, S. 27. Vorsitzender der Westkommission war zu jener Zeit Albert Norden, der 1904 als Sohn eines schlesischen Rabbiners geboren und bereits 1921 Mitglied der KPD, bis 1981 für die Westarbeit der SED verantwortlich war. Vgl. Jochen Staadt: Die geheime Westpolitik der SED 1960–1970, S. 31.

Instrumentalisierung des Holocaust im Kalten Krieg

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einer breiten Öffentlichkeit rezipiert wurde. Im Zeichen des Kalten Krieges nutzte die DDR-Presse darüber hinaus Informationen über „die intellektuelle Urheberschaft von Adenauers Staatssekretär Hans Globke an den Nürnberger Rassegesetzen“, um erneut historische Konstanten zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und der zeitgenössischen Bundesrepublik herzustellen: „Globke ist der Eichmann von Bonn“ lautete die Schlagzeile im Neuen Deutschland vom 29.7.196048 und leitete eine monatelange Kampagne ein, die jene gegen den Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer im gleichen Jahr und die 1965 folgende gegen den Bundespräsidenten Heinrich Lübke noch übertraf. Das Hauptaugenmerk der SED-Führung richtete sich darauf, den Prozess gegen Eichmann nicht zum Anlass zu nehmen, eine Diskussion über die ‚Kollektivschuld‘ der Deutschen aufkommen zu lassen, sondern allein Nationalsozialisten zu identifizieren, die in Westdeutschland Führungspositionen inne hatten, um zu beweisen, dass von der Bundesrepublik eine aktuelle Gefahr des ‚Faschismus‘ ausging: Es gilt auch, die Bonner Lüge zu widerlegen, als ginge es im Zusammenhang mit dem Eichmann-Prozeß und bei der Bewältigung der Vergangenheit um die ‚Kollektivschuld‘ der Deutschen, als säßen ‚alle Deutschen‘ mit auf der Anklagebank oder als ginge es um die ‚kleinen Nazis‘. Ohne die Verantwortung von Millionen Deutschen zu leugnen, die nicht auf die Warnung der Kommunisten hörten, sondern sich nationalsozialistisch verblenden ließen, muß man klar sagen: Heute geht es ausschließlich darum, die Hauptschuldigen, die Stützen des Nazi-Regimes, die großen, unverbesserlichen Verbrecher, die skrupellos neue Verbrechen vorbereiten, aus der Politik auszuschalten und abzuurteilen. [...] Im Interesse des Ansehens der deutschen Nation muß auch in Westdeutschland die Vergangenheit bewältigt werden, so wie das in der DDR längst geschah.49

Die im August 1961 erbaute Mauer – als Grenzsicherung nach innen bis zum November 1989 in erster Linie dazu bestimmt, die Flucht von DDRBürgern in den Westen zu verhindern – wurde in diesem Zusammenhang als „antifaschistischer Schutzwall“ und damit als Sicherung nach außen propagiert, die ein Übergreifen der neofaschistischen Tendenzen aus der Bundesrepublik auf die DDR verhindern sollte. Neben diesen architektonischen Abgrenzungen gegenüber dem anderen Teil Deutschlands kämpfte die DDR-Führung am Anfang der 1960er Jahre vor allem an der ideologischen Front. Der „Ausschuß für Deutsche Einheit“ gab mehrere Hefte heraus, die sich der Aufarbeitung des ‚Falles _____________ 48 49

Vgl. Peter Krause: Der Eichmann-Prozeß in der deutschen Presse. Frankfurt a. M. 2002, S. 317. „Der Eichmann-Prozeß und die unbewältigte Vergangenheit. 5.6.1961”. In: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin [= SAPMO-BArch], DY 30/IV 2/2.028/21; zit. n. Jutta Illichmann: Die DDR und die Juden. Die deutschlandpolitische Instrumentalisierung von Juden und Judentum durch die Partei- und Staatsführung der SBZ/DDR von 1945 bis 1990. Frankfurt a. M. 1997, S. 170.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

Globke‘ widmeten, darunter eines unter dem Titel „Der unaufhaltsame Aufstieg des Hans Maria Globke“ von 1961, das sich vor allem an den „westlichen Leser“ richtete.50 Hierin fanden sich u.a. Fotos von der „Reichskristallnacht“ und aus den Vernichtungslagern, die „in keinem in der DDR erhältlichen Druckerzeugnis in vergleichbarem Umfang veröffentlicht worden“ waren.51 Die klare Instrumentalisierung des Holocaust für gegenwärtige politische Zwecke, in diesem Fall für den Angriff auf den politischen Gegner, wird hier abermals offensichtlich. Nachdem es der DDR-Regierung nicht gelungen war, in den Eichmann-Prozess so einzugreifen, dass eine Mitschuld Globkes an der Judenvernichtung der Nationalsozialisten thematisiert oder bewiesen werden konnte, beschloss das Politbüro 1963, Hans Globke selbst vor dem Obersten Gericht der DDR den Prozess zu machen.52 In diesem Strafverfahren sollte der eigentliche Angeklagte aber nicht die Person oder der Staatssekretär Globke sein, sondern das ‚Bonner Regime‘ als Ganzes; der Prozess müsse eine „Generalabrechnung mit der Bonner Bundesregierung und ihrer Politik“53 werden. Entsprechend wurden Nebenklagen zur Durchsetzung finanzieller Ansprüche grundsätzlich ausgeschlossen.54 Globke wurde am 23. Juli 1963 in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt. Auch die Außenpolitik gegenüber Israel war vom Vorurteil des Imperialismus und Zionismus bestimmt. Im Gegensatz zur Bundesrepublik hatte die DDR zu keiner Zeit Entschädigungen an Israel gezahlt. Die Nahostpolitik der DDR gründete sich über vierzig Jahre hinweg auf die Unterscheidung zwischen den von den Nationalsozialisten verfolgten europäischen Juden während des Zweiten Weltkrieges und dem gegenwärtigen „imperialistischen Stützpunkt Israel“.55 Nach seinem Staatsbesuch in Ägypten 1965 unterstrich Walter Ulbricht diese Differenzierung in einem Rundfunkinterview: „Wir haben niemals das Problem des Staates Israel mit dem Problem der Sühne und Wiedergutmachung für das von dem _____________ 50 51 52 53 54 55

Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 154 f. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 155. Vgl. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 174. Albert Norden an Josef Streit, Arne Rehahn und Lamberz vom 4.5.1963. In: SAPMOBarch, DY 30/IV 2/2.028/119, Hervorh. im Original; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 175. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 175. Erst nach der ‚Wende‘ gab die demokratisch gewählte Regierung 1990 Erklärungen ab, in denen die Verantwortung des „gesamten deutschen Volkes für die Vergangenheit“ – und damit auch der DDR – für die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden anerkannt und die Bereitschaft zu Wiedergutmachungsleistungen bezeugt wurde; darüber hinaus wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der (noch existierenden) DDR zu Israel angestrebt. Vgl. „Die Regierung de Maizière im Amt“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.4.1990) und „Nach Schulderklärung folgt viel Skepsis. In: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung (15.2.1990).

‚Sozialistische Staatsbürger jüdischen Glaubens‘

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verbrecherischen Hitlerregime den jüdischen Bürgern Deutschlands und anderer europäischer Staaten angetane Leid und Unrecht verwechselt.“56 Entsprechend der Außenpolitik der Sowjetunion pflegte auch die DDR seit den frühen 1950er Jahren eine enge Zusammenarbeit mit arabischen Staaten und unterstützte Israels politische Gegner „im Kampf gegen den Imperialismus“.57 Mit Israel unterhielt sie keine staatlichen Beziehungen; nichtsdestotrotz hatte die DDR „das historische und völkerrechtlich begründete Existenzrecht Israels stillschweigend anerkannt“.58 Vollzog sich in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR eine zunehmende Öffnung hinsichtlich der offiziellen Auseinandersetzung mit der Judenverfolgung und -vernichtung zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur einerseits und der Herausbildung gegenwärtiger jüdischer Identitäten innerhalb der ostdeutschen Gesellschaft andererseits, so blieb die DDR-Regierung in einer Frage unerbittlich: Bis 1989 weigerte sie sich trotz politischer Erörterungen auf unterschiedlichsten Ebenen – beispielsweise mit der Isrealitischen Synagogengemeinde Adass Jisroel, mit dem Jüdischen Weltkongress, dem American Jewish Komitee und mit der Jewish Claims Conference –, Wiedergutmachungsverpflichtungen gegenüber dem Staat Israel oder jüdischen Organisationen anzuerkennen. 1.5. ‚Sozialistische Staatsbürger jüdischen Glaubens‘ Innenpolitisch dagegen fanden vom Beginn der 1960er Jahre an in den jüdischen Gemeinden Ostdeutschlands regelmäßig Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Reichspogromnacht statt, die zunehmend auch von Staat und Gesellschaft getragen wurden. In der Gegenwart sah man die Lösung der Frage nach der Stellung von Bürgern jüdischer Herkunft oder Religion in möglichst vollständiger Assimilation. Der „Verband der jüdischen Gemeinden“ wurde zunehmend enger an die Partei- und Staatsführung der DDR gebunden. Nach dem Tod des Präsidenten des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR, Herrmann Baden, der der offiziellen DDR-Politik jahrelang distanziert gegenüberstand, übernahm 1962 Helmut Aris die Präsidentschaft, der als SED-Mitglied auch nach außen _____________ 56 57

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Walter Ulbricht: „Rundfunk- und Fernsehinterview ... mit Gerhart Eisler“. In: Dokumente der Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. 30 Bde. Berlin 1955–1985, Bd. 13, S. 875 f. „Glückwunschtelegramm des Präsidenten Wilhelm Pieck an Gamal Abd el-Nasser anlässlich dessen Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Arabischen Republik am 21. Februar 1958“. In: Dokumente der Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik.. 30 Bde. Berlin 1955–1985, Bd. 6, S. 473; zit. n. Herf: Zweierlei Erinnerung, S. 229. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 217.

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die offizielle Parteilinie vertrat: „Geeint im antifaschistischen Selbstverständnis ließen sich nun auch die Jüdischen Gemeinden der DDR im Kampf gegen die Bundesrepublik instrumentalisieren.“59 In der ostdeutschen Nahost-Politik gestaltete sich die Einbindung der jüdischen DDR-Bürger schon schwieriger. Als das Politbüro 1967 eine Stellungnahme jüdischer Bürger zum Sechstage-Krieg verfasste und um Unterschriften warb, stieß es auf Ablehnung innerhalb der jüdischen Gemeinde. Prominente Mitglieder wie der Historiker Heinz Kamnitzer, die Schriftsteller Peter Edel und Arnold Zweig, die Sängerin Lin Jaldati, der Verbandspräsident der Jüdischen Gemeinden Helmut Aris oder der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Ostberlins Heinz Schenk weigerten sich, den vorgefertigten Text zu unterzeichnen, in dem die israelische Regierung mit folgenden Worten aufgefordert wurde, die ‚imperialistischen Aggressionen‘ zu unterlassen: Als Bürger der Deutschen Demokratischen Republik jüdischer Herkunft erheben wir unsere Stimme, um feierlich die Aggression zu verurteilen, der sich die herrschenden Kreise Israels gegen die arabischen Nachbarstaaten schuldig gemacht haben. Wir fühlen uns berechtigt und verpflichtet, unsere Stimme zu erheben; denn wir Bürger der DDR, in der der Antisemitismus ausgerottet und für Antisemiten kein Platz ist, die wir selber unter der Verfolgung des Hitlerfaschismus schwer gelitten haben, beklagen ebenso wie viele Bürger Israels den Verlust zahlreicher Familienangehöriger, gemordet von den deutschen Imperialisten. Wenn die Regierung Israels sich anmaßt, im Namen der Juden zu sprechen, so sei festgestellt, daß die erdrückende Mehrzahl der Juden außerhalb Israels lebt und dieses nicht als ihren Staat betrachtet.60

Mithilfe der Unterschriften von Kurt Goldstein, Chefredakteur des Deutschlandsenders in Ost-Berlin, Lea Grundig, Präsidentin des Verbandes bildender Künstler, Siegbert Kahn, ehemaliger Direktor des Deutschen Wirtschaftsinstituts, Friedrich Karl Kaul, Rechtsanwalt, und Franz Loeser, Hochschullehrer, wurde die Erklärung nichtsdestotrotz am 9.6.1967 als „Erklärung jüdischer Bürger“ im Neuen Deutschland veröffentlicht.61 Die Versuche, die Jüdischen Gemeinden für außenpolitische Interessen der DDR zu instrumentalisieren, setzten sich auch in den 1970er Jahren fort. Im Zuge der Anerkennung durch westliche Staaten rückte das Problem der Wiedergutmachung nationalsozialistischer Verbrechen an _____________ 59 60 61

Vgl. a. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 197. „Erklärung jüdischer Bürger“. In: Neues Deutschland (9.8.1967). Andreas Herzog: „War die DDR antisemitisch? Kritische Anmerkungen zu den Studien einiger Historiker“. In: Hochschule Ost. leipziger beiträge zu hochschule und wissenschaft 1/2 (1999). Sonderheft Jüdische Intellektuelle in der DDR. Politische Strukturen und Biographien. Hg. v. Georg Schuppener, S. 62–74; online abrufbar unter: http://ludens.elte.hu/~aherzog/archiv/ text06.htm.

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den Juden durch die DDR erneut in den Blick. Im Austausch mit ausländischen Organisationen gehörte es nun zu den Aufgaben der Jüdischen Gemeinden, das Bild von der DDR im Ausland aufzubessern und die Ablehnung ausländischer, vor allem israelischer Ansprüche zu rechtfertigen. Entsprechende Kontakte wurden von der SED-Führung organisiert und betreut.62 Zurückhaltend reagierten die jüdischen Gemeinden erneut in der von ihnen eingeforderten Unterstützung der DDR bezüglich ihrer Nahost-Politik. Das Staatssekretariat für Kirchenfragen stellte 1972 fest: In den jüdischen Gemeinden der DDR ist es bis heute noch nicht zu einer Klärung dieser Problematik gekommen. Wir finden immer wieder den Versuch, den Grundfragen auszuweichen und die Politik der DDR gegenüber den arabischen Staaten und dem Staat Israel als falsch zu charakterisieren. Das Wesen des imperialistischen gesellschaftlichen Systems dieses Staates [Israel], das durch die DDR und die sozialistischen Staatengemeinschaft verurteilt wird, wird vom überwiegenden Teil der Bürger jüdischen Glaubens in der DDR nicht anerkannt. Der Staat Israel und der jüdische Glauben werden identifiziert. Hier spielen vor allem persönliche, familiäre, aber auch Fragen des Glaubens und des jüdischen Kultus eine wesentliche Rolle. Die Verurteilung der aggressiven Politik Israels konnte leider nicht erreicht werden, weil die klassenmäßige Einschätzung der konkreten politischen Situation nicht akzeptiert und oder nur zum Teil und verbal aufgenommen wurde.63

Diese Haltung sollte erst zu Beginn der achtziger Jahre aufgeweicht werden und zu einer zumindest grundsätzlichen Übereinstimmung mit der Haltung der Regierung führen. Mit der vor allem in historischen und kulturellen Zusammenhängen geführten Diskussion um ‚Erbe und Tradition‘ rückte die Bewahrung und Pflege jüdischen Kulturgutes ausgerechnet zu einem Zeitpunkt in das öffentliche Bewusstsein, als die ohnehin geringen Mitgliederzahlen der jüdischen Gemeinden dramatisch abnahmen. Bereits 1962 wurde beispielsweise in Leipzig ein Synagogalchor gegründet, dessen Aufgabe einem Schreiben der Abteilung Kultur des Rates Leipzig zufolge in der „Propagierung von weltlichen und geistlichen Musikwerken“ bestand, „deren humanistischer, demokratischer und sozialistischer Inhalt der Pflege des Erbes und des Gegenwartsschaffens entsprechen“. Darüber hinaus sollten „Werke der jüdischen Folklore mit demokratischem Charakter und Werke des antifaschistischen Widerstandskampfes der jüdischen Partisanenbewegung“ in das Repertoire aufgenommen werden. „Künstlerische Zeugnisse des Kampfes und des Leidensweges in den faschistischen Konzentrations_____________ 62 63

Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 225. Staatssekretariat für Kirchenfragen Abt. I: Information zu Problemen der Einbeziehung des Zionismus und jüdischer Bewegungen in die imperialistische Politik. 12.10.1972. In: Bundesarchiv Potsdam, DO-4/6.7/1371, Bl. 22 f.; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 225 f.

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lagern und Ghettos sollen durch eine breitere Öffentlichkeitsarbeit erschlossen werden.“ Auf diese Weise könne man auch den „bürgerlichen Verfälschungen dieser Tradition und der gegenwärtigen jüdischen Kulturleistung“ entgegentreten.64 Der Chor bestand allerdings überwiegend aus nichtjüdischen Mitgliedern. Eine besondere Stellung im öffentlichen Gedenken an den Holocaust nahm in der DDR der 9. November ein, dessen Opfern in Veranstaltungen gedacht wurde, deren Organisation seit 1968 in den Händen der Jüdischen Gemeinden lag. Allerdings wurden sie in Abstimmung mit der Partei- und Staatsführung abgehalten und jährlich dazu genutzt, die Teilnehmer öffentlich ihre „Verbundenheit mit dem sozialistischen Staat DDR“, in dem „der Antisemitismus mit der Wurzel ausgerottet ist“, bekunden zu lassen und gegen „Rassismus und Neofaschismus in kapitalistischen Ländern Stellung zu nehmen“.65 Wurde bis in die 1970er Jahre hinein die Lösung der „jüdischen Frage“ in der vollständigen Assimilation gesehen, änderte sich diese Einstellung am Ende des Jahrzehnts. Von nun an wurde auf den Erhalt der jüdischen Religionsgemeinschaft in der DDR Wert gelegt. Judentum wurde nicht mehr nur im historischen Sinne einer nationalsozialistischen Verfolgung behandelt, sondern eine größere Sensibilität gegenüber der jüdischen Identität prägte die politische Linie. Ein Meilenstein in dieser Entwicklung waren die Gedenkveranstaltungen zum 40. Jahrestag des „faschistischen ‚Kristallnacht‘- Pogroms“. In seinem Schreiben an das Präsidium des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in der DDR betonte Erich Honecker 1978 das gleichberechtigte Zusammenleben aller Bürger unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Religion und Herkunft: Imperialismus und Militarismus, Rassismus und Antisemitismus sind bei uns mit der Wurzel ausgerottet. Durch den Aufbau des Sozialismus gestaltet unser Volk als Herr der eigenen Geschicke sein neues Leben. Daran haben auch die Bürger jüdischen Glaubens einen aktiven Anteil. In der Deutschen Demokratischen Republik sind sie gleichberechtigt und gleichgeachtet. Sie können bei der Ausübung ihrer Religion und der Pflege ihrer Traditionen auch weiterhin auf das volle Verständnis unseres Staates und unserer Gesellschaft rechnen.66

Allerdings litten die jüdischen Gemeinden stark unter rückläufigen Mitgliederzahlen und zunehmender Überalterung. Da Judentum in der DDR _____________ 64 65 66

Schreiben des Rates des Bezirkes Leipzig, Abt. Kultur, an Klotz vom 28.8.1975. In: Bundesarchiv Potsdam, DO-4/6.7/1342; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 243 f. Vorlage für das Sekretariat des Zentralkomitees der SED. 4. 10.1978. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV B 2/14/174; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 267. „Unser Staat – eine sichere Heimstatt des Humanismus. Schreiben Erich Honeckers zum 40. Jahrestag der ‚Kristallnacht‘“. Neues Deutschland (9.11.1978): 1.

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als religiöse Identität verstanden wurde, waren nationale oder biografische Zugehörigkeiten zum Judentum als Grundlage der Mitgliedschaft in der jüdischen Gemeinde ausgeschlossen.67 Im atheistischen Umfeld der DDRGesellschaft war das Nachlassen aktiver Religionsausübung jedoch kaum aufzuhalten. Im Moment der schwindenden jüdischen Religionsgemeinschaft entdeckte die DDR die jüdische Kulturgeschichte. In der Folge verlagerte sich die Aufmerksamkeit von der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung hin zur Betonung einer jüdischen Tradition innerhalb der deutschen Geistes- und Kulturgeschichte, die, von 1933 bis 1945 unterbrochen, in der DDR wiederentdeckt und fortgeführt werden würde: „Die von den Nationalsozialisten unterbrochene Emanzipation der Juden, so das offizielle Geschichtsbild, wurde in der sozialistischen Gesellschaftsordnung der DDR verwirklicht.“68 Neben dieser erklärten ‚Bewältigung‘ der Vergangenheit wurde die Diskussion um die Verantwortung der Mehrheit des deutschen Volkes für den nationalsozialistischen Holocaust zeitgleich von anderer Seite angestoßen: Die Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung in der DDR veröffentlichte wiederum zum 9. November 1978 ein Wort an die Gemeinden, in dem erstmalig ein Schuldanerkenntnis formuliert wird: Auf unserem Volk liegt die Last einer großen Schuld. Die Vorgänge am 9. November 1938 stießen damals in weitesten Kreisen auf bedrückendes Schweigen, erschreckende Gleichgültigkeit oder offene Billigung. [...] In diese Vorgänge waren auch die Kirchen und Gemeinden verwoben. Viele Christen verhielten sich so, wie es von den Machthabern erwartet wurde. Die Kirchen brachten nicht den Mut zum deutlichen Protest auf. [...] Diese Schuld erledigt sich nicht dadurch, daß wir sie verdrängen, verschweigen oder unsere Mitverantwortung bestreiten.69

Diese Erklärung stand am Beginn eines christlich-jüdischen Dialogs in der DDR, der jenseits der SED-Politik bis zum Ende der 1980er Jahre Fragen des Judentums in Vergangenheit und Gegenwart thematisierte. Eine erneute Debatte um Schuld und Verantwortung spiegelt sich hier wider, die _____________ 67

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Die Jüdische Gemeinde in Berlin versuchte, diesem Problem entgegenzutreten, indem sie 1986 eine vorsichtige Öffnung für nicht-religiöse Mitglieder vollzog. In diesem Zusammenhang gründete sich die Gruppe „Wir für uns“, die es sich zur Aufgabe machte, „‚biografischen Juden‘ auch die Möglichkeit zu bieten, sich Kenntnisse bezüglich aller Aspekte des Judentums anzueignen“, und 1990 zur Gründung des „Jüdischen Kulturvereins“ führte. Vgl. Erica Burgauer: Jüdisches Leben in Deutschland (BRD und DDR). 1945–1990. Diss. Zürich 1992, S. 184 f. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 313. Wort der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitung in der DDR an die Gemeinden anlässlich des 40. Jahrestages der Reichspogromnacht vom 24. September 1978. Abgedruckt in: Siegfried Theodor Arndt: „Das christlich-jüdische Gespräch in der Deutschen Demokratischen Republik“. In: Juden in der DDR. Arbeitsmaterialien zur Geistesgeschichte. Bd. 4. Hg. v. Julius H. Schoeps. Köln 1988. 11–62, Zitat S. 54 f.

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bald über den engen kirchlichen Kreis hinauswirkte. Mit ihr ging auch eine Sensibilisierung gegenüber antisemitischen Tendenzen in der gegenwärtigen DDR einher. Entsprechende Vorkommnisse wurden von der Regierung allerdings verschwiegen, da sie in das Selbstbild eines sozialistischen Staates und seiner Bürger nicht passten und man der westlichen Presse keine Angriffsfläche bieten wollte. Statt dessen wurde weiterhin ausgiebig über antisemitische Vorfälle in der Bundesrepublik berichtet.70 Die SED-Führung wich darüber hinaus nicht von ihrer Sicht ab, die Grundlagen für Antisemitismus seien in der sozialistischen Gesellschaft überwunden, und stellte sich weiterhin ausschließlich in die Reihe antifaschistischer Traditionen. Mit der Wiedereröffnung der renovierten Synagoge in der Rykestraße im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg am 10. November 1978 entstand eine Ausstellung, die unter dem Titel „Gedenke!, Vergiß nie! 40. Jahrestag des faschistischen ‚Kristallnacht‘Pogroms“ erstmalig die nationalsozialistische Verfolgung der Juden explizit zum Gegenstand hatte.71 Zehn Jahre später, zum 50. Jahrestag, fand unter dem ähnlichen Titel: „Und lehrt sie: Gedächtnis!“ eine Ausstellung im Ephraim-Palais in Berlin statt, die die kulturellen Beiträge der Juden seit der römischen Antike, über Mittelalter und Aufklärung in Deutschland bis in die Gegenwart herausstellte72 und ein wirklicher „Publikumserfolg“ wurde.73 Die vom Ministerium für Kultur, dem Staatssekretär für Kirchenfragen und vom Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR organisierte Ausstellung lässt die nationalsozialistische Judenverfolgung 1933-1945 nun nicht als Bruch, sondern als Unterbrechung der deutsch-jüdischen Tradition erscheinen.74 _____________ 70 71

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Vgl. die zahlreichen Beispiele in Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 255. Gedenke!, Vergiß nie! 40. Jahrestag des faschistischen „Kristallnacht“-Pogroms. Hg. v. Verband der Jüdischen Gemeinden in der DDR. Berlin (Ost) 1979. Vgl. dazu auch: Manfred Faßler: „Versöhnung heißt Erinnerung. Juden in der DDR und Kirchlich-jüdischer Dialog“. In: Kirche im Sozialismus 11.3 (1985): 103–111. Vgl. Georg Lenzner u. Dietmar Eisold: „Ausstellung ‚Und lehrt sie: Gedächtnis!‘ Dokumentarische Botschaft von bedrängender Klarheit. Eindrücke beim Rundgang durch das Ephraim-Palais in Berlin“. In: Neues Deutschland (17.10.1988): 3. So berichtet ein Artikel in der Berliner Zeitung im Februar 1989, dass die Ausstellung wegen des großen Besucherandrangs – „60 000 Besucher in acht Wochen“ – verlängert werden musste. Rüdiger Rätzke: „Hat die DDR erst jetzt die Juden entdeckt?“ In: Berliner Zeitung (18./19.2.1989): 9. Diese Art der Darstellung wurde allerdings schon länger betrieben. So heißt es bspw. in der Konzeption zum Wiederaufbau der „Neuen Synagoge“ 1986: „Die völlige Emanzipation der Juden in unsere sozialistische Gesellschaft als DDR-Bürger jüdischen Glaubens bildet den Endpunkt einer jahrhundertelangen emanzipatorischen Entwicklung, die durch die Barbarei des Faschismus jäh und grausam unterbrochen wurde. Die deutsche Arbeiterbewegung hat niemals Antisemitismus gekannt, sondern ihn stets bekämpft und in allen Etappen ihrer Entwicklung die Emanzipation und Integration unterstützt.“ Staatssekretariat für Kirchenfragen am 17.3.1986. Konzeption zum Wiederaufbau der „Neuen Synagoge“ in

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Sie dienten auch hier dazu, auf den historischen Kampf der Kommunisten zu verweisen. Eine Sonderausgabe der „Roten Fahne“ vom November 1938 belegt, dass sich die revolutionäre deutsche Arbeiterbewegung von Beginn an gegen den aufkommenden Antisemitismus eingesetzt habe. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs habe die DDR mit der Aufführung von Lessings Drama Nathan der Weise zur Eröffnung des Deutschen Theaters wieder an die Traditionen der Aufklärung angeknüpft. Wie bereits Jutta Illichmann festgestellt hat, erscheint die DDR in der Ausstellung als Ort der „Verwirklichung der Emanzipation der Juden“.75 So besteht in der „Einheit von Kommunisten, Sozialdemokraten, Bürgern jüdischen Glaubens und anderer Antifaschisten“76 das „letzte Kapitel deutsch-jüdischer Geschichte“77 – und nicht im nationalsozialistischen Genozid. Unter dem Druck der eigenen Ansprüche, vor allem aber der zahlreichen Proteste aus dem In- und Ausland sah sich die DDR-Regierung in den 1980er Jahren gezwungen, weitere Zugeständnisse zu machen. So verzichtete sie 1986 auf den bereits geplanten Bau einer Straße über den jüdischen Friedhof in Berlin-Weissensee, gab die Konzeption des Museums für jüdische Geschichte in Auftrag und begann mit der Renovierung der großen Synagoge in der Oranienburger Straße. 1986 willigte das für religiöse Gemeinschaften zuständige Staatssekretariat für Kirchenfragen ein, einen amerikanischen Rabbiner für die jüdische Gemeinde einzusetzen, nachdem sich das American Jewish Comittee seit 1984 darum bemüht hatte.78 Von September 1987 an war Isaac Neuman – allerdings für lediglich acht Monate – als Rabbiner für die jüdischen Gemeinden in der DDR tätig.79 Da nach Ansicht des Staatssekretariats für Kirchenfragen die zahlenmäßig schwindenden Jüdischen Gemeinden „objektiv die Erhaltung und Pflege der jüdischen Traditionen, ihres spezifischen Beitrags zur Kultur, Geschichte und Entwicklung unseres Landes wie auch die Lösung von Aufgaben, die sich aus dem ständig wachsenden Interesse – vor allem in westlichen Ländern – an jüdischer Existenz in der DDR ergeben, nicht _____________

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Berlin, Hauptstadt der DDR. SAPMO-BA, DY 30/IV B 2/14/178, Bl. 119; zit. n. Ulrike Offenberg: „Seid vorsichtig gegen die Machthaber“. Die jüdischen Gemeinden in der SBZ und der DDR 1945–1990. Berlin 1998, S. 212. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 249. Lenzner u. Eisold: „Ausstellung ‚Und lehrt sie: Gedächtnis!‘ Dokumentarische Botschaft von bedrängender Klarheit. Eindrücke beim Rundgang durch das Ephraim-Palais in Berlin“, S. 3. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 249. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 237. „Rabbiner für jüdische Gemeinden in der DDR eingetroffen“. Neues Deutschland (14.9.1987): 6.

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mehr gewährleisten“80 konnten, wurde Mitte der 1980er Jahre von staatlicher Seite das Centrum Judaicum ins Leben gerufen, das unabhängig von den Jüdischen Gemeinden in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin seinen Sitz hatte. Anders als die Jüdischen Gemeinden, die sich vor allem als religiöse Organisationen verstanden, zielte die Arbeit des Centrum Judaicum auf die Pflege und den Erhalt des kulturellen Erbes in Form von zentralen Veranstaltungen für Mitglieder aller jüdischen Gemeinden, die der Gemeindearbeit neue Impulse geben, das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken und Geborgenheit vermitteln sollen, sowie von kulturellen Veranstaltungen öffentlicher Art mit literarischen, musikalischen, historischen und anderen wissenschaftlichen Inhalten; weiter die wissenschaftliche Erforschung jüdischer Traditionen, des jüdischen Beitrages zur deutschen Geschichte, zur Kultur- und Menschheitsgeschichte einschließlich des antifaschistischen Widerstandskampfes sowie der historischen Entwicklung des deutschen Judentums und deren museale und publizistische Darstellung.81

Unter Verweis auf die staatliche Institutionalisierung des jüdischen Kulturerbes stellt Jutta Illichmann zusammenfassend fest: Die DDR nahm damit den jüdischen Gemeinden die Verantwortung für die Bewahrung jüdischen Kulturerbes völlig aus der Hand; durch die Einordnung der jüdischen Gemeinden in die Gesamtkonzeption des Centrum Judaicum wurden sie selbst zu einem Objekt denkmalpflegerischer Bemühungen.82

Als der Ministerrat der DDR im Juni 1988 die „Verordnung über die Errichtung einer Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“ erließ, wurde als vorrangige Aufgabe „das Andenken an die jüdischen Opfer des deutschen Faschismus“ genannt. Folgten darauf auch das Andenken „an Verfolgung, antifaschistischen Widerstand, Solidarität und Befreiung“,83 so ist es doch bemerkenswert, dass die jüdischen Opfer in der Aufzählung den ersten Rang einnehmen. Im November 1988 konstituierte sich das internationale Kuratorium, dessen Arbeit erst nach dem Untergang der DDR von Erfolg gekrönt wurde: Im Beisein des Bundes_____________ 80 81 82 83

Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abt. II: „Information zu Problemen der jüdischen Gemeinden in der DDR. 21.8.1986“. In: SAPMO-BArch, DY 30/IV B 2/14/178, Bl. 124; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 261. Staatssekretariat für Kirchenfragen, Abt. II: „Information zur „Neuen Synagoge“ in der Oranienburger Straße. 11.1.1986“. In: Bundesarchiv Potsdam, DO-4/6.7/14/1346, Bl. 127; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 262. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 314. Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 13 vom 4.7.1988, S. 145 f.; zit. n. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 263, die allerdings die Meinung vertritt, dass die Hierarchisierung der Opfergruppen auch Ende der 1980er Jahre unverändert fortbesteht: „Die jüdischen Opfer wurden zwar an erster Stelle genannt, aber in eine lange Reihe weiterer Gruppen eingeordnet, deren vorrangige historische Wertschätzung bekannt ist. Daran hatte sich auch 1988 nichts geändert.“ Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 263 f.

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präsidenten des inzwischen wiedervereinten Deutschlands, Roman Herzog, wurden die Neue Synagoge und das Centrum Judaicum am 7. Mai 1995 feierlich eingeweiht. Auch in der historischen Forschung der DDR lässt sich spätestens seit Beginn der 1980er Jahre eine zunehmende Aufmerksamkeit gegenüber der deutsch-jüdischen Geschichte verfolgen; und auch hier änderte sich der Fokus von der Konzentration auf die Jahre der Hitler-Diktatur auf aufklärerische, emanzipatorische und revolutionäre Aspekte: Von 1960–1966 waren im Rahmen der politisch instrumentalisierten Auseinandersetzung mit dem Holocaust erste historische Dokumentationen und Erinnerungsberichte entstanden.84 1973 erschien dann die „erste marxistische Gesamtdarstellung der Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933“85, gefolgt von Kurt Pätzolds Untersuchung „Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung“86, in der er vor allem „nach den ökonomischen, politischen und ideologischen Zwecken der faschistischen Agitation und des Terrors gegen Juden“87 fragte. Am Ende der 1980er Jahre greift Pätzold in seinem gemeinsam mit Irene Runge veröffentlichten Buch Pogromnacht 1938 Aspekte der bisher diskreditierten „bürgerlichen“ Geschichtsschreibung auf, wenn neben den üblichen politischen und ökonomischen auch individual- und massenpsychologische Aspekte des Holocaust benannt werden und festgestellt wird: „Die antijüdischen Maßnahmen der faschistischen Machthaber entsprangen einer in ihren letzten Wurzeln

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1960 erfolgten erste historisch-wissenschaftliche Veröffentlichungen – v. a. Siegbert Kahn über die Reaktion der KPD auf die Reichskristallnacht „Dokumente des Kampfes der revolutionären Arbeiterbewegung gegen Antisemitismus und Judenverfolgung“ (vgl. Groehler: „Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR“, S. 53 f.). Diese jüngste Beschäftigung mit dem Holocaust wurde in den Jahren 1965/66 durch die „gravierenden Einschnitte in der Zeitgeschichtsforschung der DDR“ schon wieder beendet, „als durch Repressionen, Auflösungen von Forschungsgruppen usw. bestimmte theoretische Diskussionen abgebrochen bzw. für viele Jahre stigmatisiert wurden.“ Vgl. Groehler: „Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR“, S. 58. Walter Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- und Traditionsverständnis der DDR“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989). 692–714, S. 701. Gemeint ist hier die Publikation Klaus Drobisch, Rudi Goguel, Werner Müller u. Horst Dohle: Juden unterm Hakenkreuz. Verfolgung und Ausrottung der deutschen Juden 1933–1945. Berlin 1973. Kurt Pätzold: Faschismus, Rassenwahn, Judenverfolgung. Eine Studie zur politischen Strategie und Taktik des faschistischen deutschen Imperialismus (1933–1935). Berlin 1975. Mit der Zeit nach 1945 beschäftigte sich Pätzold 1980 in seinem Aufsatz: „Von der Vertreibung zum Genocid. Zu den Ursachen, Triebkräften und Bedingungen der antijüdischen Politik des faschistischen deutschen Imperialismus“. In: Faschismusforschung, Positionen, Probleme, Polemik. Hg. v. Dietrich Eichholtz u. Kurt Goßweiler. Berlin 1980. 181–208. Walter Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- und Traditionsverständnis der DDR“. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 37 (1989): 692–714, S. 701.

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irrationalen Judenfeindschaft der Nazis und anderer reaktionärer Kräfte“.88 In den 1980er Jahren steigt außerdem die Anzahl der Publikationen, in denen die Autorinnen und Autoren sich mit Fragen des jüdischen Beitrags zur Kultur-, Wissenschafts- und Geistesgeschichte auseinandersetzten und diesen historisch rekonstruierten89; und trotzdem benennt Walter Schmidt noch 1989 in seinem Überblick „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- und Traditionsverständnis der DDR“90 Defizite auf Seiten der Geschichtsschreibung: Die sozialistische Gesellschaft hatte von Beginn an dem Leidensweg jüdischer Menschen unter der faschistischen Diktatur große Aufmerksamkeit geschenkt. Sie hatte die Verfolgten jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft und ihren Widerstand gegen das Naziregime in ihre antifaschistische Traditionspflege fest eingeschlossen. Das hatte jedoch einerseits dazu geführt, daß das besondere Schicksal, das Juden unter dem Nationalsozialismus zu erleiden hatten – im Vergleich etwa mit dem antifaschistischen Kampf der revolutionären Arbeiterbewegung – weniger stark im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert war. Andererseits aber hatte die fast ausschließlich auf die zwölf Jahre der Verfolgung und Vernichtung durch den Faschismus und die historischen Wurzeln des Antisemitismus in der deutschen Geschichte konzentrierte Behandlung der Geschichte der Juden ungewollt auch zur Folge, daß eine Sicht auf das Judentum in der deutschen Geschichte vorherrschend wurde, die mehr von seinen Leiden und Opfern als von seinen Leistungen bestimmt war.91

Er verweist auf die Lehrbücher für den Geschichtsunterricht, die die Judenverfolgung während des Dritten Reiches „meist jedoch relativ knapp“92 behandelten93 und bemängelt darüber hinaus die Unterbelichtung des Anteils von Juden an der Deutschen Geschichte in der groß _____________ 88 89

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Kurt Pätzold u. Irene Runge: Pogromnacht 1938. Berlin (Ost) 1988, S. 49. Schmidt nennt beispielsweise: Heinrich u. Marie Simon: Geschichte der jüdischen Philosophie. Berlin 1984; Rudolf Hirsch u. Rosemarie Schuder: Der gelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen des Judenhasses in der deutschen Geschichte. Essays. Berlin 1987; Kurt Pätzold u. Irene Runge: Pogromnacht 1938. Berlin 1988; Bernt Engelmann: Deutschland ohne Juden. Eine Bilanz. Berlin 1988 [zuerst München 1970]; Ludwig Geiger: Geschichte der Juden in Berlin. Vorwort von Hermann Simon. Leipzig 1988; Heinrich Simon: Das Berliner Jüdische Museum in der Oranienburger Straße. Geschichte einer zerstörten Kulturstätte. Berlin 1988. Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- Traditionsverständnis der DDR“. Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- Traditionsverständnis der DDR“, S. 703. Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- Traditionsverständnis der DDR“, S. 710. Bis 1989 machte die Judenverfolgung im obligatorischen Geschichtsbuch für die 9. Klasse der Polytechnischen Oberschulen ungefähr eine Seite von den mehr als 100 Seiten aus, die sich mit dem Nationalsozialismus befassten; vgl. Manfred Hantke: Zur Bewältigung der NSVergangenheit in der DDR. Defizite und Neubewertungen. Hg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung. Bonn 1989, S. 54.

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angelegten „Deutschen Geschichte: in zwölf Bänden“94, die seit 1982 erschienen war. Der Autor fordert schließlich, „das Geschichtsbild der sozialistischen Gesellschaft in der DDR um die wesentliche Komponente des jüdischen Anteils am gesellschaftlichen Leben in den Jahrhunderten deutscher Geschichte vom Mittelalter bis in die Gegenwart zu erweitern und zu vertiefen“.95 Er zieht eine Traditionslinie revolutionärer Juden von Marx bis zu Paul Singer, Rosa Luxemburg, Anna Seghers, Albert Norden, Alexander Abusch, Gerhart Eisler und endet mit einem Zitat von Karl Kormes, der auf der Historikerkonferenz im April 1988 feststellte, dass die oben genannten „und viele andere auch […] große Beiträge geleistet“ hätten und es „keinen Grund“ gebe, „ihre jüdische Herkunft zu verschweigen“.96 Am Ende der 1980er Jahre trat somit nicht nur der Holocaust in den Fokus der Aufmerksamkeit, sondern es etablierte sich auch eine neue Sensibilität gegenüber jüdischer Identität und jüdischen Traditionen, die bis in die Reihen der SED hineinreichte. Von einer Assimilation, die sich als Loslösung von der jüdischen Herkunft verstand, konnte keine Rede mehr sein. Anerkennung und Wertschätzung traten an ihre Stelle. Entsprechend verzeichnet auch Olaf Groehler in den Jahren 1985/86 eine „umfassende Wiederentdeckung jüdischer Tradition und jüdischen Lebens, die zeitlich fast parallel mit dem Untergang der DDR einhergingen“, und stellt fest: „Hinsichtlich der Aufarbeitung jüdischer Lebens- und Leidensgeschichte waren die Jahre von 1987 bis 1988 jedenfalls die produktivsten in der Geschichtsschreibung der DDR.“97 Ein Jahr vor dem Ende der DDR erreichten die Gedenkveranstaltungen zum 50. Jahrestag der „Reichspogromnacht“ im November 1988 einen letzten Höhepunkt: Die Verantwortung für die Organisation war nun endgültig in die Hände der SED-Regierung übergegangen. Vielfältige kulturelle und wissenschaftliche Veranstaltungen und Aktivitäten wurden initiiert, die von Hörfunk- und Fernsehreportagen bis hin zu einem Sonderstempel der Post und der Ausgabe von Gedenkmünzen reichten.98 _____________ 94 95 96

97 98

Deutsche Geschichte in 12 Bänden. Hg. v. Zentralinstitut für Geschichte d. Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin 1982 ff. Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- Traditionsverständnis der DDR“, S. 712 f. Kormes betont die Rolle jüdischer Kämpfer in der antifaschistischen Arbeiterbewegung in Abgrenzung zur dominanten Rolle „der jüdischen Menschen bürgerlicher Herkunft und bürgerlicher Lebensauffassungen zur Entwicklung des Fortschritts in Deutschland“. Karl Kormes: „Aktive Kämpfer der Arbeiterbewegung“. In: Der antifaschistische Widerstandskämpfer 14.7 (1988):15; vgl. auch Schmidt: „Jüdisches Erbe deutscher Geschichte im Erbe- Traditionsverständnis der DDR“, S. 714. Groehler: „Der Holocaust in der Geschichtsschreibung der DDR“, S. 61 f. Vgl. Illichmann: Die DDR und die Juden, S. 270 f.

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Der Holocaust im kollektiven Gedächtnis der SBZ/DDR

Erst- und einmalig wurde der jüdischen Opfer in einer Sondersitzung der Volkskammer gedacht, die parallel zu einer Sondersitzung des Bundestages stattfand. So hielten die beiden deutschen Parlamente in Ost-Berlin und Bonn zugleich eine Gedenkfeier ab. Der Vorschlag hierfür kam vom Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, der als Ehrengast an der Sitzung der Volkskammer der DDR teilnahm und dort als „aufrechter Antifaschist“99 begrüßt wurde. In der Publikation zur Gedenkveranstaltung wird diese Form der Einigkeit jedoch nicht erwähnt. Die Rede des Staatsratsvorsitzenden Erich Honeckers stellt die nationalsozialistische Judenverfolgung statt dessen erneut in einen Zusammenhang mit dem antifaschistischen, vor allem aber auch seinem eigenen Widerstandskampf und erweckt ein letztes Mal die alten Mythen zum Leben: In der Hölle des Faschismus haben wir Antifaschisten das Wort Menschlichkeit als Solidarität buchstabiert. Es war das ermutigende, geflüsterte Wort an den Kameraden, der schwach zu werden drohte, es war das Stück Brot, heimlich in das Judenlager geschmuggelt, es war die Rettung von Kindern vor dem Zugriff der vertierten Aufseher. Wir waren nackt unter Wölfen, doch unseren Peinigern überlegen.100

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass trotz der zunehmenden Thematisierung der Judenverfolgung und -vernichtung durch den deutschen Nationalsozialismus die offizielle Auseinandersetzung bis zum Ende der DDR gleichen Mustern folgte: Die herausragende Stellung der jüdischen Opfer wurde nie durch die SED-Führung bestätigt. Die Opfergruppen bildeten ein hierarchisches Gefüge, dessen erste Plätze von den gefallenen Soldaten der Roten Armee und den kommunistischen Widerstandskämpfern gehalten wurden. Die Beschäftigung mit dem jüdischen Erbe und der jüdischen Tradition seit dem Ende der 1970er Jahre änderte hieran wenig, da das Augenmerk nun auf geistes- und kulturgeschichtliche Traditionen des Judentums gerichtet war, die herangezogen wurden, um den humanistischen und emanzipatorischen Geist der DDR zu betonen. Die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen an den Juden übernahm die DDR in Form von Wiedergutmachungszahlungen gegenüber Israel oder jüdischen Organisationen zu keinem Zeitpunkt. Eine Mitverantwortung auch des ostdeutschen Volkes wird erstmalig nach _____________ 99

„Eröffnung der Sondersitzung der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik durch den Stellvertreter des Präsidenten, Abgeordneten Gerald Götting“. In: Im Gedenken der Opfer der faschistischen Pogromnacht vom 9. November 1938. Hg. v. Staatsrat und Volkskammer. Berlin (Ost) 1988, S. 14. 100 „Verpflichtung zu einer Politik des Humanismus, des Friedens und der Völkerverständigung. Ansprache von Erich Honecker“. In: Im Gedenken der Opfer der faschistischen Pogromnacht vom 9. November 1938. Hg. v. Staatsrat und Volkskammer. Berlin (Ost) 1988, S. 5 f.

Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

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der Wende von der demokratisch gewählten Volkskammer der DDR 1990 eingeräumt.101 Reflexionen über kollektive und persönliche Schuld konnten lediglich jenseits offizieller politischer Stellungnahmen Raum finden. Der kirchlichjüdische Dialog war ein Forum hierfür; Literatur, Film und Hörspiel ein weiteres. Im Folgenden soll die Funktion des Hörspiels als Medium gesellschaftlicher Erinnerung theoretisch skizziert werden, um anschließend das DDR-Hörspiel auf seine ambivalente Position zwischen offizieller Gedenkpolitik und künstlerischer Auseinandersetzung hin zu analysieren.

2. Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium Das H örspiel als k ollektives Gedächtnis mediu m

Die anhand der Holocaust-Erinnerung in der DDR beschriebene Konstruktion und Instrumentalisierung des kollektiven Gedächtnisses für gesellschaftliche Interessen wurde bisher als politisch-ideologischer Geschichtsdiskurs vorgestellt. Im Folgenden wird es darum gehen, die besondere mediale Konstituierung des kollektiven Gedächtnisses zu beleuchten und das Hörspiel innerhalb dieser Konstellationen als kollektives Gedächtnismedium zu charakterisieren. Die Prozesse der Vergangenheitskonstruktion sind, wie bereits beschrieben, von Selektion, Konstruktion und narrativen Strukturen bestimmt und spiegeln die gegenwärtigen Bedürfnisse der jeweiligen sozialen Gruppe wider. Für das nationale kollektive Gedächtnis innerhalb von Diktaturen sind es Aleida Assmann zufolge die politischen Eliten, die steuern, welche Erinnerungen mit welcher Bedeutung und mit welchem Zweck in das kollektive Gedächtnis überführt werden. Mithilfe direkter oder subtiler Einflussnahme oder auch Zensur greifen sie in Meinungsbildungsprozesse ein, etablieren eine offizielle Deutung der Geschichte und unterdrücken alternative Lesarten. Die Medien, die Vermittlungs- und Speicherfunktionen übernehmen, spielen hierbei eine zentrale Rolle, überschreiten den ihnen zugewiesenen Wirkungsrahmen jedoch, indem sie das kollektive Gedächtnis mit ihren jeweils spezifischen Charakteristika kon_____________ 101 „Die Last unserer Geschichte geht über 1945 hinaus [...] Wir sind nicht nur mitverantwortlich für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder, für das Leid, das im Zweiten Weltkrieg von Deutschland aus über die Länder Europas, besonders über unsere Nachbarn im Osten kam. Wir sind auch verantwortlich für die erneute Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger nach dem Krieg in unserem Land, für eine Politik der Heuchelei und der Feindseligkeit gegenüber dem Staat Israel.“ Sabine Bergmann-Pohl, die Präsidentin der Volkskammer, am 8. Mai 1990. In: „Last der Geschichte geht über 1945 hinaus“. Frankfurter Allgemeine Zeitung (9.5.1990).

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

stituieren.102 Sie werden bestimmt von der historisch-politischen Konstellation einerseits und von der technologisch-medialen Entwicklung andererseits. Geht man von einem Gedächtnisbegriff aus, der nicht als abrufbarer Speicher authentischer Erfahrungen, sondern als Netzwerk funktioniert, in dem jeder Aufruf einer Erinnerung wiederum ihre Ausprägung verändert und verfestigt,103 entsteht mit Blick auf die Rezeption von massenmedialen Repräsentationen historischer Ereignisse ein komplexes Wechselverhältnis zwischen individuellen Erinnerungen der Zeitgenossen und massenmedialen Erinnerungselaborationen. Zum ersten weisen mediale Erinnerungen bestimmten Ereignissen der Vergangenheit Relevanz zu, d. h., die Rezipientinnen und Rezipienten nehmen einzelne historische Ereignisse als erinnerungswürdig wahr, da sie in einem gesellschaftlichen Zusammenhang wiederholt thematisiert werden. Die Anbindung dieser medialen Erinnerungsanlässe an bestimmte Gedenktage und -rituale etabliert darüber hinaus eine Erinnerungskultur, die die persönliche Erfahrung in einen Kontext einbindet, der Bedeutung beimisst und gleichzeitig evoziert.104 Zum zweiten dienen mediale Darstellungen Zeitzeugen als Anlass für eigene Erinnerungen, während die Erfahrungen von Zeitzeugen wiederum als Anlass für die mediale Repräsentation von Erinnerungen genutzt werden können. Auf diese Weise interferieren persönliche und kollektive Erinnerungsprozesse, so dass persönliche Erinnerungen mit fremden, darunter auch medialen, verschränkt werden und als eigene Erfahrungen in das Gedächtnis eingehen. Der Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer erwähnt in seiner Studie Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung im Kontext der false memory debate,105 „daß zum Beispiel Spielfilmszenen in autobiographische Erinnerungen montiert werden, ohne daß den Erzählern diese Adaptierungen bewußt wären.“106 Dieser _____________ 102 „Jedes Medium eröffnet einen je spezifischen Zugang zum kulturellen Gedächtnis“, heißt es bei Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 20. 103 Vgl. bspw. Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002; Manfred Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive. Berlin, New York 2006. 104 Vgl. Manfred Zierold: „[…] allein dass Medien Erinnerungsanlässe zu einem Thema bereitstellen, ist aber für Rezipienten ein gewichtiges Indiz, das Thema als bedeutsam anzuerkennen. […] Wer für (s)ein Thema gesellschaftliche Relevanz behaupten will (etwa bestimmte Opfergruppen usw.), muss in der Lage sein, medial Erinnerungsanlässe zu lancieren, die im Idealfall institutionalisiert wiederholt werden sollten, etwa an Gedenktagen usw.“ Manfred Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung. Eine medienkulturwissenschaftliche Perspektive. Berlin, New York 2006, S. 139. 105 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 32. 106 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 40.

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Konstruktionsprozess überlagert unbewusst eigene mit medialen oder fremden Erinnerungen und verleiht allen Elementen den gleichen Grad an Authentizität mit dem Ziel einer einheitlichen und lückenlosen Narration der Vergangenheit. Schließlich werden zum dritten eigene und fremde Erinnerungen an medialen Darstellungen gemessen, um ihren ‚Wahrheitscharakter‘ zu überprüfen. Welzer schreibt mit Hinweis auf Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust: Dadurch, daß die Bilder zu Nationalsozialismus und Holocaust in den vergangenen zwei Jahrzehnten im deutschen Fernsehen immer präsenter geworden sind und das Kino schon von Beginn an gerade das Genre des Kriegsfilms pflegt, schiebt sich ein riesiges Inventar von Bildmaterial vor die Deutungen jener Geschichten, die Kinder und Enkel von ihren Eltern und Großeltern erzählt bekommen. Gerade weil die mündlich weitergegebenen Geschichten vom Krieg und von der „schlechten Zeit“, von Verfolgung und Vertreibung, oftmals einen eigentümlich fragmentarischen und nebulösen Charakter haben, gleichwohl aber das Bedürfnis besteht, eine Familiengeschichte als konsistent und sinnhaft erleben zu können, dienen die medialen Produkte als Füllmaterial für die Leerstellen in den Erzählungen, als Erklärungen für Widersprüche und als Lichtzeichen im Nebel der erzählten Vergangenheit. Dies gilt übrigens nicht nur für die Nachfolgegenerationen, sondern auch für die Zeitzeugen selbst, deren Erlebnisse und Erfahrungen mit jenen Filmen und Bildern überblendet werden, die sie in der Nachkriegszeit gesehen haben. Die Stimmigkeit und Plausibilität von Erzählungen wird dabei zunehmend daran gemessen, inwieweit sie mit dem Bildinventar in Übereinstimmung zu bringen sind, das die Medien bereitgestellt haben.107

Welzer fokussiert an dieser Stelle die Wirkung der medialen Bilder, speziell des Spielfilms, da der Effekt der suggestiven Illusionierung seiner Meinung nach hier am ausgeprägtesten ist. Die akustische Ebene dieser Spielfilme wird von ihm ebenso vernachlässigt wie die akustischen Repräsentationen von Krieg und Holocaust im Radio. Damit reiht Welzer sich ein in die Tradition einer Erinnerungsforschung, die sich fast ausschließlich auf visuelle Phänomene der Wahrnehmung konzentriert.108 Obwohl in einigen theoretischen Abhandlungen versucht wird, ein möglichst breites Spektrum an medialen Phänomenen mitzubedenken, erschöpft sich die Behandlung der auditiven Medien und der akustischen Dimension der Erinnerung in Andeutungen und Verweisen. Beispielsweise zählen zu den von Aleida Assmann aufgezeichneten Phänomenen der kulturellen Erinnerung „nicht mehr nur Sprache, sondern auch Bilder und seit dem 20. Jahrhundert zusätzlich auch Stimmen _____________ 107 Welzer: Das kommunikative Gedächtnis, S. 175. 108 Astid Erll und Stephanie Wodianka etablieren den Film demzufolge als „Leitmedium der Erinnerungskultur“. Astrid Erll u. Stephanie Wodianka: „Einleitung: Phänomenologie und Methodologie des ‚Erinnerungsfilms‘. In: dies. (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin, New York 2008. 1–20, S. 1.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

und Töne“.109 Ebenso erwähnt Astrid Erll Töne im Kanon der „semiosefähigen Kommunikationsinstrumente“ des kollektiven Gedächtnisses, und Manfred Zierold verweist auf die besondere Rolle von Tonfolgen, die als Erinnerungsanlässe dienen oder Erinnerungen stabilisieren.110 Sein anschließender Exkurs zu „vernachlässigten Medien der Erinnerungsforschung“ jedoch widmet sich erneut den audiovisuellen Medien „Fernsehen, Film, Theater“.111 Schließlich kritisiert auch Jens Ruchatz die Vernachlässigung analoger Speichermedien in der theoretischen Debatte zum kollektiven Gedächtnis. Er beanstandet die marginale Rolle, die Fotografie, Phonographie und Film in diesem Zusammenhang entgegen ihrer tatsächlichen Relevanz zugewiesen wird, und widmet sich in seinen Überlegungen dann der Fotografie.112 Allein Wolfgang Ernst betrachtet in seiner „medienarchäologischen Arbeit“ Das Gesetz des Gedächtnisses auch die technischen Dispositive auditiver Medien unter medienhistorischen Gesichtspunkten.113 Unbestritten ist die bedeutende Rolle der Medien bei der Konstruktion eines kollektiven oder kulturellen Gedächtnisses, denn „Medien sind keine neutralen Träger von vorgängigen, gedächtnisrelevanten Informationen. Was sie zu enkodieren scheinen – bestehende Wirklichkeits- und Vergangenheitsversionen, Werte und Normen, Identitätskonzepte – konstituieren sie vielmals erst.“114 Wenn die wesentliche Bedeutung der Medien für das kollektive Gedächtnis darin besteht, dass sie nicht nur der Vermittlung und Verbreitung seiner Inhalte dienen, sondern es überhaupt erst hervorbringen, muss die spezifische Disposition des jeweiligen Mediums die Inhalte des kollektiven Gedächtnisses maßgeblich prägen.115 Es muss von herausragender Bedeutung sein, ob es sich bei den medialen Erinnerungselaborationen um Erzeugnisse eines visuellen, audiovisuellen _____________ 109 110 111 112

Assmann: Erinnerungsräume, S. 19. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 166 f., speziell FN 16. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 182. Jens Ruchatz: „The Photograph as Externalization and Trace“. In: Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Hg. v. Astrid Erll u. Ansgar Nünning. Berlin, New York 2008. 367–378, S. 369. 113 Allerdings schließt er eine Integration in die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung von vornherein aus: „Medienarchäologie sucht nun diese Mechanismen auf keiner vagen anthropologischen Ebene eines nebulösen kollektiven Gedächtnisses, sondern auf ihrer operativen Ebene zu fassen, und verwechselt Gedächtnis nicht mit einem metaphysischen Begriff von Erinnerung, sondern lokalisiert es in der Logik archivischer Agenturen und in der technischen Praxis von Speichermedien.“ Wolfgang Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts). Berlin 2007, S. 11. 114 Astrid Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses: Ein (erinnerungs-)kulturwissenschaftlicher Kompaktbegriff.“ In: Medien des kollektiven Gedächtnisses. Konstruktivität, Historizität, Kulturspezifität. Hg. v. ders. u. Ansgar Nünning. Berlin, New York 2004. 3–22, S. 5. 115 Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses“, S. 4.

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oder auditiven Mediums handelt. Denn jenseits ihrer Aufzeichnungsfunktion als Speichermedien, die (perspektivische) Abbilder der Vergangenheit außerhalb des menschlichen Körpers konservieren und reproduzierbar halten, wie es Assmann beschrieben hat,116 generieren die jeweils spezifischen Medien eine jeweils spezifische Vergangenheit. So formuliert Astrid Erll im Anschluss an Sibylle Krämer: (1) Medien sind keine neutralen Träger oder Behältnisse von Gedächtniszeichen. An den mediengestützten kollektiven Erinnerungs- und Deutungsakten bewahrt sich stets auch die ‚Spur‘ des Gedächtnismediums. (2) Als ‚Apparate‘ gehen Gedächtnismedien, wie Denkmal, Buch, Gemälde und Internet weit über die Aufgabe der Erweiterung des individuellen menschlichen Gedächtnisses durch die Auslagerung von Informationen hinaus: Sie erzeugen Welten eines kollektiven Gedächtnisses nach Maßgabe ihres spezifischen gedächtnismedialen Leistungsvermögens – Welten, die eine Erinnerungsgemeinschaft ohne sie nicht kennen würde.117

Hieran anschließend, schlägt Erll einen „(erinnerungs-) kulturwissenschaftlichen Kompaktbegriff“118 vom „Medium des kollektiven Gedächtnisses“ vor, den sie, Siegfried J. Schmidt folgend,119 in vier „Komponenten“ aufschlüsselt: Medien als 1. „Semiosefähige Kommunikationsinstrumente zur Externalisierung gedächtnisrelevanter Informationen“ („wie mündliche Sprache, Schrift, Bild oder Ton“); 2. „Medientechnologien zur [räumlichen] Verbreitung und [zeitlichen] Tradierung von Gedächtnisinhalten“ (wie bspw. der Buchdruck); 3. „Kulturelle Objektivationen als konkrete Gedächtnismedienangebote und ihre formale Gestaltung“ (wie bspw. Homers Ilias, Familienfotos oder die Bibel); und 4. „Soziale Institutionalisierung und Instrumentalisierung von Medien des kollektiven Gedächtnisses“ (wie bspw. Verlage, Fernsehanstalten).120 Erll betont gerade die Bedeutung der sozialen Dimension für die gedächtnistheoretische Perspektive und widmet ihr aus diesem Grund einen eigenen Abschnitt. Während Kommunikationsinstrumente, Medientechnologien und konkrete Medienangebote lediglich „Funktionspotentiale“ aufweisen, markiert die sozialsystemische Komponente den „tatsächlich[en] Übergang von einem medialen Phänomen zu einem Gedächtnismedium“. Für die „soziale Institutionalisierung und Funktionalisierung von Medien“ wiederum unterscheidet Erll zwischen der Funktionalisie_____________ 116 Vgl. Aleida Assmann: „Das Gedächtnis – Brücke zwischen den Wissenschaften“. In: Humboldt Kosmos 3/2004. www.avh.de/kosmos/titel/2004_015.htm (10.02.2008). 117 Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses“, S. 6. 118 Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses“, S. 14. 119 Siegfried J. Schmidt: „Gedächtnis – Erzählen – Identität“. In: Aleida Assmann u. Dietrich Harth: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M. 1991. 378–397. 120 Erll bezieht sich hier auf den von Siegfried Schmidt entworfenen Medienbegriff. Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses“, S. 14 f.

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rung der Medien des kollektiven Gedächtnisses auf der Seite der Produktion und auf der Seite der Rezeption, wobei beide eng an die spezifische Materialität der Medien und ihre besonderen kulturellen und historischen Bedingungen gebunden sind.121 Will man den Erll’schen Begriff des kollektiven Gedächtnismediums auf das Hörspiel anwenden, lassen sich für den hier anvisierten Gegenstand folgende Komponenten ausmachen: Das Kommunikationsinstrument mit Zeichencharakter ist im Falle des Hörspiels der Ton, während als Medientechnologien für den Untersuchungszeitraum Radioapparat und Tonband in Betracht zu ziehen sind. Das zu analysierende Medienangebot sind die im DDR-Rundfunk gesendeten einzelnen Hörspiele; die sozialsystemische Institution schließlich bildet der Rundfunk, der in der DDR als Staatsrundfunk einer besonderen politischen Kontrolle unterstand. Diese Konstellationen zwischen Zeichen, Technologien, konkreten künstlerischen Artefakten und gesellschaftlicher Indoktrination gilt es im Folgenden in ihren Interferenzen zu analysieren,122 wobei das Hörspiel als Radiokunst eine Schnittstelle zwischen Unterhaltung, Information, Literatur und Politik markiert und damit zu den herausragenden Medien des kollektiven Gedächtnisses zählt. Die theoretischen Voraussetzungen sollen nun kurz skizziert werden, bevor auf dieser Grundlage die Analyse des Hörspielprogramms und exemplarischer Produktionen das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium historisch konkretisieren soll. 2.1. Kommunikationsinstrument mit Zeichencharakter: Ton Es ist das Verdienst von Götz Schmedes, dem Allgemeinplatz von der Unspezifizierbarkeit des Geräuschs123 eine Hörspielsemiotik entgegengesetzt zu haben, die der Forschung ein präzises Analyseinstrumentarium an die Hand gibt.124 In Anlehnung an Jurij Lotmann betrachtet Schmedes _____________ 121 Erll: „Medium des kollektiven Gedächtnisses“, S. 16 f. 122 Manfred Zierold hat zu recht darauf hingewiesen, dass die vier Komponenten des Erll’schen Begriffes vom kollektiven Gedächtnismedium „miteinander untrennbar verwoben“ sind. Zierold: Gesellschaftliche Erinnerung, S. 161. 123 Im Gegensatz zur Sprache und auch zum Bild wird davon ausgegangen, dass der Zeichencharakter von Tönen weniger präzise zu beschreiben ist. Hierfür wurde eine geringe Schulung des Hörsinns ebenso als Grund angeführt wie der Umstand, dass akustische Ereignisse „nicht a priori als fest umrissene, prägnante Einheiten erscheinen, sondern sich in Myriaden von Variationen im zeitlichen Kontinuum des Klangflusses auflösen“. Vgl. Barbara Flückiger: Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. Marburg 22002, 102. 124 Götz Schmedes: Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens. Münster 2002.

Kommunikationsinstrument mit Zeichencharakter: Ton

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Hörspiele als „Medientexte“125, deren mediale Rahmenbedingungen einen spezifischen Code determinieren, „der wiederum das akustische Ausdrucksrepertoire charakterisiert“.126 Schmedes unterscheidet folgende Zeichensysteme, die in jedem Hörspiel in spezifischer Weise kombiniert werden: Sprache, die im Radio ausschließlich durch die menschliche Stimme vermittelt wird, Musik, Geräusch, Originalton und Stille als „allgemeine akustische Zeichen“, die auch außerhalb des Hörspiels wahrnehmbar sind; sowie Blende, Schnitt, Mischung, Stereophonie und elektroakustische Manipulation als spezifisch „audiophone akustische Zeichen“, die „als künstlerische Ausdrucksmittel […] vor allem im Hörspiel“ vorkommen.127 Sprache und Stimme Die Sprache, also der gesprochene Text, stellt den zentralen Zeichenapparat im sogenannten traditionellen oder auch literarischen Hörspiel dar, das in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren seine Blütezeit erlebte, für den DDR-Rundfunk ästhetisch jedoch bis 1989 maßgeblich war.128 Sie bildet „aufgrund ihrer spezifischen Fähigkeit, unbegrenzt Bedeutung erzeugen zu können, in allen Kulturen das gebräuchlichste, vielseitigste und komplexeste Kommunikationssystem“.129 Die besondere Rolle, die Erika Fischer-Lichte der Sprache im Zeichenapparat des Theaters zugeschrieben hat, gilt erst recht für das Hörspiel, das durch das Ausblenden der visuellen Wahrnehmung eine besondere Konzentration auf das Wort provoziert. Alle Elemente, die auf der Bühne oder auf der Leinwand visuell dargestellt werden können – Raum, Gegenstände, anwesende Figuren, ihre Handlungen usw. –, müssen im Hörspiel akustisch vermittelt werden. Figuren müssen sprechen oder angesprochen werden, um präsent zu sein, der Raum muss verbal beschrieben oder durch signifikante Geräusche und Raumklang charakterisiert werden. Die präziseste Vermittlung eines Sachverhalts ist die sprachliche Benennung, darum stützten sich – gerade im _____________ 125 Er wendet sich hier gegen den Begriff „Medium Hörspiel“, den er als zu wenig präzise zurückweist. Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 69. 126 Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 11. 127 Diese Kategorisierung folgt der Einteilung von Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 68, wie sie auch von Huwiler aufgegriffen wird: Elke Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel. Zur Narratologie der elektroakustischen Kunst. Paderborn 2005, S. 57. Dagegen beschränkt Ladler die „semiotischen Kommunikationsinstrumente“ in seiner Darstellung auf Sprache, Musik und Geräusche: Karl Ladler: Hörspielforschung. Schnittpunkt zwischen Literatur, Medien und Ästhetik. Wiesbaden 2001, S. 35–43. 128 Vgl. Sibylle Bolik: Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen. Frankfurt a. M. 1994, S. 26. 129 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 1: Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen 1983, S. 33.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

traditionellen Hörspiel – viele Inszenierungen in erster Linie auf die Semantik der Sprache und bildete sich früh eine Hörspieldramaturgie heraus, die das sprachliche Zeichensystem favorisierte. Nicht nur Heinz Schwitzkes seinerzeit wegweisende Publikation Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte von 1963 etabliert eine theoretische Dominanz der Sprache im Hörspiel, auch Birgit Lermen fasst mit Blick auf die Hörspielproduktionen der Bundesrepublik zusammen: „Das Hörspiel ist ein gesprochenes Sprachwerk. Darum ist das Wort das dominierende Element des traditionellen Hörspiels“.130 Armin P. Frank stellt noch zu Beginn der 1980er Jahre fest: „Das Wort ist jedoch im imaginativen Hörspiel in jedem Fall primär; auch wenn es immer der Stimme bedarf, um sich zu verlautbaren, steuert es den Einsatz der anderen Bausteine“131; und auch Gerhard Rentzsch, einer der führenden DDR-Hörspieldramaturgen, begründet mit den Worten „Hörspielkunst ist Wortkunst“132 die Hierarchisierung von Sprache, Geräuschen und Musik. Die Verwendung der Sprache im Hörspiel als Medium des kollektiven Gedächtnisses ermöglicht die Integration, Verbreitung und Tradierung eines gewaltigen Korpus von Gedächtnisinhalten aus anderen Medien, die auf dem gleichen Zeichensystem beruhen. Autobiographische Texte oder Tonaufzeichnungen, literarische, historische, wissenschaftliche Texte können ebenso im Hörspiel aufgehen wie Nachrichtenmeldungen, Archivmaterial, Briefe, Originaltonaufzeichnungen sprachlicher Äußerungen usw. Wenn Sigrid Weigel die „Stimme im literarischen Text“ als „Agentur des Performativen“ verstanden wissen will, gilt dies umso mehr für die Inszenierung von Literatur im Hörspiel: Qua Stimme werden Begebenheiten inszeniert und erzählt, Erinnerungen reinszeniert und Räume und Schauplätze mit Personal belebt; qua Stimme wird das Personal differenziert, charakterisiert, identifiziert oder (wieder-)erkannt, werden die Affekte, Stimmungen und Äußerungen moduliert, durch die Stimme wird der Text zum Schauplatz des Gewesenen, Abwesenden und Anderen, das durch sie zwar nicht repräsentiert ist, doch vernehmbar wird.133

_____________ 130 Birgit Lermen: Das traditionelle und das neue Hörspiel im Deutschunterricht. Paderborn 1975, S. 32. 131 Armin P. Frank: Das englische und amerikanische Hörspiel. München 1981, S. 76. 132 Gerhard Rentzsch: „Gedanken über eine Kunstform“. In: Kleines Hörspielbuch. Hg. v. dems. Berlin 1960. 5–47, S. 35 f. 133 Sigrid Weigel: „Die Stimme der Toten. Schnittpunkte zwischen Mythos, Literatur und Kulturwissenschaft“. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hg. v. Friedrich Kittler, Thomas Macho u. ders. Berlin 2002. 73–92, S. 76.

Kommunikationsinstrument mit Zeichencharakter: Ton

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Gilt die Schrift als Gedächtnismedium der Stimme,134 so ermöglichen die akustischen Medien die ‚Wiederbelebung‘ dieser Stimme. Jahrzehntelanger Hörspielforschung zum Trotz muss Sprache im Hörspiel von der in einem literarischen Text deutlich unterschieden werden, denn die linguistischen Zeichen werden immer vermittelt durch ein zweites „bedeutungsgenerierendes Zeichensystem“135: die menschliche Stimme. Sie wird dem verbalen, paraverbalen und nonverbalen Code zugeordnet, wobei paraverbale Zeichen Stimmlage, Intonation, Satzmelodie, Rhythmik, Dialekte usw. umfassen; Seufzen, Lachen, Stöhnen oder Sprechpausen gelten dagegen als nonverbale Zeichen.136 Durch das differenzierte Zeichensystem Stimme erfährt der Text eine Spezifizierung und Konnotierung, die seine Bedeutung so maßgeblich bestimmen, dass eine reine Textanalyse für die Untersuchung eines Hörspiels – auch wenn es gänzlich aus Dialogen besteht – keinesfalls ausreichend sein kann. Als Zeichen vermittelt die Stimme aber nicht nur den jeweiligen semantischen Gehalt, sondern sie steht darüber hinaus für Individualität und Identität. Die menschliche Stimme gilt als besonderes Charakteristikum ihres Trägers, das ihn von allen anderen Menschen unterscheidet. Während der Wortlaut durch die individuelle Stimmlage, Prosodie, Akzentuierung und Intonation spezifiziert wird, kennzeichnen Tonhöhe, Stimmgewalt und Dialektfärbung die Person des Sprechers in Alter, Geschlecht, Körperlichkeit, regionaler Herkunft etc. Die Übertragungs- und Aufzeichnungstechniken ermöglichen einerseits die stimmliche Präsenz einer Person, unabhängig von ihrem physischen Aufenthaltsort und selbst nach ihrem Tod; andererseits authentifiziert die Stimme das Gesagte, indem sie es an eine konkrete, identifizierbare Person zurückbindet. Es macht einen großen Unterschied, ob es sich bei der Überlieferung von Erfahrungsberichten um ein schriftliches oder ein mündliches Zeugnis handelt. Im Wissen um dieses besondere Authentifizierungspotential der menschlichen Stimme bemühen sich weltweite Oral-History-Archive seit Jahren um die Dokumentation der Erfahrungen von Holocaust-Überlebenden.137 Ihre Ton- und z. T. auch Bildzeugnisse _____________ 134 Jan Assmann: „Die Stimme der Hieroglyphen. Stimme oder Gedächtnis? Die Schrift als Erweiterung der menschlichen Grundausstattung“. In: Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium. Hg. v. Brigitte Felderer. Berlin 2004. 22–38, S. 23. 135 Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel, S. 14. 136 Vgl. Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 74 und Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel, S. 59. 137 Vgl. bspw. „Voices of the Holocaust“, ein Interview-Projekt Dr. David Broders aus dem Jahre 1946. Die z. T. transkribierten Zeugnisse werden nun an der University of Illinois archiviert und ausgewertet (http://voices.iit.edu/); oder das Oral-History-Archiv der „Werkstatt der Erinnerung“ des Instituts für Zeitgeschichte in Hamburg (http://www.werkstattder-erinnerung.de/). Die von Steven Spielberg gegründete „Shoah Foundation Institute for Visual History and Education“ hingegen archiviert Videoaufnahmen von Interviews mit

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

werden dem kollektiven Gedächtnis als durch die Person beglaubigte Dokumente auch nach deren Tod zur Verfügung stehen. Die entkörperlichte, stimmliche Anwesenheit des Vergangenen lässt darüber hinaus eine gegenwärtige Präsenz als zumindest möglich erscheinen. Bei guter Tonqualität wird die aufgezeichnete Stimme aus dem Radio nicht von einer live übertragenen zu unterscheiden sein, u. U. auch nicht von einer natürlichen, die von einer gleichzeitig im Raum anwesenden Person herrührt. Darüber hinaus wird der entkörperlichten Stimme aus dem technischen Medium eine besondere Suggestionskraft zugeschrieben. Bereits Walter Benjamin erinnert sich der geradezu traumatischen Begegnung mit dem Anderen in der Frühzeit des Telefons: Wenn ich dann, meiner Sinne mit Mühe mächtig, nach langem Tasten durch den finstern Schlauch, anlangte, um den Aufruhr [das Läuten, MG] abzustellen, die beiden Hörer, welche das Gewicht von Hanteln hatten, abriß und den Kopf dazwischen preßte, war ich gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts war, was die Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich, daß sie mir die Besinnung auf meine Zeit, meinen Vorsatz und meine Pflicht zunichte machte; und wie das Medium der Stimme, die von drüben seiner sich bemächtigt, folgt, ergab ich mich dem ersten besten Vorschlag, der durch das Telefon an mich erging.138

Erklärt Benjamin die überwältigende Macht der körperlosen Stimme, die aus dem Telefon direkt in sein Ohr spricht, mit deren Fremdheit und fehlenden Spezifizierbarkeit, führt Richard Kolb 1932 das suggestive Potential der Klänge aus dem Radio auf die Anverwandlung der Stimme durch den Hörer zurück. In Vorwegnahme des Konzepts von der Hörspielrezeption auf einer „inneren Bühne“, das Erwin Wickert in den 1950er Jahren entwickeln wird, spricht Richard Kolb bereits 1932 davon, der Hörer würde „die entkörperte Stimme des Hörspielers […] als Stimme des eigenen Ich“ wahrnehmen.139 Die Stimme im Hörspiel ermöglicht einen Dialog mit dem Abwesenden, auch mit den Toten: „Als Spur, die von den Toten zeugt und spricht, ist die Stimme […] gerade mit den oder dem Abwesenden verbunden, Signum von Differenz in Zeit und Ort“:140 Überlieferung bzw. Tradierung hat darin nämlich immer schon einen testamentarischen Status, ist immer schon Umgang mit Hinterlassenschaften oder dem Nachlaß des Verstorbenen und bedarf insofern nicht eines Nekrologs, einer Rede

_____________ Überlebenden (http://college.usc.edu/vhi/), doch auch hier richtet sich die Aufmerksamkeit auf die verbale Narration der Zeitzeugen. 138 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Fassung letzter Hand. Frankfurt a. M. 61994, S. 19. 139 Richard Kolb: Horoskop des Hörspiels. Berlin 1932, S. 55. 140 Sigrid Weigel: „Echo und Phantom – die Stimme als Figur des Nachlebens“. In: Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium. Hg. v. Brigitte Felderer. Berlin 2004. 56–70, S. 58.

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über die Toten, sondern eines Gesprächs mit ihnen. Darin ist die Stimme der Toten nicht identisch mit der Stimme derjenigen, die einst gelebt haben; sie ist vielmehr allererst als auferstandene vernehmbar, als aus der testamentarischen Schrift wiedergekehrter Ton der verstummten Vergangenheit – nicht Nachhall des Gewesenen, sondern Widerhall der an die ‚begrabene Zeit‘ adressierten Fragen und Resonanz der Erfahrungen und Leidenschaften der Heutigen.141

Der Vergangenheit und den Toten eine Stimme zu geben, die aus dem Äther zu den Nachgeborenen spricht,142 und diese Stimme dem eigenen Selbst anzuverwandeln – hierin besteht das besondere Potential des Hörspiels innerhalb der kollektiven Erinnerung an den Holocaust. Die Verquickung von Vergangenheit und Gegenwart in der Präsenz des Abwesenden prädestiniert das Hörspiel als Gedächtnismedium. Musik Die Zusammenhänge zwischen Musik und Erinnerung sind vielfältig und komplex.143 Das Gedächtnis ist für die kognitive Verarbeitung von Musik unerlässlich, denn das Erkennen von Melodien, Leitmotiven, Variationen etc. ist auf Erinnerungsprozesse angewiesen; andererseits kann das menschliche Gehirn einmal gehörte Musik mental reproduzieren; der sogenannte Ohrwurm ist ein prominenter Beleg dafür. Prägt Musik einerseits das individuelle Gedächtnis, geht sie durch die wiederholte öffentliche Aufführung in ritualisierten Kontexten auch in das kollektive Gedächtnis ein. Gedenkveranstaltungen, Trauerfeiern, Aufmärsche usw. sind ohne Musik undenkbar. Hierbei ist die regelmäßige Wiederholung bestimmter Musikstücke auf Gedenkveranstaltungen konstituierend. Die enge Verknüpfung von Musik und Identitätsbildung kristallisiert sich in den sogenannten Volksliedern, besonders aber auch in Nationalhymnen heraus. Wie hart diese gesellschaftlich umkämpft sein können, zeigt sich am Beispiel der Geschichte der deutschen Nationalhymnen. Wie bei kollektiven Veranstaltungen vermittelt Musik als Zeichensystem im Hörspiel weniger konkrete Objekte und Begrifflichkeiten wie die Sprache, sondern ihr „Ausdruck basiert vor allem auf einer konnotativen Semantik, evoziert Gefühle und Stimmungen, kommt eher emotional als rational zur Geltung“, wobei es aber auch „Beispiele für denotative Be_____________ 141 Sigrid Weigel: „Die Stimme der Toten“, S. 79. 142 Vgl. auch Ernst über die Möglichkeit der Aufzeichnung und Wiedergabe der Stimmen von Toten seit der Erfindung des Phonographen. Wolfgang Ernst: Das Gesetz des Gedächtnisses. Medien und Archive am Ende (des 20. Jahrhunderts). Berlin 2007, S. 122. 143 Vgl. die jüngsten musikwissenschaftlichen Ansätze hierzu in Andreas Dorschel (Hg.): Resonanzen. Vom Erinnern in der Musik. Wien, London, New York 2007.

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deutungen“ musikalischer Zeichen gibt.144 Mechthild Hobl-Friedrich unterscheidet in ihrer Untersuchung Die dramaturgische Funktion der Musik im Hörspiel drei verschiedene Möglichkeiten, Musik einzusetzen: Musik im Hörspiel bezeichnet musikalische Elemente, die Teil der Handlung sind und als solche auch eine „‚ikonische‘ Bezeichnungsfunktion“145 übernehmen können. Am häufigsten kommt jedoch Hörspielmusik zum Einsatz, „die originär für ein ganz bestimmtes Hörspiel konzipiert worden ist“146 und als „dramaturgisches Mittel“147 genutzt wird. Sie erfüllt syntaktische Funktionen, wenn sie zur Gliederung der Handlung als Einleitungs- oder Schlussmusik oder als Szenenüberleitung bzw. -trennung eingesetzt wird. In semantischer Funktion kann Musik andere bedeutungsgenerierende Systeme unterstützen oder erweitern, indem sie eine Bedeutung vermittelt, die in den anderen Zeichensystemen noch nicht enthalten ist und als „Antizipation, Kommentar, Ironisierung, Kontrast, Kontrapunkt und Verfremdung“ auftritt.148 Musik illustriert oder charakterisiert Figuren oder Räume, evoziert Atmosphären und Stimmungen, dient „kultureller, regionaler oder zeitlicher Zuordnung“149, entwickelt Leitmotive oder ersetzt in stilisierter Form andere Zeichen wie natürliche Geräusche, Geräuscheffekte oder Unsagbares bzw. Übernatürliches.150 Geräusch Die Bewegung von Personen und Objekten erzeugt Geräusche. Als Zeichen stehen sie im Hörspiel pars pro toto für das zu bezeichnende Objekt. Während ein visuelles Zeichen in der Regel das Objekt oder einen Sachverhalt selbst abbildet, steht das akustische Zeichen lediglich als „physischer Stellvertreter eines Merkmals dieses Sachverhalts. Dieses Merkmal ist sein Klang. Er steht stellvertretend für den ganzen Sachverhalt.“151 Hierbei ist es unerheblich, ob es sich bei dem im Radio gesendeten Geräusch um ein ‚natürliches‘ oder ein ‚künstlich‘, besser technisch erzeugtes Geräusch handelt. Eine Differenz ist für den Zuhörer nicht auszumachen, _____________ 144 Umberto Eco: Einführung in die Semiotik. München 1972, S. 22. 145 Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel, S. 62. 146 Vgl. Mechthild Hobl-Friedrich: Die dramaturgische Funktion der Musik im Hörspiel. Grundlagen. Analysen. Nürnberg 1991, S. 33. Hobl-Friedrich erwähnt darüber hinaus mit Verweis auf den Komponisten Mauricio Kagel „Musik als Hörspiel“, die jedoch in der vorliegenden Arbeit wegen des sehr eingeschränkten Hörspielbegriffs im DDR-Radio zu vernachlässigen ist. 147 Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 81. 148 Vgl. Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel, S. 61; Hobl-Friedrich: Die dramaturgische Funktion der Musik im Hörspiel, S. 78–80. 149 Schmedes: Medientext Hörspiel, 81. 150 Vgl. Ladler: Hörspielforschung, S. 41. 151 Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 61.

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vielmehr klingen ‚natürliche‘ Geräusche, also unbearbeitete aufgezeichnete Originaltöne, häufig wenig nach dem sie bezeichnenden Objekt, so dass sie als akustisches Zeichen eher unbrauchbar sind. Aufgrund der Mehrdeutigkeit eines Geräuschs kann seine Bedeutung allein aus dem Kontext erschlossen werden. Eine sichere Differenzierung ist auch hier nicht möglich. Sie erschließt sich aus dem Zusammenspiel der akustischen Zeichensysteme. Um ein Geräusch zuzuordnen, aktiviert der Hörer in seinem Gedächtnis durch Erfahrung gebildete Muster, die beim Hören aktiviert werden und das Klangerlebnis auf der Grundlage von Ähnlichkeiten identifizieren. Handelt es sich um ‚irreale‘ Geräusche, müssen diese dem Objekt dramaturgisch zugeordnet werden: „Fiktive Quellen müssen im Film“ – oder eben im Hörspiel – „erst etabliert werden, damit die Zuschauer sie auditiv identifizieren können“,152 schreibt Barbara Flückiger in Sound Design. Die virtuelle Klangwelt des Films. Da es im Hörspiel im Gegensatz zum Film nicht möglich ist, ein Geräusch durch ein Bild einzuführen, muss es sprachlich benannt werden, sofern es nicht bereits durch die Alltagserfahrung oder den Kontext der jeweiligen Handlung zuzuordnen ist.153 Hier spielt auch die wiederholte Rezeption von Tonfilmen und Hörspielen eine besondere Rolle, denn viele Geräusche sind durch künstliche Hörerlebnisse etabliert, die aus der Alltagserfahrung heraus unbekannt wären: „Die wenigsten haben in ihrem Leben schon Querschläger, Kriegsdetonationen oder Echolote gehört, ganz zu schweigen von futuristischen Raumstationen, Sonnenstrahlen oder der Stimme Gottes.“154 Im Hörspiel werden Geräusche vorwiegend zur Charakterisierung räumlicher Verhältnisse (bspw. Straße, Restaurant, Zimmer usw.) und Illustration der Handlung (Schritte, Türenknallen, Schlüssel, Bremsenquietschen, Uhrenticken usw.) eingesetzt. Sie sind dann in der Terminologie Schmedes’ ein „Inhaltselement“ und damit „Teil eines narrativen oder dramatischen Handlungszusammenhangs“.155 Geräusche können aber auch wie andere Zeichensysteme, symbolisch oder leitmotivisch verwendet werden. Ein sehr frühes Beispiel für die Überlagerung des narrativen, symbolischen und leitmotivischen Einsatzes von Geräuschen ist die Hör_____________ 152 153 154 155

Flückiger: Sound Design, S. 113. Vgl. auch Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 2003, S. 289. Flückiger: Sound Design, S. 113. Schmedes schlägt insgesamt drei „Differenzierungsverfahren und -kriterien von Geräuschen“ nach ihrer Herkunft (von Menschen verursacht oder nicht, auf ein Denotat beziehbar oder nicht), ihrem Bezug (personal/nicht-personal, real/irreal, Hintergrund/Vordergrund, szenisch/illustrierend, autonom) und ihrer Funktion (Inhaltselement, symbolisches Ausdrucksmittel, rhythmisches Element, leitmotivisches Geräusch) vor, die jedoch nicht hermetisch voneinander abzugrenzen sind. Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 77–79, Zitat S. 79.

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collage „Weekend“ von Walter Ruttmann (1930), die unterschiedlichste Alltagsgeräusche und Sprachfetzen rhythmisch montiert und so ein wegweisendes Hörbild urbanen Lebens entwarf.156 Im Gegensatz hierzu plädierte die Hörspieldramaturgie des traditionellen Hörspiels der 1950er und 1960er Jahre für den sparsamen Einsatz von Geräuschen, um ihren Zeichencharakter zu gewährleisten und eine überladene ‚Geräuschkulisse‘ zu vermeiden.157 Schweigen, Stille und Lärm Handelt es sich bei einer Pause um eine begrenzte Unterbrechung des Redeflusses, so bezeichnet Schweigen ein Ausbleiben stimmlicher – verbaler oder nonverbaler – Äußerungen, das „durch eine Performanz markiert [ist], welche es als solches erst erkennbar oder verstehbar macht“.158 Ist das Schweigen das Antonym des Sprechens, so markiert die Stille eine potenzierte Form der Pause und des Schweigens: das Ausbleiben der akustischen Zeichen der belebten und unbelebten Welt, ein Fehlen sämtlicher Geräusche oder Klänge. Stille verweist auf den absoluten Stillstand, denn jedes Geräusch und jeder Klang ist das Ergebnis einer Bewegung im Raum.159 Aufgrund dieser Bewegungslosigkeit wird absolute Stille im Gegensatz zur ersehnten Ruhe häufig als beklemmend oder bedrohlich empfunden und mit dem Tod in Verbindung gebracht (‚Totenstille‘): „Nur was tot ist, ist still.“160 Im Hörspiel gilt Stille als extremes Mittel, denn als „akustische Leerstelle“161 markiert sie das Ausbleiben jeglicher Zeichen und galt der älteren Hörspieldramaturgie daher als zu vermeidendes Phänomen. Stille „ist an Vorstellungen von Nichtintentionalität und Bedeutungslosigkeit gebun_____________ 156 Vgl. Wolfgang Hagen: „Walter Ruttmanns Großstadt-WEEKEND. Zur Herkunft der Hörcollage aus der ungegenständlichen Malerei“. In: Nicola Gess, Florian Schreiner, Manuela K. Schulz: Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Würzburg 2005. 183–200, Ausschnitte von „Weekend“ finden sich auf der Begleit-CD; Jeanpaul Goergen: Walter Ruttmann. Eine Dokumentation. Hg. v. den Freunden der Deutschen Kinemathek. Berlin 1989. 157 So schreibt bspw. Rentzsch 1960: „Wir empfinden heute ein Übermaß an Geräuschen als lästig, primitiv und unkünstlerisch.“ Gerhard Rentzsch: „Gedanken über eine Kunstform“, S. 38; vgl. auch Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln, Berlin 1963. 158 Claudia Benthien: Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert. München 2006, S. 18. 159 So schreibt bspw. Arnheim, dass „die Gehörwahrnehmung uns immer von Tätigkeiten der Dinge und Lebewesen Kunde geben, denn wenn ein Ding tönt, so bewegt, so verändert es sich“. Rudolf Arnheim: Rundfunk als Hörkunst. München u. Wien 1979, S. 17. 160 Flückiger schreibt weiter: „Stille als totale Abwesenheit von Ton wird mehrheitlich vermieden. […] Stille wird denn auch auf filmischen Tonspuren weitaus am häufigsten mit Todesszenen assoziiert“. Vgl. Flückiger: Sound Design, S. 233 f. 161 Klaus Schöning: Das Neue Hörspiel. Texte und Partituren. Frankfurt a. M. 1969, S. 30.

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den“162, als „intendierte Auslassung eines Elements der anderen Zeichensysteme“ kann sie jedoch selbst „Zeichenfunktion annehmen“163 und auf ganz unterschiedliche Bedeutungen verweisen: „Stille und Schweigen sind zeichenhaft, referentiell und bedürfen der Interpretation durch den Zuschauer“164, schreibt Claudia Benthien über den Film DAS SCHWEIGEN von Ingmar Bergman, eine Feststellung, die gerade auch im Hörspiel gilt. Bietet der Film beim Verstummen der Tonspur auf visueller Ebene noch immer einen Informationsfluss, der die Stille deutet, so sind es im Hörspiel die vor und nach der Stille eingesetzten Zeichen, die auf die jeweilige Bedeutung der akustischen Leere verweisen. Es ist zu recht darauf hingewiesen worden, dass die „absolute Stille“ ein Idealzustand ist, der tatsächlich nicht hergestellt werden kann. Selbst der in sich ruhende, schweigende Mensch hört noch die Atmung und den Blutkreislauf im Inneren;165 auch in einem schalldichten Raum – im Englischen bezeichnenderweise als „dead room“ benannt – ertönen Körpergeräusche;166 und im Radio ist Stille in der Regel von einem – je nach technischem Standard unterschiedlich starken – Rauschen begleitet.167 Stille kann somit nicht als „Realität“, sondern muss als „Erfahrung, als etwas von Subjekten konkret wahrgenommenes“ betrachtet werden, das die „Präsenz von Absenz“ erfahrbar macht.168 Gilt die Stille im positiven Sinne als „Spielfläche für das Nochnichtgesagte und damit Denkbare, potentiell Mögliche“, so steht sie in ihrem _____________ 162 Benthien: Barockes Schweigen, S. 18. 163 Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 82. 164 Vgl. Claudia Benthien: „Eisiges Schweigen, stummes Gedenken. Zur medialen Repräsentation und kulturellen Erfahrung ausgesetzter Rede in Werken von Ingmar Bergman, Christoph Marthaler und Jonty Semper“. In: Nicola Gess, Florian Schreiner und Manuela K. Schulz: Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Mit Begleit-CD. Würzburg 2005. 147–163, S. 152. 165 Marion Passarge: „Alles Wörter, Wörter, – was sollen wir damit?“ Vom Sagen und Ver-Sagen radiophoner Sprachwelten. Berlin 2002, S. 203. 166 Vgl. bspw. das Experiment John Cages in einem schalltoten Raum, bei dem er seine Körpergeräusche wahrnahm: „Ich hörte in dem echolosen Raum an der Harvard University, daß Schweigen, Stille, nicht die Abwesenheit von Geräusch war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems und meines Blutkreislaufs“. John Cage: „Autobiographische Selbst(er)findung im echolosen Raum: Vorlesung beim ‚Commemorative Lecture Meeting‘ (1989)“. In: Neue Zeitschrift für Musik 152.5 (1991): 6–13, S. 10. 167 Siehe bspw. The one minute silence from the funeral of Diana, Princess of Wales von Jonty Semper, der der durch Außengeräusche eher lauten Aufzeichnung der öffentlich in London abgehaltenen und über Fernsehkanäle live in alle Welt übertragenen Schweigeminute zu Ehren der verstorbenen Prinzessin auf seiner CD eine zweite Minute der Stille gegenüberstellt, die allein durch ein regelmäßiges, sehr leises Ticken auf ihre mediale Beschaffenheit verweist. Vgl. die Analyse in Benthien: „Eisiges Schweigen, stummes Gedenken“, S. 160. 168 Benthien: Barockes Schweigen, S. 20.

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anderen Extrem für das „absolute Nichts, das der Tod bereithält“.169 Im letzteren Sinne wirkt Stille als „existentielle Bedrohung und eine besondere Form von akustischer Gewalt“.170 Im Kontext der Debatten um Möglichkeiten der Darstellbarkeit des Holocaust und Formen des Totengedenkens wurde dem menschlichen Schweigen wie der medialen Stille daher eine besondere Relevanz beigemessen.171 Als ritualisierte Handlung gilt bspw. die Schweigeminute in diesem Zusammenhang als „Ausdruck der Trauer oder des Gedenkens an Tote und soll durch den gemeinschaftlichen Akt diese Person(en) im kollektiven Gedächtnis verankern.“172 Am Jom Hasho’ah Vehagvurah, dem israelischen Holocaust-Gedenktag,173 erklingt um 10:00 Uhr im ganzen Land ein Sirenenton, der ein gemeinschaftliches Innehalten und Schweigen als Akt kollektiver Erinnerung einleitet: Der Verkehr kommt zum Erliegen, Fußgänger halten für zwei Minuten inne und Gedenken der jüdischen Katastrophe. Was hier als Unterbrechung des öffentlichen Lebens inszeniert wird, in das das Wissen um Vernichtung und Tod eindringt, wird auch auf medialer Ebene umgesetzt: Dem ‚Unsagbaren‘ nicht mit zunehmendem Reden, sondern mit Schweigen zu begegnen, wurde in medientheoretischen Abhandlungen als ein den Opfern angemessenes Verhalten benannt,174 da die Lebenden auf diese Weise den Toten nah wären. Schweigen wird als „kleine Katastrophe im [medialen] Kreislauf […], ein mit Angst und Jubel geladener Bruch“175 angesehen und ist im Radio als Stille auf radikale Weise realisierbar: Die Abwesenheit von Stimme, Ton oder Geräusch verweist als Totenstille auf das Unsagbare und die Grenzen der Darstellbarkeit, es stellt das Abwesende nicht dar, sondern verkörpert es in der akustischen Leere.176 _____________ 169 Passarge: „Alles Wörter, Wörter – was sollen wir damit?“, S. 203. 170 Vgl. Benthien: „Eisiges Schweigen, stummes Gedenken“, S. 147. 171 Vgl. bspw. Jorge Semprún: „Nur ein Schrei aus der Tiefe der Eingeweide, nur eine Totenstille hätte das Leiden auszudrücken vermocht.“ Jorge Semprún: Schreiben oder Leben. Frankfurt a. M. 1995, S. 23. 172 Claudia Benthien: Art. „Schweigeminute“. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001, S. 530. 173 Der Jom Hasho’ah Vehagvurah wird nach dem jüdischen Kalender am 27. Nisan begangen, der an die Niederschlagung des Aufstandes im Warschauer Ghetto am 16. Mai 1943 erinnert. 174 „Schweigen als die einzig angemessene Äußerungsform über die Schoah zu verstehen […] ist eine Gemeingut gewordene Auffassung.“ Bettina Bannasch u. Almuth Hammer: „Einleitung“. In: Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Mediale Repräsentationen der Shoah. Hg. v. dens. Frankfurt a. M. 2004. 9–21, S. 11. 175 Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Berlin 1992, S. 20. 176 Vgl. auch Bettina Schlüters Analyse der Komposition „Psalm für gemischten Chor“ von Heinz Holliger, die „das ‚Bilderverbot‘ als Leere, als Abwesenheit“ in der Musik herausarbeitet. Schlüter: „‚Hör-Bilder‘. Mediale Substitutions- und Transformationsprozesse in mu-

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Der Stille diametral entgegengesetzt ist der Lärm,177 der vor allem durch eine besondere Lautstärke, aber auch durch fehlende semantische Zuordnung gekennzeichnet ist. Ästhetisch wird Lärm meist im Zusammenhang mit Aggression eingesetzt und kommt häufig bei der akustischen Ausgestaltung von Kämpfen, insbesondere Kriegshandlungen, zum Einsatz. Die Überwältigung des Publikums durch Lärm kennzeichnet als ästhetische Strategie gerade das moderne Kino, dessen Dolby-SurroundTechnik von hoher Leistungsfähigkeit ist. Die Wirkung auf den Zuschauer ist hierbei unmittelbar: Es gibt keine mentale Strategie, um der Wirkung exaltierter Lautstärke auszuweichen. Sie übt einen unmittelbaren und unwillkürlichen Einfluss auf die psychischen und vegetativen Funktionen aus, und zwar unabhängig von der Beschaffenheit und Bewertung des Reizes.178

Die menschliche Schmerzgrenze liegt bei 130 Dezibel, allerdings können anhaltende Lärmpegel bereits bei weitaus geringeren Werten als äußerst störend empfunden werden. Dabei wirkt Lärm nicht nur schädigend auf das Hörorgan, sondern auf den gesamten Organismus, denn die Schallwellen dringen nicht nur in das Ohr ein, sondern penetrieren den gesamten menschlichen Körper.179 Ein Zusammenhang zwischen akustischer Gewalt und auditiver Holocaust-Erinnerung als Traumatisierung des Hörers findet sich beispielsweise im Konzeptalbum „Kristallnacht“ von John Zorn, den Bettina Schlüter herausgearbeitet hat: Die Komposition verfolgt den Ansatz einer physiologisch erfahrbaren Partizipation an einer ‚akustischen Traumatisierung‘ konsequent selbst noch bis zu dem Punkt, an dem auch die zeitliche Entgrenzung und eigendynamische Entfaltung der Erinnerung in das Formkonzept zu integrieren wäre. Mit anderen Worten: Beim Hören dieser Komposition kann das Ohr auf eine Weise überreizt werden, dass es das ‚Erinnerungsgebot‘ auf physiologischer Ebene als Körpergedächtnis durchsetzt.180

Weniger häufig, doch theoretisch möglich ist der Einsatz von Lärm auch im Radio. Moderne Hi-fi-Anlagen sind in der Lage, im heimischen Wohn_____________ 177 178 179

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sikalischen Repräsentationen der Schoah“. In: Verbot der Bilder – Gebot der Erinnerung. Hg. v. Bettina Bannasch u. Almuth Hammer. Frankfurt a. M. 2004. 293–304. Vgl. auch Murray Schafer: Klang und Krach. Eine Kulturgeschichte des Hörens. Frankfurt a. M. 1988. Flückiger: Sound Design, S. 239. Zu Lärm als akustischer Gewalt vgl. weiterführend Nicola Gess, Florian Schreiner u. Manuela K. Schulz: Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. Würzburg 2005; hierin insbesondere die Beiträge von Helmut Lethen: „Geräusche jenseits des Textarchivs. Ernst Jünger und die Umgehung des Traumas“ (S. 33–52) sowie Andres Bosshard: „Hörstürze und Klangflüge. Akustische Gewalt in urbanen Räumen“ (S. 69–86). Bettina Schlüter: „‚Hör-Bilder‘“, S. 302.

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zimmer hohe Lautstärkepegel zu erzielen. Allerdings ist der Zuhörer im Vergleich zum Kinopublikum hier in der Lage, die Lautstärke selbst zu bestimmen und gegebenenfalls nach eigenen Bedürfnissen zu regulieren. Als semiosefähiges Zeichen im Hörspiel kann Lärm jedoch auch vor dem Erreichen des physischen Lärmempfindens gekennzeichnet werden, indem unspezifische Geräusche im Kontrast zur vorherigen Sequenz stark an Lautstärke zugenommen haben, ohne dass eine individuelle Schmerzgrenze des Hörers tangiert werden muss. Darüber hinaus können beispielsweise Stimmen, die im Vordergrund schreien müssen, um lärmende Hintergrundgeräusche zu übertönen, ebenfalls die Relationen von extremer Lautstärke verdeutlichen. Typische semantische Bezüge von Lärm im Hörspiel sind beispielsweise Verkehrs-, Maschinen- und Kriegslärm, aber auch ein lautes Stimmengewirr. Originalton Mit Originalton bezeichnet man Tonmaterial, das nicht im Studio entstanden ist, sondern außerhalb aufgezeichnet wurde. Hierbei kann es sich um Mitschnitte von Interviews oder Außengeräusche handeln. Der Originalton ist eine komplexe Zeicheneinheit, deren einzelne Elemente nicht zweckgerichtet kombiniert wurden, sondern in ihrem Zusammenspiel bereits untrennbar miteinander verbunden sind.181 Im Hörspiel wird der Originalton als spezifisches Zeichen ausgewiesen, weil er durch seine Nähe zur journalistischen Radioarbeit und der Reportage eine besondere Authentizität in der Produktion wie Rezeption eines Stückes nahelegt. Mauricio Kagel spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „fotografischen Realismus im Originalton“.182 Es gibt reine OriginaltonHörspiele, bei denen das aufgezeichnete Material im Studio lediglich durch Schnitt, Blende und Mischung bearbeitet wird, es werden aber auch Mischformen produziert, in denen Studioaufnahmen mit Außenaufnahmen kombiniert werden.183 Elektroakustische Manipulation Als „radiophonischer Effekt“ ist die elektroakustische Manipulation „dasjenige Ausdrucksmittel, das seinen Ursprung und seine Existenz ausschließlich dem ton- und funktechnischen Apparat verdankt, also keiner elementar-sinnlichen Wirklichkeit entspricht“.184 Mithilfe der Studiotech_____________ 181 Vgl. Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 84 f. 182 Mauricio Kagel: Das Buch der Hörspiele. Hg. v. Klaus Schöning. Frankfurt a. M. 1982, S. 99. 183 Vgl. ausführlich zur Originalton-Collage: Antje Vowinckel: Collagen im Hörspiel. Die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Würzburg 1995. 184 Frank: Das englische und amerikanische Hörspiel, S. 99.

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nik wird ein Klang oder Geräusch so bearbeitet (bspw. verzerrt oder mit Hall unterlegt), dass ein stilisiertes, nicht-naturalistisches Hörerlebnis entsteht. Da Studiotechnik selbstverständlich auch eingesetzt wird, um den naturalistischen Eindruck von Stimmen oder Geräuschen noch zu verstärken, kann die elektroakustische Manipulation nur als akustisches Zeichen eingesetzt werden, wenn es als solches wahrnehmbar ist, das heißt, wenn sich im Rezeptionsvorgang das verfremdete vom ursprünglichen Klangmaterial deutlich abhebt. Dramaturgisch kennzeichnen elektroakustisch manipulierte Zeichen meist irreale Handlungsebenen oder Figuren. Stereophonie Mit Einführung der Stereophonie zu Beginn der 1970er Jahre185 stand der Hörspielproduktion eine Technik zur Verfügung, unterschiedliche Raumpositionen akustischer Elemente zu verdeutlichen und einen räumlichen Höreindruck hervorzurufen. Die einzelnen Stimmen, Klänge und Geräusche wurden von nun an als Zweikanalton aufgenommen und von entsprechend im Raum positionierten Lautsprechern übertragen. Ein spezielles Verfahren ist die sog. Kunstkopfstereophonie, die versucht, das Verhältnis zwischen der Schallquelle und dem aufnehmenden Mikrophon zu erhalten und auf die Abhörsituation zu übertragen, um auf diese Weise einen dreidimensionalen akustischen Raum herzustellen. Hierzu wurde ein menschlicher Kopf nachgebildet, der anstelle der Ohren mit Mikrophonen zur Schallaufzeichnung ausgestattet wurde, die mit einer speziellen Richtcharakteristik versehen waren. Beim Abspielen über Kopfhörer konnten nun nicht nur die Richtungen rechts und links, sondern auch oben und unten sowie hinten und vorn vermittelt werden.186 Da der technische und damit auch finanzielle Aufwand für Kunstkopfproduktionen sehr hoch war, entstand nur eine kleine Anzahl entsprechender Hörspiele;187 in der Regel nutzte man die Zweikanal-Stereophonie.188 _____________ 185 Vgl. Heide Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der DDR. Funktion, Struktur und Programm des Rundfunks in der DDR. Hg. v. Deutschen Rundfunk-Museum e.V. Berlin. Köln 1977, S. 160, FN 482. 186 Manfred Mixner verweist auf die Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung kunstkopfbezogener Stereophonie, da die Richtung, aus der das jeweilige Geräusch aufgenommen wurde, nicht immer vom Hörer ausgemacht werden konnte. Hörerlebnisse wurden in diesem Zusammenhang als irritierend, unangenehm und z.T. auch als bedrohlich beschrieben. Vgl. Manfred Mixner: „Der Aufstand des Ohrs“. In: Paragrana 2 (1993): 29–39, S. 31. 187 Das nach meiner Kenntnis einzige Kunstkopf-Hörspiel, das die Judenverfolgung thematisiert, ist Lia Pirskawetz’ Stille Post von 1979, das auf der Grundlage seiner Tagebücher und sprachwissenschaftlichen Arbeiten das Leben Victor Klemperers während der nationalsozialistischen Diktatur inszeniert; vgl. Kap. IV.1. Das Hörspiel wurde 1982 mit dem Kritiker-Hörspielpreis des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR ausgezeichnet. Vgl. Art. „Lia Pirskawetz“. In: Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Li-

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Blende, Schnitt und Mischung Als technische Verfahren, die das Tonmaterial in die gewünschte Reihenfolge bringen, stehen Blende, Schnitt und Mischung zur Verfügung. Hierbei werden die Elemente entweder hart aneinandergesetzt (Schnitt) oder durch das Ausblenden (abnehmende Lautstärke) des ersten und das Aufblenden (zunehmende Lautstärke) des folgenden ineinander übergehend gestaltet: „Das Öffnen oder Schließen des Summenreglers am Mischpult kann als Ein-, Aus-, Über- [Ein- und Ausblenden nacheinander] oder Durchblenden [zeitweiliger Simultanverlauf] gestaltet sein“.189 Die Terminologien entstammen der Bearbeitung von Filmmaterial und stehen als technische Verfahren dem Hörspiel erst seit der Einführung des Magnettonbandes190 zur Verfügung. Die Blende bildet im literarischen Hörspiel das traditionelle dramaturgische Element zur Szenenverknüpfung. Sie markiert die Übergänge zwischen unterschiedlichen Raum-, Zeit- und Realitätsebenen.191 Wie die Blende nutzt auch die Mischung die Regelung der Lautstärke, um unterschiedliche Elemente miteinander zu verbinden. Hier handelt es sich jedoch nicht um das Nacheinander zweier Ebenen, die sich für einen begrenzten Zeitraum überlagern, sondern um das gleichzeitige und gleichmäßige Hörbarmachen verschiedener Elemente, die durch unterschiedliche Lautstärken in Vorder- und Hintergrund differenziert werden. So finden Dialoge häufig im Vordergrund – also lauter – statt, während der Ort der Handlung durch – leisere – Hintergrundgeräusche (Motorengeräusche an einer Straße; Stimmengewirr und Gläserklingen im Restaurant usw.) charakterisiert wird.192 Im Gegensatz zur Blende, die immer als Variation der Lautstärke wahrnehmbar ist, kann der Schnitt vom Hörer nur als akustisches Zeichen verstanden werden, wenn die aneinandergesetzten Elemente so stark differieren, dass sie einen deutlichen Bruch markieren. Die Schnitttechnik, _____________ 188 189 190

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teratur des Baltikums. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 3. Berlin, New York 2007. 1020– 1021, S. 1021. Heinz Hiebler: „Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen. Eine Medienkulturgeschichte der Tonträger“. In: Sound. Zur Technologie und Ästhetik des Akustischen in den Medien. Schüren 2005. 206–228, S. 221. Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 87. 1935 tritt AEG mit dem „Magnetophon“ an die Öffentlichkeit, das in weiterentwickelter Form 1940 einsatzfähig ist und als „Tonband“ nach dem Krieg sowohl professionell als auch privat genutzt wird. Vgl. Heinz Hiebler: „Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen“, S. 218; auch Hickethier spricht von der „Erfindung des Tonbands (1935/1941)“; Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, S. 290. Margret Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel. Frankfurt a. M. 1985, S. 123. Vgl. auch Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 88.

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die den Wechsel des akustischen Materials herausstellt, verweist, im Gegensatz zur ‚sanfteren‘ Blende, auf die mediale Verfertigung eines Hörspiels und stört auf diese Weise die Illusionierung des Rezipienten. Bevorzugt wurde der harte Schnitt daher erst in Produktionen des Neuen Hörspiels eingesetzt,193 die gerade den artifiziellen Charakter des Hörspiels als Kunstwerk akzentuierten. Von Bedeutung ist in dieser Hinsicht auch die Unterscheidung zwischen Montage und Collage, wie sie Götz Schmedes im Anschluss an Antje Vowinckel beschreibt: Während die „Montage“ für „das technische Verfahren des Aneinanderfügens“ mittels Blende, Schnitt und Mischung benutzt wird, „wobei das Heterogene und Vorgefertigte nicht automatisch impliziert sein müssen“, so dient die „Collage“ dazu, Sprünge, Brüche und Widersprüche herauszuarbeiten.194 Der auditive Code und das kollektive Gedächtnis Das „Regelsystem zur Hervorbringung und Interpretation von Zeichen bzw. Zeichenzusammenhängen“195 wird als Code bezeichnet. Der Begriff umfasst „die Gesamtheit von Zeichenrepertoire sowie von syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln“. Innerhalb einer sozialen Gemeinschaft kann Kommunikation nur gelingen, sofern sich ihre Mitglieder auf einen „zumindest in Grundzügen gemeinsame[n] Kode“196 beziehen. Nur mit einem der Gruppe gemeinsamen Zeichensystem können Bedeutungen produziert und Kommunikation ermöglicht werden. Es ist davon auszugehen, dass auditive Zeichensysteme wie andere Codes auch eine Art des Kollektivgedächtnisses bilden.197 Dieser Code wird durch Konvention erlernt, er geht nicht auf eine gemeinschaftliche Verabredung, sondern auf Wiederholung zurück.198 Auf den auditiven Code bezogen, folgt daraus, dass das Zeichensystem Ton beispielsweise im Hörspiel für die Gruppe der Zuhörer auf einen gemeinsamen Code referieren muss, um eine Rezeption zu ermöglichen. Die Herstellung eines gemeinsamen auditiven Codes ist, Barbara Flückiger zufolge, eng an die Wechselwirkung zwischen audiovisuellen und auditiven Medien gebun_____________ 193 Vgl. auch Huwiler: Erzähl-Ströme im Hörspiel, S. 63. 194 Vgl. Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 97; vgl. auch Antje Vowinckel: Collagen im Hörspiel. Die Entwicklung einer radiophonen Kunst. Würzburg 1995, S. 14. 195 Erika Fischer-Lichte: Art. „Semiotik“. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch u. Matthias Warstat. Stuttgart u. Weimar 2005. 298–302, S. 300. 196 Erika Fischer-Lichte: Art. „Semiotik“, S. 300. 197 Peter Risthaus: Art. „Code“. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Hamburg 2001, S. 102. 198 Es handelt sich hierbei um eine Feststellung Flückigers mit Bezug auf das HollywoodKino. Flückiger: Sound Design, S. 120.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

den. Klangerfahrungen (Geräusche, Musik o. ä.), die zum Beispiel in der Tradition des Thrillers oder Kriegsfilms stehen und dort als Zeichen etabliert wurden, können auch im Hörspiel eingesetzt werden und umgekehrt. Die stetige Wiederholung auditiver oder audiovisueller Zeichen hat Stilisierungen, Standardisierung und Stereotypisierungen zur Folge, die im engen Zusammenhang mit der Herausbildung eines auditiven oder audiovisuellen kulturellen Gedächtnisses stehen. Flückiger spricht mit Bezug auf den Hollywood-Film, der geradezu als Paradebeispiel der Stereotypisierung von Zeichen gelten kann, von einer Standardisierung der Tonästhetik und macht zwei Funktionen aus: Zum einen die Festschreibung ins kulturelle Gedächtnis durch die Wiederholung gleicher oder ähnlicher Formen, zum anderen ihre Wirkung auf den Sozialisationsprozess in einer bestimmten Kultur, welche die Erwartungshaltung und den Anspruch an die Repräsentation der Wirklichkeit bestimmen.199

Standardisierung und Stilisierung basieren auf der Herstellung des Tons auf Grundlage des immer gleichen Geräuscharchivs. Diesen Umstand kann man auch für künstlerische Rundfunkproduktionen geltend machen: Das Zeichenrepertoire des Hörspiels ist wie das anderer künstlerischer Artefakte durch eine kulturelle Praxis codiert, die sowohl auf Seiten der Produktion als auch auf Seiten der Rezeption wirksam wird. Flückiger unterscheidet den Zeichencharakter des Tons mit Blick auf den Spielfilm folgendermaßen: Signale, deren Bedeutung sich aus „gesellschaftlich definiertem kommunikativen Gehalt“ speisen, wie es bspw. bei Sirenen, Kirchenglocken oder Tür- und Telefonklingeln der Fall ist200; Symbole, die ein abstraktes Konzept repräsentieren und deren Bedeutung der Interpretation bedarf wie bspw. Glocken als Signifikant für den Tod oder Uhren für das Stocken der Zeit;201 Key Sounds mit symbolischer Bedeutung, die allerdings allein innerhalb eines Films etabliert werden: Mit Key Sounds sind demnach Klangobjekte gemeint, welche aufgrund ihrer deutlich wahrnehmbaren intratextuellen Häufung, der strategischen Platzierung zumeist in der Exposition und weiteren Kernszenen sowie der Integration in die exponierte Grundthematik mit einer spezifischen Bedeutung geladen werden. Der Rezipient erkennt in der Strukturbildung eine Regelmäßigkeit, die zur Hypothese führt, dass mit dem Key Sound eine tiefere Bedeutung verbunden sei. Anders als das Leitmotiv, das auf einem ähnlichen Mechanismus aufbaut, geht die Bedeutungsmodifikation von Key Sounds nicht auf die Relation zu bestimmten Ereignissen, Orten, Figuren oder Ideen zurück.202

_____________ 199 200 201 202

Flückiger: Sound Design, S. 120. Flückiger: Sound Design, S. 159. Flückiger: Sound Design, S. 163 f. Flückiger: Sound Design, S. 175.

Medientechnologien: Radio und Tonband

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Letztlich nennt Flückiger noch Stereotypen, die aus der „massenhafte[n] Wiederholung von erzählerischen Konstellationen und damit einhergehenden optischen und akustischen Repräsentationsformen“ entstehen;203 sowie Leitmotive, die ein Geräusch oder „eine Tonfolge“ bezeichnen, „welche innerhalb eines Musikstücks eine oder mehrere Personen, Ereignisse, Situationen, Gegenstände charakterisieren soll“,204 während Variationen des jeweiligen Leitmotivs Entwicklungen und Wandlungen markieren.205 Bei der Untersuchung des Hörspiels als Gedächtnismedium des Holocaust muss es folglich darum gehen, einzelne auditive Artefakte auf ihre akustische Zeichenebene hin zu analysieren und jene Signale, Symbole, Key Sounds, Leitmotive und Stereotypen herauszuarbeiten, die das auditive kollektive Gedächtnis speichert und die es gleichzeitig hervorbringen. Bei den Analysen einzelner Hörspiele sind medienhistorische ebenso wie medienkomparatistische Aspekte des Hörspiels zu berücksichtigen. Erstere sind maßgeblich geprägt von den technischen Voraussetzungen, so dass im Folgenden die wesentlichen Entwicklungsstränge von Sende- und Speichermedien des Hörspiels skizziert werden sollen. 2.2. Medientechnologien: Radio und Tonband In Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks konstatiert Wolfgang Hagen die Funktion der Medien als „doppelte[] Wissensspeicher“: Einerseits vermitteln und konservieren Medien Inhalte in Form von Aussagen, Bildern oder Tönen; andererseits bewahren sie Wissen auch „in der Materialität ihrer ‚Systeme‘, in ihren ‚technologischen‘ Eigenschaften und in deren Selbst-Beschreibungen“.206 In der Folge gilt es also, sich zuerst den technischen Voraussetzungen des Hörspiels zuzuwenden, die in der Entwicklung der Medientechnologie Radio ebenso begründet sind wie in der des Tonbands. Das Massenmedium Hörfunk ging aus einer im ersten Weltkrieg entwickelten Funktechnik hervor, die Töne durch elektromagnetische Strahlen drahtlos aussandte, welche wiederum von einem Röhrenapparat empfangen werden konnten.207 Nach dem Ersten Weltkrieg entstand in Deutschland der Hörfunk, der seit Oktober 1923 Programme ausstrahlte _____________ 203 204 205 206

Flückiger: Sound Design, S. 177. Günther-Arnim Neubauer: Musik. Lexikon der Grundbegriffe. Reinbek 1994, S. 178. Flückiger: Sound Design, S. 187. Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland / USA. München 2005, XVII. 207 Die historischen Details finden sich ausführlich bei Hagen: Das Radio, S. 64–71.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

und noch im selben Jahrzehnt verschiedene regionale Sendegesellschaften umfasste. Von 1925 an gab es die Möglichkeit, live zu senden. Nach einer Periode der Kettung des Hörers an das Radiogerät durch ein Kabel, das den notwendigen Kopfhörer mit dem Detektorgerät verband,208 wurde mit der Entwicklung von Lautsprechern der private Empfang in der Familie, aber auch das massenhafte Hören von Rundfunksendungen auf öffentlichen Plätzen möglich, wie es bereits in den 1920er Jahren aus Mangel an privaten Geräten praktiziert209 und später vor allem durch die Nationalsozialisten forciert wurde.210 Technischer Fortschritt und politische Interessen führten zur Entwicklung des ‚Volksempfängers‘, der massenhafte Verbreitung fand und den Übergang des Radios vom Kollektivmedium, das im öffentlichen Raum von größeren Gruppen rezipiert wurde, zum Individualmedium, das im privaten Raum einzeln oder im Kreis der Familie gehört wurde, markiert.211 Da der private Nutzer jederzeit die Möglichkeit hatte, das Gerät auszuschalten, mussten die Sendungen ansprechend gestaltet werden. Noch auf dem Höhepunkt der NS-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs war das Programm darum von Unterhaltung, vor allem Musiksendungen, bestimmt, in die politische Mobilmachung geschickt eingebaut werden musste.212 Nach dem Ende des Krieges konnte man sowohl auf den in der Bevölkerung weit verbreiteten Radioapparat als auch auf Hörgewohnheiten zurückgreifen. Im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland war das Radio das Leitmedium, mit dem der größte Teil der Bevölkerung adressierbar war, nachdem die Sendeanlagen binnen kürzester Zeit wieder in Betrieb genommen werden konnten. _____________ 208 Vgl. Inge Marszolek: „Lautsprecher und leise Töne. Radio im Nationalsozialismus“. In: Nicola Gess, Florian Schreiner u. Manuela K. Schulz: Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. 53–68, S. 54. 209 Vgl. Hagen: Das Radio, S. 78 f. 210 Vgl. Marszolek: „Lautsprecher und leise Töne“, S. 61–63. 211 Der Einsatz von Kopfhörern etabliert in diesem Zusammenhang den hermetisch abgeschlossenen individuellen Hörraum. Vgl. Murray Schafer, der schreibt: „In ähnlicher Weise registriert der Hörer mit Kopfhörer, welcher den Klang direkt durch seinen Schädel leitet, keine Ereignisse mehr am akustischen Horizont; er ist nicht mehr von einer Sphäre sich bewegender Elemente umgeben. Er ist die Sphäre. Er ist das Universum.“ Schafer: Klang und Krach, S. 160. 212 „So blieben die leisen Töne vorherrschend. Selbst, wenn man das quantitative Vordringen der Marschmusik im Bereich Unterhaltung berücksichtigt, so war der NS-Rundfunk vor allem geprägt von scheinbar unpolitischer Unterhaltung, die eher auf ein häusliches Publikum denn auf ein öffentliches zielte. Aber: In diese Rundfunkidylle […] drangen gut dosiert immer wieder die lauten hämmernden Stimmen. Aber gerade weil sie die Ausnahme und nicht die Regel waren, konnten sie in die Ohren dringen, sich ihrer bemächtigen.“ Marszolek: „Lautsprecher und leise Töne“, S. 68.

Medientechnologien: Radio und Tonband

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Bis zur Einführung des Fernsehens in den 1950er Jahren213 blieb der Hörfunk das dominierende Massenmedium.214 Die Durchsetzung von UKW seit 1949 und Stereophonie in den 1960er Jahren215 verbesserten die Tonqualität so weit, dass ein anspruchsvolles, weitgehend störgeräuschfreies und akustisch differenziertes Programm auch in der Hörspielproduktion möglich wurde.216 Erst in den 1990er Jahren haben Kabel- und Satellitenempfang die Antenne ersetzt und Digitalisierung und Internet auch das Radio erfasst, was zu einer erneuten Ausweitung und Differenzierung der Senderlandschaft führte. Ingesamt ist festzustellen, dass die Zunahme von Sendeanstalten eine stärkere Ausdifferenzierung der Hörerschaft und des Programms zur Folge hatte, die sich im sogenannten Formatradio widerspiegelt. Die elektromagnetischen Strahlen des Hörfunks sind in der Lage, große Distanzen zu überwinden und verschiedene Materialien zu durchdringen. Auf diese Weise verbinden sie den Sender zeitgleich mit einer Vielzahl einzelner Empfänger, einer Art Hörergemeinschaft, die als Voraussetzung für die Konstituierung eines kollektiven Gedächtnisses gelten kann.217 Die Hörer dieser Gemeinschaft teilen im Moment des Empfangs ihre individuelle auditive Wahrnehmung mit Millionen anderen Nutzern des Massenmediums. Darüber hinaus lässt das Radio die Grenzen von Öffentlichem und Privatem schwinden, denn während der Lautsprecher einen öffentlichen Raum herstellt und besetzt, überwinden die elektromagnetischen Wellen des Radios nicht nur räumliche Entfernungen, sondern auch nationale Grenzen und durchdringen jene Mauern, die den privaten Raum vom öffentlichen trennen. Die Gefahr der Indoktrination durch (fremde) Radiosendungen wurde früh erkannt und schlug sich in Diktaturen vor allem in Empfangsverboten für ‚Feindsender‘ nieder. Der Hörfunk besitzt kein genuines Speichermedium, sondern greift auf die jeweils zur Verfügung stehenden zurück: Zur Aufzeichnung von Hörspielen dienten im Laufe der Rundfunkgeschichte Licht-TonFilmbänder, Schallplatten, Magnettonbänder und seit der Einführung _____________ 213 Das offizielle Versuchsprogramm des Fernsehens der DDR startete am 21. Dezember 1952. Ende der 1960er Jahre erreichte das Fernsehen bereits breite Kreise der Bevölkerung und ein zweites Fernsehprogramm wurde eingeführt. 1970 besaßen ca. 70 % aller ostdeutschen Haushalte ein Fernsehgerät. Vgl. Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der DDR, S. 57 u. 64. 214 Vgl. Hans-Jürgen Krug: Art. „Hörfunk“. In: Helmut Schanze: Metzler Lexikon Medientheorie – Medienwissenschaft. Stuttgart 2002. 137–139, S. 138. 215 Hiebler: „Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen“, S. 221. 216 Vgl. Riedel: „Hörfunk und Fernsehen in der DDR“, S. 160, Anm. 482. 217 Vgl. die nationalsozialistischen Bestrebungen, eine Volksgemeinschaft durch das Radio herzustellen. Marszolek: „Lautsprecher und leise Töne“, S. 57 f.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

digitaler Medien auch deren unterschiedlichste Hardware, vorrangig CDs und Festplatten. Die für das Hörspiel folgenreichste mediale Neuerung neben der Entwicklung des Radioapparates war jedoch die des Magnettonbandes. Hatte man in erster Zeit Hörspiele live übertragen oder auf Schallplatten218 bzw. Lichttonfilm aufgezeichnet und hierbei eher den Eindruck des Mitschnitts eines Theaterstücks erzeugt, ermöglichten Magnettonband und Tonbandgerät nicht nur die dauerhafte Speicherung, Archivierung und beliebige Wiederholung einer Sendung, sondern darüber hinaus auch die Bearbeitung des Tonmaterials am Schneidetisch. Ein mit magnetisiertem Metall beschichteter Papierstreifen konnte – wie zuvor beim Film – zerschnitten und beliebig wieder zusammengesetzt werden. Durch das Fehlen einer optischen Dimension wurde auf diese Weise das freie Schalten und Walten mit Raum und Zeit möglich, von dem auch in den Hörspielen ausgiebig Gebrauch gemacht wurde.219 Mit der Radioübertragung ebenso wie mit der Aufzeichnung auf ein Tonband hatte sich der Ton von der ihn erzeugenden Quelle gelöst. Eine menschliche Stimme z.B. konnte aufgezeichnet und an einem weit entfernten Ort oder lange nach ihrem Tod empfangen werden. Geräusche und Klänge konnten so aus ihrem Zusammenhang gelöst in völlig neuem Kontext wieder auftauchen.220 Diese „Auflösung der zeitlichen und räumlichen Wirklichkeitsbezüge“ gelten als „die produktiven Möglichkeiten des Rundfunks“221 – und bergen unbegrenzte Möglichkeiten der Manipulation. Grundlage hierfür ist der Umstand, dass – bei aller Ablösung von der Klangquelle und damit der aufgezeichneten ‚Realität‘ – im Moment der Sendung das Gehörte wieder als authentische Erfahrung wahrgenommen wird: „Die technischen Mittel besitzen ‚Realisierungskraft‘ in dem Sinne, daß das übertragene Schallereignis vom Hörer als neu geschaffene Wirklichkeit erlebt werden kann, als ob es vom Rundfunk übertragene Wirklichkeit sein könnte.“222 Live-Charakter und die Nutzung des Hörfunks als _____________ 218 Die ersten wachsüberzogenen Grammophon-Schallplatten entwickelte E. Berliner bereits 1887; während sich die Schellack-Platte noch vor dem Ersten Weltkrieg als Tonträger durchsetzte. Vgl. Hiebler: „Der Sound zwischen technischen Möglichkeiten und kulturellen Ansprüchen“, S. 214. 219 In den 1950er Jahren in der Bundesrepublik galt die daraus resultierende besondere Affinität des Hörspiels zur Ebene des Irrealen und Traumhaft-Assoziativen als sein besonderes Potential. 220 Vgl. auch Schafer: „Die drei umwälzenden akustischen Innovationen der elektromechanischen Revolution waren das Telefon, der Phonograph und das Radio. Mit Telefon und Radio war der Schall nicht mehr an seinen ursprünglichen Ort im Raum gebunden; mit dem Phonographen war er auch frei von seinem ursprünglichen Ort in der Zeit.“ Schafer: Klang und Krach, S. 120. 221 Rainer Hannes: Erzählen und Erzähler im Hörspiel. Ein linguistischer Beschreibungsansatz. Marburg 1990, S. 64. 222 Hannes: Erzählen und Erzähler im Hörspiel, S. 65.

Medienangebot: Hörspiel

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Nachrichtenmedium verleihen der Radiosendung eine spezifische Authentizität,223 die sich auch auf das fiktive Genre Hörspiel erstreckt.224 2.3. Medienangebot: Hörspiel Seit seiner Prägung durch Hans S. von Heister 1924225 erfuhr der Begriff ‚Hörspiel‘ vielerlei Deutungen. Die Hörspieldefinitionen in der Forschung reichen von der eher unspezifischen Angabe, Hörspiele seien, „was in einer Rundfunkprogrammrubrik als Hörspiel bezeichnet wird und auf einem für Hörspiele vorgesehenen oder offenen Sendeplatz gesendet wurde“,226 bis zu engen Bestimmungen als literarische Gattung,227 die allerdings die rundfunkspezifischen Eigenschaften des Hörspiels vernachlässigen. Auf der Grundlage der Definition von Stephan B. Würffel, das Hörspiel sei ein „[e]lektroakustisch erzeugtes und an das Medium Rundfunk bzw. an Tonträger gebundenes Genre“, soll in dieser Arbeit unter Hörspiel eine zeitlich begrenzte Radiosendung mit künstlerischem Anspruch verstanden werden, die akustische Zeichen inszeniert, um bei den Rezipientinnen und Rezipienten Imaginationen hervorzurufen, die fiktionalen Charakter haben und in einem bestimmbaren Verhältnis zu den dramaturgischen Begriffen Handlung, Figur und Zeit stehen. Das gesprochene Wort ist nur eines der Elemente des Hörspiels; es wird ergänzt, interpretiert oder steht im Kontrast zu den anderen akustischen Zeichen (Sprache, Stimme, Musik, Geräusch, Originalton, Stille, Blende, Schnitt, Mischung, Stereophonie, elektroakustische Manipulation). Als Angebot _____________ 223 „Die menschliche Stimme als Hauptakteurin verlieh dem Radio auch einen prinzipiellen Live-Charakter und damit etwas Glaubwürdiges, Direktes. Ein Phänomen, das sich von Anfang an im Einsatz des Rundfunks als Nachrichten- und Reportagemedium niederschlug“. Gaby Hartel u. Frank Kaspar: „Die Welt und das geschlossene Kästchen: Stimmen aus dem Radio – und über das Radio“. In: Phonorama. Hg. v. Brigitte Felderer. Berlin 2004. 133–144, S. 137. 224 Als prominentestes Beispiel für die geradezu überwältigende Verquickung von Fiktion und radiophoner Authentizität im Hörspiel gilt die fiktive Radioreportage War of the Worlds von Orson Welles. Bei ihrer Erstsendung im US-amerikanischen Radiosender CBS führte sie 1938 zu panischen Reaktionen bei Teilen des Publikums, die den Bericht über den Angriff Außerirdischer auf New Jersey als Nachrichtensendung rezipierten. So lautete die Schlagzeile in der New York Times am folgenden Tag „Radio Listeners in Panic, Taking War Drama as Fact“ (New York Times vom 31. Oktober 1938; http://www.rense.com/ general4/hgnyt.htm); und noch 1977, als der WDR die deutsche Bearbeitung durch Klaus Schöning ausstrahlte, riefen verunsicherte Hörer im Sender an, um sich der Fiktionalität des Gehörten zu versichern. 225 Heister, Hans S. von: „Zur Frage der Sendespiele“. In: Der deutsche Rundfunk 2.32 (1924): 1779. 226 Martin Maurach: Das experimentelle Hörspiel. Eine gestalttheoretische Analyse. Wiesbaden 1995. 227 Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel, S. 10.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

des Massenmediums Hörfunk handelt es sich beim Hörspiel um eine „künstlerische Sonderform“, die allein auditiv wahrnehmbar ist und die „originäre Kulturleistung des Radios“ darstellt.228 Obwohl dem Hörspiel meist ein schriftlich fixierter, oft sogar literarischer Text zugrunde liegt, ist es ein eigenständiges Medienangebot. Als rein auditives Artefakt existiert es im Augenblick der Sendung losgelöst von der Textvorlage. Durch die Aufzeichnung auf eine Schallplatte, ein Tonband, eine CD oder die Speicherung auf einer Festplatte kann das Hörspiel jedoch auch unabhängig vom Rundfunk reproduziert werden. Gerade seit den 1990er Jahren lassen sich neue Tendenzen vor allem durch Digitalisierung, Livehörspiele, interaktive Hörspiele229 und Hörbücher ausmachen. Die Aufzeichnung und Bearbeitung des Materials findet nun am Computer mithilfe eines digitalen Tonstudios statt, das nicht mehr notwendig an einen Radiosender gebunden ist, sondern auch auf einem heimischen PC installiert werden kann. Zur Verfügung stehen Sounds und Bearbeitungsprogramme, die aus dem Internet heruntergeladen und mit selbst aufgezeichnetem Tonmaterial kombiniert werden können. Die Ergebnisse können dann wiederum über das Internet verbreitet werden. Ein wechselseitiger Informationsfluss, seit Brechts „Radiotheorie“230 die Utopie des Hörspiels, scheint hier erstmalig zumindest technisch realisierbar. Die Digitalisierung potenziert die Verfügbarkeit, Reproduzier- und Manipulierbarkeit der akustischen Zeichen und damit des Hörspiels. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mündete die politische Teilung Deutschlands auch in eine Teilung des Rundfunks und seiner Hörspielproduktion. Das bundesrepublikanische Hörspiel, als dessen Blütezeit die 1950er Jahre mit den Arbeiten von Günter Eich, Ingeborg Bachmann, Ilse Aichinger, Erwin Wickert, Wolfgang Hildesheimer, Friedrich Dürrenmatt und anderen gelten, ist gekennzeichnet von einer Zäsur am Ende der 1960er Jahre, die von der Entstehung des sogenannten Neuen Hörspiels231 markiert wird. Dem ‚traditionellen‘ oder auch ‚literarischen Hörspiel‘, das als auditives Rollenspiel dem gesprochenen Wort gegenüber Musik, Geräuschen, Stille und technischen Mitteln den Vorzug gegeben hatte, wurde ein Hörspiel entgegengesetzt, das das Spiel mit dem Klang in den Mittel_____________ 228 Krug: Art. „Hörspiel“, S. 139. Knut Hickethier nennt neben dem Hörspiel auch das Feature als ‚radiokulturelle Form‘; Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, S. 301. 229 Schmedes: Medientext Hörspiel, S. 43. 230 Bertolt Brecht: „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“. In: ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf u. a. Bd. 21: Schriften I [1914–1933]. Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1992. 552–557. 231 Den Begriff prägte 1968 Klaus Schöning in einem Radio-Essay; vgl. Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft, S. 302.

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punkt rückte und sich von figurativem Rollenspiel ab- und collageartigen Kompositionen von Sprach- und Klangmaterial zuwandte. Das Neue Hörspiel erhob den Anspruch, ein genuin radiophones, künstlerisches ‚Hör-Spiel‘ zu begründen, das auf ein ‚Hörtheater‘ verzichtete und den Klang aus seiner der Sprache dienenden Position befreite, um so sein eigentliches Potential zu entfalten. Die Anerkennung, die dem Neuen Hörspiel spätestens mit der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden an Friederike Mayröcker und Ernst Jandl für ihr Hörspiel Fünf Mann Menschen 1968 zuteil wurde, darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei vor allem um eine theoretische Wertschätzung handelte, an der die Arbeiten von Klaus Schöning besonderen Anteil hatten, denn in der Hörspielpraxis der Rundfunksender dominiert bis in die Gegenwart hinein das traditionelle Hörspiel in einem Programm, das insgesamt von Formenvielfalt geprägt und begrifflich kaum noch auf die beiden Extreme traditionelles oder neues Hörspiel zu reduzieren ist.232 Trotz einer ästhetischen Öffnung am Ende der 1950er Jahre kam es in der DDR zu keinem experimentellen Umgang mit der radiophonen Kunst, wie er in der Bundesrepublik zu beobachten war. In der Hörspielabteilung des DDR-Rundfunks favorisierte man grundsätzlich Handlungsund Figurenspiele, die sich am Konzept des ‚sozialistischen Realismus‘ orientierten. Es dominierte die sog. „Funkdramatik“233 mit Rollenspielen, in deren Inszenierung das gesprochene Wort im Mittelpunkt stand. Während sich zum westdeutschen Hörspiel eine Forschungstradition etablieren konnte, die bereits Ende der 1950er Jahre entstand und sich bis in die Gegenwart fortsetzt, existieren zum Hörspiel in der SBZ/DDR nur einzelne Veröffentlichungen.234 Die Vernachlässigung der ostdeutschen Hörspielproduktion wurde in der bundesdeutschen Forschung zumeist mit fehlendem ästhetischen Anspruch und seiner Instrumentalisierung für politische Interessen begründet. Denn als Sendung eines DDRMassenmediums hatte das Hörspiel „den Leitauftrag, zeitnah, parteilich und volkstümlich zu sein“,235 wobei sein realistisches wie ‚bewusstseinsbildendes‘ Potential im Hinblick auf das Gebot des sozialistischen Realismus von den Kulturfunktionären der DDR eher skeptisch beurteilt wurde. _____________ 232 Vgl. Bodo Würffel: Art. „Hörspiel“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. 3 Bde. Bd. 2. Berlin, New York 1997. 77–81, S. 80; vgl. Krug: Art. „Hörspiel“, S. 140; Knut Hickethier: „Radio und Hörspiel im Zeitalter der Bilder“. In: Radioästhetik – Hörspielästhetik. Augen-Blick 26 (1997): 6–20, S. 12. 233 Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 96. 234 Als einer der ersten verwies Würffel auf den blinden Fleck DDR in der Hörspielgeschichte. Eine umfassende Aufarbeitung der Produktion von Originalhörspielen leistete Sibylle Bolik: Das Hörspiel in der DDR. 235 Gerhard Rentzsch: „Vorwort“. In: Hörspiele 3. Hg. v. Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR. Berlin 1963. 7–8, S. 7.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

Die Beschränkung des Hörspiels auf die akustische Ebene galt ihnen nicht etwa als ästhetische Chance, sondern als Mangel. Es stand zur Debatte, ob eine Kunstform, die die Wirklichkeit allein auditiv repräsentierte, ‚realistisch‘ genug sei. Immer wieder wurde bezweifelt, ob es überhaupt möglich wäre, den realistischen Anspruch in der radiophonen Umsetzung zu verwirklichen. Das Hörspiel wurde demzufolge als „Übergangserscheinung“236 betrachtet, das in seiner Beschränkung auf lediglich eine sinnliche Dimension als wenig wirklichkeitsnah eingestuft wurde. Zudem schätzte man die Rezeption des Hörspiels als besonders individuell ein, und es wurde bezweifelt, ob auf diese Weise ausreichend Einfluss auf die Bewusstseinsbildung des Publikums genommen werden könnte. Im Gegensatz zu dieser allgemeinen Tendenz begründete Peter Gugisch, von 1969–1990 Leiter der Hörspielabteilung bzw. der Hauptabteilung Funkdramatik beim Radio der DDR, das realistische Potential des Hörspiels. Er verteidigte die Konflikterörterung im Hörspiel gegen eine rein schematische und unkünstlerische Abbildung der Wirklichkeit und „legte das theoretische Fundament für das realistische Hörspiel der DDR“ in seinem wegweisenden Begriff des ‚realistischen Problemhörspiels‘.237 Siegfried Hähnels Dissertation weist Ende der 1960er Jahre in dieselbe Richtung: Er bestimmt die „Worthandlung“ als „gattungskonstituierende[s] Element“, 238 betont aber gleichzeitig, „daß das Hörspiel nicht ein Dichten für den Funk, sondern ein Dichten mit akustischen Signalen und Zeichen“ ist.239 Trotz der politischen Teilung kann man von überraschend regen Interferenzen zwischen ost- und westdeutschem Hörspiel sprechen. Die wenig ambitionierte240 und vor allem von DDR-Rundfunkmitarbeitern betriebene241 theoretische Auseinandersetzung mit dem Hörspiel nahm _____________ 236 Gerhard Mehnert: Kritik des Hörspiels. Zu Situation und Prozeß eines modernen Aussageproblems. Leipzig 1948, S. 19. 237 Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 100 f. 238 Siegfried Hähnel: Probleme des Funktionswandels der Worthandlung im Hörspiel und ihre Bedeutung für den spezifischen Charakter der künstlerischen Abbilder dieser Kunstform. Ein Beitrag zur Theorie des Hörspiels. 2 Bde. Diss. Berlin 1969 [maschinenschr.], S. 40. 239 Hähnel: Probleme des Funktionswandels der Worthandlung im Hörspiel, S. 52. 240 Vgl. die exemplarische Klage Gerhard Rentzschs: „Es fehlt das wissenschaftliche Standardwerk über die Ästhetik des Hörspiels, über Mittel und Wesen des Rundfunks.“ Gerhard Rentzsch: „Gedanken über eine Kunstform“. In: Kleines Hörspielbuch. Hg. v. dems. Berlin 1960. 5–47, S. 14. 241 Vgl. die für das Hörspiel der DDR maßgeblichen Publikationen von Gerhard Rentzsch, 1951–1990 Hörspieldramaturg beim Radio der DDR, und Peter Gugisch, 1969–1990 Leiter der Hörspielabteilung bzw. der Hauptabteilung Funkdramatik; Peter Gugisch: „Hörspiel und Wirklichkeit“. In: Neue deutsche Literatur 13.6 (1956): 148–161; ders.: „Hörspiel in der DDR“. In: Hörspiele 6. Hg. v. Staatlichen Rundfunkkomitee der DDR. Berlin 1966. S. 7–177; Rentzsch: „Gedanken über eine Kunstform“; hier beklagt Rentzsch selbst „das

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die bundesdeutsche Hörspielentwicklung sehr wohl wahr, allerdings um sich bewusst von ihr abzugrenzen: Kritisiert wurden, wie in der späteren bundesdeutschen Rezeption des Hörspiels der 1950er Jahre auch, Tendenzen der Wirklichkeitsflucht und Innerlichkeit; mit Ablehnung trat man auch Sprach- und Formexperimenten entgegen, die als ästhetische ‚Spielereien‘ diffamiert wurden. Das westdeutsche Hörspiel, das nach herrschender Meinung „allein durch artifizielle Vervollkommnung seiner Ausdrucksmittel“ ein „Reservat der Gebildeten“242 darstellte, konnte nicht Vorbild für ein sozialistisches Kunstwerk sein. Trotzdem ging eine Vielzahl westdeutscher Hörspiele über ostdeutsche Sender, sofern sie kapitalismuskritische Inhalte in realistischem Gewand präsentierten. Ihre Akquise fiel in den Aufgabenbereich der Abteilung „Internationale Funkdramatik“ (IFD), die 1969 gegründet wurde.243 Sie organisierte die Zusammenarbeit des Rundfunks der DDR mit dem (sozialistischen und nicht-sozialistischen) Ausland. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der IFD erschlossen geeignete Hörspiele aus dem Repertoire fremder Rundfunkanstalten, die dann für den ostdeutschen Rundfunk übersetzt, bearbeitet und neu produziert wurden. Die Hörspiele aus dem Ausland – zu denen selbstverständlich auch jene aus der Bundesrepublik Deutschland zählten – machten einen Großteil der gesendeten Hörspiele aus. Waren am Anfang der 1970er Jahre Hörspiele aus anderen deutschsprachigen Ländern noch die Ausnahme, nahm die Zusammenarbeit mit westdeutschen Rundfunkanstalten seit der Mitte der 1970er Jahre stetig zu. Als die IFD ihre Arbeit 1990 einstellte, war die Bundesrepublik mit 70 Hörspielen nach der Sowjetunion zweitwichtigster Partner in der internationalen Zusammenarbeit.244 _____________ Versagen der Wissenschaft […]. In seltsamer Blindheit sind die deutschen Universitäten am Hörspiel vorbeigegangen. In den Archiven der Funkhäuser ruht künstlerisch hochwertige Literatur […] – aber unsere Germanisten nehmen keine Notiz davon.“ (S. 15). Als Geisteswissenschaftler an der Humboldt-Universität Berlin befasste sich Siegfried Hähnel theoretisch mit dem Hörspiel, bildete in dieser Hinsicht aber eine Ausnahme: Hähnel: Probleme des Funktionswandels der Worthandlung im Hörspiel; ders.: „Rundfunkpublizistik mit künstlerischen Mitteln“. In: Neue deutsche Literatur 14.9 (1966): 171–173; ders.: „Schule des Dialogs – Theater für Blinde?“ In: Neue deutsche Literatur 15.7 (1967): 179–188; ders.: „Der Funktionswandel der Worthandlung im Hörspiel und der spezifische Charakter dieser Kunstform“. In: Weimarer Beiträge 15.2 (1969). 355–416. Vgl. zum Verhältnis von Theorie und Praxis in der Publizistik zum Hörspiel Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 15, Anm. 63. 242 Peter Gugisch: Die Entwicklung des Gegenwartshörspiels in der Deutschen Demokratischen Republik. Diss. Greifswald 1965 [maschinenschr.], S. 55; zit. n. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 19. 243 Kristiane Lichtenfeld: Weltgewinn Hörspiel. Zwei Jahrzehnte Internationale Funkdramatik im Rundfunk der DDR. Berlin 1993. 244 Wenn Peter Gugisch, Hans-Jürgen Krug zufolge, 1992 feststellt, „im Laufe von Jahrzehnten“ hätte der „DDR-Rundfunk kaum ein halbes Dutzend westdeutscher Hörspielproduktionen übernommen“, so meint dies die akustischen Umsetzungen der westdeutschen Rundfunksender. Die übernommenen Hörspiele wurden im DDR-Rundfunk in der Regel

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

Die Auswahl aus dem umfangreichen Angebot an Hörspielen in westdeutschen Rundfunksendern erfolgte nach strengen politischen und ästhetischen Kriterien. So „hatten Hörspiele aus kapitalistischen Ländern grundsätzlich die Aufgabe der Kapitalismuskritik zu erfüllen“; und „[d]ie Form der Hörspiele unterlag einem ausschließlichen Realismusgebot, weshalb alles Experimentelle, was sich im westlichen, auch gerade im westdeutschen Hörspiel entwickelte, von vornherein von einer Übernahme ausgeklammert war“.245 Hierin liegt auch die mit über 30 Jahren verspätete Sendung von Hörspielen, die bereits in den 1950er Jahren mit großem Erfolg in der Bundesrepublik ausgestrahlt wurden, begründet: Günter Eichs Träume oder Ilse Aichingers Knöpfe konnten aufgrund ihrer surrealen Inhalte erst in den 1980er Jahren im DDR-Rundfunk gesendet werden und markieren so die späte ästhetische Öffnung des ostdeutschen Hörspiels. Trotz einer ausgeprägten Thematisierung der NS-Vergangenheit im Radio der DDR lässt sich feststellen, dass eine authentische Auseinandersetzung mit dem Holocaust im DDR-Hörspiel marginalisiert wurde. Der überwiegende Teil der ohnehin verhältnismäßig geringen Anzahl von Sendungen stellt Übernahmen aus dem Ausland, vor allem aus der Bundesrepublik Deutschland, dar. Für die eher zaghafte Thematisierung des Holocaust in Hörspielen von DDR-Autorinnen und -Autoren gibt es zwei wesentliche Ursachen: Zum einen verhinderte die generell geringe Präsenz des Themas in der öffentlichen Debatte eine Bearbeitung, zum anderen sollten die Hörspiele historischen Inhalts immer einen Bezug zur Gegenwart aufweisen. Da aber in der DDR vorgeblich mit dem Nationalsozialismus ‚abgerechnet‘ und seine Grundlage, der Kapitalismus, abgeschafft worden war, gab es keinen konfliktreichen Stoff, der sich zur Behandlung angeboten hätte. Allgemeiner formuliert, heißt es bspw. im Jahresbericht der Hörspielabteilung 1984: Bei der Diskussion mit Autoren ergab sich, daß es nach wie vor zu den Hauptproblemen bei der Erarbeitung von Stücken zum Friedenskampf gehört, den spezifischen Beitrag von Individuen dieser Gesellschaft als dramatischen Vorgang zu entdecken. [...] Jeder Autor eines kapitalistischen Landes könnte dutzende Personen, Ereignisse, Gesellschaften, Skandale, Intrigen, Beispiele für Kriegsvorbereitungen von Interessengruppen benennen. Für DDR-Autoren wird – insgesamt gesehen – der Weltwiderspruch in der sozialen Geborgenheit unserer Gesellschaft nicht unmittelbar erlebbar. [...] So liegt es auf der Hand, daß künstlerische Wortmeldungen zum Weltthema Nr. 1 von DDR-Autoren vorwiegend auf

_____________ neu produziert. Das Zitat findet sich ohne Zitatnachweis bei Hans-Jürgen Krug: Kleine Geschichte des Hörspiels. Konstanz 22008, S. 101. 245 Lichtenfeld: Weltgewinn Hörspiel, S. 8.

Sozialsystemische Institution: Der Rundfunk in der DDR

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der Basis von Erfahrungen oder künstlerischen Vorlagen aus anderen Sozialsystemen erfolgten.246

Aktuelle Bezüge stellten sich lediglich für die Bundesrepublik her in gegenwärtigen Gerichtsprozessen sowie dem Fortwirken alter Nationalsozialisten. Sie allein hatte die Vergangenheit noch nicht ‚bewältigt‘. Wenn also Autorinnen und Autoren aus der DDR sich mit dem Holocaust beschäftigten, dann häufig unter der Prämisse der aktuellen Anbindung an die gegenwärtige ‚Bedrohung des Weltfriedens‘ durch den ‚Klassenfeind‘. Insgesamt ist festzustellen, dass westdeutsche Hörspiele viel häufiger über ostdeutsche Sender liefen als umgekehrt. Wurden literarische Texte ostdeutscher Autorinnen und Autoren in den Jahren 1945 bis 1989 rege rezipiert und Veröffentlichungen auch in Westdeutschland geradezu forciert, blieben die Rundfunkarbeiten eben dieser Schriftstellerinnen und Schriftsteller weitgehend ohne Beachtung. Vereinzelt lässt sich an der überlieferten Hörerpost ablesen, dass, wenn auch in geringem Maße, ein Publikum im westlichen deutschsprachigen Raum das Hörspielprogramm der DDR-Sender wahrnahm. Von Mitte der 1960er Jahre an wurden auch DDR-Hörspiele auf bundesdeutschen Kanälen gesendet. So schloss beispielsweise die Hörspielabteilung des WDR 1965 eine Austauschvereinbarung mit dem DDR-Rundfunk ab;247 die Grünsteinvariante von Wolfgang Kohlhaase markierte mit dem 1977 verliehenen „Prix Italia“248 den Höhepunkt der europäischen Wahrnehmung eines ostdeutschen Hörspiels, und nach dem ost-westdeutschen Kulturabkommen von 1986 kam es geradezu zu einem Boom von DDR-Hörspielen im westdeutschen Radio. 2.4. Sozialsystemische Institution: Der Rundfunk in der DDR „Der Rundfunk ist die Stimme der Republik.“ (Bertolt Brecht)

Hörspielgeschichte ist untrennbar verbunden mit Rundfunkgeschichte, da Programmstruktur und Hörspielästhetik eng an die institutionelle Ausprägung des Rundfunks gebunden waren, die gerade auch in der DDR von _____________ 246 Jahresbericht der Hauptabteilung Hörspiel 1984. Typoskript. DRA Potsdam. Signatur: F 009-001-04/02/32, S. 1 f. 247 Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 8. 248 Der Prix Italia wird seit 1948 als einer der renommiertesten europäischen Preise für Hörfunk-, Fernseh- und neuerdings auch Internet-Produktionen verliehen. Als erstes Hörspiel wurde 1954 Under Milk Wood von Dylan Thomas ausgezeichnet.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

der jeweiligen gesellschaftlich-politischen Situation bestimmt wurde.249 Nach dem Ende des Nationalsozialismus nutzten alle Besatzungsmächte die Möglichkeiten des Rundfunks als mediales Instrument der Umerziehung.250 Die sowjetische Besatzungsmacht übertrug die Rundfunkverantwortung hierfür bereits 1945 den aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrten deutschen Kommunisten, die sie der Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVfV) unterstellten, und bereits „eineinhalb Jahre nach Kriegsende“ war „in der SBZ ein weitgehend zentral gelenkter Rundfunk geschaffen worden, in dem KPD-Mitglieder bzw. in sowjetischen AntifaLagern geschulte Funktionäre alle entscheidenden Positionen besetzten“.251 Er verfolgte ein „volkspädagogisches Medien-Konzept mit stark didaktischen Zügen“252 und diente der Verbreitung der politischen Leitlinien der SED. Als zentralisiertes Massenmedium unterstand er direkt der Staatsführung. Das Staatliche Rundfunkkomitee war „als oberstes Leitungs- und Kontrollgremium des Hörfunks […] formal dem Ministerrat und real dem Zentralkomitee der SED unterstellt“.253 Die Folgen der politischen Durchdringung des Massenmediums Rundfunk waren nicht zu überhören: Gemäß der marxistisch-leninistisch geprägten Medienkonzeption der DDR, die einen möglichst parteilichen Journalismus forderte, verbreiteten die DDRMedien, und damit natürlich auch der Hörfunk, ein einseitiges, ideologisch geprägtes Weltbild. Informationen wurden so ausgewählt, bearbeitet interpretiert und kommentiert, dass sie den Zielen der herrschenden Partei entsprachen. Unliebsame Informationen und Meinungen wurden unterdrückt oder verzerrt wiedergegeben.254

Der Rundfunk der DDR brachte im Laufe der Jahre verschiedene Radiosender hervor, die – im Rahmen der politischen Vorgaben – auf unterschiedliche Programmschwerpunkte ausgerichtet waren. Während bspw. Radio DDR I das Informations- und Unterhaltungsprogramm für weite _____________ 249 Das enge Zusammenspiel von Rundfunkanstalten als Institutionen und der Hörspielproduktion wird in fast allen Arbeiten zur Hörspielgeschichte berücksichtigt. Zuletzt bei Susanne Weichselbaumer: Das Hörspiel der fünfziger Jahre. „Regionalliga Süd“ und „Champions League“. Frankfurt a. M. 2007, S. 17. Erst mit der fortschreitenden „Demokratisierung“ der digitalen Technik koppelte sich das Hörspiel zunehmend vom Rundfunk ab. 250 Vgl. bspw. Ingrid Pietrzynski: „Der Rundfunk ist die Stimme der Republik …“ Bertolt Brecht und der Rundfunk der DDR 1949–1956. Berlin 2003, S. 11. 251 Wolfgang Mühl-Benninghaus: „Medienpolitische Probleme in Deutschland zwischen 1945–1989“. In: Mit uns zieht die neue Zeit… 40 Jahre DDR-Medien. Eine Ausstellung des Deutschen Rundfunk-Museums 25. August 1993 bis 31. Januar 1994. Hg. v. Heide Riedel. Berlin 1993. 9–20, S. 10. 252 Pietrzynski: „Der Rundfunk ist die Stimme der Republik …“, S. 11. 253 Pietrzynski: „Der Rundfunk ist die Stimme der Republik …“, S. 12. 254 Klaus Arnold u. Christoph Classen (Hg.): „Radio in der DDR. Einleitung“. In: Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Hg. v. dens. Berlin 2004. 13–26, S. 17 f.

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Teile der DDR-Bevölkerung darstellte, war Radio DDR II eher als Kulturund Bildungskanal konzipiert. Hier wurden anspruchsvolle Unterhaltung, die vor allem in Wortbeiträgen bestand, mit klassischer Musik verbunden. Der Berliner Rundfunk konzentrierte sich auf Hauptstadt-Themen, Magazine und Unterhaltungsmusik, während am Ende der 1980er Jahre der Jugendsender DT 64 besondere Popularität erlangte. Der Deutschlandsender, im Oktober 1948 wieder in Betrieb genommen, richtete sich über die Grenzen der DDR hinweg vor allem an ein westdeutsches Publikum. Sein hochpolitisches Programm wurde im November 1971 eingestellt; auf der Frequenz sendete fortan der Sender Stimme der DDR, der sich, wie die genannten Programme zuvor, ebenfalls an die Bevölkerung des eigenen Landes richtete. Neben diesen landesweiten Sendern etablierte sich im Laufe der Jahre eine zunehmende Zahl von Regionalsendern. Vergleicht man die west- und ostdeutsche Anzahl jener Haushalte, die über einen Radioapparat verfügten, liegt sie 1950 bei 54 % in der Bundesrepublik und 56 % in der DDR; und in den Jahren 1964 und 1980 in ganz Deutschland bei 87 und 96 %.255 Hatte die DDR-Regierung den Deutschlandsender eingesetzt, um die Bevölkerung Westdeutschlands zu erreichen, so konnte sie andererseits nicht verhindern, dass auch die DDRBürger westliche Rundfunk- und später auch Fernsehprogramme rezipierten.256 (Westliche Printmedien blieben dagegen nach dem Mauerbau 1961 für die DDR-Bevölkerung nahezu unerreichbar.) Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang der RIAS Berlin, über den speziell die Amerikaner Informationspolitik gen Osten betrieben.257 Der von Brecht bereits in den 1920er Jahren konstatierte und kritisierte Einsatz des Radios als „Distributionsapparat“258, also als einseitiges Verbreitungsmedium in den Händen des Senders, begründete eine besondere Machtposition desjenigen, der über die Sendehoheit verfügte. Diese Konstellation führte im Falle von Diktaturen zu offenkundigen Indoktrinationsversuchen über den Hörfunk. Diese Einflussnahme musste jedoch in spezifischer Weise präsentiert werden, um zu verhindern, dass sich der Hörer dem angebotenen Programm durch ein Abschalten schlichtweg entzog. Hörerumfragen bestätigten immer wieder, dass das DDRRundfunkpublikum „Schlagersendungen“ favorisierte, während Berichte _____________ 255 Vgl. Michael Meyen: „Das unwichtige Medium. Radiohören in der DDR“. In: Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Hg. v. Klaus Arnold u. Christoph Classen. Berlin 2004. 341–356, S. 346 f. 256 Pietrzynski: „Der Rundfunk ist die Stimme der Republik …“, S. 12. 257 Vgl. Michaela Meier: „Mediennutzung in der DDR im Spiegel der USIA-Studien 1952– 1961. Bevölkerungsbefragungen als Grundlage der amerikanischen Gegenpropaganda“. In: Radiotage, Fernsehjahre. Studien zur Rundfunkgeschichte nach 1945. Hg. v. Markus Behmer u. Bettina Hasselbring. Münster 2006. 225–250, S. 226. 258 Brecht: „Der Rundfunk als Kommunikationsapparat“, S. 553.

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Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium

über „politisches Zeitgeschehen“ nur für einen kleineren Teil der Bevölkerung Grund genug waren, das Radio einzuschalten.259 In den 1970er und 1980er Jahren erreichte das Radio 70 % der Bevölkerung, die im Durchschnitt täglich für zwei Stunden das Radio einschaltete.260 Die daher notwendige Einbettung politischer Agitation in Unterhaltungs-, vor allem Musiksendungen wurde bereits während des Nationalsozialismus praktiziert,261 und auch in der SBZ/DDR sah man sich von Beginn an in einer ähnlichen Situation: Einerseits sollte das Medium ideologisch gefärbte Programme verbreiten, um die Hörerinnen und Hörer in gewünschter Weise zu agitieren, andererseits schreckte politische Propaganda das nach Unterhaltung dürstende Publikum eher ab.262 Es musste ein Kompromiss gefunden werden, die zu verbreitenden Informationen so zu präsentieren, dass sie entweder in einen unterhaltenden Rahmen – vornehmlich Musikprogramme263 – eingebunden waren oder selbst Unterhaltungswert besaßen. Das Hörspiel als fiktionale künstlerische Wortsendung bot sich im Sinne des Letztgenannten geradezu an, politische Inhalte in einem literarischen und unterhaltenden Format zu vermitteln. In der SBZ und späteren DDR war hierfür die Abteilung „Künstlerisches Wort“ zuständig, die im Juni 1945 gegründet wurde und unter ihrem Dach neben der Abteilung Hörspiel auch die für Literatur, Theater und Kulturpolitik vereinte. Bis zum Ende der DDR wurde die Hörspielproduktion zentral geleitet. Je nach Zielgruppe und Themengebiet produzierten die einzelnen Sender Stücke, die dann auf verschiedenen Kanälen wiederholt wurden. Maßgeblich für die Hörspielproduktion waren die jährlich zu erstellenden Jahresplanungen, die inhaltliche Ausrichtungen vorgaben und die Schwierigkeiten bei der Gewinnung anspruchsvoller und linientreuer Manuskripte widerspiegeln. Die politische Einflussnahme ist in diesem Zusammenhang unüberhörbar, doch wird sich im Laufe dieser Studie zeigen, inwiefern _____________ 259 Vgl. Mühl-Benninghaus: „Medienpolitische Probleme in Deutschland zwischen 1945– 1989“, S. 10. 260 Fakten und Zahlen entstammen dem Beitrag von Rolf Geserick: „Vom Erziehungsinstrument zum Kulturgut? Zur Entwicklung des DDR-Rundfunks in der Honecker-Zeit“. In: Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Hg. v. Klaus Arnold und Christoph Classen. Berlin 2004. 151–162, S. 151–154, 261 Vgl. Marszolek: „Lautsprecher und leise Töne. Radio im Nationalsozialismus“, S. 53–68 262 „Die SED-Führung befand sich in einem Dilemma: Propagandaprogramme waren von der Bevölkerung nicht gewünscht und wurden nicht oder höchstens nebenbei genutzt. Dagegen erfreuten sich die Unterhaltungsprogramme durchaus einer großen Beliebtheit, schienen in den Augen der SED-Führung aber nicht zielführend bei dem Unterfangen, die Bürger zum sozialistischen Bewusstsein zu erziehen – und somit die eigene Herrschaft zu sichern.“ Arnold u. Christoph Classen: „Radio in der DDR“, S. 19 f. 263 Der Musikanteil im Rundfunk der DDR lag bei ungefähr 65 %. Vgl. Geserick: „Vom Erziehungsinstrument zum Kulturgut? Zur Entwicklung des DDR-Rundfunks in der Honecker-Zeit“, S. 151.

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Liberalisierungstendenzen in der Politik sich auch auf den Rundfunk und damit die Hörspielproduktion niederschlugen. Den in den Kapiteln II–IV folgenden Einzelanalysen wird aus diesem Grund jeweils eine medienhistorische Einführung vorangestellt, die die zeitgenössischen institutionellen Voraussetzungen des Hörspiels skizziert. Auf eine detaillierte Darstellung der Rundfunkgeschichte kann aus diesem Grund an dieser Stelle verzichtet werden. Zusammenfassend lässt sich schon jetzt feststellen, dass das Hörspiel eines der konstituierenden Elemente des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war. Wie andere künstlerische Artefakte diente es der Herausbildung eines gemeinsamen Geschichtsverständnisses zur Stabilisierung der nationalen Identität. Bedingt durch die politische Teilung Deutschlands fungierte es als räumlicher und zeitlicher Übermittler einer bestimmten Sicht auf die Vergangenheit und wurde in dieser Hinsicht von verschiedenen Seiten instrumentalisiert. Die genauen Mechanismen dieser Einflussnahme lassen sich anhand von Einzeluntersuchungen nachzeichnen, wie sie in den drei folgenden Kapiteln vorgenommen werden.

Kapitel II Der Jude als Integrationsfigur im Nachkriegsdeutschland und in den 1950er Jahren

1. Die Hörbühne als moralische Anstalt Bildung und Erziehung im Rundfunk der SBZ 1945–1949 1.1. Die Gründung des ‚deutschen demokratischen Rundfunks‘ Nur wenige Tage nach dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland und dem Abschalten des Großdeutschen Rundfunks nahm der Berliner Rundfunk am 13. Mai 1945 im Auftrag der KPD1 den Sendebetrieb auf. Unter schwierigen technischen wie personellen Bedingungen arbeiteten ausgewählte Antifaschisten wie Hans Mahle, Artur Mannbar, Erwin Wilke, Fritz Erpenbeck, Otto Fischer und Matthäus Klein, von denen einige bereits während des Exils am Moskauer Sender „Freies Deutschland“ Rundfunkerfahrungen gesammelt hatten, daran, ein tägliches Programm auszustrahlen. Mit den inzwischen legendären Worten: „Achtung, Achtung! Hier spricht Berlin“ eröffnete der Sprecher Matthäus Klein ein vorerst provisorisches Programm, das jedoch binnen einer Woche schon 19 Stunden Sendezeit am Tag umfasste.2 Intensiv wurde das Personal erweitert, so dass der neu gegründete Sender bereits Mitte Juni nahezu eintausend Mitarbeiter beschäftigte,3 die überwiegend vom Großdeutschen Rundfunk übernommen worden waren oder neu eingestellt wurden.4 Im Zuge des Entnazifizierungsprozesses mussten in den folgenden Monaten ca. 140 Mitarbeiter aufgrund ihrer NS-Vergangenheit den Berliner Rundfunk wieder verlassen.5 _____________ 1 2 3 4

5

Vgl. Matthäus Klein: „‚Hier spricht Berlin!‘ Die Geburtsstunde des deutschen demokratischen Rundfunks am 13. Mai 1945“. In: Erinnerungen sozialistischer Rundfunkpioniere. Ausgewählte Erlebnisberichte zum 30. Rundfunkjubiläum. Berlin 1975. 21–24, S. 23. Wolfgang Mühl-Benninghaus: „Literatur- und Hörspielproduktionen in den Programmen des Nachkriegsrundfunks der SBZ“. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk 1945–1949. Hg. v. Monika Estermann u. Edgar Lersch. Wiesbaden 1997. 96–111, S. 98. Vgl. Hans Mahle: „So fing es an! Der Beginn eines grundlegend neuen Kapitels deutscher Rundfunkgeschichte“. In: Erinnerungen sozialistischer Rundfunkpioniere. Ausgewählte Erlebnisberichte zum 30. Rundfunkjubiläum. Berlin 1975. 13–20, S. 15 f. „Zeittafel Berliner Rundfunk und Rundfunk in der SBZ und in Berlin“. In: Jörg-Uwe Fischer u. Ingrid Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“. In: „Hier spricht Berlin“. Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945. Hg. v. Deutschen Rundfunkarchiv. Potsdam 1995. 16–32, S. 19. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 61.

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Die Hörbühne als moralische Anstalt

Der Berliner Rundfunk war zu dieser Zeit das „einzige Programm, das von Deutschen für Deutsche in deutscher Sprache ausgestrahlt wurde“.6 Dank der großen Verbreitung des sogenannten Volksempfängers war die Berliner Bevölkerung nach dem Krieg noch im Besitz von 730.000 Rundfunkempfängern, in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) waren es sogar noch 2,5 Millionen Geräte – und die Zahl wuchs bis zum Beginn der 1950er Jahre stetig an.7 Folgt man den Ausführungen von Ingrid Pietrzynski und Jörg-Uwe Fischer, so war der Berliner Rundfunk in den Monaten nach Kriegsende der Sender, der in ganz Berlin und großen Teilen der SBZ ein „Rundfunkmonopol“ besaß. In einer amerikanischen Befragung vom November 1945 gaben 65% der Berliner an, Radio zu hören, davon 70% in erster Linie den Berliner Rundfunk, davon wiederum fast 90% bekundeten, „den Berliner Rundfunk gern zu hören“.8 Im Gegensatz zu anderen Medien wie Zeitung, Buch, Film und Theater erreichte das Radio problemlos große Teile der Bevölkerung: Doch während Buch und Zeitschriften von den Papierkontingentierungen betroffen waren und die Theater- und Kleinkunstbühnen in den Ruinenlandschaften Deutschlands mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sein mußten, unterlag das Medium Rundfunk solchen Beschränkungen nicht. Ein einmal über das Kriegsende hinweg gerettetes Empfangsgerät gestattete die von diesen infrastrukturellen Bedingungen unabhängige Nutzung.9

In Zusammenarbeit mit deutschem Personal, das in leitenden Positionen vor allem aus zurückgekehrten Emigranten,10 aber auch aus Rundfunkpionieren bestand, die im NS-Rundfunk untergeordnete Stellungen inne hatten, kontrollierten Kulturoffiziere der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die Programmgestaltung. Früher als in den westlichen Besatzungszonen wurde der Rundfunk der SBZ im Dezember 1945 einer deutschen Behörde unterstellt, der neu geschaffenen Deutschen Verwaltung für Volksbildung (DVfV), die nun über Form und Inhalt sowie Finanzen zu entscheiden hatte, aber noch immer dem SMAD _____________ 6

7 8 9 10

Vgl. Mahle: „So fing es an!“, S. 16. In den westlichen Besatzungszonen wurde das Programm in den ersten Wochen nach dem Krieg in englischer und französischer Sprache ausgestrahlt und richtete sich eher an die Alliierten als an die deutsche Bevölkerung. Die westlichen Sender NWDR und RIAS nahmen erst im Juni bzw. September 1946 ihre Arbeit auf. Vgl. Mühl-Benninghaus: „Literatur- und Hörspielproduktionen in den Programmen des Nachkriegsrundfunks der SBZ“, S. 107. Vgl. Hans-Ulrich Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“. Das Hörspielprogramm in Deutschland 1945–1949. Potsdam 1997, S. 14 u. 34. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 63 f. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 13. Hier sind vor allem Fritz Erpenbeck, Hans Mahle und Wolfgang Leonhard zu nennen, die während ihres Exils im Moskauer Sender „Freies Deutschland“ tätig waren. Vgl. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 29.

Das Hörspiel als Instrument von Bildung und Umerziehung

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unterstand.11 Trotz eines ausgeprägten Kontrollsystems der SMAD – „Jedes durch den Rundfunk durchgegebene Material muß[te] einer vorherigen Durchsicht durch die Zensoren unterzogen werden“12 – loben Zeitzeugen das „Fingerspitzengefühl“, mit dem die sowjetischen Offiziere die Zensur ausübten.13 Offenbar waren ihre kulturpolitischen Vorgaben weniger regide als die der ab 1946 herrschenden SED-Funktionäre.14 Im August 1946 wurde der SBZ-Rundfunk, der neben dem Berliner Rundfunk inzwischen Landessender in Weimar, Dresden, Schwerin, Leipzig, Potsdam und Halle umfasste,15 erneut umstrukturiert. Seine Arbeit wurde unter der Leitung des neuen Generalintendanten Hans Mahle zentralistisch auf die politischen Ziele der kommunistischen Führung der im selben Jahr aus KPD und SPD gegründeten Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) ausgerichtet. Trotz der personellen und inhaltlichen Veränderungen ist der Rundfunk in der SBZ, Hans-Ulrich Wagner zufolge, bis 1949 aber noch immer ein Ort, an dem Redakteure relativ frei arbeiten konnten und auch formale Experimente Raum fanden.16 1.2. Das Hörspiel als Instrument von Bildung und Umerziehung Die sowjetischen Kontrolloffiziere, denen auch der Berliner Rundfunk unterstellt war, setzten ihn wegen seiner Massenwirksamkeit von Beginn an gezielt zur Umerziehung und Wertevermittlung ein. Sie realisierten damit, was die KPD noch vor Kriegsende am 5. April 1945 in ihren „Richtlinien des Politbüros des ZK der KPD für die Arbeit der deutschen Antifaschisten in dem von der Roten Armee besetzten deutschen Gebiet“ als Ziel formuliert hatte. Demzufolge sollte der Rundfunk – wie auch die zu gründende Deutsche Volkszeitung – dazu dienen, „die allgemeine antifa_____________ 11 12

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Sibylle Bolik: Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen. Frankfurt a. M. 1994, 29. Befehl Nr. 29 der SMAD. In Auszügen abgedruckt in der „Zeittafel Berliner Rundfunk und Rundfunk in der SBZ und in Berlin“. In: Jörg-Uwe Fischer u. Ingrid Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“. In: „Hier spricht Berlin“. Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945. Hg. v. Deutschen Rundfunkarchiv. Potsdam 1995. 16–32, S. 24. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 59. Vgl. auch Berta Waterstradt: „Ich war Rundfunkpionier“. In: Erinnerungen sozialistischer Rundfunkpioniere. Ausgewählte Erlebnisberichte zum 30. Rundfunkjubiläum. Berlin 1975. 71–74, S. 73. Allein Mühl-Benninghaus widerspricht dieser tradierten Forschungsansicht; vgl. MühlBenninghaus: „Literatur- und Hörspielproduktionen in den Programmen des Nachkriegsrundfunks der SBZ“, S. 96. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 33. Vgl. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 32.

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Die Hörbühne als moralische Anstalt

schistische Umerziehung zu fördern, besonders die Aufklärung über das Wesen des deutschen Imperialismus, des preußischen Militarismus und des Rassismus“17; und noch 1947 benennt der Generalintendant Hans Mahle „die kulturelle Erneuerung im Geiste des Humanismus, der Freiheit, der Demokratie, des Friedens und der Kulturgemeinschaft der Nationen“ als Ziel des Rundfunks.18 In den ersten Monaten nach Kriegsende gehörte zu den Zielen des Umerziehungsprogramms auch die kritische Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Rassenlehre, die sich vor allem gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet hatte. Im „Aufruf des ZK der KPD an das deutsche Volk“ vom 11. Juni 1945 zählte zu den „unmittelbarsten und dringendsten Aufgaben“ der antifaschistischen Umwälzungen auch die Herstellung der „Gleichheit aller Bürger ohne Unterschied der Rasse vor dem Gesetz und strengste Bestrafung aller Äußerungen des Rassenhasses“ sowie die „[s]ystematische Aufklärung über den barbarischen Charakter der Nazi-Rassentheorie“.19 Die beschriebene Umerziehung der deutschen Bevölkerung sollte jedoch nicht über vordergründige Agitation erreicht werden. Bereits in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Der Rundfunk von 1946 schreibt Hans Mahle zwar die Ausrichtung des Mediums auf ein Umerziehungsprogramm fest, allerdings fordert er gleichzeitig unterhaltende wie politische Aspekte organisch zu vereinen, um so „behutsame“ Aufklärungsarbeit zu leisten: Das Rundfunkprogramm kann nicht nur dem einfachen Unterhaltungsbedürfnis der Müden und Verzagten genügen, sondern muß über die gehobene Unterhaltung zum Wecker schlummernder Werte, zum Künder der so lange verschütteten Kräfte des Fortschritts der zivilisierten Welt, zum Rufer und Mahner unserer geistigen Erneuerung werden. [...] Es kann in diesem Sinne keinen unpolitischen Rundfunk geben. [...] Sowohl das unterhaltende als auch das ernste Musikprogramm und selbstverständlich die gesamten Wortsendungen unseres Berliner Rundfunks werden daher sorgfältig ausgewählt, um eine der wichtigsten Forderungen der Freunde aller demokratischen fortschrittlichen Kräfte unseres Volkes zu erfüllen, nämlich die Überwindung und Ausmerzung der nazistischen Ideologie. Die Holzhammernarkose der vergangenen zwölf Jahre wird nach dem Willen der neuen Rundfunkführung einer behutsamen, aufklärenden Arbeit weichen.20

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„Richtlinien des Politbüros des ZK der KPD für die Arbeit der deutschen Antifaschisten in dem von der Roten Armee besetzten deutschen Gebiet vom 5. April 1945“. In: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland. Dokumente aus den Jahren 1945–49. Hg. v. Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Berlin 1968. 5–11, S. 6. Hans Mahle: „Zwei Jahre demokratischer Rundfunk“. In: Beiträge zur Geschichte des Rundfunks. Schriftenreihe des DDR-Rundfunks 14.1 (1980): 12. „Aufruf des ZK der KPD an das deutsche Volk zum Aufbau eines anifaschistischdemokratischen Deutschlands vom 11. Juni 1945“. In: Deutsche Volkszeitung (13. Juni 1945); wiederabgedruckt in: Um ein antifaschistisch-demokratisches Deutschland, S. 62 f. Rudolf Mießner: „Politischer Rundfunk?“ In: Der Rundfunk 1.1 (1946): 2 u. 12.

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Hierfür war das Hörspiel an der Schnittstelle von Unterhaltung, Dokumentation, Literatur und Politik geradezu prädestiniert. Es spielte daher im Rahmen der antifaschistischen Umerziehung durch den Rundfunk eine besondere Rolle, die – wie Hans-Ulrich Wagner hinreichend belegt hat – in erster Linie in der Literaturvermittlung bestand.21 So formuliert Peter Huchel 1946 anlässlich seiner Ernennung zum Chefdramaturgen des Berliner Rundfunks die Ziele seiner Arbeit folgendermaßen: Die deutsche Dichtung unserer Tage hat die Aufgabe, den deutschen Menschen aus dem inneren und äußeren Chaos, in das ihn Faschismus und Militarismus gestürzt haben, zu retten (...). Nicht phrasenhaftes Übertünchen von Gräueln und Mißständen, nicht Ablenkung auf Unwesentliches, nicht ein verantwortungsloses billiges Spiel mit Worten und Gedanken ist der Inhalt dieser neuen Literatur, sondern (...) es geht um die Erweckung der Seele des deutschen Volkes zu neuem Leben.22

Im Gegensatz zu Sibylle Bolik, die die Hörspielproduktion der SBZ in den Jahren 1945 bis 1949 als lediglich „reproduktive Phase“23 bezeichnet, spricht Wagner bezüglich des Berliner Rundfunks von einem „fulminanten Auftakt“.24 Die Arbeitsgruppe Hörspiel, die gemeinsam mit der literarischen Arbeitsgruppe seit 1945 der Abteilung „Wort“ unterstand, produzierte zunächst kurze ‚Hörbilder‘ und später abendfüllende Hörspiele, die bereits ab Juli 1945 jeden Donnerstagabend gesendet wurden.25 Wie in den leitenden Funktionen des Rundfunks insgesamt wurden entscheidende Positionen der Hörspielabteilung mit KPD-nahen Mitarbeitern besetzt. Zu ihnen gehörten Hedda Zinner, Fritz Erpenbeck und Heinrich Greif. Im Vertrauen auf die erzieherische Funktion von Literatur bestimmte die Wiederbelebung der deutschen wie internationalen bürgerlich-humanistischen Dramen ebenso das Programm wie die Exilliteratur der unmittelbar vergangenen Jahre und die antifaschistische Literatur vor 1933. Die sowjetische Literatur machte zu diesem frühen Zeitpunkt mit Werken von Nikolai Gogol (Die Brautschau; 1945), Alexander Puschkin (Mozart und Salieri, Zar Saltan; 1946) und Michael Soschtschenko (Die Leinenmappe; 1946) lediglich einen Bruchteil des Repertoires aus. Die sozialis_____________ 21 22

23 24 25

Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 13. Peter Huchel: „Neue deutsche Dichtung“. In: Der Rundfunk 1.15 (1946): 12. Vgl. auch Hans-Ulrich Wagner: „Deutsche Identität(en). Zur Rolle literarischer Programmangebote in der Nachkriegszeit“. In: Zwischen Pop und Propaganda. Radio in der DDR. Hg. v. Klaus Arnold u. Christoph Classen. Berlin 2004. 99–112, S. 99. Bolik: „Reproduktive Phase: Hörspielarbeit in der Sowjetischen Besatzungszone (1945– 1949)“. In: dies.: Das Hörspiel in der DDR. 28–45. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 44. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 45.

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Die Hörbühne als moralische Anstalt

tische Gegenwartsliteratur aus der UdSSR fiel erst ab 1949 stärker ins Gewicht. Die Frage, welches das erste nach dem Krieg gesendete Hörspiel war, ist aus heutiger Perspektive nur noch schwer zu beantworten. Grund dafür ist einerseits die schlechte Quellenlage, da aus dem Jahr 1945 kaum Hörspiele auf Tonträgern erhalten sind, Manuskripte ganz fehlen und aus Presseankündigungen nur vage Angaben zu entnehmen sind; andererseits führt die Unterscheidung zwischen Hörbildern, Hörszenen und Hörspielen zu Definitionsschwierigkeiten. Jörg-Uwe Fischer und Ingrid Pietrzynski geben Hypnose von Josef Pelz von Felinau als erstes Hörspiel an, das am 5. Juli 1945 ausgestrahlt wurde.26 Wagner führt in seiner Übersicht über das Hörspielprogramm des Berliner Rundfunks an erster Stelle eine Szene aus Theodor Plieviers Stalingrad-Roman auf, die unter dem Titel Der Befehl ist ausgeführt am 15. Juli 1945 gesendet wurde. Mahle benennt für „Anfang September“ Lessings Nathan der Weise „als erstes abendfüllendes Hörspiel“27 und bezieht sich hierbei vermutlich auf die Sendung am 17.9.1945, die auf dem gekürzten Mitschnitt der Eröffnung des Deutschen Theaters in Ost-Berlin am 7.9.1945 basierte;28 allerdings finden sich auch Hinweise, dass Nathan der Weise bereits am 2. August als Hörspielinszenierung über den Sender ging.29 Unbestritten ist, dass als Funkfassungen im Berliner Rundfunk noch im selben Jahr Werke von Goethe, Oscar Wilde, Gerhard Hauptmann, Franz Grillparzer, Molière, Nikolai Gogol und Friedrich Hebbel gesendet wurden und damit sogenannte Weltliteratur das Hörspielprogramm dominierte. Wagner weist zudem auffallende Parallelen zwischen dem Hörspielprogramm und den Spielplänen der Berliner Theater sowie den Verlagsprogrammen nach, „wobei ihm [dem Rundfunk, M.G.] des öfteren die Rolle zukam, als erster bestimmte Autoren und Werke vorstellen zu können“.30 _____________ 26

27 28 29

30

„Zeittafel Berliner Rundfunk und Rundfunk in der SBZ und in Berlin“, S. 21. Wagner dagegen benennt für Hypnose den 1. August 1945; ebenso die Hörspieldatenbank der ARD. Vgl. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 44 und http://livelx.ard.de/radio/ hoerspiel_soundart/dra/htdocs/search.php, abgerufen am 6.11.2005. Vgl. Mahle: „So fing es an!“, S. 18. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 33–66. Vgl. Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 44; Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 45, Anm. 34; http://livelx.ard.de/radio/ hoerspiel_soundart/dra/htdocs/search.php (6.11.2005). Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 46. So beispielsweise bei Lessings Nathan der Weise und Wolfs Professor Mamlock.

Das Hörspiel als Instrument von Bildung und Umerziehung

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Die Arbeit in den Redaktionen bestand also vor allem in der Erschließung und Einrichtung literarischer Texte für den Rundfunk. Originalhörspiele im engeren Sinn entstanden nur sehr begrenzt und fast ausschließlich aus der Feder festangestellter Mitarbeiter. Entsprechend klagten die Hörspielmacher noch am Ende des Jahrzehnts über den Mangel an Rundfunkautoren. An diesem Umstand änderten auch ambitionierte Initiativen wenig: Weder die Hörspielpreisausschreiben von 194731 noch die regelmäßig stattfindenden Schulungen im Abfassen von Hörspielen brachten die erhofften Resultate. Die literarische Herkunft vieler Manuskripte und die vorrangige Funktion des Rundfunks als „Literaturvermittler“ führten zur ästhetischen Dominanz des gesprochenen Wortes. Peter Huchel32, Hörspielautor und Mitbegründer der Hörspielabteilung des Berliner Rundfunks, charakterisierte noch 1947 als „Grundgesetz für das Hörspiel“, „einen dramatischen Vorgang [...] nur durch die Kraft des dichterischen Wortes zu erleben“.33 Obwohl es noch „keine umfassende Dramaturgie des Hörspiels“ gab, empfahl Huchel als Radiopraktiker ein Hörspiel in Form von Dialogen, das trotz der besonderen „Möglichkeit des schnellen Orts- und Zeitwechsels“ die „Einheit der Handlung“ wahrt und „packenden, allgemein interessierenden Stoff“ präsentiert. Das Hörspiel sollte die Sendezeit einer Stunde nicht überschreiten – „da das Ohr leichter ermüdet als das Auge“ – und Geräusche sowie Musik nur dort einsetzen, „wo es unbedingt nötig ist“.34 Die Hörspielmacher der Sowjetischen Besatzungszone sahen sich zwar gern in der ‚linken‘ Tradition von Rundfunkautoren der Weimarer _____________ 31

32

33 34

E. Bischoff: „Das beste Hörspiel. Wer schreibt es für den Rundfunk?“. Der Rundfunk 1 (1946): 11. Hierin verweist der Autor auf die Preisausschreiben des Berliner Rundfunks (Einsendeschluss 15. März 1947) und des Mitteldeutschen Rundfunks (Einsendeschluss 28. Februar 1947), die das beste Hörspiel mit jeweils 5.000 Mark prämierten. Peter Huchel (1903–1981) war Autor und Redakteur zur Zeit der Weimarer Republik, dessen Hörspiele und Funkfassungen zwischen 1934 und 1940 zahlreich im Rundfunk gesendet wurden. Nach dem Krieg und sowjetischer Gefangenschaft wurde er Ende 1945 mit der Einrichtung der Hörspielabteilung im Berliner Rundfunk beauftragt, wo er bis 1949 als Sendeleiter und künstlerischer Direktor tätig war. 1949–1962 arbeitete er als Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form, veröffentlichte nach seiner Absetzung in der Bundesrepublik und erhielt zahlreiche Literaturpreise. Nach acht Jahren der Isolation und Überwachung konnte er 1971 nach Westdeutschland übersiedeln. (Vgl. seine Vita in Peter Huchel: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Bd. II: Vermischte Schriften. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a. M. 1984. 452–454.) „Huchels Rundfunktätigkeit in der Masurenallee ist ein Paradebeispiel für den Versuch der sowjetischen Besatzungspolitik in dieser ersten Phase, ein breites bürgerliches Bündnis für die Aufbauarbeit in Deutschland zu gewinnen.“ Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“, S. 36. Peter Huchel: „Rede über das Hörspiel“. In: ders.: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Bd. II: Vermischte Schriften. Hg. v. Axel Vieregg. Frankfurt a. M. 1984. 254–260, S. 254. Huchel: „Rede über das Hörspiel“, S. 256–259.

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Die Hörbühne als moralische Anstalt

Republik wie Brecht, Wolf, Döblin oder Seghers;35 ihre Inszenierungen knüpften jedoch, wie vielfach beklagt,36 nicht an deren radiophonen Experimenten an, sondern eher an einer Ästhetik der Theaterbühnen, die das ‚dichterische Wort‘ und prominente Schauspielerpersönlichkeiten in den Mittelpunkt stellten. Auditive Zeichensysteme wie Geräusche, Töne und Musik setzten die Rundfunkfassungen nur sparsam ein. So monierte die Deutsche Volkszeitung bereits Ende August 1945 stellvertretend für viele Hörspielkritiker: „Es ist geplant, wirkliche Hörspiele zu senden, kein gesprochenes Theater. Wenn das gelingen sollte, so würden wir diese Hörspiele sehr begrüßen.“37 Auch 1946 stellt Hedda Zinner, Mitarbeiterin und Autorin des Berliner Rundfunks in der Zeitschrift Theater der Zeit fest: „Es gibt noch kein Hörspiel, das als Kunst anzusprechen wäre. Darüber herrscht weitgehend Einigkeit“; sie fragt schließlich, ob das Hörspiel „immer nur technisch reproduziertes, auf das Akustische beschränktes, also verstümmeltes Theater bleiben muß.“38 Als wesentliche Repräsentantin des frühen DDR-Rundfunks verlangte sie, man habe im Hörspiel weniger mit dramatischen als „wesentlich mit epischen und episch-lyrischen Elementen zu arbeiten“ und keine naturalistische Geräuschkulisse zu schaffen. In der von ihr initiierten Debatte zeigt sich, dass – bei allen Differenzen gegenüber der Gewichtung dramatischer und epischer Aspekte des Textes – dem Hörspiel schon hier jene besondere Affinität zur Innerlichkeit unterstellt wird, die Erwin Wickert 1954 in seinem Aufsatz „Die inne39 re Bühne“ programmatisch entwickeln und die für das traditionelle Hörspiel der Bundesrepublik in den 1950er Jahren bestimmend werden würde. In seiner Erwiderung auf den Beitrag Hedda Zinners schreibt Rolf Gunold bereits 1946, das Hörspiel setze an die Stelle des optischen Auges „das geistige Schauen, die starke Konzentration der Gemütsempfindungen auf einen einfachen, bestimmten, klaren, seelisch auszulösenden Vorgang. 40 [...] Es ist, wie schon gesagt, allein die Trägerin erhöhter Innerlichkeit.“ _____________ 35 36

37 38 39 40

Vgl. bspw. Peter Gugisch. „Ein dreifacher Beginn. Das Hörspiel in der DDR“. In: Christian W. Thomsen u. Irmela Schneider: Grundzüge der Geschichte des europäischen Hörspiels. Darmstadt 1985. 158–174, S. 161. Vgl. die Debatte zum Thema „Hörspielprobleme“ in der Zeitschrift Theater der Zeit 1946, Hefte 1 und 3. Trotz unterschiedlichster Ansichten, fehlt in keinem Beitrag der schmerzliche Verweis auf die verlorenen experimentellen Ambitionen der Weimarer Republik. Vgl. bspw. Gunold: „Wir sind stehengeblieben, ja seit ungefähr 15 Jahren sogar hundert künstlerische Meilen zurückgegangen.“ Rolf Gunold: „Hörspielprobleme?“ In: Theater der Zeit 1.1 (1946): 26–28, S. 27. „Berliner Rundfunk – bunter und besser“. In: Deutsche Volkszeitung (30.08.1945): 8. Hedda Zinner: „Hörspielprobleme“. In: Theater der Zeit 1.1 (1946): 25 f. Erwin Wickert: „Die innere Bühne“. In: Akzente 1 (1954): 505–514. Gunold: „Hörspielprobleme?“, S. 27.

Nationalsozialismus und Judenverfolgung im Nachkriegsradio

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Der Erziehungs- und Bildungsauftrag des Radios nach 1945 konnte demzufolge im Hörspiel ein geeignetes Medium finden, das mit der allein akustischen Vermittlung von Dichtkunst eine sprachlich-didaktische Funktion ausübte und über den – sensiblen – Hörsinn das Innere der Hörerinnen und Hörer direkt ansprach. Keine nüchterne politische Berichterstattung oder plakative Agitation, sondern fiktive Handlungen, die Wandlungen über Einfühlung und Illusionierung auslösten, standen im Mittelpunkt. Inwiefern gerade die Hörwerke Friedrich Wolfs sich dieser Konzeption bedienten, wird im Folgenden zu zeigen sein. 1.3. Nationalsozialismus und Judenverfolgung im Nachkriegsradio Von den 25 im Nachkriegsjahr 1945 gesendeten Hörspielen sind lediglich drei als Tondokumente überliefert.41 Hierzu gehört die – allerdings unvollständige – Funkfassung des Professor Mamlock, die der Autor Friedrich Wolf unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Exil selbst eingerichtet hatte und die das Schicksal eines jüdischen Arztes in den Jahren 1932/1933 auf die Hörbühne brachte. Bis zur Mitte der 1950er Jahre bleibt die Rundfunkfassung des Exildramas – nach derzeitiger Quellenlage – das einzige überlieferte fiktionale Hörspiel, das sich explizit mit der Judenverfolgung auseinandersetzt. Eine originäre Beschäftigung mit Schuld und Verantwortung für den nationalsozialistischen Genozid an den europäischen Juden findet im Hörspiel des ‚deutschen demokratischen Rundfunks‘ darüber hinaus nicht statt. Trotz einer Fülle von Produktionen, die die NS-Vergangenheit in den Blickpunkt rücken, spielt die Judenverfolgung hier keine Rolle mehr. Auch die außerordentliche Resonanz des Professor Mamlock von Seiten des Publikums wiederholt sich bis zur Sendung von Peter Weiss’ Die Ermittlung 1965 nicht mehr. Zuschauerreaktionen dieses Ausmaßes bleiben ein singuläres Ereignis. Ist Professor Mamlock im Bereich des fiktiven Rollenspiels im Berliner Rundfunk als Ausnahme anzusehen, so war die jüngste nationalsozialistische Vergangenheit 1945 in anderen Rundfunksendungen ein dominantes Thema. Man sendete Das Tausendjährige Reich von Horst Lommer (eine Zusammenstellung kabarettistischer Szenen; Erstsendung am 6.9.45), aber auch Belsen (Erstsendung am 11.11.1945), eine featureartige Szenenfolge, _____________ 41

Jörg-Uwe Fischer u. Ingrid Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“. In: „Hier spricht Berlin“. Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945. Hg. v. Deutschen Rundfunkarchiv. Potsdam 1995. 33–66, S. 45.

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Die Hörbühne als moralische Anstalt

die sich mit dem ersten KZ-Prozess nach dem Krieg beschäftigte.42 Darüber hinaus wurde regelmäßig – wie auch in der Presse – über die nationalsozialistischen Vernichtungslager berichtet43 und über die „theoretischen Wurzeln und [die] praktischen Konsequenzen des biologischen Sadismus der nationalsozialistischen Rassenlehre“44 aufgeklärt. Von den Nürnberger Prozessen berichtete der junge Journalist Markus Wolf45 vom 20.11.1945 an täglich im Berliner Rundfunk, und die zweitägige Verkündigung der Urteile gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher wurde landesweit „in einer Ringsendung über alle deutschsprachigen Sender nach einheitlichen Festlegungen übertragen.“46 Als Hörspiel wurde Professor Mamlock erst nach Kriegsende, doch noch vor seiner deutschen Bühnenpremiere (am 9.1.1946 im Hebbel-Theater Berlin) am 8.11.1945 im Berliner Rundfunk urgesendet. Aufgrund der mehrfachen Wiederholungen und der Monopolstellung des Berliner Rundfunks47 kann davon ausgegangen werden, dass das Hörspiel von großen Teilen der Berliner Bevölkerung über die Sektorengrenzen hinweg wahrgenommen wurde. Überwältigt von der Resonanz, schreibt Friedrich Wolf am 27. November 1945, nur 19 Tage nach der Erstsendung, an Wolfgang Langhoff: „Der ‚Mamlock‘ wurde schon sechs Mal gesendet und die Leute schreiben an den Funk, daß sie es noch mal hören wollen“.48 Im Folgenden wird zu zeigen sein, inwiefern die Hörspielfassung des Mamlock das jüdische Schicksal unter der NS-Herrschaft einerseits in den Mittelpunkt stellt und damit zum öffentlichen Thema macht, andererseits jedoch in der Person Mamlocks eine bürgerliche Identifikations- und Entlastungsfigur entwirft, die der Ausweichbewegung der deutschen Bevölke_____________ 42 43

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Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 45 f. So sendete man bspw. bereits am 28.5.1945 „Berichte über das Konzentrationslager Sachsenhausen“, die auch auf die Vernichtungslager in Osteuropa hinwiesen, und am 7.7.1945 in der Reihe „Was wir wissen müssen“ Beiträge „Aus der Hölle der KZ-Lager“ und zum „KZ Auschwitz“ und am 14.7.1945 in eben der gleichen Sendereihe Augenzeugenberichte aus dem Frauen-KZ Ravensbrück; vgl. „Hier spricht Berlin“. Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945, S. 95, 102, 105. „Was wir wissen müssen / Das Ende des Rassenwahns“. Sendung am 10.7.1945; vgl. „Hier spricht Berlin“. Der Neubeginn des Rundfunks in Berlin 1945, S. 103 f. Es handelt sich um einen Sohn Friedrich Wolfs. Markus Wolf: „Nürnberg bleibt aktuell!“ In: Erinnerungen sozialistischer Rundfunkpioniere. Ausgewählte Erlebnisberichte zum 30. Rundfunkjubiläum. Berlin 1975. 50–56, S. 55. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 64. Friedrich Wolf: Briefe. Eine Auswahl. Berlin 1958, S. 131. Als Wiederholungstermine im Berliner Rundfunk verzeichnet das Rundfunkarchiv den 12., 14. und 28. November 1945, den 6. Dezember 1945 und den 14. März 1946.

Friedrich Wolfs Rundfunkarbeit

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rung entgegenkommt, die eine Auseinandersetzung mit Fragen der Verantwortung für den nationalsozialistischen Genozid so kurz nach Kriegsende abwehrt.

2. Zwischen Assimilation, Zionismus und antifaschistischem Widerstandskampf Friedrich Wolf: „Professor Mamlock“ 2.1. Friedrich Wolfs Rundfunkarbeit In erster Linie als Autor der Dramen Mohammed (U: 1922), Der Arme Konrad (U: 1924), vor allem aber Cyankali (U: 1929) und Die Matrosen von Cattaro (U: 1930) bekannt, muss Friedrich Wolf (1888–1953) zu den Rundfunkpionieren der Weimarer Republik gezählt werden, denn schon 1925 trat er regelmäßig im gerade zwei Jahre alten Medium auf. Als Autor und Arzt äußerte er sich zu literarischen wie medizinischen Themen und trug aus seinen Texten vor; seine Stücke, eigentlich für die Bühne verfasst, kamen auch im Rundfunk zur Aufführung.49 1929 produzierte der Deutschlandsender – andere Radiostationen folgten mit eigenen Inszenierungen – Wolfs erstes und erfolgreichstes Hörspiel „Krassin“ rettet „Italia“, in dem radiophone Zeichen wie Überblendungen und Verzerrungen wegweisend zum Einsatz kamen und Funk- und Radiotechnik als revolutionäre Innovationen medial gefeiert wurden. Das Hörspiel – vom Autor selbst als „das erste Heldenlied unserer Zeit, unserer Technik, unserer Solidarität“50 gerühmt – schildert die Rettungsaktion des Luftschiffs „Italia“, das unter der Führung des faschistischen Generals Nobile 1928 auf einer Eisscholle in Spitzbergen zerborsten war, durch den russischen Eisbrecher „Krassin“. Radio- und Funksprüche, dramatische Notrufe, Schiffssirenen und Dialoge in der existentiellen Not des Eismeers, unterbrochen von Sturmgeräuschen und Störungen erweckten den Eindruck, der Hörer selbst an seinem Radio würde die Notrufe in Realzeit verfolgen. Kaum hätte man einen Plot finden können, der dem Medium besser entsprochen hätte, in dem die radiophonen Mittel von der Handlung förmlich eingefordert werden und das _____________ 49 50

Vgl. Walther Pollatschek: „Zu Friedrich Wolfs Hörspielen, Laienspielen, Szenen“. In: Friedrich Wolf: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin u. Weimar 1965. 481– 490, S. 483. Friedrich Wolf: „Kommentar zu ‚Krassin‘ rettet ‚Italia‘“. In: ders.: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin u. Weimar 1965. 7–41, S. 9.

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Zwischen Assimilation, Zionismus und antifaschistischem Widerstandskampf

Medium selbst als Höchstleistung von Technik und Zivilisation gepriesen wird. So schreibt Friedrich Wolf in seiner Vorbemerkung: Nicht der Impuls eines Übermenschen, nicht das „Ethos“ eines Religions- oder Staatsgedankens hat dies Rettungswerk ermöglicht, sondern die von der Technik beflügelte Solidarität aller Schaffenden. Sie schloß an diesem lebendigen Beispiel den Ring von dem einsamen Radiobastler an der Murmanküste bis zu der großen Funkstation in Rom, bis zum „Roten Zelt“ der Eisscholle und dem Flieger Tschuchnowski. Und diese Hilfe wurde nur möglich durch das modernste Nachrichtenmittel: durch das Radio!51

Wolfs Fortschrittseuphorie richtet sich gleichermaßen auf die technologischen wie sozialen Innovationen der Sowjetunion. Nicht umsonst ist es der russische Eisbrecher „Krassin“, finanziert aus den Spenden der russischen Gewerkschafter, der die italienischen Verschollenen rettet und auf diese Weise die Überlegenheit des jungen sozialistischen Staates im Hinblick auf gesellschaftlichen wie technischen Fortschritt repräsentiert: Ein russischer Bauer an der Küste hat als erster mit selbstgebasteltem Kurzwellenapparat den Hilferuf aufgenommen; ein russischer Eisbrecher eilt als erster Nobile zu Hilfe. Mit diesem Akt der Menschlichkeit wird die Sowjetrepublik sich ein Stück der Welt erobern!52

Wolf, gerade der KPD beigetreten, betrachtete das Hörspiel schon zu dieser Zeit als literarische Form, die Gelegenheit bot, einem breiten Publikum politische Inhalte zu vermitteln. Bereits in der Weimarer Republik bemühte er sich, einen Weg zu finden, seine kommunistischen Botschaften – dramatisch verschlüsselt – von Sendern verbreiten zu lassen, die in keiner Weise ähnliche politische Ambitionen verfolgten. Und so gelang es ihm, beispielsweise in „Krassin“ rettet „Italia“, auf dem Höhepunkt der Handlung, im Moment der Rettung „organisch die Internationale“ erklingen zu lassen, „die somit zum erstenmal von einem deutschen Sender in den Weltraum stieg“:53 Es ist sehr schwierig, eine solche Gelegenheit zu finden ... und sie den heutigen Sendern mundgerecht zu machen! ... unsere Sender, genauso wie unsere Bühnen, sind (dialektisch betrachtet) genausolche Gesellschaftsprodukte wie alle kapitalistischen Institute. Wollen wir da etwas erreichen, ich meine, zu Worte kommen, da müssen wir nicht direkt aus offener Stellung heraus schießen, sondern taktisch aus verdeckter Stellung in Bogenschuß ... Meine beiden Hörspiele sind indirekte

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Friedrich Wolf: „Kommentar zu ‚Krassin‘ rettet ‚Italia‘“, S. 9. Friedrich Wolf: „‚Krassin‘ rettet ‚Italia‘“. In: ders.: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin, Weimar 1965. 7–41, S. 21. Brief Friedrich Wolfs an Georg W. Pijet vom 29. Juli 1930; zit. n. Walther Pollatschek: „Zu Friedrich Wolfs Hörspielen, Laienspielen, Szenen“. In: Friedrich Wolf: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin u. Weimar 1965. 481–490, S. 484 f.

Friedrich Wolfs Rundfunkarbeit

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Stücke, die unter der Maske des Literarischen alles das sagen, was heute durch den Funk direkt noch nicht zu sagen ist.54

In seinem zweiten für den Rundfunk verfassten Stück „John D. erobert die Welt“, das 1930 entstand und gesendet wurde, steht der rücksichtslose „Monopolkapitalist“ John D. Rockefeller im Mittelpunkt. Die Stationen seines Aufstiegs und der brutalen Expansion seines Imperiums von 1861 bis 1914 werden in Episoden nachgezeichnet und gipfeln in einem Streitgespräch zwischen Rockefeller, inzwischen 75 Jahre alt, und dem jungen Journalisten Reed, Harvardabsolvent aus wohlhabender Familie, der sich der sozialistischen Idee verschrieben hat: „Und hier zeigte es sich, daß John D., der scheinbar die ganze Welt damals erobert und gekauft hatte, eines nicht erobern konnte – den mutigen gerecht denkenden, unkäuflichen Menschen“55, heißt es in der einleitenden Bemerkung des Sprechers. Beide Hörspiele wie auch die Theaterstücke, die Wolf in den 1920er Jahren schrieb, sind geleitet von der Idee, ein Schriftsteller müsse sich mit seinen Werken in die politischen Auseinandersetzungen seiner Zeit einschalten. Wolf hat dies 1928 in einem Aufsatz unter dem programmatischen Titel „Kunst ist Waffe“ – in scharfer Abgrenzung vor allem gegenüber der Weimarer Klassik – zusammengefasst: Ein Dichter, der heute noch l’art pour l’art: die „Kunst um des ästhetischen Spieles willen“ vollführt, dieser Verse- und Szenenbastler, er ist in unserer Zeit der Arbeitslosenheere, der Mütterselbstmorde und Abtreibungsparagraphen, der Wohnungsnot, Grubenunfälle [...] ein Ziseleur, ein Filigranschmied ... aber kein Dichter, der unsren Tagen etwas zu sagen hat! [...] In dieser Zeitenwende sitzt der Dichter nicht mehr in seinem rosenumrankten Dachkämmerlein, in dieser Schicksalsstunde marschiert der Dichter als Trommler neben der Fahne.56

Folgerichtig verließ Wolf 1933 aus politischen Gründen Deutschland und gelangte über Österreich, die Schweiz und Frankreich in die Sowjetunion, von wo aus er Reisen in die USA und nach Skandinavien unternahm. Während seines Exils widmete er sich vor allem der Theaterarbeit. Der Erfolg seines Professor Mamlock als Drama (1933) und als Verfilmung (1938) verhalf ihm zu weltweitem Ruhm. 1938 wieder in Frankreich, geriet Wolf 1939 in das Konzentrationslager Le Vernet. Er kehrte nach seiner Befreiung 1941 in die Sowjetunion zurück und kämpfte in den folgenden Jahren auf sowjetischer Seite gegen die Deutsche Wehrmacht. Nach dem Ende des Krieges konnte er es kaum _____________ 54 55 56

Brief Friedrich Wolfs an Georg W. Pijet vom 29. Juli 1930; zit. n. Walther Pollatschek: „Zu Friedrich Wolfs Hörspielen, Laienspielen, Szenen“, S. 485. Friedrich Wolf: „John D. erobert die Welt“. In: ders.: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin u. Weimar 1965. 43–104, S. 48. Friedrich Wolf: „Kunst ist Waffe! Eine Feststellung (1928)“. In: Friedrich Wolf: Dramen. Leipzig 1978. 433–449, S. 442 f.

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Zwischen Assimilation, Zionismus und antifaschistischem Widerstandskampf

erwarten, nach Deutschland zurückzukehren, und schrieb im Juli 1945 einen Brief an Stalin, in dem er diesen förmlich drängte, ihn nach Berlin reisen zu lassen: Sie werden verstehen, werter Genosse Stalin, daß ich als deutscher antifaschistischer Schriftsteller nach 13 Jahren Trennung wieder mit meinem Land und meinem Volk, in dessen Sprache ich schreibe, verbunden sein möchte. Meine Gefühle der Dankbarkeit gegenüber der Sowjetunion brauche ich hier nicht zu betonen. Aber mein Platz ist jetzt in Deutschland, wo meine Kameraden sich heute im ideologischen Kampf für ein neues Deutschland befinden. Alle wissen, daß ich sonst stets in der Avantgarde kämpfte, und jetzt in diesem entscheidenden Moment sitze ich hier.57

Am 20. September 1945 traf Wolf in Berlin ein und wurde sofort in die kulturpolitische Aufbauarbeit eingebunden. Er war Mitglied des neu gegründeten kommunistischen Kulturbunds und Mitarbeiter des Berliner Rundfunks. Hier richtete er Adaptionen seiner eigenen Dramen für den Funk ein und führte zum Teil selbst Regie. Seine Stücke Der Arme Konrad (18.10.1945), Professor Mamlock (8.11.1945) und Was der Mensch säet (31.1.1946) wurden im Berliner Rundfunk und im Sender Leipzig z. T. mit mehrfachen Wiederholungen gesendet. In westlichen Rundfunkanstalten liefen Was der Mensch säet (27.1.1946, Radio München), Die Matrosen von Cattaro (30.3.1947, Radio München; 23.8.1947, RIAS) und Der arme Konrad (20.3.1949, Radio Stuttgart). In autobiographischen Aufzeichnungen Wolfs findet sich der Hinweis, dass die Bearbeitung des Professor Mamlock nicht nur im Berliner Rundfunk, sondern auch in München und Frankfurt gesendet wurde.58 Hierfür sind heute allerdings keine Belege mehr auffindbar. Weder im Deutschen Rundfunkarchiv noch in den Archiven der Rundfunkanstalten finden sich entsprechende Angaben.59 Im Drehbuch zum DEFA-Spielfilm Der Rat der Götter (1950, Regie: Kurt Maetzig), das auf den Akten der Nürnberger Prozesse beruht, setzt sich Wolf noch einmal mit der jüngsten deutschen Vergangenheit ausein_____________ 57 58

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Brief Friedrich Wolfs an Stalin vom 24. Juli 1945. In: Henning Müller: Wer war Wolf. Friedrich Wolf (1888 – 1953) in Selbstzeugnissen, Bilddokumenten und Erinnerungen. Köln 1988. 212– 213, S. 213. „Im September 1945 kehrte ich nach Deutschland (Berlin) zurück. Ich begann sogleich die Arbeit im Kulturbund, im Rundfunk und Theater. Noch im Dezember 1945 brachte der Berliner Rundfunk, ferner die Sender München und Frankfurt die Bearbeitung meines „Professor Mamlock“ als Hörspiel, in Berlin mit Paul Wegener in der Titelrolle. Ich selbst inszenierte am Berliner Rundfunk mein Hörspiel ‚Der Arme Konrad‘ und mit Hannes Küpper ‚Was der Mensch säet‘. [...] 1949 erhielt ich den Nationalpreis für ‚Professor Mamlock‘.“ Lebenslauf, verfasst von Friedrich Wolf in Lehnitz, datiert am 6.7.1951; zit. n. Müller: Wer war Wolf, 189. Auch Hans-Ulrich Wagner führt in seiner Übersicht über Hörspiele in Frankfurt und München 1945 nichts dergleichen auf. Hans-Ulrich Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“. Das Hörspielprogramm in Deutschland 1945–1949. Potsdam 1997.

Judentum, Bildungsbürgertum und kommunistischer Widerstandskampf

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ander und geht den Verstrickungen zwischen internationalen Monopolen und deutschen Nationalsozialisten nach. Von 1950 bis 1952 war Wolf als Botschafter der DDR in Polen tätig und verstarb am 5. Oktober 1953 in Lehnitz bei Berlin. Nach seinem Tod verfilmte sein Sohn Konrad Wolf 1961 erneut Professor Mamlock. Gemeinsam mit dem Drama, das zur Schullektüre gehörte, begründete der Film den Nachruhm des Autors bis zum Ende der DDR. 2.2. Judentum, Bildungsbürgertum und kommunistischer Widerstandskampf 2.2.1. Judentum und Judenverfolgung im Drama „Professor Mamlock“ Am 23. Dezember 1888 als Sohn eines sephardischen Kaufmanns geboren, bildete Friedrich Wolf schon früh ein starkes Interesse für Medizin und Theater aus. Er wurde im ersten Weltkrieg als Truppenarzt an der Westfront eingesetzt und entwickelte sich zu einem entschiedenen Kriegsgegner, der 1918 den Kriegsdienst verweigerte. Bereits 1913 gegen den Willen seiner Familie aus der jüdischen Gemeinde ausgetreten,60 beschäftigte sich Friedrich Wolf noch 1924 intensiv mit Teilen des Alten Testaments, die er aus dem Hebräischen übersetzte und unter dem Titel Das Heldenepos des Alten Bundes veröffentlichte.61 Trotz des Eintritts in die KPD 1928 und des von der Partei propagierten Atheismus scheint die Auseinandersetzung mit dem Judentum, das seine Erziehung wie das familiäre Zusammenleben bestimmte, nicht abgeschlossen. Wolf hat nie einen Hehl aus seiner Herkunft gemacht und sich noch 1943/44 in Vorträgen mit Formen des Antisemitismus auseinandergesetzt.62 Wollte man das Drama Professor Mamlock unter biographischen Aspekten seines Autors lesen, scheint es, als habe der jüdische Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf seine eigene Person aufgespalten in die Figur des Arztes und Juden Mamlock und die seines Sohnes Rolf, der seine jüdische Identität durch kommunistische Ideale ersetzt hat. _____________ 60

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Wegen Wolfs Abwendung von der jüdischen Religion kam es zu einem Zerwürfnis mit seinem Vater, während der Onkel Moritz Meyer in Briefen dringlich versuchte, Friedrich Wolf noch einmal umzustimmen; vgl. Donna K. Heizer: Jewish-German identity in the orientalist literature of Else Lasker-Schüler, Friedrich Wolf, and Franz Werfel. Columbia 1996, S. 51. Vgl. Henning Müller: „Friedrich Wolfs Kampf gegen den Antisemitismus: Zwei Vorträge 1943/44 vor deutschen Kriegsgefangenen“. In: Friedrich Wolf. Weltbürger aus Neuwied. Hg. v. dems. Neuwied 1988. 124–128, S. 124. Vgl. Müller: „Friedrich Wolfs Kampf gegen den Antisemitismus“.

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Im Drama Professor Mamlock zeichnet Wolf von der Hindenburgwahl im Mai 1932 bis zum „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ im April 1933 die mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten einsetzende Judenverfolgung anhand einer Berliner Familie nach. Ihr Patriarch Professor Mamlock, berühmter Chirurg und Klinikchef, wird wegen seiner jüdischen Abstammung vom Dienst suspendiert und so seines Lebensinhalts beraubt, aufgrund seiner Verdienste im ersten Weltkrieg wieder rehabilitiert, am Ende aber von fast allen Kollegen, Mitarbeitern und Freunden verraten. Während er selbst in der beruflichen wie persönlichen Katastrophe keinen anderen Ausweg sieht als Selbstmord zu begehen, schließt sich sein Sohn Rolf dem kommunistischen Widerstandskampf an. Das 1933 im Exil verfasste Drama wurde zuerst von jüdischen Ensembles inszeniert. Es kam am 19. Januar 1934 in Warschau unter dem Titel Der gelbe Fleck im Kaminski-Theater in jiddischer Sprache zur Uraufführung; die Hauptrolle spielte der berühmte deutsch-jüdische Schauspieler Alexander Granach.63 Darauf folgte am 25. Juli 1934 die Premiere in hebräischer Sprache durch das Habima-Theater in Tel Aviv.64 Die deutsche Erstaufführung fand am 8. November 1934 im Züricher Schauspielhaus statt.65 Die beiden letztgenannten Inszenierungen trugen den Titel Professor Mannheim und wurden von Leopold Lindtberg inszeniert.66 In den Jahren 1935 bis 1943 kam Professor Mamlock u.a. in der Sowjetunion, Holland, Norwegen, Japan, Spanien, Shanghai, in den USA, Schweden, Finnland, Großbritannien und China auf die Bühne. Die weltweite Popularität des Bühnenstücks wurde noch überboten durch den überwältigenden

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Alexander Granach (1890–1949) kam 1908 nach Berlin und lernte bei Max Reinhardt; er spielte Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre u. a. in Inszenierungen Erwin Piscators und Bertolt Brechts. 1933 emigrierte er über Warschau, Kiew, Zürich in die USA, wo er als Filmschauspieler u. a. in Ninotschka (1939), Wem die Stunde schlägt (1943) und Das siebte Kreuz (1944) auftrat. Vgl. Theaterlexikon. Personen. Hg. v. C. Bernd Sucher. München 1999, S. 240 f. Zu den spezifisch jüdischen Aspekte der Inszenierung und ihrer Rezeption vgl. Frank Stern: „‚Professor Mannheim‘ 1934 in Tel Aviv“. In: „Mut, nochmals Mut, immerzu Mut!“ Protokollband „Internationales wissenschaftliches Friedrich-Wolf-Symposion“ der Volkshochschule der Stadt Neuwied vom 2.–4. Dezember 1988 in Neuwied aus Anlaß des 100. Geburtstages von Dr. Friedrich Wolf *23.12.1888 in Neuwied. Hg. v. Volkshochschule der Stadt Neuwied und FriedrichWolf-Archiv Lehnitz. Neuwied am Rhein 1989/90. 229–236. Diese Inszenierung namhafter Emigranten war von wütenden Angriffen der Schweizer faschistischen „Nationalen Front“ gegen das „semitische Hetzstück“ begleitet; die deutschen Behörden nutzten den Skandal, um Wolfs Ausbürgerung voranzutreiben. Vgl. Henning Müller: „Von den Nazis ausgebürgert“. In: Friedrich Wolf. Weltbürger aus Neuwied. Neuwied 1988. Hg. v. dems. Neuwied 1988. 109–128, S. 109 u. 114. Stern: „‚Professor Mannheim‘ 1934 in Tel Aviv“, S. 229.

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Erfolg der sowjetischen Verfilmung aus dem Jahre 1938, die bis in die 1940er Jahre „nahezu alle Teile der Erde“ erreichte.67 Dass Wolfs jüdisch-bürgerliche Herkunft auch nach der Emigration in die Sowjetunion ein sensibles Thema darstellte, zeigt sich in dem bereits zitierten Brief an Stalin. Unter den drei Gründen, die Wolf für die „Zurücksetzung“ – seine Ausreise nach Berlin war im Juni 1945 von den sowjetischen Behörden nicht genehmigt worden – in Betracht zieht und erstaunlich unverblümt formuliert, findet sich an erster Stelle die Frage: „Ist es, weil ich Jude bin?“ und schließt sich unmittelbar der Bezug auf das Drama Professor Mamlock an: Ist es, weil ich Jude bin? Weil ich als Autor des Stückes und Films „Professor Mamlock“, der in der CCCP [UdSSR, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken; M.G.], in England und Amerika überall mit großem Erfolg gespielt wurde, den Rassenwahn der Nazis zu scharf brandmarkte und weil man die Erinnerung daran heute nicht mehr für opportun hält?68

Im Folgenden argumentiert Wolf ausgerechnet mit dem ‚Juden‘ Lessing, der mit seinem Nathan bereits am Ende des 18. Jahrhunderts um religiöse Toleranz warb; allerdings muss Wolf Lessing keinen geringeren als Goethe legitimierend an die Seite stellen: „Vergessen wir dabei nicht, dass Goethe es war, der grade mit Lessings ‚Nathan dem Weisen‘ 1801 das Nationaltheater in Weimar eröffnen ließ.“69 Im Vergleich hierzu ist es bezeichnend, dass das Deutsche Theater in Berlin ebenso wie das Hörspielprogramm des Berliner Rundfunks das Drama Nathan der Weise zum Auftakt nahmen und Inszenierungen des Mamlock nur wenige Wochen später folgten; zumindest in den ersten Monaten nach Kriegsende waren die kulturpolitischen Verantwortlichen in Deutschland trotz der antijüdischen Ressentiments Stalins bereit, für Toleranz und Versöhnung über religiöse, weltanschauliche und rassische Grenzen hinweg zu plädieren – den antifaschistischen Grundkonsens immer vorausgesetzt. Die nun folgende Analyse wird herausarbeiten, inwiefern das Hörspiel Professor Mamlock die Anfänge der nationalsozialistischen Judenverfolgung im Rahmen politischer Auseinandersetzung und Neuorientierung behandelt.

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Vgl. die Aufstellungen der weltweiten Inszenierungen des Dramas und der Verbreitung des Films in: Henning Müller (Hg.): Friedrich Wolf. Weltbürger aus Neuwied. Neuwied 1988, S. 199–202. Brief Friedrich Wolfs an Stalin vom 24. Juli 1945. In: Henning Müller: Wer war Wolf. Friedrich Wolf (1888 – 1953) in Selbstzeugnissen, Bilddokumenten und Erinnerungen. Köln 1988. 212– 213, S. 212. Brief Friedrich Wolfs an Stalin vom 24. Juli 1945. In: Müller: Wer war Wolf, S. 212.

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2.2.2. Die Hörspielbearbeitung von „Professor Mamlock“ Die Hörspielfassung des Professor Mamlock in der Produktion des Berliner Rundfunks wurde von Friedrich Wolf selbst erstellt; die Regie führte Hannes Küpper.70 Die vorliegende Untersuchung stützt sich auf den auf Tonband erhaltenen Umschnitt des Hörspiels im Deutschen Rundfunkarchiv,71 der allerdings unvollständig ist. Das Band endet mit der Weigerung Dr. Ruoffs, das Protokoll gegen Mamlock zu unterschreiben. Die letzten Szenen des vierten Aktes, in denen Mamlock sich selbst erschießt und im Sterben Dr. Ruoff bittet, seinen Sohn Rolf zu grüßen und an seiner Seite zu kämpfen, ist nicht erhalten. Ein Manuskript liegt ebenfalls nicht vor. Mit An- und Absage muss es sich um eine fehlende Sendezeit von ca. 9 Minuten handeln, da im Programm des Berliner Rundfunks 1 Stunde 45 Minuten vorgesehen waren, von denen nur 1 Stunde 36 Minuten 30 Sekunden erhalten sind. Die Hörspielfassung entspricht weitgehend der dramatischen Vorlage, wie sie 1960 in der Werkausgabe aus dem Nachlass veröffentlicht wurde. Der Textvergleich offenbart zurückhaltende Streichungen und einige Ergänzungen, die der akustischen Vermittlung von Handlungen dienen, die auf der Bühne visuell verdeutlicht werden. Darüber hinaus trägt ein Sprecher Teile der Bühnenanweisungen, bspw. Ort und Zeit der Handlung, vor. Die akustische Umsetzung konzentriert sich auf das gesprochene Wort, auf Stimm-Modulation und soziale Differenzierung der Sprechweise (vor allem des Arbeiters und des Kommunisten Ernst, die eine Berliner Dialektfärbung sprechen, während die hochdeutsche Rede des gebildeten Bürgertums gespickt ist mit lateinischen Ausdrücken). Die verbale Ebene wird von illustrierenden Geräuschen wie Wasserplätschern beim Desinfizieren im Operationssaal, Uhrticken, Telefonklingeln, Türenschlagen, Schritten etc. lediglich ergänzt (• Hörzitat 1); Musik kommt im gesamten Hörspiel nicht zum Einsatz. Stille wird als spannungssteigerndes Element _____________ 70

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Küpper (1897–1955) war Schauspieler, Dramaturg, Schriftsteller und Hörspielregisseur. Er hatte bereits Ende der 1920er Jahre erste Rundfunkerfahrungen gesammelt und spielte 1939–1944 als Regisseur und Dramaturg beim Berliner Fernsehen eine „politisch nicht ganz unumstrittene Rolle“. Nach dem Krieg war er als Hörspielregisseur bis 1949 für den Berliner Rundfunk tätig und inszenierte dort 20 Stücke, von denen Nathan der Weise am 2.8.1945 als erstes Hörspiel des Nachkriegsrundfunks in die Geschichte einging. In den letzten Lebensjahren arbeitete Küpper beim Bayerischen Rundfunk, beim NWDR und beim SFB; vgl. Hans-Ulrich Wagner: Hannes Küpper. In: Rundfunk und Geschichte 23.4 (1997): 245–248. DRA Potsdam. DRA-Nr. B009982707. Ein Manuskript ist nicht erhalten; vgl. auch Fischer und Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 45.

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und zur Akzentuierung eingesetzt. Im ersten Akt spricht Dr. Ruoff den Satz „Was unser Volk heute braucht, das ist ein Wille, das ist ein Führer!“72 in die Stille hinein, gefolgt von einer Pause. Die Worte erhalten so besonderes Gewicht und einen bedrohlichen Unterton. Ebenso begleitet Stille, ‚hörbar‘ gemacht durch das monotone Ticken einer Uhr, die Familie Mamlock, während sie darauf wartet, dass der Professor nach Hause kommt. Die Kündigung Dr. Ruoffs – „Ich kann unter einem Juden nicht mehr arbeiten“ – beantwortet Mamlock mit einem in der Regieanweisung vorgeschriebenen Schweigen. Er verlängert es noch einmal durch ein scharfes „So“ und ein Räuspern, um dann erneut zu schweigen und seine Mitarbeiterin anzuweisen, am nächsten Tag wieder in der Klinik zu erscheinen. Im folgenden Dialog drückt sich Mamlocks Prinzipientreue, die gegenüber seinem Sohn Rolf in unnachgiebige Halsstarrigkeit umschlägt, ebenfalls in seinem Schweigen aus. Die diesbezüglichen Vorwürfe seiner Frau bleiben unbeantwortet im Raum stehen (319 f.). Im letzten Akt beschließt das Geräusch auf Papier kratzender Federhalter das Schicksal Mamlocks, das durch die Unterschriften seiner Mitarbeiter und seines Freundes Seidel besiegelt wird. Eine wesentliche Änderung der Dramenvorlage findet sich zu Beginn des Hörspiels. Die Funkfassung beginnt nicht wie das Drama mit der Charakterisierung der Ärzteschaft im Operationssaal, deren Verhältnis zum noch nicht anwesenden Professor Mamlock von ihrer Bewunderung einerseits – Dr. Hirsch – und der Verletzung ihrer Eitelkeit – Dr. Hellpach und Dr. Ruoff – andererseits bestimmt wird.73 Statt dessen ist dieser Exposition im Hörspiel eine Szene vorangestellt, die auch in der Zürcher Druckfassung des Dramas von 193574 die Handlung eröffnet. Sie vermittelt die antisemitische Stimmung innerhalb der Bevölkerung vor der Hindenburgwahl und stellt einen klaren Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Misere innerhalb des Mittelstandes und seiner bereitwilligen Adaption nationalsozialistischer Anschauungen her. Die Mutter der dritten, noch jungen und gerade eingestellten Assistenzärztin Dr. Ruoff erscheint gegen den Willen ihrer Tochter im Vorbereitungszimmer des OPs, um von ihrer Tochter Geld für die seit zwei Monaten ausstehende Miete zu erbitten. Allerdings ist Dr. Ruoff, von der _____________ 72 73

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Friedrich Wolf: „Professor Mamlock“. In: ders.: Das dramatische Werk. Bd. 3. Berlin, Weimar 1988. 295–365, S. 301. Die folgenden Zitate aus dieser Ausgabe werden direkt im Text nachgewiesen. Die Frustration der Ärzte Hellpach und Ruoff über ihre nur untergeordnete Stellung steht der uneingeschränkten Bewunderung des Arztes Hirsch, der Schwester Hedwig und des Patienten Seidel gegenüber. Vgl. Friedrich Wolf: „Professor Mamlock“. Erster Akt. In: ders.: Das dramatische Werk. Bd. 3. Berlin und Weimar 1988. 295–365, S. 297–303. Friedrich Wolf: Doktor Mamlocks Ausweg. Tragödie der westlichen Demokratie. Zürich 1935. [Umschlagtitel: Professor Mamlock].

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Anwesenheit ihrer Mutter peinlich berührt, nicht in der Lage, ihr ausreichend zu helfen. Dies übernimmt der inzwischen eingetretene Stationsarzt Dr. Hellpach. Er ergänzt den ausstehenden Betrag und rettet so die Eltern seiner Kollegin vor der anstehenden Zwangsräumung. Im Gegenzug verstrickt der Arzt Frau Ruoff in einen suggestiven politischen Dialog, in dessen Verlauf die naive und leicht zu beeinflussende ältere Dame zu der Erkenntnis getrieben wird, wer nun eigentlich am Ruin ihres kleinen Geschäftes die Schuld trägt: HELLPACH: Sagen Sie mal, Frau Ruoff, wer sind eigentlich die Inhaber der großen Warenhäuser, die den kleinen reellen Kaufmann fressen, die ihn mit Schleuderpreisen unterbieten, die ihm nach und nach die Kundschaft wegziehen, so daß er seine Miete nicht mehr bezahlen kann? FRAU RUOFF (wütend): Jaja, die großen Herren... HELLPACH: Oh, nicht alle „großen Herren“, Frau Ruoff, aber – aber sicher die großen Warenhausbesitzer und die Bankdirektoren, die ihnen Kredite geben und die die kleinen Kaufleute pfänden lassen, mit einem Wort: das raffende Kapital. Darüber denken Sie mal nach, Frau Ruoff, wer sind die Besitzer der großen Warenhäuser wie Tietz, Wertheim, Alsberg, Karstadt?75 (• Hörzitat 1)

Begeistert von der eigenen Einsicht und ermutigt von Dr. Hellpach, der die Namen der jüdischen Warenhäuser wie Schüsse akzentuiert, ruft Frau Ruoff: „Die Juden ... die Juden!“ und fügt hinzu: „Solche Herren wie Sie, die sollten wir viele haben, Herr Doktor!“76 (• Hörzitat 1) Schon in der Exposition entwirft das Hörspiel ein Bild vom um sich greifenden Antisemitismus im Berlin des Jahres 1932. Erstmals dringen die politischen Auseinandersetzungen in die begrenzte und von ihm selbst als „unpolitisch“ deklarierte Welt des Professors (Handlungsorte sind allein die Klinik und Mamlocks Wohnung). Die Hysterie der von der Räumung bedrohten Frau gibt den Auftakt zu den unterschiedlichen, sich verschärfenden Ausschreitungen gegen Juden. Dr. Hellpach, glühendes Mitglied der NSDAP, muss im Mai 1932 noch mit Hilfe finanzieller Zuwendungen Propagandaarbeit leisten; in späteren Szenen wird er als Vertreter der SS die Beschlüsse der neuen Diktatur mit direkter Gewalt mehr als gründlich durchsetzen. In Abweichung von der zugrunde liegenden Dramenvorlage stimmt die Funkfassung die Hörer von Beginn an auf das Thema Judenverfolgung ein. Die Exposition des Hörspiels eröffnet unmittelbar die Dimension des um sich greifenden Antisemitismus und liefert gleichzeitig die Begründung seiner Ursachen mit: Die Mutter der Ärztin Dr. Ruoff, die nach eigener Einschätzung zu den kleinen, aber anständigen Leuten zählt, wird aus sozialer Not heraus ein leichtes Opfer der nationalsozialistischen Propa_____________ 75 76

Zitiert nach dem Tonträger im DRA Potsdam; vgl. auch Wolf: Doktor Mamlocks Ausweg, S. 9 f. Vgl. auch Wolf: Doktor Mamlocks Ausweg, S. 10.

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ganda. Der Hass Dr. Hellpachs formuliert sich auf anderem Niveau, er ist im Neid auf den ihm vorgesetzten Professor und Juden begründet und von Karriereabsichten getragen. Seine Kollegin Dr. Ruoff, ebenfalls Mitglied der NSDAP, faszinieren dagegen eher die romantischen Vorstellungen der NS-Ideologie von Kraft, Stärke und Rittertum: „Wir wollten dem jüdischen Händlergeist, den Duckmäusern, Schiebern, den feigen Nutznießern neue Gestalten entgegenstellen, die Gestalt des Kriegers, des Kämpfers, des ritterlichen Menschen, des Soldaten“ (361). Während Hellpachs Position im Laufe der Handlung zunehmend fanatisch wirkt,77 gehört Dr. Ruoff zu jenen Figuren, die eine innere Wandlung vollziehen: Das Abwenden von den nationalsozialistischen Ideen wird einerseits durch das Entsetzen über die Unmenschlichkeit der neuen Machthaber, die in keiner Weise die edlen Eigenschaften verkörpern, auf die Dr. Ruoff so gehofft hatte, motiviert, andererseits durch ihre Liebe zu Mamlocks Sohn Rolf. Neben der inhaltlichen Ausrichtung verweist der Erstsendetermin des Hörspiels am Abend des 8. November 1945 auf eine Akzentuierung der jüdischen Thematik. Da weder An- noch Absage des Hörspiels überliefert sind, kann man eine explizite Begründung des Sendetermins lediglich vermuten; jedoch ist die bedeutungsvolle Aufladung kaum zu übersehen: An diesem Tag jährt sich nicht nur die Warschauer Uraufführung des Dramas zum zwölften Mal, sondern auch die sogenannte ‚Reichskristallnacht‛, in der vom 8. zum 9. November 1938 deutschlandweit Pogrome gegen Juden wüteten, zum 7. Mal. Der Sendetermin erinnert an das historische Ereignis und weist gleichzeitig auch thematisch auf die in wenigen Tagen zu eröffnenden Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse voraus. Die Ankündigung des Hörspiels in der Deutschen Volkszeitung schreibt entsprechend, das Hörspiel zeige „die erschütternde Tragik der Opfer der faschistischen Rassenhetze“.78 2.2.3. Die Figurenkonstellation als Spektrum jüdischer Identitäten Wurde das Drama 1934 unter dem Titel „Der gelbe Fleck“79 uraufgeführt, so markiert dieser die Fokussierung des Schauspiels auf die jüdische Verfolgung zu Beginn der 1930er Jahre. Mit dem „gelben Fleck“ nämlich, _____________ 77

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Jede Diskussion wird von Hellpach mit den Worten abgebrochen: „Es gibt Dinge, über die man intellektuell nicht streiten kann“ (307) bzw. „Diese Dinge werden nicht intellektuell entschieden.“ (352) Mamlock schreit ihn daraufhin im letzten Akt des Hörspiels an: „Reden Sie doch nicht wie eine Grammophonplatte, reden Sie endlich wie ein Mensch!“ (352) Ankündigung des Hörspiels in der Deutschen Volkszeitung (8.11.1945). Werner Jehser: Friedrich Wolf. Leben und Werk. Berlin 1977, S. 105.

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dem „Judenzeichen“80 wird Mamlocks Tochter stigmatisiert. Sie ist die erste in der Familie, die fassungslos die Drangsalierungen ihrer Mitschüler buchstäblich am eigenen Leibe erfahren muss. Die späteren Titel Doktor Mamlocks Ausweg und Professor Mamlock81 kennzeichnen eine Akzentverschiebung weg von der jüdischen Problematik hin zu einer allgemeineren Perspektive und verweisen auf Wolfs Konzept, Mamlock weniger als Jude denn als bürgerlichen Humanisten und intellektuellen Idealisten zu entwerfen. Diese Abschwächung des Jüdischen, das später noch Gegenstand genauerer Untersuchung sein soll, spiegelt sich bereits auf der Ebene der Handlung wider: Mamlocks jüdische Herkunft spielt in der Hörspielfassung von 1945 für ihn selbst und seine Familie keine Rolle mehr. Im Gegensatz zur Züricher Fassung von 1935 bezeichnet er sich nicht mehr explizit als Jude,82 ist weder religiös noch in eine spezifisch jüdische Kultur integriert. Sein Judentum schlägt sich allein in der Charakterisierung der Figur nieder, die als wohlhabender Arzt und Wissenschaftler das Stereotyp des jüdischen Intellektuellen aufruft. Auf der Handlungsebene sieht sich Mamlock selbst erst durch die Nationalsozialisten mit seiner Herkunft konfrontiert. Allein in der Stigmatisierung von außen verwandelt sich der renommierte Professor, eine Kapazität auf seinem Gebiet und Träger des Eisernen Kreuzes für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg, in einen erniedrigten und misshandelten Juden. Die besondere Bedrohung der Juden im Nationalsozialismus, die in einem beispiellosen Genozid gipfelte, war für Wolf beim Abfassen des _____________ 80

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Im zweiten Akt erklärt Mamlock seiner ‚arischen‘ Frau die Bedeutung des Zeichens (325). Die Parole: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck!“ nutzte die Stigmatisierung mit umgekehrtem Vorzeichen für zionistische Ziele; vgl. Hans-Joachim Schoeps: „Bereit für Deutschland!“ Der Patriotismus deutscher Juden und der Nationalsozialismus. Frühe Schriften von 1930 bis 1939. Berlin 1970, S. 23. Unter dem Titel Professor Mamlock erschienen seit 1935 u. a. die Übersetzungen ins Englische (New York 1935; Moskau/Leningrad 1935), Norwegische (Oslo 1935), Russische (Moskau 1935) und Japanische (Tokio 1936). Wie seine Zeichnung als deutscher Nationalist ist auch sein Bekenntnis zum Judentum in der Hörspiel- wie in der Druckfassung nach 1945 getilgt. In der Züricher Ausgabe dagegen sagt Mamlock in einer Diskussion mit Frau Dr. Ruoff im ersten Akt über Hindenburg: „[...] ihm folge ich blindlings... das sage ich euch als alter Soldat, als Demokrat und als Jude.“ (Wolf: Doktor Mamlocks Ausweg, S. 22) In der ursprünglichen Zeichnung steht Mamlock jenen deutsch-nationalen Juden nahe, die Hans-Joachim Schoeps zufolge voller Verehrung für Hindenburg sind, um dann bitter enttäuscht zu werden. Schoeps’ Worte: „Ich bin immer Konservativer, Preuße und Jude gewesen“ (9) ähneln denen Mamlocks verblüffend. Der Mamlock der Züricher Fassung repräsentiert damit nicht nur das deutsche Bürgertum, sondern vor allem auch jene Strömung unter den deutschen Juden oder jüdischen Deutschen, die sich als Juden und Deutsche empfanden und weder (wie die Zionisten) ihr Land, noch (wie die ‚Assimilanten‘) ihren Glauben im Stich lassen wollten; vgl. Schoeps: „Bereit für Deutschland!“.

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Dramas 1933 noch nicht abzusehen. 1945 aber, zur Zeit der Bearbeitung des Hörspiels, ist das unfassbare Ausmaß der Jüdischen Katastrophe weltbekannt. Repräsentiert der Protagonist Mamlock das unpolitische deutsche Bildungsbürgertum in den 1930er Jahren, so erhellt der Blick auf die Figurenkonstellation des Hörspiels die Tatsache, dass Wolf ein differenzierteres Bild des Judentums in verschiedene Personen der Handlung auffächert. „Mamlocks Ausweg“ – seinem Tod durch Selbstmord – stehen in der Vorlage wie im Hörspiel verschiedene alternative Verhaltensentwürfe entgegen: Allen voran Mamlocks Sohn Rolf, der seine kommunistische Gesinnung und Entschlossenheit zum intellektuellen wie physischen Kampf in einem klassischen Vater-Sohn-Konflikt ausagieren muss. Im marxistischen Glauben an die historische Fortentwicklung hin zu einer Diktatur des Proletariats im ‚Schulterschluss mit allen werktätigen Klassen und Schichten‘ ist es die junge Generation, die den Weg in eine bessere Gesellschaft erkannt hat. Dass der Professorensohn hier Hand in Hand mit dem ‚Proletariat‘ kämpft, verdeutlicht seine Freundschaft zum Arbeiter Ernst, der ebenfalls im Widerstandskampf organisiert ist. Rolf verkörpert den in der DDR nach dem Krieg gerade unter führenden Intellektuellen so häufig anzutreffenden Kommunisten jüdischer Herkunft, der sich aus seiner Glaubens- und Volksgemeinschaft gelöst hat, um sich dem antifaschistischen Widerstand anzuschließen.83 In dieser Perspektive erscheint das Judentum – wie andere Religionen auch – durch die kommunistische Ideologie überwunden. Der neue politische Zusammenhang ersetzt sowohl die weltanschauliche als auch die familiäre Struktur: Rolf verlässt im Streit sein Elternhaus, um Seite an Seite mit Ernst zu kämpfen. Aus völlig verschiedenen sozialen Welten stammend, stehen der jüdische Professorensohn Rolf und der Arbeiter Ernst füreinander ein.84 Die Entscheidung Rolfs für den ideologischen und bewaffneten Kampf gegen die Nationalsozialisten wird in Professor Mamlock als Königsweg dargestellt, der auch vom Protagonisten schlussendlich als solcher erkannt wird. Nachdem sich Mamlock selbst erschossen hat, antwortet er _____________ 83 84

Zu den Schriftstellern, die als Antifaschisten und Juden emigriert waren und nach dem Krieg in die SBZ/DDR zurückkehrten, gehörten neben Friedrich Wolf bspw. Stephan Hermlin, Anna Seghers, Stephan Heym und Arnold Zweig. Vgl. auch Wolfgang Jacobsen und Rolf Aurich, die für die Verfilmung durch Konrad Wolf ähnliches konstatieren: „Mamlock kann sich seine Identität nur bewahren, indem er sich dem Terror durch Selbstmord entzieht. Dieser Schritt beläßt ihn bei der jüdischen Gemeinschaft. Sein Sohn verläßt diese Identität, das legen Schauspiel und Film nahe, um sich dem Widerstand einer neuen Gemeinschaft anzuschließen, der kommunistischen [...].“ Wolfgang Jacobsen u. Rolf Aurich: Der Sonnensucher Konrad Wolf. Biographie. Berlin 2005, S. 286.

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sterbend auf die Frage Dr. Ruoffs: „Aber, Herr Professor, war das denn der einzige Weg?“: Für mich der einzige ... vielleicht [...] Sie müssen einen anderen gehen, einen neuen Weg. [...] Hören Sie, gehen Sie ihn, wagen Sie ihn... [...] und grüßen Sie ihn, grüßen Sie meinen Jungen... hören Sie, grüßen Sie Rolf, wenn Sie ihn sehen... Auf einem anderen Weg, auf dem anderen Weg... (364)85

In der näheren Betrachtung zeigt sich jedoch ein dritter Weg in der Nebenfigur des Simon. Als jüdischer Krankenpfleger und „zuverlässigster Mitarbeiter“ Mamlocks ist Simon ebenfalls den Schikanen der Nazis ausgesetzt, allerdings tritt er ihnen als religiöser, in seinem Glauben gefestigter Jude gegenüber. In der frühen Fassung des Professor Mannheim, die 1934 in Tel Aviv zur Aufführung kam, verteidigt Simon gegenüber Mamlock in einer langen Passage die Vorzüge einer Auswanderung nach Palästina. Dort heißt es unter anderem: Herr Professor, Sie sind gebildet, Sie wissen so viel, und über Palästina wollen Sie nichts wissen. Ihr sitzt hier unter ständiger Bedrohung und wißt noch nicht einmal, daß das jüdische Volk sich selbst ein eigenes Land baut, Dörfer, Städte. [...] Dorthin gehen jedes Jahr viele Menschen und bereiten für zig andere eine Heimat vor. Vielleicht auch für Sie, Herr Professor.86

Auf Mamlocks Einwand, „Aber unsere Heimat ist Deutschland“, antwortet Simon bestimmt: „Wenn es nach mir geht – Eretz Israel.“87 Diese Charakterisierung Simons als Vertreter des Zionismus findet im Hörspiel – wie auch in der Züricher Veröffentlichung von 1934 und den nach 1945 publizierten Fassungen des Mamlock – nur in Untertönen statt. Sein Judentum wird auf der Handlungsebene thematisiert, um die Rassentheorie der Nazis der Absurdität zu überführen, denn das von Simon regelmäßig gespendete Blut mischt sich immer wieder problemlos mit dem der arischen „Volksgenossen“ (352). Darüber hinaus wird deutlich, dass Simon, der seit 15 Jahren mit Mamlock zusammenarbeitet, also während des ersten Weltkriegs bereits im wehrfähigen Alter gewesen sein muss, nicht „im Felde“ (352) war – also offenbar der jüdischen pazifistischen Bewegung angehörte. Seine religiöse Haltung wird jedoch auch im Hörspiel spätestens dann explizit, wenn er sich im dritten Akt plötzlich in eine Diskussion zwischen Hellpach und Mamlock einschaltet, in der diese Assimilation und Ausgrenzung der deutschen Juden gegeneinanderstellen: _____________ 85 86 87

Da es vom Schluss des Dramas keine abweichenden Fassungen gibt, kann davon ausgegangen werden, dass er auch für das Hörspiel beibehalten wurde. Das Zitat entstammt der Publikation des „Professor Mannheim“ in hebräischer Sprache (Tel Aviv 1934) und wurde von Frank Stern ins Deutsche übersetzt; Stern: „‚Professor Mannheim‘ 1934 in Tel Aviv“, S. 233. Stern: „‚Professor Mannheim‘ 1934 in Tel Aviv“, S. 233.

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MAMLOCK: Unter sechzig Millionen Deutschen gibt es ganze sechshunderttausend Juden, also gerade ein Prozent, und gegen dieses eine Prozent bietet ihr Himmel und Hölle auf, mit dem einen Prozent werdet ihr nicht fertig, das eine Prozent könnt ihr nicht assimilieren?! DR. HELLPACH: Ja, unser Volk hat entschieden, und die Entscheidung lautet: „Juden raus...“ MAMLOCK: „Juden raus...“ [lacht zynisch] DR. HELLPACH: Nach Polen, Rußland, Palästina... SIMON auf ihn zu, plötzlich [schreit]: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs segne Sie, Sie... Werkzeug Gottes! (341; • Hörzitat 2)88

Simon, der im ganzen Stück zurückhaltend und loyal auf der Seite Mamlocks stand und nur einsilbig in Erscheinung trat, wenn er angesprochen wurde, gerät geradezu außer sich, wenn das Stichwort Palästina fällt. Offenkundig gehört Simon jener jüdischen Bewegung an, die in den 1930er Jahren die Ausgrenzung der Nationalsozialisten als Zeichen einer gescheiterten Assimilation wertete und darum die zionistischen Bestrebungen vorantrieb, indem sie illegale Auswanderungen ins Gelobte Land organisierte.89 An dieser Stelle zeigt sich, dass die jüdische Problematik im Hörspiel – entgegen den Proklamationen seines Autors, Mamlock als bürgerlicher Intellektueller nicht als Jude stehe im Mittelpunkt der Handlung – ausführlicher behandelt wird, als es auf den ersten Blick scheint. Im dritten Akt stehen die Ansichten des assimilierten Judentums denen des nationalsozialistischen Rassismus, aber auch denen der zionistischen Bewegung gegenüber, und so entwirft das Hörspiel auch in der Figurenkonstellation ein differenziertes Bild des Juden, das vom hochgebildeten, bis zum Nationalismus assimilierten Professor (Mamlock) über den jüdischen Antifaschisten im Widerstand90 (Rolf) bis hin zum – im positiven Sinne des Wortes – zionistischen Auswanderer (Simon) reicht. _____________ 88 89

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Die kursiven Beschreibungen der Sprechhaltung in eckigen Klammern entstammen dem Hörprotokoll der Verfasserin. Hannah Arendt beschreibt diese frühe Zusammenarbeit der NS-Behörden mit der Jewish Agency for Palestine: „Deshalb konnten sie [die Zionisten, M.G.] sich, zumindest eine Zeitlang, auf eine von ihrem Standpunkt aus ganz legitime Zusammenarbeit mit den Nazibehörden einlassen; sie glaubten ja wirklich, daß ‚Dissimilation‘, verbunden mit der Emigration junger Juden und, wie sie hofften, jüdischer Kapitalisten nach Palästina, eine für ‚beide Teile tragbare Lösung‘ sein werde.“ Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 142005, S. 139. Heizer verweist darauf, dass Wolf während des ersten Weltkrieges trotz seiner Abkehr vom jüdischen Glauben eine Auswanderung nach Palästina und die Arbeit in einem Kibbuz in Erwägung zog; vgl. Donna K. Heizer: Jewish-German identity in the orientalist literature of Else Lasker-Schüler, Friedrich Wolf, and Franz Werfel. Columbia 1996, S. 51 f. Mit Formen des jüdischen Widerstandes beschäftigte sich Wolf auch anhand der „jüdischen Partisanen“ der Ghettos in Warschau und Wilna; vgl. Friedrich Wolf: „Der Aufstand

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Darüber hinaus zeichnet Wolf auch die Haltung des jüdischen Opportunismus nach, verkörpert in der Figur des Dr. Hirsch. Hirsch, der anfangs voller Bewunderung auf der Seite Mamlocks steht und die Hetze von Hellpach und Ruoff mit scharfen Kommentaren versieht, entpuppt sich im Laufe der Handlung als Feigling. Nach dem Verbot jüdischer Ärzte in deutschen Krankenhäusern tritt er im Drama mit einem Köfferchen in der Hand auf, jederzeit zur Flucht bereit. Als es aber heißt, Frontkämpfer wären vom Arbeitsverbot ausgeschlossen, versucht er mit an Lächerlichkeit grenzendem Eifer, seine Zeit als Soldat herauszustellen und aufzuwerten. Letztendlich opfert auch er Mamlock seinen persönlichen Interessen und unterschreibt im letzten Akt Hellpachs Protokoll in der Hoffnung, weiter in der Klinik arbeiten zu können. Angesichts der Präsenz jüdischer Figuren und ihres Schicksals in Professor Mamlock bleibt nun zu fragen, wie ein Hörspiel, das die Berliner Bevölkerung nur vier Monate nach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur und dem Ende des Krieges, mitten im Kampf um das tägliche physische Überleben, mit dem eigenen Versagen konfrontiert, solch eine begeisterte Aufnahme finden konnte. Wie konnte ein Publikum, das erklärtermaßen aus dem Radio am liebsten Musik empfing,91 während es täglich mit grausamen Enthüllungen über NS-Verbrechen konfrontiert wurde, die Geschichte des Juden Mamlock und seines kommunistischen Sohnes Rolf für sich produktiv machen? Wolf selbst zitiert in seinem Aufsatz „Deutsche zum Nürnberger Prozess“ am 25. November 1945 „Stimmen“ wie „Wir wollen die ewige Schuldfrage nicht mehr hören! Wir stellen einfach das Radio ab, und damit fertig!“92 Es scheint geradezu paradox, dass ausgerechnet diese deutsche Bevölkerung mit Begeisterung auf ein Hörspiel reagieren sollte, das als einziger Vorwurf an sie verstanden werden musste. Ein genauerer Blick auf die dramaturgische Konzeption des Hörspiels und die in ihr angelegten Rezeptionsmuster soll auf diese Fragen Antwort geben.

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des Warschauer Ghettos (1948)“. In: ders.: Aufsätze 1945–1953. Hg. v. Else Wolf u. Walther Pollatschek. Berlin u. Weimar 1968. 198–204. Vgl. Fischer u. Pietrzynski: „‚Hier spricht Berlin‘. Das Programm des Berliner Rundfunks 1945 und seine Überlieferung im Deutschen Rundfunkarchiv, Standort Berlin“, S. 65 f. Friedrich Wolf: „Deutsche zum Nürnberger Prozess“. In: ders.: Aufsätze 1945–1953. Hg. v. Else Wolf u. Walther Pollatschek. Berlin, Weimar 1968. 5–12, S. 7.

Judentum, Bildungsbürgertum und kommunistischer Widerstandskampf

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2.2.4. Mamlock als bürgerliche Identifikations- und Integrationsfigur Die Titelfigur des Professor Mamlock steht im Zentrum der Handlung. Wie bereits beschrieben, vereint sie edle Charakterzüge mit humanistischer Bildung und mustergültige Wissenschaftlichkeit mit preußischem Pflichtbewusstsein. Politisch national und demokratisch orientiert, im festen Glauben an Rechtsstaatlichkeit und Vernunft verkörpert Mamlock das Ideal des bürgerlichen Humanisten. Das assimilierte westeuropäische Judentum erscheint in der Figur des Professors als Essenz des bürgerlichen Bildungs- und Humanitätsideals, eines Ideals allerdings, das angesichts der barbarischen nationalsozialistischen Strömung in hilflose Lethargie verfiel. Nach eigener Aussage ging es Friedrich Wolf in seinem Drama weniger um die Darstellung der Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung aus der deutschen Gesellschaft als um die Vorführung eines Idealismus, der, getragen vom Glauben an Kultur, Staat und Demokratie, schwere Konsequenzen nach sich zog. In seinem 1936 verfassten Artikel „12 Millionen Mamlocks!“ macht der Autor deutlich, dass die Figur des jüdischen Arztes in erster Linie als Typus des deutschen Intellektuellen dienen soll: In keinem Lande der Welt schien die „Kultur“ so entwickelt und verbreitet wie in Deutschland; aber auch in keinem Lande der Welt war man mehr im Idealistischen, im Begrifflichen, steckengeblieben als im Lande Kants und Hegels. Das scheint eine ziemlich akademische, uninteressante Feststellung. Aber im Lande der 12 Millionen „Mamlocks“, der 12 Millionen deutschen Kleinbürger und Intellektueller, hat diese Tatsache eine gewaltige praktische Bedeutung!93

Wolf beschreibt die vermeintlich unpolitische Haltung „Millionen deutscher Demokraten“ und am Beispiel Mamlocks den „Typus des deutschen Intelligenzlers“, des „alten Soldaten und Gelehrten“, dessen Wertesystem, getragen von Begriffen wie „Staat“, „Familie“, „Wissenschaft“ und „Gerechtigkeit“, angesichts der nationalsozialistischen Diktatur nicht nur in sich zusammenbricht, sondern dessen politische Passivität den Nationalsozialisten erst den Machtantritt ermöglichte.94 Mamlock steht also Wolfs Ansicht nach weniger als Jude auf der Bühne, denn als deutschnationaler95 Bürger und Intellektueller. Er repräsen_____________ 93 94 95

Friedrich Wolf: „Ein ‚Mamlock‘? – 12 Millionen Mamlocks! (1936)“. In: Friedrich Wolf: Dramen. Leipzig 1978. 458–461, S. 458. Wolf: „Ein ‚Mamlock‘? – 12 Millionen Mamlocks!“, S. 460. Es ist zu beobachten, dass mit der Entwicklung von der frühen Züricher Publikation von 1935 über das Hörspiel 1945 und die Veröffentlichung des Dramas in der DDR bis zur DEFA-Verfilmung von 1961 die nationalistischen Züge Mamlocks zunehmend in den Hintergrund treten. In der Fassung von 1935 steigert sich Mamlock in einer Diskussion mit Rolf in geradezu fremdenfeindliche Äußerungen hinein: „Und das alles auf Kommando dieses uns Deutschen völlig wesensfremden asiatischen Rußlands! Aber wir Deutsche, wir sind keine Russen, Deutschland ist nicht Asien! Ich habe nicht deshalb vier Jahre vor

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tiert das Eigene, nicht das Fremde der deutschen Gesellschaft und bildet so eine perfekte Identifikationsfigur für das Nachkriegspublikum, das die Rechtfertigung seines eigenen Scheiterns auf die Bühnenfigur projizieren kann. Gleichzeitig wird das Versagen der deutschen Mitläufer nobilitiert durch den Vergleich mit Mamlock, der, reich an menschlicher Größe und humanistischen Werten, heldenhafte Züge trägt.96 Wenn eine Persönlichkeit wie Mamlock mit überragendem Geist und wissenschaftlicher Analysefähigkeit nicht in der Lage war, die politischen Verhältnisse richtig einzuschätzen, wie sollte der durchschnittliche Deutsche hierzu fähig gewesen sein? – Wie Mamlock lief die deutsche Nation demnach nicht trotz, sondern wegen ihres Idealismus in den Untergang. Das geschundene deutsche Volk wärmt sich so kurz nach Kriegsende vor den Radioapparaten an der Erinnerung an ein Land der Dichter und Denker, das in Mamlocks lateinischen Zitaten immer wieder aufersteht, am Glauben an die Wandlung zum Besseren durch die Liebe, an einem traditionellen Familienbegriff – und am Tod des tragischen Helden. Entlastungsstrategien dieser Art finden sich im Hörspiel auch an anderer Stelle wieder: Der einleitende Auftritt von Frau Ruoff beispielsweise, Mutter von Mamlocks Mitarbeiterin Dr. Inge Ruoff, stellt die Aspekte von wirtschaftlicher Not und politischer Naivität in den Vordergrund und führt ein Erklärungsmodell für den Antisemitismus an, das Verantwortung an die (Ver-)Führer delegiert und damit, Margarete und Alexander Mitscherlich zufolge, sehr wohl dem herrschenden Zeitgeist entsprach: „Nach der vollkommenen Niederlage kam die Gehorsamsthese auf, plötzlich waren nur noch die unauffindbaren oder abgeurteilten Führer für den in die Tat umgesetzten Völkermord zuständig.“97 Gleichzeitig schlägt das Hörspiel versöhnliche Töne an. Indem Mamlock auf der Bühne wie im Hörspiel in eine Tradition gestellt wird mit Lessings Nathan, ruft er die Idee einer geistigen deutsch-jüdischen Genealogie seit der Aufklärung auf und lässt den NS-Genozid nicht als Bruch und Endpunkt dieser Entwicklung erscheinen, sondern ermöglicht es, ihn _____________

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dem Feind gestanden und für mein Land gekämpft, damit heute mein Sohn mit Brandstiftern und internationalem Gesindel konspiriert!“ (31) Solche Sätze finden sich in den Veröffentlichungen nach 1945 nicht mehr. Auch dies ist als Anpassung an den ‚Zeitgeschmack‘ zu verstehen; ein deutschnationaler Protagonist hätte in der DDR der 1960er Jahre wohl weniger als Identifikationsangebot denn als abschreckendes Beispiel gewirkt. Aristoteles zufolge soll der Held der Tragödie „nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erleb[en], sondern wegen eines Fehlers – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen [...]“; Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übs. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 39. Alexander u. Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. Leipzig 1990, S. 27 f.

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als unrühmliches, doch überwindbares Zwischenspiel, das nun glücklicherweise beendet ist, auszublenden. Nicht umsonst war es immer wieder der Jude Nathan, Versöhnung und Toleranz predigend, der sich im Nachkriegsdeutschland so besonderer Beliebtheit erfreute. Das noch frische Entsetzen über die täglich enthüllten, bestialischen Fakten des Holocaust kanalisiert sich in emotionalem Mitgefühl und Strategien der Bewältigung. Nun lag es sicher nicht in der Absicht des Autors, die ehemaligen NSAnhänger zu entschuldigen, vielmehr ist davon auszugehen, dass er ihnen das fehlerhafte Verhalten vor Augen führen und sie – gemeinsam mit dem Protagonisten – die Wandlung hin zur Erkenntnis vollziehen lassen wollte. Im Gegensatz zu Bertolt Brecht setzte Friedrich Wolf – Aristoteles und wiederum Lessing folgend – gerade auf die kathartische Erziehung des Publikums durch das Theater. Identifikation und Einfühlung sollten den Zuschauer in seinem Inneren treffen und von dort aus eine ethischmoralische (und politische) Wandlung auslösen.98 Hierfür durfte der Zuschauer nicht überfordert oder gar verschreckt werden. Vielmehr sollte man ihn emotional ansprechen, seine Identifikation mit den Figuren fördern und das Publikum gemeinsam mit dem Protagonisten die gewünschte Entwicklung vollziehen lassen. In „Formprobleme des Theaters aus neuem Inhalt“, in dem 1949 Brechts episches Theater Wolfs Vorstellungen einer aristotelischen Dramaturgie gegenübergestellt wird, schreibt Wolf: „Denn da wir beide mit den Mitteln der Bühne die Menschen weiterbringen – verändern wollen, ist die Wandlung des Menschen auf der Bühne und im Bewußtsein des Zuschauers ja das Endziel.“99 Das gegenwärtige Theater sei von der drängenden Frage bestimmt: „Wie kann unsere deutsche Bühne unserem Volke das zeigen, was not tut? Konkret: Wie können wir es aus seinem Fatalismus aktivieren gegen einen neuen Krieg?“100 In der Beantwortung dieser Frage treffen sich die Interessen des Autors Wolf mit denen des Rundfunks in der SBZ: Die Dramaturgie des Mamlock zielt auf die Einfühlung des Publikums, das gemeinsam mit der Hauptfigur, aber auch mit Dr. Ruoff im Moment des tragischen Untergangs den ‚richtigen Weg‘ erkennt. Wie Mamlock und Dr. Ruoff sollen sich Hörer und Hörerinnen nach ursprünglichem Irrtum nun Rolf an_____________ 98

Vgl. Friedrich Wolf: „Formprobleme des Theaters aus neuem Inhalt. Ein Zwiegespräch mit Bertolt Brecht“ (1949). In: ders.: Dramen. Leipzig 1978. 472–476. Die Positionen von Bertolt Brecht und Friedrich Wolf sind in der Forschung hinreichend beleuchtet und verglichen worden; vgl. bspw. Jack Zipes: „Bertolt Brecht oder Friedrich Wolf? Zur Tradition des Dramas in der DDR“. In: Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl u. Patricia Herminghouse. Frankfurt a. M. 1976. 191–240. 99 Wolf: „Formprobleme des Theaters aus neuem Inhalt“, S. 475. 100 Wolf: „Formprobleme des Theaters aus neuem Inhalt“, S. 475.

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schließen. Wenn der kommunistische Weg Rolfs im Hörspiel der einzig richtige ist – der Selbstmord Mamlocks und die Auswanderung Simons können kaum zur Nachahmung anregen –, so dient das Hörspiel im November 1945 der Legitimation des Führungsanspruchs der aus dem Exil zurückgekehrten kommunistischen Wiederstandskämpfer. Sie allein besaßen offenbar den politischen Weitblick, die Verhältnisse richtig einzuschätzen, und waren bereit, ihr persönliches Wohl und eigenes Leben dem antifaschistischen Kampf unterzuordnen und gegebenenfalls auch zu opfern. Ihre Autorität galt es nun anzuerkennen und ihnen die Unterstützung zuzusichern. Als Zielgruppe visierte der kommunistische Autor Wolf nach Kriegsende gerade auch die bürgerlichen Schichten an, aus denen er selbst stammte und die er mit seiner Kunst erreichen und gewinnen wollte. In dem bereits zitierten Brief an Stalin heißt es: Ist es [...] weil in Deutschland selbst von 1919–1932 meine Stücke an den bürgerlichen Bühnen gespielt wurden und ich als Dozent der Volkshochschulen vor der Gefahr des Faschismus warnte und als Antifaschist eine Popularität in bürgerlichen Kreisen besaß? – Aber ich denke, grade das ist heute für uns wertvoll, da wir die bürgerliche Intelligenz für uns gewinnen wollen und es uns in unsern Reihen sehr an Kräften hierfür fehlt.101

Gerade nach 1945, als der Rundfunk die Deutschen ‚behutsam‘ umerziehen sollte, konnte das persönliche Schicksal der Familie Mamlock, der Fall und der Tod eines geradezu klassischen Tragödienhelden die Hörer unterschiedlichster Herkunft erreichen. Für das Nachkriegspublikum galt offenbar noch immer, was Wolf schon 1933 für sein Drama konstatierte: „Für Europa ist das zur Zeit das Äußerste, was man sagen und zeigen kann, wenn man auf breite Schichten (auch die kleinbürgerlichen Mittelschichten) wirken, und sie nicht gleich verprellen will“102 – und er behielt recht: Das Hörspiel Professor Mamlock wurde ein herausragender Erfolg. Ob die zeitgenössische Rezeption dem Konzept des Autors folgte, ist aufgrund fehlender Materialbasis nicht endgültig zu entscheiden. Dies bleibt ebenso zu bezweifeln wie die vieldiskutierte Frage, ob emotionale Betroffenheit eine Reflexion von Verantwortung und Schuld nach sich ziehen kann. In der großen Begeisterung für die Rundfunkfassung äußert sich vermutlich nicht der Enthusiasmus für die kommunistische Weltanschauung; viel eher nahm das Publikum dankbar die Entschuldungs- und Entlastungsangebote des Hörspiels an. Abschließend lässt sich feststellen, dass das Hörspiel im Vergleich zur in Deutschland publizierten Dramenfassung einerseits die jüdische Per_____________ 101 Brief Friedrich Wolfs an Stalin vom 24. Juli 1945. In: Müller: Wer war Wolf, S. 213. 102 Brief Friedrich Wolfs an die Theatre Union vom 22.6.1933; zit. n. Werner Jehser: Friedrich Wolf. Leben und Werk. Berlin 1977, S. 105.

Verfilmungen des Dramas

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spektive verstärkt und das Spektrum des Judentums erweitert; andererseits aber dient Mamlock als Identifikationsfigur für das deutsche Nachkriegspublikum, dem der Weg in die – kommunistische – Zukunft in der Figur Rolfs vorgezeichnet wird. 2.3. Verfilmungen des Dramas 2.3.1. PROFESSOR MAMLOCK unter der Regie von Herbert Rappaport und Adolf Minkin (UdSSR 1938) Noch vor der deutschen Hörspiel- oder Bühnenpremiere eroberte die sowjetische Verfilmung des PROFESSOR MAMLOCK weltweit die Kinos. Am 5. September 1938 hatte der Film in Moskau Premiere, an der Friedrich Wolf jedoch nicht mehr teilnehmen konnte, da er sich bereits (wieder) in Frankreich befand. Vor seiner Abreise hatte er jedoch eine vorläufige Fassung des Films in Leningrad gesehen.103 Aus heutiger Sicht handelt es sich um einen Spielfilm mit starken propagandistischen Zügen, der nach einem Szenarium, das Wolf gemeinsam mit Herbert Rappaport und Adolf Minkin verfasst hatte, entstand. Im Vergleich zur Dramenvorlage wurden wesentliche Änderungen vorgenommen, die vor allem zwischen der antisemitischen und der antikommunistischen Aggression des Nationalsozialismus neu gewichten.104 Spielt das Drama allein in Mamlocks Wohnung und in seiner Klinik, so öffnet der Film diese beschränkte Perspektive und richtet sein Augenmerk auf die unterschiedlichsten Schauplätze des kommunistischen Widerstandskampfes. Auch zeitlich führt der überwiegende Teil des Films nicht mehr das Schicksal des jüdischen Professors vor, sondern vor allem das seines umtriebigen Sohnes Rolf. Ihm ist demzufolge auch die erste Einstellung des Films gewidmet, in der Rolf (Oleg Zhakov) beim Turnen von seinem Vater (Sergei Meshinski) ermuntert wird. Während Mamlock daraufhin in die Klinik fährt, trifft sein Sohn seine kommunistischen Freunde und besucht eine politische Versammlung, auf der Nazis wie Kommunisten um die Gunst der Arbeiterschaft werben. Die ausführliche politische Agitation mündet in eine von den Nazis provozierte Schlägerei, bei der die _____________ 103 Lew Hohmann: „Wolf und der Film – Eine unglückliche Liebe“. In: „Mut, nochmals Mut, immerzu Mut!“ Protokollband „Internationales wissenschaftliches Friedrich-Wolf-Symposion“ der Volkshochschule der Stadt Neuwied vom 2.–4. Dezember 1988 in Neuwied aus Anlaß des 100. Geburtstages von Dr. Friedrich Wolf *23.12.1888 in Neuwied. Hg. v. Volkshochschule der Stadt Neuwied und Friedrich-Wolf-Archiv Lehnitz. Neuwied am Rhein 1989/90. 244–250, S. 247. 104 Die Analyse stützt sich auf die Kopie des Films, die in russischer Sprache im Bundesfilmarchiv Berlin aufbewahrt wird.

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Kommunisten allerdings den Sieg davontragen. Der verwundete antifaschistische Redner wird anschließend in die Klinik Mamlocks eingeliefert. Die folgende Handlung stellt die Arbeit der Widerstandsgruppe um Rolf in den Mittelpunkt. Die Treffen im Hause Mamlocks lösen den Streit zwischen Vater und Sohn aus; konspirative Kampfmethoden wie das Verfassen, Schmuggeln und Verbreiten von Flugblättern werden vorgeführt, aber auch die Folterung von Rolf und Ernst in einem Gefängnis der Gestapo sowie Rolfs Befreiung durch seine Kameraden. Mamlocks Absetzung durch die Nazis, seine öffentliche Demütigung und Wiedereinsetzung geraten dagegen eher in den Hintergrund. Ohnehin ist die jüdische Personage im Film stark zusammengeschrumpft: Weder Mamlocks Tochter noch der Arzt Dr. Hirsch oder der Krankenpfleger Simon treten im Film auf. Auf diese Weise erscheinen die Maßnahmen gegen Mamlock eher als ein individuelles Schicksal, denn als Beispiel für Millionen Verfolgte. Sein tragisches Scheitern, das im Drama von der Erkenntnis begleitet ist, sein Sohn gehe den ‚richtigen‘ Weg, der für ihn aber nicht in Frage käme, wird in der russischen Version ebenfalls überwunden. Mamlock überlebt seinen Selbstmord, wird von Doktor Carlsen operiert und gesundet in seiner eigenen Klinik. Zu Kräften gekommen, hält er vom Balkon seines Krankenzimmers eine flammende Rede gegen die Nationalsozialisten, die auf der Straße aufgefahren sind, um die vor Hunger ungehaltene Menschenmasse zur Raison zu bringen. Die zunächst auf das Volk gerichteten Waffen der Nazis richten sich nun gegen Mamlock, der nach der langen Passage seiner leidenschaftlichen Agitation erschossen wird. Inszeniert der Film Mamlocks jüdisches Schicksal als ein individuelles, so wird sein Tod gleichzeitig aus dem persönlichen Scheitern in einen politischen Heldentod umgedeutet. Die letzte Einstellung zeigt Rolf, den eigentlichen Protagonisten des Films, vor den Mitgliedern seiner Widerstandsgruppe eine Rede haltend – mit der zum Rot-Front-Gruß erhobenen Faust. Mit diesem Zeichen des Sieges der kommunistischen Idee und ihrer Anhänger endet der Film. In den Jahren 1938/39 wurde PROFESSOR MAMLOCK u. a. in Frankreich, den USA, Spanien, Mexiko, Marokko, Kanada, Schweden, Großbritannien und China gezeigt. Nach Unterzeichnung des Nichtangriffspakts zwischen der Sowjetunion und Deutschland lief der Film wie auch andere antifaschistische Produktionen nicht mehr in der UdSSR; erst 1941 nach Ausbruch des Krieges zwischen der Sowjetunion und Hitlerdeutschland durfte er wieder gezeigt werden.105 In der SBZ kam er spät, in den Jahren 1947/48, in die Kinos. _____________ 105 Lew Hohmann: „Wolf und der Film – Eine unglückliche Liebe“, S. 248.

Verfilmungen des Dramas

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2.3.2. PROFESSOR MAMLOCK unter der Regie von Konrad Wolf (DEFA 1961) Acht Jahre nach dem Tod seines Vaters stellte Konrad Wolf106 die Verfilmung des PROFESSOR MAMLOCK als DEFA-Spielfilm fertig. Er hatte gemeinsam mit Karl Georg Egel das Drehbuch geschrieben, das sich stärker an der dramatischen Vorlage orientiert,107 einzelne Züge seines sowjetischen Vorgängers allerdings übernimmt. Mitten im Kalten Krieg und nur drei Monate vor dem Bau der Berliner Mauer fand die Premiere am 17. Mai 1961 in Berlin statt. Die Aktualität der inzwischen fast dreißig Jahre alten Handlung wird am Beginn des Films überdeutlich hergestellt. Zu Beethovens 9. Sinfonie und der Einblendung eines Porträts von Friedrich Wolf erscheinen folgende Sätze als Rolltitel: Friedrich Wolf schrieb 1933 ein Drama. Damals waren die Todeslager noch nicht errichtet, – die Gaskammern noch nicht erfunden, – sechs Millionen Juden noch nicht ermordet, – der zweite Weltkrieg noch in weiter Ferne. Damals war dies alles noch nicht geschehen. Der Dichter erzählt vom Schicksal des deutschen Arztes, des Juden.108

Darauf wird Professor Mamlock – Wolfgang Heinz in der Hauptrolle – in Großaufnahme gezeigt. Das Gesicht ganz nah und den Blick direkt in die Kamera gerichtet, spricht Mamlock zum Publikum: Du bist voller Sorge: wird es nach dem letzten Völkermord doch noch einmal Krieg geben? Du ängstigst dich um deinen Sohn, deine Tochter, deinen Mann. [...] Ist in dem lärmenden Vorwärtsstürmen der Welt noch Platz für Güte und Menschlichkeit, Demokratie und Freiheit, Geist und Harmonie? Du willst nicht wahrhaben, daß du nachts aufwachst und in die Dunkelheit starrst. Wem von uns geht es anders?109

Erst nach diesem eindringlichen Appell ans Publikum eröffnen der Zoom der Kamera und das Umwenden Mamlocks den Blick auf seine Frau im gemeinsamen Wohnzimmer; das Spiel ist eröffnet, die Worte waren auf Handlungsebene an die Frau gerichtet in ihrer Sorge um ihren Sohn Rolf; mit der „letzte Völkermord“ ist nicht der Zweite, sondern der Erste Weltkrieg gemeint. Für den Zuschauer aber, der die Doppeldeutigkeit der frontal in die Kamera gerichteten Ansprache kaum missverstehen kann, ist die _____________ 106 Konrad Wolf (1925–1982) gehörte mit Filmen wie LISSY (1957), DER GETEILTE HIMMEL (1964) und SOLO SUNNY (1979) zu den bedeutendsten DEFA-Regisseuren. 107 Von einer „werkgetreuen“ Umsetzung kann allerdings keine Rede sein; vgl. die Einschätzung von Lew Hohmann: „Wolf und der Film – Eine unglückliche Liebe“, S. 249. 108 Zitat aus dem Drehbuch; zit. n. Lutz Haucke: „‚Professor Mamlock‘ (1961). Studie zu Problemen der Dramenverfilmung“. In: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 31 (1990): 79–97, S. 86. 109 Haucke: „‚Professor Mamlock‘“, S. 88.

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Parallele hergestellt: In der Gegenwart der frühen 1960er Jahre ist die politische Situation nicht weniger angespannt als in den frühen 1930er Jahren, und auch jetzt gilt es, sich für politisches Handeln – für den „Kampf für Frieden und Sozialismus“, wie ein Slogan der DDR-Führung lautete – zu entscheiden. „Denn kein größeres Verbrechen gibt es als nicht kämpfen wollen, wo man kämpfen muß!“ (359), heißt es im Drama wie im Film. Wie bereits Lutz Haucke festgestellt hat, wurden „für das Drehbuch wesentliche Veränderungen des Dramentextes und damit der szenischen Untertexte“ vorgenommen.110 Im Vergleich zum Drama und zum Hörspiel sprengt die Verfilmung den Charakter des Kammerspiels. Neben dem Haus Mamlocks und den Räumen der Klinik werden die Szenen auf der Straße, von denen in Drama und Hörspiel nur berichtet wird, visualisiert. Das Publikum sieht die Straßenkämpfe, die Verteilung der Flugblätter durch die Kommunisten, die Naziaufmärsche, die Drangsalierung von Mamlocks Tochter Ruth in der Schule und die Demütigung Mamlocks beim von Nazipatrouillen erzwungenen Gang durch die Straßen. Durch Parallelschnitte und Überblendungen werden die Szenen in Bezug zueinander gesetzt. Die gesellschaftlichen Vorgänge außerhalb des Wirkungskreises des Professors sind im Film so dominant, dass davon gesprochen werden kann, dass „neben der Tragödie Mamlocks die Linie der gegen den Faschismus handelnden Kommunisten als Parallelhandlung“111 entworfen wird, die jedoch an keiner Stelle die Dominanz der sowjetischen Fassung erreicht. Dies zeigt sich bereits in der Exposition. Die Silvesterfeier im Hause Mamlock112 ist in den ersten Bildern mit der der Nazis im „Deutschen Haus“ – hier sind die Ärzte Ruoff und Hellpach anwesend – und einem Treffen der Kommunisten Rolf, Ernst und Walter parallel geschnitten. Diese Handlungsstränge werden dann zusammengeführt, indem die folgende Schlägerei zwischen den Kommunisten und einem SA-Trupp von Dr. Ruoff beobachtet wird, Rolf verletzt im Hause seiner Eltern eintrifft und Walter mit einer Stichverletzung in Mamlocks Klinik eingeliefert wird. Konrad Wolf setzt zur Konfliktzeichnung symbolische Bilder und leitmotivische Musik ein. Er lässt die beiden Welten – die humanistische Mamlocks und die barbarische der Nazis – in einer der stärksten Szenen des Films aufeinandertreffen: Mamlock, von seiner Frau wegen seiner Favorisierung des Intellekts gegenüber dem Gefühl mit Hinweis auf das „Erbteil seiner Rasse“ angegriffen, sitzt allein in seinem großen Haus, _____________ 110 Die genaue Analyse ist nachzulesen bei Haucke: „‚Professor Mamlock‘“, S. 94 f. 111 Haucke: „‚Professor Mamlock‘“, S. 82. 112 Im Gegensatz zum Drama setzt die Filmhandlung nicht im Mai 1932, sondern erst mit dem Jahreswechsel 1932/1933 ein.

Verfilmungen des Dramas

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mühsam abgeschottet gegen die Naziparolen krakeelende Außenwelt, den Kopf in die Hand gestützt. Sein Gesicht, gezeichnet von Verzweiflung und Ratlosigkeit, überlagern filmisch die beiden Prinzipien, die miteinander ringen: das Grammophon, das noch immer die klassische Ode „An die Freude“113 spielt, und das Radio, das schauerliche Nachrichten von den neuen Gesetzen gegen Juden verbreitet. Der Radiolautsprecher in Großaufnahme symbolisiert die Macht der Nationalsozialisten, die mit dem Rundfunk auch das Volk beherrschen. Die Gewalttaten gegen Juden und Kommunisten draußen auf der Straße werden in den vom Radio verbreiteten Gesetzen legitimiert. Der Film bebildert nicht nur die politischen Gewichtungen, sondern auch das im wahrsten Sinne des Wortes ‚auf den Leib schreiben‛ der rassistischen Kategorisierung. Ruth, der man nicht nur die Schulhefte, sondern auch die Jacke mit einem Judenstern beschmiert hat; Mamlock, dem quer über seinen weißen Kittel das Wort „Jude“ geschrieben wurde. Diese Stigmatisierung als Aussätzige nimmt die späteren Kennzeichnungen der rassischen Herkunft durch die Nazis vorweg, gleichzeitig verdeutlicht sie, dass jene Zuschreibungen willkürlich und rein äußerlich sind. Judentum dient nicht als Identifikationsmöglichkeit, als Ort des Glaubens und/oder der Herkunft, sondern allein als Merkmal der Demütigung und des Fremden. Simons positive Bewertung eines religiösen Judentums ist im Film nicht mehr erkennbar. Eine wesentliche Erweiterung erfährt die Figurenkonstellation durch die Einführung des Bankiers Schneider, der als Mäzen Mamlocks in Erscheinung tritt. Schneider muss als Zugeständnis an die kommunistische Faschismusinterpretation verstanden werden.114 Eigentlich eine Nebenfigur, entpuppt er sich als Repräsentant der Drahtzieher hinter dem nationalsozialistischen Mob auf der Straße. Als Vertreter des Finanzkapitals unterscheidet er sich im Habitus von Dr. Hellpach, der als kommissarischer Leiter der Klinik von Karriereinteressen getrieben ist, die sich hinter seinem irrationalen und aggressiven Verhalten kaum verbergen lassen. Figuren wie Hellpach erscheinen im Film als die Handlanger der Schneiders, die schlussendlich den größten – ökonomischen – Vorteil davontragen: Schneider kann sich seines jüdischen Teilhabers an der Bank namens Osterfeld entledigen und enge Beziehungen zur Regierung pflegen, ohne _____________ 113 Als Teil der 9. Sinfonie Ludwig van Beethovens mit dem Text von Friedrich Schiller ist die klassisch-humanistische Symbolik kaum zu überhören. Das Zitat „Wem der große Wurf gelungen, eines Freundes Freund zu sein“, gerät aus dem Munde des Bankiers Schmidt zu einem geradezu zynischen Kommentar. 114 Weniger explizit interpretiert Haucke die Erweiterung des Figurenensembles für den Film: „K.-G. Egel und K. Wolf führten die Figur des Mäzens ein, um Mamlocks Irrtum am Verhalten dieses Vertreters des Bankhauses politisch und sozial vertiefen zu können.“ Vgl. Haucke: „‚Professor Mamlock‘“, S. 81.

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seine intellektuelle Überlegenheit aufgeben zu müssen oder sich die Finger schmutzig zu machen. In seiner Position kann er es sich sogar erlauben, seinem „alten Freund“ Mamlock wieder in die gekündigte Stellung zu verhelfen, damit dieser Schmidts anstehende Operation übernehmen kann. Auch die Figur des Arbeiters Ernst, der gemeinsam mit Rolf gegen die Nazis kämpft, ist im Film stark ausgebaut. Ernst, der im Drama eigentlich eine Nebenrolle inne hat, die sich auf eine Szene im Hause Mamlocks beschränkt, wird nun bei seinen Aktivitäten im Widerstandskampf gezeigt. Er opfert sich darüber hinaus für Rolf, wenn er sich an seiner statt von der Gestapo ergreifen lässt und Rolfs Aufenthaltsort bis zu seiner eigenen Ermordung nicht preisgibt. Die heldenhafte Kameradschaft und Brüderlichkeit unter den Kommunisten bis in den Tod konterkariert im Film die unsicheren Zweckbünde auf bürgerlicher Seite und stellt den sinnlosen Selbstmord des verzweifelten Mamlock dem sinnhaften Tod des kämpfenden Kommunisten gegenüber. Im Vergleich zum Drama von 1933, aber auch zur Hörspielfassung von 1945 ist die Verfilmung des Professor Mamlock von 1961 stark dem veränderten politischen Zeitgeist verschrieben. Hatte das Hörspiel noch versucht, das Publikum ‚behutsam‘ umzuerziehen und die jüdische Problematik in den Mittelpunkt gestellt, sieht sich der Kinozuschauer mit einem Film konfrontiert, der nicht mehr die Wandlung vom unpolitischen zum politischen Menschen in den Vordergrund rückt, sondern die Geschichte des scheiternden bürgerlichen Humanisten und den Zusammenbruch seines Wertesystems dem ‚richtigen‘ Weg des kommunistischen Widerstandes gegenüberstellt. Dieser rechte Weg wird nicht mehr im Laufe der Handlung als der beste unter mehreren Möglichkeiten herausgearbeitet, sondern – ähnlich der Verfilmung von 1938 – von Anfang an als parallele Haltung und Handlung vorgestellt. Die ostdeutschen Zuschauer der 1960er Jahre konnte dies allerdings kaum überraschen. Während Hörspiel und Dramenvorlage auf Wandlung durch Identifikation mit der Hauptfigur setzen, wird dem ‚wissenden‘ Filmpublikum ein Mamlock präsentiert, dessen Haltung von Beginn an mit der ‚richtigen‘ und die seine überdauernden kollidiert. Vergleicht man Hörspiel und Filmfassungen, so lässt sich zusammenfassend feststellen, dass das Hörspiel als Beispiel ‚behutsamer Erziehung‘ den plakativen Agitationen der späteren, aber vor allem der früheren Verfilmung kontrastiv entgegensteht.

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3. Zwischen Tabu und Tauwetter Das DDR-Hörspiel in den 1950er Jahren Während das Hörspiel in der Bundesrepublik in den 1950er Jahren seine Blütezeit erlebte und als literarische Gattung große öffentliche Wahrnehmung erfuhr, unterlag das Hörspiel in der DDR den unsteten kulturpolitischen Entwicklungen, die gerade auch auf die Massenmedien Einfluss nahmen. Mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1949 besiegelten die beiden deutschen Staaten ihre politische Teilung. Die diesen Prozess begleitende ideologische Auseinandersetzung bestimmte auch das Radioprogramm maßgeblich. In erster Linie wirkte sich die politische Zuspitzung auf die personelle Zusammensetzung der Rundfunkabteilungen aus. Unter der Leitung von Maximilian Scheer115 verließen 1949/1950 bedeutende Regisseure wie Alfred Braun116, Hannes Küpper117 und Hanns Farenburg118 die Abteilung „Künstlerisches Wort beim Berliner Rundfunk“, da sie die von Scheer betriebene Ideologisierung vor allem des Hörspiels nicht mittragen wollten. Die Funktion des Rundfunks wurde auf dem 3. Parteitag der SED noch einmal auf die „Erziehung und Beeinflussung der Massen“ festgeschrieben, und so sollten Themen wie „die volkseigenen Betriebe, die neuen Werften, die Neubauern, die Bodenreform, die MAS, die Kulturarbeit auf dem Lande, die Agenten des Ostbüros, die Währungsspekulationen, die Wühlarbeit gegen den Frieden, die Lügenkampagne gegen unsere Republik“ die Hörspielarbeit bestimmen.119 Schon diese kurze Aufzählung deutet an, wohin sich die Programmentwicklung ausrichten sollte: gen Westen. Der Rundfunk hatte als grenz_____________ 115 Der Schriftsteller und Journalist Maximilian Scheer (1896–1978) war 1947 aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrt und wurde als Chefredakteur der Zeitung Ost und West eingesetzt; von 1949 bis 1952 leitete er die Abteilung Künstlerisches Wort beim Berliner Rundfunk. 116 Alfred Braun (1888–1978) war als Sprecher und Regisseur bereits Ende der 1920er Jahre für den Rundfunk tätig. Er inszenierte u. a. Friedrich Wolfs „Krassin“ rettet „Italia“ (1929) und Brechts Die Heilige Johanna der Schlachthöfe (1932). Braun war als Hörspielregisseur nach 1945 im Rundfunk der DDR, aber auch in westdeutschen Rundfunkanstalten tätig. 117 Vgl. die Anm. 70 in diesem Kapitel. 118 Hanns Farenburg (1899–1964) war während des Nationalsozialismus an ersten Fernsehversuchen beteiligt und führte nach dem Krieg u. a. bei Berta Waterstradts Hörspiel Während der Stromsperre (1948) Regie. Ab 1950 inszenierte er zahlreiche Fernsehspiele für westdeutsche Rundfunkanstalten. 119 Vgl. Ingrid Pietrzynski: „‚Die Menschen und die Verhältnisse bessern ...‘. Literaturvermittlung in Literatursendungen des DDR-Rundfunks“. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk. 1950– 1960. Hg. v. Monika Estermann u. Edgar Lersch. Wiesbaden 1999. 120–167, S. 121.

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überschreitendes Medium120 nicht allein Aufklärung nach innen zur Aufgabe, sondern auch die Agitation nach außen: „Denn der Rundfunk und besonders das Hörspiel“, heißt es in einem Artikel der evangelischen Wochenzeitung Der Sonntag 1951, „kann durch seine Wirkung nach Westdeutschland für unseren Sieg in diesem Kampf eine ausschlaggebende Rolle spielen.“121 Gleichzeitig stand das DDR-Radio als Medium der Unterhaltung in einem starken Konkurrenzverhältnis zu den westlichen Rundfunksendern und seit Mitte des Jahrzehnts auch zum Fernsehen. In den folgenden Jahren gelang es dem jungen DDR-Rundfunk nur schwer, eine publikumsorientierte Balance zwischen Ideologisierung und Unterhaltung herzustellen. Versuche, das literarische Niveau des Hörspiels zu heben und Schriftsteller für die Gattung zu begeistern, scheiterten regelmäßig, so dass Sibylle Bolik eine „Dauerkrise des Hörspiels während der fünfziger Jahre“ konstatiert, die von „theoretischer Verunsicherung“ bzw. vollständiger „Theorie-Abstinenz“ begleitet war und sich in der sogenannten zweiten Hörspieldebatte 1954 niederschlug.122 Ist für das Hörspiel der 1950er Jahre in der DDR keine nennenswerte theoretische Auseinandersetzung auszumachen, so findet zur gleichen Zeit jedoch eine bewegte kulturpolitische Diskussion um die Ausrichtung der (sozialistischen) Literatur statt, die sich auch auf die literarischen Produktionen des Rundfunks auswirkt. Spätstalinistische Ansichten bestimmten 1951 die Debatte um die Überwindung von ‚Formalismus‘ und ‚Dekadenz‘ zugunsten einer volksnahen Aufbauliteratur, die weniger von einem besonderen künstlerischen Anspruch als vom politischen Standpunkt bestimmt sein sollte. Weder proletarische noch bürgerliche avantgardistische Tendenzen, wie sie die Literatur der Weimarer Republik und des Exils vertreten hatte, konnten unter diesen Prämissen bestehen. Stattdessen wandte man sich dem Klassischen Erbe als einer frühen nationalen Form des Realismus zu. Das ‚Formalismus-Verdikt‘, das auch die Rundfunkarbeit bestimmte, machte radiophone Experimente nahezu unmöglich; darüber hinaus wurde bezweifelt, dass das Hörspiel als rein akustisches Genre überhaupt zur realistischen Darstellung geeignet war. Es dominierte ein didaktisches Hörspiel, das sich im Zeichen des Kalten Krieges dem „Kampf um den Frieden“ verschrieb, sich gegen den politischen Gegner richtete und Stücke zu Gegenwartsproblemen beim Aufbau der DDR hervorbrachte.123 Für die Agitation des westdeutschen Publikums wurde 1948 eigens der Deutschlandsender mit einem eigenen _____________ 120 Die Einfuhr von DDR-Presseerzeugnissen in die Bundesrepublik war bis 1968 nicht gestattet; vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 46, Anm. 3. 121 Gerhard Wolfram: „Das Hörspiel als Kunstform“. In: Sonntag 6.37 (1951): 5. 122 Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 54 f. 123 Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 59–68.

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Programm betraut. Während sich der Kommunist und Moskau-Emigrant Hans Mahle als Generalintendant des Deutschen Demokratischen Rundfunks noch 1949 entschieden gegen die Instrumentalisierung des Rundfunks für die politische Propaganda der SED verwahrte,124 beschreibt Kurt Heiß, sein Nachfolger,125 das Anliegen des von ihm geleiteten Deutschlandsenders mit folgenden Worten: Dieses Programm ist von Anfang bis zu Ende in all den 18 Stunden Tag für Tag darauf eingestellt, den amerikanischen Imperialisten entgegenzutreten, deren Wut und Haß gegen uns Deutsche immer schlimmer und wahnwitziger wird. Sie und die Handvoll Verräter, die Deutschland gespalten haben, um den westlichen Teil zu kolonisieren und zum militärischen Aufmarschgebiet gegen Fortschritt, Demokratie und Frieden zu machen, sie sind die Feinde, die Todfeinde, die es zu entlarven und unschädlich zu machen gilt.126

Bis zur Umwandlung des ‚Deutschlandsenders‘ in ‚Stimme der DDR‘ 1971 wird diese Ausrichtung das Programm des Radiosenders bestimmen. Gerade in den Jahren 1959 bis 1961 wird der Deutschlandsender maßgeblich die ‚antifaschistische‘ Kampagne gegen westdeutsche Politiker mittragen, die sich vor allem gegen Theodor Oberländer und Hans Globke richtete und auf die Offenlegung ihrer nationalsozialistischen Verstrickungen zielte. Das Thema drang aus den aktuellen politischen Informationen und Kommentaren bis in das Hörspielprogramm hinein und diente u. a. dazu, den Zusammenhang von Antisemitismus, Holocaust und Neonazismus in der Bundesrepublik herauszustellen. Zu Beginn der 1950er Jahre aber, zu Zeiten der antisemitischen ‚Säuberungen‘ unter ostdeutschen Kommunisten (vgl. Kap. I.1.), waren die Themen Judentum und Holocaust im ostdeutschen Rundfunk Tabu. Seit der Sendung von Szenen aus Bertolt Brechts Exildrama Furcht und Elend des Dritten Reiches am 30. Januar 1949, in dem auch Repressionen gegen Juden szenisch dargestellt wurden, kam es erst Mitte des Jahrzehnts – in _____________

124 Hans Mahle, Kommunist, Moskau-Exulant und einer der Rundfunkpioniere in der SBZ forderte Anfang 1949 auf der Intendantenkonferenz mit den Leitern des Berliner Rundfunks, des Mitteldeutschen Rundfunks und der Landessender im Funkhaus Grünau: „SED-Sender oder nicht SED-Sender. Es ist bekannt, daß wir auf jeder Intendantenkonferenz Sturm dagegen gelaufen sind, daß die Sender in den Dienst einer engstirnigen Parteipropaganda gestellt werden. (...) Die Parteipresse betrachtet die Dinge vom Standpunkt der Partei. Wir als Rundfunk müssen diese Fesseln sprengen. Wir betrachten die gesamtdeutschen Aufgaben. Wir dürfen die Dinge nicht nur als Parteifragen behandeln, sondern als demokratische Fragen. Es ist eine Frage der Sprache.“ Aktennotiz über die am Montag, 31.1.1949 in Grünau stattgefundene Intendantenkonferenz, Bundesarchiv Berlin DR 6/321; zit. n. Klaus Arnold: Kalter Krieg im Äther. Der Deutschlandsender und die Westpropaganda der DDR. Münster 2002, S. 252. 125 Kurt Heiß trat 1951 die Nachfolge Hans Mahles an, als dieser wegen angeblicher Kooperation mit dem Klassenfeind und Spionage 1951 als Generalintendant abgesetzt worden war. 126 Fünf Jahre demokratischer Rundfunk. 13. Mai 1945–13. Mai 1950. Hg. v. Amt für Information der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1950, S. 8.

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der Folge der Ereignisse um den 17. Juni 1953 und nach dem Abschwellen der politischen Kampagne gegen jüdische Kommunisten in Führungspositionen – wieder zu Hörspielsendungen, die den Holocaust zum Thema hatten. Erst während der sogenannten ‚Tauwetterperiode‘, die nach dem Tod Stalins 1953 einsetzte und bis 1956/1957 anhielt,127 wurden vereinzelt Hörspiele, Funkerzählungen und hörspielartige Features zum Thema produziert, von denen die Stücke, die auf Hörspielsendeplätzen liefen, Übernahmen aus dem westlichen Ausland – der Bundesrepublik und den Niederlanden – waren. Die kulturpolitische Entspannung ermöglichte neben einer vorsichtigen inhaltlichen Öffnung auch den Einzug westlicher Autoren in das Radioprogramm, eine Beobachtung, die auch auf andere Sendesparten zutraf. Ingrid Pietrzynski weist darauf hin, dass die Hörerinnen und Hörer auch in den Literatursendungen des ostdeutschen Hörfunks „mit dem dann stark forcierten gesamtdeutschen Wirkungsanspruch des DDRRundfunks und in der Liberalisierungsphase Mitte des Jahrzehnts [...] zunehmend mit westdeutscher, österreichischer und schweizerischer Gegenwartsliteratur Bekanntschaft machten.“128 In den Jahren 1954 bis 1957 überstieg der Anteil deutschsprachiger Literatur aus westlichen Ländern sogar den der Sowjetliteratur.129 Im Gegensatz zu den Hörspielproduktionen, die zur besten Sendezeit über den Äther gingen, erreichten die Sendungen der Literaturabteilung jedoch nur ein begrenztes Publikum.130 1955 sendete das 1. Programm in Berlin das Hörspiel Schiff ohne Hafen, das vom niederländischen Autor Jan de Hartog stammte und von Lutz Neuhaus für den Funk bearbeitet wurde. Als eines der wenigen Hörspiele siedelte es die Handlung nicht in der Gegenwart an, um von hier aus Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen oder die Fortwirkung historischer Ereignisse in der Gegenwart vorzuführen, sondern im Jahre 1934. Ein Kapitän, auf dessen Schiff sich 145 jüdische Flüchtlinge aus Europa befinden, kämpft um die Rettung seiner Passagiere, denen die Einreise nach _____________ 127 Wie bereits Jost Hermand feststellte, brauchte es vom Tod Stalins 1953 bis zum Aufflammen der sogenannten Schematismus-Debatte zwei Jahre. Das tatsächliche ‚Tauwetter‘ setzte allerdings erst nach der Rede Chrustschows gegen den Stalinismus, die er am 22. Februar 1956 auf dem XX. Parteitag der KPdSU hielt, ein; vgl. Jost Hermand: „Das Gute-Neue und das Schlechte-Neue: Wandlungen der Modernismus-Debatte in der DDR seit 1956“. In: Literatur und Literaturtheorie in der DDR. Hg. v. Peter Uwe Hohendahl u. Patricia Herminghouse. Frankfurt a. M. 1976. 73–99, S. 74 f. 128 Vgl. Ingrid Pietrzynski: „‚Die Menschen und die Verhältnisse bessern ...‘. Literaturvermittlung in Literatursendungen des DDR-Rundfunks“. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk. 1950– 1960. Hg. v. Monika Estermann u. Edgar Lersch. Wiesbaden 1999. 120–167, S. 140. 129 Vgl. die Übersichten in Pietrzynski: „‚Die Menschen und die Verhältnisse bessern ...‘. Literaturvermittlung in Literatursendungen des DDR-Rundfunks“, S. 142. 130 Pietrzynski: „‚Die Menschen und die Verhältnisse bessern ...‘. Literaturvermittlung in Literatursendungen des DDR-Rundfunks“, S. 161.

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Südamerika ebenso wie in die USA verweigert wird. Von christlichen Werten geleitet, versucht er, die jeweiligen Entscheidungsträger zu einer humanen Lösung zu bewegen. Am 1. April 1956 läuft eine „Funkerzählung“ mit dem Titel Jenseits der Barriere im Deutschlandsender und weist auf jene Produktionen voraus, die in den 1960er Jahren das historische Geschehen des Holocaust mit dokumentarischen Mitteln in eine gegenwärtige fiktive Handlung einbinden werden, um „sich gegen die Refaschisierung und den sich wiedererhebenden Antisemitismus im Bonner Staatsapparat“ zu wenden.131 Bezeichnenderweise handelt es sich hierbei nicht um eine Produktion der Hörspielabteilung, sondern der Redaktion „Dokumentation“, die zielgerichtet featureartige dokumentarische Passagen mit fiktiver Handlung und einem Erzählerkommentar mischt, ergänzt um eingespielte Lieder, darunter Adolf Hitlers ‚Lieblingsmarsch‘, den sogenannten „Badenweiler Marsch“, und eigens für die Inszenierung komponierte Musik. Der Hörer kann nur noch schwer Fakten, Fiktion und Wertung voneinander unterscheiden und sich der Agitation nur schlecht erwehren. Wie ein Refrain kommentiert die balladenhafte, mit Musik unterlegte Schilderung der Jahrtausende alten Legende des Ahasverus die Handlung, beschreibt seine ruhelose Wanderung und seine Verfolgung seit biblischen Zeiten als Sinnbild des Schicksals des jüdischen Volkes, wobei Antisemitismus hier als sozialer Konflikt verstanden wird: denn immer wo Armut die Armen drückte, und diese begehrten, die Armut zu tilgen, riefen die Reichen, die den Armen das Brot vom Tisch nahmen, die Geldwechsler und Tuchhändler, seht: Schuld ist er, der Ashaverus [sic!] – und so schlugen die Armen den Ärmsten aller, und nicht selten nahmen sie ihm auch das Leben.132

Eine Erzählerstimme berichtet von der Rückkehr eines namenlosen Mannes, der Ahasverus sein könnte, wie es heißt, in die Bundesrepublik der 1950er Jahre, um einen Antrag auf Entschädigung für die erlittene Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges in Litauen zu stellen. In einer Rückblende wird die körperliche und seelische Misshandlung des Juden durch einen SS-Mann vorgeführt, gerahmt und untermalt von einer akustischen Kulisse, die in der Brutalität ihrer Zeichen in der Hörspielgeschichte ihresgleichen sucht: Regie: (Musik einblenden, zunächst monoton, moll, dann übergehen in einen wilden Wirbel, furioso, aus dem ein fürchterlicher Schrei eines gequälten, gefolterten

_____________ 131 Vgl. den „Freigabeschein“ zum Manuskript von Gerhard Jäckel: Jenseits der Barriere, das sich im DRA Potsdam unter der Signatur B 095-00-18/0001 findet. Ein Tondokument ist nicht erhalten. Den freundlichen Hinweis auf die Funkerzählung verdanke ich Dr. Ingrid Pietrzynski vom DRA Potsdam. 132 Jäckel: Jenseits der Barriere, S. 2.

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Menschen erwächst [...] dazu klatschende Schläge, leise, wimmernde Schreie [...] klatschender Schlag mit einer Peitsche, ein Schrei übergehend in Musik, die in den Badenweiler-Marsch übergeht, dazu Schritte einer marschierenden Kolonne, Nazireporter über Verzerrer.133

Der namenlose, gequälte Jude begegnet nun, 1956, einem Verantwortlichen für seine Pein: dem Ministerialdirigenten im Auswärtigen Amt Dr. Bräutigam, dessen Name wie auch die seiner Vorgesetzten und Mitarbeiter beschwörend wiederholt wird, als sollte er sich für immer ins Gedächtnis einprägen. Wie es später in den Kampagnen der DDR gegen die Bundesrepublik gang und gebe sein wird, macht der Erzähler nun die personellen und ideologischen Zusammenhänge deutlich, die vom Dritten Reich bis in die Gegenwart hin zum Bundeskanzler Adenauer reichen. Zitate aus dem Briefwechsel der Nationalsozialisten Otto Bräutigam und Hinrich Lohse belegen die gemeinsame Verantwortung für die Liquidierung von 85.000 Juden in Litauen und 110.000 in Rumänien, deren unsägliche Leiden eingehend geschildert werden.134 In dieser Ausführlichkeit und Unmittelbarkeit wird die Judenvernichtung in einem ostdeutschen Hörspiel nicht noch einmal dargestellt. Die poetische Abstraktion im balladenartigen Refrain relativiert nicht die geschilderten Verbrechen, sondern ergänzt sie noch um die subjektive Wahrnehmung des Ahasverus. Das Hörspiel endet mit einem Bescheid der bundesdeutschen Verwaltung, der in zynischem Ton feststellt, der Antragsteller sei während des Krieges lediglich Zwangsarbeiter gewesen und könne daher keine Ansprüche geltend machen.135 Jenseits der Barriere ist das erste – wenn auch dem Feature nahestehende – Hörspiel im Radio der DDR, das dem eigentlichen Genozid an den europäischen Juden in seiner Brutalität Raum gibt. In dieser Weise wird sich erst wieder Die Ermittlung von Peter Weiss dem Leiden der Opfer widmen. Beiden Hörspielen gemein ist der Umstand, dass sie auf die einzelnen Kriegsverbrecher als Verantwortliche abzielen und in der Nennung konkreter Namen einerseits einer juristischen Aufarbeitung zuarbeiten, andererseits aber die Diskussion um eine Mitschuld großer Teile des deutschen Volkes abwehren. In den wenigen Jahren der Liberalisierung zwischen 1955 und 1959 findet die wenn auch vereinzelte Thematisierung des Holocaust im Hörspiel der DDR ästhetisch wie inhaltlich einen ersten Höhepunkt. Woher _____________

133 Jäckel: Jenseits der Barriere, S. 3. Da es sich beim überlieferten Manuskript um das sogenannte Kontrollexemplar handelt, also um jene Textfassung, die beim Abhören des fertigen Hörspiels die endgültige Fassung notiert, kann von einer wortgetreuen Umsetzung ausgegangen werden. Handschriftliche Änderungen betreffen ausschließlich einzelne Stellen des Dialogs. 134 Jäckel: Jenseits der Barriere, S. 6–7. 135 Jäckel: Jenseits der Barriere, S. 13.

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kennen wir uns bloß?, eine Übernahme des Nordwestdeutschen Rundfunks von 1957, verbindet die in Schiff ohne Hafen bereits angedeutete religiöse Identität der jüdischen Verfolgten mit dem Motiv des Widerstandskampfes in einem Dialog, in dem sich ein Jude und ein deutscher Nationalsozialist an ihr Zusammentreffen im Aufstand des Warschauer Ghettos erinnern. Am 2. September desselben Jahres läuft im Sender Radio DDR Günter Kunerts136 Funkerzählung Die Steine werden reden.137 Häftlinge, vor allem jüdische Angehörige des sogenannten „Sonderkommandos“, brechen aus dem Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau138 aus. Der religiöse polnische Jude Adam wird auf diese Weise Teil eines bewaffneten Aufstandes, der vom Kommunisten Gerhard angeregt und unterstützt wird. Im Laufe der Flucht ergeben sich kurze Momente, in denen in didaktischem Duktus Ursachen des Nationalsozialismus und Formen des Widerstands diskutiert werden. Die fehlende Hilfe aus dem Ausland wird ebenso thematisiert wie die Warnungen und Aufrufe der Kommunisten, denen nur wenige folgten: GERHARD: Die Imperialisten sind sich immer einig. ADAM: Ach, eure Sprüche haben uns auch nicht geholfen. GERHARD: Weil Ihr nicht auf sie gehört habt. ADAM: Weil Ihr so schwer zu verstehen seid. GERHARD: Weil Ihr gleichgültig ward und gedacht habt: Irgendwie wird schon alles werden. ADAM: Ihr ward euch ja nicht mal selber einig. [...] SERGEJ: [...] Bei uns in Rußland war es umgekehrt. Da haben die anderen geredet, und die unsrigen, die Arbeiter haben gehandelt.139

Das Stück, das mit dem bevorstehenden Aufgreifen der Flüchtigen durch die Deutschen endet, schließt mit der an die ersten Worte aus Shakespeares Hamlet erinnernden Bemerkung, die Zeit sei „verkehrt und auf den Kopf gestellt. Eine Uhr, die verkehrt herum hängt“, auf die aber die un_____________ 136 Günter Kunert (geb. 1929) trat in der DDR zuerst als Lyriker und Satiriker in Erscheinung. Er schrieb Texte für Zeitschriften, darunter für den von Wolfgang Weyrauch mitbegründeten Ulenspiegel, und das Kabarett und arbeitete von 1953 bis 1965 regelmäßig für den Rundfunk. Von seinen acht Funkerzählungen sind vier als Manuskripte überliefert. Nach dem Verbot seiner gemeinsam mit Schwaens Ende verfassten Fernsehoper Fetzers Flucht und seines Fernsehfilms Monolog für einen Taxifahrer zu Beginn der 1960er Jahre wurde er Opfer einer „groß angelegten öffentlichen Schlammschlacht“. 1971 siedelte Kunert in die Bundesrepublik um; vgl. Ingrid Pietrzynski: „‚Im Orkus verschwunden?‘ Günter Kunerts frühe Hörfunkarbeiten (1953–1962)“. In: Literatur im DDR-Hörfunk. Günter Kunert – Bitterfelder Weg – Radio Feature. Hg. v. Ingrid Scheffler. Konstanz 2005. 13–128, S. 25 u. 78 f. 137 Manuskript im DRA Potsdam: Radio DDR, Tagesablage 1957, lfd. Nr. 722; ein Tonträger ist nicht erhalten. 138 Es ist eine Besonderheit des Kunert’schen Hörspiels, dass die Handlung im Vernichtungslager Auschwitz angesiedelt ist und nicht in einem jener Lager, wie bspw. dem KZ Buchenwald, bei denen das Wirken kommunistischer Organisationen die Erinnerung dominierte. 139 Günter Kunert: Die Steine werden reden. Erstsendung am 2.9.1957. Manuskript im DRA Potsdam: Radio DDR, Tagesablage 1957, lfd. Nr. 722, S. 12.

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missverständliche Aufforderung folgt: „So hängt sie wieder richtig. Stellt sie auf die Beine. Ihr seid doch jung.“140 Es handelt sich um eines der wenigen von einem ostdeutschen Autor verfassten Hörspiele der 1950er Jahre, das die Judenvernichtung thematisiert. Entwicklungen des DDR-Rundfunks – wie auch Jenseits der Barriere – präsentieren Hörspiele zur Judenverfolgung weniger als fiktive und literarische Stücke, die sie zweifelsohne darstellen; statt dessen werden sie in Sendereihen als „Dokumentarhörfolge“141 ausgestrahlt, um so die Authentizität der Produktionen zu betonen. Die Steine werden reden, basiert auf dem Bericht eines Überlebenden, ist in den Worten Pietrzynskis eine „bewegende Geschichte“, in der spannungsreiche „Action-Elemente“ neben politischen Diskussionen um „die Ursachen der Entstehung des Nationalsozialismus und die Berechtigung von Gewalt gegen das Gewaltregime“ in einen „harten Realismus“ eingebettet werden: Auch wenn dieses Hörspiel in seiner didaktischen Aussage ähnlich klingt wie vieles im damaligen Sendeumfeld [...] auf die Hörer wird die packend und spannend gestaltete Geschichte ihre auf Identifizierung, nicht zuletzt mit den Opfern, gerichtete Wirkung nicht verfehlt haben. Zudem trug es in einem gewissen Umfang zur Kenntnisvermittlung über den Holocaust in einer Zeit bei, in der andernorts der Mantel des Schweigens darüber ausgebreitet wurde.142

Neben den Häftlingen, die zuerst durch ihre nationale Zugehörigkeit charakterisiert werden stehen sich der Jude Adam und der Kommunist Gerhard als politische Gegner gegenüber, wobei Gerhards Argumente den religiösen Ansichten Adams überlegen sind. Doch findet das Hörspiel deutliche Worte für die Fakten des Holocaust143 und auf der musikalischen Ebene einen emotionalen Zugang zu den historischen Vorgängen. Als stimmungsmalerische Musikbrücke am Beginn und am Schluss der Handlung sowie zwischen den einzelnen Szenen ertönt eine Totenklage als Synagogengesang.144 Hier greift Kunert ein akustisches Zeichen auf, das in kaum einem der Hörspiele fehlt, die in den 1950er Jahren zum Thema produziert wurden, und das darauf abzielt, Judentum als kulturellen und religiösen Hintergrund zu kennzeichnen. Mit der Totenklage konterkariert die Musik den _____________ 140 Kunert: Die Steine werden reden, S. 25. 141 So der Titel der Sendereihe, in der Die Steine werden reden am 2.9.1957 ausgestrahlt wurde. 142 Pietrzynski: „‚Im Orkus verschwunden?‘ Günter Kunerts frühe Hörfunkarbeiten (1953– 1962)“, S. 85. 143 „GERHARD: [...] Laßt euch nicht wehrlos vergasen. Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr ist das Feuer nicht ausgegangen in den Krematorien. Tag um Tag sind die Eisenbahnzüge gekommen aus allen Ländern Europas, die Viehwagen voll von Menschen – leer fuhren sie zurück. Jahr um Jahr. Woche um Woche. Tag um Tag.“ Kunert: Die Steine werden reden, S. 2. 144 Vgl. Kunert: Die Steine werden reden, S. 1.

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rationalen Diskurs auf der sprachlichen Ebene und stellt der akustischen Präsenz des Widerstandes, der sich in fortwährenden Schießereien äußert, die Präsenz der Toten und die Trauer über ihr sinnloses Sterben an die Seite. Wenn an insgesamt sieben Stellen im Manuskript „Synagogengesang“ vorgesehen ist und das Motiv der Steine als ewige Zeugen der NSVerbrechen bereits im Titel erscheint und auf den jüdischen Brauch verweist, kleine Steine auf Gräber zu legen, so verbindet Kunert die Erzählung vom Widerstand in den Konzentrationslagern eng mit dem – üblicherweise in diesem Zusammenhang marginalisierten – Genozid an den Juden. Nachdem die Judenverfolgung seit Gründung der DDR nur selten in einem ostdeutschen Hörspiel auftauchte, eröffnete das Hörspiel Korczak und die Kinder 1959 eine Reihe von fiktionalen Rundfunksendungen, die sich mit dem Holocaust auseinandersetzten. In der Inszenierung von Fritz Göhler145 hebt sich das Hörspiel jedoch inhaltlich und ästhetisch von den ihm folgenden Stücken ab. Es zielt weder auf die Offenlegung von Kontinuitäten nationalsozialistischer Tendenzen in der Bundesrepublik (z.B. Alles beim Alten, 1959) noch handelt es sich um ein Liebesdrama, das Einzelschicksale herausheben und den positiven deutschen Helfer in den Blickpunkt rücken möchte (z.B. Romeo und Julia und die Finsternis, 1960). Statt dessen steht erst- und zu dieser Zeit einmalig eine jüdische Figur im Zentrum, wird die Brutalität des Genozids bis in die Gaskammer des Konzentrationslagers hinein dargestellt und eine dramaturgische Form gefunden, die Emotionalisierung und Einfühlung verhindern soll. Auf der Grundlage des gleichnamigen westdeutschen Theaterstückes, das seit 1957 erfolgreich auf verschiedenen Bühnen in beiden Teilen Deutschlands aufgeführt wurde,146 sendete der Deutschlandsender eine eigene Produktion des Hörspiels Korczak und die Kinder am 22.6.1959, vier Monate nach der Erstsendung einer Hörspielfassung im Bayerischen Rundfunk.147 Die Authentizität des Hörspiels – „Es geht nicht um ein erfundenes Schicksal. Es geht um die Wirklichkeit“,148 heißt es zu Beginn _____________ 145 Fritz Göhler (1926–2007) arbeitete von 1947 bis 1954 als Schauspieler an verschiedenen ostdeutschen Theatern, um dann zum Rundfunk zu wechseln. Er war einer der produktivsten Hörspielregisseure des DDR-Rundfunks. Er inszenierte unter anderem die HolocaustHörspiele Gespräche mit dem Henker von Kazimierz Moczarski (1979) und Ich gehöre aber einer anderen Richtung an von Reinhard Griebner (1987). 146 Korczak und die Kinder lief 1959 unter der Regie von Harald Braun auch als Gemeinschaftsproduktion von BR, SDR und ORF im westdeutschen und österreichischen Rundfunk. 147 Von dieser Produktion ist weder das Sendeband noch ein Manuskript erhalten geblieben. 148 Erwin Sylvanus: Korczak und die Kinder. Hörspielbearbeitung von Ellen-Maria Jäger. Unveröffentlichtes Manuskript von 1959 im DRA Potsdam unter der Signatur 3000344X00, S. 2. Die folgenden Zitate aus dem Hörspiel werden mit den Seitenzahlen im Text nachgewiesen.

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der Sendung – beruht nicht allein auf den überlieferten Details aus dem Leben der Titelfigur, sondern erwächst während der Sendung aus dem Wechselspiel zwischen den Darstellern und zwischen Darstellern und Publikum. Sylvanus nutzt hierfür dramaturgische Elemente des Epischen Theaters und des Lehrstücks: Die Sprecher treten unter ihrem bürgerlichen Namen auf und ‚zeigen‘ den angeblichen Produktionsprozess des Stücks auf der ersten Spielebene. Auf einer zweiten Ebene, akustisch mit Hall unterlegt, spielen die Darsteller jene Szenen, die in Rückblenden das Leben Korczaks vorstellen, der unter schwierigsten Bedingungen als Kinderarzt im Warschauer Ghetto ein Waisenhaus mit 65 Kindern führt, die er schließlich auch auf ihrem Weg in das Konzentrationslager Majdanek149 begleitet. Nach anfänglich bekundetem Desinteresse werden die Darsteller zunehmend persönlich in die Handlung involviert. Die Doppelung von Darsteller und Rolle einerseits und die Übernahme von Doppelrollen durch die Darsteller transzendieren die für das Publikum sonst so klaren Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Explizit thematisiert das Hörspiel darüber hinaus die Verdrängungsmechanismen der Nachkriegszeit. Gleich zu Beginn heißt es: „Sie erschrecken? Noch können Sie ihr Gerät abschalten. Niemand zwingt sie zuzuhören. Was kümmert es Sie, was 1940 und 1942 geschah? Zudem in Polen, und das liegt weit. Sie haben sich entschlossen, zuzuhören? – Gut.“ (1) Geschrieben für eine (west-)deutsche Öffentlichkeit, die am Ende der 1950er Jahre nur widerwillig Verantwortung für die jüngste Vergangenheit übernehmen wollte, richtete sich das DDR-Hörspiel an ein Publikum, das sich nicht in der Tradition von Tätern und Mitläufern begriff. Dieses ‚Kollektiv‘ der Hörer und Hörerinnen wird nun an die eigene Verleugnung erinnert,150 wenn der Sprecher des Offiziers jede Verantwortung bestreitet: „Ich bin es dann freilich nicht gewesen. Ich bin es überhaupt nicht gewesen. Der Himmel ist Zeuge: ich bin es nicht gewesen.“ (26) Wie das Publikum vor den Radiogeräten verweigert der Offizier Wissen und Erinnerung: „1. SCHAUSPIELER Ich mag das nicht hören! SPRECHER Nein, das mögen Sie nicht hören. Sie mögen sich nicht gern erinnern. Jetzt haben sie Urlaub und sie wollen Mann und Vater sein. Was kümmern Sie die Polen und was erst die Juden!“ (6) Die provozierende Frage an die Zuhörer zu Beginn des Hörspiels taucht an dieser Stelle fast identisch wieder auf und _____________ 149 Der Zielort der Transporte scheint eine Vermutung des Autors zu sein. Die Forschungsliteratur zur Biographie Korczaks gibt ausnahmslos an, dass alle Bewohner des Waisenhauses nach Treblinka deportiert wurden. 150 Vgl. ausführlicher zu Sylvanus’ Thematisierung der Verdrängung im Nachkriegsdeutschland bei Kerstin Mueller: „Challenging the Selectivity of Memory in 1950s West Germany: Erwin Sylvanus’ Dr. Korczak and the Children“. In: Modern Drama 50.2 (2007): 233–257.

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unterstellt ihnen im Nachhinein die (Mitläufer- bzw. Täter-)Perspektive des deutschen Offiziers. Die Beschreibungen des Erzählers ersparen dem Publikum keine Details über das Leiden im Ghetto und die Vernichtung im Konzentrationslager. Bis in die Vorräume, wo die Kinder und Korczak sich auskleiden müssen, und den Weg in die Gaskammer hinein reicht sein Bericht.151 Jedoch wird eine Bewältigung über mitleidige Einfühlung in ein fiktives Schicksal wiederum verweigert, das Spiel an mehreren Stellen abgebrochen und statt dessen ein schweigendes Nachdenken eingefordert: SPRECHER Sie haben das Spiel unterbrochen. Gerade an dieser Stelle, da ich atemlos zuhörte... SCHAUSPIELERIN Atemlos? Vielleicht empfanden Sie sogar einen Nervenkitzel? Das kann nicht Aufgabe dieses Spieles sein. Es ist besser, in diesem Augenblick nachzudenken und zu schweigen. Einige Sekunden lastendes Schweigen (17)

Der außergewöhnliche Erfolg des Dramas und seine formale Nähe zum epischen Theater Brechts mögen die Entscheidung der Hörspielabteilung für die Produktion eines westdeutschen Textes befördert haben; ausschlaggebend war jedoch sicherlich auch der Stoff. In der Figur des Janusz Korczak konnte die Geschichte des befreundeten sozialistischen Nachbarlandes Polen in enger Verknüpfung zur eigenen Vergangenheit thematisiert werden, um auf die gemeinsame sozialistische Nachkriegsentwicklung zu verweisen. Der historische Korczak war zwar jüdischer Herkunft, sein soziales Engagement für die armen Schichten der Bevölkerung in den Warschauer Arbeitervierteln und seine Nähe zur sozialistischen Bewegung152 prädestinierten ihn jedoch geradezu dafür, als humanistische Heldenfigur in die Rundfunkgeschichte einzugehen. Korczaks Religiosität, die Erwin Sylvanus als Quelle seiner Menschlichkeit entwirft, wird in der ostdeutschen Hörspielfassung in eine allgemein-humanistische umgedeutet, der zudem eine Fortschrittsgläubigkeit im Sinne des historischen Materialismus unterstellt wird. Gestrichen wurden lange Passagen, in denen Janusz Korczak als gläubiger Jude auftritt, Bibelgeschichten zitiert, betet und Zwiegespräche mit Gott führt. Eine radikale Umdeutung erfährt der Text schließlich am Ende des Hörspiels, wenn die Figur des Zaddik bei der Ankunft im Konzentrationslager im Gedenken an Korczak, die Waisenkinder und die anderen Juden, die hier sterben mussten, sagt: „Dies ist _____________ 151 Wie sich auch an Peter Weiss’ Drama Die Ermittlung zeigen lässt, ist der Bericht das bevorzugte dramaturgische Mittel, mit dem sich die Autoren dem eigentlichen Ort des Verbrechens nähern. Eine szenische Darstellung auf der Bühne scheint ausgeschlossen. 152 „In der Tat fand Korczak früh zum Sozialismus. [...] Doch Korczak trat keiner Partei bei.“ Rudolf Schridde: Janusz Korczak. Leben und Wirken. Dortmund 1979, S. 10 f.

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Zwischen Tabu und Tauwetter

eine Landschaft des Todes. Aber ich weiß auch, daß sie eine Landschaft des Lebens ist. Denn ich weiß, daß es Wahrheit ist, was der Prophet Ezeckiel schaute. Was er aber schaute, wird sich an uns erfüllen.“ (28) Diesen Sätzen folgt die Vision des Propheten Ezechiel aus dem Alten Testament und ihre Deutung: Diese Gebeine sind das ganze Haus Israel, sie sagen unsere Gebeine sind verdorrt, unsere Hoffnung ist entschwunden, doch Du, Menschensohn, geh aus und künde ihnen, siehe, ich führe Euch heraus aus den Gräbern und bringe Euch in das Land, das ich Euern Vätern verheißen habe, wo Ihr wohnen sollt, beschützt und beschirmt. (29)

In der gesendeten Produktion fehlt die Weissagung des Wiederauferstehens jüdischen Lebens im Gelobten Land. Statt dessen lauten die beiden letzten Sätze des Hörspiels: „Dies ist eine Landschaft des Todes. Aber ich weiß auch, daß sie einmal eine Landschaft des Lebens sein wird.“ Diese Umdeutung macht es möglich, den als imperialistisch und zionistisch verurteilten Staat Israel zu ignorieren und statt dessen auf die positive geschichtliche Entwicklung Polens zu verweisen, das wie die DDR zu den sozialistischen Staaten des Ostblocks zählte, in denen religiöse und rassische Verfolgung als überwunden galten. Handelt es sich hierbei um einen eher geringfügigen Eingriff in die Textvorlage, produziert der Deutschlandsender – nach einer längeren Phase der Marginalisierung des Themas im Rundfunk der DDR – 1957 eine Fassung des westdeutschen Hörspiels Woher kennen wir uns bloß?, die den ursprünglichen Text stark bearbeitet. Es entsteht eine Hörspielinszenierung, die auch auf eine Reflexion der eigenen Verantwortung abzielt. Woher kennen wir uns bloß? – eigentlich ein traditionelles Hörspiel par excellence, das eine metaphysische Überhöhung historischer Ereignisse und die Idealisierung einer religiösen Versöhnung betreibt – wird im ostdeutschen Hörfunk zum Inbegriff einer ästhetisch anspruchsvollen und reflektierten historischen Aufarbeitung des Holocaust im Hörspiel. Die folgende Analyse der west- und ostdeutschen Produktionen im NWDR 1952 und im Deutschlandsender 1957 soll diese Aspekte vergleichend herausarbeiten.

Wolfgang Weyrauch als deutsch-deutscher Hörspielautor

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4. Religiöse Versöhnung vs. Aufarbeitung historischer Schuld Wolfgang Weyrauch: „Woher kennen wir uns bloß?“ 4.1. Wolfgang Weyrauch als deutsch-deutscher Hörspielautor Wolfgang Weyrauch, 1904 in Königsberg geboren, wuchs in Frankfurt am Main auf und veröffentlichte erste Texte zu Zeiten der Weimarer Republik. Während des Nationalsozialismus arbeitete er als Redakteur und Lektor153 und publizierte zahlreiche Prosaarbeiten. Im Nachkriegsdeutschland kam es des öfteren zu Auseinandersetzungen um Weyrauchs Rolle als Schriftsteller während des ‚Dritten Reiches‘. In einem Brief an Johannes R. Becher schreibt Weyrauch 1948 auf dessen Vorwürfe hin: Wenn jetzt jemand über mich sagt, daß ich damals gefrevelt habe, dann antworte ich ihm: ja, das habe ich getan. Und ich fahre fort: ich will mich auch nicht herausreden, auf keinen „Irrtum“, auf keine „Vergiftung“, auf keine „Schwäche“. Ich habe ohne Instinkt, ohne Gedanken, ohne Gewissen gehandelt, und ich schäme mich deswegen. Jetzt endlich weiß ich, daß jeder Buchstabe, den der Schriftsteller schreibt, ein Widerhaken im Fleisch des Lesers zu sein hat. Es ist spät genug, und es ist mir bekannt, daß ich es immer noch nicht genug weiß.154

Ungeachtet seiner Vergangenheit war Weyrauch nach Kriegsende in beiden deutschen Staaten literarisch aktiv: als Redakteur der Satirezeitschrift Ulenspiegel (1945–1948), als Mitglied der Gruppe 47 und Lektor des Rowohlt-Verlages, als Herausgeber von Anthologien und Redakteur des NWDR in Hamburg. In der SBZ/DDR war er Mitglied der Kommission Literatur beim Präsidialrat des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands und bereitete den Ersten deutschen Schriftstellerkongress vor, der vom 4. bis zum 8. Oktober 1947 in Ostberlin stattfand; er schrieb regelmäßig für die Zeitschrift Aufbau und verfasste gemeinsam mit Paul Verhoeven und Wolff von Gordon das Drehbuch für den DEFAMärchenfilm Das kalte Herz (1950). Weyrauch gehörte zu den produktivsten Rundfunkautoren in Deutschland.155 Von seinen mehr als 60 Hörspielen sind lediglich 33 er_____________

153 Weyrauch arbeitete für Zeitungen wie das Berliner Tageblatt, die Deutsche Zukunft und Das Reich und gab Anthologien wie 1940. Junge deutsche Prosa heraus; vgl. Ulrike Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers. Der Schriftsteller Wolfgang Weyrauch (1904–1980). Marburg 2004, S. 504. Online veröffentlicht unter: http://deposit.ddb.de/ cgi-bin/dokserv?idn=9738777 07&dokvar=d1&dok_ext=pdf&filename=973877707.pdf 154 Wolfgang Weyrauch an Johannes R. Becher. In: Aufbau 4.7 (1948): 588–590, S. 589. 155 Reinhard Döhl fasst zusammen: „Auch in den ersten Nachkriegsjahren, die einige Historiker mit Ausnahme des Borchertschen Draußen vor der Tür als eine eigentlich hörspiellose Zeit beschreiben, finden sich 1947 mit Auf der bewegten Erde und 1948 mit Damals als die Brücke zerriß zwei nicht uninteressante Hörspiele Weyrauchs im Programm des Nordwestdeut-

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halten. Zu den bekanntesten zählen Anabasis, das in Zusammenarbeit mit Ernst Glaeser entstand und 1931 in der Funkstunde Berlin erstmals ausgestrahlt wurde, Die Japanischen Fischer (1955) und Totentanz (1962). Für Letzteres erhielt Weyrauch den renommierten Hörspielpreis der Kriegsblinden. Im Anschluss hieran erschien ein Band mit sieben Hörspielen unter dem Titel Dialog mit dem Unsichtbaren156, in dem auch das Hörspiel Woher kennen wir uns bloß? abgedruckt ist. In der DDR wurde von seinen Rundfunkarbeiten zunächst am 15.10.1956 im MDR Leipzig das Hörspiel Die japanischen Fischer in der Regie von Hans Goguel gesendet.157 Thematisch bedient es die während des Kalten Krieges auch im Hörspielprogramm vorherrschenden Warnungen vor einem erneuten Weltkrieg im Zeichen atomarer Aufrüstung: In dem Spiel werden die Folgen eines amerikanischen H-Bomben-Tests im Pazifik zum Gegenstand der künstlerischen Gestaltung genommen. Es beinhaltet die Anklage gegen die atomare Kriegsführung aus einer humanistischen Geisteshaltung heraus.158

Am 23. Mai 1957 läuft ein weiteres Hörspiel des westdeutschen Autors im Rundfunk der DDR; es trägt den Titel Woher kennen wir uns bloß? Das Stück war bereits 1952 im NWDR urgesendet worden und wurde für den Rundfunk der DDR vom Westberliner Regisseur Peter Thomas159 neu produziert. Es handelt sich um den „fiktiven Dialog“ – so der Untertitel der _____________

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schen Rundfunks. Seit 1951 verzeichnen die Rundfunkprogramme fast jährlich ein, oft mehrere neue Hörspiele Weyrauchs, dazu zahlreiche Wiederholungssendungen. Weyrauch muß schon deshalb als einer der fruchtbarsten Hörspielautoren angesprochen werden, der seinen Platz durch die unterschiedlichsten Phasen und Ausformungen der Hörspielgeschichte behaupten konnte: im Weimarer Rundfunk ebenso wie im direkten Nachkriegshörspiel, im sogenannten Hörspiel der Innerlichkeit der 50er Jahre ebenso wie in der Hörspielkrise der 60er Jahre, ja schließlich sogar im Umkreis eines sogenannten Neuen Hörspiels und darüber hinaus. Das macht dieses Hörspielwerk zusätzlich interessant.“ Reinhard Döhl: „Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs“. In: ders., Bernard Willms u. a.: Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Hg. v. Irmela Schneider u. Karl Riha. Siegen 1981, S. 10–34. Wolfgang Weyrauch: Dialog mit dem Unsichtbaren. Sieben Hörspiele. Mit einem Nachwort von Martin Walser. Freiburg i. Br. 1962. Der Text wurde veröffentlicht in: Sinn und Form 8 (1956): 373–402; Weyrauch: Dialog mit dem Unsichtbaren, S. 59–90. So der Wortlaut des Produktionsblattes; abgedruckt in: Ulrike Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers, Anhang S. 147. Peter Thomas (1929–1987) arbeitete bis 1957 als Regisseur und Spielleiter beim RIAS Berlin. Das von ihm dort inszenierte Hörspiel Nachtstreife von Heinz Oskar Wuttig erhielt 1954 den Hörspielpreis der Kriegsblinden. 1958–1960 war Thomas als Schauspieler am Theater am Dom in Köln. 1960 ging er an die Kammerspiele Düsseldorf, wo er seit 1971 als Direktor und künstlerischer Leiter tätig war. (Vgl. Wilhelm Kosch: Deutsches TheaterLexikon. Bd. 4. Zürich u. München 1998, S. 2574.) In den Jahren 1957, 1960 und 1961 inszenierte Thomas vier Hörspiele für den Rundfunk der DDR, darunter Weyrauchs Woher kennen wir uns bloß?

Metaphysische Überhöhung und religiöse Versöhnung (NWDR 1952)

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westdeutschen Sendung – zwischen einem „Juden“, der als einziger seiner Widerstandsgruppe den Aufstand im Warschauer Ghetto überlebte, mit einem „Polizisten“, einem ehemaligen Angehörigen der Gestapo, der heute wiederum der „Geheimpolizei“ angehört. 4.2. Metaphysische Überhöhung und religiöse Versöhnung (NWDR 1952) Das Hörspiel wurde am 4. November 1952 im NWDR – erstaunlicherweise als „Feature“160 – urgesendet.161 Die Inszenierung von Gustav Burmester mit Karl Kuhlmann (Jude) und Heinz Klevenow (Polizist) in den Hauptrollen konzentriert sich allein auf den gesprochenen Dialog und verzichtet vollständig auf Geräusche, Musik oder Klänge. Auch in den 1950er Jahren etablierte radiophone Möglichkeiten der technischen Bearbeitung der Stimmen, bspw. um reale und irreale Räume oder vergangene und gegenwärtige Zeitebenen durch Hall oder Verzerrung zu differenzieren, werden nicht genutzt. Die Charakterisierung der Figuren erfolgt allein auf sprachlicher und stimmlicher Ebene. Die Stimme des Juden ist von einem gehörigen Pathos getragen; es ist die alte, warme Stimme eines weisen Mannes.162 Der Jude spricht langsam und bedächtig und rollt leicht das R. Der Polizist dagegen hat eine jüngere, klare Stimme, die kühl wirkt und von seiner schnellen, fast ruppigen Art zu sprechen noch unterstrichen wird. Die westdeutsche Inszenierung setzt ein mit der Höreransprache jener Figur, die im späteren als „Jude“ bezeichnet werden wird: „Stell dir vor, es ist der 9. Oktober 1952. Stell dir vor: es ist 17 Uhr 5 Minuten [...] die Zeit kurz nach Büroschluß [...]. Stell Dir vor: ich, der ich mit dir rede, stehe an einer Straßenkreuzung, in Hamburg, am Stephansplatz.“163 _____________ 160 Die wechselnden und nicht immer einleuchtenden Genrezuweisungen im ost- wie westdeutschen Rundfunk sind sicher darauf zurückzuführen, dass die Abgrenzung zwischen Hörspiel und Feature erst im Laufe der 1950er Jahre vollzogen wurde. 161 Die Hörspielinszenierung ist archiviert im Wortarchiv NDR unter der Archivnummer F828947. Ich danke den Mitarbeitern des NDR für die Bereitstellung des Tonträgers. 162 Dass die Inszenierung diese im Text bereits angelegte Tendenz stark betont, mag nicht in der Absicht des Autors gelegen haben, der sich selbst gegen die pathetische Aufladung seiner Hörspiele verwahrte: „Erst seit ‚Ich bin einer, ich bin keiner‘ (...) habe ich angefangen, mir zu überlegen, ob denn die Regietätigkeit oder die Resultate dieser Tätigkeit meinen Vorstellungen entsprächen. Sie haben fast immer nicht entsprochen, indem sie früher ein gewisses unterirdisches Pathos, das bei mir damals vorkam, noch betonten, indem sie ihrerseits zu breit sprechen ließen, zu pathetisch, zu gewichtig, zu zäh. Nicht staccatohaft, wie es hätte sein sollen.“ Zit. n. Reinhard Döhl: „Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs“, S. 28. 163 Zitiert wird aus der Druckfassung: Wolfgang Weyrauch: „Woher kennen wir uns bloß?“. In: ders.: Dialog mit dem Unsichtbaren. Sieben Hörspiele. Mit einem Nachwort von Martin Wal-

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Die Exposition bezieht ihren Spannungsaufbau aus der Diskrepanz zwischen der Betonung des Imaginären – „Stell dir vor“ – kontrastiert durch sehr konkrete, an die Gegenwart gebundene Angaben zu Zeit und Raum der Handlung. Wird der Hörer einerseits angeregt, seine Phantasie spielen zu lassen, schließt der folgende Satz den gerade eröffneten Freiraum sofort durch differenzierte Schilderungen. Die vermeintlich aktuelle Situierung des Geschehens an einer Straßenkreuzung am Stephansplatz in Hamburg am 9. Oktober 1952 um 17 Uhr fünf bildet aber nur die Rahmensituation für die eigentliche Handlung, die sich allein in der Vorstellung des Protagonisten abspielt: Der „Jude“ hat auf der anderen Seite der Straße einen Bekannten entdeckt, den er in seiner Phantasie anspricht: Schließlich halte ich es nicht mehr aus. Ich spreche ihn an. In Gedanken, versteht sich, und auf die Entfernung hin. Wird er mich verstehen? Wird er mir antworten? Werde ich seine Antwort verstehen, obwohl auch er bloß in Gedanken und auf die Entfernung hin antworten wird? (10)

Es stehen sich zwei gegensätzliche Charaktere gegenüber: der besonnene, mental überlegene Jude und der kaltherzige Polizist, der, wieder in Amt und Würden, erneut mit Macht über den Juden ausgestattet ist. Er ist es, der sein Gegenüber argwöhnisch zur Rede stellt, der von seinem einstigen Opfer erneut verlangen kann, sich auszuweisen und die ihm gestellten Fragen zu beantworten. Sieben Jahre nach dem Ende des Krieges sind beide noch immer, was sie 1944, zur Zeit des Aufstands im Ghetto waren: Jude und Polizist. POLIZIST Zeigen Sie mal Ihren Ausweis. JUDE Ich habe keinen, ich habe noch nie einen gehabt. Haben Sie schon einmal gehört, daß ein Jude aus dem Getto einen Ausweis hat? POLIZIST Dann muß ich Sie verhaften. (11)

In der Imagination des Juden – auf seiner „inneren Bühne“ – entwickelt sich ein erstes Gespräch, das vom Umschalten der Ampel von Rot auf Grün und von der Schilderung des aufeinander Zugehens, der zunächst physischen Annäherung der beiden Männer, begleitet wird: Wir haben uns erkannt. Wir kennen uns. Aber wir bleiben nicht stehen, Wir geben uns nicht die Hand. Wir gehen aneinander vorbei. [... ] Aber so, wie wir begonnen haben, uns in Gedanken und aus der Entfernung zu unterhalten, als wir uns erblickten, so fahren wir darin fort. Wir bleiben so lange im Gespräch, bis alles gesagt wurde, was wir auf dem Herzen haben. (11)

Wider Erwarten deutet sich nun eine Annäherung an. Es ist der Jude, der trotz der Aggressionen des Polizisten zuerst Gemeinsamkeiten betont: „Ich bin ein kleiner Mann, du bist auch ein kleiner Mann“ (13); und nach _____________ ser. Freiburg i. Br. 1962. 9–27, S. 10. Die kursiven Auslassungen im Text kennzeichnen die Bearbeitung der Vorlage für das Hörspiel; zitiert wird nur der tatsächlich gesendete Wortlaut. Die folgenden Zitate werden direkt im Text nachgewiesen.

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einer ersten gemeinsamen Erinnerung an ein Aufeinandertreffen im Ghetto bietet auch der Polizist ein Zugeständnis an: „Ich frage dich, Jude, ob es nicht ganz gut wäre, wenn wir beiden miteinander einverstanden wären.“ (16) Die Antwort aber bewirkt die sofortige Ablehnung des Polizisten und entlarvt seine antisemitischen Vorurteile: JUDE Ein Einverständnis ist mehr wert als eine Übereinstimmung, aber ein Einverständnis zwischen uns beiden kann nur darin bestehen, daß du mit mir einverstanden bist, doch nicht darin, daß ich mit dir einverstanden wäre. POLIZIST So seid ihr Juden, rechthaberisch und eingebildet und voreingenommen. (16)

Jude und Polizist schließen nun einen Handel: Der Jude muss drei Prüfungen bestehen, indem er drei Geschichten erzählt, die den Polizisten animieren sollen zu lachen. Doch egal, ob der Jude die Prüfungen besteht, für ihn gibt es keinen Ausweg, der Polizist wird ihn nicht entkommen lassen: JUDE Und was ist, wenn du dreimal über mich gelacht hast? POLIZIST Dann nehme ich dich mit. [...] JUDE Und wenn du über meine drei Geschichten nicht lachen kannst, was ist dann? POLIZIST Dann nehme ich dich auch mit. JUDE Wohin? POLIZIST Dorthin, wo es dir genauso gut geht wie jetzt, [...] wo es mir besser geht als jetzt. Du bist doch für die Brüderlichkeit, Jude? (20 f.)

Auf die Aufforderung des Polizisten hin schildert der Jude drei Begebenheiten in den Kellern von Warschau, in denen sich die letzten neun Widerständler seines Bezirks verschanzt hatten: Der Protagonist, ein Schuster, ein Lehrer, ein Kaufmann, ein Feigling, ein Verwundeter, ein erwachsenes Mädchen und zwei Schuljungen. Die erste Erzählung des Juden handelt vom Schuster, der in jener aussichtslosen Situation im Warschauer Ghetto, in Erwartung des baldigen Todes noch immer an einem Paar Schuhe arbeitet und zur Begründung anführt: Immer hat der Mensch Füße [...] entweder, um nach Palästina zu wandern, oder, um ins Paradies zu gehen, und solange er Füße hat, solange braucht er auch Schuhe, denkt daran, daß der Weg weit ist, der Weg nach Palästina, und der Weg ins Paradies. (21)

Die Figur des Schusters weist intertextuelle Bezüge zu Leo Tolstois Erzählung vom Schuster Martin Awdejitsch auf, die den Titel trägt „Wo Liebe ist, da ist auch Gott“: Ein armer Schuster164, der Frau und Kinder verloren hat, liest im Neuen Testament, um seinem Leben wieder einen Sinn zu geben. In einem Traum des Schusters kündigt sich eines Tages der Heiland an; voller Erwartung sieht der Schuster vom Keller, in dem er lebt _____________ 164 Vgl. auch das Motiv des armen, frommen und hilfsbereiten Schusters im Märchen; Martina Lüdicke: Art. „Schuster“. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Bd. 12. Hg. v. Rolf Wilhelm Brednich u. a. Berlin, New York 2007. Sp. 262–267.

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und arbeitet, hinaus auf die Straße. Doch dort sind nur Menschen in Notlagen, denen der Schuster immer wieder zu Hilfe eilt: ein müder alter Soldat, eine verarmte Soldatenfrau mit ihrem Säugling und ein kleiner Junge, der einen Apfel gestohlen hat. Am Abend erscheinen alle drei Gestalten, denen der Schuster Gutes tat, lächeln und entschwinden wieder. Der Schuster aber ist glücklich, schlägt die Bibel auf und liest: Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt. (Matth. 25, 35.) […] Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. (Matth. 25, 40)165

Diese zitierte Passage, derer sich die Erzählung Tolstois bedient, entstammt dem Neuen Testament und handelt im Rahmen der Schilderung des Jüngsten Gerichts von der Nächstenliebe, die zur Erlösung führt. Während der zitierte Text bei Tolstoi an dieser Stelle endet, heißt es in der Bibel weiter: „Und sie werden hingehen: diese zur ewigen Strafe, aber die Gerechten in das ewige Leben.“ (Matth. 25,31–46) Die ursprünglich märchenhaften Züge des Dialogs zwischen dem Juden und dem Polizisten erhalten in der Erinnerung an den Schuster einen religiösen Tenor. Weyrauch verschränkt an dieser Stelle seine Auffassung von der verborgenen Ordnung, die jedem Märchen innewohne, mit einer christlichen Vorstellung von der Welt, die sich in Gut und Böse einteilen lasse. Die Form der Parabel und ihr sittlicher Anspruch sind dem Märchen ebenso wie der biblischen Erzählung eigen.166 Weyrauch ruft märchenhafte wie christliche Motive auf, bindet sie an die historische Gegenwart zurück und verhandelt die politischen Fragen der Vergangenheitsaufarbeitung auf einer metaphysischen Ebene. Diese Konnotation der Schuldverhandlung setzt sich auch in den beiden folgenden Erzählungen _____________ 165 Leo N. Tolstoi: „Wo Liebe ist, da ist auch Gott“. In: ders.: Erzählungen und Legenden. Ausgewählt und mit einer Einleitung versehen von Marianne Fleischhack. Berlin 1960. 13–28, S. 28. Leo Tolstois Erzählung vom Schuster Martin erschien in deutscher Übersetzung bereits 1909 in dem Band Jüdische Legenden und 1949 in Erzählungen und Legenden. 166 Weyrauch hat die Wahl des Märchens für ein Hörspiel bereits für seine 1932 vorgenommene Bearbeitung des Grimm’schen Märchens Vom Fischer und seiner Frau, das den Titel Ilsebill trägt, begründet: „Zweifellos waltet in dem Chaos eine verborgene Ordnung. Ich glaube, die Ordnung läßt sich am ehesten in den Märchen finden, in den volkstümlichen Darstellungen der Gegebenheiten, denn sie enthalten in der Regel sittliche Parabeln, welche die Begebenheiten gleichnishaft erläutern. Ebenso gleichnishaft wie auch volkstümlich erschien mir das Märchen vom Fischer und seiner Frau von Runge. Eine moralische Parabel schien mir darin gegeben zu sein. Sein Inhalt, daß nämlich das Gute belohnt werde, das Böse aber bestraft, gibt eine Ordnung an, die sich über das gesellschaftliche Chaos der Hörer erhebt und gleichzeitig dem inhaltlichen Chaos des Rundfunks einen Gehalt setzt. Der Sinnfälligkeit der angegebenen Moral halber habe ich das alte Märchen in eine Stadt unserer Tage verlegt.“ Wolfgang Weyrauch: „Zu dem Hörspiel Die Ilsebill“. In: Reinhard Döhl, Bernard Willms u. a.: Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Hg. v. Irmela Schneider u. Karl Riha. Siegen 1981. 8–9, S. 8 f. [zuerst erschienen in Rufer und Hörer 2 (1932)].

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von den letzten noch lebenden Juden in den Kellern des Ghettos fort: In der zweiten Binnenerzählung empfängt das jüdische Mädchen in einem Liebesakt gerade in jenem Augenblick ein Kind, als ein anderer verwundeter Kämpfer stirbt: „Es war ein Fest, daß im gleichen Augenblick, da der Verwundete starb, ein Kind entstand. Ein Mensch ging, und ein Mensch kam. Etwas ging verloren, etwas wurde gewonnen, also ging nichts verloren. Wir wußten, daß wir lebten, obwohl wir starben.“ (17) Etwas später schildert der Jude den Todeskampf des Verwundeten als Tanz mit dem schwangeren Mädchen: Der Verwundete tanzte, und das Mädchen tanzte. Dann streckte der Verwundete den Zeigefinger der linken Hand aus, und das Mädchen streckte seinen linken Zeigefinger aus. Die beiden Zeigefinger berührten sich, das Leben netzte den Tod, der Tod netzte das Leben, das Leben verklärte den Tod, der Tod verklärte das Leben. Der Verwundete stürzte. Er war tot. (17 f.)

Was Weyrauch hier in der metaphysischen Idealisierung eines ewigen Kreislaufs des Lebens allerdings ausblendet, ist der Umstand, dass der Verwundete von deutschen Nationalsozialisten ermordet wurde und dass das Mädchen ebenso wenig überlebte wie ihr Geliebter oder ihr Kind. Der nationalsozialistische Genozid legte es ja gerade darauf an, alle Generationen des jüdischen Volkes zu vernichten: Kinder, Erwachsene und Greise. Weyrauchs religiöse Verklärung des Mordes an Zehntausenden (Warschauer) Juden, die sich vor den Nazis versteckt hielten – ganz zu schweigen von den Hunderttausenden zuvor im Ghetto an Hunger und Seuchen gestorbenen und Hunderttausenden in Vernichtungslager Deportierten – verharmlost den Völkermord und lässt ihn eher als schicksalhaft denn als Verbrechen erscheinen. So ist der Autor auch sieben Jahre nach dem Ende des Krieges einer Ideologie verschrieben, die er bereits 1932/33 in einem Rundfunk-ABC formulierte: „Religion zu verbreiten, den Glauben an eine Fügung – diese Aufgabe sollte der Rundfunk anfassen.“167 Die dritte und letzte Geschichte des Juden im Hörspiel handelt vom Feigling unter den Kämpfern. Er hatte aus Angst seinen Posten verlassen und war geflohen – direkt in die Arme jener, die er verraten hatte.168 Er _____________ 167 Vgl. Wolfgang Weyrauch: „Aus einem Rundfunk-ABC“. In: Reinhard Döhl, Bernard Willms u. a.: Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Hg. v. Irmela Schneider u. Karl Riha. Siegen 1981. 5–7, S. 6 [zuerst in Rufer und Hörer 2 (1932/33]. 168 Bei Markus Meckl finden sich Verweise auf Literatur über das Warschauer Ghetto, in der jüdische Verräter die Verstecke der Aufständischen preisgaben und damit für das Auffinden unterirdischer Bunker verantwortlich waren; vgl. Markus Meckl: Helden und Märtyrer. Der Warschauer Ghettoaufstand in der Erinnerung. Berlin 2000, S. 69. Von ihrer Verurteilung zum Tode berichtet bspw. Bernard Mark: „Die Bestrafung der Verräter“. In: ders.: Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Entstehung und Verlauf. Berlin 1957. 159–162. Auch Mark betont, dass die Entdeckung einzelner Bunker auf Verrat zurückging. Bernard Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Entstehung und Verlauf. Berlin 1957, S. 315.

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stellte denen, die ihn richten wollten, die Frage, die auch der Polizist dem Juden stellen könnte: „Was hättet ihr gemacht, wenn ihr, ein jeder von euch, in derselben Lage wie ich gewesen wäret? Aber genau, haargenau in derselben Lage. [...] Wir antworteten: Wir wären auch geflohen.“ (26) Die Erinnerung an die historischen Ereignisse, die der Jude als einziger überlebte, reißt nicht alte Wunden auf, sondern versöhnt die Feinde miteinander. Der gewalttätige Polizist, Repräsentant und Instrument der bewaffneten Macht des Staates 1944 wie 1952, nähert sich seinem Opfer an: JUDE Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Erst sagst du, du nimmst mich mit, und dann nimmst du mich nicht mit. POLIZIST [...] ich nehme dich mit, ich nehme das mit, was du gesagt hast. JUDE Ich liebe [dich], und ich habe Angst vor Ihnen. POLIZIST Warum? Die Sanften werden die Gewalttätigen zähmen. JUDE Es war immer umgekehrt. POLIZIST Es wird sich umkehren, es wird sich alles umkehren, aber ich sage dir, Freund Jude, nimm dich in acht. (27)

Ein zentraler Satz in der Erzählung vom Schuster Martin bei Tolstoi lautet: „Gott will, daß wir vergeben [...], sonst wird auch uns nicht vergeben. Allen soll man vergeben, dem Unvernünftigen aber erst recht.“169 Und so vergibt der Jude dem Mitverantwortlichen für den Tod Tausender Schicksalsgenossen im Warschauer Ghetto: Der Jude „liebt“ den Polizisten dafür, dass dieser sich belehren ließ; und gerade der Polizist formuliert den Ausblick in eine Zukunft, in der die „Sanften die Gewalttätigen zähmen“ werden (27). Wird im Märchen derjenige erlöst, der jemanden finden kann, der ihn selbstlos liebt, so läutern im Hörspiel die Erzählungen des Juden und seine Nächstenliebe schließlich auch den Polizisten. Indem das Hörspiel die kathartische Wirkung der Literatur vorführt und vollzieht, entfernt es sich von den politischen Gegebenheiten der Vergangenheit wie der Gegenwart. Es überhöht die Handlung durch das Überblenden von Historie und Religion und lässt die deutsche Geschichte als lehrreiches Gleichnis für die Kraft der Vergebung erscheinen. Damit kann Woher kennen wir uns bloß? als exemplarisch für das traditionelle Hörspiel der 1950er Jahre gelten, das die nationalsozialistische Vergangenheit lediglich aufruft, um realitätsferne metaphysische Konfliktlösungen anzubieten: Raum und Zeit werden aufgelöst zugunsten einer Logik des ‚Bewußtseinsstroms‘, wo der Trend zur Innerlichkeit und die Irrationalisierung der Welt sich voll entfalten können. Individualistische Thematiken sowie metaphysische Weltinterpretationen entpolitisierten den Bereich der realen Konflikte und negierten die Notwendigkeit einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung.170

_____________ 169 Tolstoi: „Wo Liebe ist, da ist auch Gott“, S. 16. 170 Margret Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel. Frankfurt a. M. 1985, S. 37. Vgl. auch Würffel: „Die Hörspiele der fünfziger Jahre zeichneten sich ja durchaus nicht durch ihre aktuelle politische Orientierung aus. Wo eine solche zugrunde

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Wie andere traditionelle Hörspiele auch befasst sich Woher kennen wir uns bloß? mit Problemen der Menschen in ihrer Zeit, stellt sie aber in größere Zusammenhänge, beleuchtet Hintergründe und versucht, „die Frage nach dem Sinn des Lebens zu beantworten“.171 Gerade diese Verquickung von Geschichte, Religion und Metaphysik jedoch bewirkt eine Abkehr von den drängenden Fragen der Zeit zugunsten einer Verallgemeinerung des menschlichen Schicksals, die historische Verantwortung und politische Handlung geradezu unmöglich macht. 1952, nur sieben Jahre nach dem Ende der Hitlerdiktatur, wäre es ebenso naheliegend wie geboten gewesen, eine Debatte um Schuld und Verantwortung in beiden deutschen Staaten zu führen. Weyrauch selbst fordert diese Auseinandersetzung von sich und seinen Schriftstellerkollegen bereits 1947 ein, wenn er in seinem Programmvorschlag für den Schriftstellerkongress an erste Stelle „Unsere Schuld“ setzt. Im Oktober 1951 erneuert er seine Aufforderung in einem Manifest, das in der Zeitschrift Aussprache erschien, mit der Behauptung, „kein einziger unter den deutschen Schriftstellern, die von 1933 bis 1945 in Deutschland lebten, mich eingeschlossen“ habe sich „mit dem Schicksal der deutschen Juden öffentlich auseinandergesetzt“:172 Sechs Jahre lang, von 1945 bis 1951, haben es die deutschen Schriftsteller unterlassen, sich mit den Bränden der Synagogen, mit den gelben Sternen auf den Brüsten der deutschen Juden und mit dem Bösesten vom Bösen, den Gasöfen, öffentlich zu befassen. Sechs Jahre, das sind 2190 Nächte. 2190 Nächte haben die deutschen Schriftsteller gut geschlafen. Wieviel Nächte haben unsere Juden damals voll Furcht und Entsetzen geschlafen?173

Bereits Ulrike Landzettel hat auf die „Nachlässigkeit in Weyrauchs Argumentation, was die Beschreibung des Holocaust angeht“, den unangenehmen Beigeschmack der Formulierung „unsere Juden“, vor allem aber auf die Banalisierung und Ausblendung der Realität des Holocaust hingewiesen.174 In den sich an diesen Auftakt anschließenden Forderungen kristallisiert sich Weyrauchs unglückliche Verknüpfung von diffusem Schuldgefühl und religiösen Vorstellungen von Gut und Böse heraus, die in die Aufforderung zur Lektüre des Buches Hitler in uns selbst von Max Picard mündet. Darüber hinaus solle „[j]eder Schriftsteller in Deutschland [...] im Lauf dieses und der folgenden Jahre eine Arbeit schreiben und mit _____________ 171 172 173 174

lag, wurde sie zumeist in eine allgemeine, überzeitliche Problematik überführt.“ Würffel: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart 1978, S. 77. Birgit Lermen: Das traditionelle und das neue Hörspiel im Deutschunterricht. Paderborn 1975, S. 32. Ausgenommen hiervon hat Weyrauch die Autorinnen und Autoren Luise Rinser, Alfred Andersch und Albrecht Goes. Wolfgang Weyrauch: „Manifest“. In: Aussprache 3 (1951): 385. Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers, S. 321.

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der äußersten Konsequenz zu veröffentlichen suchen, die das Los der Juden im Deutschland der nationalsozialistischen Herrschaft behandelt“ sowie „je nach seinem Einkommen, eine jüdische Waise oder einen Insassen in einem jüdischen Altersheim unterstützen“.175 War dieser Appell noch an west- wie ostdeutsche Kollegen gerichtet, stellt Weyrauch im November 1952 „13 Fragen an Bertolt Brecht“, in denen er Brecht nicht nur persönlich angriff, sondern insgesamt feststellte, dass die nationalsozialistische Vergangenheit in der DDR nicht aufgearbeitet würde.176 Mit Blick auf diese innerdeutsche Debatte muss das Hörspiel Woher kennen wir uns bloß? im Kontext von Weyrauchs Auseinandersetzung mit dem Holocaust wahrgenommen werden. Allerdings wird Weyrauch seinen eigenen Ansprüchen hier nicht gerecht. Von einer Darstellung des Schicksals der Juden unter der NS-Herrschaft kann keine Rede sein. Im Mittelpunkt steht die Bewältigung einer individuellen Schuld durch christliche Vergebung. Landzettel weist die religiösen Aspekte in Texten wie Die Davidsbündler und Auf der bewegten Erde nach und stellt hierbei fest, dass Weyrauch im Anschluss an Picard auf „die Hoffnung auf die Wiederherstellung einer inneren Kontinuität des Menschen durch das Christentum“ vertraut und den Untergang Hitlers als die „Vernichtung des Bösen“177 betrachtet. Seine Schuldzuweisungen blendeten die Verantwortung der deutschen Bevölkerung für die Verbrechen der Nationalsozialisten – „die zudem auf die Auswirkungen des Kriegs wie die Zerstörung der Häuser und der zwischenmenschlichen Beziehungen reduziert sind“178 – aus. Ähnlich verhält es sich im Hörspiel Woher kennen wir uns bloß? Vordergründig scheint Weyrauch seiner eigenen Forderung nach einer Thematisierung des Holocaust nachzukommen. Die Wahl des Stoffes, das Aufeinandertreffen ehemaliger Todfeinde im Wirtschaftswunderdeutschland, hätte eine besondere politische Brisanz und Aktualität aufweisen können.179 Ebenso die Referenz auf den Aufstand im Warschauer Ghetto, der _____________ 175 Wolfgang Weyrauch: „Manifest“, S. 385. 176 Wolfgang Weyrauch: „13 Fragen an Bertolt Brecht. In: Literatur 1.16 (1952): 1. Brecht reagierte in dem unveröffentlichten Text „Antworten auf Fragen des Schriftstellers Wolfgang Weyrauch“ vom November 1952, in dem es u. a. heißt: „Alle diese Fragen sind im Grund eine einzige: ob ich bestochen bin. Ich glaube, diese Frage würde auch erhoben, wenn ich etwa vorschlüge, den Blinden das Augenlicht und den Tauben das Gehör wiederzugeben. Ich habe meine Meinungen nicht, weil ich hier bin, sondern ich bin hier, weil ich meine Meinungen habe.“ Bertolt Brecht: „Appell an die Vernunft. Antworten auf Fragen eines Schriftstellers“ (1952). In: ders.: Werke. Große, kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf u. a. Bd. 23: Schriften 1942–1956. Berlin, Weimar, Frankfurt a. M. 1993. 216–220, S. 220. 177 Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers, S. 286. 178 Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers, S. 286. 179 Ende der 1950er Jahre beschreibt Weyrauch in seinem Prosatext „Mit dem Kopf durch die Wand“ aus der Perspektive einer Überlebenden des Holocaust die unerträgliche Präsenz

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als Symbol des jüdischen Widerstandes dem gängigen Vorurteil des Juden als passivem Opfer hätte entgegenwirken können. Das Augenmerk des Hörspiels richtet sich jedoch nicht auf Elemente des historischen Überlebenskampfes, sondern verklärt die Erinnerungen daran wie eine mythische Erzählung, die heute nur noch als Parabel gelesen werden kann. Entgegen der Ankündigung des Hörspiels geht es gerade nicht darum, „die Motive dieser schrecklichen historischen Gegebenheit – politische, soziologische, menschliche, unmenschliche – bis zur Neige“180 zu klären; die Inszenierung zielt nicht darauf ab, konkrete Antworten auf konkrete Fragen zu erhalten, statt dessen bleibt alles in der Schwebe: POLIZIST Wir beide stellen uns Fragen und Fragen, aber wir antworten uns auf unsere Fragen nicht. JUDE Das ist klug. Fragen, die bloß gestellt, aber nicht beantwortet sind, schwirren wie Fledermäuse herum und setzen sich unter die Haare. Die Hirne sind sehr nah. (12)

Der Jude erfüllt im Hörspiel eine dreifache Funktion: Er ist Erzähler der Rahmenhandlung und Kommunikationspartner der Hörer und Hörerinnen; er fungiert als Geschichtenerzähler innerhalb der Handlung und tritt selbst als Figur in den erzählten Geschichten auf. Der Jude erscheint als der intellektuell und moralisch überlegene, der – ausgestattet mit den christlichen Tugenden der Vergebung und Nächstenliebe – noch nach dem Verlust seiner Familie, seiner Gefährten und Freunde, nach schwerem Leiden und verzweifeltem Kampf das Gespräch mit seinem ehemaligen Gegner sucht. In der Selbstbeschreibung des Juden heißt es, er sei wie „fast alle anderen, die von einer Straßenseite zur anderen gehen [...] arm und schwach und unglücklich und verwirrt und gefoltert und brüderlich zu denen, die arm und schwach und unglücklich und verwirrt und gefoltert sind.“ (12) Die westdeutsche Gesellschaft der 1950er Jahre, die im Hörspiel entworfen wird, hat nach den schweren Nachkriegsjahren zurückgefunden zu einem bürgerlichen Leben, das von Arbeit und Freizeitvergnügen bestimmt wird. Auf der Straße gibt es keine Trümmer mehr, sondern Ampeln, Verkehr und arbeitsame Menschen auf dem Heimweg. An diesem Leben nimmt auch der Jude teil, der auf seinem Weg durch die Stadt über das Abendbrot, seine Freundin und einen amerikanischen Kinofilm nachsinnt und aus diesen Gedanken nur durch die unverhoffte Begegnung gerissen wird. Diese plötzliche Konfrontation mit der Vergangenheit, mit der eigenen Erinnerung, ausgelöst durch die Frage „Woher kennen wir _____________ nationalsozialistischer Täter und fortwährende antisemitische Übergriffe in der deutschen Gegenwart; vgl. Wolfgang Weyrauch: „Mit dem Kopf durch die Wand“. In: ders.: Mit dem Kopf durch die Wand. Geschichten – Gedichte – Hörspiel 1929–1971. Darmstadt 1972. 126–135. 180 WDR-Information zur Wiederholungssendung am 16. und 27.04.1994, abgedruckt in Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers, S. 164.

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uns bloß?“, führt aber nicht zur späten Auseinandersetzung. Differenzierungen von Recht und Unrecht werden unmöglich gemacht in einer Weltsicht, in der die Rollenverteilung als beliebig ausgegeben wird. Denn wie der namenlose Jude – trotz seiner besonderen Biographie – ein Mensch wie jeder andere ist, so ist auch der namenlose ehemalige Angehörige der Gestapo in erster Linie ein Mensch: „Ein Mann wie ich es bin. Er könnte ich sein, ich könnte er sein.“ (10) Diese Gedanken und Annäherungen werden ausdrücklich dem Juden in den Mund gelegt: „Ach, wir beide sind gar nicht so weit voneinander entfernt.“ (24) Die beiden Figuren in Woher kennen wir uns bloß? bleiben zwar ohne Namen, unterliegen aber durch die Bezeichnungen „Jude“ und „Polizist“ und der Historisierung der Handlung einer Typisierung, die auf den ersten Blick diametral entgegengesetzt scheint. Im Laufe der Handlung dagegen nähern sie sich einander so stark an, dass eine Unterscheidung zunehmend erschwert wird. Martin Walser hat Weyrauchs Texte mit Blick auf ihre auditive Dimension untersucht. Ihm zufolge sind die Hörspiele Weyrauchs eigentlich Monologe: Partituren, vorgetragen von unterschiedlichen körperlosen, entindividualisierten Stimmen, die als Instrumente des Autors das Werk miteinander zu Gehör bringen und den im dramaturgischen Sinne zentralen Konflikt der Handlung schließlich überbrücken: Weyrauch ist von allen mir bekannten Hörspielautoren der radikalste. Was er handeln und leiden läßt, handelt und leidet lediglich als Stimme. [...] Das Mikrophon ist niemals ein notwendiges Übel, nie ein bloßes Übertragungsmittel, sondern der einzig mögliche Ort für die Realisierung dieser Texte. Wer sie lesen will, muß beim Lesen gleichzeitig zuhören, zumindest muß er daran denken, daß er es eher mit einer Partitur zu tun hat als mit einem normalen Lesestoff. Nur wer die einzelnen „Rollen“ als Instrumente hört, die einen Monolog hörbar machen, wird diesen anonymen Rollen gerecht. Will man sie als Individuen auffassen, bleiben sie unfaßbar. Wenn Weyrauch zwei Figuren, das heißt: zwei Stimmen sprechen läßt, ist das eben nur scheinbar ein Dialog. Stimme I verficht nicht ihre Sache gegen Stimme II, sondern beide stellen ein Drittes dar. […] Weyrauchs Ballade von den Zuständen dieser Welt. Und diese Ballade ist ein Monolog. Alle Figuren seiner Hörspiele sind Stimmen, in die sich Weyrauchs Monolog vervielfältigt, sind letzten Endes Instrumente, durch die er seinen Monolog vortragen läßt, als Gleichnis und Warnung oder als Klage.181

Entsprechend präsentiert das Hörspiel Woher kennen wir uns bloß? in der Inszenierung von Burmester einen imaginären, inneren Monolog, in dem der Protagonist, der Jude, auch die Position seines Gegenübers und einsti_____________ 181 Martin Walser: „Hörspielregie. Erfahrungen mit den Stücken Wolfgang Weyrauchs“. In: Reinhard Döhl, Bernard Willms u. a.: Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Hg. v. Irmela Schneider u. Karl Riha. Siegen 1981. 48–50, S. 50 [zuerst in Süddeutsche Zeitung vom 22. September 1962].

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gen Gegners, des Polizisten, einnimmt.182 Weyrauch bestätigt diese These und spitzt sie noch einmal zu, wenn er nahelegt, die beiden Figuren im Hörspiel als Aspekte zu betrachten, die der Einheit des Autors entstammen und sie gleichzeitig hervorbringen; hierbei schreckt er auch vor einer Identifikation der Figuren mit dem Autor nicht zurück: Wenn da der Jude und der SS-Mann sich unterhalten, eine halbe Stunde lang, und dann kommt ein Resümée, dann sind (...) diese Figuren ja doch, lassen Sie mich‘s pathetisch sagen, Emanationen des Autors. Der Autor ist ja der Jude, der Autor ist ja der SS-Mann.183

Seiner eigenen Aussage zufolge entwirft sich der Autor selbst als Jude und SS-Mann in einer Person. Weyrauch nimmt an dieser Stelle das jüdische Leid für die Auseinandersetzung der deutschen Mitläufer mit der eigenen Schuld in Anspruch, um sich in einem nächsten Schritt selbst die Absolution zu erteilen. Den Zusammenhang zwischen Zuhören, Innerlichkeit und dem Eingeständnis der Schuld in christlich-religiösen Zusammenhängen hat bereits Roland Barthes in seinem Text „Zuhören“184 entwickelt. Dort heißt es: Sobald sich die Religion verinnerlicht, ist das durch das Zuhören Sondierte die Intimität, das Geheimnis des Herzens: die Schuld. Eine Geschichte und eine Phänomenologie der Innerlichkeit [...] müsste hier an eine Geschichte und eine Phänomenologie des Zuhörens anschließen. Denn innerhalb einer Zivilisation der Schuld (unserer jüdisch-christlichen Zivilisation, die sich von den Zivilisationen der Schande unterscheidet) hat sich die Innerlichkeit ständig entfaltet. [...] Die Ohrenbeichte von Mund zu Ohr in der Verschwiegenheit des Beichtstuhls existierte in der patristischen Zeit nicht; sie entstand (um das 7. Jahrhundert) aus den Auswüchsen der öffentlichen Beichte und dem Fortschreiten des individualistischen Bewusstseins [...] Das Abgegrenzte, abgeschottete und gleichsam heimliche Zuhören („von Selbst zu Selbst“) stellte also einen „Fortschritt“ (im modernen Sinn) dar, da es den Schutz des Individuums (sein Anrecht, ein Individuum zu sein) vor dem Zugriff der Gruppe gewährleistete; das private An-

_____________ 182 Diese Form des inneren Monologs, der im Hörspiel auf zwei Stimmen verteilt wird, sowie eine auffällige „Handlungsarmut“ wurden in der Forschung als wesentliche Charakteristika der Texte Wolfgang Weyrauchs herausgearbeitet. Die Realisierung seiner Werke in Form von Hörspielen gilt daher als den Texten am ehesten angemessen: „Wenn Walsers Laudatio des weiteren versucht, Lesehilfe zu geben, einen ‚Vorschlag‘ macht, ‚wie man Wolfgang Weyrauch lesen lernt‘, dann will unser akustisches Portrait Vorschläge machen, wie man Wolfgang Weyrauch ‚hören‘ kann, zumal wir der Meinung sind, daß Weyrauch weniger ein Autor zum Lesen als vielmehr von Anfang an ein Autor ist, dessen vor allem monologisches Schreiben eigentlich erst in der akustischen Realisation seine gemäße Darstellung erfährt.“ Reinhard Döhl: „Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs“, S. 12. 183 Zit. n. Döhl: „Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs“, S. 20; dort ohne Zitatnachweis. 184 Roland Barthes: „Zuhören“. In: Kritische Essays III: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Übs. v. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1990. 249–263.

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hören der Schuld hat sich somit (zumindest an seinem Beginn) an den Rändern der kirchlichen Institutionen entwickelt.185

Das Hörspiel der 1950er Jahre ist das Medium, welches Zuhören, Innerlichkeit und Schulddiskurs in eins schaltet; das Radio ersetzt so im säkularisierten Zeitalter technischer Massenmedien den Beichtstuhl: Die körperlose, anonyme Stimme des beichtenden Protagonisten dringt in das Ohr des Hörers, der hier die Rolle des Beichtvaters übernimmt. Die Grenze zwischen Sprechendem und Hörendem markiert nicht mehr das Gitter des Beichtstuhls, sondern das des Lautsprecherüberzugs. Wie in einem auditiven Spiegel hallen die Worte der Hörspielfigur im Inneren des Zuhörers wieder, spricht die Figur dem Hörer aus der Seele. Und so ist es an den Hörerinnen und Hörern, der Figur im Radio und damit auch sich selbst die Absolution zu erteilen und ihn wieder in die Gemeinschaft aufzunehmen.186 Dabei handelt es sich allerdings nicht um eine religiöse, sondern um eine nationale Gemeinschaft, die sich wenige Jahre nach dem ‚Sündenfall‘ in und vor dem Radio ebenso neu konstituiert wie sie es zu Zeiten nationalsozialistischer Herrschaft getan hat. Die Versöhnung des Täters mit seinesgleichen und mit sich selbst schließt in dieser Anordnung die Opfer jedoch abermals aus. Indem es Nivellierung und Versöhnung anstelle gesellschaftlicher Auseinandersetzung propagiert, trägt das Hörspiel Woher kennen wir uns bloß? in der Inszenierung von 1952 zu den restaurativen Tendenzen der damaligen Bundesrepublik bei. 4.3. Aufarbeitung historischer Schuld (Berliner Rundfunk 1957) Fünf Jahre nach der westdeutschen Ursendung lief Woher kennen wir uns bloß? 1957 auch im Radio der DDR. Die Inszenierung unter der Regie von Peter Thomas erweckt jedoch den Eindruck, es handele sich um ein völlig anderes Hörspiel. Es ließe sich kaum ein besseres Beispiel finden für den entscheidenden Einfluss der Inszenierung auf die Sinnproduktion und Rezeptionslenkung eines Hörspiels. Darüber hinaus handelt es sich um eine der wenigen Produktionen des DDR-Rundfunks, die geradezu unverfroren dem Spielcharakter der radiophonen Umsetzung huldigen. Verges_____________ 185 Barthes: „Zuhören“, S. 254 f. 186 Diese These habe ich bereits an den Hörspielen von Ingeborg Drewitz entfaltet; vgl. Manuela Schulz: „‚Man redet ja von allem nicht mehr‘. Unbewältigte Vergangenheit in den Hörspielen von Ingeborg Drewitz“. In: „Von der Unzerstörbarkeit des Menschen“. Ingeborg Drewitz im literarischen und politischen Feld der 50er bis 80er Jahre. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino u. Inge Stephan. Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik NF 10 (2005): 209–226, besonders S. 217–221.

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sen scheinen die Richtlinien des sozialistischen Realismus ebenso wie die pathetischen Klänge jenseits der deutsch-deutschen Grenze. Das Hörspiel setzt ein mit einer Klangcollage: Zunächst erklingt ein rhythmisch-helles Klopfen, das von einer klagenden hohen Tonfolgen mit düsteren Untertönen abgelöst wird. Hierauf folgen die Schritte einer langsam näherkommenden Person und die Ansage des Titels.187 Aus der Ferne nähert sich eine Gruppe Marschierender, die im Gleichschritt vorbeizieht. Hierauf ertönt leise eingeblendet, wie aus einem Radio oder Lautsprecher, von fern die kurze Sequenz einer Hymne, gespielt von einem Orchester. Das Klopfen vom Anfang und die Tonfolge erklingen noch einmal. Entgegen der getragen-bedrohlichen Einstimmung ertönt nun – nach 1 Minute und 42 Sekunden – die nahezu fröhliche Stimme eines Sprechers (Sprecher 1), der den Hörer direkt adressiert: SPRECHER 1: Stellen Sie sich bitte folgendes vor, lieber Hörer und liebe Hörerin, wir schreiben den 10. Dezember 1955 oder von mir aus den 29. Oktober 1954 oder es ist ganz gleich den 2. Juli 1953. Stellen Sie sich bitte weiter vor, es ist 17 Uhr und fünf Minuten oder bitteschön ganz wie sie wollen, fünf Minuten vor 8 Uhr früh, jedenfalls, und das ist allerdings nicht zu ändern, denn sonst stimmen die Voraussetzungen zur Situation nicht, jedenfalls muß es die Zeit nach Büroschluß oder vor Bürobeginn sein. (• Hörzitat 3)

Hatten die Textvorlage und die Hamburger Inszenierung offengelassen, wer die mit einem vertraulichen „du“ angesprochene Person sei, der Hörer oder eine Figur im Hörspiel, wird das Publikum in der Berliner Fassung mit dem ersten Satz offensiv in die Handlung einbezogen, um gleich darauf eine eigene Stimme zu erhalten, die sich mit dem Sprecher auseinandersetzt: SPRECHER 1: Stellen Sie sich ferner vor, falls Sie Lust dazu haben, daß sie sich in der und der Stadt befinden... SPRECHER 2: Ich? – Warum gerade ich? SPRECHER 1: Ja, du und kein anderer – SPRECHER 2: Ich verbitte mir, daß Sie mich duzen! SPRECHER 1: Verzeihung, aber weshalb sollte ich Sie nicht duzen, wir kennen uns doch so gut. SPRECHER 2: Ich kenne Sie nicht! SPRECHER 1: Wer weiß? Und, wenn wir uns auch nicht kennen, so könnten wir uns doch kennen, und zwar gut, sehr gut. Deshalb duze ich dich mein Lieber und bitte dich, dir vorzustellen, daß du dich in diesem Augenblick in der und der Stadt befindest, an der und der Straßenkreuzung. Meinetwegen in Hamburg am Stephansplatz. (• Hörzitat 3)

_____________ 187 Die Analyse stützt sich auf das Hörprotokoll, das anhand des Tonträgers Nr. B009985143, aufbewahrt im DRA Potsdam, von der Verf. erstellt wurde. Ein Manuskript ist nicht erhalten.

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Im Vergleich zur Vorlage von Weyrauch lässt der Sprecher seinen Hörern und Hörerinnen den Freiraum, ihre eigene Geschichte zu entwerfen. Es steht ihnen frei, sich auf das Gedankenspiel einzulassen; Datum und, wie sich herausstellen wird, auch der Ort sind mehr oder weniger frei wählbar. Nach dem Vorschlag des ersten Sprechers: „Meinetwegen in Hamburg am Stephansplatz“ spielen die Hörer und Hörerinnen mit und werfen Nachfragen ebenso begeistert ein wie ihre eigenen Ideen: 2. SPRECHER: 1. SPRECHER: 3. SPRECHER: 1. SPRECHER:

Oder in Berlin! Ecke Kurfürstendamm und Uhlandstraße. Bitte. Oder in Frankfurt am Main an der Hauptwache. Auch da. (• Hörzitat 3)

Dieses Spiel mit den äußeren Umständen der Handlung wird in der Exposition des Hörspiels immer weitergetrieben – die Gedanken während des Wartens an der Ampel variieren ebenso wie die genaue Beschreibung der jeweiligen Straßenkreuzung. Der erste Sprecher gibt ein Beispiel vor, das von den anderen variiert und ergänzt wird. Die Inszenierung betont den fiktiven Charakter des Hörspiels; hierfür löst sie sich nicht nur in ganzen Szenen von der Textvorlage des Autors, sondern erweitert den Kanon der Stimmen erheblich. Neben den Protagonisten „Jude“ und „Polizist“ treten alle vom Juden in der Erzählung beschriebenen Personen in den Dialogen als Stimmen auf. Von der beschriebenen Innerlichkeit und dem Pathos der früheren westdeutschen Inszenierung ist nichts mehr zu spüren. Der Auftakt des Hörspiels verspricht ein Gedankenspiel, an dem die Rezipienten aktiv beteiligt werden. Die bei Weyrauch angelegte Beliebigkeit, die auf eine Identität von Opfer und Täter abzielt, deutet die DDR-Inszenierung um in Variantenreichtum. Es kann so oder so sein, aber es ist immer dieselbe Geschichte; Ort, Zeit und Protagonisten variieren, aber die beiden Pole der Handlung sind darum nicht identisch. Die Einfühlung in den sich anschließenden Dialog zwischen dem Juden und dem Polizisten wird gestört durch den einführenden Erzähler, der immer wieder die gesprochenen Sätze mit Einwürfen wie „sagst du“, „fragt der andere“, „erwiderst du“ unterbricht. In einer Funkfassung, in der durch Stimmgebung unterschiedlicher Sprecher in der Regel deutlich wird, welche Figur was sagt, und der Dialog keine Erzählerstimme benötigt, die die Aussagen zuweist, ist diese Funktion eigentlich überflüssig. Hier dient sie jedoch dazu, trotz des einsetzenden Dialogs den Fiktionscharakter weiterhin herauszustellen. Dem Publikum wird eine Geschichte vorgestellt, es nimmt nicht an der Übertragung einer realen Szene teil, sondern ist Teil eines Gedankenspiels, das nicht auf Illusionierung und Einfühlung, sondern auf Reflexion zielt.

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Auch die drei Geschichten, die der Jude dem Polizisten im Monolog schildert, werden szenisch umgesetzt. Die Figuren stellen sich bereits zu Beginn der Erinnerungen des Juden vor. Auf seine Feststellung: „Damals waren wir bloß noch neun“ folgen hallende, langgezogene, leicht verzerrte Klänge, in die hinein Stimmen aus der Ferne ertönen: „Zum Beispiel ich, ein Lehrer. – Und ich, ein Schuster. – Ich, ein Händler, war auch dabei. – Ich war ein junges Mädchen. – Ich war der Mutige. – Ich war feige. – Ich war der Benjamin. – Und ich Isaak.“ (• Hörzitat 4) Der klanglich eröffnete Raum der Stimmen wird wieder geschlossen durch einen Gong und das Ausblenden der Klänge. Ohne Atmosphäre spricht dann der Jude: „Ich war der neunte.“ Hier nutzt die Inszenierung eine für das Medium spezifische Möglichkeit, durch radiophone Zeichen wie hallenden Raumklang, Verzerrung, aber auch leitmotivische Musik einen irrealen Raum zu eröffnen, nämlich jenen, in dem auch Tote eine Stimme haben, mit der sie zu den Lebenden und Überlebenden sprechen können. Hierbei handelt es sich nicht um eine Rückblende in eine vergangene Zeit, sondern um einen parallelen Raum. Die Figuren sind während der Begegnung zwischen dem Juden und dem Polizisten zeitgleich anwesend und sprechen über sich selbst im Präteritum, betrachten sich von ihrem heutigen Standpunkt aus als vergangen. Die Inszenierung reflektiert so auf medialer Ebene die bereits im Titel des Hörspiels aufgerufene Dynamik von Erinnerungsprozessen als interpersonale narrative Konstruktion in der Gegenwart. Hierbei übernehmen die erinnernden Figuren Teile des ursprünglichen Monologs, der nun mit verteilten Rollen gesprochen wird, oder vermitteln neue Textpassagen, die weder in der Druck- noch in der Funkfassung des NWDR vorhanden sind. Dazu gehören in erster Linie Schilderungen der Situation im Ghetto und der kämpferischen Auseinandersetzungen, die eine parteiliche Wertung nahelegen. Findet einerseits die konkrete historische Rückbindung an das Warschauer Ghetto statt, das mehrmals namentlich erwähnt wird, werden andererseits die Nationalsozialisten allgemeiner als „Feinde“ oder „Wölfe“ betitelt. Ein besonderes Novum ist jedoch das Schuldbekenntnis des Polizisten, das wiederholt in die erinnerten Dialoge eingeflochten wurde. Wenn auf der irrealen Ebene beispielsweise der Lehrer den Kindern Benjamin und Isaak die zunehmende Gewalt der Nationalsozialisten gegen die Juden im Ghetto schildert, meldet sich auf realer Ebene der Polizist zu Wort: [zu- und abnehmende, bedrohliche Klänge während der gesamten Szene, Stimmen leicht hallend] LEHRER: Wir leben seit fast einem Jahr in Warschau, Kinder. Alle Juden mußten nach Warschau ziehen, in das Ghetto. Wer das Ghetto verließ, wurde mit dem Tode bestraft. Dreimal wurden die Ghettogrenzen verändert. Der Feind machte den Stadtteil, in dem wir wohnen durften, immer kleiner.

POLIZIST: [ohne Atmosphäre] Ich, Kinder, ich war euer Feind.

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LEHRER: [Atmosphäre wie zuvor] Aber es war wohl richtig so. Denn wir wurden allmählich auch immer weniger. Der Feind sortierte immer mehr von uns aus und schaffte sie aus dem Ghetto heraus. Dann tötete er sie. POLIZIST: [ohne Atmosphäre] Das war ich, Kinder. LEHRER: [Atmosphäre wie zuvor] Im ersten Vierteljahr durften wir auch in unsern Häusern wohnen. Aber im zweiten Vierteljahr mußten wir in die Keller unserer Häuser ziehen. Im dritten Vierteljahr ließen wir uns nicht mehr gefallen, was der Feind mit uns machte. [anschwellender metallen scheppernder Ton] Wir machten einen Aufstand. Der Feind versuchte, den Aufstand niederzuschlagen.188 (• Hörzitat 5)

Die Äußerung des Polizisten „Ich, Kinder, ich war euer Feind“ wiederholt sich im Dialog mit dem Schuster zweimal in Form eines Bekenntnisses: 1. STIMME: Warum schusterst du noch Schuhe, obwohl wir doch keinen Weg mehr zu gehen haben? 2. STIMME: höchstens noch durch zehn Keller hindurch Frauenstimme: und dann ist das Ghetto zu ende 3. STIMME: und dann sind wir bei den Wölfen Polizist: Ich war so ein Wolf. Schuster: Habt ihr keine Füße? 1. STIMME: Doch, wir haben noch Füße. 2. STIMME: Aber wir werden bald keine Füße mehr haben. Frauenstimme: dann hat man sie uns abgehackt 3. STIMME: Die Wölfe hacken sie uns ab. POLIZIST: Ich war so ein Wolf. SCHUSTER: Immer hat der Mensch Füße. (21)

Ein letztes Mal erscheint dieser Satz in der dritten Erzählung des Juden, in der sich in der Schilderung des Feiglings, die sich an die Frage nach dem Verhalten der anderen in einer gleichen Situation anschließt, wiederum jene Einfügung findet: FEIGLING: Was hättet ihr gemacht, wenn ihr, ein jeder von euch, in dergleichen Lage wie ich gewesen wäret? Aber genau, haargenau in dergleichen Lage. Also mitten im Getto, in einem der letzten Keller, an einem der letzten Tage des Widerstands, zu acht, die acht fast ohne Waffen rings von den Wölfen ... POLIZIST: Einer von den Wölfen war ich. FEIGLING: ... umzingelt, die bis an die Zähne bewaffnet sind [...] (25)

_____________ 188 Der Text findet sich so nicht in der Vorlage des Autors; ein Sendemanuskript ist nicht erhalten. Die Zitate sind dem Hörprotokoll der Verf. entnommen, das anhand des im DRA Potsdam aufbewahrten Tondokumentes mit der Signatur 3000279000 angefertigt wurde. Veränderte oder neue Passagen sind kursiv gekennzeichnet. Beschreibungen der akustischen Umsetzung stammen von der Verf. und stehen in eckigen Klammern. Neben Veränderungen in den benannten Zeiträumen wurde „Wir leben seit fast einem Jahr in dieser Stadt“ durch „Wir leben seit fast einem Jahr in Warschau“ ersetzt. Bei den Schilderungen der zunehmenden Gewalt der Nationalsozialisten und den Äußerungen des Polizisten handelt es sich um Ergänzungen. Vgl. auch die Druckfassung in Weyrauch: „Woher kennen wir uns bloß?“, S. 19.

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Etwas später beschließt die Diskussion um den Feigling die Ankunft der Verfolger in jenem Keller, in dem die letzten lebenden Juden sich versteckt hielten. Der Feigling erhielt nicht die Möglichkeit, sich noch einmal zu beweisen. „JUDE Aber dazu kam es nicht mehr. Ihr wart da, Herr Geheimpolizist. POLIZIST Wir waren da. Die Wölfe waren da.“189 Die Aufnahme der Begrifflichkeit der Juden, die die Nazis als Wölfe bezeichnen, durch den Gestapo-Beamten kann nur als Schuldeingeständnis gewertet werden. In Anlehnung an die Funktion des Wolfes als Raubtier im Märchen erscheinen die Nationalsozialisten hier als Verkörperung des Bösen.190 Das Wolfsmotiv taucht gerade dort auf, wo die Bestialität der Nationalsozialisten besonders eklatant zum Vorschein kommt: im Gespräch mit den Kindern, die vom Tode gezeichnet ein unwürdiges Dasein in den Kellern des Ghettos fristen, in der Schilderung des Feiglings, der an der Aussichtslosigkeit seines Kampfes verzweifelt sowie im Moment der bevorstehenden Ermordung aller noch lebenden Juden mit Ausnahme des Protagonisten. In der ostdeutschen Inszenierung wird demnach keine Versöhnung im Sinne einer Ineinssetzung von Opfer und Täter mit abschließender Absolution propagiert. Die Vergebung, ausgedrückt in der mehrstimmigen Bestätigung des Feiglings durch seine Kameraden: „Ich wäre auch geflohen. – Ich auch. – Ich wäre auch geflohen“, kann durch die Identifizierung des Polizisten mit den Feinden des Feiglings hier nicht auf ihn, sondern ausschließlich auf den sogenannten Feigling bezogen werden, dessen Reaktion als menschlich eingeschätzt und verstanden wird. Mit der Gleichsetzung der Nationalsozialisten mit Wölfen in einem deutlich märchenhaften Zusammenhang – der Polizist verlangt vom Juden explizit drei Geschichten „wie im Märchen“ – könnte auch der DDRHörspielinszenierung der Vorwurf einer Verharmlosung gemacht werden. Dem aber muss entgegengehalten werden, dass mit der stärkeren Gewichtung des Wolfsmotivs andererseits konkrete Schilderungen des Überlebens im Ghetto, der Gewalt gegen die Juden und ihres Widerstands in den Text eingearbeitet wurden, die den historischen Bezug des Hörspiels klar herausstellen. In der ebenfalls 1957 in der DDR erschienenen Abhandlung von Bernard Mark finden sich Schilderungen, die mit den Ergänzungen im Hörspieltext inhaltlich übereinstimmen. Waren bei Weyrauch bereits _____________ 189 Diese Passage lautet in der Druckversion: „Wir konnten nichts mehr erwidern. Ihr kamt, Herr.“ (26) 190 Ungeachtet eines hochdifferenzierten Sozialverhaltens des Wolfes in der Natur wird er in den Märchen im deutschen Sprachraum mit dem Attribut „böse“ versehen. Als Beispiel hierfür können Märchen aus der Sammlung der Gebrüder Grimm genannt werden wie „Rotkäppchen und der Wolf“ oder „Die sieben Geißlein“.

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die besondere Rolle des illegalen Unterrichts,191 das Leben in den Kellern und Bunkern,192 die Angst der Deutschen vor den unterirdischen Verstecken193 sowie die Verurteilung von Verrätern194 in den eigenen Reihen angelegt, so ergänzte die ostdeutsche Fassung die schrittweise Einengung der Grenzen,195 die Tötung von Juden, die das Ghetto verlassen wollten,196 die mit Lappen umwickelten Füße der Ghettokämpfer,197 die Hinweise auf kämpfende jüdische Frauen198 sowie das systematische Niederbrennen ganzer Wohnblocks und Fabriken durch die Nationalsozialisten.199 Sibylle Bolik hat darauf hingewiesen, dass mit der Montage dokumentarischer Fakten in das „didaktische Polithörspiel“ eine größere Authentizität der fiktiven Handlung erzielt werden sollte.200 Im Falle eines Hörspiels jedoch, das sich mit dem Genozid an den europäischen Juden auseinandersetzt, ist die Rückbindung an die historische Realität bereits thematisch vorgegeben. Wurde dem westdeutschen Hörspiel der 1950er Jahre Subjektivität und Wirklichkeitsflucht vorgeworfen, so wirkt die ostdeutsche Bearbeitung von Woher kennen wir uns bloß? dieser Tendenz entgegen, allerdings ohne es, wie häufig geschehen, in eine plumpe Agitation gegen nationalsozialistische Kontinuitäten in der Bundesrepublik zu verwandeln. Wie im einzelnen zu zeigen sein wird, ermöglichte die Inszenierung von 1957 erstmals eine Behandlung des Holocaust im DDRHörspiel, die auf Ideologisierung zwar nicht vollständig verzichtete, diese aber zurückdrängte zugunsten einer jüdischen Perspektive auf die deutsche Vergangenheit und Gegenwart. _____________ 191 So heißt es: „Ein wichtiger Faktor der moralischen Selbstverteidigung des Ghettos waren die geheimen Schulen“, in denen die Lehrer spätere Kämpfer heranzogen. Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 33 f. 192 Bei Mark findet sich ein ganzes Kapitel, das mit dem Titel „Die unterirdische Stadt der Bunker und Tunnel“ überschrieben ist; Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 225– 229. Darüber hinaus zitiert die Abhandlung Jürgen Stroop, der die Räumung des Ghettos leitete und von den Schwierigkeiten hierbei berichtete: „Trotz größter Bemühungen war es nicht möglich, der 700 bis 800 Juden, die sich in dem Block befanden, habhaft zu werden. Sie zogen sich von Versteck zu Versteck durch die unterirdischen Gänge zurück und gaben von Zeit zu Zeit Schüsse ab.“ Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 291. 193 „‚Dank dem Widerstand‘, vermerkt ein Chronist, ‚kommt es nicht mehr vor, daß die Mörder Juden in den Kellern suchen. Sie fürchten sich ganz einfach, hinunterzusteigen.‘“ Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 180. 194 Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, bspw. S. 159–162, 190–193, 338 f. 195 Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 10. 196 Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 18–20. 197 Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 312. 198 Bspw. Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 342. 199 Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 309. 200 Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 63.

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Ist die Nennung der westdeutschen Städte Hamburg, West-Berlin und Frankfurt am Main als mögliche Orte der Wiederbegegnung von Geheimpolizist und jüdischem Überlebenden als Hinweis auf die in Westdeutschland fehlende Aburteilung nationalsozialistischer Verbrecher zu verstehen, so ist dies im Vergleich zu anderen Hörspielen des DDR-Rundfunks, die neonazistische und antisemitische Vorfälle in der Bundesrepublik in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellen, lediglich als Randbemerkung angelegt. Die historische Faktizität bei gleichzeitiger Betonung des Spielcharakters der Inszenierung ist nahezu einzigartig in der Geschichte des DDR-Hörspiels, das sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigt.201 Dominieren in der Textvorlage Weyrauchs wie in der Hamburger Inszenierung metaphysische und religiöse Deutungen des Holocaust, treten diese Aspekte in der Ostberliner Produktion zugunsten historischer Inhalte in den Hintergrund. Ein prägnantes Beispiel für die Bearbeitung des Textes findet sich auch im Motiv der Wanzen. Als Gleichnis für die Juden, aber auch für „die Menschen“ im Allgemeinen und vor allem ihre Entmenschlichung, durchzieht das Motiv der Wanzen den ursprünglichen Text. In der Bearbeitung ist es stark zusammengestrichen. Bereits Ulrike Landzettel hat auf den höchst prekären Vergleich von Wanzen und Juden in Weyrauchs Auf der bewegten Erde (1946) hingewiesen, indem sie Parallelen zwischen Weyrauchs Terminologie und nationalsozialistischer antisemitischer Propaganda aufzeigt.202 Die Gleichsetzung von Juden, die im Ghetto unter unmenschlichsten Bedingungen leben mussten, und Parasiten noch in den 1950er Jahren aufzurufen, war im Rundfunk der DDR offenbar ausgeschlossen. Die Hörfassung tilgt daher Passagen wie jene, die im folgenden Zitat in eckigen Klammern, kursiv gekennzeichnet sind: POLIZIST Wieso hattest du gerade das Glas mit den Wanzen in der Hand, als ich die Schießscharte aufstieß? JUDE [Gott drückte es mir vorher in die Hand. POLIZIST Glaubst du an Gott? Jude Warum sollte ich nicht an Gott glauben, da er doch an mich, den Menschen, glaubt? POLIZIST Wieso glaubt er an dich? JUDE Sonst hätte er mich nicht gemacht. POLIZIST Er hat auch die Wanzen gemacht. JUDE Er glaubt auch an die Wanzen, und er liebt sie. Wenn er die Wanzen nicht liebte, wäre er nicht Gott. POLIZIST Die Wanzen und die Juden. Die Wanzen sind wir alle. JUDE: Erinnere dich bitte,] ich hielt [es] dir [das Glas mit den Wanzen] hin, ich hielt es dir nicht unter die Nase.203

_____________ 201 In eine ähnliche Richtung weisen: Korczak und die Kinder (1959), oder Gelassen stieg die Nacht an Land (1965); vgl. die Kapitel II.1. und II.3. 202 Landzettel: Identifikation eines Eckenstehers, S. 290. 203 Streichungen aus der Textvorlage stehen in eckigen Klammern und sind kursiv gekennzeichnet. Einfügungen in den Text stehen in eckigen Klammern. Vgl. auch die Druckfassung in Weyrauch: „Woher kennen wir uns bloß?“, S. 14 f.

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Ein Motiv für diese Streichungen mag auch in der stark religiösen Konnotation begründet liegen; allerdings beweist eine kurz darauf folgende, ebenfalls umgearbeitete Passage, dass eine Gleichsetzung von Wanzen und Juden ebenso vermieden werden sollte wie die verallgemeinernde Parallelisierung von Menschen und Wanzen bzw. Juden und Nationalsozialisten. Die ursprüngliche Fassung lautet: POLIZIST Du sagtest, [daß ihr es vor Tausenden von Wanzen nicht aushalten könntet,] daß ihr jeden Abend Gläser mit Zuckerwasser auf dem Grund aufstelltet, und am andern Morgen lägen [wenigstens] Hunderte von toten Wanzen in den Gläsern [, daß heißt, tote Wanzen wären es eigentlich gar nicht mehr, sondern zuerst hätten die Wanzen versucht, aus den Gläsern wieder herauszukommen, aber die Glätte des Glases hätte das verhindert, und dann hätten sie sich], da sie nicht mehr wußten, was sie tun sollten, gegenseitig aufgefressen bloß ihre [fleisch- und kruste- und beinlosen] Hüllen blieben übrig. [Das alles aber, fuhrst du fort, sei bei uns Menschen genauso. Wir seien in die Tiefe gestürzt, und da wir nicht wüßten, wie wir uns aus dem Abgrund befreien könnten, fielen wir übereinander her und fräßen uns auf. Und unser Kampf um die Häuser des Ghettos sei ein Teil unserer Vernichtung. JUDE Ich sagte, wir hätten uns in die Tiefe gestürzt. POLIZIST Meinetwegen.] Jedenfalls hieltest du mich mit deinen Wanzen sicher eine gute Viertelstunde auf. (15)

Wenn Weyrauch dem Juden jenen Vergleich in den Mund legt, der den Kampf um das Warschauer Ghetto als tierisches Verhalten darstellt, ruft er das antisemitische Bild vom Juden als Parasiten und Krankheitsüberträger auf,204 das ausgerechnet den Nationalsozialisten als Argument für die Räumung des Warschauer Ghettos diente. In zynischer Weise begründeten die Deutschen die Einrichtung und Räumung des jüdischen Ghettos mit der „Vermeidung einer Seuchengefahr“.205 Die den Ghettobewohnern durch die Nazis aufgezwungenen unwürdigen Lebensbedingungen führten über Hunger und Krankheit schließlich zu einer Angleichung an die propagierten Vorstellungen von entmenschlichten Wesen. Dies wiederum bildete die Voraussetzung für ihre Vernichtung: Das ganze Geheimnis, wie ein Mensch zum Mörder wird, liegt in so einer Umwandlung. In der Seele des Menschen wird eine kleine Verschiebung vorgenommen, denn das zukünftige Opfer muß aller menschlichen Attribute entkleidet werden, um ihm dann Eigenschaften zu oktroyieren, Eigenschaften einer widerlichen Gattung ... einer Wanze, einer Ratte oder einer Laus.206

Neben dem tradierten Vergleich der Ghettobewohner mit Ungeziefer, unterstellt Weyrauch in seinem Text eine Gemeinsamkeit zwischen den _____________ 204 Vgl. auch den nationalsozialistischen Propagandafilm DER EWIGE JUDE von 1940 (Regie: Fritz Hippler). 205 Vgl. die Verweise in Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 9. 206 Ludwik Hirszfeld: „Die Stadt des Todes. Im Warschauer Ghetto“. In: Leon Poliakov u. Josef Wulf: Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze. Berlin 21955. 273–277, S. 276.

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Nationalsozialisten und den Juden im Ghetto, indem er wiederholt das Personalpronomen „wir“ verwendet und die Wanzen als Symbol für die Menschen im Allgemeinen verstanden wissen will – „Das alles aber, fuhrst du fort, sei bei uns Menschen genauso. Wir seien in die Tiefe gestürzt“ –, sie seien gemeinsam in die Falle geraten und würden sich nun gegenseitig vernichten. Diese Angleichung der Perspektive durch die Wahl der ersten Person Plural verfälscht jedoch historische Tatsachen: Vernichtet wurden die Juden durch die Nationalsozialisten. Weder vernichteten die Nazis sich selbst, noch vernichteten die Juden einander, weil sie durch eigenes Verschulden in eine unmenschliche Situation geraten waren. In der Falle saßen allein die Juden, und zwar durch die Maßnahmen der deutschen Besatzer, sie mussten um ihr Überleben kämpfen und waren hierfür gezwungen, moralische Verhaltensweisen aufzugeben.207 In der ostdeutschen Bearbeitung bleibt das Glas mit den Wanzen als Requisit zwar erhalten, jedoch lediglich, um den Schachzug der Kämpfer gegen die Verfolger zu verdeutlichen. Die expliziten Verweise auf das Wanzenmotiv als Gleichnis sind vollständig gestrichen. Die entsprechende Passage lautet nun: POLIZIST Es war alles ganz anders Jude, du sagtest, daß ihr jeden Abend Gläser mit Zuckerwasser auf dem Boden aufstellt. Und am andern Morgen lägen Hunderte von toten Wanzen in den Gläsern. Ich hörte mir das an, weil ich wie vor den Kopf gestoßen war. Ich wußte gar nicht, wie mir geschah. Ein Jude und ein Polizist plaudernd, wie in einer Kneipe kurz vor Feierabend. Du sagtest, die Wanzen in den Gläsern wären eigentlich gar nicht ertrunken, sie hätten sich, da sie nicht mehr wußten, was sie tun sollten, in der Nacht gegenseitig aufgefressen. Bloß ihre Hüllen blieben übrig. Du hieltest mich mit deinen Wanzen sicher eine gute Viertelstunde auf. (15 f.)

Statt dessen arbeitet die ostdeutsche Fassung den Widerstandskampf der Juden im Warschauer Ghetto und die Stufen der Vernichtung durch die Nationalsozialisten klar heraus. Die Zwangsumsiedlung von Juden nach Warschau, die Errichtung und zunehmende Einschränkung des Ghettos, die Deportationen und Tötungen werden ebenso benannt wie die unmenschlichen Bedingungen, unter denen die versteckten Juden leben mussten. In fast allen diesen Fällen handelt es sich um Ergänzungen im Rahmen der Bearbeitung der Textvorlage. Durch die Wiederauferstehung der Toten in ihren Stimmen gelingt es der Funkfassung darüber hinaus, die märchen- oder legendenartigen _____________ 207 In der tradierten Erzählung vom Aufstand im Warschauer Ghetto dient die Heroisierung des bewaffneten Kampfes vor allem der Wiederherstellung der Würde der Opfer. Das Motiv des Tieres in der Falle findet sich auch hier: „Juden standen nun vor der Alternative, in Würde oder wie Tiere zu sterben, die in eine Falle gegangen waren.“ Reuben Ainsztein: Jüdischer Widerstand im deutschbesetzten Osteuropa während des Zweiten Weltkrieges. Oldenburg 1993, S. 287.

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Schilderungen des Juden an persönliche Schicksale, an Individuen und damit ein konkretes historisches Geschehen zurückzubinden. Die Erinnerung an die Toten lässt sie in den Geschichten des Protagonisten weiter existieren. Im Hörspiel wird ihnen ein akustisches Denkmal gesetzt. Es wird ergänzt durch religiöse Gesänge, die im Text als Erinnerung angelegt sind, in der Inszenierung von Peter Thomas allerdings auch hörbar gemacht werden. Dramaturgisch sind diese Musikeinspielungen an die Handlung gebunden. Der Polizist erinnert sich an die Gesänge der Juden in den Kellern, die den Angreifern den Atem nahmen. Eigentlich Aufnahmen auf Schallplatten, die über Lautsprecher abgespielt wurden, täuschten sie die Anwesenheit von Tausenden von Kämpfern in der Dunkelheit vor: [unter der ganzen Szene religiöser Gesang, hallend] POLIZIST Weiß Gott, ich hörte eure frommen Lieder, [...] die anderen, die hinter mir standen und knieten und auf dem Bauch lagen, hörten sie auch. Wir hörten sie, und die, die sich ansehen konnten, ohne sich zu rühren, sahen sich an. Wir sahen uns an und [...] hielten den Atem an, das heißt, es ist, glaube ich, richtiger, wenn ich sage, wir konnten nicht mehr atmen. [...] Tausend Juden, dachten wir, denn durch eure Lautsprecher und durch das Echo von den Kellermauern her waren eure frommen Lieder so laut geworden, daß wir glaubten, die [verdammten] Juden haben Verstärkung bekommen, oder sie sind viel stärker, als wir bisher geschätzt hatten. [Gesang anschwellend, hallend] Der Keller war fürchterlich. Wir suchten nach Lichtschaltern. (22 f.; • Hörzitat 6)

Die bedrohliche Wirkung, die der Polizist hier schildert, ähnelt Berichten aus dem ersten Weltkrieg, da die Soldaten an der Front nicht nur von plötzlichen, besonders lauten Geräuschen betroffen waren und ein sogenanntes Knalltrauma erlitten, sondern gerade auch von Krach traumatisiert wurden, der von einem Feind ausging, welcher nicht oder noch nicht zu sehen war. Die unheimliche Anwesenheit des Gegners, ohne dass er zu orten und anzugreifen wäre, löste eine Angst aus, die nicht zu bewältigen war.208 Im Hörspiel wenden die Juden dieses Wissen als List an und erreichen ihr Ziel, den Feind einzuschüchtern, auf ähnliche Weise. Im Gegensatz zur Fronterfahrung nutzen sie aber nicht das unbestimmbare, nicht zu verbalisierende Geräusch, sondern religiöse Gesänge, „fromme Lieder“, die sie technisch verstärken. Sie erweckten neben dem Eindruck der zahlenmäßigen Übermacht auch den der moralischen Überlegenheit.209 Ihrer _____________ 208 Vgl. Helmut Lethen: „Geräusche jenseits des Textarchivs. Ernst Jünger und die Umgehung des Traumas“. In: Nicola Gess, Florian Schreiner u. Manuela K. Schulz: Hörstürze. Akustik und Gewalt im 20. Jahrhundert. 33–52, speziell S. 34 u. 42. 209 Eine Schilderung orthodoxer Widerständler, die im Kampf religiöse Lieder singen, findet sich beispielsweise in dem 1947 entstandenen Drama „Ghetto Warschau. Schauspiel in drei Akten“ von Max Zweig. In: ders.: Die Dritte-Reich-Dramen. Hg. v. Eva Reichmann. Olden-

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nationalen und religiösen Identität haben die deutschen Nationalsozialisten nichts entgegenzusetzen als ihre Waffen: [unter der ganzen Szene religiöser Gesang, hallend] Die Schallplatten, die[se] elenden Schallplatten. Wir konnten nicht atmen, als [wir die Platten hörten], wir konnten nicht atmen, [...] als wir die Platten nicht mehr hörten. [Aber, was ich sagte, stimmt nicht. Als wir die Platten nicht mehr hörten, hörten wir sie immer noch.] [Gesang stärker] Es war uns, als würden wir sie von [jetzt] an immer hören, Zeit unseres Lebens, falls ihr uns nicht aus der Dunkelheit eurer Keller alle miteinander umlegtet [...]. Ja, einer von uns wurde ganz verrückt durch eure Melodien und schoß danach. Als könnte man eine Melodie durch einen Schuß erledigen.“ (23; • Hörzitat 6)

Im Folgenden wird die religiöse Melodie der Juden dem Knall des Schusses des deutschen Polizisten gegenübergestellt. Der Gesang dient an dieser Stelle des Hörspiels nicht nur der Charakterisierung der Juden und der Illustration der berichteten Situation, sondern repräsentiert eben jene Erinnerungsfunktion von Musik, die von den beiden Protagonisten diskutiert wird. Eine Melodie, von einem Menschen gesungen, klingt demnach in jenen Menschen weiter, die seine Stimme gehört haben. Wenn die Polizisten nach dem Gesang der Juden erfolglos schießen und auch nach der Ermordung der Urheber der Melodie noch ihren Gesang hören, leben die getöteten Juden in der Erinnerung ihrer Mörder weiter. Die Unerträglichkeit ihres Gesanges offenbart das Gewissen, das sich verbal in den Worten des Polizisten: „Ich war so ein Wolf“ äußert. Das Hörspiel gibt mit der Einspielung der Musik dieser Erinnerung im Wissen um die persönliche Verantwortung Raum. Der Hörer vor dem Radio kann dem klagenden Gesang der getöteten Juden, der sich über mehrere Minuten erstreckt, ebenso wenig entfliehen wie der Gestapobeamte auf der Ebene der Handlung. Der Schuss dagegen wird nicht akustisch umgesetzt. Im Gegensatz zum Hörspiel Gespräche mit dem Henker210, das 1979 die Räumung des Warschauer Ghettos mit Kampfgeräuschen illustriert und dem heldenhaften Widerstand der Juden und Antifaschisten gewidmet ist, arbeitet Woher kennen wir uns bloß? in der Inszenierung von 1957 ausschließlich mit Musik: der abstrakten Komposition am Anfang und Ende der Sendung sowie dem religiösen Gesang. Die Präsenz der Toten, die durch die Stimmgebung der jüdischen Kämpfer bereits das Hörspiel dominiert, wird durch den Gesang noch einmal verstärkt. Ihnen gilt die Inszenierung, nicht dem Polizisten auf der Suche nach Vergebung. _____________ burg 1999, S. 194 ff. Inwiefern Weyrauch historische oder literarische Publikationen zum Warschauer Ghetto wahrgenommen und verarbeitet hat, ist gegenwärtig nicht zu klären. 210 Im vom polnischen Rundfunk übernommenen Hörspiel treffen der SS-General Jürgen Stroop, der die Vernichtung des Warschauer Ghettos leitete, und der polnische Widerstandskämpfer Kazimierz Moczarski aufeinander. (Berliner Rundfunk, 29.3.1979).

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Peter Thomas’ Inszenierung von Woher kennen wir uns bloß? muss damit im Vergleich zur Hamburger Ursendung, aber auch im Vergleich zu den meisten Hörspielen, die sich in der DDR mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzten, als außerordentlich im Wortsinne angesehen werden. Die Eröffnung einer irrealen Ebene, in der Tote eine Stimme erhalten und ihre Perspektive auf vergangene Geschehnisse vorbringen, ist ebenso ungewöhnlich für das ostdeutsche Hörspiel, das größtenteils vom Konzept des sozialistischen Realismus bestimmt wurde, wie die Präsenz religiösen Judentums im Radio der DDR. Selbst der übliche Verweis auf die Aktualität nationalsozialistischer Tendenzen in der Bundesrepublik ist auf die Nennung westdeutscher Städtenamen zusammengeschmolzen.211 Sie suggeriert, dass allein im Westen ehemalige Gestapobeamte an Straßenkreuzungen anzutreffen sind; doch gilt dieser Feststellung nicht die Aufmerksamkeit des Hörspiels. Statt dessen stehen die jüdische Perspektive auf den Genozid und der Widerstand dagegen im Mittelpunkt, ohne seine Einzigartigkeit in Zweifel zu ziehen oder ihn in Konkurrenz zu anderen Opfergruppen zu setzen. Der Kampf der Juden gegen die deutschen Besatzer wird weder in eine Heldenlegende umgewandelt noch in den größeren Zusammenhang eines antifaschistischen oder polnisch-nationalen Widerstands eingeordnet, wie es sonst in der Erinnerung an den Aufstand im Warschauer Ghetto üblich war. In seiner Untersuchung Helden und Märtyrer fasst Markus Meckl die Rolle des Aufstandes im Warschauer Ghetto innerhalb des ostdeutschen Erinnerungsdiskurses folgendermaßen zusammen: Die DDR interpretierte den Aufstand als antifaschistischen Widerstandskampf und ermöglichte es sich damit, ihn als einen Bestandteil der eigenen Traditionslinie anzueignen. [...] Alle historischen Aspekte des Ghettoaufstandes, die nicht in dieses Geschichtsbild paßten, wie zum Beispiel die gewichtige Rolle der zionistischen Verbände in der Z.O.B. und die Existenz des rechtszionistischen Kampfverbands Z.Z.W., wurden in der Presse und in der Wissenschaft übergangen. Als Symbol für den antifaschistischen Widerstandskampf hatte der Ghettoaufstand in der vierzigjährigen Geschichte der DDR primär die Funktion zu belegen, daß die Deutsche Demokratische Republik die richtigen und die BRD keine Lehren aus der Geschichte gezogen hatte.212

In der Geschichtsschreibung der DDR wurde der Aufstand im Warschauer Ghetto in einen allgemeinen Zusammenhang mit dem antifaschistischen Widerstandskampf eingeordnet. Hierbei gehen die spezifisch jüdischen Aspekte in der Betonung des polnisch-patriotischen und kommu_____________ 211 An zwei Stellen, in denen die gegenwärtige Bedrohung des Juden thematisiert wird, erklingen wenige Takte Marschmusik, die an neuerliche Aufmärsche und Remilitarisierung erinnern. Sie werden aber nicht explizit dem Territorium der Bundesrepublik zugeordnet. 212 Meckl: Helden und Märtyrer, S. 99.

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nistischen Kampfes auf und werden nicht mehr namentlich erwähnt. Im Nachwort des historischen Berichts von Bernard Mark, der noch vor der Sendung des Hörspiels 1947 publiziert wurde, heißt es zusammenfassend: 1. Der Aufstand im Warschauer Ghetto war keine Verzweiflungstat zum Tode Verurteilter, sondern das Resultat bewußter Bestrebungen der antifaschistischen, patriotischen Elemente des Ghettos. 2. Der Aufstand war die Verwirklichung und Krönung der Gefühle und des Strebens breiter Volksmassen des Ghettos, die […] die Widerstandsbewegung moralisch und aktiv unterstützten. 3. Der Aufstand war im ideologischen und politischen Sinn ein Kind der revolutionären und patriotischen Tradition des Volkes. 4. Der Aufstand war ein Bestandteil des allgemeinen Kampfes der freiheitliebenden Menschheit gegen den Hitlerimperialismus, seine Satelliten und ‚fünften Kolonnen‘.213

Im Gegensatz zur politischen Instrumentalisierung des Holocaust, die sich in Publikationen wie der zitierten zeigt, eröffnet Woher kennen wir uns bloß? wie das 1959 folgende Hörspiel Korczak und die Kinder, das ebenfalls das Warschauer Ghetto aufgreift, einen Blick auf die Potentiale der Hörspielabteilung des Rundfunks der DDR, wie sie sich in kurzen Phasen einer politischen Liberalisierung zeigten: Nach der jahrelangen Tabuisierung jüdischer Thematiken zu Beginn der 1950er Jahre und vor der Instrumentalisierung der Holocaust-Erinnerung für die politischen Auseinandersetzungen der 1960er Jahre entstanden in den Jahren nach Stalins Tod ästhetisch innovative und politisch weitgehend unabhängige Produktionen, die sich mit der Vergangenheit auseinandersetzten, ohne vorgegebene Wertungen affirmativ zu wiederholen. Selbst die Darstellung des Polizisten als Täter versucht, ein differenziertes Bild zu entwerfen: Der eingangs harsche, noch immer antisemitische Geheimpolizist „denkt und erinnert sich“ gemeinsam mit seinem Opfer, dem Juden, um schlussendlich in seinem (privaten) Schuldeingeständnis Verantwortung für seine Taten zu übernehmen und sich von einem „Freund“ zu verabschieden. Im Gegensatz zur Weyrauch’schen Vorlage, in der Täter und Opfer in menschlicher Verallgemeinerung verschmelzen und der Jude im christlichen Sinne Vergebung übt, führt die stark bearbeitete ostdeutsche Fassung eine Form von Bewältigung vor, die klare historische Bezüge herstellt, um die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen aufzuarbeiten, Verantwortliche mit ihren Opfern und ihrem Gewissen konfrontiert und erst nach einem ‚umfassenden Geständnis‘ eine vorsichtige Annäherung zwischen Täter und Überlebendem zulässt, ohne deren Differenzen zu nivellieren. Als Sendung im Radio ist das Hörspiel in seiner ästhetischen Ausrichtung Aufklärung über historische Fakten, Erinnerung und Totenklage in einem. _____________ 213 Mark: Der Aufstand im Warschauer Ghetto, S. 391.

Kapitel III Täter ohne Gedächtnis, Opfer ohne Stimme NS-Verbrechen vor Gericht (1959–1970)

1. Im Westen nichts Neues Instrumentalisierung des Holocaust im Kalten Krieg Mit dem Ende der 1950er Jahre stabilisierte sich die Hörfunkarbeit in den Radiosendern der DDR. Ein entscheidendes Ergebnis dieser Entwicklung war die Dezentralisierung der Sendeanstalten und die Herausbildung unterschiedlicher Profile. Obwohl die Hörspielabteilung noch immer zentral für alle Sender arbeitete und die Hörspiele in der Regel in mehreren Programmen wiederholt wurden, lässt sich auch für jene Hörspiele, die die NS-Judenverfolgung behandeln, ein Zusammenhang zwischen ihrer Ausrichtung auf politische Agitation oder Unterhaltung und dem Ort ihrer jeweiligen Erstsendung ausmachen. Die seit 1959 anhaltende Produktion von Hörspielen zum Thema setzte sich bis 1965 fort, um dann abrupt abzubrechen. Die Gründe hierfür liegen in einer erneuten restriktiven kulturpolitischen Wende Mitte der sechziger Jahre, die neben der literarischen Rundfunkarbeit auch und vor allem den DEFA-Spielfilm betraf. Das II. Plenum des ZK der SED 1965 richtete sich explizit gegen ‚modernistische‘ und ‚skeptizistische‘ Tendenzen in der Kunst und hatte eine weitere Krise in der Hörspielproduktion zur Folge.1 Es ist bezeichnend, dass Judentum und Judenverfolgung in diesen Jahren noch immer als heikle Themen galten und somit in Zeiten der Repression gänzlich unerwähnt blieben. Die Jahre 1959 bis 1965 dagegen eröffneten eine erste Vielfalt von Zugängen, die im Folgenden näher zu beleuchten ist. 1.1. Der Holocaust im Hörspielprogramm des Deutschlandsenders War die Thematisierung des Holocaust im ostdeutschen Hörspiel bis zum Ende der 1950er Jahre zwar die Ausnahme, formal und inhaltlich aber eher offen angelegt, so setzte mit der Zuspitzung des Kalten Krieges und im Zuge der Bitterfelder Konferenz2 eine ideologische Instrumentalisierung des Holocaust für die politische Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik Deutschland ein, die einem sozialistischen Realismus ebenso _____________ 1 2

Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 90. Die erste Bitterfelder Konferenz am 24. April 1959 erarbeitete einen Literaturbegriff, der von einer starken Bindung an die Arbeiterklasse bestimmt sein und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aufbau des Sozialismus mit Werken des sozialistischen Realismus begleiten und unterstützen sollte.

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verpflichtet war wie einem marxistischen Geschichtsbild. Karl Kauls Alles beim Alten eröffnete im Juli 1959 eine ganze Reihe von Hörspielen, die, verstärkt auch durch die NS-Prozesse der 1960er Jahre, bis zum Ende des Jahrzehnts in erster Linie den politischen Gegner im Westen attackierten und nicht von ungefähr vor allem vom Deutschlandsender ausgestrahlt wurden. Als ostdeutsches Pendant zum westlichen Deutschlandfunk richtete sich der Deutschlandsender einerseits nach innen – an das DDRPublikum –, andererseits aber gerade auch nach außen an die bundesdeutsche Bevölkerung mit dem Ziel, die Bürger jenseits der Grenze von den Gefahren des ihrem Staat zugrunde liegenden Systems zu unterrichten, ihnen die DDR als Alternative zu präsentieren und sie zum politischen Handeln zu animieren.3 Bereits 1948 neben der „Westabteilung des Berliner Rundfunks“4 neu gegründet,5 unterhielt der Sender ab Mai 1949 ein eigenes Programm, das vor allem auf die Ost-West-Auseinandersetzung ausgerichtet war. Zu dieser Zeit war er der einzige Radiosender, dessen Programm auf Lang- und Kurzwelle ausgestrahlt wurde und so in ganz Deutschland empfangen werden konnte.6 Erst mit der Machtübernahme Erich Honeckers und der sich hieran anschließenden Aufgabe einer Politik, die die deutsche Einheit unter sozialistischen Verhältnissen zum Ziel hatte, wurde der Deutschlandsender obsolet und 1971 in „Stimme der DDR“ umbenannt. Das neue Programm beschäftigte sich von nun an weniger mit internationaler Politik als mit den Verhältnissen im eigenen Land; die Zielgruppe bildeten nicht mehr die ‚aufgeschlossenen‘ Bundesdeutschen, sondern die Bürger und Bürgerinnen der DDR. Bis dahin aber war der Deutschlandsender ein bevorzugtes Medium der Angriffe auf das gegnerische System. In erster Linie zielten die Kampagnen darauf, die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und ihre Eingliederung in die Nato ebenso als Schritt auf dem Weg zu einem neuen Weltkrieg anzuprangern wie die Angst vor einem Atomkrieg zu schüren, antisemitische Tendenzen aufzuzeigen und bundesdeutsche Politiker als alte wie neue Nationalsozialisten zu entlarven. Diese Ziele kulminierten in Offensiven, die sich gegen einzelne Politiker richteten, deren neuerliche _____________ 3

4 5 6

Vgl. hier und im folgenden Arnolds Studie zum Deutschlandsender als SED-Propagandainstrument in den 1960er Jahren: „Die SED-Propaganda wurde sowohl nach innen als auch nach außen verbreitet. In der internationalen Massenkommunikation war der Rundfunk als relativ kostengünstiges und weitreichendes Massenmedium von zentraler Bedeutung.“ Klaus Arnold: Kalter Krieg im Äther. Der Deutschlandsender und die Westpropaganda der DDR. Münster 2002, S. 207. Heide Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der DDR. Funktion, Struktur und Programm des Rundfunks in der DDR. Hg. v. Deutschen Rundfunkmuseum e.V. Berlin. Köln 1977, S. 44. Der Deutschlandsender ging erstmals 1926 auf Sendung. Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der DDR, S. 45.

Der Holocaust im Hörspielprogramm des Deutschlandsenders

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Karrieren nach dem Krieg das reaktionäre Wesen der gesamten Bundesrepublik enthüllen sollten. Exemplarisch hierfür stehen die Namen des Bundesvertriebenenministers Theodor Oberländer, des Staatssekretärs Hans Globke und des Bundespräsidenten Heinrich Lübke. Diese Kampagnen dominierten die Presse ebenso wie die unterschiedlichsten Formen journalistischer Rundfunkbeiträge.7 Im Zuge aktueller antisemitischer Übergriffe stellte man die Bundesrepublik als direkte Nachfolgerin Hitlerdeutschlands dar und nutzte den Blick auf die deutsche Geschichte, um historische Kontinuitäten zu untermauern. In diesem Zusammenhang kam es zu einer verhältnismäßig großen Anzahl von Hörspielen, in denen Antisemitismus und Judenverfolgung dargestellt wurden.8 Diese sind nachweislich eng an die politischen Debatten geknüpft. Mit dem Eichmann-Prozess und den Kampagnen gegen Oberländer und Globke in den Jahren 1959/1960 entstehen sieben Produktionen zum Thema. In den folgenden drei Jahren tritt der Holocaust als Thema in den Hintergrund – von 1961 bis 1963 entstehen lediglich zwei einschlägige Hörspiele –, während mit dem Beginn des Frankfurter Auschwitz-Prozesses und der Debatte um die Verjährung von NSVerbrechen in der Bundesrepublik erneut vier Produktionen vom November 1964 bis Oktober 1965 entstehen. Da die Hörspiele in der Regel auf mehreren Sendern des DDR-Rundfunks z. T. mehrfach wiederholt wurden, muss von einer deutlichen Präsenz des Themas in den Hörspielprogrammen aller Sender ausgegangen werden. Eine zentrale Figur der medialen Attacke gegen die Bundesrepublik war der Jurist und Autor Friedrich Karl Kaul, der als Prozessberichterstatter jüdischer Herkunft9 für die SED-Führung bereits in den Nachkriegsjahren in Erscheinung trat und für den Rundfunk der DDR authentische Kriminalfälle zu Hörspielen verarbeitete.10 Alles beim Alten11 von 1959, das _____________ 7 8

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Vgl. Peter Krause: Der Eichmann-Prozeß in der deutschen Presse. Frankfurt a. M., New York 2002; Arnold: Kalter Krieg im Äther. Auch Ingrid Pietrzynski stellt für die Literatursendungen des DDR-Rundfunks fest, dass man sich „Ende der fünfziger Jahre [...] – angesichts antisemitischer Vorfälle in der Bundesrepublik – mehrfach den literarischen Zeugnissen über die nationalsozialistische Judenverfolgung“ widmete. Ingrid Pietrzynski: „‚Die Menschen und die Verhältnisse bessern ...‘. Literaturvermittlung in Literatursendungen des DDR-Rundfunks“. In: Buch, Buchhandel und Rundfunk. 1950–1960. Hg. v. Monika Estermann u. Edgar Lersch Wiesbaden 1999. 120– 167, S. 144. Friedrich Karl Kaul bekannte sich wie viele Kommunisten in der DDR selbst nicht zum Judentum. Vgl. Lothar Mertens: „Schwindende Minorität. Das Judentum in der DDR“. In: Juden in der DDR. Geschichte – Probleme – Perspektiven. Hg. v. Siegfried Theodor Arndt u. a. Sachsenheim 1988. 125–159, S. 129. Vgl. Hans-Ulrich Wagner: „Der gute Wille, etwas Neues zu schaffen“. Das Hörspielprogramm in Deutschland von 1945–1949. Potsdam 1997, S. 56.

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schon im Titel das Augenmerk auf die vermeintlich unveränderte Situation in der Bundesrepublik richtet, thematisiert – ähnlich dem DEFA-Spielfilm Zwischenfall in Benderath von 195612 – antisemitische Vorfälle in einem westdeutschen Gymnasium. Hier wird der jüdische Schüler Peter Neumark von seinen Mitschülern misshandelt und unter Mithilfe eines Lehrers auch die Synagoge des Ortes von Altnazis mit roten Hakenkreuzen geschändet. Die Nachforschungen der Polizei richten sich jedoch weder gegen den Lehrer noch gegen einen der Schüler, sondern gegen einen völlig ahnungslosen Kommunisten, bei dem man die rote Farbe prompt findet. In der Perspektive des Hörspiels werden die Opfer des Nationalsozialismus – Juden und Kommunisten – in der Bundesrepublik wie im ‚Dritten Reich‘ von den staatlichen Organen verfolgt; es bleibt eben „Alles beim Alten“. Ebenfalls im Deutschlandsender liefen 1960 Georg Dannenbergs13 Der Schoß ist fruchtbar noch und Manfred Bielers Die achte Trübsal14. Die in der Absage der Sendung als „Funkdokumentation“ charakterisierte Collage Der Schoß ist fruchtbar noch15 stellt in schnellen Schnitten zwei Flüchtlingsschicksale gegenüber: das des aus der Emigration nach Frankfurt am Main zurückkehrenden Juden Chaim Kuflik und das des Obersturmbannführers der SS und Leiters der Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts Adolf Eichmann. Der aktuelle Bezug des Stückes ist nicht zu überhören: War das Verfahren gegen Eichmann am 23. Mai 1960 in Jerusalem eröffnet worden, so sendete der Deutschlandsender knapp einen Monat später bereits am 19. Juni 1960 jenes Stück, in dem Fakten und Fiktionen mustergültig miteinander verwoben wurden, um politische Agitation über das Radio zu verbreiten. Im scharfen Ton eines professionellen Berichterstatters benennt ein Sprecher Eckdaten der NS-Zeit, die jeweils mit Original-Tönen belegt _____________ 11 12 13 14 15

Das Hörspiel stammt von Friedrich Karl Kaul und Walter Jupé; Regie führte Gert Beinemann. Der Tonträger ist archiviert im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam unter der Signatur: 3000347X00; Erstsendung am 13.07.1959 im Deutschlandsender. Regie führte János Veiczi. In einer westdeutschen Provinzstadt ist ein jüdischer Gymnasiast den antisemitischen Angriffen eines Lehrers ausgesetzt. Seine Mitschüler treten für ihn ein und lehnen sich gegen den Lehrer auf. Der ehemalige Mitarbeiter des Deutschen Instituts für Zeitgeschichte Ost-Berlin verfasste Anfang der 1960er Jahre mehrere Dokumentationen für das Hörspielprogramm der DDR; vgl. www.hoerdat.de. Manfred Bieler: Die achte Trübsal. Der Tonträger ist archiviert im DRA Potsdam unter der Signatur 3000393X00, Erstsendung am 3. Oktober 1959 im Deutschlandsender; Regie: Peter Brang. Georg Dannenberg: Der Schoß ist fruchtbar noch. Ursendung am 13.07.1959 im Deutschlandsender unter der Regie von Gert Beinemann. Der Tonträger ist archiviert im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam unter der Signatur: 3000347X00; das Kontroll-Exemplar, aus dem zitiert wird, trägt die Signatur: B 082-00-04/0095.

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werden: Boykottaufrufe gegen die jüdische Bevölkerung, Bücherverbrennung, Erlass der sogenannten Nürnberger Gesetze usw. Als Kommentator dieser rassistischen Gesetzestexte wird nun Dr. Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, eingeführt und mit einem Zitat aus dem Spiegel vom 4. April 1956 als der „einflußreichste Beamte Deutschlands […], der verlängerte Arm des Bundeskanzlers“16 bezeichnet. Ein Ausschnitt aus der Radioübertragung der Eröffnung der Kölner Synagoge durch Konrad Adenauer 1959 wird mit einer Reihe westdeutscher Städtenamen kontrastiert, in denen antisemitische Vorfälle zu verzeichnen sind, und Adenauer als Verteidiger Globkes enttarnt. Im gleichen Duktus führt der Sprecher nun in die fiktive Handlung ein: Der aus Kanada nach Deutschland zurückgekehrte Jude Chaim Kuflik wird in einem Frankfurter Lokal Zeuge der Verherrlichung Adolf Hitlers. Die fiktive Episode wird szenisch gestaltet. Unkommentiert wird ihr der gleiche Grad an Authentizität verliehen, wie er durch die Original-Töne der historisch-politischen Ebenen erzeugt wird. Es folgen die Daten des Aufstiegs Adolf Eichmanns innerhalb des NS-Systems, Informationen über die Judenvernichtung in Konzentrationslagern und ein Nachrichtenbericht über eine Versammlung von Neonazis 1957 mit dem Kommentar des Sprechers: „Das ist der deutsche Westen von heute.“17 Hierauf werden die Hörerinnen und Hörer Zeugen des gewaltsamen Übergriffs von Neonazis auf Chaim Kuflik, der sich in die Diskussion am Nebentisch eingemischt hatte. Das Prinzip wird bis zum Ende des Stücks beibehalten: Hart aneinandergeschnitten, ohne jede Differenzierung zwischen Bericht und Kommentar, Originalton und Inszenierung, vermischen sich auditive historische Dokumente mit szenischen Darstellungen und Erzählerkommentaren, begleitet von rassistischen Soldatenliedern der Wehrmacht, schrillen Tönen und jüdisch-religiösen Gesängen. Verfolgt werden mit dieser Strategie zwei politische Ziele: zum einen die personelle wie ideologische Identität von Nationalsozialisten wie Adolf Eichmann und Mitgliedern der Bonner Regierung nachzuweisen und zum anderen auf der Seite der Opfer des Nationalsozialismus wie neonazistischer Strömungen Juden, Kommunisten und die Sowjetunion auszumachen. Die Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik18 wird am Ende der Collage als reine Fassade abgetan, wenn Chaim Kuflik seine Peiniger bei der zu Hilfe gerufenen Polizei anzeigen will: Der Polizist selbst verweigert die Verfolgung der Täter und _____________ 16 17 18

Dannenberg: Der Schoß ist fruchtbar noch, S. 7. Dannenberg: Der Schoß ist fruchtbar noch, S. 15. Bereits zu Beginn des Hörspiels ist von der „Fassade dieses Rechtsstaats“ die Rede. Dannenberg: Der Schoß ist fruchtbar noch, S. 8.

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misshandelt das Opfer erneut körperlich. Der Kommentar des Sprechers hierzu: „Es brechen zusammen: Chaim Kuflik und … eine Illusion.“19 Ein expliziteres Beispiel für Propaganda im Hörspiel der DDR – die ‚Funkdokumentation‘ wurde in der Hörspielabteilung unter der Leitung des Chefdramaturgen Gerhard Rentzsch produziert – lässt sich kaum ausmachen. Da die fiktive Handlung weit hinter das präsentierte dokumentarische Material zurücktritt, kann von einem Hörspiel keine Rede mehr sein. Statt dessen liegt hier eine Vermischung der Genres vor, die eine Instrumentalisierung nicht nur der Historie, sondern auch der radiophonen Zeichen auf die Spitze treibt. Die Geschwindigkeit, in der unterschiedlichste Materialien aneinandergesetzt werden und eine Art akustischen Sog entfalten, macht es dem Publikum unmöglich, eine Distanz zum Gehörten zu entwickeln und sich selbst ein Urteil zu bilden. Statt dessen präsentiert der Sprecher Erkenntnisse und Schlussfolgerungen aus der Handlung gleich mit. Die achte Trübsal wurde ebenfalls 1960 vom Deutschlandsender ausgestrahlt. Der Autor Manfred Bieler (1934–2002) lebte in Ost-Berlin und verfasste neben zahlreichen Hörspielen für den Rundfunk der DDR die Romanvorlage für den DEFA-Spielfilm Das Kaninchen bin ich, der 1965 in der DDR verboten wurde. Im selben Jahr verließ Bieler die DDR und gelangte über Prag und Wien 1968 in die Bundesrepublik, wo er weiterhin Hörspiele, aber auch Romane und Erzählungen verfasste.20 In seinen Hörspielen gestaltete er sowohl historische Themen als auch zwischenmenschliche Probleme in der gegenwärtigen DDR. Die achte Trübsal verquickt beide Topoi miteinander: Johannes Liebermann, als Jude 1938 in die USA emigriert, kehrt nach Deutschland zurück, um nach seiner einstigen Geliebten Edith und dem gemeinsamen Sohn Ralf zu suchen. Er muss feststellen, dass Edith bereits 1940 Eduard Fritzlaff geheiratet hat, der Ralf adoptierte. Ohne sich zu erkennen zu geben, wird Liebermann Zeuge der bundesdeutschen Verhältnisse, die von Karrieredenken und zwischenmenschlicher Entfremdung bestimmt werden. Fritzlaff fördert „als Vertreter der Industrie im Kuratorium für Zeitgeschichte“ ausschließlich genehme Wissenschaftler und wendet sich gegen die Berufung des Dozenten Feininger, der bereits 1934 unter das Berufsverbot fiel und sich nun um die Aufarbeitung der NS-Zeit bemüht. In diesem Klima ist Ralf, wie Liebermann feststellen muss, „zu einem oberflächlichen, gleichgültigen Menschen“ herangewachsen. Erst die Begegnung mit Liebermann und Feininger bewegt den noch jungen und formbaren Menschen zum Umdenken. _____________ 19 20

Dannenberg: Der Schoß ist fruchtbar noch, S. 29. Vgl. Art. „Manfred Bieler“. In: Der Literatur Brockhaus. 8 Bde. Hg. v. Werner Habicht u. a. Bd. 1. Mannheim u. a. 1995, S. 361.

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Mussten in Der Schoß ist fruchtbar noch und Die achte Trübsal die Opfer bei ihrer Rückkehr nach Westdeutschland erfahren, dass sich im Grunde seit dem Ende des Krieges nicht viel geändert hat, so ist es in KarlHeinrich Bonns Hörspiel Nächtlicher Besuch21 (1961) allein die vermeintliche Rückkehr eines ehemals vertriebenen jüdischen Nachbarn, der zwei Familien in Westdeutschland mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und ihre Bemühungen, Schuld und Verantwortung zu leugnen, offenbart. Das persönliche schlechte Gewissen – immerhin hat man damals direkt von der Judenverfolgung profitiert – soll allein durch finanzielle Entschädigungen des Unrechts beruhigt werden. Lothar Kleine lässt in Die zweite Nacht22 den Maler Braudow, einen Widerstandskämpfer des Warschauer Ghettos, in München auf den ehemaligen Wehrmachtssoldaten und jetzigen Polizeirat Werner Falk und dessen Frau Anna treffen. Die Begegnung mit Braudow erinnert Anna an ihre verdrängten Erlebnisse im Warschauer Ghetto und lässt sie endlich die Kraft finden, sich aus ihrer unglücklichen Ehe zu befreien. Während Falk uneinsichtig und unbehelligt in der Bundesrepublik lebt, wird Braudow wegen der Erschießung zweier SS-Angehöriger verhaftet und somit erneut zum Opfer. Frau Falk jedoch hat auch politisch Einsichten gewonnen und entschließt sich, Braudow vor Gericht zu entlasten. Das Motiv unzulänglicher Jurisprudenz in der Bundesrepublik findet sich auch in Günter de Bruyns Aussage unter Eid (Erstsendung am 2.11.1964). Ausgerechnet der kleine Gemeindeangestellte Horst Malzmann soll in einem Prozess gegen die inzwischen wieder zu Macht und Ansehen gelangten Kriegsverbrecher des Konzentrationslagers Eichhof bei Ludowice aussagen. Er war zur damaligen Zeit in der Schreibstube in Eichhof beschäftigt, ließ sich jedoch an die Front versetzen, weil er an der Judenvernichtung in keiner Weise mitwirken wollte. Heute soll er gegen die Verantwortlichen aussagen; doch hat er die Morde nicht persönlich beobachtet. Da die eigentlichen Augenzeugen einander decken und sich vor Gericht an nichts erinnern können, bezeugt Malzmann in seiner Aussage jene Verbrechen, die der Angeklagte – wie alle wissen – tatsächlich auch begangen hat. Während den ehemaligen Nazi nur ein mildes Urteil trifft, verbüßt Malzmann wegen Meineids eine mehrjährige Freiheitsstrafe. In dieser Reihe von Gerichtshörspielen, die Peter Weiss’ dokumentarisches Hörspiel Die Ermittlung 1965 als Höhepunkt beschließt, wird die _____________ 21 22

Karl-Heinrich Bonn: Nächtlicher Besuch; Erstsendung am 19.6.1961 im Deutschlandsender unter der Regie von Helmut Hellstorff. Der Tonträger findet sich im DRA Potsdam unter der Signatur 3000429000. Lothar Kleine: Die zweite Nacht; Erstsendung am 5.11.1962 im Deutschlandsender unter der Regie von Edgar Kaufmann. Der Tonträger findet sich im DRA Potsdam unter der Signatur 3000489X00.

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Frage der Verantwortung für nationalsozialistische Verbrechen allein an das westliche Deutschland gerichtet, das in der Tradition von Militarismus, Antisemitismus und Rechtlosigkeit gesehen wird. Eng an die herrschende Faschismusdefinition angelehnt, wird ein ursächlicher Zusammenhang unterstellt zwischen der kapitalistischen Gesellschaftsstruktur und faschistischen Tendenzen. Aus diesem Grund ist das Herausarbeiten der früher wie gegenwärtig machtvollen Verbindung von Persönlichkeiten der Wirtschaft, der Politik und der Justiz in jedem der Hörspiele so zentral. Wenn sich die Sendungen mit der Ausstrahlung im Deutschlandsender vor allem an das westdeutsche Publikum richteten, diente der Verweis auf die Judenvernichtung und die gegenwärtigen Verhältnisse in der Bundesrepublik letztendlich der Mobilisierung eines vermeintlich revolutionären Potentials. Die westdeutschen Hörer sollten animiert werden, sich gegen das herrschende System aufzulehnen und so einer Wiedervereinigung Deutschlands unter sozialistischem Vorzeichen den Weg ebnen. Um die DDR als bessere Alternative herauszustellen, musste eine Auseinandersetzung, die auch die ostdeutsche Bevölkerung in einen historischen Zusammenhang mit der Hitlerdiktatur gestellt hätte, unterbleiben. Eine Ausnahme ist schließlich zu erwähnen: Adolf Schröders Gelassen stieg die Nacht an Land, Erstsendung am 10. Juni 1965,23 sticht aus der Reihe von Produktionen des Deutschlandsenders heraus und deutet auf eine individuelle Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte voraus, wie sie in den 1970er und vor allem 1980er Jahren Thema sein wird. In einem Traumhörspiel, das besonders im westdeutschen Radio der 1950er Jahre als medienspezifisch galt,24 entwirft der Regisseur Wolfgang Schonendorf unbewusste Ängste in akustischen Bildern: In einem Alptraum wird ein namenloser westdeutscher Medizinstudent Opfer der Verführung und Einschüchterung durch alte Nationalsozialisten. Nach anfänglichem Sträuben willigt er letztendlich ein, an der erneuten Verfolgung von Juden mitzuwirken. Auch wenn die geographische Herkunft des Protagonisten wiederum auf die andere Seite der Grenze verweist, so steht hier doch eine heikle Frage erstmalig im Raum: Wie war es möglich, dass auch gebildete Angehörige einer breiten Mittelschicht innerhalb weniger Monate und Jahre zu Verbrechern werden konnten, die alle humanitären Werte hinter sich ließen und bestialisch mordeten? Die ästhetisch herausragende Inszenierung macht ausgiebigen Gebrauch von unterschiedlichsten akusti_____________ 23 24

Das Hörspiel wurde am 1. August 1965 im Radio DDR II und am 30. September 1965 im Berliner Rundfunk wiederholt. Das Manuskript findet sich im DRA Potsdam unter der Signatur B 082-00-04/0262; der Tonträger ist unter der Signatur 3000595000 archiviert. Bspw. Rainer Hannes: Erzählen und Erzähler im Hörspiel. Ein linguistischer Beschreibungsansatz. Marburg 1990, S. 64. Als wegweisende Traumhörspiele der 1950er Jahre gelten Günter Eichs Träume von 1951 und Ingeborg Bachmanns Ein Geschäft mit Träumen von 1953.

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schen Zeichen. Neben der illustrierenden Geräuschkulisse werden elektronische Klänge, Hall, Verzerrung, Überblendungen, Stille und leitmotivisches dämonisches Gelächter eingesetzt. Weit entfernt von den normativen Setzungen eines sozialistischen Realismus entsteht ein auditiver Alptraum, dessen Sogwirkung die Verführungen und Gefahren des Nationalsozialismus in beunruhigender Weise erfahrbar machen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass jene Hörspiele, die im Programm des Deutschlandsenders erstmalig ausgestrahlt wurden, Nationalsozialismus und Judenverfolgung immer aufrufen, um sie für gegenwärtige politische Auseinandersetzungen zu instrumentalisieren. Keines der Hörspiele ist auf dem Territorium der DDR oder eines anderen sozialistischen Staates wie Polen oder Ungarn angesiedelt. Alle spielen ausschließlich in bundesdeutschen Städten. In featureartigen Collagen, Traum- oder Gerichtshörspielen wird die Bundesrepublik als Nachfolgestaat Hitlerdeutschlands dargestellt, in dem Antisemitismus, Antikommunismus und korrupte Justizorgane herrschen. Eine, wenn auch zurückhaltende, Beschäftigung mit dem Thema innerhalb der jungen DDR-Gesellschaft gerät erst nach dem Machtwechsel an der Spitze der SED zu Beginn der 1970er Jahre und angesichts der Anerkennung der deutschen Teilung in den Bereich des Möglichen. 1.2. Der Holocaust im Hörspielprogramm anderer Radiosender der DDR Vom Radio der DDR I, das auf ein breites DDR-Publikum ausgerichtet war und vor allem dem Anspruch auf Unterhaltung genügen musste, wurden zwei Hörspiele osteuropäischer Autoren produziert, die die NSJudenverfolgung zum einen mit Motiven des Liebesdramas und zum anderen mit gegenwärtigen Problemen des Zusammenlebens in einer sozialistischen Dorfgemeinschaft verknüpfen. Romeo, Julia und die Finsternis25, das auf einem gleichnamigen Fernsehspiel beruhte, stammt vom tschechoslowakischen Autor Jan Otcenasek und spielt im Jahr 1942 in Prag. Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse – der Deportation der jüdischen Bevölkerung und des Attentats auf den stellvertretenden Reichsprotektor Heydrich – entwirft das Hörspiel die Geschichte des jüdischen Mädchens Esther und des tschechoslowakischen Schustersohnes Pawel, deren Liebe von den äußeren Umständen unmöglich gemacht wird. _____________ 25

Jan Otcenasek: Romeo, Julia und die Finsternis; Erstsendung am 18. Mai 1960 unter der Regie von Otto Dierichs. Der Tonträger ist archiviert im DRA Potsdam unter der Signatur 3000385X00.

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Das Hörspiel, das mit einer realistischen Geräuschkulisse unterlegt ist, verknüpft geschickt historische Ereignisse mit Elementen einer tragischen Liebesgeschichte. Hierbei wird das Radio als Nachrichtenmedium leitmotivisch eingesetzt. In das enge Versteck in der Schusterei dringen immer wieder nationalsozialistische und ‚feindliche‘ Berichte über das Kriegsgeschehen. Die jüdische Protagonistin Esther wird als naives junges Mädchen charakterisiert, das von männlichen Helfern aus menschlicher Tugend und aus Liebe geschützt wird. Bedroht ist ihr Leben nicht nur durch die Deutschen, sondern auch von Mitläufern und Denunzianten innerhalb der tschechischen Bevölkerung. Trotz aller Bemühungen Pawels, Esther vor den Nationalsozialisten zu retten, endet das Hörspiel mit dem Tod Esthers, die – um wiederum Pawel zu retten – in die Schüsse der Gestapo läuft. Der Einbruch der gesellschaftlichen Verhältnisse in das Privateste, das Liebesleben, ist in diesem Hörspiel frei von politischen Belehrungen. Die auf Einfühlung des Publikums zielende Inszenierung erweckt in erster Linie Mitleid mit dem individuellen Schicksal der beiden Liebenden, das durch die Anbindung an Shakespears Romeo und Julia in eine Tradition tragischer Liebesdramen gestellt wird. Das historische Geschehen tritt trotz deutlicher Bezugnahmen auf Daten und Fakten hinter der individuellen Geschichte zurück. Romeo und Julia und die Finsternis stellt so ein erstes Hörspiel im Radio der DDR dar, das den Nationalsozialismus als Folie für ein unterhaltendes Genre nutzt und auf dem Territorium eines später sozialistischen Staates spielt. Was für die DDR-Autoren erst in den 1980er Jahren in den Blickpunkt gerät, ist in diesem Hörspiel aus der Feder eines tschechoslowakischen Verfassers bereits in den 1960er Jahren möglich: die Auseinandersetzung mit der Beteiligung der eigenen Bevölkerung an der Judenverfolgung. Denunzianten, Kollaborateure und kollektiver Antisemitismus unterlaufen die Zuweisung von Täterschaft an die alleinige Adresse von Großkapitalisten und hohen Nationalsozialisten und offenbaren eine Vielzahl möglicher Verhaltensweisen von humanitärer Hilfe bis zur Mittäterschaft. Eine ähnliche Ausnahme bildet auch das ungarische Hörspiel Wahre Legende von György Sós, das am 16. November 1960 ebenfalls im Radio DDR I in der Regie von Theodor Popp gesendet wurde. Die Handlung spielt in der Gegenwart: Eine alte Frau, die letzte Jüdin im Dorf und einzige Überlebende des Holocaust in ihrer Familie, möchte nach ihrem Tod nach jüdischem Ritus beigesetzt werden. Nun, da sie verstorben ist, sieht sich der Vorsitzende des Dorfrates den Folgen des Krieges – ebenso wie denen der atheistischen Erziehung im sozialistischen Ungarn – gegenüber: Es ist unmöglich, einen Rabbiner zu finden, der die Bestattung überneh-

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men könnte. In heiterer Kritik wird der Konflikt des Vorsitzenden behandelt, der zwischen sozialistischem Atheismus und dem letzten Wunsch der Verstorbenen abwägen muss. Die Dorfgemeinschaft entscheidet sich für die Mitmenschlichkeit. In Anbetracht des Umstandes, dass alle 6 Kinder und 9 Enkel der Frau von den Deutschen ermordet und ohne Gebet verscharrt wurden, übernimmt der evangelische Pfarrer die Funktion des Rabbiners, verwendet das hinterlassene jüdische Gebetbuch als Grundlage für die Trauerfeier und sorgt ebenfalls dafür, dass trotz der anstehenden Ernte zehn Erwachsene zur Teilnahme an der Bestattung bereitstehen, wie es der jüdische Ritus verlangt. Wahre Legende ist eines der wenigen Hörspiele, die die Folgen des Holocaust in der sozialistischen Gegenwart thematisieren. Zumindest in Anspielungen wird deutlich, dass die von den Nationalsozialisten verübte Vernichtung des europäischen Judentums in der Religionsfeindlichkeit des neuen Systems fortgesetzt zu werden droht. Mit der alten Frau stirbt die jüdische Bevölkerung des Dorfes ebenso unwiederbringlich aus wie ihr kulturelles und religiöses Wissen. Religion und Humanismus verbinden sich auch im polnischen Funkmonolog Wunschkonzert von Stanislaw Wygodzki, der am 29.4.1965 im Rahmen der Wochen des Internationalen Hörspiels im Berliner Rundfunk ausgestrahlt wurde.26 Die titelgebende Sendung im Radio Warschau wird einem polnischen Holocaustüberlebenden namens Hercz Pynches zum Anlass für die Reflexion eigener Erinnerungen an die Zeit der Verfolgung und seine Rettung durch einen katholischen Pfarrer. Unterbrochen von Glückwünschen von Enkeln und Kindern an Großväter in der gegenwärtigen Radiosendung kommentiert der Sprecher seine Erinnerungen, die in Rückblenden inszeniert werden. Während die Jubilare und Gratulanten auf eine ungebrochene Generationenfolge zurückblicken können, erinnert sich Hercz Pynches an seine Frau, seinen Sohn und seine Tochter, die alle im KZ Treblinka umkamen. Er selbst wurde von einer polnischen Frau und einem Pfarrer an wechselnden Orten versteckt gehalten, u. a. in einem Kachelofen: „Millionen Juden sind in den Ofen gegangen, und mein Ofen hat mich gerettet“, heißt es an einer Stelle. Der Monolog des inzwischen greisen Alten richtet sich an die anderen Hörer des Wunschkonzertes und damit auch an die Hörerinnen und Hörer des Hörspiels. Der Protagonist wendet sich mehrfach direkt an sie, um zu fragen, ob sie die eben gespielte Musik kennen, um sie dann wiederum zum Anlass für eigene Erinnerungen zu nehmen. Der Überlebende wird hierbei nicht schlicht als zufälliges Opfer des NS-Systems gezeichnet, das _____________ 26

Stanislaw Wygodzki: Wunschkonzert; Regie: Wolfgang Brunecker; Erstsendung am 29.4.1965 im Berliner Rundfunk. Tonträger im DRA Potsdam unter der Signatur: 3000593X00.

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mit anderen Opfergruppen gleichgesetzt werden könnte, sondern als religiöser Jude, der seine Religion auch in der säkularen Gesellschaft des gegenwärtigen Polen auslebt, aus dem Talmud zitiert und den Hörer auf jüdische Lieder und Bräuche verweist. Wie in Schiff ohne Hafen (1955) wird das Motiv des Retters an einen Humanismus zurückgebunden, der seinen Ursprung in der christlichen Religion hat, deren Werte sich auch während des Nationalsozialismus vereinzelt behaupten konnten.27 Sieben Gespräche um Trinkgeld28 (Radio DDR II 1966) von Hans-Jörg Dost29 ist eines der wenigen Hörspiele, das eine historische Handlung ohne Anbindung an die Gegenwart präsentiert und zudem aus der Feder eines ostdeutschen Autors stammt. Während des Zweiten Weltkriegs schneidet der deutsche Friseur Wilhelm Bürg unterschiedlichen Stammkunden die Haare. Die Gespräche während der Dienstleistung kreisen um den jüngsten Skandal des Ortes: In dem nahegelegenen „Judenlager“ sind Nahrungsmittel eingeschmuggelt worden. Im Laufe der sieben Episoden wird für die Hörerinnen und Hörer deutlich, dass es der Friseur selber ist, der nach dem Verlust seiner jüdischen Ehefrau Plinsen bäckt, die er in seiner Funktion als Friseur ins Lager bringt. Finanziert werden die rettenden Lebensmittel aus dem Trinkgeld der deutschen Nationalsozialisten und Mitläufer, die als Kunden zu Bürg kommen. Auf diese Weise sorgt der Friseur für eine kleine Wiedergutmachung; denn Preis und Trinkgeld bemessen sich nach der Mitschuld des jeweiligen Kunden. Die Ausrichtung der unterschiedlichen Sendeformate lässt sich so auch anhand von Hörspielen nachweisen, die sich mit der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit beschäftigen. Während der Deutschlandsender in den 1960er Jahren im journalistischen wie im literarischen Programm vor allem die Agitation der westdeutschen Hörerschaft betreibt, kommen Radio der DDR I und II sowie der Berliner Rundfunk einem breiten ostdeutschen Publikum entgegen, das sich mit leichterer Kost und Konflikten innerhalb der eigenen Gesellschaft unterhalten wissen wollte. Hier, in der ‚inneren‘ Auseinandersetzung, ist auch eine erste Annäherung an das Thema Holocaust und Judenverfolgung im eigenen Land spürbar, wenn auch vorerst sozialistische ‚Bruderstaaten‘ die Schauplätze bilden und noch immer eine gewisse Distanz zulassen. _____________ 27 28 29

Vgl. auch das Kap. II.3 dieser Studie. Hans-Jörg Dost: Sieben Gespräche um Trinkgeld; Ursendung im Radio DDR II am 6.3.1966 unter der Regie von Fritz Göhler. Kontroll-Exemplar im DRA Potsdam unter der Signatur: B 082-00-04/0051. Hans-Jörg Dost (geb. 1941 in Leipzig), Pfarrer und Autor, schreibt Theaterstücke, Gedichte und Hörspiele. Neben Sieben Gespräche um Trinkgeld thematisiert sein Hörspiel Namyslowskis Zimmer (1975, Radio DDR II) die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland; vgl. www.hoerdat.de.

Die Hörspiele Günter de Bruyns

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Im Mittelpunkt der folgenden Einzelinterpretationen stehen zwei Gerichtshörspiele. Beide sind im Deutschlandsender ausgestrahlt worden. Während Günter de Bruyns Aussage unter Eid eines der wenigen Hörspiele der 1960er Jahre überhaupt ist, das von einem ostdeutschen Autor verfasst wurde und das als exemplarisch gelten kann für die Verschränkung einer fiktionalen Handlung mit historischen Fakten einerseits und eine Denunziation der Bundesrepublik als neofaschistischer Unrechtsstaat andererseits, stellt die Hörspielfassung von Peter Weiss’ Drama Die Ermittlung eine herausragende Produktion des DDR-Rundfunks dar, die den Opfern eine Stimme verleiht und damit eine regelrechte Flut an Hörerreaktionen auslöste.

2. Unerhörte Zeugenschaft Günter de Bruyn: „Aussage unter Eid“ 2.1. Die Hörspiele Günter de Bruyns Hörspiele gehören zu den ersten Veröffentlichungen Günter de Bruyns zu Beginn der 1960er Jahre. Der 1929 in Berlin geborene Autor hatte 1961 erste Erzählungen publiziert und 1963 den Roman Der Hohlweg veröffentlicht, in dem er seine Erfahrungen als Soldat im Zweiten Weltkrieg zu einem didaktischen Werk verarbeitete, an dessen Ende zwei Kriegskameraden unterschiedliche Wege gehen: Der eine entscheidet sich wider seine Gesinnung für eine Journalistenkarriere im Westen Deutschlands, während der andere – wie auch der Autor selbst – als Lehrer in der Sowjetischen Besatzungszone ein neues Leben beginnt. Diese ideologiegeschwängerte Kontrastierung typisierter Figuren hat den Autor selbst veranlasst, sich Jahre später von diesem Text zu distanzieren und 1974 eine ironische Abrechnung unter dem Titel Der Holzweg30 zu verfassen. Während der Roman innerhalb des Gesamtwerkes de Bruyns große Beachtung findet, bleiben seine beiden Hörspiele zumeist unerwähnt. Auch in der 1996 erschienenen Autobiographie des Autors findet sich kein Hinweis auf das offenbar zeitgleich mit dem Roman entstandene Hörspiel Aussage unter Eid, das der Deutschlandsender am 2. November 1964 ausstrahlte, oder die de Bruyn’sche Hörspielfassung der Erzählung In einer dunklen Welt von Stephan Hermlin, die am 22. Dezember 1965 im Radio DDR I gesendet wurde. Allerdings berichtet der Autor von der _____________ 30

Günter de Bruyn: „Der Holzweg“. In: ders.: Frauendienst. Erzählungen und Aufsätze. Halle, Leipzig 1986. 167-171.

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Unerhörte Zeugenschaft

Bekanntschaft mit einer Mitarbeiterin der Hörspieldramaturgie auf einem Treffen der Berliner Arbeitsgemeinschaft junger Autoren zu Beginn der 1960er Jahre, die als wechselseitige Werbung charakterisiert wird: „Sie war gegenseitig und am Ende erfolgreich. Geworben wurde ich für einige Wochen des Hörspielschreibens, während das Ergebnis meiner Werbung […] zumindest ein Leben lang währt.“31 Beide Hörspiele reflektieren die Schwierigkeiten einer Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur in der Nachkriegszeit. Während Aussage unter Eid die Versäumnisse der bundesdeutschen Justiz bei der Aburteilung von Kriegsverbrechern anprangert, verfolgt In einer dunklen Welt die Bemühungen eines ostdeutschen Schriftstellers, seinem Jugendfreund, der als kommunistischer Widerstandskämpfer im KZ Buchenwald ermordet wurde, ein literarisches Denkmal zu setzen.32 Beide Handlungen sind in westlichen Großstädten – Hannover und London – der 1960er Jahre angesiedelt und arbeiten das komplexe Zusammenspiel von Erinnerung und Vergessen im Kontext gegenwärtiger nationaler und individueller Interessen heraus. In beiden Fällen handelt es sich um Auftragsarbeiten, die der Autor zu einer Zeit verfasste, als er noch um Anerkennung als Schriftsteller rang und Möglichkeiten der Publikation nicht zuletzt aus finanziellen Gründen auch unter widrigen Umständen annahm.33 De Bruyns Rundfunkarbeit kann damit als exemplarisch angesehen werden, denn in den 1960er Jahren sind, Manfred Engelhardt, dem langjährigen Leiter der Abteilung Funkdramatik, zufolge, „[f]ast alle Originalhörspiele […] Auftragsarbeiten“, die „zur Verwirklichung sozialistischer Ideale“ in „vertrauensvolle[r] Zusammenarbeit“ zwischen Autor und Hörspielabteilung erarbeitet wurden;34 und Engelhardt fragt rhetorisch: „Bestimmen nicht doch die Institutionen – in unserem Falle die Rundfunkdramaturgien –, wie und was für Literatur gemacht wird?“35 _____________ 31 32 33

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Günter de Bruyn: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht. Frankfurt a. M. 1996, S. 115. Das Manuskript ist im DRA Potsdam unter der Signatur B 082-00-0410052 einsehbar. So schreibt er über die anstehende Veröffentlichung seiner ersten Erzählung „Wiedersehen an der Spree“, die 1960 erschien: „Ich musste mich willig und wendig zeigen, denn ich brauchte Bestätigung durch Publikation. Als die erste Erzählung, eine Kriegsgeschichte mit Gegenwartsrahmen, von der Zensurbehörde abgelehnt wurde, begann ich an Hand einer langen Liste beanstandeter Stellen mit Änderungen, denn nach entsprechender Umarbeitung hatte man eine Genehmigung in Aussicht gestellt.“ Auch über den drei Jahre später veröffentlichten Roman Der Hohlweg heißt es: „Die Verlogenheit des Buches hatte andere Gründe. Mein Ehrgeiz, gedruckt zu werden, war größer als die Verpflichtung zur eignen Wahrheit gewesen.“ de Bruyn: Vierzig Jahre, S. 95 f. u. 115 f. Manfred Engelhardt: „Leistung und Leitung in der Hörfunkdramatik“. In: Forum. Zeitschrift der demokratischen Studenten Deutschlands 17 (1964): 14–15, S. 14. Engelhardt: „Leistung und Leitung in der Hörfunkdramatik“, S. 14.

Fakt und Fiktion im Hörspiel

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Auch Aussage unter Eid36 entstand auf kuriosem Wege: Die Hörspielabteilung des Rundfunks der DDR hatte von Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) die Akte eines westdeutschen Strafprozesses erhalten, in dem Verantwortliche eines polnischen Vernichtungslagers vor Gericht standen.37 Dem hieran geknüpften Auftrag ging die Hörspielredaktion nach und entsann eine Handlungsskizze, aus der der Autor de Bruyn wiederum ein Hörspiel erarbeitete. Einige Zeit nach Produktion und Sendung verschwand die Gerichtsakte auf wundersame Weise wieder aus dem Bestand der Hörspielabteilung.38 Aussage unter Eid muss also weniger als Ergebnis der literarischen Ambitionen eines jungen Autors gelesen werden denn als Rundfunkarbeit, die klare politische Ziele verfolgte. Ein deutlicherer Zusammenhang zwischen den politischen Interessen der Staatsführung, deren herausragendes Organ das MfS zweifellos war, und auch der fiktionalen Arbeit des Rundfunks der DDR in den 1950er und 1960er Jahren lässt sich kaum ausmachen. Dieser Fall beweist eine unverhohlene Einflussnahme der Staatsorgane auf die literarische Hörspielproduktion, die für eine Agitation der Hörerschaft, auch über die Grenzen der DDR hinaus, eingesetzt wurde. 2.2. Fakt und Fiktion im Hörspiel Die Handlung spielt in einer westdeutschen Stadt, die einen eher provinziellen Charakter trägt39 und bei der es sich offenbar um Hannover handelt.40 Der Gemeindeangestellte Horst Malzmann reist mit seiner Frau aus _____________ 36

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Günter de Bruyn: Aussage unter Eid; Erstsendung im Deutschlandsender am 2. November 1964 unter der Regie von Hellmut Hellstorff. Das Manuskript findet sich im DRA Potsdam unter der Signatur B 082-00-04/0049; es wird im Folgenden direkt im Text zitiert [= Hs]. Die Druckfassung wurde veröffentlicht unter Günter de Bruyn: „Aussage unter Eid. Hörspiel“. In: Neue deutsche Literatur 13.4 (1965): 3–39; im Folgenden direkt im Text zitiert [= ndl]. Zur Rolle der Staatssicherheit bei der Aufarbeitung von nationalsozialistischen Verbrechen vgl. auch Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Göttingen 32007. Die besonderen Umstände der Entstehung des Hörspiels schilderten Rosemarie Zeplin, die Aussage unter Eid als Dramaturgin der Hörspielabteilung betreute, und Günter de Bruyn in einem Gespräch am 29. Juli 2006 in Sauen bei Beeskow (Brandenburg). An dieser Stelle danke ich beiden herzlich für die aufschlussreichen Hinweise und Erläuterungen. Der aus Düsseldorf stammende Herr Schwabe empfindet die vermeintliche Großstadt als „Kaff“. Hs 4, ndl 6. Der dem Hörspiel zugrunde gelegte Prozess fand im September und November 1963 am Schwurgericht des Landgerichts Hannover statt. Vgl. Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1966. Bd. XIX. Amsterdam 1978; lfd. Nr. 557, S. 487–557. Ich danke Ivo Vogel für die Erläuterung der juristischen Aspekte der Interpretation und die entsprechenden Literaturhinweise.

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Unerhörte Zeugenschaft

einem holsteinischen Dorf an, um als Zeuge in einem Prozess gegen Kriegsverbrecher auszusagen. Nachdem ein leitender Gestapo-Beamter namens Wilke im Laufe des Verfahrens bereits zu lebenslanger Haft verurteilt worden ist, steht nun der ehemalige Oberbürgermeister des polnischen Lodowice, Dr. Runge, als Angeklagter vor Gericht.41 Allerdings erweist es sich als schwierig, den einstigen Gestapo-Leiter und Oberbürgermeister für die Liquidierung des Lodowicer Ghettos und die Ermordung von 70.000 Juden im nahegelegenen Vernichtungslager Eichhof zur Verantwortung zu ziehen: „der hat ja keinen eigenhändig umgebracht, dem soll mal einer beweisen, daß er ein Mörder ist“ (Hs 3, ndl 6). Eine ganze Reihe von Zeugen, ausschließlich Mittäter, die bereits kurze Haftstrafen verbüßt haben, treten auf, um sich – entgegen früheren Aussagen – beim besten Willen nicht erinnern zu können, wie die Dinge damals vor sich gingen und welche Rolle Runge hierbei spielte. Schauplätze des Hörspiels sind der Gerichtssaal, in dem die zermürbenden, aber ergebnislosen Zeugenvernehmungen stattfinden, und das Hotel, in dem neben Malzmann und seiner Frau auch die anderen Zeugen des Verfahrens untergebracht sind. Die Aussagen vor Gericht werden ergänzt durch Szenen, die das männerbündnerische Treiben der Zeugen in der Hotelbar vorführen. Hier leben in nostalgischer Verzerrung und unter großen Mengen Alkohol die guten alten Zeiten des Krieges auf; und es stellt sich heraus, dass die Zeugen ihre fehlenden Erinnerungen wiedererlangen, sobald sie das Gerichtsgebäude verlassen haben. Malzmann selbst, als moralisch integrer Kleinbürger charakterisiert, der sich nur widerwillig in die selbstgefällige Gemeinschaft ehemaliger Kriegskameraden fügt, ist ebenfalls nicht in der Lage, gegen Runge auszusagen. Er hatte sich nach einem Besuch im Vernichtungslager, bei dem er sich die Augen mit einem Desinfektionsmittel verätzte, sofort ins Lazarett und später weiter an die Front versetzen lassen, um nicht an den Massakern mitwirken zu müssen. Fakten über die Rolle Dr. Runges bei der Liquidierung des Ghettos kennt er nur aus zweiter Hand. Innerhalb des Verfahrens dient seine persönliche Haltung lediglich als Beispiel für die Möglichkeit, sich dem Befehl zur Tötung jüdischer Zivilisten zu entziehen. War Malzmann bereits während des Krieges ein Außenseiter, der sich aus moralischen Gründen von der Gruppe entfernte, so verbleibt er auch nach Ende des Krieges in dieser Position. Ihm ist es trotz der Bemühungen seiner Frau, die sich von den neuen Kontakten zu alten Kameraden – allen voran die zum Fleischkonservenfabrikanten Karl Schwabe – ein _____________ 41

Der Mitangeklagte namens Wilke wurde bereits „des vielfachen Mordes und der tausendfachen Beihilfe zum Mord“ überführt (Hs 7, ndl 10).

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Leben im Wohlstand der Großstadt erträumt, nicht möglich, sich der Gruppe einzupassen: FRAU MALZMANN: […] Mein Mann ist nicht so, wie er auf den ersten Blick erscheint. Er ist klug. […] Und er ist gut, zu gut. Alles was er bisher versucht hat, ist daran gescheitert. Er kann nicht kriechen, kann nicht lügen, kann sich nicht selbst ins rechte Licht setzen. Etwas zu eignem Vorteil zu tun, verursacht ihm schlechtes Gewissen. (Hs 20, ndl 24)

Motiviert durch sein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden und das Bedürfnis, dem ehemaligen Kameraden und potentiellen Arbeitgeber Schwabe zu imponieren, lässt sich Horst Malzmann dazu hinreißen, erneut vor Gericht aufzutreten und gegen Runge auszusagen mit Behauptungen, die zwar der Wahrheit entsprechen, aber von ihm selbst nicht als Augenzeuge beobachtet werden konnten. Letztendlich bringt er ein sinnloses Opfer, denn während er selbst wegen Meineids eine mehrjährige Freiheitsstrafe verbüßen wird, kommt der Angeklagte Runge mit nur wenigen Jahren Haft davon und wird das Gefängnis noch vor Malzmann verlassen. 2.2.1. Der Prozess um das Vernichtungslager Kulmhof als historische Referenz Anhand der Hinweise des Autors, bei dem der Hörspielabteilung zugespielten Material handle es sich um Akten eines Strafprozesses um das KZ Kulmhof – der im Hörspiel verwendete Name Eichhof spielt darauf an –, lässt sich schlussfolgern, dass der im September und November 1963 in Hannover stattgefundene Prozess gegen Günter Fuchs und Dr. Otto Bradfisch als Vorlage diente.42 Wie Wilke im Hörspiel ist Fuchs, der als Kriminalkommissar und Leiter des Referats II B in áódŭ für „Judenangelegenheiten“ zuständig war, zu lebenslanger Haft verurteilt worden.43 Während seine Verbrechen im historischen Verfahren im Zentrum stehen, konzentriert sich das Hörspiel auf die schwierige Wahrheitsfindung im Fall Dr. Runge, dessen Figur starke Parallelen zum Angeklagten Dr. Bradfisch aufweist: Beide waren von 1942 bis 1945 in ihrer Funktion als Leiter der Gestapo und zeitweise auch Oberbürgermeister an Vernichtungsaktionen der Nationalsozialisten beteiligt, wobei es sich bei Bradfisch um die polnische Stadt áódŭ (von den Nazis während der Besatzung in Litzmannstadt umbenannt) handelt,44 das im Hörspiel den fiktiven Namen _____________ 42 43 44

Zwei weitere Prozesse um Straftaten im KZ Kulmhof fanden 1963–1965 in Bonn und 1965 in Kiel statt. Vgl. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XXI u. XXII; lfd. Nr. 594 u. 603. Vgl. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 492; im Hörspiel Hs 3, ndl 6. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 487–557, S. 491.

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Lodowice trägt. Darüber hinaus wird über Bradfisch wie Runge gesagt, sie seien nach dem Krieg mit gefälschter Identität als Wehrmachtssoldat Karl Evers – im Hörspiel „Karl Ehlers“ – für kurze Zeit in amerikanische Gefangenschaft geraten.45 Im Gegensatz zu den Figurennamen der Angeklagten bleibt der Name des Gauleiters im sogenannten Wartheland auch im Hörspiel unverändert und entspricht dem der historischen Person: Arthur Greiser wurde bereits 1946 in Polen hingerichtet.46 Die geschichtlichen Bezüge des Hörspiels lassen sich folgendermaßen rekonstruieren: Im Ghetto áódŭ waren zum Amtsantritt Bradfischs ca. 100.000 jüdische Bewohner unter unmenschlichen Bedingungen zusammengefasst.47 Von Januar 1942 bis zum Frühjahr 1943 deportierte man sie aus áódŭ in das eigens eingerichtete Lager Kulmhof (polnisch: Chelmno), das das erste NS-Vernichtungslager überhaupt darstellte.48 55 Kilometer nordwestlich von áódŭ gelegen, bestand es vornehmlich aus dem sogenannten „Schloss“, in dem einerseits das Gestapo- und SS-Personal untergebracht war und andererseits die zum Tode bestimmten Juden in der Hoffnung auf ein Bad ihre Kleidung ablegten, statt dessen aber auf LKWs verladen wurden, um dann durch umgeleitete Auspuffgase getötet zu werden. Darüber hinaus bestand in vier Kilometern Entfernung das sogenannte „Waldlager“, das als Massengrab diente. Die Ermordungen wurden von einem „Sonderkommando Kulmhof“ vorgenommen, das sich aus Gestapo-Angehörigen aus áódŭ und Posen rekrutierte und von Angehörigen der Schutzpolizei áódŭ unterstützt wurde, die vor allem Wachfunktionen übernahmen.49 Darüber hinaus waren Arbeitskommandos im Einsatz, in denen jüdische Häftlinge zu Reinigungs- und Sortiertätigkeiten gezwungen wurden, die im Zusammenhang mit den Tötungen standen. Die Transporte aus dem Ghetto áódŭ trafen von Januar bis Mai 1942 regelmäßig in Kulmhof ein und brachten mindestens 55.000 Menschen in das Vernichtungslager. Im September 1942 wurden weitere 20.000 Menschen, vor allem Alte, Kranke und Kinder, aus dem Ghetto áódŭ nach Kulmhof deportiert und dort ebenfalls ermordet. Da die jüdische Selbstverwaltung im áódŭer Ghetto inzwischen von der Vernichtung der Deportierten erfahren hatte, weigerte sie sich, die Transporte weiterhin zusammenzustellen, woraufhin auf Anweisung Bradfischs _____________ 45 46 47 48 49

Vgl. für Bradfisch Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 493; für Runge Hs 7, ndl 10. Vgl. Raul Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust. Berlin 1982, S. 282 u. 364. Justiz und NS-Verbrechen; lfd. Nr. 557, S. 493 u. 498. Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden, S. 339. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 499.

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und unter der Leitung von Günter Fuchs die Krankenhäuser des Ghettos brutal geräumt wurden.50 Nach Einstellung der Massentötungen in Kulmhof wurde das Lager Ende März 1943 aufgelöst, und man versuchte, durch Sprengung des Gebäudekomplexes und des Verbrennungsofens die Spuren der Verbrechen zu verwischen. Im Juni 1944 wurde das Lager erneut in Betrieb genommen und diente bis zur Ankunft der Roten Armee im Januar 1945 ein weiteres Mal als Ort des Massenmordes.51 Im Hörspiel werden die historischen Fakten insofern aufgerufen, als die Tötungen der Juden aus dem Lodowicer (áódŭer) Ghetto in den Jahren 1942 bis 1943 im Mittelpunkt stehen. Neben der Rekonstruktion der Räumung des Ghettos und der Schilderung des Tötungsprozesses in den sogenannten Gaswagen stellt ein Kameradschaftsabend anlässlich der Auflösung des Lagers im März 1943 einen deutlichen Bezug zu den historischen Geschehnissen und dem Strafprozess in Hannover her. Die Anwesenheit des Angeklagten Dr. Runge an dieser Feier wird wie im realen Prozess gegen Dr. Bradfisch als deutliches Indiz für seine Kenntnis der Massenvernichtung in Kulmhof gewertet.52 Auch die Figur des Zeugen Horst Malzmann ist eng an das Verfahren gegen Fuchs und Bradfisch angelehnt, in dem ein Zeuge auftritt, der in der Dokumentation mit dem Kürzel „Maa.“ bezeichnet wird. Ob es sich hierbei tatsächlich um eine Abkürzung des Namens Malzmann handelt oder der Name eine Erfindung des Autors auf Grundlage der Akten ist, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Offensichtlich jedoch sind die Entsprechungen von Figur und Zeugen: Wie Malzmann war der Zeuge Maa. nach Kulmhof abgeordnet worden. Er hatte den Vernichtungsvorgang im einzelnen mit angesehen. Als er einige Tage nach seiner Ankunft anlässlich einer Desinfizierung einen Spritzer ins Auge bekam, meldete er sich dienstunfähig, wurde nach Litzmannstadt zurückkommandiert und durch einen anderen Schutzpolizeioffizier ersetzt.53

Malzmann im Hörspiel scheint die Verletzung des Auges durch das Desinfektionsmittel Lysol stark übertrieben zu haben in der Absicht, aus Eichhof zurück nach Lodowice zu gelangen. Entsprechend lässt er sich nach der Genesung an die Front versetzen, um nicht noch einmal nach Eichhof zu müssen (Hs 6). Hier also unterscheiden sich Figur und Vorlage. Im Gegensatz zu Malzmann war der Zeuge Maa. nicht nur ein einfacher Polizeibeamter, sondern Hauptmann der Schutzpolizei und Führer des etwa 80 Mann _____________ 50 51 52 53

Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 501–504. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XXI; lfd. Nr. 594, S. 233 f. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 513. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 499.

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starken Bewachungskommandos in Kulmhof.54 Seine Rolle als Zeuge erschöpft sich in Beobachtungen der Tötungen und dem Bericht an seine Vorgesetzten. Von einer Verweigerungshaltung ist ebenso wenig die Rede wie von einer späteren Verurteilung wegen Meineids, zumal Maa. als einer von vielen Zeugen auftritt, ohne eine ausgesprochen belastende Aussage zu machen. Bezüglich des Kameradschaftsabends wird Maa. gar nicht als Zeuge benannt.55 Das Hörspiel lehnt sich an den realen Prozess an, erweitert jedoch die Handlung und formt die Figuren stark. Es handelt sich demnach nicht um ein Gerichtshörspiel in der Tradition der dokumentarischen Literatur – wie z.B. Die Ermittlung von Peter Weiss oder Bruder Eichmann von Heinar Kipphardt –, sondern um ein semifiktionales Hörspiel, das zwar klare Bezüge zu historischen Fakten herstellt, diese aber gleichzeitig in wesentlichen Punkten abwandelt und ergänzt. Hierfür spricht auch die Namensänderung der Figuren. Die Entscheidung für eine fiktionale Handlung mit scheinbar erfundenen Figuren ermöglichte es Autor und Hörspielabteilung, den Stoff frei zu bearbeiten, einige Aspekte zu vernachlässigen, andere zu betonen, neue einzufügen – um letztendlich Fakt und Fiktion die gleiche Authentizität zu verleihen. Diese Methode entsprach durchaus dem Geist einer Zeit, in der die Hörspielabteilung Produktionen favorisierte, die nicht länger zum didaktisch-agitatorischen, sondern eher zum dokumentarischen Stil tendierten.56 Die Autoren entwickelten auf der Grundlage von Fakten fiktionale Handlungen, die durch ihren nachweislichen Realitätsbezug und eine Ästhetik des Berichts „Authentizität (der realen ‚Geschehnisse der Vergangenheit‘) bzw. Repräsentativität (der fiktiven Gegenwartshandlung)“57 beanspruchten. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie historische Fakten und fiktionale Handlung in Aussage unter Eid ineinandergreifen, um ideologische Anschauungen, die sich in der Bereitstellung des Materials durch die Staatssicherheit der DDR bereits andeuten, zu illustrieren.

_____________ 54 55 56 57

Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 493 sowie ebd. Bd. XXI; lfd. Nr. 594, S. 230. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 513. Sibylle Bolik bezeichnet diesen Prozess als charakteristisch für das DDR-Hörspiel der ausgehenden 1950er und 1960er Jahre und führt beispielhaft Günther Rückers Bericht Nr. 1 von 1958 an. Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 135 f. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 136.

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2.2.2. Die Bundesrepublik als bürgerlicher (Un-)Rechtsstaat Aus hörspieldramaturgischer Sicht ermöglichen es die im Gerichtssaal spielenden Szenen auf ein Setting zurückzugreifen, das als allgemein bekannt vorausgesetzt werden darf. Die akustische Repräsentation erfordert keine weitergehenden Anhaltspunkte für eine optische Ausgestaltung. Die durch die Gerichtssituation vorgegebene Struktur der Vernehmung lässt den szenischen Dialog besonders organisch erscheinen und verspricht durch die dokumentarische Anbindung an historische Verfahren eine besondere Authentizität. Doch auch inhaltlich bietet sich das Genre des Gerichtshörspiels für die akustische Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit an, denn die Frage der Schuld und die Möglichkeit einer Sühne stehen in diesem Rahmen automatisch im Mittelpunkt. Im Laufe des Strafprozesses gilt es, die historische Wahrheit möglichst weitgehend zu rekonstruieren, um anhand objektiver Beweise eine Schuldzuweisung vorzunehmen. In einem zweiten Schritt muss dann ein angemessenes Strafmaß gefunden werden, das der schwere des Verbrechens und der persönlichen Verantwortung des Angeklagten angemessen ist. Schwierigkeiten, die auch die historischen Prozesse kennzeichneten, spiegeln sich im Hörspiel Aussage unter Eid wider. Dabei handelt es sich zum einen um den Nachweis einer individuellen Schuld innerhalb des nationalsozialistischen Systems, das den Genozid an der jüdischen Bevölkerung in perfidester Weise optimiert hatte: Indem ein ganzer Staat mit seinen Beamten, Parteifunktionären, Wehrmachtssoldaten, SS-Angehörigen und Polizeieinheiten daran beteiligt war, lag es für den einzelnen nahe, sich als ein Rad im komplizierten Getriebe zu betrachten und statt einer persönlichen Schuld von einem Automatismus der Vernichtung auszugehen. Denn wenn Hannah Arendt die Besonderheit des Holocaust – der zweckfreien Tötung außerhalb jeder moralischen Norm – auch in seiner industriellen Umsetzung sah, so erstreckte sich diese nicht nur auf die technische Tötungsmaschinerie, sondern auch auf eine bürokratische: Zumindest im Rückblick betrachteten sich die Täter als Teil eines vermeintlich automatischen Prozesses, den sie mit ihrer individuellen Haltung wenig beeinflussen konnten.58 Dieser Argumentation folgte dann eine Verteidigung, die die Verantwortung des Täters auf die Rolle des Befehlsempfängers beschränkte, der eine Weigerung mit dem eigenen Leben hätte bezahlen müssen. Auf die Spitze getrieben, verweist die Frage nach der Schuld schlussendlich allein auf Adolf Hitler, der als allmächtiger Dik_____________ 58

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 142005, S. 401; vgl. auch Kap. IV.3. dieser Arbeit.

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tator seinen Willen gegenüber einer ohnmächtigen Menschenmenge, die sich als deutsches Volk betrachtete, durchsetzte. Die Strategien der Verteidigung richteten sich also darauf, eine individuelle Schuld ihrer Mandanten zu leugnen und diese im Extremfall selbst als Opfer des NSSystems darzustellen. Eine weitere Schwierigkeit der Verurteilung von NS-Verbrechern bestand in der Tatsache, dass gerade jene Prozesse, die sich mit dem Holocaust beschäftigten, erst in den 1960er Jahren geführt wurden. Die Nürnberger Prozesse nach Kriegsende dagegen konzentrierten sich auf die sogenannten Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wobei das besondere Schicksal der Juden nur am Rande angesprochen wurde.59 Mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem zu Beginn der 1960er Jahre und den sogenannten ‚Auschwitz-Prozessen‘ Mitte des Jahrzehnts in Frankfurt a. M. rückte der große zeitliche Abstand in den Vordergrund, der die Angeklagten, die sich in den dazwischen liegenden Jahren des Wirtschaftswunders eine neue bürgerliche Existenz aufgebaut hatten, von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit trennte. Die Diskussion um eine Verjährung der damaligen Verbrechen resultierte ebenso aus dieser Tatsache wie das eingeschränkte Erinnerungsvermögen von Angeklagten und Zeugen. Diese Charakteristika reflektiert auch das Hörspiel Aussage unter Eid, allerdings zieht es hierbei allein die juristische Auseinandersetzung im Westen Deutschlands in Betracht. In der Dokumentation des historischen Strafprozesses gegen Fuchs und Bradfisch ist immer wieder die Rede von der schwierigen Beweisführung angesichts der geladenen Zeugen. Diese sind entweder als Überlebende schwer traumatisiert oder als Täter selbst von gerichtlichen Schritten bedroht. So heißt es in den Prozessakten: Bei der Beweisaufnahme und der Würdigung der Zeugenaussagen ergaben sich allgemein dadurch Schwierigkeiten, dass die Vorgänge teilweise über 20 Jahre zurückliegen und das Gericht in jedem einzelnen Falle die Möglichkeit eines Nachlassens des Erinnerungsvermögens der Zeugen zu berücksichtigen hatte. Von den deutschen Zeugen waren einige selbst an den Vorgängen in Kulmhof beteiligt, während eine grosse Anzahl der Gestapo, der Schupo oder der Gettoverwaltung in Lodz angehörte. Gegen einen Teil von ihnen sind Strafverfahren oder Ermittlungsverfahren wegen der damaligen Vorgänge anhängig. Andere haben die Einleitung solcher Verfahren noch zu befürchten. Deswegen legten sich diese Zeugen oft eine sichtbare Zurückhaltung auf, die die Aufklärung der damaligen Vorgänge erschwerte. Bei den jüdischen Zeugen, die früher im Getto Lodz waren, war nicht zu verkennen, dass sie damals ein sehr schweres persönliches Schicksal erlitten ha-

_____________ 59

Lawrence Douglas: „Der Film als Zeuge. Nazi Concentration Camps vor dem Nürnberger Gerichtshof“. In: „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah. Hg. v. Ulrich Baer. Frankfurt a. M. 2000. 197–235, S. 214 f.

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ben. Die meisten haben darüber hinaus nahe Angehörige in Kulmhof oder anschliessend in Auschwitz, manche haben nahezu ihre gesamte Familie verloren. Demgemäss hat das Gericht jeweils sorgfältig geprüft, ob diese Umstände einen Einfluss auf die Aussagen dieser Zeugen gewonnen haben könnten.60

Während aber die Aussagen von Opfern im Hannoveraner Prozess für die Verurteilung der Angeklagten zentral waren61 und viel schwerer wogen als die der deutschen Zeugen, bleiben sie im Hörspiel gänzlich ausgespart. Auf diese Weise wird der Eindruck erweckt, das Gericht einschließlich der Staatsanwaltschaft wäre an einer Verurteilung des Angeklagten nur mäßig interessiert und hätte aus diesem Grund allein Zeugen geladen, von denen kaum eine belastende Aussage zu erwarten war. Diese Vermutung bestätigt sich im Laufe des Hörspiels, denn das Unvermögen, vor allem aber der Unwille der z. T. bereits rechtskräftig verurteilten Täter, sich zu erinnern, bestimmt in weiten Teilen die Szenen vor Gericht: STAATSANWALT: […] Ich habe hier die Antworten der letzten Zeugen notiert: Zeuge Müller: „Bei den Abwehrkämpfen an der Oder habe ich einen Kopfschuß bekommen. An alles davor erinnere ich mich kaum noch.“ Zeuge Höpfner: „Offiziere waren viele in Brück. Ob Runge dabei war, weiß ich nicht genau.“ Zeuge Siebner: „Es wurden Reden gehalten, von wem weiß ich nicht mehr.“ Zeuge Pfeiffer: „Mich hat damals nur der Sekt interessiert. Auf alles andere habe ich nicht geachtet.“ Hier ist offensichtlich etwas anderes als Vergeßlichkeit im Spiel. Ich glaube kaum, dass wir so zu einer Wahrheitsfindung kommen. (Hs 17, ndl 21)

Die Frage, der die Zeugen an dieser Stelle auszuweichen versuchen, betrifft jenen Kameradschaftsabend in Brück – im Namen klingt der historische Ort Warthbrücken in der Nähe von Kulmhof an –, auf dem die Auflösung des Lagers nach der Tötung von zehntausenden Menschen gefeiert wurde. Während der historische Angeklagte Bradfisch vor dem Schwurgericht Hannover eingesteht, gemeinsam mit dem Gauleiter Greiser an diesem Abend anwesend gewesen zu sein, den Grund für die Feier jedoch nicht gekannt zu haben,62 bestreitet die Hörspielfigur Runge die Beteiligung grundsätzlich, während sich die oben genannten Zeugen nicht erinnern wollen. Im Hörspiel ist allein der ungelernte Arbeiter Gustav Herwich aus Berlin-Charlottenburg fest entschlossen, Runges Anwesenheit auf dem Fest, das der Räumung des Lagers Eichhof folgte, zu bezeugen. Er selbst hat bereits fünf Jahre Freiheitsstrafe für eigene Verbrechen verbüßt. Als _____________ 60 61

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Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 487–557, S. 504. Die Urteilsbegründung des Landgerichts Hannover stützt sich auf Zeugenaussagen Überlebender (Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 487–557). Darüber hinaus verweist der Bundesgerichtshof, der über die Revision der Angeklagten zu befinden hatte, in seiner Entscheidung auf „zahlreiche ausländische Zeugen aus Israel, den USA und Kanada“, die für den Prozess in erster Instanz geladen wurden (ebd., S. 556). Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 487–557, S. 507.

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Runge sich auf Herwichs Anschuldigungen hin äußern soll, ist der Angeklagte aus gesundheitlichen Gründen hierzu nicht mehr in der Lage. Die Verhandlung muss vertagt werden. In der folgenden Sitzung versucht der Verteidiger, dem Zeugen die Worte im Munde umzudrehen. Auf dessen Verunsicherung hin unterstreicht der vorsitzende Richter seine Pflicht zur wahren Aussage mit dem Verweis auf einen Meineid, der mit Zuchthaus bestraft würde. Nun hat das Gericht auch den letzten Belastungszeugen verschreckt, denn das Vertrauen Herwichs in den Rechtsstaat ist – offenbar nicht unbegründet – bereits schwer erschüttert: HERWICH: […] Da sage ich doch kein Wort mehr! […] Wir Kleinen waren im Krieg die Dummen und jetzt sind wir’s wieder. Fünf Jahre hab ich abgebrummt, mit Recht, dachte ich, bis ich merkte, daß die Oberen viel weniger oder gar nichts abkriegten. (Hs 22; ndl 25 f.)

Diese Aussage Herwichs wird sich im Laufe der Handlung vor den Ohren der Radiohörer noch einmal bestätigen. Ein anderer ‚kleiner Mann‘ – der Protagonist Horst Malzmann – wird sich zum Helden aufschwingen und Aussagen machen, die zwar der Wahrheit entsprechen, aber von ihm aufgrund seiner nachweislichen Abwesenheit unmöglich beobachtet worden sein können. Angestachelt von seiner Frau, die sich vom bestimmten Auftreten ihres Mannes vor Gericht eine bessere Stellung für ihn und damit einen Umzug der ganzen Familie in die Großstadt erhofft, leistet er einen Meineid, für den er mit mehreren Jahren Gefängnis bestraft wird. Den erhofften Posten im Fleischkonservenhandel seines einstigen Kameraden Schwabe erhält er nun ebenfalls nicht, denn „manche Leute“, die für Schwabe „nicht unbedeutend sind“, werden Malzmann seine Aussage „übel nehmen“ (Hs 29).63 An dieser Stelle zeigt sich, dass die Inszenierung des Hörspiels darauf abzielt, die Parteilichkeit des Gerichts, die die Verhandlung unterschwellig begleitet, auf die bundesrepublikanische Gesellschaft an sich auszuweiten. Als Gründe werden ungebrochen fortbestehende Machtverhältnisse benannt, die von finanziellen Interessen bestimmt sind, gleichzeitig aber auch ideologische Blüten treiben, indem sie nationalistisches Gedankengut aufgreifen und als aktuelle politische Einstellung präsentieren. Die OstWest-Auseinandersetzung bleibt hierbei natürlich nicht ausgespart: STAATSANWALT: Ich protestiere gegen diese Art der Befragung. Jedem Entlastungszeugen wird geglaubt, jede angebliche Vergesslichkeit akzeptiert, aber wehe dem, der Belastendes weiß und es ausspricht! […] Wollen wir nicht, anstatt mutige Zeugen einzuschüchtern, den Angeklagten Dr. Runge fragen, was er zu der Aussage meint? […] RUNGE: Hohes Gericht. Ich glaube nicht, dass diese passive

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Die Druckfassung zeichnet Schwabe an dieser Stelle einfühlsamer. Hier heißt es lediglich: „Aber es wird schon alles gut gehen, die Hoffnung darf man nie aufgeben.“ (ndl 34)

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Art der Vergangenheitsbewältigung der deutschen Sache dient. Mit dieser Art von Prozessen spielt man doch nur dem Osten in die Hände ---64

Dass das Hörspiel Aussage unter Eid über die ausschließliche Dokumentation eines Kriegsverbrecherprozesses in der Bundesrepublik hinausgeht, zeigt sich auch in der Wahl der Schauplätze. Die öffentlichen Szenen vor Gericht werden erweitert und ergänzt durch private im Hotel und bieten so die Gelegenheit, die Figuren jenseits ihrer Funktion als Zeugen in einem Strafprozess zu zeichnen. Im Vordergrund stehen das Ehepaar Malzmann und der ehemalige Kriegskamerad Malzmanns Karl Schwabe, zwischen denen sich im Lauf der Handlung eine Dreiecksbeziehung herausbildet. Zwischen den Eheleuten entstehen zunehmend Spannungen, die aus der Diskrepanz zwischen den Ansprüchen der Frau an ein materiell erfülltes Leben und den Zweifeln an ihrer Realisierbarkeit durch den eher genügsamen Mann entstehen. Diese Unstimmigkeiten nutzt der erfolgreiche Fabrikant Schwabe, um sich, selbst kinderlos, der Frau seines einstigen Kameraden zu nähern. Schwabe stellt Malzmann eine Vertreterposition in der Stadt in Aussicht, um Frau Malzmann näher an sich zu binden. Sie wiederum übt starken Druck auf ihren Mann aus, männliches Draufgängertum und Unternehmergeist an den Tag zu legen, um dem Arbeitgeber Schwabe zu imponieren. Als Malzmann dem nachgibt und ein zweites Mal vor Gericht erscheint, um als einziger eine belastende Aussage zu machen, erreicht er jedoch das Gegenteil. Es stellt sich heraus, dass der Kaufmann Schwabe seine persönlichen Interessen klar hinter die geschäftlichen zurücktreten lässt und die seiner Kunden an erster Stelle stehen. Diese aber sind an einer Aufklärung deutscher Kriegsverbrechen in der Vergangenheit nicht interessiert. Malzmann ist als Vertreter in Schwabes Firma nicht mehr tragbar. Doch damit nicht genug. Das Hörspiel endet mit einem kurzen Dialog zwischen Horst Malzmann und seiner Frau, die ihn in der Haft besucht. Hierin wird deutlich, dass sich Frau Malzmann für ein Leben mit Schwabe entschieden hat. Das für sie und ihren Mann unerschwinglich teure Kostüm, das Frau Malzmann nun trägt, symbolisiert die neue Beziehung, die offenbar weniger von Zuneigung als von materiellen Interessen geprägt ist: FRAU MALZMANN: […] Übrigens läßt auch der Staatsanwalt grüßen. MALZMANN: Hat er es geschafft? FRAU MALZMANN: Was? MALZMANN: Mit Runge?

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Hs 28; der letzte Satz wurde in der Druckfassung insofern entschärft, als er hier durch die allgemeinere Frage „Was will man mit dieser Art von Prozessen denn erreichen?“ (ndl 33) ersetzt wird.

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FRAU MALZMANN: Ach so. Ja, zweieinhalb Jahre, mit Anrechnung der Untersuchungshaft. MALZMANN: Dann kommt er nächstes Jahr schon raus! FRAU MALZMANN: Ja, nächstes Jahr kommt e r schon raus. Kurze Pause MALZMANN: Und wie geht es dir? Du siehst gut aus. FRAU MALZMANN: Du meinst das Kostüm? Stell dir vor, sie hatten es aufgehoben. MALZMANN: Es hat also noch geklappt? FRAU MALZMANN: Was? MALZMANN: Mit Schwabe? FRAU MALZMANN: Ja. MALZMANN: Dann – ist also alles in Ordnung? FRAU MALZMANN (tonlos): Ja, es ist alles in Ordnung. (Hs 32 f., ndl 38 f.)

Das Hörspiel zeichnet das Bild einer Bundesrepublik, in der nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse wie Politik oder Justiz, sondern auch privateste Beziehungen von ökonomischen Interessen geprägt sind. Horst Malzmann wird erneut zum Opfer seiner an Naivität grenzenden moralischen Integrität. Die Ordnung, die er durch seine die Wahrheit bezeugende Aussage vor Gericht kurz irritiert hatte, ist wieder hergestellt: Der Kriegsverbrecher erhielt eine geringe Strafe, der erfolgreiche Geschäftsmann erobert die Frau, die sich ein Leben im Wohlstand erträumte, und der Störenfried Malzmann verschwindet für mehrere Jahre in der Haftanstalt. Wird einerseits die westdeutsche Justiz angeprangert, die ehemalige Nationalsozialisten und Kriegsverbrecher „mit Samthandschuhen anfasst“ (Hs 3, ndl 6), wie es an einer Stelle heißt, und Zeugen wie Angeklagten Amnesien gestattet, so entwirft die Nebenhandlung um die Zeugen Malzmann und Schwabe eine Gesellschaft, in der auch die Freundschaften und Liebesbeziehungen weitgehend ökonomisch geprägt sind. Aussage unter Eid wiederholt ein stereotypes Muster, das dem ostdeutschen Polithörspiel der 1960er Jahre häufig zugrunde lag: „Ein moralisch integrer Einzelkämpfer, der im Besitz unerwünschter Wahrheiten ist, befindet sich gegenüber repressiven Kräften und Institutionen in der Defensive und durchläuft einen Prozess politischer Desillusionierung.“65 Zur angestrebten Charakterisierung der Bundesrepublik als Unrechtsstaat wurden auch die herangezogenen Fakten manipuliert. Ein Beispiel hierfür ist das im Hörspiel benannte Strafmaß für den Kriegsverbrecher Runge: Im authentischen Strafprozess erhielt Bradfisch, der bereits 1961 „in anderer Sache“ durch das Landgericht München zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, laut Urteil vom 18.11.1963 eine Gesamtstrafe von 13 Jahren Freiheitsentzug, auf die die bisher verbüßte Haft voll ange_____________ 65

Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 138.

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rechnet wurde.66 Aus dem Urteil ist nicht zu ersehen, wie lang die Untersuchungshaft des Angeklagten vor der Verurteilung in München dauerte, so dass unklar bleibt, wie viel Reststrafe Bradfisch tatsächlich noch verbüßen musste. In jedem Fall aber muss der im Hörspiel herausgestellte Umstand, die Strafe Runges betrüge lediglich zweieinhalb Jahre, als Manipulation der Vorlage gewertet werden. Das Hörspiel wurde am 17. September 1964 urgesendet; es ist also davon auszugehen, dass es sich bei der dem Sender von der Staatssicherheit zugespielten Akte um die Prozessakte des Falles Fuchs/Bradfisch handelte, aus der auch das Urteil zu ersehen war, das eine doch nicht unwesentliche Haftstrafe ausmachte. Diese relativiert sich allerdings, wenn man von den 13 Jahren Freiheitsentzug die 10 Jahre in anderer Sache und zudem ein halbes Jahr Untersuchungshaft abrechnet. Man erhält dann – zumindest rechnerisch67 – eine Haftstrafe von zweieinhalb Jahren, die dem Laien unangemessen anmuten muss angesichts eines Schuldspruchs wegen „zweier gemeinschaftlich begangener Verbrechen der Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord an mindestens 15.000 Menschen in einem Falle und an mindestens 7.000 Menschen in einem weiteren Falle.“68 Lässt sich die große Differenz in den Urteilssprüchen noch rechnerisch erklären, muss die Behauptung, der Angeklagte würde im kommenden Jahr bereits aus der Haft entlassen werden, als weitere starke Abweichung von der historischen Vorlage angesehen werden. Neben der Abänderung des Strafmaßes und dem Verzicht auf die Ladung jüdischer Belastungszeugen bietet die Gerichtsverhandlung im Hörspiel unkommentiert Raum für nationalistische Äußerungen, die eine unveränderte Gesinnung der Figuren repräsentieren. So vergleicht der Angeklagte Runge sich selbst mit dem Zeugen Malzmann, um Letzteren als Staatsfeind zu entlarven: „RUNGE: […] Immer habe ich als Beamter und Soldat korrekt und pflichtgetreu gehandelt; was das Vaterland mir befahl, war mir stets heilig. (Bescheiden:) Ich sage das nur, um dem Hohen Gericht zu zeigen, was diesen Zeugen und mich trennt.“ (Hs 8, ndl 10); und der Zeuge Kiesinger appelliert unverhohlen an ein gemeinsames deutsches Volkstum: „KIESINGER: Herr Vorsitzender, muß ich mich von dem Herrn Staatsanwalt anschreien lassen? Ich denke doch, wir sind alles Deutsche und sollten endlich aufhören, uns gegenseitig in den Dreck zu stoßen!“ (Hs 17, ndl 20) Die Behauptung, die NS-Ideologie bestünde in der Bundesrepublik ungebrochen fort, stützt auch das Aufzeigen individueller Karrierewege, _____________ 66 67 68

Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 487–557, S. 491. Das Errechnen einer Gesamtstrafe, die geringer ausfällt als die Summe einzelner Urteile, entspricht der Strafprozessordnung; das Landgericht Hannover bezieht sich in seinem Urteil auf die §§ 74, 79 StGB. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, 487–557, S. 554. Justiz und NS-Verbrechen. Bd. XIX; lfd. Nr. 557, S. 487–557, S. 491.

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Unerhörte Zeugenschaft

die, im ‚Dritten Reich‘ begonnen, das Kriegsende unbeschadet überdauert haben und nun reiche Früchte tragen: Während der Zeuge Stapf früher Oberst bei der Deutschen Polizei war, muss er sich heute zwar mit der niedrigeren Stellung des Kommissars begnügen, ist aber weiterhin im Staatsdienst angestellt. Der Zeuge Beier war früher in der Rüstungsindustrie tätig und arbeitet heute erfolgreich als Handelsvertreter. Schwabe kann seine im Schwarzhandel mit dem Ghetto erworbenen Kenntnisse nach dem Krieg nutzen, um einen florierenden Fleischhandel zu betreiben, er selbst fasst zusammen: „Es gibt nur eines von beidem, anständig sein oder gut leben. Und wir allesamt haben uns für das Zweite entschieden.“ (Hs 25) In der Logik des Hörspiels zwingt das kapitalistische System den einzelnen, seine Vergangenheit und sein Gewissen zu vergessen; im Gegenzug ermöglicht es die Teilhabe am wirtschaftlichen Erfolg. Dass es sich hierbei nicht um Einzelfälle handeln soll, sondern um repräsentative Beispiele, enthüllt der Einsatz akustischer Zeichen im Hörspiel. Aus der vielfältigen Illustration von Handlung und Schauplätzen durch eine permanente Geräuschkulisse ragt ein auditives Zeichen heraus, das sich im Laufe der Handlung zu einem Leitmotiv entwickelt, dessen zeichenhafter Charakter ein Jahr später in Peter Weiss’ Drama Die Ermittlung auf die Spitze getrieben wird: das kollektive Lachen. Eingeführt in jener Szene in der Hotelbar, in der die anwesenden ehemaligen Angehörigen der Schutzpolizei ihre Salve aus knallenden Sektkorken mit einem begeisterten Gelächter honorieren, begleitet es auch deren Aussagen als Zeugen vor Gericht. Ausflüchte und Weigerungen auszusagen werden vom Publikum im „überfüllten Gerichtssaal“ (Hs 5) mit „Lachen“ (Hs 14–16, 18) und „Kichern“ (Hs 22) bedacht. Ist es in Peter Weiss’ Drama die Gruppe der Angeklagten, die ihrer Uneinsichtigkeit und Kaltblütigkeit im chorischen wie teuflischen Lachen Ausdruck verleiht,69 repräsentiert das Lachen bei Günter de Bruyn die bundesrepublikanische Gesellschaft als Zuschauerin und Teilnehmerin einer Veranstaltung, die offenbar großen Unterhaltungswert besitzt. Die Äußerungen des Publikums stellen ein wohlwollendes Einverständnis zwischen den ehemaligen Nationalsozialisten, dem Gericht und der Öffentlichkeit her, denn Gelächter „schafft Gemeinsamkeit und damit auch Gemeinschaft“, wie Hans-Rudolf Velten und Werner Röcke in dem von ihnen herausgegebenen Band Lachgemeinschaften einleitend feststellen. Das gemeinschaftliche Lachen versichert die Mitglieder einer sozialen Gruppe der gemeinsamen Identität: „Diese affiliative Funktion des Lachens beinhaltet nicht nur das Zeigen gegenseitigen Verstehens, sondern auch gemeinsame Nähe oder _____________ 69

Vgl. das Kap. III.3.3. der vorliegenden Untersuchung.

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Affinität.“70 Lachen markiert „die Formation oder Neuformation einer sozialen Gruppe durch den Ausschluss eines oder mehrerer Individuen“.71 Darüber hinaus aber dient es als nonverbaler, auditiver Code, der unterschiedlichste Funktionen erfüllt: Folgt man Dupreel, Douglas und Elias, stiftet Lachen nicht nur Gemeinschaft, sondern das gemeinsame Lachen kann als komplexes Zeichensystem innerhalb einer Gruppe versöhnen und Frieden stiften, Identität sichern, mithin unterliegende Konflikte performativ ausspielen und somit lösen […]. Das gemeinsame Lachen stiftet ferner durch die freiwillige Teilhabe am Gelächter mithilfe einer akustisch erfahrenen, psychophysischen Zugehörigkeit ein Gemeinschaftsgefühl, in dem bleibende Überzeugungen verortet werden, Gegner und normferne Verhaltensweisen ausgegrenzt und soziale Positionen bestimmt werden können.72

Fungiert das Gelächter bei Weiss als diabolische Charakterisierung der uneinsichtigen Täter und der Verhöhnung der Opfer, so dient es in de Bruyns Hörspiel einerseits der Markierung einer „Lachgemeinschaft“ zwischen nationalsozialistischen Tätern und der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Zuschauerraum des Gerichts – unter Ausschluss des moralisch integren Malzmann –; andererseits der Kennzeichnung historischer Kontinuitäten: Indem das Lachen motivisch auch in der Erinnerung Malzmanns aufgegriffen wird, ist es als das zynische Lachen der Nationalsozialisten gekennzeichnet: MALZMANN: […] Der Lagerführer begrüßte den Gauleiter, und dann sprach Greiser selbst. Er sprach jovial. Ein SS-Mann neben mir meinte, er sei witzig wie Hermann Göring. So bezeichnete er die SS als die Kammerjäger der Welt, die die jüdischen Läuse mitsamt der Brut ausrotteten. Es wurde oft gelacht bei seiner Rede. Er gab auch die Anregung zu der sogenannten Sekt-Salve, zu der Hauptsturmführer Wilke die Kommandos gab. (Hs 26, ndl 31; • Hörzitat 7)

Gelächter und Sektsalven verbinden die unterschiedlichen Zeitebenen miteinander und lassen in ihrer scheinbar harmlosen Wiederholung die Abgründe einer Gesellschaft aufscheinen, die trotz der Katastrophen des Zweiten Weltkriegs unverändert fortlebt. Das öffentliche Verlachen der Gerechtigkeit, wie es im Gerichtssaal praktiziert wird, wiederholt sich noch einmal in der Hotelbar, als die angetrunkenen Zeugen und ehemaligen Wachleute des Lagers sich einer Anekdote erfreuen, die von den vergeblichen Versuchen eines Angestellten in einem Arbeitsrechtsprozess berichtet, sich auf das Grundgesetz zu berufen. Seine Einlassungen weist _____________ 70 71 72

Werner Röcke u. Hans Rudolf Velten: „Einleitung“. In: Lachgemeinschaften. Kulturelle Inszenierungen und soziale Wirkungen von Gelächter im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg. v. dens. Berlin, New York 2005. IX–XXXI, S. XIII. Röcke u. Velten: „Einleitung“, S. XIII. Sie referieren an dieser Stelle Etienne Dupreels Arbeit „Le problème sociologique du rire“. In: Revue philososphique de la France et de l’Étranger 106 (1928): 213–260. Röcke u. Hans Velten: Lachgemeinschaften, S. XIV.

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der Richter mit der Bemerkung zurück: „Sich ernsthaft auf die Verfassung zu berufen, […] hat immer was von Verfassungsfeindlichkeit. Gelächter“ (Hs 11, ndl 14). Diese Parallele verallgemeinert noch einmal das ohnehin pauschale Urteil, dessen Verbreitung die Ausstrahlung des Hörspiels im Deutschlandsender diente: Jenseits der ostdeutschen Grenze leben die einstigen Täter unbehelligt und fröhlich, ohne sich einer Schuld auch nur bewusst zu sein, geschweige denn zur Verantwortung gezogen zu werden. Das Versagen der Justiz geschieht im Wissen um das Einverständnis einer Öffentlichkeit, die diese Art der Verdrängung billigt. Die vermeintlich demokratische Rechtsordnung, die nach 1945 in diesem Teil Deutschlands errichtet wurde, wird nicht einmal von den Justizorganen selbst ernst genommen. Historische Kontinuitäten zwischen der jungen Bundesrepublik und dem nationalsozialistischen Deutschland werden im Hörspiel mit dem Ziel herausgearbeitet, die DDR implizit als humanistischen und gerechten Gegenentwurf zum kapitalistischen Unrechtssystem in Westdeutschland aufscheinen zu lassen. Aussage unter Eid kann damit als exemplarisch für eine ganze Reihe von politischen Hörspielproduktionen in den 1960er Jahren gelten. Bei Sibylle Bolik heißt es: Alle diese Hörspiele [benannt ist auch Aussage unter Eid, M.G.] enthüllen historische Kontinuitäten, indem sie eine schuldhafte Vergangenheit sukzessive aufdecken und mit gegenwärtigem Unrecht korrelieren. […] Herrschaftsverhältnisse und -interessen werden in der staatlichen Jurisdiktion offenbar. […] Immer denunziert die dargestellte Rechtspraxis die moralische Legitimität der Gesellschaftsordnung insgesamt.73

Hierin also besteht die vordergründige Wirkungsabsicht des Hörspiels: den Blick von der DDR abzuwenden, um desto genauer den Nachbarstaat und seine politisch-ideologischen Schwächen zu beleuchten. 2.2.3. Zeugnis der Gewalt Allerdings gehört es zu den Besonderheiten des Hörspiels – für die im thematischen Überblick Boliks kein Raum ist –, dass es sich hierin nicht erschöpft, denn es handelt sich um eines der wenigen Hörspiele, in denen sich ein DDR-Autor den besonderen Umständen des Holocaust widmet. Hier stehen die Brutalitäten der Judenvernichtung im Mittelpunkt, ohne dass ihnen der antifaschistische Widerstandskampf als Hoffnungsmoment an die Seite gestellt werden müsste. Es ist ein Verdienst Günter de Bruyns, _____________ 73

Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 139. Bolik nennt in diesem Zusammenhang auch Aussage unter Eid, ohne das Hörspiel jedoch näher zu beleuchten.

Fakt und Fiktion im Hörspiel

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das DDR-Publikum noch vor Peter Weiss’ Die Ermittlung schonungslos mit Ort und Verfahren der Massentötungen zu konfrontieren. Das Hörspiel stellt insofern ein Novum im Radio der DDR dar, als es die Vernichtung der Juden in Osteuropa explizit zum Thema macht und die Besonderheiten dieser Opfergruppe herausstellt. Die für die DDR typische ökonomische Interpretation des Holocaust wird im Hörspiel an verschiedenen Stellen angedeutet – hingewiesen wird auf die Protokollierung des geraubten Eigentums (Hs 5, ndl 8) und den Einsatz von Juden als Zwangsarbeiter in Rüstungsfabriken (Hs 22, ndl 26) –, tritt aber angesichts der Leiden der Opfer in den Hintergrund. Die Zeugenaussagen vor Gericht bieten Gelegenheit, sowohl die Gewalttätigkeiten bei der Räumung des Ghettos als auch die Grausamkeit der darauf folgenden Tötungen zu beschreiben. Hier sticht die Räumung des Krankenhauses im Ghetto, bei der Kranke und Kinder mit größter Brutalität behandelt wurden, heraus. Entsetzliche Szenen werden geschildert, in denen der Angeklagte Wilke die Kinder aus den Fenstern der oberen Stockwerke auf Lastwagen wirft. In mehreren Zeugenaussagen finden sich darüber hinaus detaillierte Beschreibungen der Tötungsmaschinerie und der Grausamkeiten der SS-Leute. In der Aussage des Zeugen Stapf beispielsweise heißt es: 20 Minuten dauerte es, bis das Schreien und Wimmern in den Gaswagen verstummte. Und im Waldlager war ein penetranter Geruch, und ich entdeckte Wasserlachen und sah kleine Fontänen aus der Erde kommen. Ich wies den Lagerkommandanten darauf hin und der sagte, ja, es ist Zeit, die Massengräber auszuheben und die Leichen zu verbrennen, große „Kaffeemühlen“ zum Zermahlen der Knochen sind schon bestellt. (Hs 15, ndl 19)

Ganz ähnlich schildert auch Malzmann den Tötungsprozess. In seiner Aussage wird jedoch die persönliche Anteilnahme des Zeugen dem Desinteresse des Richters entgegengesetzt: MALZMANN: Und da sah ich, wie sie das machten. Die Gaswagen … Die Leute mussten sich ausziehen, ganz nackt, und ihre Sachen mussten sie ordentlich hinlegen, gleich sortiert, wegen der Listen nachher. Die Leute mussten in die Wagen, und wenn der Motor ansprang, strömten die Auspuffgase in den Wagen und dann schrien sie und trommelten gegen die Wände, lange, sehr lange: zwanzig Minuten vielleicht. Man hörte alles nur gedämpft, aber trotzdem war es lauter als der Motor. Die Fahrer saßen vorn und frühstückten. […] Ich muß weg, dachte ich. Und dann habe ich gehört, in der Schreibstube, dass welche noch gelebt haben, als sie die Leichen aus dem Wagen geworfen haben. Es waren auch Kinder dabei, kleine Kinder. VORSITZENDER: Herr Zeuge! Diese entsetzlichen Tatsachen kennen wir hier alle schon. (Hs 5 f., ndl 8 f.)

Die wiederholte Darstellung der Qualen der Opfer im Moment ihres Todes wird ihre Wirkung auf die Hörer nicht verfehlt haben, zumal das Hörspiel keine Entlastung durch eine positive Identifikationsfigur anbietet.

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Unerhörte Zeugenschaft

Für eine daran anschließende Befragung der eigenen Rolle innerhalb der deutschen Geschichte ist es jedoch noch zu früh. Aus der Perspektive der DDR-Hörerinnen und -hörer wird die unverhohlene Darstellung der deutschen Verbrechen an den Juden direkt an die Präsentation der Täter geknüpft, die sich jedoch außerhalb des eigenen Territoriums und damit jenseits eines möglichen Zugriffs befinden. Herausgearbeitet wird statt dessen die Diskrepanz zwischen den begangenen Verbrechen und den wiederkehrenden Weigerungen der Angeklagten, die Verantwortung für sie zu übernehmen. Das Publikum vor den Radios wird sich kaum mit der Gemeinschaft der Zuhörer im Gerichtssaal identifiziert haben. Schock und Anteilnahme angesichts der deutschen Geschichte gehen statt dessen einher mit einem Unrechtsbewusstsein, das eine ohnmächtige Empörung erzeugt haben dürfte, die eine eigene Beteiligung an den Geschehnissen weit von sich wies und den Zeigefinger auf die westdeutschen Nachbarn richtete.74 Im Unterschied zu Hörspielen der früheren Generationen unterbleibt ein direkter Verweis auf die DDR als staatliche Alternative. In der Druckfassung des Hörspiels, die 1965 in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur erschien, ist diese offene Form allerdings aufgehoben worden. Dem Hörspiel, dessen Text vom Autor in einigen wenigen Szenen umgearbeitet wurde,75 ist ein Aufruf nachgestellt, der die Handlung explizit in die politische Auseinandersetzung der Systeme und den für die DDR-Ideologie zentralen Kampf um den Frieden stellt. Dort heißt es in den Worten von Arnold Zweig: Die Bundesregierung erklärt: Wir müssen mit der Bombe von heute und den Mördern von gestern zusammenleben. Eine solche Auffassung lehne ich kategorisch ab. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik erklärt: Wir müssen auf Atomwaffen verzichten und die Verjährung der millionenfachen Massenmorde verhindern. Dieser Auffassung stimme ich kategorisch zu. Das Jahr 1965 darf nicht mit den Schandflecken in die Geschichte eingehen, die ihm Bonn aufdrücken will. Wer von meinen Kollegen schließt sich mir an? „Neues Deutschland“ vom 14. Februar 196576

Dass diese nachgestellte Interpretation der Intention des Autors zuwiderläuft, beweist ein Text von Günter de Bruyn, der ebenfalls in den 1960er _____________ 74 75

76

Diese für die Hörerschaft typische Reaktion zeigt sich beispielsweise in der Hörerpost zu Peter Weiss: Die Ermittlung; vgl. Kap. III.3 der vorliegenden Untersuchung. Es sind zwei Dialoge bearbeitet worden, die in der neueren Fassung den Fleischkonservenfabrikanten Karl Schwabe in ein menschlicheres Licht und in die Nähe jener rücken, die Dr. Runge gern verurteilt gesehen hätten. Sein persönlicher Zwiespalt und sein Bedürfnis, dem alten Freund zu helfen, werden deutlich herausgearbeitet. Vgl. ndl 29 f. u. 34 f. ndl 39.

Fakt und Fiktion im Hörspiel

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Jahren entstand und die Judenvernichtung durch die Nationalsozialisten auf ganz andere Weise thematisiert. In der Erzählung „Berlin, Große Hamburger“, die de Bruyn 1968 für eine Anthologie verfasste, sind Verlust, Erinnerung und Verantwortung im eigenen Land angesiedelt. Der Erzähler reflektiert die Deportation und Vernichtung der Berliner Juden, die im Scheunenviertel nahe dem Hackeschen Markt und an anderen Plätzen des gegenwärtigen Ost-Berlin zu Hause waren, und inszeniert die Figur des Ich-Erzählers dabei als Zuschauer und Mitverantwortlichen der damaligen Verbrechen. In einer Leseransprache, die sich aufgrund der topographischen Bezüge allein an Ostdeutsche richtete, erinnert er an die Gefahr der Verdrängung und die Pflicht des Totengedenkens: Und dass es einfach ist, die eigne Sicht auf Spitzenkragen und Mädchenbrauen zu begrenzen, auf Schlafzimmer und Teppich, und noch einfacher, zu vergessen – was anderen geschieht, dem Jungen am Fenster des Altersheimes, der nie erwachsen wurde, zum Beispiel, und den anderen 50 000 Kindern und Frauen und Männern, die alle einmal unter uns gelebt haben, in deiner Wohnung vielleicht oder nebenan, in der Krausnick- und Auguststraße, am Alexanderplatz, in der Frankfurter Allee und in Pankow, und die sich selbst nicht mehr in Erinnerung bringen können. Das müssen wir tun. Der Toten gedenken, um der Lebenden willen.77

So dient das Hörspiel Aussage unter Eid trotz aller ideologischer Instrumentalisierung auch einer Erinnerung an die Millionen Juden, die den Deutschen im Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen. Offenbare Schuld und fehlende Sühne markieren eine klaffende Wunde, die 1965 zuerst am Körper des Nachbarn entdeckt wurde, wenige Jahre später jedoch auch am eigenen. Günter de Bruyn eröffnet in seinem Hörspiel einen Blick auf die Geschichte, in der die Opfer noch keine Stimme haben, ihre Leiden aber trotzdem formuliert werden. Nur ein Jahr später hat Peter Weiss eine Form gefunden, die Opfer selbst zu Wort kommen zu lassen.

3. Gesang von der Gerechtigkeit Peter Weiss: „Die Ermittlung“ In Anlehnung an das Konzept des dokumentarischen Theaters verfasste der schwedische Dramatiker Peter Weiss 1964/65, während der sogenannten Frankfurter Auschwitzprozesse (1963–1965), ein Theaterstück, das die Verhandlung der NS-Verbrechen und die Konzentrations_____________ 77

Günter de Bruyn: „Berlin, Große Hamburger“. In: Günter de Bruyn. Leben und Werk. Hg. v. Karin Hirdina. Berlin (West) 1983. 128–129, S. 129. Zuerst veröffentlicht in: ndl 16.10 (1968): 32–36.

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Gesang von der Gerechtigkeit

lagermaschinerie in Zeugenaussagen verdichtet, stilisiert und rhythmisiert auf die Bühne brachte. Die Uraufführung des Dramas Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen am 19. Oktober 1965 war ein gesamtdeutsches Ereignis. In zum Teil hochkarätiger Besetzung liefen zeitgleich Inszenierungen an Theatern in West- und Ost-Berlin78, Essen, Köln, München, Cottbus, Dresden, Gera, Halle, Meiningen, Neustrelitz, Potsdam, Rostock und Weimar sowie in London79. In der folgenden Woche wurden darüber hinaus Hörspielfassungen des Stückes in ost- und westdeutschen Rundfunksendern ausgestrahlt. Als Gemeinschaftsproduktion von 10 bundesdeutschen Rundfunkanstalten unter Federführung des Hessischen Rundfunks inszenierte Peter Schulze-Rohr die von Hermann Naber eingerichtete Fassung, die zuerst am 25. Oktober 1965 im Hessischen Rundfunk zu hören war. Am folgenden Tag, am 26. Oktober 1965, wurde die ostdeutsche Radiofassung unter der Regie von Wolfgang Schonendorf in einer Länge von mehr als vier Stunden im Deutschlandsender und zeitgleich im Radio DDR – hier in zwei Teilen – urgesendet und im gleichen Jahr noch dreimal auf unterschiedlichen Radiosendern der DDR wiederholt.80 Die ‚gesamtdeutsche‘ Aufführung des Dramas findet ihr Äquivalent also in einer deutschlandweiten Sendung des Hörspiels – in einer spezifisch ost- bzw. westdeutschen Fassung. Bei aller politischer Differenz und trotz der ideologischen Einflussnahme kann Die Ermittlung als genre- wie grenzüberschreitendes kulturhistorisches Ereignis gewertet werden, das darauf abzielte, den nationalsozialistischen Genozid als Teil einer gemeinsamen deutschen Geschichte anzuerkennen. Insofern hat die Hörspielfassung einen herausragenden Status innerhalb der DDR-Hörspielproduktionen inne, die den Holocaust zum Thema haben. Reichweite, Simultanität und Wiederholung der Produktionen verleihen dem (Hör-)Stück einen wirkmächtigen monumentalen Charakter und lassen es herausragen aus den üblichen Ritualen der deutsch-deutschen Gedenkkultur. Die Aufführungen und Sendungen knapp zwei Monate nach der Urteilsverkündung im Frankfurter Prozess am 19. und 20. August 1965 verschränken das Kunstwerk darüber hinaus mit zeitgenössischen Ereignissen, verleihen ihm eine außerordentliche Aktualität und generieren eine komplexe Rezeptionsstruktur. _____________ 78

79 80

Freie Volksbühne Berlin, Regie: Erwin Piscator in Zusammenarbeit mit Peter Weiss, Musik: Luigi Nono; Deutsche Akademie der Künste Berlin, Regie: Karl von Appen, Lothar Bellag, Erich Engel, Manfred Wekwerth, Konrad Wolf, Musik: Paul Dessau; Darsteller u.a.: Peter Edel, Ernst Busch, Helene Weigel, Alexander Abusch, Fritz Cremer, Erwin Geschonneck, Stephan Hermlin, Bruno Apitz, Eberhard Esche, Ekkehard Schall, Anna Seghers. Royal Shakespeare Company London, Regie: Peter Brook. Nach dem Jahr seiner Uraufführung wurde das Hörspiel nur noch zweimal in der Geschichte der DDR wiederholt, und zwar am 14./21.3.1966 und am 31.8./3.9.1981.

„Die Ermittlung“ zwischen den Fronten des Kalten Krieges

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Die folgende Analyse stellt die ostdeutsche Hörspielfassung in den Mittelpunkt der Betrachtungen, hält die westdeutsche, im Übrigen sehr ähnliche Produktion jedoch als Vergleichsebene präsent. 3.1. „Die Ermittlung“ zwischen den Fronten des Kalten Krieges Sowohl das Drama als auch sein Autor passten in vielerlei Hinsicht in das Konzept einer DDR-Kulturpolitik, die sich den ‚Kampf für Frieden und Sozialismus‘ zur Hauptaufgabe gemacht hatte. Peter Weiss, dessen Schriften bis zur Aufführung seines Stückes Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats vor allem in der Bundesrepublik Beachtung gefunden hatten, konnte als schwedischer Staatsbürger und ideologischer ‚Überläufer‘ propagiert werden, der gerade nicht aus der ‚feindlichen‘ BRD heraus agierte. Seine zunehmend kapitalismuskritischen Äußerungen und die Angriffe der westlichen Presse konnten in der Auseinandersetzung um das ‚bessere‘ System instrumentalisiert werden, allerdings um den Preis der Unterschlagung von DDR- oder ‚Realsozialismus‘-Kritiken, die Weiss ebenfalls immer wieder verlauten ließ. Im Gegenzug verunglimpfte die westdeutsche Presse Weiss als Freund der DDR und erschwerte auf diese Weise eine tiefergehende Auseinandersetzung mit seinem Werk.81 Die Anschauungen und Argumentationen, die in der DDR die Diskussion um die NSVerbrechen bestimmten, ließen sich in der Ermittlung leicht wiederfinden und erhielten aus der Feder eines westlichen Autors und durch die Wahl der dokumentarischen Form einen besonderen Wahrheitsanspruch. Zunächst scheint Die Ermittlung eine Hierarchie innerhalb der Opfergruppen zu bestätigen: Denn trotz seiner erklärten Intention, die Zeugen im Drama in ihrer namenlosen „Anonymität“ als bloße „Sprachrohre“ (D 9)82 auftreten zu lassen und auf diese Weise jedwede rassische oder ethnische Zuordnung der Verfolgten zu vermeiden, spezifiziert Weiss in seinen späteren Fassungen an fünf Stellen die Opfer als „sowjetische Kriegsgefangene“. Dieses nun entstandene Ungleichgewicht diente vor allem der Kritik von jüdischer Seite als Angriffsfläche. So stellte beispielsweise Elie Wiesel 1977 eine Verbindung zwischen dem Fehlen des Wortes ‚Jude‘ im Drama und der Leugnung des Holocaust in Teilen der Gesell_____________ 81

82

Dass sich die „ästhetischen und politischen Vorurteile der westdeutschen Presse gegen Weiss bis in die 1980er Jahre hielten, beweisen die Angriffe, die noch seinen Roman Ästhetik des Widerstands trafen. Vgl. Karl-Heinz Götze u. Klaus R. Scherpe: „Vorausbemerkt“. In: dies. (Hg.): Die „Ästhetik des Widerstands“ lesen. Berlin 1981. 6–9, S. 6. Die Druckfassung wird zitiert nach: Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1991. (= D); sowie Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen von Peter Weiss. Kontrollexemplar des Hörspiels. DRA Potsdam. Signatur B 082-00-04/0256 (= Hs). Zitate aus beiden Fassungen werden direkt im Text nachgewiesen.

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Gesang von der Gerechtigkeit

schaft her: „Ein gefeierter europäischer Bühnenschriftsteller schrieb ein Stück über die Auschwitzprozesse, und er brachte es fertig, darin das Wort ‚Jude‘ nicht einmal zu erwähnen, nicht ein einziges Mal!“83 Und noch Jahrzehnte später behauptet James E. Young, bei Weiss ständen die sowjetischen Kriegsgefangenen für alle anderen Verfolgten in Auschwitz: Wären alle Opfer in dem Stück gänzlich anonym geblieben, so hätte die Fortlassung der Juden lediglich bedeutet, daß die Gefangenen im Lager ihre Namen verloren, worauf Weiss in seiner Anmerkung zum Stück hinweist. Aber Weiss benennt ausdrücklich eine andere Klasse von Opfern, nämlich die sowjetischen Kriegsgefangenen, die als einzige im Stück namentlich bezeichnete Gruppe von Opfern für die namenlosen Opfer von Auschwitz stehen, für die Juden also, deren spezifisches Schicksal die Russen in Die Ermittlung teilen. Wie die Namen der Täter von Weiss, wie er sagt, dazu benutzt werden, ein ganzes System von Schuldigen zu symbolisieren, so symbolisieren die sowjetischen Kriegsgefangenen alle anderen Opfer.84

Dass diese pauschalisierende Interpretation einer genauen Lektüre des Textes nicht standhält, wurde inzwischen von mehreren Seiten nachgewiesen.85 Vor allem Marita Meyer zeigt in ihrer detaillierten Studie Eine Ermittlung. Fragen an Peter Weiss und an die Literatur des Holocaust, dass Weiss nicht auf „die Verschleierung der Identität der jüdischen Opfer“86 zielte, sondern auf eine „Universalisierung, die offen für aktuelle Vergleiche ist“ und „dem Kern nationalsozialistischer Ideologie entgegenwirkt, Menschen aus der menschlichen Gemeinschaft auszugrenzen mit dem Ziel, sie zu vernichten“.87 Auch wenn sich, wie Meyer weiter ausführt, im Text klare Anhaltspunkte für die jüdische Identität der Opfer vor allem in der Namensgebung finden lassen, muss festgestellt werden, dass sich Die Ermittlung für die Tendenz instrumentalisieren ließ oder ihr zumindest entgegenkam, das spezifische Schicksal der Juden aus „Lehrbüchern, Enzyklopädien, aus der Geschichtsschreibung, aus Theaterstücken und Filmen“88 wenn nicht fortzulassen, so doch den kommunistischen oder sowjetischen Opfergruppen unterzuordnen. _____________ 83 84 85

86 87 88

Elie Wiesel: „Die Massenvernichtung als literarische Inspiration“. In: Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmordes am jüdischen Volk. Hg. v. Eugen Kogon u. a. Freiburg 1979. 51– 50, S. 48. James E. Young: Beschreiben des Holocaust. Frankfurt a. M. 1997, 125. Vgl. Marita Meyer: Eine Ermittlung. Fragen an Peter Weiss und an die Literatur des Holocaust. St. Ingbert 2000; Jean-Michel Chaumont: „Der Stellenwert der ‚Ermittlung‘ im Gedächtnis von Auschwitz“. In: Peter Weiss. Neue Fragen an alte Texte. Hg. v. Irene HeidelbergerLeonard. Opladen 1994; Christoph Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die „Ermittlung“ im Kalten Krieg. 2 Bde. St. Ingbert 2000. Meyer: Eine Ermittlung, S. 19. Meyer: Eine Ermittlung, S. 23. Hilberg: Die Vernichtung der europäischen Juden. Bd. 3, S. 1130.

Vom Drama zum Hörspiel

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Als beispielhaft für die Vereinnahmung des Werkes ebenso wie seines Autors für eigene ideologische Interessen kann Manfred Haiduks Untersuchung Der Dramatiker Peter Weiss angesehen werden, die 1969 in OstBerlin erschien. Hier werden seitenlang Zitate aus unterschiedlichen Werken zusammengeschnitten, um den Autor als Vertreter einer ökonomistischen Interpretation des Holocaust – damit auch als scharfen Kritiker des gegenwärtigen kapitalistischen Systems – und darüber hinaus als Autor des Realismus zu etablieren: Weiss führt mit der Ermittlung die Tradition des kritischen Realismus fort. Er wird durch einen klaren Antifaschismus gekennzeichnet, dem die Aufhellung der Ursachen für den Faschismus immanent ist, und damit zugleich durch eine konsequente Kapitalismuskritik.89

Nur so ist es zu erklären, dass das Drama nicht nur auf zehn ostdeutschen Bühnen im Rahmen der „gesamtdeutschen Uraufführung“ zeitgleich gespielt werden konnte, sondern zudem im Oktober 1965 in Berlin ein Staatsakt in der Volkskammer der DDR stattfand, bei dem „Persönlichkeiten des kulturellen Lebens der DDR, wie der stellvertretende Ministerpräsident Alexander Abusch, die Leiterin des Berliner Ensembles, Helene Weigel, der Intendant des Deutschen Theaters, Wolfgang Heinz, der Bildhauer Fritz Cremer, der Komponist Paul Dessau“, auftraten.90 Lässt sie sich einerseits für verschiedene politische Ziele in den Dienst nehmen, so leitet Die Ermittlung in Ostdeutschland andererseits erstmalig die Aufmerksamkeit auf das Konzentrationslager Auschwitz und erweitert und ergänzt damit das Erinnerungsbild von den Widerstandskämpfern in Buchenwald um ein Vernichtungslager, in dem bekanntermaßen vor allem jüdische Häftlinge gefoltert und ermordet wurden. Mag die Vermischung von Kunst und Politik ideologischen Interessen gedient haben, so evozierte sie nichtsdestotrotz einen offiziellen Gedenkakt, der jüdische Opfer explizit einschloss. 3.2. Vom Drama zum Hörspiel Die Bearbeitung des Dramas für den Rundfunk ist aus heutiger Perspektive nicht sicher nachvollziehbar, da nicht mehr rekonstruiert werden kann, auf welcher Manuskriptvorlage die Hörspielbearbeitung beruht. Ein Vorabdruck des Dramas wurde – noch vor der Urteilsverkündung im Frankfurter Prozess – bereits im August 1965 als Sonderheft der Zeitschrift Theater heute veröffentlicht; die erste Auflage des Dramas erschien Anfang _____________ 89 90

Manfred Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss. Berlin (Ost) 1969, S. 149. Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Bd. II, 383 f.

212

Gesang von der Gerechtigkeit

Oktober 1965 im Suhrkamp-Verlag. Peter Weiss hat das Stück jedoch noch bis zur zweiten Auflage bearbeitet, so dass die heute gebräuchliche Druckfassung an einigen Stellen von den zuvor publizierten abweicht.91 Darüber hinaus existierte offenbar eine frühe „Funkfassung“ des Dramas, die Peter Weiss u. a. dem Rundfunk der DDR zur Verfügung gestellt hatte. In einem Schreiben vom 13.7.1965 bestätigt der Leiter der Hauptabteilung Dramaturgie/Produktion Manfred Engelhardt den Eingang des Manuskripts. In einem Brief vom 30. Juni 1965 beklagt dagegen der betreuende Lektor des Suhrkamp-Verlages das Fehlen der Rundfunkbearbeitung: Die Kürzungsvorschläge, die Du mit Naber und Schulze-Rohr ausgearbeitet hast, habe ich ja niemals erhalten, da nur Naber und der Henschel-Verlag ein Manuskript mit den Kürzungen erhalten hat. Naber will mir demnächst ein Ms der Funkfassung schicken, aber falls Du noch die Kürzungsvorschläge geben willst, werden wir natürlich sehr froh sein.92

Er bestätigt schließlich am 1. September 1965: „Wir haben hier nur eine gestrichene Fassung, und zwar die Hörspielversion.“93 Ein Exemplar der hier benannten Textfassung des Autors ist jedoch weder im Hessischen Rundfunk94 noch im DRA noch im Peter-Weiss-Archiv der Akademie der Künste Berlin und auch nicht im Archiv des Suhrkampverlages95 vorhanden. Das im Deutschen Rundfunkarchiv einsehbare Kontrollexemplar stammt vom 8. Juli 196596 und entspricht der im September produzierten und Ende Oktober im Deutschlandsender ausgestrahlten Fassung. Es weist deutliche Unterschiede auf zu der in Theater heute und im SuhrkampVerlag veröffentlichten Dramenfassung. Aufgrund der Quellenlage kann an einigen Stellen nicht mit absoluter Sicherheit festgestellt werden, ob eine Textvariante vom Autor stammt oder das Ergebnis der Umarbeitung _____________ 91 92 93 94

95 96

Vgl. Marita Meyer: „Textgeschichte“. In: Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Mit einem Kommentar von Marita Meyer. Frankfurt a. M. 2005. 261–264, S. 263 f. Zur Analyse der Textgenese siehe auch Christoph Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Brief von Karlheinz Braun an Peter Weiss vom 30.06.1965; Peter-Weiss-Archiv in der Akademie der Künste Berlin, Signatur: 1131 04/06 65. Brief von Karlheinz Braun an Peter Weiss vom 01.09.1965; Peter-Weiss-Archiv in der Akademie der Künste Berlin, Signatur: 1131, 09/65. Das Sendemanuskript ist im Hessischen Rundfunk archiviert unter der Signatur: 30170/4; es finden sich aber keine Hinweise auf die Autorisierung durch Peter Weiss. Für die Recherche und die freundlichen Auskünfte danke ich Herrn Defterli vom Hessischen Rundfunk. Das Hörspiel des HR ist inzwischen als CD im Hörverlag publiziert worden: Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. 3 CDs. München 2007. Für die freundliche Auskunft danke ich Wolfgang Schopf vom Archiv der PeterSuhrkamp-Stiftung an der Universität Frankfurt am Main. Peter Weiss: Die Ermittlung. Kontrollexemplar archiviert im DRA Potsdam unter der Signatur: B 082-00-04/0256.

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der Hörspielabteilung darstellt. Der folgende Fassungsvergleich muss daher unter dem genannten Vorbehalt gelesen werden. Ein Vergleich zwischen Hörspiel- und Druckfassung ist nichtsdestotrotz insofern legitim, als der Vorabdruck in Theater heute zur Zeit der Aufnahme des Hörspiels im September 196597 als bekannt vorausgesetzt werden darf. Da der Vorabdruck des Textes in Theater heute mit der bei Suhrkamp veröffentlichten Fassung weitgehend übereinstimmt, die auch der Lizenzausgabe zugrunde liegt, die 1965 in Ostdeutschland erschien, wird – auch aufgrund der leichteren Zugänglichkeit – aus der Suhrkamp-Ausgabe (= D) und aus dem Kontrollexemplar des DDR-Rundfunks (= Hs) zitiert;98 Abweichungen zum Vorabdruck in Theater heute werden in den Anmerkungen benannt. Insgesamt wurde das Drama Die Ermittlung für die ostdeutsche Hörspielfassung wenig bearbeitet. Die Einteilung in elf Gesänge mit jeweils drei Abschnitten blieb ebenso erhalten wie die Stimmen der Figuren. Allein das zweite Kapitel „Gesang vom Lager“ trägt den abweichenden Titel „Gesang von der Aufnahme“, der auf eine frühere Fassung des Autors zurückgeht.99 An vielen Stellen wurden geringfügige Kürzungen vorgenommen, die meist nur wenige Zeilen umfassen, so dass der Text in seiner Struktur und gerade auch imposanten Länge erhalten blieb. Ein Textvergleich zwischen Hörspiel und Dramenfassung lässt folgende Tendenzen der Bearbeitung hervortreten: Streichungen wurden in allen Teilen der Textvorlage vorgenommen, um den Umfang des Hörspiels auf ein sendbares Maß zu reduzieren. Ausgelassen wurden vor allem langwierige Nachfragen und Beschreibungen der Örtlichkeiten sowie Fakten, die sich im Laufe des Stückes wiederholen. Beispielsweise fehlen im „Gesang vom Unterscharführer Stark“ I und II 165 Zeilen – das ist mehr als ein Drittel des Textes – die seine Tätigkeiten bürokratisch genau wiedergeben und dabei erneut Situationen während der Aufnahme und in den Krematorien aufgreifen.100 Allerdings fehlt hier auch die einzige Stelle, in der die verschiedenen Opfergruppen explizit benannt werden: „ANGEKLAGTER 12 [...] Dann wurde eine Zugangsliste erstellt / Daraus ging _____________ 97 98

Das Produktionsdatum ist der Datenbank des DRA Potsdam entnommen; Record 33531. Zitiert wird nach: Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1991 (= D); sowie Peter Weiss: „Die Ermittlung“. Oratorium in 11 Gesängen. Kontrollexemplar des Hörspiels. DRA Potsdam. Signatur: B 082-00-04/0256 (= Hs). 99 Vgl. die handschriftliche Bemerkung auf dem Manuskript „Wenn Titel DAS LAGER müsste Gesang 2 Gesang von der Aufnahme heissen“; Peter Weiss Archiv in der Akademie der Künste Berlin, Signatur: 1808, S. 1. 100 Ähnlich verhält es sich mit dem „Gesang vom Zyklon B“, der um die bürokratischen und technischen Details sowie die Episode um den Unterscharführer Theurer und somit um die Hälfte seines Textes gekürzt wurde.

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hervor / ob es sich um einen politischen Häftling / einen kriminellen Häftling / oder einen rassischen Häftling handelte“ (D 110).101 Wenn Marita Meyer herausarbeitet, dass Weiss die jüdischen Opfer zwar nicht explizit benennt, sie aber durch Namensgebung und Hinweise auf jüdische religiöse Traditionen implizit auftreten adressiert, muss festgestellt werden, dass in der Hörspielfassung gerade zwei Textstellen fehlen, die sich auf die jüdische Herkunft der Opfer beziehen. Es handelt sich um die Erschießung einer Frau, die mit dem Namen „Sarah“ benannt ist (D 113)102 und um den „Bunkerjakob“, dessen abschließende Sätze im Hörspiel fehlen: „ZEUGE 3 [...] Ihr Tod rührt mich nicht / Dies alles rührt mich so wenig / wie es den Stein rührt / in der Mauer“ (D 167).103 Meyer zeigt, dass dieser Text, für den bisher keine historische Quelle nachgewiesen werden konnte,104 eine symbolische Lesart in zweierlei Hinsicht nahelegt: Wenn der Bunkerjakob sich mit einem Stein in der Mauer vergleicht, dann evoziert er die Erzählungen des Alten Testaments über den biblischen Jakob, in denen Steine eine Rolle spielen. [...] Im Alten Testament legen die Steine Zeugnis für göttliche Begegnungen ab, sie dienen der Erinnerung und der vertraglichen Absicherung von Territorialansprüchen.105

Einerseits unterstreicht das Zitat also die „jüdische Konnotation des Namens ‚Jakob‘“; andererseits „wiederholt der Vergleich auf einer bildhaften Ebene die Härte und Ungerührtheit des Bunkerjakob“.106 Durch das Fehlen dieser Hinweise auf die jüdische Identität verschiebt sich das im Drama bereits angelegte Missverhältnis zwischen den Opfergruppen einmal mehr zugunsten der ausdrücklich benannten Gruppe der russischen Kriegsgefangenen.

_____________ 101 Diese Passage fehlt auch in der westdeutschen Hörspielfassung, ist aber im Vorabdruck in Theater heute (S. 73) enthalten. 102 Der Name Sarah findet sich weder in der ost- noch in der westdeutschen Rundfunkfassung, ist allerdings im Vorabdruck des Dramas in Theater heute bereits enthalten (S. 75). Da Christoph Weiß die Ergänzung des Namens in der Druckfassung nachgewiesen hat, ist davon auszugehen, dass die Stelle nicht getilgt wurde, sondern im Funkmanuskript der Hörspielabteilungen noch nicht vorhanden war. Vgl. Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Bd. I, S. 147. 103 Es handelt sich hierbei um eine Textstelle, die nicht auf dramaturgische Eingriffe der Hörspielabteilung zurückzuführen ist, sondern auf eine frühere Fassung des Autors. Die Sätze des Bunkerjacobs wurden erst in die Suhrkamp-Fassung eingearbeitet. Sie fehlen in der ost- wie westdeutschen Hörspielfassung ebenso wie im Vorabdruck in Theater heute. 104 Meyer: Eine Ermittlung, S. 26. 105 Meyer: Eine Ermittlung, S. 26. 106 Meyer: Eine Ermittlung, S. 26.

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Darüber wurden im Hörspiel prozessuale Auseinandersetzungen zwischen Anklage und Verteidigung107 gestrichen sowie einige der häufigen und in der Wiederholung stereotypen Rechtfertigungen der Angeklagten und ihres Verteidigers. Beispielsweise fehlen allein im „Gesang von der Rampe“ III vier Passagen, in denen sich der Angeklagte 6 auf den Befehlsnotstand und die Gefährdung seiner eigenen Person beruft und sein Verteidiger die Beteiligung an den Selektionen als lebensrettend umdeutet: ANGEKLAGTER 6: Ich wandte mich an meinen alten Vorgesetzten / der antwortete mir / ich hätte alles zu tun / um nicht unangenehm aufzufallen [...] Ich sehe auch heute noch nicht / wie ich es damals / hätte anders machen sollen [...] Ich erhielt den Befehl / auf die Rampe zu gehen / unter der Drohung / auf der Stelle abgeführt zu werden / wenn ich dem Befehl nicht nachkäme / Was das bedeutete / war unmissverständlich [...] VERTEIDIGER: Keinesfalls / kann es als strafbare Handlung / bezeichnet werden / wenn diensthabende Ärzte / Häftlinge für das Lager auswählten / da sie dadurch nur die Zahl der Opfer / um die Anzahl der als arbeitsfähig Befundenen / verringerten (D 28 f.)108

Im gleichen Gesang fehlen darüber hinaus zwei Stellen, die den Zeugen in seiner Glaubwürdigkeit in Frage stellen sollen: VERTEIDIGER [...] Es ist anzunehmen / daß er das Gesicht unseres Mandanten / nach einem der öffentlich verbreiteten Bilder / wiedererkennt / [...] ANGEKLAGTER 15 Das ist mir ein Rätsel / was der Herr Zeuge da sagt / Ich verstehe auch nicht / warum der Zeuge sagt / 5 oder 6 / Hätte er 5 gesagt / oder hätte er 6 gesagt / dann wäre es verständlich (D 23).109

Auf diese Weise gibt das Hörspiel den Aussagen und Rechtfertigungen der Angeklagten weniger Raum, als dies im Drama der Fall ist. Möglich ist es – und dies ist in der DDR-Kulturpolitik an vielen anderen Stellen ebenfalls zu beobachten –, dass das kommentarlose Nebeneinander so stark divergierender politischer Ansichten eine Urteilsfähigkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer voraussetzte, die dem Publikum in der DDR nur zögerlich zugetraut wurde. Statt dessen war es üblich, die ‚Standortfindung‘ der Hörerinnen und Hörer wenn nicht vorzugeben, so doch durch klare Hinweise in die ‚richtige‘ Richtung zu lenken. Zudem fehlen im „Gesang von der Aufnahme“ zwei Episoden: jene, in der die Zeugin 4 von der Begegnung mit einem Mädchen zwischen den _____________ 107 Im „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ fehlt das Ende des ersten Teils, in dem sich Verteidiger und Ankläger um Details der Strafprozessordnung streiten (D 80 f.). Diese Passagen finden sich weder in der ost- noch in der westdeutschen Funkfassung, sind aber im Vorabdruck in Theater heute (S. 69) enthalten. 108 Die Textfassung im ost- wie westdeutschen Hörspiel ist identisch, im Vorabdruck in Theater heute sind diese Passagen jedoch enthalten (S. 62). 109 Die Zeilen fehlen in der ostdeutschen Fassung, sind im westdeutschen Hörspiel (S. 21 f.) und im Vorabdruck des Dramas in Theater heute jedoch enthalten (S. 61). Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich um eine Streichung der Hörspielabteilung handelt.

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Toten in der Leichenbaracke erzählt, und jene, in der der Zeuge 7 von der Begegnung eines neunjährigen Jungen mit einem Wachposten berichtet. Bezeichnenderweise sind dies Stellen, die Kinder bzw. Jugendliche vorstellen, die sich ihrer Lage mit erstaunlicher Klarsicht bewusst sind; im dritten Teil dieses Gesangs fehlen darüber hinaus folgende Zeilen, die sich ebenfalls auf die an Kindern begangenen Verbrechen beziehen: ZEUGIN 5: Mengele kam in seiner feschen Art / die Daumen im Bauchriemen steckend / freundlich nickte er den Kindern zu / die ihn Onkel nannten / ehe sie in seinem Laboratorium / zerschnitten wurden (D 51).110

Es bliebe zu fragen, inwiefern die Textfassung des Hörspiels die Sicht erwachsener (männlicher) Häftlinge favorisiert und das spezifische Dasein von Kindern im Lager übergeht. Marita Meyer erwähnt in ihrem Kapitel über den „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ die Vernachlässigung der geschlechtsspezifischen Situation in den Konzentrationslagern, die erst in jüngster Zeit Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist: Die meisten Untersuchungen zur Geschichte der Konzentrationslager machen keinen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Häftlingen. Das bedeutet aber, daß die männliche Häftlingserfahrung zur Norm wird und spezifisch weibliche Erfahrungen ausgespart werden.111

Ähnliches lässt sich auch für deportierte Kinder und Jugendliche feststellen. Dass Weiss trotz der schlechten Forschungslage zu diesem Thema nicht nur die jugendliche, sondern gerade auch die weibliche Perspektive nicht vernachlässigen will, beweist das Einfügen der Schilderungen des Lebens im ‚Frauenblock‘ 10 in den „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“. Die hier geschilderten geschlechtsspezifischen Folterungen wurden im historischen ‚Auschwitz-Pozess‘ nicht thematisiert, da sie in keinem direkten Zusammenhang mit den dort Angeklagten standen.112 In der Hörfassung des DDR-Rundfunks ist dieser Vorstoß zur Differenzierung der Opfergruppen partiell zurückgenommen: Im dritten Teil des „Gesangs von der Möglichkeit des Überlebens“ fehlen ganze 21 Zeilen, in denen die Zeugin 4 von mangelnder Hygiene, Experimenten der künstlichen Befruchtung und Versuchen mit Röntgenstrahlung, Abtreibungen von Schwangerschaften bis zum siebenten Monat sowie Tötungen von Neugeborenen berichtet (D 91).113 Wenn im Hörspiel also Schilderungen fehlen, die die Wahrnehmungen von Kindern und Jugendlichen _____________ 110 Diese Textstelle fehlt in beiden Hörspielfassungen, ist aber im Vorabdruck in Theater heute (S. 64) enthalten. 111 Meyer: Eine Ermittlung, S. 93, Anm. 4. 112 Vgl. Meyer: Eine Ermittlung, S. 93. 113 Die Passage fehlt auch in der westdeutschen Hörspielfassung, ist aber in Theater heute (S. 71) bereits enthalten.

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sowie Frauen betreffen, bestätigt es jene Sichtweise, die den männlichen erwachsenen Häftling zur Norm erhebt.114 Diese Tendenz wird noch einmal zugespitzt, wenn im Manuskript der Hörfassung auch Differenzierungen innerhalb der Gruppe der männlichen Lagerinsassen und ihres Schicksals nivelliert werden: Im „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ II fehlt die Passage, die die Rettung des Zeugen 7 betrifft. Er schildert hier seine rein zufällige Begegnung mit einem Häftling, der ihm rät, aus dem Zug zum Krematorium auszuscheiden, um dann im Krankenbau zu überleben (D 87 f.). Mit dem Beispiel für die Zufälligkeit und Beliebigkeit des Überlebens wird aber auch die entscheidende abschließende Bemerkung des Zeugen gestrichen, die darauf hinweist, dass ein physisches Überleben des Konzentrationslagers noch lange nicht eine Rückkehr ins Leben bedeutet: „VERTEIDIGER Und dann haben Sie die Zeit im Lager / überstanden ZEUGE 7 Ich kam aus dem Lager heraus / aber das Lager besteht weiter“ (D 87 f.).115 Statt dessen endet der zweite Teil des Gesanges mit der Aussage des politischen Häftlings, der als Zeuge 3 vernommen wird: ZEUGE 3 Ja / Es war unsere Stärke / daß wir wußten / warum wir hier waren / Das half uns / unsere Identität zu bewahren / Doch auch diese Stärke / reichte nur bei den Wenigsten / bis zum Tod / Auch diese konnte gebrochen werden (D 87; • Hörzitat 8).116

Im Rundfunk der DDR ist der typische Häftling demnach nicht nur erwachsen und männlich, sondern auch aus politischen Gründen inhaftiert und innerhalb des Lagers organisiert – nicht umsonst spricht der Zeuge 3 in der dritten Person Plural. Sein Leiden im nationalsozialistischen Konzentrationslager wird umgewandelt in einen kämpferischen Geist, der aus seinem Willen zum Widerstand heraus die Kraft zum eigenen Überleben entwickelt und darüber hinaus noch andere – „vor allem die Kameraden“ (Hs 61) – retten kann.117 In dem im Vergleich zur Druckfassung abweichenden Text ist er der einzige, der im zweiten Teil des Gesangs zu Wort kommt. Seine Schilderungen des politischen Widerstands bilden so das Zentrum der ‚Möglichkeiten des Überlebens‘ und applizieren zentrale Motive, die das Gedenken in der DDR gerade in Bezug auf das Konzen_____________ 114 Schon der grammatisch maskuline Begriff „Häftling“, von dem keine weibliche Form gebildet werden kann, impliziert das biologisch männliche Geschlecht der Opfer. 115 Die Passage fehlt in der ost- und westdeutschen Hörspielfassung, ist aber in Theater heute (S. 70) bereits enthalten. 116 In der Sendefassung des Hörspiels heißt der letzte Satz „Auch diese konnten zerbrochen werden.“ (• Hörzitat 8) 117 „Er [der Arzt Dr. Flage, M.G.] duldete es / daß ich die Krankenkarten einzelner / schon ausgesonderter Häftlinge / an mich nahm / und sie so vor dem Tod bewahren konnte“ (Hs 60).

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trationslager Buchenwald beherrschten,118 auf das Vernichtungslager Auschwitz. Ähnliches gilt für die in der DDR präferierte ökonomische Interpretation des Nationalsozialismus. Einige textliche Veränderungen in der Hörspielfassung greifen auf ältere Varianten des Dramas zurück, in denen Peter Weiss diese Sicht zuspitzt: Im Vergleich zur bei Suhrkamp erschienenen Textvorlage in ihrer letzten Fassung findet sich im Manuskript des Hörspiels an zwei Stellen älteres Zahlenmaterial. Wenn es um die finanziellen Vorteile aus der Enteignung der Deportierten geht, heißt es nicht wie in der gedruckten Vorlage: Nach einem Abschlußbericht / über die Zeit vom 1. April 1942 / bis zum 15. Dezember 1943 / beliefen sich die erfaßten Geldmittel / Devisen Edelmetalle und Juwelen / auf 132 Millionen Mark / wozu noch 1900 Waggons voller Spinnstoffe kamen / im Wert von 46 Millionen / Da stand noch ein Jahr / der größten Transporte bevor (D 31)

sondern, entsprechend des Manuskripts, das von Weiss in den Korrekturfahnen jedoch nochmals geändert wurde: Nach einem Abschlußbericht / vom Januar 1944 / beliefen sich die erfaßten Geldmittel und Devisen / auf etwa 80 Milliarden / die Edelmetalle und Juwelen / auf 52 Milliarden / wozu noch 2000 Waggons voller Spinnstoffe kamen / Diese Bestände verteilten sich von einzelnen Millionenvermögen an / bis zum Sparpfennig des Ärmsten (Hs 18 f.)119

Christoph Weiß’ Ausführungen zufolge ersetzte Weiss seine ursprüngliche Angabe „Milliardenwerte“, die sich im Typoskript findet, durch eine detaillierte Auflistung geraubter Werte [...], die er dann in M[anuskript] und K[orrekturfahnen] durch Auf- und Abrundung sowie Zusammenziehung wieder bündelte, so dass von der ursprünglichen Änderung ein Kompromiss blieb: einerseits zwar detaillierte Zahlen, die andererseits aber unspezifisch genug waren, um im Gedächtnis haften zu bleiben.120

_____________ 118 Die Gedenkstätte im Konzentrationslager Buchenwald ist das prägnanteste Beispiel für die Umdeutung der Opfer des Nationalsozialismus in Kämpfer und Sieger: Das rote Dreieck, Kennzeichen der politischen Häftlinge, diente als einziges Emblem der Gedenkstätte, deren Ausstellung das Leitmotiv „Vom Sterben durch Kämpfen zum Sieg“ verfolgte. Vgl. Volkhard Knigge: „Antifaschistischer Widerstand und Holocaust. Zur Geschichte der KZGedenkstätten in der DDR“. In: Erinnerung. Zur Gegenwart des Holocaust in Deutschland-West und Deutschland-Ost. Hg. v. Bernhard Moltmann. Frankfurt 1993. 67–77, S. 69. 119 Diese Angaben entsprechen auch denen im Vorabdruck in Theater heute (S. 61), sind also auf eine Fassung des Autors zurückzuführen; vgl. auch die Ergänzungen im Typoskript der Dramenfassung im Peter-Weiss-Archiv der Akademie der Künste Berlin, Signatur: 1808, S. 24. 120 Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Bd. I, S. 118.

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Die vorgenommene Umwertung von Millionen in Milliarden,121 die der Autor selbst in den Korrekturfahnen zurücknimmt, findet sich noch in der Hörspielfassung. Das Hörspiel betont somit den ökonomischen Aspekt der Judenverfolgung mithilfe schockierender Zahlen. Die westdeutsche Hörspielfassung unterscheidet sich von der ostdeutschen vor allem in ihrer Länge. Umfasste die Produktion des Deutschlandsenders monumentale 4 Stunden und 8 Minuten, so wurde die westdeutsche Fassung auf knapp drei Stunden zusammengeschrumpft.122 Ein detaillierter Fassungsvergleich muss an dieser Stelle unterbleiben. Es sollen der Vollständigkeit halber lediglich Tendenzen aufgezeigt werden: Verzichtet wurde wie in der ostdeutschen Fassung auf Wiederholungen und detaillierte Zahlenangaben. Darüber hinaus lässt sich auch in der Bearbeitung des Hessischen Rundfunks eine Tendenz zur Tilgung von Textpassagen feststellen, die das Leid von Frauen und Kindern schildern. Allein in den ohnehin verhältnismäßig kurzen Aussagen der beiden weiblichen Zeugen (Zeugin 5 und 6) fehlen fast 30 % der Schilderungen, die explizit die Perspektive von Frauen und Kindern einnahmen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die Eingriffe in den Text zum Ende hin zunehmen und vermutlich den Verzicht auf Wiederholungen und besonders brutale Schilderungen zum Ziel hatten. So wurden große Teile im „Gesang vom Phenol“ und im „Gesang von den Feueröfen“ gestrichen. Die auditive Umsetzung arbeitet neben der Modulation des gesprochenen Wortes allein mit Stille und Raumklang, ergänzt um zwei Situationen, in denen die Angeklagten ein vorsichtiges Kichern äußern.

_____________ 121 Christoph Weiß zeigt, dass selbst diese geringeren Zahlen „für Aussagen über das den Auschwitz-Opfern gestohlene Eigentum untauglich“ sind, da sie sich mit Blick auf die Quelle, die Weiss zur Verfügung stand, nicht nur auf Auschwitz, sondern auf andere Konzentrationslager bezogen. Weiß schlussfolgert über den Autor: „Mithin suggerierte er hier, also im ersten Gesang, in dem die ökonomistische Auschwitz-Deutung in den Text eingeführt wird, mit inadäquatem Zahlenmaterial dokumentarische Genauigkeit zur Unterstützung dieser Interpretation.“ Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Bd. I, S. 119. 122 Die Daten folgen den Angaben auf der vom Hörverlag publizierten CD Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. München 2007. Hinweise darauf, dass es sich hierbei lediglich um eine gekürzte Fassung der ursprünglich 1965 gesendeten Hörspielinszenierung (vgl. die online-Rezension von Gerald Windl unter: http://schallplattenmann.de/a115661Peter-Weiss-Hermann-Naber-Die-Ermittlung.htm) handelt, konnten nicht bestätigt werden. Die ARD-Hörspieldatenbank und das Archiv des Hessischen Rundfunks verzeichnen jeweils eine Länge von 177 Minuten, die mit der Fassung auf der CD identisch ist. Die Bearbeitung durch den Hörverlag beschränkt sich nach eigener Angabe auf die Kürzung eines einführenden Satzes und einzelner Sprechpausen. Ich danke Herrn Defterli vom Hessischen Rundfunk und Frau Böttcher vom Hörverlag an dieser Stelle für ihre Unterstützung.

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3.3. Höllengelächter und Totenstille Wie es in der „Anmerkung“ zur Ermittlung heißt, zielte Weiss darauf ab, ein „Konzentrat“ der „Reden und Gegenreden“, die im sogenannten Auschwitz-Prozess vor dem Gericht gehalten wurden, auf die Bühne zu bringen. Unter weitgehender Ausschaltung der „emotionalen Kräfte [...]“123 stützt sich der Autor fast ausschließlich auf das gesprochene Wort. Allein an 21 Stellen im gesamten Stück gibt es Regieanweisungen, die nonverbale Äußerungen der Angeklagten und einer Zeugin festlegen. Im dritten Teil des „Gesangs von der Möglichkeit des Überlebens“ kann die Zeugin 4 die Fragen des Richters an vier Stellen nicht beantworten und schweigt. Diese stereotype Formel: „Zeugin 4 schweigt“ ist die einzige Regieanweisung, die sich auf eine Zeugin oder einen Zeugen bezieht, und soll an anderer Stelle genauer analysiert werden. Alle übrigen betreffen die Angeklagten. Hierbei sind individuelle Äußerungen wie Nicken, Begrüßungsgesten oder Grinsen von jenen Bekundungen zu unterscheiden, die alle Angeklagten gemeinsam von sich geben. Am markantesten und häufigsten vertreten ist hier die Bemerkung „Die Angeklagten lachen“, die sich zehnmal, über das gesamte Drama verteilt, findet. Zentral ist eine einzige Stelle am Ende des „Gesangs von der Schwarzen Wand“, an der die Angeklagten ihre „Empörung“ bekunden, während sich darüber hinaus gegen Ende des Dramas zweimal (am Ende des „Gesangs vom Zyklon B“ I und am Schluss des „Gesangs von den Feueröfen“ III) Äußerungen finden, in denen die Angeklagten ihre Zustimmung ausdrücken. Versuchen die einzelnen Angeklagten durch positives Entgegenkommen, die Zeugen für sich zu gewinnen, so zielt das gemeinschaftliche Lachen darauf ab, in der Gruppe einen Gegenpol zur Ordnung des Gerichts zu schaffen, indem Zeugen oder auch der Staatsanwalt verunglimpft werden. In demokratischen Staaten dienen Strafprozesse der (Wieder-)Herstellung von Ordnung und Gerechtigkeit und der Festigung gemeinschaftlicher Wertvorstellungen durch eine gesellschaftliche Institution. Wenn nun die Angeklagten in einem solchen Strafprozess, dessen Gegenstand ein millionenfacher Massenmord ist, regelmäßig die Zeugen und damit auch die Opfer ihrer Verbrechen sowie den Vertreter der Anklage verlachen, setzen sie nicht nur das gegenwärtige Verfahren herab, sondern auch die Wertvorstellungen, die in diesem Verfahren vertreten werden. Statt dessen werden die Machtverhältnisse, die zur Zeit des Nationalsozia_____________ 123 Peter Weiss: „Anmerkung“. In: ders.: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1991, S. 9.

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lismus zu den genannten Verbrechen führten, im Gerichtssaal erneut hergestellt: Stellt das Lachen einen Angriff auf die soziale Ordnung dar, festigt das Verlachen die sozialen und kulturellen Hierarchien. Die oben Stehenden verlachen die untern; sie erhöhen sich auf Kosten der Erniedrigten. Ihr Lachen bestätigt die Unterwerfung; es schafft Distanz und domestiziert; es sichert Privilegien, lässt keinen Ausgleich zu; es straft Verstöße gegen geltende Werte; unerbittlich setzt es die Unterlegenen der Lächerlichkeit aus und stärkt das Überlegenheitsgefühl des Lachenden.124

An diesen Stellen werden die Zeugen zum zweiten Mal zu Opfern der Angeklagten, indem sie als Personen verlacht und damit erneut vernichtet werden: Im Lachen über die ertappte Insuffizienz affirmiert der Lachende seine Überlegenheit, affirmiert er sich selbst als ein überlegenes Sein. Das Lachen gibt dem Lachenden mit anderen Worten die Gewissheit zu sein, wie es umgekehrt demjenigen, über den gelacht wird, den Beweis einer Abwesenheit des Seins erbringt. Das Lachen stürzt denjenigen, der sich als unzulänglich enthüllt, in eine Leere, die der Abgrund des eigenen Nichtseins ist. Es zerreißt, was dem Ideal der Vollendung unangemessen ist, ein Beweis dafür, daß der Mensch zwar kein Raubtiergebiß besitzt, dafür aber im Lachen ein Äquivalent dazu findet. [...] Es handelt sich um ein bloßstellendes, entlarvendes, aggressives Lachen, das manchmal bis zu einem Exzeß an Grausamkeit gesteigert wird, latente Grausamkeit jedoch in allen Fällen impliziert.125

Der wiederholte Sieg der Täter über die Opfer und ihre erneute Vernichtung offenbart sich ebenso am Schluss des Dramas: Das letzte Wort gehört nicht, wie häufig behauptet, dem Angeklagten 1, der sich selbst zum Opfer stilisiert und die Taten als verjährt betrachtet wissen will, sondern der „Laute[n] Zustimmung von seiten der Angeklagten“ (D 199). Ihr chorisches Auftreten, das schon im ersten Gesang durch das Lachen etabliert wird, lässt sie bis zum Ende als Gruppe auftreten, die ihre Interessen im „Zusammenschluß“, der an einen „imperialen Akt des Ausschlusses“ gebunden ist, erfolgreich vertreten: „Das Lachen wirkt vereinigend und ausschließend zugleich. [...] Es schließt die Gruppe der Lachenden in einer gemeinsam erfahrenen Überlegenheit zusammen; das lächerliche Subjekt aber schließt es in demselben Akt aus.“126 Insofern ist – unter Hinweis auf Weiss’ Bezug auf die Göttliche Komödie von Dante – das Lachen der Angeklagten tatsächlich als ein teuflisches Lachen, als ein Höllengelächter zu _____________ 124 Dietmar Kamper u. Christoph Wulf: „Der unerschöpfliche Ausdruck. Einleitende Gedanken“. In: Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln. Hg. v. dens. Frankfurt a. M. 1986. 7–14, S. 8 f. 125 Rita Bischof: „Lachen und Sein. Einige Lachtheorien im Lichte von Georges Bataille“. In: Lachen – Gelächter – Lächeln. Reflexionen in drei Spiegeln. Hg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Frankfurt a. M. 1986. 52–67, S. 52 f. 126 Bischof: „Lachen und Sein“, S. 57.

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verstehen, das einen Gegenpol zur „sachlichen Stilisierung“ der Fakten bildet, gleichzeitig aber sehr wohl auch einen konkreten Bezug zum tatsächlichen Geschehen im Gerichtssaal aufweist. So beschreibt Weiss in der „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“ sowohl die Auslieferung der einzeln vortretenden Zeugen an die Gruppe der ebenso „überwacht[en]“ wie „behütet[en]“ Angeklagten als auch die „hohnvollen Gebärden“ und das „Spottgelächter“, mit denen die Zeugen durch die Angeklagten bedacht wurden.127 Andererseits lachen die Angeklagten häufig nach Redebeiträgen aus den eigenen Reihen oder des Verteidigers. Hierbei handelt es sich ebenfalls um Verhöhnungen der Zeugen wie in der folgenden Passage: ANGEKLAGTER 2 Es entspricht der Wahrheit / daß die Zeugin bei uns Dolmetscherin war / Jedoch ist sie nie bei verschärften Vernehmungen / zugegen gewesen / Bei solchen Gelegenheiten / waren überhaupt nie Damen dabei ZEUGIN 5 Damen ANGEKLAGTER 2 Das kann ich heute wohl sagen Die Angeklagten lachen (D 62)

An anderen Stellen begleitet das Gelächter die farcenhaften Auftritte der Angeklagten. Als würde man eine Komödie aufführen, ‚spielt‘ jeder der Angeklagten und auch ihr Verteidiger die ihm zugewiesene Rolle, deklamiert den vorgeschriebenen, immer gleichen Text und wird mit amüsierten Reaktionen belohnt: ANGEKLAGTER 12: [...] Herr Vorsitzender / Uns wurde das Denken abgenommen / Das taten ja andere für uns / Zustimmendes Lachen der Angeklagten (D 120).

In der ostdeutschen Hörspielfassung wird keine der angegebenen Regieanweisungen für die Angeklagten umgesetzt. Gerade das ‚Höllengelächter‘, dessen Wirkung mit den technischen Mitteln des Radios noch hätte verstärkt werden können, wurde komplett herausgelassen. Der Zynismus und die Reuelosigkeit der Angeklagten kommen nun allein in der Stereotypie der Aussagen und der Intonation der Sprecher zum Ausdruck. Die Hörfassung naturalisiert die Handlung und lässt sie als realistische und authentische Darstellung des Geschehens im Gerichtssaal erscheinen. Hatte das gemeinsame Gelächter die Angeklagten als Chor auftreten lassen, so beschränkt sich die Perspektive des Hörspiels auf das Verhältnis zwischen einzelnen Tätern und einzelnen Opfern. In Anlehnung an das griechische Theater, in dem der Chor den Kommentar des Geschehens im Namen der zuschauenden Öffentlichkeit äußert, ließe sich interpretieren, dass auch die zuschauenden/zuhörenden Deutschen, repräsentiert vom Chor der Angeklagten, mit auf der Anklagebank – und nicht unbeteiligt im Zu_____________ 127 Peter Weiss: „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. 125–141, S. 134.

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schauerraum – sitzen. Dass Weiss eben jene Assoziation auch beabsichtigte, deutet er schon in der „Anmerkung“ an, wenn es heißt: „Sie [die Angeklagten, M.G.] leihen dem Schreiber des Dramas nur ihre Namen, die hier als Symbole stehen für ein System, das viele andere schuldig werden ließ, die vor diesem Gericht nie erschienen.“ (D 9) Dieser Aspekt, der in der offiziellen Lesart für ein DDR-Publikum ohnehin nicht zutraf, geht ebenso verloren wie die stilistische Überhöhung des vordergründig rein Faktischen. Übrig bleibt die Funkfassung eines Dramas, die ein Gerichtsverfahren zu Gehör bringt, das in Monologen und Dialogen – die Dialogstruktur wird durch das Einfügen von Reaktionen auf Fragen wie „Ja, ...“ noch verstärkt – den Gerichtsprozess noch einmal darstellt. Dies aber läuft der Intention des Autors zuwider, der in der „Anmerkung“ schreibt: „Bei der Aufführung dieses Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren.“ (D 9) Die Verfremdung des Stoffes durch das ins Surreale tendierende Höllengelächter weicht einer „sachlichen Stilisierung“128, die eine Authentizität behauptet, die in der literarischen Vorlage vorsätzlich gebrochen wurde. Diese Authentizität im Anklang an den historischen Frankfurter Prozess beansprucht auch die westdeutsche Hörspielfassung in der Inszenierung von Peter Schulze-Rohr. Hier wird das Gelächter der Angeklagten als nonverbales akustisches Element umgesetzt. Als zaghaftes zynisches Lachen von zwei bis drei Stimmen erklingt es kurz im Gesang von Lager (D 46; Regieanweisung: „Der Angeklagte 7 grinst den Zeugen an“) und etwas stärker am Ende des ersten Teils im „Gesang vom Phenol“ (D 144). Es kann kaum als Stilmittel oder gar akustisches Leitmotiv verstanden werden. Eher unterstützt es die Reinszenierung des Prozesses im Radio, die sich auch in der einleitenden akustischen Atmosphäre eines Gerichtssaals andeutet, die zwischen den einzelnen Teilen erklingt und den Text in Verhandlungsabschnitte gliedert. Neben Pausen handelt es sich hierbei um eines der wenigen Stilmittel, die zum Einsatz kommen, ergänzt um eine vorsichtige Verwendung von Hall. Während Richter und Belastungszeugen in der Regel sehr nah und raumlos sprechen, werden die Aussagen der Angeklagten mit leichtem Hall versehen. Hier entsteht der Eindruck, es handele sich um einen größeren Raum, in dem die Angeklagten etwas weiter entfernt vom Richtertisch sitzen und diese Entfernung bei Ihren Aussagen stimmlich überwinden müssen. Rezeptionsästhetisch perspektiviert diese auditive Raumanordnung in der westdeutschen Inszenierung insofern, als Hörerinnen _____________ 128 Ernst Schumacher: „‚Die Ermittlung‘ von Peter Weiss. Über die szenische Darstellbarkeit der Hölle auf Erden“. In: Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt. Bd. II. 705–718, S. 711 [zuerst erschienen in: Sinn und Form 6 (1965)].

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und Hörer die Position von Richter bzw. Opfer einnehmen, während die Angeklagten aus der Distanz wahrgenommen werden. Anstelle des im Text vorgegebenen Gelächters der Angeklagten herrscht in der ostdeutschen Hörfassung Stille. Wie eine Atempause, in der die letzten Worte in den Ohren der Hörerinnen und Hörer nachklingen, wirken diese Momente, die für eigene Reflexionen und Stellungnahmen Raum geben, andererseits aber gerade auf die unbeschreiblichen Greuel, die unsagbare Anzahl von Opfern, auf die Toten, die nicht mehr Zeugnis ablegen können, verweisen. Wenn auf der Bühne oder im Film der Ton ausbleibt, die Darsteller schweigen, kann sich das Publikum noch immer visuell orientieren. Im Radio aber bedeutet Stille das Ausbleiben jedweder Information und damit das Scheitern von Kommunikation. Die Stille, die die Ermittlung unterbricht, löst so die Forderung Baudrillards nach einem Verstummen der Medien angesichts des Holocaust ein: „Schweigen [...] wäre [...] eine kleine Katastrophe im [medialen] Kreislauf [...], ein mit Angst und Jubel geladener Bruch, der klarstellt, daß diese ganze Kommunikation im Grunde nur ein forciertes Scenario ist.“129 In diesen kurzen Augenblicken der Stille – der Totenstille130 – kommt der narrative Fluss der ‚Ermittlung‘ zum Stillstand, scheint das Eigentliche, das weder im historischen Strafprozess noch in der Aufführung des Dramas seinen Platz finden kann, die Sinnlosigkeit des Todes von Millionen Menschen, hindurch, ohne in ein sinnvolles Zeichen, ein Symbol oder eine Metapher gefasst zu werden. 3.4. Das Schweigen der Opfer In der Hörspielfassung der Ermittlung findet dieses ‚Mediendesaster‘ noch an anderen Stellen statt; denn ersetzt die Stille im Hörspiel das im Drama vorgegebene Gelächter der Angeklagten, so findet sich darüber hinaus in der literarischen Vorlage eine Regieanweisung, die besagt, dass die Zeugin 4 im „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“131 an genau vier Stellen schweigt. Marita Meyer begründet das Schweigen der Zeugin mit der noch immer herrschenden Angst vor antisemitischen Anfeindungen und den Angriffen des Verteidigers, der ausgerechnet die Folgen der Misshandlungen _____________ 129 Jean Baudrillard: Transparenz des Bösen. Berlin 1992, S. 20. 130 Vgl. die Gleichsetzung von Schweigen und Stille mit Erstarrung und Tot in Peter Weiss: „Meine Ortschaft“. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. 113–124, S. 124. 131 Da es sich hierbei um den vierten Gesang des Oratoriums handelt, kann die auffällige Häufung der Zahl vier in diesem Zusammenhang kaum übersehen werden.

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im Lager als Beweise für die Unglaubwürdigkeit der Zeugin heranziehen will. Meyer bemerkt zu Recht, dass das Schweigen der Zeugin auch „den verschwiegenen Anteil spezifisch weiblichen Leidens“ zum Ausdruck bringt. Vor allem aber schweigt die Zeugin in dieser Lesart, weil „sie keine passenden Worte für die grauenhaften Bilder in ihrer Erinnerung findet“132. In dieser Deutung spielt Meyer auf das in der Psychoanalyse herausgearbeitete Konzept des Traumas an. Hierbei handelt es sich um die Erfahrung „psychischer, physischer oder sexueller Gewalt, die vom Einzelnen nicht sofort hinreichend verarbeitet werden kann und symptomatische Leiden nach sich zieht“.133 Anstatt die Frage des Richters nach den medizinischen Experimenten zu beantworten, schweigt die Zeugin 4 und schildert dann dem Verteidiger auf dessen Nachfrage ihre persönlichen somatischen Leiden, die sich direkt auf die Erlebnisse im Lager zurückführen lassen: „Schwindelanfälle und Übelkeit / Kürzlich in der Toilette musste ich erbrechen / da roch es nach Chlor / Chlor wurde über die Leichen geschüttet / Ich kann mich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten“ (Hs 66; • Hörzitat 8). Kennzeichnend für traumatische Erfahrungen ist weiterhin der Umstand, dass sie sich der Überführung in Sprache und Reflexion entziehen und so nicht in die chronologische, identitätsstiftende Erinnerung des Subjekts integriert werden können.134 Andererseits kehren sie „unfreiwillig“ in Form von „Albträumen, Flashbacks, Halluzinationen und zwanghaften schematischen Verhaltensweisen“135 wieder. So auch bei der Zeugin aus der Ermittlung: „Ich möchte vergessen / aber ich sehe es immer wieder vor mir“. Ihre vergeblichen Versuche, das Erlebte einzuordnen, mit Sinn zu versehen, zu verarbeiten und so vergessen zu können, werden durch die Fragen des Verteidigers nach eventuellen „Gedächtnisschwächen“ (Hs 66; Hörzitat 8) ins direkte Verhältnis zu den Erinnerungslücken der Täter gesetzt. Das Schweigen der Täter, die ihre Verbrechen erfolgreich verdrängen oder sie als verjährt vergessen machen möchten, steht dem Schweigen der Opfer gegenüber, die dauerhaft gefangen sind und weder vergessen, noch das Erlebte in Sprache fassen können. Die Zeuginnen 4 und 5 sind die einzigen weiblichen Zeugen, die im Drama auftreten. Meyer weist zu Recht darauf hin, dass sie allein Zeichen der emotionalen Betroffenheit tragen und Weiss so den Frauen „die mit_____________ 132 Vgl. Marita Meyer: Eine Ermittlung, S. 100. 133 Michael Eggers: „Trauma“. In: Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon. Hg. v. Nicolas Pethes u. Jens Ruchatz. Reinbek bei Hamburg 2001. 602–604, S. 602. 134 Vgl. a. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 58 f. 135 Eggers: „Trauma“, S. 602.

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leidende und selbstzerstörerische Reaktion“ zuweist.136 Doch war die Zeugin 4 in den vorhergehenden Gesängen durchaus in der Lage, die Fragen des Richters zu beantworten – es stellt sich also die Frage, warum sie die Sprachlosigkeit gerade an dieser Stelle überwältigt. Der dritte Teil des „Gesangs von der Möglichkeit des Überlebens“ ist den Frauen in Auschwitz gewidmet. Er behandelt das Leben „im Frauenblock Nummer Zehn / In dem medizinische Experimente vorgenommen wurden“ (Hs 66). Unter Stocken und mehrmaliger Aufforderung durch den Richter sowie Infragestellungen durch den Verteidiger berichtet die Zeugin 4 – in der Hörfassung leise, mit gebrochener Stimme (• Hörzitat 8) – von den Sterilisationen, die an den weiblichen Häftlingen und an ihr persönlich vorgenommen wurden. Eine besondere persönliche Betroffenheit lässt sich so bei der Figur der Zeugin 4 ausmachen. Weitergehend muss diese Szene jedoch im Kontext einer patriarchalen Kulturgeschichte gelesen werden, in der die Verknüpfung von sexueller Gewalt und dem Verstummen von Frauen eine lange Tradition hat, die bis in die Antike zurückreicht. Anhand der mythologischen Figur Philomele erörtert Helga GeyerRyan in ihrem Aufsatz „Kassandra in Sizilien“ den Gewaltzusammenhang, in dem Stumm-Machen zu Entmündigung im direkten Sinn des Wortes wird und damit zu Kastration und Impotenz der Frau führt. [...] Die unaufhörliche Präsenz der Vergewaltigungsdrohung für Frauen in patriarchalen Gesellschaften und die Sprechkontrollen, denen sie ebenso permanent unterzogen werden, bewegen sich beide in einem Register weiblicher Kastrierung als Zerstörung einer autonomen Individualität und Sexualität. Sprache und Sexualität, Zunge und Geschlecht, sind die Schnittstellen zwischen Psyche und Soma.137

Genau jener Zusammenhang – sexuelle Verstümmelung und das Berauben ihrer Individualität, ihres Menschseins – findet sich in diesem Teil des vierten Gesangs wieder. Berichtet wird von grausamen Sterilisationen, künstlichen Befruchtungen und anschließenden Abtreibungen. Weiss lässt hier scheinbar Raum für die weibliche Erfahrung innerhalb eines Diskurses, der von der Entindividualisierung der Opfer einerseits und der Setzung eines männlichen Häftlings andererseits bestimmt wird. _____________ 136 Meyer zeigt, dass sich die geschlechtsspezifischen Zuschreibungen in der Reaktion auf die Verbrechen des Nationalsozialismus auch in anderen Werken von Peter Weiss fortschreiben: „Das weist auf die Ästhetik des Widerstands voraus, worin eine rational-erklärende und eine mimetische Reaktion auf die Massenvernichtung einander gegenübergestellt werden. Die mimetische Reaktion, Verstummen, Wahnsinn bis zum Selbstmord, ist dort an weibliche Figuren gebunden.“ Meyer: Eine Ermittlung, S. 70. 137 Helga Geyer-Ryan: „Kassandra in Sizilien“. In: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Hg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Berlin 1992, S. 117–127, S. 119 f.

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Denn die Bedeutung der Geschlechterdifferenz verblasst gewöhnlich im Schatten der Shoah. Und dies ist nicht nur das Ergebnis neutralisierender Narrative, sondern auch die Nachwirkung einer alles Individuelle negierenden Vernichtungspolitik. Die Erinnerungen der Überlebenden stehen immer auch in der Nachgeschichte einer rassistischen Definitionsgewalt der Nazis und deren Produktion von Opfern, die auf eine Tilgung aller Merkmale eines Individuums, einschließlich der sexuellen Identität, abzielte.138

Die Szene legt aber offen, dass eine Einbeziehung dieser spezifisch weiblichen Perspektive in den angelegten Strukturen des gerichtlichen Verfahrens scheitern muss. Denn das Schweigen der Zeugin unterbricht die Kommunikation zwischen den beteiligten Parteien und lässt durchscheinen, dass es jenseits der zugewiesenen Rolle als ‚Sprachrohr‘ und ‚Zeugin‘139 keine Möglichkeit der Äußerung des Opfers als Individuum gibt. Das Schweigen, mit dem die Zeugin auf die Fragen des Richters reagiert, ist die einzige Stelle im Hörspiel, an der die persönliche Betroffenheit der Opfer zum Ausdruck kommen soll. Gerade sie steht jedoch der Funktionalisierung ihrer Person als Zeugin entgegen. Die ‚Ermittlung‘ der Vorgänge im Lager zielt nicht darauf ab, das individuelle Schicksal der Aussagenden zu beleuchten, sondern allein darauf zu überprüfen, welche konkreten Vergehen den einzelnen Angeklagten nachgewiesen werden können. Folgerichtig reiht sich die Zeugin 4 in die anonymisierende Nummerierung durch den Autor Weiss ein, wird vom Richter und vom Verteidiger immer wieder als „Frau Zeugin“ angesprochen und so ausgerechnet in der vordergründigen Aufarbeitung des Nationalsozialismus erneut instrumentalisiert. Die Ansprache als Zeugin produziert innerhalb des Dialogs wiederum Hierarchien, die den Richter und den Verteidiger in die machtvolle Position derjenigen setzen, die die Fragen stellen und das Gespräch lenken, während das Opfer der NS-Verbrechen lediglich reagieren kann (• Hörzitat 8). Gunter Gebauer arbeitet in seinem Aufsatz „Radikales Schweigen“ die Gewaltförmigkeit dieser Zuschreibungen heraus: Die Ansprache ist sprachlicher Ausdruck einer seit langem, bereits im Protodialog vorgebildeten Form menschlichen Miteinanders. Neben anderen sind auch Beziehungen des Zwangs, der Unterordnung, der Gewalt, des Normierens und Festlegens in sie eingeschmolzen [...] Angesprochen-Werden kann zu einer Last werden, die Adresse, die man erhält, als schmerzliche Einschränkung und die Po-

_____________ 138 Sigrid Weigel: „Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust. Symbolisierungen, Zeugenschaft und kollektive Identität“. In: Sprache im technischen Zeitalter 33.135 (1995): 260– 268, S. 263. 139 Vgl. Peter Weiss: „Anmerkung“. In: ders.: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1991, S. 9.

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sition als ungenügend oder unzumutbar empfunden werden. Die Ansprache kann das aktualisieren, wogegen eine Person lange Zeit ihres Lebens gekämpft hat.140

Durch ihr Schweigen aber entzieht sich die Zeugin dieser aufoktroyierten Funktionalisierung in dramaturgischer und inhaltlicher Hinsicht. Sie unterbricht den Kommunikationsfluss nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch zwischen Hörspiel und Publikum: Radikales Schweigen ist totale Zurückweisung von Ansprache: nicht mehr angesprochen werden wollen, Ablehnung, eine bestimmte Adresse zu erhalten und zu sein, positioniert zu werden. [...] wer so den Dialog aufkündigt, zieht sich an die äußerste Grenze der Regularität und des Menschseins zurück, wo die Ansprache aufhört und das rein körperliche Leben beginnt.141

Von den mehrmaligen Aufforderungen durch den Richter und den Angriffen der Verteidigung gezwungen, kann sich die Zeugin nur in der Sprache der Nationalsozialisten äußern. Sie schildert die Vorgänge mit äußerster Distanz und übernimmt an einer Stelle sogar den Terminus des „Menschenmaterial[s]“ (Hs 68), obwohl sie, wie es heißt, nicht nur Beobachterin war, sondern „aus eigener Erfahrung“ (Hs 69) spricht. Eine persönliche Sprache, in der das Opfer über seine eigene Vernichtung als Individuum berichten könnte, ist von den Tätern auf physischer und psychischer Ebene zerstört worden. Das Paradoxon, dass nur Überlebende des Holocaust den Massenmord bezeugen können, wird hier auf die Ebene der Sprache übertragen: Der „Gesang von der Möglichkeit des Überlebens“ endet zwar mit dem Hinweis auf die „Räumung des Lagers“, die die „Zeugin 4“ vor dem physischen Tod „bewahrte“ (Hs 69), führt aber zugleich vor, dass das Überleben des Körpers den Tod des Individuums – symbolisiert im Sprachverlust – einschließen kann. Insofern verhandelt Weiss am Beispiel der geschlechtsspezifischen Gewalt die Unmöglichkeit, die eigene Vernichtung in Worte zu fassen. Der Diskurs über die Verbrechen der Nationalsozialisten findet in der Ermittlung ebenso wie die Geschichtsschreibung – zumindest im Deutschland der 1960er Jahre – ausgerechnet in der Sprache der Täter statt, die von den Opfern nur schweigend unter- bzw. gebrochen werden kann.

_____________ 140 Gunter Gebauer: „Radikales Schweigen“. In: Schweigen. Unterbrechung und Grenze der menschlichen Wirklichkeit. Hg. v. Dietmar Kamper u. Christoph Wulf. Berlin 1992. 27–37, S. 35. 141 Gebauer: „Radikales Schweigen“, S. 36.

Medienstimmen

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3.5. Medienstimmen Das Dilemma einer ‚Darstellung des Undarstellbaren‘ hat Weiss in der „Anmerkung“ zur Ermittlung142 ebenso wie in seinem Text „Vorübung zum dreiteiligen Drama“ in Anlehnung an und Abgrenzung von Dantes „Divina Commedia“ behandelt. Dort heißt es: Wie weit / war dies entfernt von mir. Die Möglichkeit des Sprechens / ging mir schon verloren, als ich mich bemühte, die Eindrücke / dieses Tribunals festzuhalten und mir die Geschehnisse vorzustellen, / die der Verhandlung zugrunde lagen. Meine Gedanken versagten, als ich / an die Reichweite dachte dessen, das hier angerührt wurde. / Trotz zahlreicher Anfälle von Mutlosigkeit und Überdruß gelang es Dante / Worte zu finden für einen Stoff, der allen gehörte, doch ungreifbar schien, / und was sich bisher der Sprache entzogen hatte, war jetzt / vernehmbar. Gesichten gab er Form, die in den Träumen seiner Zeitgenossen / lebten, und Kunst war ein Mittel, Gesichte zur Sprache kommen zu lassen. Ich aber / hatte keine Gesichte, nur Fakten gab es, trübe, zerronnen, und Gestalten, / die gelebt hatten, in äußerster Erniedrigung, die pulvrisiert / worden waren und zerstoben in Rauchwolken. Keine Gesichte, / nur stockende Aussagen von einigen wenigen Überlebenden, dazu / Beweisstücke, belichtete Filme, Spiegelungen aus dem Abstand / von zwei, drei Jahrzehnten geworfen, Dokumente, Aktenpapiere, Protokollhefte, / Tabellen, Ziffern und Bücher, Bibliotheken […].143

Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, die vielfältigen Bezüge zwischen Weiss’ Drama und Dantes „Divina Commedia“ nochmals nachzuzeichnen. Das wurde an anderer Stelle bereits geleistet.144 Bezüglich des Hörspiels geht es vielmehr darum, vor diesem Hintergrund die Frage nach den Möglichkeiten einer Repräsentation des Holocaust im auditiven Medium neu zu stellen. Wie bereits in der Arbeit von Meyer gezeigt wurde, verweist vor allem die Struktur des Oratoriums auf Dante: Weiss teilt es in 11 Gesänge mit jeweils drei Teilen, die somit die 33 bzw. 34 Gesänge des Inferno, des Purgatorio und des Paradiso aufgreifen145: „Obwohl der Schrecken von Auschwitz im Unterschied zu den Visionen Dantes der Wirklichkeit ange_____________ 142 „Bei der Aufführung dieses Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlungen über das Lager geführt wurden, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.“ Weiss: „Anmerkung“, S. 9. 143 Weiss: „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“, S. 135 f. 144 Vgl. beispielsweise Erika Salloch: Peter Weiss’ Die Ermittlung. Zur Struktur des DokumentarTheaters. Frankfurt a. M. 1972. Vgl. auch die Primärtexte, in denen sich Weiss zeitlich und thematisch in engem Zusammenhang mit Dante auseinandersetzte: Peter Weiss: „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“ und „Gespräch über Dante“. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. S. 125–141 u. 142–169. 145 Meyer weist auch darauf hin, dass die Anzahl innerhalb der Figurengruppen immer ein Vielfaches der Zahl drei darstellt: „Es treten 18 Angeklagte, 9 Zeugen und 3 Juristen auf.“ Meyer: Eine Ermittlung, S. 108.

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hörte, übernimmt Weiss Dantes Lösung, um dem Undarstellbaren Ausdruck zu geben.“146 Leben bei Dante sehr „irdische Gestalten“147 im Jenseits, so wurden die unvorstellbaren Unmenschlichkeiten von Auschwitz sehr wohl von Menschen begangen und somit die Hölle auf die Erde, mitten ins Leben geholt. Der Begriff des Oratoriums verweist auf seine doppelte Bedeutung als „geweihter Gottesdienstraum“ einerseits und als musikalischer „Gattungsbegriff“, der „die zu nichtszenischer Aufführung bestimmte Vertonung eines eigens dafür geschaffenen, meist umfangreichen geistlichen und in der Regel nichtliturgischen Textes, der auf mehrere Personen oder Personengruppen verteilt ist“148, bezeichnet, andererseits. Das Oratorium wird seit seiner Entstehung im Italien des 17. Jahrhunderts „nicht nur in Betsälen und Kirchen, sondern auch in Klöstern, Erziehungs- und Lehrinstituten [...], an Höfen und anderen Regierungssitzen sowie in Privathäusern aufgeführt“149. Im Oratorium nimmt der Text eine dominierende Stellung ein: „[S]tärker als in der Oper ist die Musik im Oratorium aber Vehikel der Textvermittlung“ und wird zur Weitergabe einer „geistlichen Botschaft eingesetzt“.150 Gerade in Deutschland sind die Verweise auf das gesprochene Wort evident: So bezeichnet man das „Libretto des Oratoriums [...] auf deutsch vorzugsweise als ein Sing-Gedicht“; und auch das lateinische Wort „Oratorie“ bezeichnet zu deutsch die „Redekunst“.151 Wenn also Peter Weiss sein Drama Die Ermittlung für das Sprechtheater schreibt, es aber nichtsdestotrotz als „Oratorium in elf Gesängen“ untertitelt, kann es ihm nicht nur stilistisch darum gegangen sein, „die formale Geschlossenheit“ seines Textes „deutlich zu machen“;152 vielmehr verweist der Begriff auf eine Aufführungspraxis unter Verzicht auf ein „illusionistisches Bühnengeschehen“153, bei der das gesprochene Wort zur Vermittlung von „Glaubenswahrheiten“154 im Vordergrund steht, die allerdings eine politisch-weltliche Ausrichtung erfahren haben. Weiss ordnet sich durch die Wahl dieser Gattungsbezeichnung ein in die Tradition jener Oratorien nach 1945, die „den Rahmen der Totenmesse ins Oratori_____________ 146 Meyer: Eine Ermittlung, S. 109. 147 Meyer: Eine Ermittlung, S. 109. 148 Art. „Oratorium“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Hg. v. Friedrich Blume und Ludwig Finscher. Sachteil. Bd. 7. Kassel 1997, Sp. 741. (Im Folgenden zitiert als MGG.) 149 MGG. Bd. 7, Sp. 745. 150 MGG. Bd. 7, Sp. 748. 151 MGG. Bd. 7, Sp. 761. 152 MGG. Bd. 7, Sp. 775. 153 MGG. Bd. 7, Sp. 795. 154 MGG. Bd. 7, Sp. 748.

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sche durch den universalistischen Anspruch einer ästhetischen Integration von Gegenwart und Geschichte“ weiten. Sie stehen zusammen mit Nonos Canto sospeso und Pendereckis Dies irae. Oratorium zum Gedächtnis der Ermordeten in Auschwitz beispielhaft für eine charakteristische Tendenz, welche die zwischen säkularer Funktionalität und religiöser Gebundenheit schwankende Gattung nach 1945 zum ästhetischen Ort der Mahnung und des Gedenkens avancieren ließ.155

Im Unterschied zu den Genannten verzichtet Weiss allerdings auf Instrumentalmusik und konzentriert sich auf elf „Gesänge“, demnach auf die Stimme, das Instrument des menschlichen Körpers. Weiss’ Ermittlung wird nicht in szenischen Darstellungen auf die Bühne gebracht. Die ‚Handlung‘ rekonstruiert gerade nicht den Auschwitz-Prozess auf der Bühne. Das Verfahren wird weder eröffnet, noch geschlossen, es werden keine Plädoyers gehalten, eine Urteilsverkündung findet nicht statt. Figuren treten weder auf noch ab, sondern die ihre Stimmen sind alle gleichzeitig anwesend und gruppieren sich zu ‚Arien‘, ‚Dialogen‘ oder Chören. Laut der „Anmerkung“ zum Stück sollen die Zeugen keine dramatis personae darstellen, sondern als anonyme „Sprachrohre“ dienen; und selbst die Angeklagten, deren Namen auf konkrete Figuren verweisen, „leihen dem Schreiber des Dramas nur ihre Namen“ und stehen als „Symbole für ein System, das viele andere schuldig werden ließ, die vor diesem Gericht nie erschienen“ (D 9). Aus diesen Gründen und auch wegen der außergewöhnlichen Länge des Textes und der Intensität des Geschilderten bezweifelte man bereits vor dem Druck des Dramas seine Aufführbarkeit. So schreibt beispielsweise Karlheinz Braun an Weiss: Das Problem einer Aufführung liegt meiner Meinung nach weniger darin, daß sich das Stück nicht aufführen läßt, als darin, daß ein Publikum es kaum wird ertragen können, über die Zeitdauer eines ganzen Abends hinweg. Ich sagte Dir schon, wie sehr mich das Stück beeindruckt hat: das Stück ist eine einzige Ungeheuerlichkeit und Dantes Inferno dagegen ein Kindermärchen.156

Wenn in den Jahren 1965 bis 1968 fast die Hälfte der Theater Lesungen und keine Inszenierungen des Dramas aufführten,157 lässt sich das nicht allein auf theaterpraktische Probleme wie Mangel an Probenzeit oder Schauspielern zurückführen, sondern liegt dies gerade in der Oratorienform des Textes begründet. Eine Aufführung im rein auditiven Medium des Radios bot sich nun geradezu an, hatte doch das Oratorium seit der Einführung des Rundfunks seinen Platz in den Sendeanstalten gefunden. So stellen Lucinde Lauer und Christian Thorau unter Hinweis auf „die _____________ 155 MGG. Bd. 7, Sp. 799. 156 Weiß: Auschwitz in der geteilten Welt, S. 110. 157 Vgl. die Übersicht bei Haiduk, in der 31 von 72 Aufführungen als Lesung gekennzeichnet sind. Manfred Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss. Berlin (Ost) 1969, S. 246–248.

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Rundfunkkomposition Der Lindberghflug (Brecht/Hindemith/K. Weill, 1929) [...] die Affinität der konzertanten Gattung zum neuen auditiven Medium, die sich in den eigenständigen Formen von Funkoper und -oratorium fortsetzt“, heraus.158 Die Inszenierung der Ermittlung als Hörspiel im Radio der DDR verlässt sich voll auf den Klang der menschlichen Stimme, der Text wird ohne Illustration durch Musik oder Geräusche gesprochen, und lediglich zwischen den einzelnen Gesängen erklingt die von Siegfried Matthus komponierte Musik. Sie erhält jedoch als Intermezzo von mehreren Minuten ein eigenes künstlerisches Gewicht und ist von einer reinen Reduzierung auf die Funktion der Szenenüberleitung oder Musikbrücke weit entfernt. Im Vergleich zu einer Bühneninszenierung bleibt die Inszenierung als Hörspiel auf die Stimme beschränkt. Sie verzichtet darüber hinaus auf die in anderen Gerichtshörspielen – wie beispielsweise in Aussage unter Eid von Günter de Bruyn159 – übliche Erschaffung des Raumes und Charakterisierung des Ortes durch eine hörbare, kommentierende Öffentlichkeit im Zuschauerraum des Gerichts, das Klingeln und die Bitte um Ruhe – all diese Kennzeichen des Gerichtssaals werden hier ebenso weggelassen wie Andeutungen von Bewegungen durch das Rascheln von Kleidung, Schritte u.ä. Anwesend – und zwar allein durch ihre Stimme – scheinen nur Richter, Ankläger, Angeklagte und Zeugen. Das Publikum, die Öffentlichkeit, sitzt weder innerhalb des inszenierten Raumes noch im Zuschauerraum vor einer Bühne, sondern zuhause vor dem Lautsprecher der Radios. Damit erfüllt das Hörspiel die eigentliche Intention des Autors, der das ‚Undarstellbare‘, die ‚Leere‘ allein mit der körperlosen Stimme zum Leben erwecken will: Deutlich sah ich die Landschaft des Paradiso, / wo jene zuhause sind, denen Dante einmal Glückseligkeit zusprach. Heute, / da von Belohnung nicht mehr die Rede ist, und allein / das bestandene Leiden gewertet wird, bleibt dem Wanderer / nichts andres übrig, als mitzuteilen, was er erfahren hat / von diesem Leiden. Und er wird die völlige Verödung / vorfinden, die himmlischen Räumlichkeiten werden nichts sein / als Leere, und nichts kann dargestellt werden in dieser Leere, denn / der Alighieri von heute müßte das Spiel mit Illusionen aufgeben, keinen Toten / kann er erwecken, er besitzt nichts als die Wirklichkeit / von Worten, die jetzt noch aussprechbar sind, und es ist seine Aufgabe, / diese Worte zu finden, und sie leben zu lassen, in der absoluten Leere. Doch / auf welche Weise? Nur als Stimme, im Dunkel, oder / im blendenden Licht, ohne Münder, ohne Gesichter, körperlos, doch / wäre nicht auch dies schon wieder Illusion? Gesprochen vielleicht / von Zeugen, so wie ich sie sah, vorm Gerichtshof,

_____________ 158 MGG. Bd. 7, Sp. 795. 159 Vgl. Kap. III.2. dieser Untersuchung.

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vortretend einzeln, / im Gedächtnis suchend nach Spuren aus der Zeit in der sie auserwählt worden waren / zum paradiesischen Dasein, als letzte, denen es noch gewährt war, / zu sprechen, und nach denen es nur noch das endgültige Schweigen / geben würde?160

Die Körperlosigkeit des gesprochenen Wortes aus dem Radio und die Nähe des Mikrofons adressieren die Hörerinnen und Hörer unmittelbar und evozieren Vorstellungen in ihrer Phantasie, die von vorgefertigten Bildern ebenso unabhängig sind wie von der Präsenz vortragender Schauspielerinnen und Schauspieler. Da die Nummerierung der Zeugen, wie sie im gedruckten Text und häufig auch in der Bühneninszenierung vorgenommen wird, im auditiven Medium unterbleibt – Richter, Staatsanwalt und Verteidiger wenden sich lediglich mit „Herr Zeuge“ oder „Frau Zeugin“ an die Befragten –, wird der Absicht des Autors, das gesamte Geschehen auf das Wort zu reduzieren und es von bloßen „Sprachrohren“ verkünden zu lassen, im Hörspiel am ehesten Genüge getan. Wenn die Zeugen ihren Text anstelle von „hunderten“ vortragen, sind sie – allein auf ihre Stimme gestellt – in besonderer Weise nochmals anonymisiert worden, da es für die Hörerinnen und Hörer angesichts der großen Anzahl an Sprechern außergewöhnlich schwierig ist, die verschiedenen Stimmen einzelnen Zeugen oder Zeuginnen zuzuordnen. Außer der Differenz zwischen männlichen und weiblichen Stimmen lassen sich die Sprecher nur schwer voneinander unterscheiden. Zwar können Merkmale wie Klang der Stimme, Tempo, Dialektfärbung oder Intonation ausgemacht werden, diese reichen aber kaum aus, um jeden der sieben männlichen Zeugen zu identifizieren. Die Angeklagten, ihr Verteidiger und die Angehörigen des Gerichts werden in den Dialogen namentlich bzw. in ihrer Funktion benannt, so dass deutlich wird, wer spricht. Die Gruppe der Angeklagten und die Gruppe der Zeugen werden durch elektroakustische Manipulation voneinander abgegrenzt. Grundsätzlich sind alle Aussagen der Angeklagten und des Verteidigers mit starkem Hall unterlegt. Sie sprechen mit größerer Entfernung zum Mikrofon und z.T. auffälliger Lautstärke. Ähnliches kann man für Richter und Staatsanwalt feststellen, allerdings sind Hall und auch Lautstärke hier etwas zurückgenommen (• Hörzitat 8). Die Zeugen klingen raumlos und leise. Sie sprechen nah ins Mikrofon. Sie erscheinen auf diese Weise natürlicher und somit auch authentischer. Ihre leise und gleichförmig gesprochenen, langen Monologe erwecken weniger den Eindruck einer Aussage vor Gericht, bei der ja immer die Entfernung vom Zeugenstand zum Richtertisch zu überwinden ist und _____________ 160 Weiss: „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“, S. 138 f.

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damit laut und deutlich gesprochen werden muss, als den Eindruck eines inneren Monologs, der eigene Erinnerungen aus dem Gedächtnis hervorbringt, ohne dass sie für eine Öffentlichkeit bestimmt wären. Es gibt daraufhin auch keinen Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit. Was sollte authentischer sein, als die eigene zwecklos evozierte Erinnerung? Darüber hinaus repräsentiert die Art der Sprecher, ihre Intonation, ihr Tempo und vor allem ihre Lautstärke die noch immer vorherrschenden Machtverhältnisse. Ist es ein wesentliches Anliegen der Ermittlung, die Kontinuitäten vor und nach dem Ende des Dritten Reiches nachzuzeichnen, so schlagen sich unveränderte Wohlsituiertheit, noch immer vorherrschender Befehlston und fehlendes Unrechtsbewusstsein in den Stimmen der Angeklagten und ihres Verteidigers nieder. Auf der anderen Seite erscheinen die Zeugen als gebrochene Opfer, die auch noch Jahre später unter ihren Erfahrungen zu leiden haben (• Hörzitat 8). Auf diese Weise lässt sich eine klare Tendenz der Inszenierung ausmachen: Je weniger emotionale Betroffenheit eine Stimme ausdrücken (und auslösen) soll, desto ferner erscheint ihr Klang. Die Opfer – also die Zeuginnen und Zeugen – scheinen sowohl dem Geschehen als auch den Hörerinnen und Hörern viel näher zu stehen. Distanzlos schildern sie ihre Erinnerungen in das Ohr der Zuhörerinnen und Zuhörer. In der analysierten Inszenierung wird durch den Einsatz von medienspezifischen Zeichensystemen einerseits die im Text angelegte Gruppenbildung verstärkt; andererseits wird aber auch eine Interpretation der emotionalen Beteiligung der Figuren sowie ihrer Authentizität vorgenommen und auf diese Weise der Rezeptionsprozess gelenkt. Die evozierte Authentizität des Stückes durch ständige Verweise auf seine dokumentarische Form, den Rückbezug auf die Protokolle161 des Auschwitz-Prozesses, wird durch die Sendung im Rundfunk, der als technisches Medium eine besondere Abbildfunktion der Wirklichkeit innehat, noch einmal potenziert. Nicht ohne Grund ist der Mitschnitt und die _____________ 161 Die besondere Authentizität des stenographierten Gerichtsprotokolls, das alle technischen Aufzeichnungsmöglichkeiten bis zum heutigen Tag übertrifft, beschreibt Cornelia Vismann in ihrem Aufsatz „Action writing. zur Mündlichkeit im Recht“: „Das gesetzte, geschriebene Recht, das konstitutiv nicht gegenwärtig ist, das Vorschriften macht und diese nachträglich anwendet, holt seine Ungleichzeitigkeiten dank dieser redesynchronen Aufzeichnungstechnik ein. In den handlungsanalogen Schreibakten hält es etwas von der Prozeßhaftigkeit aufrecht, die in anderen Schriftdokumenten des Rechts, vor allem Urkunden und Gesetzen, verloren ist und auf die es dort auch gar nicht ankommt. Erst wenn es um das paradoxe Ziel geht, einen Verlauf in seiner Verlaufsförmigkeit festzuhalten, ist das Aufschreibeverfahren des Protokollierens gefragt. Das Protokoll bürgt dann im Gegenwert der Schriftzeichen für das Geschehene. Es übernimmt die Funktion eines Wahrheitszeichens für Echtzeit.“ Cornelia Vismann: „Action writing. Zur Mündlichkeit im Recht“. In: Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Hg. v. Friedrich Kittler, Thomas Macho u. Sigrid Weigel. Berlin 2002. 133–151, S. 136 f.

Hörspielrezeption

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Übertragung von ‚realen‘ Gerichtsverhandlungen durch Radio oder Fernsehen in Deutschland bis zum heutigen Tag untersagt. Die Bindung des Wortes an die vor Gericht anwesende Person relativiert das Gesagte als subjektive Äußerung. Die Technik der Aufzeichnung und Übertragung suggeriert nach Meinung des Staatsrechtlers Günter Dürig dagegen eine absolute Objektivität: Die entscheidende Beeinträchtigung des Grundrechts am gesprochenen Wort besteht darin, daß kraft der Nachrichtentechnik das gesendete Wort des vor Gericht Sprechenden mit einem Anspruch auf objektive Wahrheit im Raum einer theoretisch unbegrenzten Öffentlichkeit steht, wie ihn sich selbst ein mitgeschriebenes oder nachgesprochenes Zitat nicht beimisst. Jeder Bericht über das Gesprochene ist relativiert (und ‚vermenschlicht‘) durch mitgedachte Zweifel an der Berichterstattung. Die zwischen Sprecher und Hörer geschaltete technische Apparatur tötet dagegen diese menschlichen Zweifel.162

Ist sich das Publikum im Theatersaal bei der Aufführung oder auch Lesung des Dramas immer der Inszenierung des Dargebotenen bewusst, so entfällt diese Gewissheit bei der Radiosendung der Ermittlung, denn es könnte ebensogut nicht die stilisierte und bearbeitete Inszenierung eines poetischen Textes sein, sondern ein Mitschnitt oder gar die Liveübertragung aus dem Gerichtssaal. 3.6. Hörspielrezeption Dass das Publikum diese vorgegebenen Rezeptionsweisen übernahm, beweist die nach der Sendung zahlreich eingegangene Hörerpost. Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die explizite Aufforderung an das Publikum, seine Reaktionen mitzuteilen, hierfür den Anlass bot, so ist doch zu bemerken, dass mit der Einsendung von mehr als siebzig Briefen, z. T. auch aus dem Ausland, die in Bezug auf Anzahl, Länge und Anteilnahme wohl stärkste Reaktion im ostdeutschen Rundfunk auf eine Hörspielsendung zu verzeichnen war.163 Genau einen Monat nach der Ursendung, am 26. November 1965, strahlte der Deutschlandsender einen kommentierten dreißigminütigen Zusammenschnitt aus, in dem aus den Zuschriften zitiert wurde. _____________ 162 Günter Dürig: „Art. 2 GG“. In: ders. u. Theodor Maunz: Kommentar zum Grundgesetz. 34. Ergänzungslieferung. München 1998, Rdn. 41; vgl. ausführlicher Vismann: „Action writing“, S. 149. 163 Es handelt sich um 56 Briefe aus der DDR, sechs aus der Bundesrepublik, drei aus Österreich, zwei aus Frankreich und jeweils einen aus Polen, Norwegen und den Niederlanden, die heute im Original im Deutschen Rundfunkarchiv einzusehen sind. Vgl. Bernd Schirmer: „Bemerkungen über das Hörerecho zur ‚Ermittlung‘ von Peter Weiss“. DRA Potsdam. Signatur H 082-00-04/0225, S. 1.

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Bis auf eine Ausnahme bringen alle Hörerinnen und Hörer, die dem Aufruf folgten, ihre Erschütterung, Überwältigung und den tiefen Eindruck, den das Hörspiel bei ihnen hinterlassen habe, zum Ausdruck. Begriffe wie „Schauder“, „Herz stocken“, „fehlende Worte“, „erschütternd“ bestimmen das Vokabular; fast alle Beiträge bringen ihre Angst vor der gegenwärtigen Entwicklung in der Bundesrepublik und ihren „Abscheu einem System gegenüber“ zum Ausdruck, „das Menschen aus Profitgier ausbeutet und ermordet“.164 Als repräsentativ kann folgender Abschnitt aus einem Hörerbrief von Karlheinz und Lieselotte Bordt gelten: Als Eltern von sechs kleinen Kindern und ehemalige Bürger der Bundesrepublik, der wir am 8. August 1961 den Rücken kehrten, war es wiederum eine Bestätigung für die Richtigkeit unseres Entschlusses in die DDR überzusiedeln. Lange nach Mitternacht konnten wir vor Erschütterung und Empörung noch nicht schlafen. Diese Greueltaten sind nur noch in etwa dem Atombombenabwurf über Hiroshima gleichzusetzen. Wie sicher und geborgen fühlen sich doch heute die Mörder von gestern im Staate Bonn’s. [...] Welche Gedanken mögen die Befreier dieser ‚Todesfabriken‘ gehabt haben, als sie die Häftlinge befreiten? [...] Um so höher müssen wir es werten, daß das Volk, welches am meisten gelitten hat, heute in fester Waffenbrüderschaft an unserer Seite steht. [...] Zu hoffen bleibt nur, daß die Arbeiter, Bauern und die Intelligenz Westdeutschlands sich rechtzeitig besinnen, um so der Vernichtung bei einer eventuellen Aggression zu entgehen. Für uns ist es eine Verpflichtung immer auf der Hut zu sein und alles zur Stärkung der Deutschen Demokratischen Republik zu tun.165

Allein in einem Brief aus Österreich erwähnt der einzige Hörer, der sich offen kritisch zum Stück äußert, dass es sich bei den Opfern vor allem um Juden gehandelt hat, die wegen ihres „Aussehens“ oder ihrer „Volkszugehörigkeit“ verfolgt wurden.166 Es wird deutlich, dass eine ästhetische Reflexion des Hörspiels gegenüber der politisch-moralischen völlig in den Hintergrund trat. Trotz der außergewöhnlich starken Emotionalität der Reaktionen „förderte das Hörspiel das eigene Denken und trug offensichtlich stark bei zur politischen Standortfindung, zur Klärung des Verhältnisses der Hörer zum faschistischen Deutschland, zum Bonner Staat und zur Deutschen Demokratischen Republik“, wie es im internen Bericht von Bernd Schirmer heißt.167 Lässt Manfred Haiduk in einer Publikation zu Weiss’ Dramen 1969 den Gedanken, auch unter den Bürgern der DDR wäre der überwie_____________ 164 Vgl. die Leserbriefe zur Ermittlung, gesammelt im DRA Potsdam unter der Signatur H 082-00-04/0225. 165 Zitiert aus handschriftlichem Leserbrief, eingegangen am 30.10.1965. DRA Potsdam. Signatur: H 082-00-04/0225. 166 Zitiert aus maschinenschriftlicher Abschrift des Leserbriefes von Reinhard Eisner vom 27.10.1965. DRA Potsdam. Signatur: H 082-00-04/0225. 167 Schirmer, Bernd: Bemerkungen über das Hörerecho zur „Ermittlung“ von Peter Weiss. DRA Potsdam. Signatur H 082-00-04/0225, S. 2.

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gende Teil in der Vergangenheit in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen, zu,168 so wird in den Briefen der Hörerinnen und Hörer wie auch in der Auswertung durch Schirmer deutlich, dass eine solche Wertung im öffentlichen Diskurs der DDR nicht in Frage kam. Bei Schirmer heißt es statt dessen: „Gäbe es nicht die DDR, noch immer fände die Gerechtigkeit keinen sicheren Ort in Deutschland.“169 Die DDR erscheint als „Staat, der die gesellschaftlichen Wurzeln des Faschismus beseitigt hat“, und dessen Rundfunk es sich nun zur Aufgabe gemacht hat, nicht nur seine eigenen Bürger zu informieren und zur Ausprägung eines politischen Standpunkts anzuhalten, sondern auch „die gleichgültig gewordenen und bewußt in Unkenntnis gehaltenen Bürger Westdeutschlands aufzurütteln“.170 Aus Sicht der Hörspielabteilung verband Die Ermittlung auf ideale Weise die Anforderungen an ihre Arbeit, den ‚Friedenskampf‘ mit dem ‚Kampf gegen den Imperialismus‘ und dem ‚dialektischen Verhältnis von Geschichte und Gegenwart‘ zu verknüpfen. Das außerordentliche Schicksal der Juden in Auschwitz wird hierbei jedoch ausgeblendet. Diese Ignoranz erstreckt sich auch auf den Autor Peter Weiss, dem es als ‚unbeteiligtem‘ „Ausländer“ besonders anzurechnen sei, sich mit dem Thema zu beschäftigen: „Peter Weiß [sic!] gebührt das Verdienst, sich als Ausländer, besorgt über die Entwicklung in Westdeutschland, der Sache der Deutschen und aller friedliebenden Menschen in der Welt in so humanistischer Weise angenommen zu haben.“171 Weiss’ schon durch biographische Fakten begründeter besonderer Bezug zum Nationalsozialismus – väterlicherseits jüdischer Herkunft ist er 1916 auf dem späteren Territorium der DDR geboren worden und gelangte erst auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Schweden – wird hier völlig ausgeblendet, obwohl gerade die persönliche Auseinandersetzung mit Auschwitz in dem Text „Meine Ortschaft“ bereits 1965 ihren Niederschlag findet.172 So konnte Weiss _____________ 168 Manfred Haiduk weist auf die Mitschuld „des überwiegenden Teils des deutschen Volkes [...] (wenn wir von den aktiven Widerstandskämpfern absehen)“ hin – „damit also auch auf den Teil, der auf dem Territorium der DDR wohnt“; Haiduk: Der Dramatiker Peter Weiss, S. 149. 169 Seher [ohne Nennung des Vornamens]: Kommentar zur Hörerpost zur Ermittlung. Typoskript im DRA Potsdam unter der Signatur H 082-00-04/0225, S. 4. 170 Schirmer, Bernd: Bemerkungen über das Hörerecho zur „Ermittlung“ von Peter Weiss. DRASignatur H 082-00-04/0225, S. 2. 171 Seher: Kommentar zur Hörerpost zur Ermittlung, S. 5. 172 Peter Weiss las diesen Text noch vor der Uraufführung der Ermittlung im Deutschlandsender (Ost) am 11. August 1965. Er ist auch im Begleitheft zur Uraufführung des Dramas „Die Ermittlung“ in der Akademie der Künste zu Berlin enthalten. Hier steht er neben Martin Walsers „Unser Auschwitz“, Stephan Hermlins „Das Ghetto“, Günter Kunerts „Der ungebetene Gast“ und Tadeus Rosewicz’ „Laßt uns“; vgl. das Exemplar im PeterWeiss-Archiv in der Akademie der Künste, Signatur 1131.

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ganz allgemein unter den Begriff des nichtdeutschen „aufrechten Humanisten“ subsumiert werden. Die Ermittlung von Peter Weiss markiert so den ambivalenten Umgang mit dem Holocaust in der DDR in den 1960er Jahren, der Raum für die Artikulation der spezifisch jüdischen Leiden schafft, sie gleichzeitig aber auch für gegenwärtige Interessen instrumentalisiert.

Kapitel IV Die Freiheit der Nische

Ästhetische und thematische Vielfalt (1971–1989)

1. Konstruktionen von Judentum und jüdischen Identitäten im DDR-Hörspiel der 1970er und 1980er Jahre Konstruktio n von Jud en tum un d jüdischen Id en titäten

„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen.“ Christa Wolf: Kindheitsmuster (1976)

Konnte man für die vorangegangenen Dekaden feststellen, dass der Holocaust als diffiziles Thema der Geschichtsaufarbeitung nur vereinzelt Eingang in das Radioprogramm fand und ästhetisch wie ideologisch in engen Grenzen operierte, so sind die letzten beiden Jahrzehnte der DDR gekennzeichnet durch eine thematische, dramaturgische und radioästhetische Vielfalt. Schon die Anzahl der Neuproduktionen, die die NSJudenvernichtung zum Thema haben, spricht für sich: Waren es zwischen 1945 und 1970 einzelne Inszenierungen, die nur in den Jahren 1959/60 sowie 1965 zunahmen, so sendeten die ostdeutschen Rundfunkanstalten in den 1970er und 1980er Jahren kontinuierlich Stücke zum Thema, wobei die Anzahl in den Jahren 1988 und 1989 mit vier bzw. fünf Neuproduktionen ihren Höhepunkt erreichte. Diese neue Sensibilität resultierte aus einer innen- und außenpolitischen Liberalisierung, die mit der Ablösung des Staatschefs Walter Ulbricht durch Erich Honecker im Mai 1971 einherging. In Honneckers Amtszeit entspannte sich das Verhältnis zur Bundesrepublik. So wurde 1971 das „Transitabkommen“ geschlossen und 1973 der „Grundlagenvertrag“ unterzeichnet, der die gegenseitige Anerkennung und die Gestaltung „gutnachbarlicher Beziehungen“ der beiden deutschen Staaten regelte. Darüber hinaus erfreute sich die DDR der zunehmenden internationalen Anerkennung und nahm im Laufe der 1970er Jahre diplomatische Beziehungen zu einer Vielzahl von Staaten auf. Sie wurde 1973 Mitglied der UNO und bemühte sich in den 1980er Jahren auch um ein besseres Verhältnis zum Jüdischen Weltkongress. Innenpolitisch galten der VIII. Parteitag der SED und das 4. Plenum des ZK der SED 1971 als Wendemarken in der DDR-Kulturpolitik, die nicht nur politische, ideologische und ökonomische Liberalisierungen einleiteten, sondern auch ein „lebendigeres, nicht selten kontroverses literarisches Leben“1 ermöglichten. Die zentrale Aussage Honeckers auf dem 4. Plenum im Dezember 1971 lautete: _____________ 1

Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe. Berlin 22005, S. 246.

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Wenn man von der festen Position des Sozialismus ausgeht, kann es meines Erachtens auf dem Gebiet von Kunst und Literatur keine Tabus geben. Das betrifft sowohl Fragen der inhaltlichen Gestaltung als auch des Stils – kurz gesagt: die Fragen dessen, was man die künstlerische Meisterschaft nennt.2

Diese Neuorientierung bedeutete zwar keine grundsätzliche Aufhebung der Zensur,3 führte aber auf dem 7. Schriftstellerkongress 1973 zu einer Abkehr vom Bitterfelder Weg zugunsten einer ästhetischen Öffnung, die individuelle Sichtweisen auf die Verhältnisse im eigenen Land zuließ. Das „mühsam austarierte Gleichgewicht zwischen Tabulockerung und Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung auf literarischem Terrain“4 fand jedoch bereits im November 1976 ein jähes Ende mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns. Auf die Proteste von Seiten ostdeutscher Schriftsteller reagierte die Parteiführung mit erneuter Härte, auf die wiederum eine Welle von Ausreisen in die Bundesrepublik folgte. Erst der 10. Schriftstellerkongress 1987 fand in einer kulturpolitischen Atmosphäre statt, die es ermöglichte, neben der Auseinandersetzung mit den in den Westen ausgereisten Autoren auch das noch immer die Literaturproduktion dominierende Thema der Zensur aufzuwerfen – eine Entwicklung, die durch den Kurswechsel in der Sowjetunion, 1985 von Michail Gorbatschow unter dem Stichwort ‚Glasnost‘ eingeleitet, vorbereitet wurde. Der vorsichtige Prozess einer inneren Liberalisierung spiegelte sich auch in den Beziehungen zur Bundesrepublik wider. Seit 1986 regelte das deutsch-deutsche Kulturabkommen ost-westdeutsche Kooperationen in Form von Theatergastspielen, Autorenlesungen sowie Tagen des DDRBuchs als auch des DDR-Films in der Bundesrepublik.5 In diesem Zusammenhang entstand in der „Hauptabteilung Funkdramatik“ des DDRRundfunks, die die Hörspiel- und Featureproduktion für alle Sender zentralisiert leitete, eine Abteilung für „internationale Funkdramatik“, die die Zusammenarbeit mit ausländischen, darunter auch westlichen, vor allem bundesdeutschen Sendern förderte. Ihre Arbeit kann als unmittelbares Ergebnis der außenpolitischen Entwicklung der DDR gewertet werden, die einerseits eine Öffnung hin zu Staaten jenseits der sozialistischen „Bruderstaaten“, andererseits eine stärkere internationale Wahrnehmung und Anerkennung der DDR nach sich zog. Bis zu 40 Produktionen, Kinderhörspiele eingerechnet, brachte diese Abteilung jährlich hervor. Ihnen _____________ 2 3 4 5

„Schlußwort Erich Honeckers auf der 4. Tagung des ZK der SED, Dezember 1971“. In: Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED. Hg. v. Elimar Schubbe u. a. Bd. 2: 1971–1974. Hg. v. Gisela Rüß. Stuttgart 1976. 287–288, S. 287. Emmerich verweist auf Publikations- und Auftrittsschwierigkeiten von Wolf Biermann, Volker Braun, Günter Kunert, Heiner Müller und anderen. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 248. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 252. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 268.

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standen etwa 27 DDR-Originalhörspiele gegenüber, die der DDRRundfunk in den Jahren 1971 bis 1989 jährlich im Durchschnitt produzierte, ergänzt um etwa ebenso viele Kriminalhörspiele und literarische Adaptionen.6 Das Rundfunkangebot der DDR hatte in den 1970er und 1980er Jahren mit Konkurrenz von verschiedenen Seiten zu kämpfen: Zum einen hatte das Fernsehen als Leitmedium Einzug in die Wohnzimmer gehalten und machte den maßgeblichen Teil der Abendunterhaltung aus. Zum anderen drang das westliche Fernseh- wie Radioprogramm in weite Teile des DDR-Territoriums. Wurde einerseits die Kooperation mit westlichen Rundfunkanstalten ausgebaut und wurden zahlreiche Hörspiele übernommen und neu produziert, sah man sich andererseits in einer klaren Konkurrenz zu einem ebenso anspruchsvollen wie attraktiven Hörspielprogramm, das sich an eine breite Hörerschicht wandte und dem man zudem eine ideologische Ausrichtung unterstellte. Das hieraus für die Hörspielabteilung des DDR-Rundfunks resultierende Dilemma wird in der Jahresplanung 1984 folgendermaßen skizziert: Die imperialistische Meinungsindustrie hat auf das Hörspielhören großen Einfluß […]. Die westdeutschen Sender verbreiten ein zahlenmäßig umfangreiches (1), inhaltlich differenziertes (2) und in den Sendezeiten breit gefächertes (3) Hörspielprogramm, das vom artifiziell hochgetriebenen NEUEN HÖRSPIEL bis zu den wöchentlich wiederkehrenden Krimi-Serien reicht. Alle drei Faktoren zwingen uns zur aktiven Entgegnung! […] Auffällig ist, in welch starkem Maße Hörspielsendungen westdeutscher Stationen kommentiert werden (häufig als 10-15Minuten-Kommentare im Anschluß an die Sendung). Gerade in diesen „Nachworten“ wird in massiver Weise verdeckte Politik gemacht: wir setzen dem bisher nahezu nichts entgegen.7

Die zunehmende Kooperation, die auch zur Übernahme ostdeutscher Hörspiele durch westliche Rundfunkanstalten führte, wurde ebenfalls eher als kluger Schachzug des Gegners in einer geradezu kriegerischen Auseinandersetzung denn als Fortschritt gewertet: Zur psychologischen Kriegsführung im weitesten Sinne gehört – ein besonders schwieriges Kapitel – auch die Arbeit westdeutscher Sender mit Hörspielen aus der DDR. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die eine zeitlich und räumlich differenzierte Analyse ergeben müsste, könnte Rückschlüsse für unsere eigene Programmtätigkeit ergeben.“8

Noch Mitte der 1980er Jahre also wurde der Rundfunk als grenzüberschreitendes Medium und Instrument der deutsch-deutschen Auseinandersetzung betrachtet. Dies ist umso überraschender, als das ursprüngliche _____________ 6 7 8

Bolik: Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen. Frankfurt a. M. 1994, S. 160 f. Jahresplanung der HA Hörspiel 1984. DRA Potsdam, Signatur: I 009-00-04/0230, o. S. Jahresplanung der HA Hörspiel 1984. DRA Potsdam, Signatur: I 009-00-04/0230, o. S.

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Massenmedium in Ost- wie Westdeutschland zu dieser Zeit nur noch von einer Minderheit rezipiert wurde.9 Und doch konnte das DDR-Hörspiel ungeachtet der programmatischen Äußerungen der Leiter der Hauptabteilung nun mehr Freiraum in Anspruch nehmen: Das Hörspiel ist nicht so offensichtlich wie das Fernsehen und nicht so greifbar wie die Zeitung. Das Hörspiel der DDR hatte eine begrenzte Öffentlichkeit. Natürlich konnte es jeder hören; aber gottlob wollte es nicht jeder hören. Darin lag seine Chance.10

Für das Hörspielprogramm bedeutete der eingeschränkte Hörerkreis zwar die Verdrängung in einen Nischenstatus; gleichzeitig ging hiermit aber auch weniger Aufmerksamkeit und weniger Kontrolle einher. Im Gegensatz zur gedruckten Literatur, zum Film oder zum Theater erfolgte das Genehmigungsverfahren nicht durch äußere Instanzen, sondern – praxisnah – innerhalb der Hauptabteilung Funkdramatik, denn das „Hörspiel war den Oberen einfach nicht wichtig genug. Da konnte man den Spielraum etwas erweitern“.11 Bolik weist jedoch zu Recht darauf hin, dass der „exponierte Standort, den das Hörspiel in der Rundfunkhierarchie einnahm, […] nicht mit einem liberalen Schonraum zu verwechseln“ sei, sondern seine Sonderstellung dem „Kunstvorteil“ zu verdanken hatte.12 Darüber hinaus konnte von einer Aussetzung der Zensur keine Rede sein. Werke von Schriftstellern, die einem Publikations- und Auftrittsverbot unterstanden, darunter namhafte Literaten wie Volker Braun, Stephan Heym, Rainer Kirsch oder Heiner Müller13, konnten auch im Hörfunk nicht produziert werden; und selbstverständlich galt ein Sendeverbot für „republikflüchtige“ Autoren wie Manfred Bieler (seit 1968) und Günter Kunert (seit 1979).14 Dass auch die Prosa Christa Wolfs keinen Eingang in das Rundfunkprogramm fand, lässt erneut darauf schließen, dass das Nachrichten- und Massenmedium Rundfunk trotz schwindender Hörerzahlen stärkeren ideologischen Beschränkungen unterlag als die Buchproduktion. _____________ 9 10 11 12 13 14

Bei einer durchschnittlichen Einschaltquote von 5 bis 8 % erreichte das Hörspielprogramm noch immer eine Halbe Million Hörer pro Sendung. Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 168 f. Peter u. Renate Gugisch: „Hörspiel in der DDR. Radioessay in zwei Teilen“. Gesendet im Deutschlandfunk am 11. und 18.7.1992. Teil 1, S. 8; zit. n. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 170. Peter u. Renate Gugisch: „Hörspiel in der DDR“. Teil 2, S. 23; zit. n. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 172. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 173. Heiner Müller veröffentlichte Anfang der 1960er Jahre ein affirmatives Kriminalhörspiel unter dem Pseudonym Max Messer; seine Dramen wurden erst zu Beginn der 1980er Jahre für den Funk adaptiert. Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 173 f., Anm. 64. Vgl. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 173 f.

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Auf inhaltlicher Ebene schleicht sich auch in die Hörspielproduktion der Gedanke einer Mitschuld der Deutschen, auch östlich der Elbe, ein und eröffnet eine ebenso individuelle wie schmerzliche Sicht auf die Geschichte, stellenweise relativiert durch eine versöhnliche Geste von Seiten der Opfer. Generationen- und Ideologiewechsel scheinen diese Entwicklung zu rechtfertigen. Gleichzeitig wird es möglich, den Holocaust jenseits der Dimitroff’schen Faschismusdefinition als herausragendes Merkmal der nationalsozialistischen Diktatur und als rassistischen Genozid anzuerkennen. Im Zuge der politischen Öffnung seit der Machtübernahme Honneckers 1971 ändert sich auch das Verhältnis zum Judentum, das nicht länger als zufällige familiäre Herkunft, sondern als lebendige Religion in Vergangenheit und vor allem Gegenwart wahrgenommen wird. Die Zahl der Hörspiele, die Judentum und Judenverfolgung thematisieren, schnellt demzufolge in den Jahren 1975 bis 1989 in die Höhe; und mit der großen Anzahl geht auch eine größere Vielfalt einher, die in ihren einzelnen Facetten an dieser Stelle kaum noch aufgefächert werden kann. Die folgenden Ausführungen stellen darum exemplarische Hörspiele vor, um wesentliche Tendenzen zu verdeutlichen. Ungeachtet der unverändert fortbestehenden ideologischen Doktrin können die 1970er und 1980er Jahre als die beiden Jahrzehnte gelten, die – in den Grenzen des politisch Möglichen – ein vergleichsweise liberales Hörspielprogramm hervorbrachten, das von einer „Erweiterung des Toleranzbereiches“15 zeugte. Die Konkurrenz zum vornehmlichen Unterhaltungsmedium Fernsehen führte auch in den Hörfunkanstalten zu einer stärkeren Wahrnehmung der Bedürfnisse der Hörer.16 Wenn Peter Gugisch noch 1970 beklagte, dass die „[n]eue, revolutionäre Thematik und Unterhaltsamkeit […] noch viel zu oft auf getrennten Konten gebucht“ würden, so fanden sich nur wenige Jahre später Produktionen, die historische Stoffe mit brisantem politischen Inhalt in das populäre Gewand anspruchsvoller Unterhaltung kleideten. Dies gilt auch für Hörspiele, die die NS-Judenverfolgung zum Gegenstand hatten. Im Laufe der beiden Jahrzehnte weitete sich auch das ästhetische Spektrum des Holocaust-Hörspiels im Rundfunk der DDR. Neben dem fiktiven Rollenspiel finden sich dokumentarische Collagen, Funkmonologe, Kunstkopfproduktionen, Originaltonhörspiele sowie Hörspiele mit phantastischen und surrealen Aspekten. Deutlich wird eine Tendenz zur _____________ 15 16

Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 179. Vgl. auch Riedel, die von einer „positiven Resonanz und Popularität in der Bevölkerung“ spricht als Reaktion auf ein Rundfunkprogramm, das „in vielen Bereichen den Wünschen und Vorstellungen der Bevölkerung entsprach“. Heide Riedel: Hörfunk und Fernsehen in der DDR. Funktion, Struktur und Programm des Rundfunks in der DDR. Hg. v. Deutschen Rundfunk-Museum e.V. Berlin. Köln 1977, S. 88 f.

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Individualisierung der Erinnerungen, die das Einzelschicksal in Wechselwirkung mit historisch-politischen Entwicklungen nachzeichnet, wobei Heldentum und bewusster Antifaschismus der Protagonisten ebenso in den Hintergrund treten wie aktuell-politische Interessen. Wurden zuvor die Geschichte der Arbeiterbewegung und des kommunistischen Widerstandes in den Vordergrund gerückt, so leistet die spätere Funkdramatik, darin ebenfalls der Prosa- und Bühnenliteratur folgend, in bezug auf die NSVergangenheit eine umfassendere und schmerzhaftere „Erinnerungsarbeit“. Indem Hörspiele nicht nur die antifaschistische Tradition, sondern auch kollektives Versagen und historische Schuld vergegenwärtigen, sperren sie sich gegen die offiziell betriebene Entlastung vom unerwünschten historischen Erbe.17

Jurek Beckers Jakob der Lügner bildete 1973 den Auftakt zu einer ebenso unterhaltsamen wie sensiblen Auseinandersetzung mit dem Holocaust (vgl. die Einzelinterpretation in Kap. IV.2. dieser Untersuchung), die mit Wolfgang Kohlhaases preisgekröntem Originalhörspiel Die Grünsteinvariante ihre Fortsetzung fand. Beide Produktionen entwerfen ein (selbst-)ironisches, tragikomisches Bild des religiösen Juden, dessen Charakterisierung als Antiheld einer heroischen Stilisierung der Opfer entgegensteht. Schuldzuweisungen und politische Agitation treten in den Hintergrund zugunsten einer Zeichnung des Anderen als menschlichem Gegenüber mit Stärken und Schwächen. Der Fokus richtet sich nun nicht mehr auf die großen politischen Zusammenhänge, sondern eher auf das Leben des Einzelnen in einer historischen Ausnahmesituation. Die Grünstein-Variante von Wolfgang Kohlhaase18 in der Regie von Günther Rücker19 wurde am 25.12.1976 urgesendet, unmittelbar im Anschluss daran jedoch erneut aufgenommen. Am 8.5.1977 wurde die Zweitproduktion des Stückes unter leicht geänderter Besetzung und Mitwirkung eines anderen Komponisten ausgestrahlt: Nicht mehr die Musik von Tilo Medek, der die Biermann-Petition unterzeichnet hatte, ertönte nun im Hörspiel, sondern die von Wolfgang Bayer: In aller Stille wurde das Hörspiel neuproduziert, ein komponierender Redakteur zur Neukomposition beauftragt, denn man wollte zur Beteiligung am ‚Prix Italia‘ dieses Hörspiel mit einer ‚artreinen‘ Namensliste präsentieren […], obschon bei

_____________ 17 18 19

Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 163; der Begriff der „Erinnerungsarbeit“ geht zurück auf Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 322. Wolfgang Kohlhaase, geb. 1931, ist Autor und Regisseur. Er schrieb zahlreiche Drehbücher, darunter DER FALL GLEIWITZ (DEFA 1961), SOLO SUNNY (DEFA 1979), DIE STILLE NACH DEM SCHUSS (2000), BABY (2002) und SOMMER VORM BALKON (2005). Günther Rücker (1924–2008) verfasste u. a. Dramen, Drehbücher, darunter DER FALL GLEIWITZ (DEFA 1961) gemeinsam mit Wolfgang Kohlhaase, Romane und Erzählungen und gehörte zu den maßgeblichen Hörspielautoren und -regisseuren in der DDR.

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der Einreichung des Bandes nicht zu ahnen war, daß ich zum Zeitpunkt der Preisverleihung gar kein DDR-Bürger mehr sein würde.20

Die Grünstein-Variante wurde als international erfolgreichstes Hörspiel der DDR-Rundfunkgeschichte 1976 mit dem Europäischen Hörspielpreis Prix Italia ausgezeichnet. Die Rahmenhandlung eröffnet der innere Monolog des deutschen Seemannes Lodek, der versucht, sich der „Grünstein-Variante“ – eines ebenso genialen wie unbekannten Schachzugs – zu erinnern: „Immer wenn ich Spanisch spiele, die Spanische Eröffnung, fällt mir Grünstein ein. Bloß dieser Zug nicht. Ist zu lange her.“21 Lodek und der polnische Jude Grünstein waren 1939 in Paris Zellengenossen in einem Untersuchungsgefängnis und hatten sich die Wartezeit mit dem Schachspiel vertrieben, das Grünstein erst in der Gefangenschaft von Lodek lernte. Eingebettet in die Rahmenhandlung in der Gegenwart bieten die Erinnerungen der Hauptfigur Lodek Gelegenheit, in Form von Rückblenden die zufällige Begegnung der Inhaftierten zu schildern, eingeleitet durch ein Geräusch, das sich als Leitmotiv durch die Handlung zieht: Ein Klopfen wird hörbar, an Wänden oder Heizungsrohren. Es wird mehrmals verwendet, real, aber auch musikalisch oder akustisch stilisiert, wie hier am Anfang, ein Geräusch in der Erinnerung. Dann Stille und aus der Stille die Stimme Grünsteins, monoton, wie im Selbstgespräch.22

Mit Grünstein zeichnet Wolfgang Kohlhaase die Figur eines jüdischen Protagonisten, der in seiner Bescheidenheit und Humanität stark an die Hauptfigur in Jurek Beckers Jakob der Lügner (1973) erinnert. Handelt es sich bei Jakob um einen ‚kleinen Mann‘, der durch einen Zufall zum Helden avanciert, so zeichnet sich Grünstein allein durch einen Schachzug aus, der seinem Erfinder zum Sieg gegen einen routinierten Turnierspieler verhalf. Die Raffinesse des Zugs steht im deutlichen Gegensatz zu Grünstein, der ein eher wunderlicher religiöser Schlachter ist, der seinen Lebensunterhalt vor der Inhaftierung mit der Herstellung koscheren Fleisches verdiente und sich die Zeit im Gefängnis nicht nur mit Schach, sondern auch mit imaginierten Verkaufsgesprächen vertreibt, hochbesorgt um seine Stammkundschaft, die sich während seiner Abwesenheit an die Konkurrenz im Nachbarort gewandt haben könnte. Die Selbstgespräche Grünsteins, von den Mithäftlingen eher belächelt, sind nur von vordergründiger Leichtigkeit, sie lassen das Motiv des Todes _____________ 20 21 22

Tilo Medek: „Sprecher und Interpreten sind nicht zu sehen. Elf Jahre Erfahrungen mit Hörspielmusik in der DDR“. In: Neue Musikzeitung 27.1 (1978): 3. Wolfgang Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“. In: Die Grünstein-Variante. Hörspiele. Hg. v. Staatlichen Komitee für Rundfunk beim Ministerrat der DDR. Berlin (Ost) 1980. 19–48, S. 21. Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“, S. 22.

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unmittelbar mit Auftreten der Figur in den Bedeutungshorizont des Hörspiels einfließen. In einem imaginierten Dialog mit dem Rabbi beschreibt Grünstein die Schächtung eines Ochsens nach jüdischem Gesetz, verbunden mit ebenso religiösen wie kaufmännischen Anspielungen. Tragikomisch spielt die Figurencharakterisierung Grünsteins auch mit dem Klischee des klugen, fabulierfreudigen und geschäftstüchtigen Juden, der in der Hoffnung auf eine Erbschaft die Gefahr der Reise über Deutschland nach Frankreich auf sich nimmt, um schon auf dem Pariser Bahnhof von Gott für seine „Habgier und Neugier“ gestraft zu werden: Wir haben nicht gesündigt und haben nichts zu verschenken, warum soll Gott uns verlassen? Und der Vater im Himmel hält seine Hand über mich, bis ich in Paris auf dem Bahnhof bin. Dann aber spricht er: Nun bereue Fajwl Grünstein, und suche den verborgenen Sinn in deinem Unglück. Und wie ich bereue und bereue, die Habgier und die Neugier, und wie ich bereu die achte Woche, Sie sind mein Zeuge, da kommt der Koffer zurück, wie ein Zeichen. Und ich sage: Herr, ich habe verstanden.23

Das rückblickende Abwägen der Gefahr, zu reisen „über Deutschland, wo sie die Juden mißhandeln“24, Grünsteins persönliche Lebensgeschichte, internationale Politik, die Kommandos des Wächters, die Klopfgeräusche der anderen Insassen und die beiläufigen, das Schachspiel kommentierenden Bemerkungen werden im Hörspiel wirkungsvoll verschränkt. Wieder in der Gegenwart endet die Handlung mit der Frage nach dem weiteren Schicksal Grünsteins: Wer weiß, ob Grünstein selbst noch hingekommen ist, nach Polen. Und wenn, wo ist er da hingekommen? Den Brief an den Kaiser habe ich noch eingesteckt, das ja. Aber Grünsteins Springerzug, mit Schwarz in der Spanischen Partie, habe ich mir damals leider nicht gemerkt. Komisch, so viele Leute spielen Schach, aber diesem Zug bin ich nie wieder begegnet. Kann so was einfach verloren gehen? Und man findet es nie wieder? Weil sich diese Sache nur Grünstein ausdenken konnte?25

Der nationalsozialistische Genozid wird hier heruntergebrochen auf den unhintergehbaren Verlust eines einzelnen Menschen, seines individuellen Wissens und Könnens, und spielt – unsentimental, fast nebenbei – auf den unwiederbringlichen Verlust der jüdischen Kultur im Europa nach der Shoah an. Die Situation des Eingeschlossenseins ist seit der Frühzeit des Radios ein Topos des Hörspiels26 und eröffnet für die Figuren eine Ausnahmesi_____________ 23 24 25 26

Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“, S. 42. Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“, S. 42. Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“, S. 47 f. In den Stücken wie Der Narr mit der Hacke von Eduard Reinacher (1930), Während der Stromsperre von Berta Waterstradt (1948) oder Die Mädchen aus Viterbo von Günter Eich (1953) ist sie zusätzlich an die Dunkelheit gekoppelt.

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tuation, die in der optischen und örtlichen Beschränkung einen Raum eröffnet für Erzählung und Dialog, Reflexion und Erinnerung. Im vorliegenden Hörspiel ermöglicht die Exposition darüber hinaus das zufällige Zusammentreffen und Aufeinanderangewiesensein dreier Protagonisten aus verschiedenen europäischen Ländern, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, deren einziges Vergehen ihr Status als „unerwünschte Ausländer“27 ist. Doch Repräsentieren der Deutsche Lodek, der Pole Grünstein und der Grieche nicht allein verschiedene Nationalitäten, sondern auch Weltanschauungen: Der Grieche als Anhänger der kaiserlichen Monarchie und Grünstein als frommer Jude unterscheiden sich in ihrer Beurteilung der Welt grundsätzlich vom Atheisten, Anhänger der Arbeiterbewegung und Revolutionsbefürworter Lodek. Der leichten und zurückhaltenden Figurenzeichnung zum Trotz leitet Wolfgang Rödel in der Publikation des Hörspiels in der DDR-Anthologie Die Grünsteinvariante (1980) denn auch eine ebenso historische wie ideologische Ausrichtung des Stückes ab, in der der klassenbewusste Seemann unter den drei einfachen Männern nicht nur zum klaren Analysten der politischen Situation, sondern auch zum Vorreiter einer besseren Gesellschaft avanciert. Während der Jude „über seinen engen Lebensbereich bisher niemals hinausgedacht“ und „schicksalergeben […] die gerade für seinesgleichen wachsende Bedrohung in keiner Weise zur Kenntnis genommen“ hat28 – eine geradezu zynische Begründung des Holocaust in Provinzialität und Religiosität –, wartet der Seemann mit einem erstaunlichen politischen Bewusstsein auf: Der deutsche Seemann Lodek schließlich, er strahlt mit seiner Kraft Hoffnung aus, die Gefährdung kann seinem Optimismus nichts anhaben. Wenngleich als Bewußtheit gar nicht genau benennbar, verkörpert er ein Stück historische Sicherheit, die selbst in solcher Situation Heiterkeit verbreitet, aus Lethargie herausholt und zu schöpferischem Denken führt.29

Im Gegensatz dazu und näher am Gegenstand spricht Sibylle Bolik mit Blick auf die Grünstein-Variante von der „Entfernung vom historischpolitischen Lehrstück der sechziger Jahre“ in diesem Hörspiel, „das stofflich-thematisch weit über einen DDR-spezifischen Problemhorizont hinausweist“.30 Sie konstatiert eine „unideologische, vornehmlich ethischmoralische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit“ und die „Behauptung des Humanen gegenüber Gewaltherrschaft und Krieg“ im Hörspiel.31 Wie _____________ 27 28 29 30 31

Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“, S. 45. Wolfgang Rödel: „Vorbemerkung“. In: Die Grünstein-Variante. Hörspiele. Hg. vom Staatlichen Komitee für Rundfunk beim Ministerrat der DDR. Berlin (Ost) 1980, S. 7–18, S. 10. Wolfgang Rödel: „Vorbemerkung“, S. 7–18, S. 10. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 266. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 265.

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in Jakob der Lügner ist es der Zufall, der das Leben der Protagonisten mit den großen Zeitläuften der Geschichte kreuzt und sie zwingt, sich dem Unrecht in kleinen Gesten zu widersetzen. In der Grünstein-Variante erinnern die permanent präsenten Klopfzeichen, die die Insassen erst nach und nach zu entschlüsseln lernen, an die – akustische – Überschreitung der willkürlichen Grenzen der Gefängniszellen; und im Schachspiel, Leitmotiv des Hörspiels, behauptet sich das geistige Vergnügen am Spiel, am Lernen und gemeinsamen Denken. […] Zumal in dem überraschenden Schachzug, mit dem der Anfänger Grünstein seinen routinierten Gegner schlägt, manifestiert sich der moralische Sieg über Unfreiheit und Unterdrückung.32

Darüber hinaus eröffnet das Motiv des Schachspiels jedoch noch weitere Dimensionen: Das Spiel selbst auf der Handlungsebene ist für die Gefängnisinsassen Zeitvertreib und Reflexionsinstrument für gegenwärtige politische Konstellationen; das Spiel des Häftlings Lodek gegen den Gefängnisdirektor offenbart Machtansprüche und Willkür der Herrschenden – ohnmächtig wie Spielfiguren sind die drei Inhaftierten den größeren Zusammenhängen unterworfen und bewahren ihre Menschlichkeit allein im Rückzug auf ihre Individualität, für die die „Grünsteinvariante“, der clevere Schachzug des offenbar Unterlegenen, steht. Schließlich scheint auch die internationale politische Situation kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs von Aspekten eines Spiels bestimmt, denn „Geschicklichkeit, Glück und Gefahr, […] Gemeinschaft und Kampf, [die] Macht des Zufalls und des Einfalls“33 bestimmen auch die Geschicke der Weltpolitik zu einer Zeit, da verschiedene Nationen in Anbetracht des „Radaubruder[s]“34 Hitler nach einer Taktik suchten, ihm nicht zum Opfer zu fallen. Geradezu beiläufig, im Plauderton, verweist Die Grünstein-Variante mit Blick auf drei Antihelden auf größere historische und politische Zusammenhänge und präsentiert sie in ebenso sensibler wie unterhaltsamer Form. Ermöglicht die Gefängniszelle in der Grünsteinvariante als Ort der Handlung das zufällige Zusammentreffen dreier Durchreisender unterschiedlichster Herkunft, so wird diese dramaturgische Funktion eines ‚Transitraumes‘ in Günther Rückers Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir35 von 1975 um die utopische Dimension des ‚Nicht-Ortes‘ _____________ 32 33 34 35

Bolik: Das Hörspiel in der DDR, 268. Helmar Schramm: Art. „Spiel“. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart u. Weimar 2005. 307–314, S. 307. Kohlhaase: „Die Grünstein-Variante“, S. 45. Günther Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“. In: Die Grünstein-Variante. Hörspiele. Hg. v. Staatlichen Komitee für Rundfunk beim Ministerrat der

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erweitert. Auf dem Weg von Berlin nach Budapest in der Slowakei wegen Nebels zwischengelandet, ergibt sich in der Wartezeit auf einem namenlosen Flughafen das Gespräch zweier Fremder bei einem Glas Tee. Die Beliebigkeit des Ortes gilt auch für die Figuren: Namenlos sind die Rollen mit „Frau“ und „Mann“ bezeichnet, die sich allerdings in Herkunft und Alter unterscheiden. Die zufällige Bekanntschaft einer jungen Deutschen der Nachkriegsgeneration36 mit einem polnischen Juden deutscher Herkunft setzt den in der Grünstein-Variante anklingenden leichteren Ton in der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust vorerst fort, ergänzt um eine versöhnliche Geste.37 In der zeitlichen und räumlichen Begrenztheit der Begegnung entwirft Rücker eine Utopie des Dialogs und der Verständigung zwischen dem polnischen Juden und der Deutschen, deren Wege sich für kurze Zeit in einem Niemandsland kreuzen: Frau Und wie heißt dieser Flugplatz? 2. Frau Ich habs vergessen. Irgendein slowakischer Name. […] Frau Und so saß ich und wartete. Auf Flugplätzen, kommt mir öfter vor, verlängert sich unser Leben. Entscheidungen fallen jetzt außerhalb. Man ist machtlos.38

Im Plauderton eines Großvaters, der der Enkelgeneration Anekdoten mit auf den Weg gibt, erinnert sich der ältere Herr seiner Lebensgeschichte, die für das historische Schicksal der osteuropäischen Juden als repräsentativ gelten darf. Leitmotivisch kehren Sätze wie „Aber reden wir nicht mehr davon“ und „Schwer war das“ wieder und markieren Verdrängung und Leid als Pole einer Erzählung, deren scheinbare Leichtigkeit sich immer wieder als Fassade zu erkennen gibt. Alltägliche Floskeln wie das Lob des vorzüglichen Kuchens seiner Frau durch die Mitreisende und seine Entgegnung, das Rezept stamme von der „Machateneste, so heißen die Familientanten bei uns. Meine Frau hat viel von ihr gelernt“, münden in einen belanglosen Allgemeinplatz der Jüngeren „Wohl dem, der so eine _____________ 36 37

38

DDR. Berlin (Ost) 1980. 49–72. Zitate werden mit der Seitenzahl im laufenden Text nachgewiesen. Es heißt, sie sei „bei einem Fliegerangriff“ geboren worden. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 71. Im Januar des gleichen Jahres sendete Radio DDR II Namyslowskis Zimmer von Hans-Jörg Dost, einem 1941 in Leipzig geborenen evangelischen Pfarrer und Autor. Ein Jahr nach Kriegsende wartet ein polnischer Jude in Berlin auf seine aus einem NS-Konzentrationslager gerettete Tochter und erinnert sich in Rückblicken an die Zeit in einem polnischen Ghetto, um schließlich ebenfalls, mit Blick auf seine deutschen Nachbarn, in versöhnlichem Ton zu enden: „Wir können nicht durchstreichen, was sie uns angetan haben, aber ich werde das Kind nicht zurückhalten dürfen. Vielleicht haben wir die Kraft, einen Schritt auf sie zuzugehen. Wir müssen nicht über den Berg unserer Schuld steigen.“ Der Tonträger findet sich im DRA Potsdam unter der Signatur 3001220000; das Zitat entstammt dem Hörprotokoll der Verf. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 51.

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Tante in der Familie hat.“ Woraufhin der alte Herr antwortet: „Jaja, die Gute. Sie hat nicht überlebt. Eine Pause Essen Sie, Kindchen.“39 Krieg und Holocaust brechen immer wieder ein in den small talk zum Zeitvertreib. Erstmals im ostdeutschen Hörspiel ist jedoch nicht nur von Deportation und Ermordung der Juden durch die Deutschen die Rede, sondern auch von der Brutalität der sowjetischen Besatzer in Polen 1939– 1941 und dem Antisemitismus der Ukrainer und Polen: Man verstand ja kaum, was im eigenen Haus vorging, mit dem Hader zwischen Polen und Ukrainern und dazwischen Deutsche; das hat sich verbündet miteinander und gegeneinander und zerfleischt und aufgefressen; die mit denen, die gegen andere und alle zusammen gegen uns Juden.40

Und wenig später heißt es: Ich saß also bei den Russen und es war Oktoberanfang. Gott, war das ein schöner Herbst, neununddreißig! Und man lebte. Was für ein Geschenk! Aber eines Tages holt die Rote Armee alle Zugewanderten zusammen – Evakuierung, Polarkreis. So war das. Trinken Sie, meine Dame.41

Beschrieben wird eine Odyssee von Polen nach Sibirien, die ein Tabuthema aufgreift: die Deportation der jüdischen Bevölkerung durch die Rote Armee während des Zweiten Weltkriegs. Die Verschleppung wird als Evakuierung scheinbar verharmlost, und der Verantwortliche, in diesem Fall Stalin, bleibt ebenfalls unbenannt. Doch nur wenige Sätze später bricht sich das Verdrängte erneut Bahn in der unbewussten Weigerung, die historische Tilgung des Stalinismus, symbolisiert in der Umbenennung der Stadt Stalingrad in Wolgograd, mitzuvollziehen: Mann […] Jetzt fragen Sie, wie kommt der nach Stalingrad. Jetzt heißt es ja Wolgograd. Aber ich sag immer noch den Namen von damals. Sie müssen das verstehen. Es kommt ganz von allein so heraus.“42

Dramaturgisch und politisch ermöglicht wird diese Ungeheuerlichkeit durch die vorherige Klärung des topographischen wie weltanschaulichen ‚Standpunkts‘ beider Protagonisten: Auf die Eröffnung, die junge Frau stamme aus Berlin, fragt der ältere Herr: „Von drüben oder von uns?“ und erhält zur Antwort: „Von uns.“ An sein darauf folgendes „Aha“ schließt sich unmittelbar die Einladung zum Tee an. Hieraus darf geschlossen werden, dass sich der polnische Jude offenbar mehr mit der sozialistischen Weltanschauung identifiziert als mit seiner religiösen und nationalen Herkunft – und so ist sein Gegenüber die erste „Deutsche für [ihn] seit damals“.43 _____________ 39 40 41 42 43

Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 54. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 55. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 56. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 58. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 53.

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Im Jahresbericht der Hörspielabteilung werden diese eher zaghaften Andeutungen notwendiger Weise noch etwas zurechtgerückt: Dort ist überraschend die Rede von einem Hörspiel, „in dem ein polnischer Bürger jüdischer Herkunft über seinen Erkenntnisweg und seine Entscheidung für den Sozialismus berichtet. Eingebettet in die weltgeschichtlichen Zusammenhänge unseres Jahrhunderts“ wäre es „ein überzeugender Beitrag in der offensiven Auseinandersetzung mit der zionistischen, antisowjetischen Hetzkampagne des Gegners“.44 Hinter der geradezu erdrückenden ideologiegeschwängerten Auslegung aber verbirgt sich ein kritisches Hörspiel der leiseren Töne, das weltanschauliche Positionen ebenso vorsichtig bezieht wie in Frage stellt und auf diese Weise ein komplexeres und differenzierteres Geschichtsbild als das zeitgenössische entwirft. Mündliche Erzähltradition als Charakteristikum jüdischer Kultur wird im Hörspiel offizieller Geschichtsschreibung ebenso entgegengesetzt wie staatstragender Literatur. Der männliche Protagonist thematisiert ausführlich das Verhältnis von Erinnerung, Narration und Geschichte, wobei der professionellen Geschichtsschreibung und der historischen Literatur die Fähigkeit abgesprochen wird, die „richtigen Geschichten“ zu bewahren. Die Schwierigkeiten mit der Auswahl des Stoffes und der hohe literarische Anspruch führten zu einer mangelhaften Überlieferung, die durch die „altmodisch[e]“ – mündliche – Weitergabe der Erfahrung ausgeglichen werden müsse: „so ist das, und darum müssen wir unsere Geschichten unter die Leute bringen, so daß sie von vielen vergessen werden können, aber in einigen lebendig bleiben.“45 Diese Form der Tradierung dient vordergründig einem didaktischen Zweck im Sinne des marxistischen Fortschrittsgedankens: „Was aber taugt unser Leben über die Arbeit und das Vermehren hinaus, wenn es nicht eine Lehre ist für andere?“,46 sie wird aber wenige Sätze später schon wieder relativiert: Frau Es wird sich auch nicht wiederholen. Die Menschheit ist klüger geworden. Mann Sind Sie sich dessen sicher? Frau Ja. Mann Die Menschheit! Sagen wir: die Menschen. Sagen wir: viele Menschen. Ja – das ist besser: sehr viele Menschen haben gelernt. Aber auch das ist vielleicht zuviel gesagt.47

Vorsichtig deuten sich hier Zweifel am marxistischen Geschichtsverständnis an, das wesentlich von einem Fortschrittsgedanken bestimmt wird, der eine Höherentwicklung der Gesellschaftsordnungen propagiert, die im Kommunismus ihren Höhe- und Endpunkt finden soll. _____________ 44 45 46 47

Jahresbericht der HA Hörspiel 1975. DRA Potsdam: F 009-00-04/0232, S. 3. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 62. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 60 f. Rücker: „Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir“, S. 66.

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Konstatiert Bolik im Anschluss an Gugisch, „Stalinismus und Kritik an der Sowjetunionn“ seien im DDR-Hörspiel „generell“ kein Thema gewesen, so muss Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir doch als erste Enttabuisierung verstanden werden: Religiöses Judentum, Stalinismus, Antisemitismus als gesamteuropäisches Phänomen, die Diaspora als Leidensweg, das Ende von jüdischer Genealogie und Erzähltradition und Kritik am marxistischen Geschichtskonzept – all diese Aspekte waren bis in die 1970er Jahre im öffentlichen Umgang mit Judentum in der DDR und Holocaust-Erinnerung tabuisiert und werden nun, nicht zufällig erst zehn Jahre nach der Entstehung des Textes,48 auch über einen DDR-Rundfunksender verbreitet. Die in den Hörspielen von Jurek Becker, Wolfgang Kohlhaase und Günther Rücker vollzogene thematische Öffnung findet auf dramaturgischer und ästhetischer Ebene nur bedingt eine Entsprechung. Man blieb auch weiterhin dem Hörspiel der 1960er Jahre verpflichtet: Konventionelle Rollenspiele mit weitgehend linearer Handlung wurden mit herkömmlichen akustischen Zeichen illustriert.49 Erst Ende der 1970er Jahre wurde das Repertoire erweitert um zwei Spielformen, die die technischen Möglichkeiten des Rundfunks für das Hörspiel nutzten: das sogenannte Kunstkopfhörspiel und das Originalton-Hörspiel. Das technisch aufwendige Verfahren der Kunstkopfstereophonie zielt darauf ab, angelehnt an das natürliche räumliche Hören, nicht nur rechts und links (Stereophonie), sondern auch oben und unten sowie vorn und hinten als Raumeindruck im Rezeptionsprozess zu erhalten. Das einzige Kunstkopfhörspiel, das die nationalsozialistische Judenverfolgung thematisierte, war Stille Post von Lia Pirskawetz, das zwischen 1977 und 1979 entstand und 1980 unter der Regie von Horst Liepach urgesendet wurde.50 Das Hörspiel verarbeitet Victor Klemperers Tagebuchaufzeichnungen und seine sprachphilosophischen Werke zu einer Hörcollage, die kurze, chronologisch angeordnete Szenen aus dem Leben Klemperers und seiner Frau von den 1920er Jahren bis in die Nachkriegszeit in Dresden zusammenstellt, in die wiederum Zitate aus Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen51 montiert sind. Der Literaturwissenschaftler und Autor Klemperer (1881–1960), jüdischer Herkunft, war 1912 zum Protestantismus konver_____________ 48 49 50 51

Das Hörspiel Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir geht zurück auf die Erzählung „Garne und Gewebe“, die bereits 1964 in der Zeitschrift Neue deutsche Literatur erschienen war. Vgl. Günther Rücker: „Garne und Gewebe“. In: ndl 12.5 (1964). Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 188. Lia Pirskawetz: Stille Post. Ein Hörspiel für kopfbezogene Stereophonie frei nach Tagebuchnotizen von Victor Klemperer. Unveröffentlichtes Manuskript im DRA Potsdam unter der Signatur: A 009-00-04/2203; Tonträger vorhanden. Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen erschien erstmals 1947.

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tiert und hatte zuvor die Christin Eva Schlemmer geheiratet. Aufgrund der NS-Gesetzgebung durfte er nach 1935 nicht mehr an der Technischen Universität Dresden tätig bleiben, an der er seit 1920 lehrte. Die zunehmende Diskriminierung des assimilierten Juden Klemperer unter den Nationalsozialisten, seine anfänglichen Versuche, sie zu ignorieren und sein schmerzlicher Erkenntnisprozess werden so kommentiert von seinen theoretischen Reflexionen der Lingua Tertii Imperii, der „Sprache des Dritten Reiches“, die „von kopfnahen Suggestivstimmen“52 eingesprochen werden und auf den Hörer so besonders eindringlich wirken. Die Autorin Lia Pirskawetz, der Regisseur Horst Liepach und die Toningenieurin Eva Lau wurden 1980 mit dem Sonderpreis der Hörspielkritiker für „bemerkenswerte Lösungen bei der Erschließung der künstlerischen Möglichkeiten der kopfbezogenen Stereophonie im Hörspiel“ ausgezeichnet.53 Sechs Jahre später, 1986, erhält das Hörspiel Gewaltmarsch von Hans Bräunlich54 ebenfalls den Sonderpreis der Hörspielkritiker. Das „dokumentarisch-historisch-biographische[]“55 Hörspiel, dem in der Begründung eine besondere Relevanz in der Gegenwart bescheinigt wird, stellt den ungarisch-jüdischen Lyriker und Übersetzer Miklós Radnóti56 in den Mittelpunkt, der auf einem der sogenannten Todesmärsche 1944 in Ungarn zusammenbrach und erschossen wurde. Bei der Exhuminierung eines Massengrabs wurden neben seiner Leiche auch seine letzten Gedichte gefunden, darunter „Erőltetett menet“ („Gewaltmarsch“)57, das auch dem Hörspiel den Titel gab. In der Planung zur Produktion ist bereits 1984 die Rede von einem „Requiem“, das „[d]as Schreiben der letzten Gedichte auf dem Marsch, aus denen dichterischer Mut und ungebrochene Menschlichkeit spre_____________ 52 53 54 55 56

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Kristine Fischer-Hupe: Victor Klemperers „LTI. Notizbuch eines Philologen: ein Kommentar“. Hildesheim u. a. 2001, S. 148. Vgl. Art. „Lia Pirskawetz“. Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Carola L. Gottzmann u. Petra Hörner. Berlin, New York 2007. 1020–1021, S. 1021. Hans Bräunlich: Gewaltmarsch. Originalhörspiel. Erstsendung 13.10.1985 im Radio DDR II unter der Regie von Fritz Göhler. Manuskript im DRA Potsdam unter der Signatur B 00900-04/0114. Begründung für die Verleihung des HÖRSPIELPREISES 1986 – Kritikerpreis – an den Autor Hans Bräunlich für sein Hörspiel „Gewaltmarsch“. DRA Potsdam, Signatur: I 00900-04/0209, S. 2. Miklós Radnóti (1909–1944) verfasste zunächst Naturlyrik, Idyllen und Elegien, die jedoch im Laufe der 1930er Jahre immer realistischere Züge annahm und schließlich angesichts des Zweiten Weltkriegs in Eklogen mündete, die seine Kriegserfahrungen in einer klassischen Form ausdrückten. Seit 1940 war Radnóti mehrfach in verschiedenen Arbeitslagern inhaftiert. Im Sommer 1944 starb er auf einem der Todesmärsche Richtung Westen. Art. „Radnóti“. In: Kindlers Neues Literaturlexikon. Bd. 13. München 1991. 897–899, Zitat S. 898. Art. „Radnóti“, S. 898.

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chen“, leitmotivisch aufgreifen würde.58 Auf ähnliche Weise wie Stille Post verquickt es dokumentarisches Material, literarische Texte, Traumsequenzen und fiktive Szenen.59 Mit starker radiophoner Wirkung werden Hall, verschiedene Atmosphären, Zuggeräusche, Marschtritte und Musik sowie Schüsse, Stille und Musikakzente inszeniert. Die Begründung für die Preisverleihung lobt das Werk, „das sowohl sehr funkspezifisch als auch von starker emotionaler Wirkung ist“.60 Ab 1977 entstanden darüber hinaus sogenannte Originaltonhörspiele. Sie potenzieren die sich in anderen Hörspielen bereits andeutende Individualisierung der Erinnerungen an die NS-Diktatur durch die Fokussierung von Einzelschicksalen, indem die exemplarischen Lebensberichte nicht mehr von einer Figur als bestenfalls semifiktional vermittelt werden, sondern das Hörspiel aus den Erinnerungen und Erzählungen einer realen Person zusammengestellt wird. Die aus dem „fotografischen Realismus im O-Ton“61 resultierende besondere Wirklichkeitsnähe des Berichteten wurde als großes Potential, aber auch als besondere Gefahr des O-TonHörspiels betrachtet. Wurde die Authentizität des Originaltons einerseits, im Falle konformer Äußerung, als Gewinn an Wirklichkeitsnähe begrüßt, so war sie andererseits, im Falle mißliebiger, den propagandistischen Schein widerlegender Mitteilungen, um so mehr gefürchtet. Je größer die Beweiskraft des Materials, desto größer das vermutete Störpotential und desto begrenzter der zugestandene Artikulationsspielraum.62

Zwischen 1977 und 1988 entstanden nur zwölf Produktionen, von denen nicht wenige gerade „konfliktreiche Lebensläufe“ thematisierten, „die auch soziale Rand- und Tabuzonen berührten“63; erst 1989 wurden weitere sieben O-Ton-Hörspiele gesendet. Philippine G., Geborene Rothschild (1988), Die Kneipe im Keller des Sammlers (1989) über das Leben von Lothar Berfelde, genannt Charlotte von Mahlsdorf, sowie Als ich Jüdin geworden war64 (1989) über die in den 1930er Jahren zum Judentum konvertierte _____________ 58 59 60 61 62 63 64

Jahresplanung der DDR-Hörspielabteilung 1984. Unveröffentlichtes Typoskript im DRA Potsdam unter der Signatur J 009-00-04/0230, S. 6. Bräunlich: Gewaltmarsch, Vorbemerkung des Autors zum Manuskript im DRA Potsdam unter der Signatur B 009-00-04/0114, ohne Paginierung. Begründung für die Verleihung des HÖRSPIELPREISES 1986 – Kritikerpreis – an den Autor Hans Bräunlich für sein Hörspiel „Gewaltmarsch“. DRA Potsdam, Signatur: I 00900-04/0209, S. 2. Mauricio Kagel u. Klaus Schöning: „Das Handwerkszeug. Kleines Ohrganon des Hörspielmachens. 5. Folge: Schnitt“. In: Spuren des Neuen Hörspiels. Hg. v. Klaus Schöning. Frankfurt a. M. 1982. 96–103, S. 99. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 237. Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 241. Das Hörspiel wurde anlässlich des 60. Jahrestages der Reichsprogromnacht am 9. November 1989, am Tag der Maueröffnung, erstgesendet.

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Käthe Ring, die nur durch einen Zufall der Deportation 1942 entging und seit 1987 Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle war, gehören zu den auditiven Porträts, die vornehmlich aus Interviewmaterial entstanden sind und die Lebensgeschichte von Juden in der DDR in den Vordergrund stellten. Dass in den O-Ton-Produktionen gerade kritische Töne zu hören waren, beweist bspw. das Hörspiel über Philippine Gerlach, die mit einem jüdisch-orthodoxen familiären Hintergrund bei Kriegsbeginn nach England auswanderte. Nach ihrer Rückkehr in die DDR blieb ihr als ‚Westemigrantin‘ eine politische Karriere verwehrt.65 Heinar Kipphardts Bruder Eichmann (1984) nimmt als dokumentarisches Hörspiel eine Sonderstellung ein, indem es einerseits an das dokumentarische Theater der 1960er Jahre anknüpft und wie die O-TonHörspiele auf authentischen Tonbandprotokollen beruht, andererseits aber in der Psychologisierung und Individualisierung der Täterfigur Perspektiven auf die NS-Vergangenheit eröffnet, die im Hörspiel mit Hier spricht Hackenberger (1953)66 bereits etabliert sind, in der Reflexion der medialen Aufschreibesysteme aber eher auf die 1990er Jahre verweisen.67 Nichtsdestotrotz waren den Möglichkeiten des Hörspiels als Massenmedium auch hier Grenzen gesetzt, die beispielsweise in der Literatur oder im Theater eher überschritten werden konnten. Die Demarkationslinie zeigt sich an jenen Hörspielen, die trotz aller Liberalisierung und trotz des Nischendaseins, das das Hörspiel Mitte der 1980er Jahre auch in der DDR fristete, der Zensur zum Opfer fielen. Exemplarisch hierfür kann Thomas Heises Hörspiel Schweigendes Dorf stehen, das gerade wegen seiner Fokussierung auf das Territorium der gegenwärtigen DDR und seines dokumentarischen Charakters nicht über den Sender ging. Der Ostberliner Autor und Regisseur, geboren 1955, war in Vorarbeiten zu einem Dokumentarfilm dem Stoff, der Willi Bredels Erzählung „Schweigendes Dorf“ zugrunde lag, nachgegangen. In einem mecklenburgischen Ort namens Sülstorf hatte im April 1945 ein Zug mit 6.000 Häftlingen aus dem Konzentrationslager Ravensbrück gehalten. Am Rande dieses dreitägigen Aufenthalts kam es zur Ermordung von mehr als 50 jüdischen Frauen, die vor Ort in einem Massengrab verscharrt wurden und dem Vergessen anheim fielen. Zwei Jahre nach dem Krieg wurden die _____________ 65 66

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Philippine G., Geborene Rothschild. Gespräche vom Februar 1985 bis Mai 1988 von Heide Böwe und Matthias Thalheim. Erstsendung am 8.11.1988 im Radio DDR II. Tonträger im DRA Potsdam unter der Signatur: 3002135X00. Walter Karl Schweickert: Herhören, hier spricht Hackenberger! Der Funkmonolog eines Nazifeldwebels, der in der Nervenheilanstalt seinen Lebenslauf verfasst, gilt als herausragendes Originalhörspiel des DDR-Rundfunks, spart die Judenverfolgung als wesentlichen Teil der NS-Geschichte jedoch aus. Das Manuskript findet sich im DRA Potsdam unter der Signatur: B 082-00-04/0034. Vgl. die folgende Analyse des Hörspiels im Abschnitt 2 des vorliegenden Kapitels.

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Opfer auf Anweisung der sowjetischen Militärregierung von den ehemaligen Sülstorfer NSDAP-Mitgliedern umgebettet, und es wurde ein Mahnmal errichtet, nicht ohne dem Dorf die Verantwortung für die Verbrechen abzusprechen. Thomas Heise, 1985 Meisterschüler an der Akademie der Künste in Ost-Berlin, konzipierte den historischen Stoff zunächst für eine Fernsehdokumentation, die aber nicht realisiert wurde, da der Entwurf das herrschende antifaschistische Selbstbild in Frage stellte. Im Tonstudio der Akademie der Künste produzierte Heise daraufhin das Hörspiel, das aber ebenfalls nicht gesendet wurde. Erst 1988 wird die Bühnenfassung, die den Untertitel „Fragment eines Dokumentarfilms auf Papier“ trägt, in Potsdam uraufgeführt. Das Hörspiel, dessen Reichweite die des Theaters bei weitem überstiegen hätte, wurde erst nach dem Ende der DDR 1991 anlässlich der Ausstellung „Jüdische Lebenswelten“ am Berliner Ensemble uraufgeführt und schließlich 1992 im Deutschlandfunk gesendet.68 Schweigendes Dorf verschränkt die verschiedenen Erinnerungen der Sülstorfer Bevölkerung an die beobachtete Gewalt mit Rechtfertigungsversuchen, Stimmen von jüdischen Überlebenden, offiziellen Erklärungen, vernichteten Akteneinträgen usw. Auf das Eingangszitat der Vorlage des „Dichters“ lässt Heise seine ursprünglich dokumentarischen Originaltöne erklingen, die er von Schauspielerinnen und Schauspielern einsprechen ließ,69 versetzt mit Zug-, Dorf- und Maschinengeräuschen und Klängen aus der gleichnamigen Oper. Es entsteht das repräsentative Hörbild einer deutschen Bevölkerung, die sich der Verantwortung für die NSVerbrechen an den Juden entziehen will und statt dessen von oben verordneten, rein äußerlichen Gedenkritualen nachgeht. Die Konfrontation des DDR-Publikums mit dem Faktum, dass auch die eigene Bevölkerung zumindest Mitverantwortung für Kriegsverbrechen trug und dies im Nachhinein über Jahrzehnte hinweg totschwieg, war noch Mitte der achtziger Jahre in DDR-Massenmedien nicht zu realisieren. Betreiben die bisher genannten Holocaust-Hörspiele der 1970er und 1980er Jahre eine zunehmende Individualisierung von Geschichte und authentifizieren die Stoffe durch die technischen Möglichkeiten des Rund_____________ 68

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Vgl. die Internetseite der Lehrenden an der Hochschule für Gestaltung Karlsruhe http://solaris.hfg-karlsruhe.de/hfg/inhalt/de/Lehrende/9221 sowie die Ankündigung des Hörspiels anlässlich der Werkschau Thomas Heise im Zeughaus Kino Berlin; http:// www.dhm.de/kino/werkschau_thomas_heise.html. Ich danke Thomas Heise für das aufschlussreiche Gespräch am Rande der Veranstaltung am 27.10.2007. In einem Publikumsgespräch nach der öffentlichen Aufführung des Hörspiels im Zeughauskino Berlin am 27. Oktober 2007 gab Thomas Heise als Grund hierfür die schlechte Tonqualität der Originalaufnahmen an. Im Hörerlebnis verstärkt der Einsatz professioneller Schauspieler jedoch noch einmal den semifiktionalen und hoch artifiziellen Eindruck des montierten Materials.

Konstruktion von Judentum und jüdischen Identitäten

259

funks, dokumentarische und fiktionale Sequenzen miteinander zu verschränken, so sind sie noch immer an das Realismus-Gebot gebunden, das das Hörspiel der DDR von Beginn an gängelte. Als absolutes Novum muss daher die Übernahme westdeutscher Hörspiele gelten, die surreale Aspekte – Märchen, Mythen und Träume – zum Gegenstand hatten70 und nichtsdestotrotz deutliche Bezüge zur NS-Vergangenheit aufweisen. Die Rede ist von den Höhepunkten des westdeutschen traditionellen Hörspiels: Günter Eichs Träume, erstgesendet im NDR 1950, konnte 1981 im DDR-Rundfunk gesendet werden; und Ilse Aichingers Knöpfe, ursprünglich 1956 im NDR gesendet, konnte 1989 produziert werden. Beide Hörspiele dürfen als die bekanntesten Beispiele für die Adaption surrealer Stoffe durch den DDR-Hörfunk gelten. Für sie gibt es im DDRHörspielprogramm einen einzelnen Vorläufer im Bereich des HolocaustHörspiels: Adolf Schröders bereits 1965 gesendete Albtraum-Collage Gelassen stieg die Nacht an Land.71 Verzeichnet Bolik mit Blick auf das gesamte DDR-Hörspielprogramm die Zunahme von „Versuche[n] mit imaginär-phantastischen Spielelementen […] ohne den unmittelbaren Realitätsbezug aufzugeben“, so kann dies nicht ohne weiteres auf die Hörspiele zur Holocaust-Thematik übertragen werden. Das Verhältnis von surrealen Handlungen und historischem Ereignis ist in diesen Fällen komplexer und kann nur in differenzierten Untersuchungen aufgefächert werden, wie sie sich anschließen. Im Folgenden werden Jurek Beckers Jakob der Lügner, Heinar Kipphardts dokumentarisches Hörspiel Bruder Eichmann und Ilse Aichingers Hörspiel Knöpfe der exemplarischen Einzelanalyse unterzogen, um die thematische wie hörspielästhetische Vielfalt, die die Holocaust-Erinnerung im Hörspiel in den 1970er und 1980er Jahren kennzeichnete, zu verdeutlichen.

_____________ 70 71

Vgl. auch Sibylle Bolik: „Eine der markantesten Neuerungen in der DDR-Funkdramatik der achtziger Jahre ist die Verarbeitung von mythologischen und vor allem Märchenstoffen und -motiven.“ Bolik: Das Hörspiel in der DDR, S. 280. Vgl. das Kap. III.1.1. dieser Untersuchung.

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Medium Mensch

2. Medium Mensch Jurek Becker: „Jakob der Lügner“ 2.1. Vom Ende des antifaschistischen Mythos Das Hörspiel Jakob der Lügner wurde am 19. April 1973 im Berliner Rundfunk urgesendet. Zu dieser Zeit hatte der gleichnamige Roman bereits seinen Siegeszug in beiden deutschen Staaten – er erschien 1969 in der DDR und 1970 in der Bundesrepublik – angetreten. Sein Autor, Jurek Becker, hatte den Stoff zuerst 1963 als Drehbuch für die DEFA eingereicht, wurde damit allerdings abgewiesen. Erst am 22.12.1974 lief der Film im Fernsehen der DDR und am 14. April 1975 im ostdeutschen Kino.72 Diese schrittweise Ver-Öffentlichung – erst in Form eines Buches, dann als Hörspiel und zuletzt als Film – lässt auf einen zumindest vorsichtigen Umgang des DDR-Kulturbetriebs mit dem Stoff schließen. Worin aber bestand seine Brisanz, die es nötig machte, ihn erst nach und nach einem großen Publikum zugänglich vorzustellen? Erzählt wird die Geschichte von Jakob Heym, der in den 1940er Jahren in einem osteuropäischen Ghetto lebt und durch einen Zufall die Nachricht von den näherrückenden russischen Truppen aus einem Radio der deutschen Kommandantur aufschnappt. Beflügelt von der nun in Aussicht stehenden baldigen Rettung, erzählt er seinem Arbeitskollegen und Freund Mischa von seinem Wissen und behauptet, um nicht für einen Spitzel oder einen Lügner gehalten zu werden, er selbst besäße ein Radio. Die gute Nachricht macht schnell die Runde im Ghetto: Mischa erzählt sie seiner Geliebten Rosa Frankfurter und deren Eltern, und „bald wissen es alle“. Die bis eben noch Perspektivlosen planen Hochzeiten und Geschäftsbeziehungen für ein Leben nach der Diktatur, denn „[...] ganz plötzlich ist morgen auch noch ein Tag“.73 _____________ 72

73

Seit Mitte der 1960er Jahre hatten sich die Verhältnisse insoweit liberalisiert, dass der aus DDR-Sicht etwas unkonventionelle Blick auf die Judenverfolgung im Dritten Reich nun auch einem Massenpublikum in den Kinos und vor den Fernsehbildschirmen zugemutet werden konnte. Trotzdem versuchte man, zumindest durch äußere Faktoren, den Film in die antifaschistischen Traditionslinien zu integrieren. So erfolgte die Erstausstrahlung im Fernsehen der DDR im Rahmen der „Woche des antiimperialistischen Films“ im Dezember 1974, und im April 1975 kam der Film – pünktlich zum „30. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus“ – ins Kino. Jurek Becker: Jakob der Lügner. Roman. Frankfurt a. M. 2001, S. 32. Im Folgenden werden Zitate aus dieser Ausgabe direkt im Text gewiesen (= R). Textstellen aus dem Hörspielmanuskript werden ebenfalls im laufenden Text nachgewiesen (= Hs). Grundlage hierfür stellt das Kontroll-Exemplar des Manuskripts dar, das im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam unter der Signatur 3 009-00-04/0611 vorhanden ist.

Vom Ende des antifaschistischen Mythos

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Jakob wird als Held gefeiert und in der folgenden Zeit um Informationen bedrängt. Um die Hoffnung auf ein Überleben trotz der täglich abgehenden Transporte nicht einschlafen zu lassen, denkt er sich immer neue gute Nachrichten aus. Im Ghetto bilden sich zwei Parteien: Mischa, Jakobs Pflegekind Lina, sein alter Freund Kowalski und viele Namenlose nehmen Jakobs Erfindungen mit Begeisterung auf und tragen sie weiter. Der Medizinprofessor Kirschbaum, der Schauspieler Frankfurter und der orthodoxe Schtamm dagegen halten den allseits bekannten Verstoß gegen die Gesetze der Nationalsozialisten für gefährlich, denn auf den Besitz eines Radios steht im Ghetto die Todesstrafe. Hören die Selbstmorde im Ghetto schlagartig auf, seit Jakobs Nachrichten kursieren, so gehen die Deportationen durch die Nationalsozialisten ungehindert weiter. Unter anderem werden Kirschbaum, seine Schwester und auch Rosas Eltern abgeholt. Jakobs Konflikt zwischen seinen lebensverlängernden Lügen und der offensichtlichen Realität des Todes lässt ihn eines Abends verzweifeln, und er erzählt seinem Freund Kowalski, dass er das Radio nur erfunden hätte. Prompt erhängt sich Kowalski in der folgenden Nacht, und Jakob lügt weiter, bis zu dem Tag, an dem alle noch lebenden Ghettobewohner in einem Viehwaggon abtransportiert werden. Auf dieser Fahrt in ein Vernichtungslager erzählt Jakob seine Geschichte dem namenlosen Erzähler, der sie nun – als einziger Überlebender – in einem heiter-lakonischen Ton an die heutigen Leserinnen und Leser weitergibt. Becker selbst spricht davon, dass „Jakob der Lügner auf gewisse Distanz in der offiziellen DDR gestoßen ist, weil das Buch vom antifaschistischen Widerstand im DDR-Sinn nicht handelt“74, und tatsächlich entspricht die Handlung in mehrfacher Hinsicht nicht dem in der DDR üblicherweise praktizierten Umgang mit dem Thema Judenverfolgung im Nationalsozialismus: In ihr geht es weder um jüdischen Widerstand, wie er anhand des Aufstands im Warschauer Ghetto vorgeführt wurde, oder um Juden als passive Opfer, die es durch deutsche Kommunisten zu retten galt, wie z.B. in Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz, noch ging es um die Befreiung einer notleidenden Bevölkerung durch die ‚siegreiche Sowjetarmee‘. Statt dessen beschreibt Becker das vergebliche und lähmende Warten auf Befreiung von einem System, in dem Werte wie Wahrheit und Menschlichkeit pervertiert werden und der unscheinbare Jakob aus Humanität zum Lügner und als Lügner zum Helden wird. Dabei ist Jakob eher als Anti-Held entworfen: Ein körperlich schwacher Kartoffelpufferbäcker, der es schon vor dem Krieg im Leben nicht _____________ 74

Jurek Becker in: Paul O’Doherty u. Colin Riordan: „‚Ich bezweifle, ob ich je DDRSchriftsteller gewesen bin‘. Gespräch mit Jurek Becker“. In: Jurek Becker. Contemporary German Writers. Hg. v. Colin Riordan. Cardiff 1998. 12–23, S. 17.

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weit gebracht hat und nun nicht aus Überzeugung, sondern eher durch Zufall die Rolle eines angesehenen Kämpfers spielt, der allerdings nicht mit seinem Körper oder Waffengewalt kämpft, sondern einzig mit der Kraft des Wortes, mit seiner Phantasie: Dabei erinnert Jakob, wenn man ihn sieht, in keiner Weise an einen Baum. Es gibt doch solche Männer, von denen man sagt, ein Kerl wie ein Baum, groß, stark, ein bisschen gewaltig, solche, bei denen man sich jeden Tag für ein paar Minuten anlehnen möchte. Jakob ist viel kleiner, er geht dem Kerl wie ein Baum höchstens bis zur Schulter. Er hat Angst wie wir alle, er unterscheidet sich eigentlich durch nichts von Kirschbaum oder von Frankfurter oder von mir oder von Kowalski. Das einzige, was ihn von uns allen unterscheidet, ist, daß ohne ihn diese gottverdammte Geschichte nicht hätte passieren können. (R 9)

Becker bricht ganz bewusst mit der in der DDR favorisierten (Zentral-)Perspektive auf das Leben im Dritten Reich, in der der aktive Widerstand in Warschau oder Buchenwald zum Wahrzeichen eines heldenhaften Kampfes wurde, der in der historischen Realität jedoch eher die Ausnahme als die Regel darstellte. Die ursprüngliche Geschichte, die ihm sein Vater – selbst Überlebender der Shoah – erzählt hatte, handelte von einem Helden, einem Ghettobewohner, der tatsächlich ein Radio besaß und die Informationen bis zu seiner Denunziation und Ermordung verbreitete: Ich fand auch, daß dieser Mann ein großer Held war, aber ich hatte keine Lust, über den zu schreiben; ich hatte das Gefühl, immer wenn ich über jene Zeit las, war von diesem Mann die Rede, vor allem in der DDR; dieses Denkmal sei ihm oft gesetzt worden, dem so seltenen Helden der Vergangenheit.75

In einem lakonischen Ton des Understatements beschreibt Becker statt dessen die ‚Normalität‘ des täglichen Lebens im Ghetto und das unausweichliche, ‚typische‘ Ende seiner Bewohner, denn in der historischen Realität ist nicht ein einziges Ghetto von der Roten Armee befreit worden. Die Untertreibung, mit der die unmenschlichen Bedingungen des Lebens im Ghetto geschildert werden, betrifft auch die Darstellung der Nationalsozialisten. Ihre Brutalität wird eher beiläufig thematisiert; Erniedrigung, Hunger, Gewalt und Tod werden als alltägliche Gegebenheiten und nicht als unerhörter Ausnahmezustand, den es im Glauben an eine bessere Zukunft zu bekämpfen gilt, behandelt. Richtet sich die Aufmerksamkeit vieler Romane, Hörspiele und Filme bis in die 1970er Jahre hinein auf die Herausarbeitung der Unmenschlichkeit und Grausamkeit des nationalsozialistischen Systems und seiner Anhänger, so stehen in Beckers Roman und Hörspiel die Opfer im Mittelpunkt. Ihre Perspektive bestimmt die Handlung, und selbst der Erzähler ist einer von ihnen, ein ‚Dabeigewese_____________ 75

„Werkstattgespräch mit Jurek Becker“. In: Jurek Becker. Werkheft Literatur. Hg. v. Karin Graf u. Ulrich Konietzny. München 1991, S. 59.

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ner‘. Die Protagonisten des Romans sind ausschließlich Juden, eine Bevölkerungsgruppe, der in der DDR kein besonderer Opferstatus zugesprochen wurde und deren spezifische Problematik, die sogenannte „Judenfrage“, mit der Errichtung einer gerechten, sozialistischen Gesellschaft ebenso wie die „Klassenfrage“ gelöst schien.76 Jurek Becker, selbst jüdischer Herkunft und als Kind in einem polnischen Ghetto lebend, erschreibt sich mit diesem Roman der (westlichen bzw. gesamtdeutschen) Literaturkritik zufolge seine eigene Kindheit, an die er sich selbst nicht mehr erinnern kann.77 Biographische Fakten, die für Antifaschisten als Ausweis ihrer Glaubwürdigkeit und Integrität gelten, spielen für die Rezeption von Werken jüdischer Autoren in der DDR grundsätzlich keine Rolle: In der Literaturgeschichtsschreibung der DDR jedoch findet sich weder in der Kurzen Geschichte der deutschen Literatur noch in der 12-bändigen Geschichte der deutschen Literatur eine Erwähnung der jüdischen Herkunft der Autoren. Nicht einmal bei Autoren wie Anna Seghers, Arnold Zweig oder Stephan Hermlin wird bis in die achtziger Jahre dieser Fakt erwähnt, ganz zu Schweigen bei Jurek Becker.78

Auf diese Weise erübrigt sich ein Herausstellen der Besonderheiten des jüdischen Schicksals im Vergleich mit anderen Opfergruppen sowie eine Beurteilung der Literatur über den Nationalsozialismus in Kategorien wie Authentizität und Fiktion beziehungsweise Opfer- und Täterliteratur, wie sie vor allem in Westdeutschland vorgenommen wurden. Das DDRPublikum musste sich weder in der Tradition der Täter begreifen, noch musste es die Schwierigkeiten eines jüdischen Schriftstellers reflektieren, der sich gezwungen sah, seine Figuren in der Sprache ihrer ehemaligen Verfolger sprechen zu lassen.79 Noch ein weiterer Punkt konnte die Kulturpolitik der DDR beunruhigen: Beckers Roman beansprucht weder, das realistische Abbild historischer Fakten zu sein, noch wird in ihm ein fester politischer oder moralischer Standpunkt eingenommen. Statt den Anforderungen eines sozialisti_____________ 76

Zum Umgang mit dem Holocaust in der DDR vgl. das Kapitel I.1 der vorliegenden Untersuchung. 77 Thomas Jung: „Widerstandskämpfer oder Schriftsteller zu sein...“. Jurek Becker – Schreiben zwischen Sozialismus und Judentum. Eine Interpretation der Holocaust-Texte und deren Verfilmungen im Kontext. Frankfurt a. M. u. a. 1998, S. 91. Diese autobiographischen ebenso wie die Bezüge zum Gesamtwerk des Autors – Erinnerungen an den Holocaust und Fragen jüdischer Identität durchziehen Beckers Prosa – sind Thema vielfältiger wissenschaftlicher und journalistischer Abhandlungen, sollen aber nicht Gegenstand dieser Arbeit sein. 78 Thomas Jung: „Widerstandskämpfer oder Schriftsteller zu sein...“, S. 87. 79 Jurek Beckers Muttersprache war Polnisch, das er aber im Alter von acht Jahren im Nachkriegsdeutschland zugunsten der deutschen Sprache verlernt hat. Zum jiddischen Tenor in Jakob der Lügner vgl.: David Rock: „‚Wie ich ein Deutscher wurde‘. Sprachlosigkeit, Sprache und Identität bei Jurek Becker“. In: Jurek Becker. Contemporary German Writers. Hg. v. Colin Riordan. Cardiff 1998. 24–44.

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schen Realismus zu genügen, präsentiert der Erzähler eine fiktive Geschichte, die, als Plauderei getarnt, zwar klare Bezüge zur Vergangenheit aufweist, in sich jedoch widersprüchlich und lückenhaft ist und darin gipfelt, dem Leser zwei Schlüsse anzubieten. Im vermeintlichen Dialog mit dem Erzähler muss der Leser aus den einander widersprechenden Positionen des Textes wählen und seine eigene Perspektive ausbilden, ohne eine didaktisch aufbereitete, parteilich eindeutige Meinung konsumieren zu können. Ist diese offene Rezeption im Text bereits angelegt, indem nicht nur zwischen dem Erzähler und dem Leser ‚geschwätzt‘ und ‚geplaudert‘ wird, sondern auch die einzelnen Figuren mit sich selbst und mit anderen das Für und Wider ihrer Haltungen diskutieren, so prädestiniert dieses ‚dialogische Prinzip‘ den Roman förmlich dafür, zu einem Hörspiel verarbeitet zu werden. Mit der Sendung des Hörspiels kommt es zu einer selbstreflexiven Konstellation, in der das Medium, das die Geschichte von Jakob verbreitet,80 gleichzeitig im Zentrum des Geschehens steht. Mit seinen elektromagnetischen Wellen überwindet das tatsächliche wie imaginäre Radio die engen Grenzen des Ghettos und verkündet die hoffnungsstiftende Nachricht über die nahende Befreiung. Jakobs Behauptung, er selbst besäße einen Radioapparat, macht ihn in den Augen der anderen Juden zu einem Auserwählten; und gerade das Fehlen des technischen Mediums ermöglicht es ihm, selbst als Produzent und Übermittler von Informationen aufzutreten und somit zum ‚menschlichen‘ Medium zu werden. Obwohl das Radio seit seiner Einführung fiktionale Unterhaltungssendungen ausstrahlte und gerade der sogenannte ‚Volksempfänger‘ zur Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda diente, behandeln die Ghettobewohner die fiktiven Botschaften aus dem nicht existenten Radio wie eine biblische Verheißung. Die Glaubwürdigkeit der Nachricht beruht nicht mehr auf der (heiligen) Schrift, sondern auf den „(nur imaginierten) elektronischen Medien der Nachrichtentechnik“81. Allein das Kind Lina erkennt Jakob an der Stimme, als er sie im Keller ‚Radiohören‘ lässt. Sie begreift, dass das von Jakob hinter einer Wand gespielte Interview mit Winston Churchill den gleichen Realitätsgehalt hat wie das anschließende Märchen von der kranken Prinzessin. Allerdings schließt Lina daraus, dass _____________ 80

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Soweit man es nicht als eigenständiges Medium betrachtet, ist das Medium des Hörspiels das Radio. Vgl. den Eintrag „Hörspiel“. In: Metzler Lexikon Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945. Hg. v. Ralf Schnell. Stuttgart u. Weimar 2000. 208–209, S. 209. Rolf Michaelis: „Der andere Hiob. ‚Jakob der Lügner‘ – Der moralische Roman aus den mörderischen Jahren von dem Ost-Berliner Jurek Becker“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.03.1971); zit. n. Karin Graf u. Ulrich Konietzny (Hg.): Jurek Becker. Werkheft Literatur. München 1991. 24–25, S. 25.

Zuschnitt der Romanvorlage

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auch ihr Leben ein gutes Ende finden wird. Im Märchen reflektiert Becker nochmals das Verhältnis von Realität und Illusion: Mit einem Stück Watte, groß wie ihr Kopfkissen, wird die Prinzessin, deren fast tödliche Krankheit dem sehnsüchtigen Wunsch, eine Wolke zu besitzen, entspringt, geheilt. Im Unterschied zum Märchen können die Juden im Ghetto jedoch nicht auf Dauer durch Illusionen gerettet werden. Die – in der DDR so hoch bewertete82 – gesellschaftliche Wirkungsmacht von Kunst und Literatur scheitert letztendlich an den historischen Realitäten. Trotz dieser innertextlichen Erkenntnis wurden an der Romanvorlage spezifische Veränderungen vorgenommen, bevor Jakob der Lügner einem ‚Massenpublikum‘ vor den Rundfunkgeräten präsentiert werden konnte. Diese Um- und Beschneidungen sollen im Folgenden analysiert werden, um anschließend zu zeigen, wie es dem Hörspiel trotzdem gelingt, die Besonderheiten des Romans ins akustische Medium zu übertragen. 2.2. Zuschnitt der Romanvorlage Obwohl das Hörspiel vorab produziert und auf einem Tonträger gespeichert ist, wird es durch das Publikum in erster Linie als flüchtige Radiosendung wahrgenommen. Aus diesem Grund und wegen der üblichen zeitlichen Begrenzung muss die Komplexität eines literarischen Werkes in der Regel reduziert werden. In der Hörspielfassung von Wolfgang Beck hat man sich dafür entschieden, die vielfältigen Stränge und Figuren der Romanvorlage Jakob der Lügner auf die Haupthandlung um Jakob, Kowalski, Lina, Mischa und die Familie Frankfurter in der Gegenwart des Ghettos zu beschränken, ergänzt durch die Episode von Kirschbaums Selbstmord und Reflexionen des Erzählers.83 Verzichtet wird demnach auf die Zeitebene vor dem Leben im Ghetto, die in den Erinnerungen der Figuren im Roman und auch im Film _____________ 82

83

„Ohne Zweifel hat die Literatur in der bisherigen DDR eine andere Rolle gespielt als im Westen, eine größere und wichtigere, wie ich meine. [...] Für viele Leute waren Bücher wie ein Lebensmittel, man brauchte sie nicht nur als ein Freizeitvergnügen, sondern um mit seiner Existenz besser fertig zu werden.“ Jurek Becker: „Die Wiedervereinigung der deutschen Literatur“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Heft 116: Jurek Becker. München 1992. 77–86, 77 f. Im Film wurde die Perspektive des authentischen Erzählers aufgegeben. Seine Reflexionsebene und Unterscheidung, welche Teile der Geschichte von ihm selbst erinnert werden, welche direkt aus Jakobs Bericht stammen und welche er notwendig aus seiner Phantasie ergänzen musste, schmelzen in folgende Schriftzüge zusammen, die zu Beginn des Film eingeblendet werden: „Die Geschichte von Jakob dem Lügner hat sich niemals so zugetragen“; im nächsten Bild wird dies nochmals bekräftigt: „Bestimmt nicht“, um danach aber doch zumindest die Möglichkeit einer ‚wahren Erzählung‘ in Erwägung zu ziehen: „Vielleicht hat sie sich aber doch so zugetragen.“

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aufscheint; vor allem aber entfallen im Hörspiel und auch im Film jene Szenen, die in der Nachkriegszeit spielen: Im Roman versucht der Erzähler, Lücken in ‚seiner Geschichte‘ zu füllen, indem er Nachforschungen betreibt, die ihn unter anderem zu Herrn Preuß in Westberlin84 führen. Als ehemaliges Mitglied der Gestapo war er in die Episode um Kirschbaum verwickelt, kann aber dem Erzähler bei dessen Besuch „[e]inige Zeit nach dem Krieg“ (R 208) eine Entnazifizierungsurkunde vorweisen. Dieser Blick auf den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland richtet sich im Roman lediglich gen Westen, entfällt im Hörspiel allerdings völlig. Die Offenlegung der Verdrängung von persönlicher Verantwortung und der allzu schnellen Hinwendung zu Gegenwart und Zukunft sowie Hinweise auf die Schwierigkeiten von Überlebenden des Holocaust in beiden Teilen Deutschlands nach dem Krieg spart diese Version aus. Hatte die politische Führung der DDR den Eindruck erwecken wollen, dass mit der Errichtung eines sozialistischen Staates die Bürger jüdischer Herkunft vollständig assimiliert mit allen Teilen der Bevölkerung den Aufbau der DDR betrieben, so suggerieren im Hörspiel winzige Änderungen des Textes, dass Juden auch schon vor dem Ende des Krieges an den ‚historischen Sieg‘ einer gerechteren Gesellschaft glaubten. Der Satz des Schauspielers Frankfurter im Hörspielmanuskript: „Wenn alles vorbei ist. Wenn alles vorbei ist, lebt das Kind nicht mehr, die Eltern leben nicht mehr, wir alle werden nicht mehr leben, dann ist alles vorbei“ wurde in der Produktion geändert in: „[...] wir alle werden nicht mehr leben, wenn alles vorbei ist.“ (Hs 9)85 In der ursprünglichen Fassung des Textes deutet Frankfurter an, dass die Verfolgung der Juden erst mit ihrer Vernichtung ein Ende finden wird. Die kaum merkliche Umformulierung des letzten Teilsatzes macht aus dem Schauspieler Frankfurter einen hoffnungsfroheren Menschen, der sich trotz seiner persönlich aussichtslosen Lage einer kommenden gerechteren Gesellschaft sicher scheint. Ein auf den ersten Blick unscheinbarer Strich im Kontrollexemplar beweist noch einmal, wie stark man sich bemühte, die Funkfassung von Stimmen – seien sie auch noch so leise – zu befreien, die den verordneten Antifaschismus in Frage stellen:

_____________ 84

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Der Text lässt den Eindruck entstehen, alle Nationalsozialisten seien nach dem Krieg im Westen zu finden gewesen: „Preuß wohnte in Schöneberg, das liegt in West-Berlin“ (R 209), und der Fahrer des Wagens, in dem Kirschbaum sich vergiftete, lebt nun in Köln (R 211). Vgl. auch die ähnliche Umdeutung des Pessimismus in ein fortschrittsgläubiges Geschichtsbild in Korczak und die Kinder; Kap. II.3. der vorliegenden Untersuchung.

Zuschnitt der Romanvorlage

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Erzähler: Ich habe inzwischen voller Ehrfurcht von Warschau und Buchenwald gelesen – eine andere Welt, doch vergleichbar. Ich habe viel über Heldentum gelesen, wahrscheinlich zuviel, der sinnlose Neid hat mich gepackt, und wahrscheinlich werde ich nie damit fertig [...] (Hs 39).

An dieser Stelle werden sie genannt die Orte Warschau und Buchenwald, in der DDR Symbole des heldenhaften Widerstands. Hatten aber Jurek Becker in seinem Roman und Wolfgang Beck in der Hörspielfassung die Übersättigung der Bevölkerung mit diesen immer wieder bemühten antifaschistischen Heldenmythen angedeutet, auf denen sich die Rechtfertigung eines ganzen Staates gründete, so reiht das Hörspiel den Erzähler ein in die Reihe derer, die diesem Heldentum eine Lobeshymne singen. Das eigentlich ambivalente Verhältnis des Erzählers zu diesem Thema, das vor allem in seinen widersprüchlichen Aussagen zum Anti-Helden Jakob deutlich wird, glättet das Hörspiel nochmals, wenn Jakob gleich zu Beginn zum Helden erhoben wird: Er hat versucht, mir zu erklären, wie eins nach dem andern gekommen ist und daß er gar nicht anders gekonnt hat, aber ich will erzählen, daß er ein Held war. Keine drei Sätze sind ihm über die Lippen gekommen, ohne daß von seiner Angst die Rede war, und ich will von seinem Mut erzählen. (Hs 1; • Hörzitat 9)

Das Hörspiel wird um eine weitere Dimension des Romans gekürzt, wenn die jüdisch-religiösen Aspekte keinen Platz mehr darin finden. Wie im Film86 fehlen auch im Hörspiel die langen Passagen, in denen der Erzähler über das Motiv der Bäume reflektiert, die als religiöses Sinnbild einer generationenüberdauernden Hoffnung stehen: Denn ein Baum hat Hoffnung, auch wenn er abgehauen ist; er kann wieder ausschlagen, und seine Schößlinge bleiben nicht aus. Ob seine Wurzel in der Erde alt wird und sein Stumpf im Boden erstirbt, so grünt er doch wieder vom Geruch des Wassers und treibt Zweige wie eine junge Pflanze. (Buch Hiob 14.7–9)

Thomas Jung weist überzeugend nach, wie stark die Baummetapher, die sich bis zur Namensgebung der Figuren verfolgen lässt, und auch der Konflikt um Wahrheit und Lüge im Roman an alttestamentarischen Motiven orientiert sind.87 Der Einschränkung der Personage fielen zudem ausgerechnet der orthodoxe Schtamm und der überassimilierte Schmidt zum Opfer. Sie repräsentieren im Roman die beiden Extreme des Judentums, die von den ‚durchschnittlichen‘ Bewohnern des Ghettos als nicht zu ihnen gehörig belächelt werden. Differenzierungen werden auf der Ebene der Hörspielhandlung zwischen den einzelnen jüdischen Figuren nicht vorgenommen. Statt dessen unterscheidet der Erzähler zwischen „wir Juden“ und „den _____________ 86 87

In der DEFA-Verfilmung taucht das Baummotiv allerdings bildlich wieder auf. Thomas Jung: „Widerstandskämpfer oder Schriftsteller zu sein...“, S. 107.

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Deutschen“ sowie zwischen dem Erzähler-Ich und dem deutschen, nichtjüdischen Hörer-Du. Auf diese Weise erscheint Judentum im Hörspiel nicht mehr als religiöse Herkunft, zu der man sich jeweils individuell verhält, sondern lediglich als von außen, durch die Nationalsozialisten definierte rassische Zugehörigkeit, die eine Schicksals- aber keine Glaubensgemeinschaft stiftet. Das Hörspiel betont die Sicht auf den Menschen Jakob, der ‚wie du und ich‘ versucht, seinen eigenen moralischen Grundsätzen treu zu bleiben. Im Roman hat die Geschichte „zwei Enden“ – ein reales und ein fiktives –, das Hörspiel kürzt ausgerechnet Letzteres, das „unvergleichlich gelungener als das wirkliche“ ist und das sich der Romanerzähler als Ergänzung des „nichtswürdigen Ende[s]“ der Geschichte „in Jahren zusammengezimmert“ hat: Jakob versucht, aus dem Ghetto zu flüchten. Die „Grenze“ ist mit „Stacheldraht, der ohne Lücke um das Ghetto läuft“ (R 68) befestigt und mit „Scheinwerfer“ und „Postenturm“ bewacht. Verschiedene „Gründe“ für Jakobs „Fluchtversuch“ (R 271) bietet der Erzähler den Leserinnen und Lesern an, unter anderem könnte er die Hoffnung auf Befreiung verloren haben. „Oder, er flieht vor den eigenen Leuten, vor ihren Nachstellungen und Anfeindungen, vor ihrer Wißbegier auch“ (R 269). Natürlich erinnert dieser Schluss stark an das in der DDR seit dem Mauerbau 1961 bis zu ihrem Ende hochaktuelle und gleichzeitig tabuisierte Thema der „Republikflucht“, die oft, und so auch in Beckers Roman, mit einem Schuss und dem Tod des Flüchtigen endete. Dieser offensichtliche Vergleich der DDR mit einem Ghetto, in dem Mangelwirtschaft herrscht und Macht nur durch Bewachung und Bespitzelung sowie Einschränkung der Bewegungs- und Informationsfreiheit seiner Bewohner (der Besitz von Radio- und Fernsehapparaten war in der DDR zwar nicht verboten, sehr wohl aber das Empfangen ‚feindlicher‘ Sender) aufrechterhalten wird, konnte unmöglich für ein Massenpublikum gesendet werden. Mit den Eingriffen in den Text nutzt der Kulturbetrieb der DDR gerade das, was im Roman angeprangert wird – das staatliche Medienmonopol und die eingeschränkte Informationsfreiheit –, um die Brisanz der Textvorlage zumindest in der Hörspielfassung (und später auch im Film) zu schwächen. Darum ist Vermutungen zu widersprechen, die Zensur in der DDR hätte die Sprengkraft des Stoffes nicht erkannt.88 Vielmehr zeigt _____________ 88

„Die Zensur hat die Pointe von Beckers erstem Roman, dessen Modellcharakter, nicht durchschaut. [...] Verborgen blieb der Zensur die Subversivität eines Werkes, die gegen jede Form repressiver staatlicher Machtansprüche gerichtet ist.“ Oliver Sill: „‚Lieber sprechen als hören, lieber gehen als stehen‘. Jurek Becker als politischer Kommentator“. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Heft 116: Jurek Becker. München 1992. 70–76, S. 75.

Die ‚Auferstehung‘ des Juden im Radio der DDR

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sich, dass man Büchern, die in geringer Auflage erschienen und kein Massenpublikum erreichten, keine große Wirkung zutraute; oder anders gesagt: In Büchern waren politische Auseinandersetzungen gerade noch möglich, die in anderen Medien, die eine größere Öffentlichkeit ansprachen, absolut Tabu waren: In einer Umgebung, in der es keine offene Diskussion über gesellschaftliche Entwicklungen und Fehlentwicklungen gibt, in der sämtliche Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen nur die Ansichten ihres gemeinsamen Chefredakteurs verbreiten, in einer solchen Umgebung sind Bücher der letzte öffentliche Ort, wo politische Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden.89

Lebt der Roman gerade von der Notwendigkeit der Reflexion und Meinungsbildung durch die Rezipientinnen und Rezipienten, so macht der Text des Hörspiels eine solche Haltung weitgehend überflüssig, indem die Handlung auf einen linearen Erzählstrang gekürzt wird, vor allem politisch unliebsame Anspielungen getilgt und widersprüchliche oder einander entgegenlaufende Positionen ausgeglichen werden. Im Folgenden bleibt jedoch zu fragen, inwiefern die akustische Realisierung des Stoffes dem so stark beschnittenen Text seine Mehrdimensionalität zurückgeben kann. 2.3. Die ‚Auferstehung‘ des Juden im Radio der DDR Das Hörspiel beginnt mit einer atmosphärischen Geräuschkulisse, die durch Spatenklappern, Zugsignale und die Geräusche einer Dampflok Assoziationen von Arbeit und Deportation weckt. Die Stimme des Erzählers spricht nach der Ansage des Titels und dem Ausblenden der Atmosphäre resigniert zu den Hörerinnen und Hörern: ERZÄHLER: Tausendmal habe ich schon versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, und tausendmal vergebens. Entweder waren es nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche Fehler gemacht, etwas durcheinandergebracht, Namen verwechselt, aber meist waren es nicht die richtigen Leute... Jedesmal, wenn ich ein paar Schnäpse getrunken habe, ist sie da, ich kann mich nicht dagegen wehren.“ (Hs 1; • Hörzitat 9)

Der Begriff „Geschichte“ beinhaltet hier neben der Bedeutung der zu erzählenden Handlung im Sinne von ‚Story‘ auch ‚Geschichte‘ als Biographie, als Erinnerung an die Vergangenheit des eigenen Lebens, der man nicht entfliehen kann, und ‚Geschichte‘ als ‚Historie‘, als ‚kollektive‘ Vergangenheit, die die zeitlichen und personellen Grenzen eines individuellen Lebens überschreitet. Der Erzähler reflektiert sowohl die Schwierigkeiten des überlebenden (Ohren)Zeugen, die „Geschichte“ überhaupt zu formulieren und in eine logische, eventuell sogar chronologische Form zu brin_____________ 89

Jurek Becker: Warnung vor dem Schriftsteller. Drei Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1990, S. 22.

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gen, als auch die Schwierigkeiten, Zuhörer für diese „Geschichte“ zu finden. Die Exposition des Hörspiels reflektiert so unmittelbar das intrikate Verhältnis von Biographie und Historie, individueller und kollektiver Erinnerung; sie benennt die Schwierigkeiten mit der Narration traumatischer Erfahrungen und die Gefahr falscher Erinnerungen. Der Erzähler umreißt so in wenigen Sätzen die Parameter des erst Jahre später einsetzenden Diskurses um Holocaust-Erinnerung in der Literatur, deren Zentrum die Fragen nach Zeugenschaft und Authentizität bilden. Die Figur des Erzählers, der durch seine Stimme körperlich anwesend scheint, bürgt für die Wahrheit der „Geschichte“, denn er ist selbst „dabeigewesen“ – der Erzähler hat Jakob persönlich gekannt, aus seinem Mund kennt er die Geschichte. Zudem lebte der Erzähler mit Jakob und den anderen Figuren im Ghetto und wurde in ein Konzentrationslager deportiert, nur dem frühen Tod ist er als Einziger entronnen. Aus diesem Zufall heraus ist er in der Lage, ‚uns‘, den Hörerinnen und Hörern, die entweder zu jener Zeit auf der ‚anderen‘ Seite standen oder heute zu den ‚Nachgeborenen‘ zählen, sein Wissen als ‚historischer Zeitzeuge‘ in der Gegenwart mitzuteilen.90 Die Erzählersequenzen dienen somit der Authentifizierung der Geschichte, aber auch der Überleitung zwischen den Szenen der Handlung, der Beschreibung von Örtlichkeiten und Charakteren, der Mitteilung von Hintergründen und dem Ausdruck der Innenperspektive von Figuren, vor allem aber dem vermeintlichen Dialog mit den Zuhörern: „Er hat zu mir gesprochen, damals in dem Viehwaggon, zu einem, der dabeigewesen ist, aber ich rede zu euch, das ist ein großer Unterschied.“ (Hs 1; • Hörzitat 9) Die Mittel des Hörspiels ermöglichen es, den Erzähler von einer zeitlichen und räumlichen Ebene zur anderen springen zu lassen, sich an geeigneter Stelle einzumischen, zu kommentieren und dann den handelnden Figuren wieder die Hörspielbühne zu überlassen. Darüber hinaus können sich aber auch die Stimmen der Toten in den gegenwärtigen Dialog zwischen Erzähler und Publikum mischen, Dinge aus ihrer Sicht bestätigen oder korrigieren: ERZÄHLER: Jakob würde selbst das bestreiten, wenn er hier säße, ich höre ihn förmlich – JAKOB: Was heißt, ohne mich! Ohne diesen blauäugigen verfressenen Mischa wäre es nie dazu gekommen. (Hs 2; • Hörzitat 9)

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Erst die Ansprache des Publikums macht den Erzähler zum Zeugen: „Eine Aussage wird erst dadurch zu einem Zeugnis, daß sich der Zeuge in seiner Erzählung an einen anderen richtet. [...] und die Aussage des Zeugen steht erst dann, durch diese Ansprache und diesen Anruf um Gehör, für eine universelle Wahrheit ein.“ Ulrich Baer: „Einleitung“. In: Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur nach der Shoah. Hg. v. dems. Frankfurt a. M. 2000. 7–31, S. 7.

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Im Radio ertönt die Stimme losgelöst von dem Körper, an den sie bei ihrer Erzeugung gebunden ist, und trotzdem verweist sie ununterbrochen auf ihn zurück. Tonhöhe, Lautstärke, Klangfarbe und Sprechgeschwindigkeit lassen die Hörerinnen und Hörer nicht nur eine spezifische Person bzw. Figur identifizieren, sondern auch auf deren Eigenschaften und momentanen emotionalen Zustand schließen: „Keine Stimme der Welt kann bei ihrer Artikulation ihren Träger verbergen, und dies bis in weitere Abschattierungen, die sogar augenblickliche Befindlichkeiten verraten.“91 Weil die vom individuellen Körper produzierte Stimme jeweils einzigartig ist und auf das Individuum hinter ihr verweist, kann die Stimme aus dem Radio abwesenden Personen zu einer medialen Präsenz verhelfen. Getrennt vom Körper ermöglicht sie darüber hinaus, auch nicht (mehr) lebende oder ‚irreale‘ Figuren (Geister, Tiere, Pflanzen, Gegenstände etc.) zu Wort kommen zu lassen. Im Radio, das Fiktionen ebenso wie Nachrichten oder Livesendungen überträgt, erhalten sie dann „den gleichen Grad an Glaubhaftigkeit“92 wie Stimmen, hinter denen sich ‚reale‘ Personen verbergen. Von diesen stimmlichen Möglichkeiten des Hörspiels macht die Produktion Jakob der Lügner zur Thematisierung des Holocaust Gebrauch. Sie lässt nicht nur den Erzähler als Überlebenden für die Authentizität der Geschichte bürgen, sondern verleiht den Opfern des Holocaust, den toten Juden, eine Stimme und damit eine (mediale) Präsenz, die zumindest im akustischen Medium den paradoxen Umstand, dass nur Überlebende der Shoah für die Ermordeten zeugen können, aufhebt. 2.4. Hörbare Gewalt „Ich höre schon alle sagen, ein Baum, was ist das schon [...]“, lautet der erste Satz des Romans und lässt bereits ganz zu Anfang jene „innere Bühne“93 entstehen, auf der der Erzähler seine Erinnerungen und Vorstellungen entwirft. Während der eigentlich erzählten Romanhandlung dominiert die akustische Dimension jedoch vor allem in Situationen der Angst und Bedrohung. Bereits in der ersten Begegnung mit dem Posten, der sich den _____________ 91 92 93

Karl-Heinz Göttert: Geschichte der Stimme. München 1998, S. 13. Margret Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Originalhörspiel. Frankfurt a. M. 1985, S. 121 f. Dieser zentrale Begriff der Theorie des traditionellen Hörspiels geht zurück auf Erwin Wickert und meint den Vorstellungsraum in der Phantasie der Hörerinnen und Hörer. Wickert geht davon aus, dass der ‚Hörer‘ die im Hörspiel getilgte optische Dimension in seiner Vorstellung wieder ergänzt. In diesem Füllen der Leerstellen, die das Hörspiel grundsätzlich lässt, besteht seine eigentliche Aktivität. Vgl. Erwin Wickert: „Die innere Bühne“. In: Akzente 1 (1954): 505–514.

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‚Scherz‘ erlaubt, Jakob des Ausgehens nach der Sperrstunde zu bezichtigen, kann Jakob sein mächtiges Gegenüber nur hören. Im Lichtkegel des Scheinwerfers ist er selbst gefangen und bloßgestellt, der Deutsche dagegen im Dunkeln, „fünf Meter über Jakob“, verborgen. Der Überlegene hat das Recht zu schweigen: „Er sagt zuerst nichts, er hält Jakob nur mit dem Scheinwerfer fest, mitten auf dem Damm, und wartet [...] auf Kopfsteinpflaster und allein mit seiner Angst steht Jakob Heym“, der nun viel Zeit hat, mögliche Vergehen in Erwägung zu ziehen. In dieser Szene schwingt die Gefahr nur unterschwellig mit, wenn Jakob einerseits versucht, von der Stimme des Postens auf dessen gute oder schlechte Laune zu schließen (R 10), andererseits selbst an der richtigen Stelle zu schweigen und beim Antworten „genau den richtigen Ton zu treffen“ (R 12). Von diesen Fähigkeiten des analytischen Hörens und der korrekten Stimmgebung hängt in diesem Moment sein Leben ab. Im Hörspiel können die Reflexionen Jakobs und des Erzählers über den Klang der Stimmen unterbleiben, da sie durch die hörbare Inszenierung unmittelbar wahrzunehmen sind (• Hörzitat 9). Der Posten spricht höhnisch, seine Stimme klingt sehr fern und ist mit Hall unterlegt, so dass seine räumliche und hierarchische Position hoch über Jakob zum Ausdruck kommt. Verstärkt wird die bedrohliche Atmosphäre durch Hundegebell, das von fern zu hören ist und auf Überwachung und körperliche Gefährdung schließen lässt. Jakobs Vorsicht gegenüber dem Posten schwingt in seinen Antworten mit, die mit der Atmosphäre eines weiten Platzes unterlegt sind. Seinen inneren Monolog spricht er ohne Raumklang. Erst als die Worte des Postens „Na, was ist?!“ (Hs 3) seine Gedanken barsch unterbrechen, wird deutlich, dass er in der Zwischenzeit geschwiegen haben muss. Auf dem Flur des Reviers – die Büros sind durch das Geklapper einer Schreibmaschine angedeutet – können die Hörerinnen und Hörer Jakobs emotionale Verfassung anhand seiner unsicheren, fast tastenden Schritte auf der Suche nach dem richtigen Zimmer verfolgen. Aus einer plötzlich geöffneten Tür kommt ein Deutscher, der an seinen selbstbewussten Stiefelschritten leicht zu erkennen ist. Auf seinem Rückweg entdeckt er Jakob, nachdem dieser aus dem noch offenen Zimmer die Radionachricht von der Front gehört hat. Der Deutsche herrscht Jakob, den Juden, in einem Ton an, der nicht nur seine Berliner Herkunft verrät, sondern auch deutlich macht, dass mit ihm nicht zu spaßen ist. Mit der zunehmenden Aggression seines Gegenübers – am Ende des Dialogs schreit der Deutsche Jakob an – wird Jakobs Sprechen unsicherer und leiser. Deutlich hört man sein Bemühen, korrekt und unterwürfig zu wirken, um den anderen nicht unnötig zu reizen. (• Hörzitat 9) Auch der Wachhabende, bei dem sich Jakob meldet, lässt seine eben noch freundli-

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che Stimme in Schreien umschlagen und führt so die Unberechenbarkeit, die die Deutschen kennzeichnet, vor. In der Romanvorlage dagegen wird Jakob auf dem Flur von einem „Mann in Zivil“ überrascht, der ihn nicht etwa anschreit, sondern erst lacht, weil Jakob beim Öffnen der Tür hingefallen ist, und ihm dann korrekt den Weg weist. (R 15 f.)94 Das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden wird am Beginn des Hörspiels zugespitzt, schneller auf den Punkt gebracht, es äußert sich jedoch nicht in direkten Szenen körperlicher Gewalt, sondern vor allem Stimmführung und Lautstärkewechsel verdeutlichen die diffizilen Prozesse von Bedrohung und Unterwerfung. Frank Beyer bezeichnet diesen subtilen Umgang mit Gewalt auch als Grundprinzip der Verfilmung: [...] es gibt keine Schießereien und keine Verfolgungsjagden. Auch die Bilder des Grauens, die wir aus den Dokumentarfilmen über Ghettos und Konzentrationslager kennen, kommen in unserem Film nicht vor. Wir haben die Erfahrung gemacht, daß der Zuschauer durch die Schockwirkung dieser Art sich eher verschließt als für die Gedanken- und Gefühlswelt des Autors und Regisseurs sich öffnet. Hunger und Grausamkeit muß man nicht durch ausgezerrte Gesichter und Folterungen erzählen. Die Sorgfalt, mit der Jakob ein Stück Brot behandelt, oder die Angst, die er vor einem gutgelaunten Wachposten hat, erzählen genauso über die Härte der Situation.95

Allerdings hält der Film zwei Ausnahmen von der Regel bereit: zum einen die Erschießung des jüdisch-orthodoxen Herschel Schtamm, der versucht, die Hoffnung auch zu den in einem Güterwaggon eingeschlossenen Deportierten zu tragen, zum anderen wird Kowalski von einem deutschen Soldaten mit einem Koppel blutig geprügelt: Auf der Suche nach aktuellen Zeitungsnachrichten verschwindet Jakob auf dem Bahnhof im Toilettenhäuschen der Deutschen und wird prompt von einem Posten überrascht, der darauf wartet, die Toilette selbst zu benutzen. Um den Posten abzulenken, zieht Kowalski die Aufmerksamkeit auf sich und verschafft Jakob so eine Möglichkeit, unbemerkt herauszukommen. Allerdings wird Kowalski von dem wartenden Posten entdeckt. Mit verzerrtem Gesicht und unter Schreien schlägt der deutsche Soldat im Film mit dem Koppel auf Kowalski ein, der danach stark am Kopf blutet. Obwohl die Szene ironisch gebrochen wird, denn der Posten erinnert sich ‚nach getaner Arbeit‘ seines dringenden Bedürfnisses – entspricht die plötzliche Brutalität weitgehend der tradierten Darstellung eines Nationalsozialisten. Das Hörspiel vermeidet es auch an dieser Stelle konsequent, körperliche Gewalt szenisch darzustellen. Genau in dem Moment, als der Posten _____________ 94 95

Auch im Film hat der Deutsche es nicht nötig, den sichtbar ängstlichen Juden noch zusätzlich zu bedrohen. Frank Beyer in: Neues Deutschland (17.12.1974).

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Kowalski bemerkt, auf ihn losstürzt und seine Strafe ankündigt – „Was für ein Dreckskerl schmeißt denn da die Kisten kaputt? (entfernt sich) Na, dir werd ich’s zeigen...“ (Hs 17) – wird die Szene aus- und die Erzählerstimme eingeblendet: „Der Dreckskerl ist kein anderer als Kowalski, der den Berg leerer Kisten mit Erfolg ausgehoben hat und nun die Schläge in Empfang nimmt, die Jakob garantiert als Anzahlung auf eine bedeutend höhere Rechnung bekommen hätte.“ (Hs 17) Die Schläge für Kowalski, die ihm immerhin ein blaues Auge verschaffen, werden im Hörspiel als Nebensächlichkeit behandelt, in Anbetracht der Strafe, die Jakob erwartet hätte. Das Bekannte, die Brutalität und Willkür der Nationalsozialisten, den Hörerinnen und Hörer aus unzähligen Zusammenhängen gegenwärtig, muss im Hörspiel nicht noch einmal wiederholt werden. An der Stelle, an der sich verschiedene Darstellungen des nationalsozialistischen Terrors im Ausmalen gewalttätiger Bilder überbieten, bleibt das Hörspiel still. Erst die Absenz dargestellter Gewalt ermöglicht eine Leerstelle, die durch Imaginationen und Reflexionen der Zuhörerinnen und Zuhörer gefüllt werden kann. Im Gegensatz zur nicht dargestellten Gewalt, die von den Nationalsozialisten ausgeht, spielt körperliche Gewalt ausgerechnet im Verhältnis zwischen Juden und von Juden gegen sich selbst eine Rolle. Ein Beispiel hierfür sind die beiden Selbstmorde, die im Hörspiel miteinander kontrastiert werden: Die Szene, in der sich Kowalski erhängt, nachdem Jakob ihm gestanden hat, dass es sein Radio nie gegeben hat, wird nicht ausagiert, sondern nur durch Jakobs Selbstvorwürfe reflektiert. Im Gegensatz dazu sind die Hörerinnen und Hörer in den letzten Lebensminuten von Professor Kirschbaum anwesend. Vor dem Krieg ein angesehener Herzspezialist, wird er von der Gestapo abgeholt, den Obersturmbannführer Hardtloff nach einem Herzinfarkt zu behandeln. Kirschbaum lässt sich ohne die leiseste Auflehnung von den beiden Deutschen abführen, von denen einer unflätig und machtgierig, der andere höflich und beschwichtigend auftritt. Er verabschiedet sich von seiner Schwester, allein das Tempo ihres Dialogs – sie sprechen sehr langsam mit mehreren Pausen – lässt darauf schließen, dass beide wissen, dass es ein Abschied für immer ist. Während eines belanglosen Gesprächs im fahrenden Auto nimmt Kirschbaum zwei Tabletten und schläft ruhig ein. Seine Selbsttötung ist aber kein Selbstmord aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit wie der von Kowalski, sondern eine leise Form des Widerstands. Durch ihn entzieht sich der jüdische Arzt der Instrumentalisierung durch die Nationalsozialisten und tötet zugleich ihren ranghöchsten Vertreter im Hörspiel, denn aufgrund der fehlenden medizinischen Versorgung stirbt auch der Obersturmbannführer Hardtloff.

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In diese Kategorie des ‚leisen Widerstands‘ gehört auch das Verstecken von Personen, die sonst bereits deportiert worden wären. Seit der Verschleppung ihrer Eltern lebt Lina bei Jakob, und auch Mischa wird seine Freundin Rosa bei sich aufnehmen, nachdem er sie – durch Lüge und körperliche Gewalt – vor dem Transport bewahrt hat: Mischa hat erfahren, dass die Straße, in der seine Freundin Rosa mit ihren Eltern lebt, deportiert werden soll. Um sie zu retten, versucht er, sie von der Fabrik, in der sie arbeitet, abzuholen. Doch er kommt zu spät, Rosa ist schon auf dem Weg nach Hause, mit wenigen anderen durfte sie früher gehen. In einem inneren Monolog werden die sich überlagernden Gedanken von Mischa gesprochen, unterlegt mit eilenden Schritten, die seine äußere wie innere Bewegung ausdrücken. Mischa findet Rosa und überredet sie, nicht nach Hause, sondern zu ihm zu gehen, ohne ihr den Grund für seinen Vorschlag zu nennen. In seiner Wohnung öffnet Rosa, sich in ihrer Unwissenheit über den geschenkten freien Tag freuend, das Fenster. Statt der Sonne dringt nun aber Hundegebell in das Zimmer. Rosa beobachtet bedrückt den sich nähernden Transport, während Mischa verzweifelt versucht, sie vom Geschehen auf der Straße abzulenken. Als das nicht gelingt, schweigen beide. Man hört die Wachhunde, die Worte der antreibenden Deutschen und die eiligen, ungleichmäßigen Schritte der Deportieren, die sonst keinen Laut von sich geben, schon ohne Stimme sind. In diese „Totenstille“ hinein bricht plötzlich die in ihrer Verzweiflung sich steigernde Stimme Rosas, die erkannt hat, dass es sich um ihre Nachbarn handelt. Abbrechend flüstert sie die Namen der bekannten Familien, die auf der Straße entlanggehen. An ihren plötzlichen Schreien, er solle sie loslassen, ist zu erkennen, dass Mischa nun mit Gewalt – vor dem Krieg war er Boxer – Rosa vom Fenster in den Raum drängt (• Hörzitat 10).96 Der körperlichen Überlegenheit Mischas kann Rosa nur die Kraft ihrer Stimme entgegensetzen. Sie wehrt sich und schreit, doch Mischa ist stärker. Das Schreien bricht ab, erneute Stille, der Zug der Deportierten ist vorbei, Rosa hat ihre Eltern nicht ein letztes Mal sehen können, und Mischa hat Rosa das Leben gerettet. Er versucht, ihr Hoffnung zu machen, die Eltern könnten nicht unter den Deportierten gewesen sein, doch Rosa schreit die Wahrheit heraus: MISCHA: [...] Du siehst sie bestimmt wieder! ROSA (unter Tränen, schreiend): Du lügst! MISCHA: Jakob hat gesagt... ROSA: Jakob! Ihr alle lügt! Alle, alle! Ihr redet und redet, und nichts ändert sich! Nichts! (Stille)“ (Hs 38; • Hörzitat 10)

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Im Roman heißt es: „Nur Gewalt kann sie vom Fenster trennen, eigentlich albern, denn sie ahnt nicht, wen sie in dem Zug zu sehen bekommt [...]“ (R 228).

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Diese Szene lebt vom Wechsel der Lautstärke. Schreien und Weinen werden abgelöst von ihrem entgegengesetzten Extrem Flüstern und Stille. Während der eigentliche Gewaltakt – die Deportation von Juden in ein Vernichtungslager – draußen unter dem Fenster geordnet, fast ohne Geräusche vollzogen wird, kämpfen oben die Liebenden um Leben und Tod miteinander. Der inhaltlichen Abwesenheit von Gewalt in der Darstellung korrespondiert im Hörspiel eine Abwesenheit von Musik.97 Neben der gesprochenen Sprache gilt Musik als vorrangiges Gestaltungsmittel des Hörspiels. Mit ihrer Hilfe lassen sich Szenenwechsel verdeutlichen (die sogenannte Musikbrücke), Stimmungen illustrieren und Leitmotive entwickeln.98 In Hörspielen, die sich mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen, wird Musik häufig eingesetzt, um historische Bezüge herzustellen und politische Verhältnisse zu charakterisieren. Handelt es sich um Inszenierungen, in denen die Judenverfolgung explizit Gegenstand ist, dient die meist jiddische Musik einer folkloristischen Charakterisierung des Judentums und einer mitfühlenden Illusionierung.99 Im Hörspiel Jakob der Lügner hört man grundsätzlich keine Musik. Eine einzige Ausnahme von dieser Regel bildet die Zeile: „Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern...“, die im deutschen Hauptquartier vor der entscheidenden Nachricht aus dem Radio tönt und aus Jakobs Perspektive kaum wahrgenommen werden kann.100 Die Inszenierung ist karg und farblos wie das Ghetto, in dem sie spielt. Die Information, dass im Ghetto nicht nur ein Radio, sondern auch Musik verboten ist, findet sich gleich zu Beginn des Romans: „Jakob hat, seit er in diesem Ghetto ist, keine Musik mehr gehört, wir alle nicht, nur wenn jemand gesungen hat.“ _____________ 97

Wie das Hörspiel die Musik, so lässt der Film die Farbe vermissen. Das Leben im Ghetto ist – trist und hoffnungslos – von blauen und grau-braunen Tönen beherrscht und wirkt bereits wie ausgestorben. Im Gegensatz dazu strotzen die Erinnerungen an das Leben vor dem Krieg und die märchenhaften Phantasien Linas vor fast überzeichneter farbiger Lebenslust. 98 Vgl. Christiane Timper: Hörspielmusik in der deutschen Rundfunkgeschichte. Originalkompositionen im deutschen Hörspiel 1923–1986. Berlin 1990, S. 83. 99 So auch in der Verfilmung von Jakob der Lügner. Zumeist handelt es sich um eine einzelne Geige, die eine melancholische jiddische Melodie spielt. Der Klang der Geige kann als Verkörperung der Stimme des Erzählers verstanden werden, denn im Roman berichtet er davon, dass er als Kind Geiger werden sollte, ihm diese Laufbahn aber wegen einer Handverletzung nicht mehr offenstand. Nun untermalt, kommentiert und verbindet diese Geige die Szenen des Films wie die Stimme des Erzählers die des Hörspiels. Allein in der Vorstellung, die Jakob für Lina im Keller hinter der Mauer produziert, schwillt die Geige zu einem ganzen, wilden Orchester voller Lebensfreude an und wird zudem von einer bunten Phantasie in Bildern begleitet. 100 Diese Einspielung von Musik steht der expliziten Aussage in der Romanvorlage entgegen: „Drinnen spielt ein Radio, es knackt etwas, sicher einer von ihren Volksempfängern, aber keine Musik.“ (R 14)

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(R 14) Doch spielt Musik in den Köpfen der Ghettobewohner sehr wohl eine Rolle: Sie fragen, ob Jakob mit seinem Radio Musik hören würde, und in der Radioszene mit Lina erwächst Jakobs Vortrag in ihrer Phantasie zu einem ganzen Orchester. All diese verbalen Anspielungen auf den Verlust von Lebensfreude, Sehnsucht und Hoffnung, die sich an der Abwesenheit von Musik festmachen lassen, fehlen im Hörspiel, denn das Publikum kann sie am eigenen Leibe spüren. Eine durch Musik geförderte melancholische Rezeptionshaltung, die auf emotionale Identifikation mit den Opfern abzielt, verweigert die Inszenierung konsequent. Statt dessen werden Funktionen wie Szenenüberleitung und Stimmungsmalerei, die üblicherweise der Musik zukommen, in Jakob der Lügner durch Geräusche von klappernden Spaten und fahrenden Zügen übernommen. Das stumme Arbeitsgeräusch Sand schippender Spaten und eine beschleunigende Dampflok sind das erste, was den Hörerinnen und Hörern – noch vor der Ansage des Hörspieltitels – bei der Sendung zu Ohren kommt. Später kennzeichnet das Klappern der Spaten den Handlungsraum Bahnhof, auf dem Jakob, Kowalski und Mischa arbeiten, und vergegenwärtigt den Missbrauch der jüdischen Ghettobewohner als Zwangsarbeiter. Hier greift die Inszenierung des Hörspiels das für die Thematisierung des Holocaust in der DDR zentrale ökonomische Erklärungsmuster auf: In historischen Beschreibungen der Vernichtungslager lag die Betonung nicht auf dem sich dem Menschenverstand entziehenden industriellen Massenmord und dessen rassistischer Prämisse, sondern auf der wirtschaftlichen Verwertung des Besitzes und der körperlichen Überreste der ermordeten Juden durch die Nationalsozialisten für die Finanzierung des Krieges.101 In diesem Interpretationsmuster bilden Ghetto, Zwangsarbeit, Deportation und Vernichtung eine Einheit, die sich im Hörspiel in der Koppelung des Spatengeräuschs mit dem Geräusch eines rangierenden Zuges äußert. Der fahrende Zug stellt in der Repräsentation des Holocaust ein, wenn nicht gar das zentrale ikonographische Zeichen dar102, das auch im Hörspiel auf eine feste Tradition zurückgreifen kann. Bezüge lassen sich bis zu Günter Eichs erfolgreichstem Hörspiel Träume, das 1951 im NWDR urgesendet wurde, zurückverfolgen. In der ersten von fünf alptraumhaften Szenen, die deutliche Assoziationen an _____________ 101 Thomas Jung weist darauf hin, dass in der DEFA-Verfilmung die zu beladenden Kisten die Aufschriften „DEUTSCHE WEHRMACHT“ und die Waggons die Aufschrift „DEUTSCHE REICHSBAHN – KASSEL“ zu lesen sind und ausdrücken, dass „die am Krieg verdienenden Großkapitalisten wie auch deren Gewährsmänner, die Faschisten, schon immer im Westen Deutschlands zu finden seien“. Jung: „Widerstandskämpfer oder Schriftsteller zu sein...“, S. 133. 102 Vgl. Manuel Köppen: „Von Effekten des Authentischen – Schindlers Liste: Film und Holocaust“. In: ders. u. Klaus Scherpe (Hg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst. Köln 1997, S. 164.

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den Holocaust impliziert, rasen Personen mehrerer Generationen in einem Güterzug mit zunehmender Geschwindigkeit durch eine deformierte Welt. Nur noch die ‚Uralten‘ erinnern sich an das Leben vor der Deportation, ihre Erzählungen von einem idyllischen Leben – „Es gab etwas, was wir Himmel nannten und Bäume“103– werden von den im Zug Geborenen als „Märchen“ und „Lüge“ abgetan.104 Es zeigt sich, dass sich schon früh bestimmte Motive der Hoffnung und Freiheit einerseits sowie Deportation und Tod andererseits in Hörspielen, die den Holocaust thematisieren, herausgebildet haben, auf die noch Jahre später zurückgegriffen wurde. In Jakob der Lügner wechselt mit dem letzten Buchstaben der Ansage des Hörspieltitels die Perspektive des vorbeifahrenden Zuges von außen in das Innere des Zuges, aus dem heraus der Erzähler mit seiner Geschichte beginnt (• Hörzitat 9). Wie die Personen in Träume für immer im fahrenden Zug bleiben müssen, hat auch der Erzähler von Jakob der Lügner den Zug psychisch nie verlassen können. Aus der Perspektive des Überlebenden, der mit der Vergangenheit nicht abschließen kann, spricht er zu den Hörern.105 Das Geräusch des fahrenden Zuges und der Wechsel von der Innen- zurück in die Außenperspektive wird am Schluss des Hörspiels vollzogen (• Hörzitat 11). Der Zug bildet aber nicht nur den Rahmen der Handlung, sondern ist auch während der Szenen auf dem Bahnhof unterschwellig zu hören. Für die Bewohner des Ghettos ist mit den Zügen die Gefahr des Transports in ein Vernichtungslager ständig gegenwärtig. Sie erinnern daran, dass das Ghetto nur eine Zwischenstation auf dem Weg an das eigentliche Ziel ist, das die Nationalsozialisten ihnen zugedacht haben.106 Am Schluss des Hörspiels sind dann auch die letzten Juden im Viehwaggon zusammengepfercht und bewegen sich, begleitet vom Geräusch des fahrenden Zuges, auf ihr Ende zu. Der Erzähler lernt nun Jakob und auch Lina kennen. Wie Jakobs Nachrichten-Illusionen brechen auch Linas Hoffnungen auf märchenhafte Rettung zusammen, da sie erkennen muss, dass die Prinzessin, als sie statt der begehrten Wolke lediglich ein großes Stück Watte erhielt, einem Irrtum unterlag. Vom Erzähler erfährt sie, woraus Wolken tatsächlich bestehen: _____________ 103 Günter Eich: „Träume“. In: ders.: Fünfzehn Hörspiele. Frankfurt a. M. 1966. 53–88, S. 55. 104 Eich: „Träume“, S. 56. 105 Die Höreransprache zeichnet gerade auch Eichs Hörspiel Träume aus, allerdings ist der Erzähler hier keine Figur, sondern die auktoriale Stimme des Autors, der sich mit poetisch überhöhten Wertungen und Warnungen an seine Zuhörer wendet. 106 Im Roman und im Film wird diese Bedrohung noch zugespitzt und das baldige Schicksal der Ghettobewohner vorweggenommen, wenn ein Waggon mit Deportierten auf dem Bahnhof Station macht.

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ERZÄHLER: Und ich erzähle ihr von den Flüssen, den Seen und vom Meer, die ganze unglaubliche Geschichte, ich lasse auch den Dampf nicht aus, von Lokomotiven beispielsweise und Schornsteinen und allen möglichen Feuern [...] und ich sehe, wie Jakob mich freundlich ins Auge faßt, und vielleicht ist meine Schulstunde schuld daran, daß er mir wenig später eine viel verrücktere Geschichte erzählt. Ausgerechnet mir. Denn daß ich als einer von wenigen überlebe, steht nicht in meinem Gesicht geschrieben. (Geräusch des Güterzugs voll aufblenden, langsam ausblenden, Absage) (Hs 47; • Hörzitat 11)

In dieser letzten Sequenz verschränken sich auf kunstvolle Weise verbale und nonverbale Zeichen des Hörspiels: Das unterlegte Zuggeräusch als ‚Hörbild‘ des Holocaust codiert die sprachlichen Zeichen um: Dampf, Lokomotiven, Schornsteine und Feuer stehen fortan nicht mehr für menschliches Leben oder gar Fortschritt, sondern sind Zeichen des sinnlosen Sterbens geworden, von dem die „unglaubliche Geschichte“ berichtet.

3. „Der funktionale Mensch“ Heinar Kipphardt: „Bruder Eichmann“ 3.1. Adolf Eichmann vor Gericht Adolf Eichmann, geboren 1906 in Solingen, stieg in den 1930er Jahren als NSDAP- und SS-Mitglied in kurzer Zeit von einem kleinen Handelsvertreter zum Obersturmbannführer der SS und Leiter der Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts auf, wo er bis 1945 den europaweiten Transport von Millionen Juden in nationalsozialistische Vernichtungslager organisierte. Der Prozess gegen ihn gehörte zu Beginn der 1960er Jahre zu den herausragenden Gerichtsverfahren, die sich mit den nationalsozialistischen Verbrechen während der Hitlerdiktatur befassten. Seine exponierte Stellung lag nicht nur in der ausufernden Menge des zu bewältigenden Beweismaterials, der großen Anzahl von Zeugen und grenzenlosen Unmenschlichkeit der zu verhandelnden Delikte begründet, sondern auch in der Tatsache, dass der seit 1948 bestehende Staat Israel einen Angeklagten richtete, der seine Verbrechen vor der Gründung des jüdischen Staates und außerhalb seines Territoriums begangen hatte. Nach den Nürnberger Prozessen (1945–1949), in denen die Alliierten gegen deutsche Kriegsverbrecher vorgingen, und noch vor dem Frankfurter Prozess gegen die Lagerkommandantur des KZ Auschwitz (1963–1965) war es nun ein einzelner Angeklagter, der sich für die Deportation von 6 Millionen Juden zu verantworten hatte und stand erstmals der nationalsozialistische Genozid

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an den europäischen Juden im Blickpunkt der Öffentlichkeit. Allein diese Ausgangssituation sicherte die weltweite mediale wie politische Aufmerksamkeit; darüber hinaus aber führten die spektakulären Umstände, unter denen die Verhaftung Eichmanns, das Verfahren gegen ihn sowie die Vollstreckung des Urteils zustande kamen, dazu, die Gerichtsbarkeit von Kriegsverbrechen und „Verbrechen gegen die Menschheit“107 neu zu diskutieren. Im Mai 1960 hatte der israelische Geheimdienst Adolf Eichmann in Argentinien, wo er seit 1950 mit seiner Familie unter falschem Namen lebte, ausfindig gemacht und nach Haifa entführt. Am 23. Mai 1960 wurde das Strafverfahren gegen ihn eröffnet, am 11. April 1961 begann der Prozess unter dem Vorsitz des Richters Landau, der nach 121 Sitzungen am 11. Dezember 1961 mit einem Schuldspruch endete. Nachdem das Berufungsverfahren am 29. Mai 1962 das Urteil bestätigt hatte und auch das Begnadigungsgesuch am 31. Mai 1962 abgelehnt worden war, wurde Eichmann noch am selben Tag durch den Strang hingerichtet. Seine Leiche wurde verbrannt und außerhalb des israelischen Hoheitsgebietes über dem Mittelmeer verstreut. Zahlreiche Beobachter aus aller Welt verfolgten das Verfahren, unter ihnen die amerikanische Journalistin Hannah Arendt, deren umfangreiche Dokumentation des Verfahrens unter dem Titel Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen 1964 erschien – eine Publikation, die das Eichmann-Bild der folgenden Jahrzehnte maßgeblich prägte und auf deren Einschätzungen auch der Autor Heinar Kipphardt zurückgriff, wie in der späteren Analyse des Hörspiels Bruder Eichmann zu zeigen sein wird.108 Arendts umstrittene Veröffentlichung beurteilte kritisch die Prozessführung, vor allem durch den Vertreter der Anklage Gideon Hausner, und entwickelte an der Person Eichmanns die zentrale These von der „Banalität des Bösen“. Nicht nur die Charakterisierung Eichmanns als ‚Schreibtischtäter‘ ohne sadistische oder dämonische Züge und die daraus folgende Offenlegung der Schwächen in der Anklage, sondern vor allem das besondere Augenmerk auf die ‚Kooperation‘ der verschiedenen europäischen Verwaltungs- und Polizeiapparate einerseits, der jüdischen Selbstverwaltungen andererseits entfachten noch vor dem Erscheinen des Bu_____________ 107 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 142005 [engl. Orig. u. d. T. Eichmann in Jerusalem. A Report on the Banality of Evil. New York 1963], S. 399. 108 Dass Kipphardt Arendts Eichmann in Jerusalem in der Auseinandersetzung mit dem Material benutzt hat, steht außer Frage. Vgl. zum Beispiel den Band Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek 1983, in dessen Auswahlbibliographie sich unter der Rubrik „Von Kipphardt benutzte Literatur“ selbstverständlich auch das Werk von Hannah Arendt findet (S. 228).

Adolf Eichmann vor Gericht

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ches eine Kontroverse, speziell in israelischen und jüdischen Zusammenhängen.109 Die von Arendt zudem herausgearbeiteten juristischen Schwierigkeiten betrafen den Umstand, dass der Eichmann-Prozess wie bereits die Nürnberger Prozesse der Gefahr ausgesetzt war, Siegerjustiz zu betreiben. Darüber hinaus waren weder die Zweifel an der Zuständigkeit eines israelischen Gerichtes noch die Kritik an der völkerrechtswidrigen Entführung des Angeklagten leicht von der Hand zu weisen. Um diesen Dilemmata zu entgehen, plädiert Arendt – im Gegensatz zur Anklage – dafür, sich auf die Festschreibung eines neuen Tätertypus des „Verwaltungsmörders“ wie auf das schwerwiegende Delikt „Verbrechen gegen die Menschheit“110 zu berufen: Weder im Verfahren noch im Urteil hat der Jerusalemer Prozeß je die Möglichkeit auch nur erwähnt, daß die Auslöschung ganzer Völker – der Juden, der Polen oder der Zigeuner – mehr als ein Verbrechen gegen das jüdische oder das polnische Volk oder das Volk der Zigeuner sein könnte, daß vielmehr die völkerrechtliche Ordnung der Welt und die Menschheit im ganzen dadurch aufs schwerste verletzt und gefährdet sind.111

Arendt sah in der Jüdischen Katastrophe demnach weniger den historischen Sonderfall, in den ein jahrhundertealter Antisemitismus mündete, als ein Resultat des totalitären Regimes, das darauf angewiesen war, „ein Feindbild zu entwickeln, für das sich die Juden als nie wirklich integrierte Bevölkerungsgruppe am ehesten eigneten“.112 Den Interessen des jungen jüdischen Staates liefen diese Ansichten allerdings zuwider, bot der Eichmann-Prozess doch erstmals ein Forum, den Holocaust als das maßgebliche Verbrechen des Nationalsozialismus herauszustellen. Aufgrund der weltweiten Aufmerksamkeit, die dem Gerichtsverfahren gegen Eichmann zuteil wurde, konnten sich auch die Deutschen einer Beschäftigung mit ihrer Vergangenheit nur noch schwer entziehen. Hatten die Jahre des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders in der Bundesrepublik Fragen zur deutschen Geschichte weitgehend verdrängt, standen sie nun unüberhörbar im Raum und bereiteten jene politischen Auseinandersetzungen der 1960er und 1970er Jahre vor, in denen die Empörung _____________ 109 Vgl. das Vorwort von Hanns Mommsen: „Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann“. In: Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 142005. 9–48, S. 18. 110 Arendt verweist auf die deutsche Übersetzung des Terminus „Crime against humanity“ mit „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ und kommentiert diese mit den Worten: „[...] als hätten es die Nazis lediglich an ‚Menschlichkeit‘ fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten, wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts.“ Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 399. 111 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 400. 112 Vgl. Mommsen: „Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann“, S. 21.

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der heranwachsenden Generation über die Verstrickungen ihrer Eltern hohe Wellen schlug. Juristisch begleitete den Eichmann-Prozess eine Reihe von Verhaftungen und Anklagen in der Bundesrepublik; an ihnen entzündete sich erneut die Diskussion um die Verjährung von NS-Verbrechen. Peter Krause stellt anhand seiner Auswertung der Berichterstattung in der bundesdeutschen Presse fest, dass nun nur noch wenige Stimmen einen „Schlußstrich“ unter die jüngste Vergangenheit ziehen wollten. Statt dessen bot der Jerusalemer Prozess den Anstoß für eine kritische und schmerzliche Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit und wurde als „aktueller Anlaß oder gar Chance gesehen, diese Auseinandersetzung anzugehen“.113 Die Führung der DDR dagegen nutzte den Eichmann-Prozess in mehrfacher Hinsicht für ihre politischen Interessen, in deren Zentrum das Aufweisen vor allem personeller Kontinuitäten zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und der Bundesrepublik stand. Zu einer Zeit, als die Fluchtbewegung gen Westen einen Höhepunkt erreichte, stilisierte sich die DDR als das ‚bessere Deutschland‘, das sich angesichts der aggressiven und reaktionären Politik der Bundesrepublik dazu veranlasst sah, seine Grenze durch eine Mauer – den ‚antifaschistischen Schutzwall‘ – zu sichern. Während des Jerusalemer Eichmann-Prozesses bot die nationalsozialistische Biographie Hans Globkes einen willkommenen Anlass für eine ausgedehnte Pressekampagne; denn in einem Zug mit den Verbrechen Eichmanns und der antisemitischen Vergangenheit des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt konnte die DDR ihre eigene Abrechnung mit dem ‚Hitlerfaschismus‘ betonen und sich so als antifaschistische Alternative präsentieren. Die „Kommission für gesamtdeutsche Arbeit“ im Politbüro des ZK der SED forderte dementsprechend eine Ausrichtung des Augenmerks auf die nationalsozialistische Vergangenheit (und Gegenwart) der Bundesrepublik: Unsere Zeitungen dürfen die Aufgabe nicht aus den Augen verlieren, den Eichmann-Prozeß systematisch zu nutzen, um größere Klarheit über den verbrecherischen Charakter des deutschen Imperialismus und Militarismus, über die aggressive Politik des Bonner Staates, über Neonazismus in Westdeutschland zu schaffen. Es gilt, auf lange Sicht eine prinzipielle, breite Kampagne über die ‚unbewältigte Vergangenheit‘ zu führen, darüber, wie und warum in Westdeutschland die militaristische und nazistische Vergangenheit bereits wieder zur gefährlichen Gegenwart geworden ist, und wie und warum demgegenüber in der DDR die Vergangenheit zum Nutzen für ganz Deutschland und den Frieden bewältigt, der Faschismus mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurde. Während das Gericht in Jerusalem sich bemüht, Eichmanns Verbrechen als die eines einzelnen herauszu-

_____________ 113 Peter Krause: Der Eichmann-Prozeß in der deutschen Presse. Frankfurt a. M., New York 2002, S. 209.

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stellen, müssen wir den Prozeß nutzen, um die politischen und ökonomischen Wurzeln des Faschismus bloßzulegen, das ganze System anzuprangern, dessen Stützen heute in Westdeutschland wieder an der Macht sind.114

Das Hauptaugenmerk der SED-Führung richtete sich darauf, den Prozess nicht zum Auftakt zu nehmen, eine Diskussion der ‚Kollektivschuld‘ der Deutschen aufkommen zu lassen, sondern allein Nationalsozialisten zu identifizieren, die in Westdeutschland Führungspositionen innehatten, um zu beweisen, dass eine aktuelle Gefahr des ‚Faschismus‘ von der Bundesrepublik ausging. Judenverfolgung und Eichmann-Prozess bildeten nur die Kulisse, vor der sich Verstrickungen von Nationalsozialismus und Kapital ebenso abbilden ließen wie Kungeleien zwischen der gegenwärtigen westdeutschen Regierung und dem – ‚zionistischen‘ und ‚imperialistischen‘ – Staat Israel.115 In Heinar Kipphardts dokumentarischem Drama Bruder Eichmann, an dem er mit Unterbrechungen fast zwanzig Jahre arbeitete, sind die beschriebenen historischen Bezüge nachweisbar eingeflossen. Auf der Grundlage verschiedenster Materialien – herangezogen werden die Protokolle des Verhörs Eichmanns in Israel durch Avner Less, Hannah Arendts Bericht vom Jerusalemer Prozess, die Debatten um den EichmannProzess und um das Theaterstück Bruder Eichmann in beiden deutschen Staaten – wird es im Folgenden darum gehen, das Hörspiel Bruder Eichmann ins Verhältnis zu seiner dramatischen Vorlage zu setzen, um seine spezifischen ästhetischen, politischen und medialen Aspekte herauszuarbeiten. 3.2. „Bruder Eichmann“ und das dokumentarische Theater in Ost und West Kipphardts Arbeit am Eichmann-Thema reicht bis in die 1960er Jahre zurück. In seinem Drama Joel Brand, entstanden 1964/65, lässt er die Eichmann-Figur als zynischen Händler auftreten, der 1944 versucht, eine Million von der Liquidierung durch die Nationalsozialisten bedrohte Juden bei jüdischen Hilfsorganisationen in Ungarn gegen 10.000 Lastwagen _____________ 114 „Der Eichmann-Prozeß und die unbewältigte Vergangenheit“ (5.6.1961). In: Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, DY 30/IV 2/2.028/21; zit. n. Jutta Illichmann: Die DDR und die Juden. Die deutschlandpolitische Instrumentalisierung von Juden und Judentum durch die Partei- und Staatsführung der SBZ/DDR von 1945 bis 1990. Frankfurt a. M. 1997, S. 168 f. 115 Es wurde unterstellt, die Bundesrepublik mache ihre Wiedergutmachungsleistungen (die vor allem der militärischen Aufrüstung Israels dienten) von der Bedingung abhängig, dass die ehemaligen Nationalsozialisten, die nun noch immer an der Macht wären, im Prozess nicht benannt werden würden; vgl. Krause: Der Eichmann-Prozeß in der deutschen Presse, S. 217.

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einzutauschen. Obwohl Kipphardt schon zu dieser Zeit das von ihm als „Eichmann-Haltung“ bezeichnete Gebaren benennt, ist es in seinem Drama noch nicht klar ausgearbeitet.116 Aus diesem Grund beschäftigt er sich in den folgenden Jahren immer wieder mit dem Entwurf eines Stückes (zuerst als Fernsehspiel geplant), in dessen Mittelpunkt noch einmal Adolf Eichmann als Gipfel einer bürgerlichen Bürokratennatur steht: der „funktionale Mensch“, reduziert auf den „Funktionär, den Beamten, den Angestellten, den Befehlsempfänger“.117 Dieser Typus, der sich gerade durch Charakterlosigkeit und fehlende Persönlichkeit auszeichnet, eignete sich offenbar schlecht als Protagonist auf der Bühne, auf der herkömmlicher Weise gerade die außergewöhnlichen Helden und Heroen zu finden sind. Die Divergenz zwischen den monströsen Verbrechern in den Shakespeare’schen Dramen und der Figur Eichmanns hätte größer nicht sein können, wie bereits Hannah Arendt bemerkte: Eichmann was not Iago and not Macbeth, and nothing would have been farther from his mind than to determine with Richard III „to prove a villain.“ Except for an extraordinary diligence in looking out for his personal advancement, he had no motives at all.118

Kipphardt beklagt noch am Ende der 1960er Jahre, dass er keine ‚rechte Fabel‘ für das Schauspiel finden kann, und unterbricht das Projekt für längere Zeit. Zu Beginn der 1980er Jahre, kurz vor seinem Tod, nimmt er die Arbeit am Stück wieder auf und beendet sein Drama Bruder Eichmann, das als eines der umstrittensten Werke des westdeutschen Nachkriegstheaters gilt. Formal ist Bruder Eichmann eng an das dokumentarische Theater angelehnt, an dessen Anfang Bertolt Brecht und Erwin Piscator in der Weimarer Republik standen und das seinen Höhepunkt in den 1960er Jahren erlebte, als die Dramen von Rolf Hochhuth und Peter Weiss die Bundesrepublik erschütterten. Die dokumentarische Literatur der 1960er Jahre _____________ 116 „Kipphardt verstand sein Stück modellhaft als die ‚Fortsetzung der Eichmann-Haltung in der Gegenwart‘. Dafür aber gibt es im Stück selbst kaum Anhaltspunkte, es sei denn, man deute Eichmanns Geschäfte als übergreifende Konstante des Kapitalismus, was jedoch sehr grobschlächtig wäre.“ Klaus L. Berghahn: „Dokumentarische Literatur“. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 22: Literatur nach 1945 I. Hg. v. Jost Hermand. Wiesbaden 1979. 195–245, S. 218. 117 Aus einem Diskussionsbeitrag Kipphardts beim „Haager Treffen zur Weiterführung der Friedensinitiative europäischer Schriftsteller“, 24.–26. Mai 1982. Abschrift von einem im Besitz von Bernt Engelmann, Rottach-Egern, befindlichen Tonband; zit. n. „Der funktionale Mensch“. In: Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek 1983. 210–212, S. 211. 118 Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. A Report of the Banality of Evil. Revised and enlarged Edition. New York u. a. 1992, S. 287. [Das Zitat ist Teil des Postscripts, das nicht in die deutsche Übersetzung übernommen wurde.]

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zielte darauf ab, die herkömmliche Trennung von ‚Kunst‘ und ‚Wirklichkeit‘ aufzuheben, um einen Kunstbegriff zu etablieren, dessen gesellschaftliche und politische Wirkung in der Authentizität des Stoffes und den klaren Bezügen zur ‚Realität‘ begründet liegt. Sie bezieht ihr Material aus der Gegenwart, transformiert es in einen Kunstgegenstand, der in der Rezeption wiederum auf die gegenwärtig herrschenden Verhältnisse zurückwirken soll. Dokumentarische Literatur beruht auf authentischem Material, das aber jenseits einer reinen Abbildfunktion vom Autor so zusammengestellt und bearbeitet wird, dass sich das Modellhafte, Typische der gesellschaftlichen Realität herauskristallisiert: Die dokumentarische Methode greift also kommentierend und interpretierend in das vorgegebene Material ein, arbeitet dessen ‚Kern und Sinn‘ (Hegel) heraus. Ihr Ergebnis ist also niemals eine bloße Reproduktion der wirklichen Wirklichkeit, sondern immer gedeutete Wirklichkeit.119

Es ist augenfällig, dass sich diese Theaterform – erinnert sei an Hochhuths Der Stellvertreter, Weiss’ Die Ermittlung und Kipphardts Joel Brand – vor allem mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzte, die gerade nicht zeitlich abgeschlossen als Historiendrama präsentiert wird, sondern den Ausgangspunkt für gegenwärtige gesellschaftliche und politische Auseinandersetzungen bildet. Dokumentarische Literatur wurde von verschiedenen Seiten harsch attackiert, wobei es fast immer darum ging, das Verhältnis zwischen Ästhetik und Politik, Kunst und Realität, „historischer und poetischer Wahrheit“ auszuloten.120 Unterstellte man einerseits, das Dokumentartheater sei noch immer Illusionstheater,121 so bezweifelte man andererseits seine politischen Wirkungsmöglichkeiten.122 Wurde Heinar Kipphardt, dessen Theaterarbeit sich schon in den 1950er Jahren am Deutschen Theater in Ost-Berlin stark an Piscator orientierte,123 nach der Uraufführung von Bruder Eichmann – wie auch schon in Bezug auf In der Sache J. Robert Oppenheimer – der Vorwurf gemacht, sein Drama hielte sich nicht in allen Details an die historische ‚Wahrheit‘,124 so handelt es sich in diesen Fällen um einen zweifelhaften Begriff von Realität und ein Missverstehen des Konzepts vom dokumentarischen Theater. _____________ 119 Berghahn: „Dokumentarische Literatur“, S. 197. 120 Berghahn: „Dokumentarische Literatur“, S. 270. 121 Beispielsweise Martin Walser: „Ein weiterer Tagtraum vom Theater“. In: ders.: Heimatkunde. Aufsätze und Reden. Frankfurt a. M. 1968, S. 75 f. 122 Z. B. Peter Handke: „Straßentheater und Theatertheater“. In: ders.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms. Frankfurt 1972, S. 53. 123 Adolf Stock: Heinar Kipphardt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1987, S. 54 f. 124 Hier ist vor allem Avner Less zu nennen, der in seinen Stellungnahmen betont hat, dass das Stück in Bezug auf seine Person „mehr Dichtung als Wahrheit“ enthalte, und der nach der Uraufführung gerichtlich erwirkte, dass sein Name im Drama nicht mehr genannt werden durfte. Avner Less: „So war es nicht!“ In: Theater heute 24.4 (1983): 67.

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Denn trotz aller historischen Bezüge ist es ein künstlerischer und kein wissenschaftlicher Text und ist dieser Text als Drama den Gesetzen des Theaters unterworfen: Die Weltgeschichte ist, wie Sie mir zugeben wollen, keine Dramaturgin. Der Dramatiker bewegt sich, in Anerkenntnis, daß er die wesentlichen Tatsachen nicht beugen will, frei im Stoff. Er muß aus der großen Fülle von Material das Wesentliche destillieren. [...] Sie müssen natürlich, wie jeder andere Dramatiker auch, ein in sich zusammenhängendes, folgerichtiges Stück schreiben, das seine eigene Sprache und seine eigene szenische Dialektik hat, die ja bei jedem Schriftsteller verschieden ist.125

Aus unterschiedlichsten historischen Dokumenten um den EichmannProzess erarbeitete Kipphardt eine Handlung, die von dem Beginn der Verhöre Eichmanns in der israelischen Untersuchungshaft über den Prozess bis zu seiner Hinrichtung reicht. Seine Vorlage bestand zum großen Teil aus den Protokollen des Verhörs, das der israelische Polizeihauptmann Avner Less in einem Untersuchungsraum des Gefängnisses in Haifa führte. Dieses Protokoll, das aus der Niederschrift der 275 Stunden Tonbandmitschnitte besteht, umfasst allein 3.564 Seiten. Es stand Kipphardt vollständig zur Verfügung und erschien 1984, also erst nach Veröffentlichung des Dramas, in stark gekürzter und mit Dokumenten versehener Fassung als Buch.126 Daneben verwandte Kipphardt die Aufzeichnungen des Pfarrers William Hull,127 der Eichmann in den letzten Wochen vor seiner Hinrichtung besuchte, um ihn zu einem moralischen Geständnis zu bewegen, sowie die von Istvan S. Kulcsar, der Eichmann als Psychiater im Auftrag des Gerichts begutachtete.128 Darüber hinaus finden sich Parallelen zur Publikation von Gustave M. Gilbert, jenem Psychiater, der während der Nürnberger Prozesse mit Angeklagten Gespräche führte und auch in Jerusalem aussagte.129 1966 reiste Kipphardt selbst nach Israel und sprach dort mit Gideon Hausner, der seinerzeit die Anklage gegen Eichmann vertreten hatte.

_____________ 125 Heinar Kipphardt in einem Interview mit Fritz Rumler. „Wäre ich Eichmann geworden?“ In: Der Spiegel (15.05.1967); zit. nach Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek 1983, S. 189. 126 Jochen von Lang (Hg.): Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre. Mit 48 faksimilierten Dokumenten. Mit einem Nachwort von Avner Less. Wien 1991. 127 William L. Hull: Kampf um eine Seele. Gespräche mit Eichmann in der Todeszelle. Wuppertal 1964. 128 Istvan S. Kucsar, Shoshanna Kulcsar u. Lipot Szondi: „Adolf Eichmann and the Third Reich“. In: Crime, Law and Corrections. Springfield, Illinois 1966; vgl. auch Avner Less: „So war es nicht!“, S. 67. 129 Gustave M. Gilbert: Nürnberger Tagebuch. Frankfurt a. M. 1962.

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Das Drama ist in zwei Teile von 18 und 11 Szenen gegliedert. Im ersten Teil steht das Verhör durch den Polizeihauptmann Leo Chass130 im Vordergrund. Chass lässt Eichmann biografische Zusammenhänge erläutern und über seine Tätigkeit im Judenreferat berichten. Ergänzt durch die Gespräche Eichmanns mit der Psychiatrin Schilch werden Fragen der familiären Herkunft und des beruflichen Werdegangs von Adolf Eichmann behandelt und ein Charakterbild gezeichnet, dessen Grundzüge von einer bürgerlich-christlichen Autoritätsgläubigkeit, bedingungsloser Unterwerfung und individuellem Ehrgeiz bestimmt werden. Kipphardt macht deutlich, wie eng die vom Vater als Patriarchen bestimmte Erziehung im vermeintlich unpolitischen protestantisch-puritanischen Elternhaus mit Eichmanns späterer Karriere in der SS und im nationalsozialistischen Reichssicherheitshauptamt verknüpft ist. Diese Dialoge, welche die Zusammenhänge von Bürgertum, Kirche und totalitärem Staat beleuchten, werden akzentuiert durch zwei Texte, die bei dunkler Bühne eingespielt werden sollen: „eine sehr ernste, sehr verführerische Sequenz einer Hitlerrede, die Weltwirtschaftskrise betreffend“, am Ende der zweiten Szene und ein Zitat aus dem Hirtenbrief Bischof Gföllners am Ende der dritten Szene. Die von Kipphardt aus dem Rundschreiben des Bischofs vom 21. Januar 1933 ausgewählte Passage unterschlägt die klare Distanzierung Gföllners vom Nationalsozialismus und von dessen rassischem Antisemitismus.131 Lediglich zwei Sätze werden zitiert, die in polemischer Weise zu einem „geistigen und ethischen Antisemitismus“ aufrufen, der Judentum mit Kapitalismus und Bolschewismus in eins setzt und auf diese Weise nationalsozialistische Parolen unterstützt. In den späteren Szenen des Verhörs zwingt Chass Eichmann, über seine Reisen in Vernichtungslager zu berichten und sich zu Dokumenten zu äußern, die Eichmann schwer belasten. Chass, der selbst aus Deutschland emigrierte und dessen Familie im Holocaust umkam, ringt nun um Fassung, wenn er den Schilderungen Eichmanns folgen muss, die nicht nur dessen eigene Beteiligung und Verantwortung für die Tötungen in NS-Konzentrationslagern leugnen, sondern darüber hinaus von einem Selbstmitleid geprägt sind, das in seiner zynischen Art, sich selbst zum Opfer zu stilisieren, seinesgleichen sucht. Den Höhepunkt dieser Farce stellt die Konfrontation Eichmanns mit Filmmaterial aus dem Warschauer Ghetto und verschiedenen Konzentra_____________ 130 Die Figur des Avner Less musste nach der juristischen Intervention durch den israelischen Polizeihauptmann umbenannt werden und trägt daher den fiktiven Namen Leo Chass. 131 Vgl. Thomas Lindner: Die Modellierung des Faktischen. Heinar Kipphardts Bruder Eichmann im Kontext seines dokumentarischen Theaters. Frankfurt a. M. u. a. 1990, S. 157.

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tionslagern in der 18., der letzten Szene des ersten Teils dar, dessen Vorführung Eichmann mit den Worten abbricht: Ich muß, zu meinem Bedauern muß ich feststellen, daß ich nicht informiert wurde, daß bei dieser Filmvorführung auch justizfremde Personen anwesend sein dürfen. Ich wäre in diesem Fall nicht in Filzpantoffeln und dieser Sackhose gekommen! – Was gehen mich all diese grauenhaften Bilder an? Was habe ich damit zu tun?132

Weiteres Filmmaterial wurde im historischen Eichmann-Prozess während der Beweisaufnahme vorgeführt, und so verbindet die Filmvorführung das Ende des ersten Teils des Bühnenstücks dramaturgisch mit dem zweiten Teil. Denn gerade die Zeit der eigentlichen Gerichtsverhandlung bleibt in der chronologischen Darstellung Kipphardts ausgespart; statt dessen setzt die Handlung erst nach der Urteilsverkündung wieder ein. Im zweiten Teil stehen die Dialoge Eichmanns mit dem Pfarrerehepaar Hull im Mittelpunkt. Sie verdeutlichen seine nationalsozialistische Weltanschauung und lassen einen Verurteilten erkennen, der sich noch immer keiner Schuld bewusst ist. Darüber hinaus trifft Eichmann noch einmal auf seinen Verteidiger Dr. Servatius, nimmt Abschied von seiner Frau Vera; in der 8. Szene des zweiten Teils schildert die Psychiatrin Schill ihr letztes Gespräch mit Eichmann; in der 11. Szene beschließt der Pfarrer Hull die Handlung mit seinem Bericht von der Hinrichtung Eichmanns, der Verbrennung des Leichnams und der Verstreuung der Asche. Die Haupthandlung des Stückes wird ergänzt durch die sogenannten ‚Analogieszenen‘, in denen die modernen ‚Brüder‘ Eichmanns (bspw. der Entwickler der Neutronenbombe, der Kommandant eines B52-Bombers in Vietnam, ein westdeutscher Conferencier, der Türkenwitze verbreitet, ein Neonazi, der israelische Verteidigungsminister Ariel Sharon) ebenso wie deren – ausnahmslos weibliche – Opfer (eine Überlebende des Atombombenabwurfs auf Nagasaki, eine jüdische Frau, das RAF-Mitglied Irmgard Möller) größtenteils monologisch auftreten. Ist der erste Teil des Stückes noch durchsetzt von solchen Schlaglichtern, die die Handlung in vier Szenen (7, 9, 11, 17) kommentieren und ihre Themen in die Gegenwart tragen, findet sich in der Mitte des zweiten Teils in der Szene 11, auf dem Höhepunkt der Handlung, noch einmal eine Szene, die sich in fünf Mono- bzw. Dialogen mit der Rolle des Verteidigungsministers Ariel Sharon im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern beschäftigt. _____________ 132 Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien, S. 96. Die Zitate aus der Druckfassung des Dramas (= D) werden im Folgenden im laufenden Text nachgewiesen. Vgl. den historischen Hintergrund dieser Szene bei Lindner: Die Modellierung des Faktischen, S. 193 f., Anm. 287. Lindner wertet hier Gideon Hausners „Gerechtigkeit in Jerusalem“ und ein im Nachlass befindliches Typoskript, das Kipphardt von seinen Gesprächen mit Hausner anfertigte, aus.

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Gerade wegen dieser Analogieszenen erregte das Stück in der Bundesrepublik Aufsehen und provozierte wütende Kritik. Nicht von der Hand zu weisen war der Vorwurf, die Analogieszenen würden ausschließlich westliche Systeme und deren Politik kritisieren. Geradezu empört äußerten sich darüber hinaus jene Kritiker, die die eingefügten Szenen nicht als Analogien im Sinne einer Übereinstimmung lediglich einzelner, wenn auch wesentlicher Merkmale begriffen, sondern eine Gleichsetzung des NSVerbrechers Eichmann mit gegenwärtigen Größen aus Wissenschaft, Militär und Politik unterstellten. Allzu plakativ würden historische Differenzen eingeebnet, die NS-Verbrechen verharmlost und die Besonderheit des Genozids an den europäischen Juden negiert. Die Uraufführung des Dramas am 21. Januar 1983 unter der Regie von Dieter Giesing im Münchner Residenztheater wurde entschieden kritisiert, obwohl oder gerade weil von den 21 Analogien allein vier auf der Bühne zu sehen waren.133 Nicht Bruder Eichmann kam zur Aufführung, sondern ein biographischer Abriss einer Täterbiographie, die die „Individualtragödie ‚Eichmann‘“134 mit z. T. melodramatischen Anklängen vorführte. Folgt man Walter Karbachs Auswertung der Inszenierungen, so hatte das westdeutsche Publikum erst 1986 die „Gelegenheit, eine Kipphardts Intentionen angemessene Inszenierung zu sehen“, nämlich ausgerechnet beim Gastspiel eines ostdeutschen Ensembles, der Dresdner Staatsbühne unter der Regie von Horst Schönemann.135 Heinar Kipphardt, Sohn eines kommunistischen Widerstandskämpfers, siedelte 1949 aus Westdeutschland, wo er die ersten Nachkriegsjahre verbracht hatte, in die DDR um: Ich kam aus dem Krieg mit dem Grundgefühl, daß sich am Hitlerfaschismus die Unhaltbarkeit dieses Wirtschaftssystems, genannt Kapitalismus, gezeigt hat. [...] Die restaurativen Tendenzen im westlichen Teil, die gefielen mir nicht, und ich dachte – obwohl ich nicht riesige Illusionen hatte gegenüber der damaligen russischen Besatzungszone, der späteren DDR –, daß dort eher ein gründliches Umdenken möglich wäre. Und ich dachte, es ist richtig, dorthin zu gehen.136

Zunächst als Assistenzarzt in der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité tätig, wechselte Kipphardt bald ans Deutsche Theater unter der Intendanz von Wolfgang Langhoff und arbeitete nun als Dramaturg und Autor. Hier kam u.a. seine Satire Shakespeare dringend gesucht zur Uraufführung, die Kritik an der stalinistischen Kulturpolitik übt, „wo Kunst eigent_____________ 133 Darüber hinaus waren alle Gespräche mit der Psychiatrin Schilch gestrichen worden. 134 Vgl. Georg Hensel: „Kein Mensch wie jeder andere“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (24.01.1983). 135 Vgl. Walter Karbach: Mit Vernunft zu rasen: Heinar Kipphardt. Studien zu seiner Ästhetik und zu seinem veröffentlichten und nachgelassenen Werk. Oberwesel am Rhein 1989, S. 378. 136 Heinar Kipphardt: Stücke I. Frankfurt a. M. 1973, S. 338.

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lich die jeweilige Regierungs- oder Parteipolitik nur so nochmal bebildert“.137 Entsprechend wurde das Stück erst im Zuge der Ereignisse um den 17. Juni, am 28. Juni 1953, aufgeführt. Es folgte 1956, ebenfalls am Deutschen Theater, die Uraufführung der „tragikomischen Farce“ Aufstieg des Alois Piontek. Das 1957/58 verfasstes Stück Die Stühle des Herrn Szmil, das die noch immer herrschende kleinbürgerliche Mentalität, auch unter sozialistischen Verhältnissen, thematisierte, durfte in der DDR nicht mehr aufgeführt werden. Eine zeitgleiche Pressekampagne verunglimpfte die Arbeit des Intendanten Wolfgang Langhoff ebenso wie die seines Dramaturgen Kipphardt als „bürgerlich“, „modernistisch“ und „revisionistisch“.138 Da Kipphardt im Gegensatz zu Langhoff nicht gewillt war, seine Ansichten der neu herrschenden Doktrin des „Bitterfelder Weges“139 unterzuordnen, kehrte er nach harten Auseinandersetzungen mit der kulturpolitischen Führung der DDR 1959 von einem Arbeitsaufenthalt am Theater Düsseldorf nicht wieder in die DDR zurück. Kipphardt hatte die „funktionale Haltung“, die die Figur Eichmanns bestimmt, und ihre Folgen gerade auch in der DDR erfahren müssen. Obwohl er sich nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik nie explizit von der DDR distanzierte, zog er in den folgenden Jahren Parallelen zwischen den beiden deutschen Staaten: [...] das ist die nur funktionale Haltung, die Reduzierung des Menschen auf den Funktionär, den Beamten, den Angestellten, den Befehlsempfänger, das Rädchen im Getriebe, der die Verantwortung für seine Handlung, der sein Gewissen an die anordnende, befehlsgebende Seite delegiert, die Solidarität gegenüber der eigenen Gattung verletzt und ein mündiger Mensch nicht genannt werden kann.[...] Wir sehen das in Deutschland ganz gut, welche Entwicklung in ziemlich schneller Zeit vor sich gegangen ist, wir leben in zwei deutschen Staaten, die beide über eine volle Souveränität nicht verfügen. Wir sehen eine dauernde Zunahme der Überwachungstendenzen in diesen beiden Staaten, einen gebremsten Weg in den Polizeistaat, der sich aus der Gefährlichkeit des Atomstaats ergibt. Dieser Entwicklung müssen wir doch begegnen. [...] ich sehe keinen anderen Weg für uns Schriftsteller, als die Leute zu ermuntern, Erfindungen zu machen, wie ein wirkungsvoller ziviler Ungehorsam geleistet werden kann.140

_____________ 137 Kipphardt: Stücke I, S. 338. 138 Vgl. Stock: Heinar Kipphardt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, S. 57. 139 Im Oktober 1957 hatte die Kulturkonferenz der SED der liberalen Kulturpolitik nach dem Tod Stalins ein Ende gesetzt. Die Richtlinien für die Ideologisierung des Kulturbetriebs orientierten sich nun an der Programmatik einer ‚eigenständigen sozialistischen Nationalkultur‘, die die Trennung von Kunst und (Arbeits-)Leben überwinden sollte, indem einerseits Schriftsteller und Künstler in Fabriken arbeiten und andererseits Arbeiter in die Kulturproduktion einbezogen werden sollten. 140 Aus einem Diskussionsbeitrag Kipphardts beim „Haager Treffen zur Weiterführung der Friedensinitiative europäischer Schriftsteller“, 24.–26. Mai 1982. Abschrift von einem im

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Dass für Kipphardt auch die sozialistischen Staaten eine bürgerliche Gesellschaftsform repräsentierten, die auf Erwerbstätigkeit und Angestelltendasein beruhte, und die Eichmann-Haltung somit auch jenseits der deutsch-deutschen Grenze existierte, war offensichtlich. So schrieb er an den ebenfalls 1955 aus Bayern in die DDR übergesiedelten Dramatiker Peter Hacks im November 1967: Es versteht sich, daß ich nicht Eichmann beschreibe, sondern die bürgerliche Normalität in ihrer wirklichen Konsequenz, monströs ist das Normale in unserer auf Lohnarbeit beruhenden Kultur. Da nahezu überall Lohnarbeit ist, ist nahezu überall Eichmann.141

Kipphardt selbst hat diese Entsprechung auch öffentlich vertreten, trotzdem findet sie keine Aufnahme in den Dramentext Bruder Eichmann. Es werden allein Analogien zu Verhältnissen in westlichen Staaten – allen voran die USA, die Bundesrepublik Deutschland und Israel – vorgestellt. Für die Theater in der DDR war das Stück darum weniger vorbelastet als für westdeutsche Theater, passte es sich doch perfekt in das seit Jahrzehnten gängige Muster der Aktualisierung eines historischen Stoffes für gegenwärtige politische Auseinandersetzungen ein. Das Drama fügte sich darüber hinaus scheinbar bruchlos in die in den 1960er Jahren in der DDR begründete Tradition der Instrumentalisierung des EichmannProzesses gegen neonazistische Tendenzen in der Bundesrepublik ein und wurde so dankbar in die Spielpläne aufgenommen. Die gemeinsame Uraufführung auf mehreren ostdeutschen Bühnen im September 1983 markiert den Versuch, Bruder Eichmann in die Tradition der Ermittlung von Peter Weiss zu stellen. Doch die Bühneninterpretationen und die öffentlichen Reaktionen auf das Stück erschöpften sich nicht im Blick gen Westen, sondern eröffneten auch eine kritische Perspektive auf eine DDR-interne Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die sich seit dem Ende der 1970er Jahre zunehmender Beachtung erfreute und eine Ära beendete, in der die jüngste deutsche Geschichte, wie es Christa Wolf formulierte, immer als die der „anderen“ betrachtet wurde und man sich selbst in der „Tradition der Antifaschisten und Widerstandskämpfer“ sah.142 So schienen die Inszenierungen, bei allen Unterschieden, gerade darauf abzuzielen, das Motiv des Bruders zu betonen und durch unterschiedlichste Regieeinfälle die Aus_____________ Besitz von Bernt Engelmann, Rottach-Egern, befindlichen Tonband, zit. n. „Der funktionale Mensch“. In: Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek 1983. 210–212, S. 211 f. 141 Kipphardt in einem Brief an Peter Hacks vom 3. November 1967; zit. n. Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek 1983. 183–184, S. 184. 142 Christa Wolf zitiert nach Linzer: „Bruder Eichmann oder Das gewöhnliche Monster. Bemerkungen zum Stück und seiner Rezeption in der DDR“, S. 144.

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tauschbarkeit der Rollen und das Typische der ‚Eichmann-Haltung‘ jenseits der historischen Figur herauszuarbeiten.143 Das ostdeutsche Publikum, außerordentlich trainiert in der Applikation künstlerischer Äußerungen auf gegenwärtige Verhältnisse, übertrug dann auch in der Rezeption die Eichmann-Haltung auf die Bedingungen in der DDR. So schrieb der Schauspieldirektor und Regisseur Christoph Schroth vom Mecklenburgischen Landestheater Schwerin über ein Zuschauergespräch nach der Premiere am 11. September 1983: Der Meinung, der Faschismus ist bei uns aufgearbeitet, wird insofern widersprochen, daß die politische Beseitigung des Faschismus bei uns nicht automatisch einschließt, daß unpolitische Verhaltensweisen, unkritisches Verhalten im Kollektiv, Verantwortungslosigkeit oder formales Befolgen von Befehlen bei uns nicht mehr existieren.144

In der folgenden Analyse der Hörspielfassung Bruder Eichmann wird zu zeigen sein, inwiefern diese selbstkritischen Aneignungen und die damit einhergehende Modernisierung des Eichmann-Stoffes in der Bearbeitung für den Hörfunk wieder eingeebnet wurden. 3.3. „Bruder Eichmann“ als Hörspiel im Radio der DDR 3.3.1. Die Bearbeitung für den Rundfunk In den Jahresplanungen der Hörspielabteilung wurden zukünftige Produktionen angekündigt und die Auswahl in der Regel mit gesellschaftlicher Brisanz begründet. Für das Jahr 1984 heißt es darin: Geplant ist eine Einrichtung von Heinar Kipphardts „Bruder Eichmann“. Die Widerspiegelung des faschistischen Schreibtischmassenmörders ohne Erkenntnis und Reue, gekoppelt mit Gegenwartsepisoden neofaschistischer Prägung in der imperialistischen Welt, geben dem Unternehmen u.E. einen Stellenwert in der heutigen Situation, der eine besondere Behandlung im Programm (möglicherweise gleichzeitige Ausstrahlung auf mehreren Sendern) rechtfertigt.145

_____________ 143 In Schwerin beispielsweise saß das Publikum während des ersten Teils auf einer Stufe mit den Figuren auf der Bühne, während Eichmanns Verhör auf einer Vorbühne, später dann sogar im Zuschauerraum stattfand; in der Weimarer Inszenierung tauschten die Schauspieler fortwährend die Rollen, so dass jeder sowohl Eichmann als auch Chass spielte; vgl. Linzer: „Bruder Eichmann oder Das gewöhnliche Monster“ sowie die im selben Band enthaltenen Materialien zu den Aufführungen an ostdeutschen Bühnen: Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Mit einem Nachwort von Martin Linzer. Berlin (Ost) 1984, S. 149–179. 144 Christoph Schroth: „Mecklenburgisches Staatstheater Schwerin. Tagebuchnotizen“. In: Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Mit einem Nachwort von Martin Linzer. Berlin (Ost) 1984. 160–164, S. 163. 145 Jahresplanung der Abteilung Hörspiel für das Jahr 1984. DRA Potsdam unter der Signatur I 009-00-04/0230, S. 6.

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In diesem Sinne wurde der als Schauspiel vorliegende Text von Ulrich Griebel für den ostdeutschen Rundfunk bearbeitet und Bruder Eichmann am 16. Juni 1984 auf dem Jugendsender DT 64 unter der Regie von Barbara Plensat und Ulrich Griebel urgesendet. Die Vorlage des Autors aus dem „kapitalistischen Ausland“ – so der Vermerk auf der Karteikarte des Rundfunkarchivs – wurde für die Radiosendung nicht nur in großen Teilen gekürzt, sondern auch in der Szenenfolge verändert. Vor allem die sogenannten Analogieszenen wurden nicht den Vorgaben des Autors entsprechend eingesetzt, sondern aufgesplittet und an anderen Stellen eingefügt. Offenbar aus zeitökonomischen Gründen entfernte man jene Analogieszenen, die als thematische Wiederholungen gewertet werden können. Im Hörspiel tritt nun nur noch jeweils ein Repräsentant der verantwortungslosen Wissenschaftler und Militärs oder neonazistischer Entwicklungen in der Bundesrepublik auf, die Szene II.5, in der Ariel Sharon in fünf verschiedenen Situationen vorgeführt wird, ist im Hörspiel auf eine Erklärung zusammengeschmolzen. Verzichtet wurde aber vor allem auf die Monologe derer, die den ‚Brüdern Eichmanns‘ zum Opfer fielen: eine Überlebende des Bombenabwurfs von Nagasaki; eine vermeintliche Terroristin, in Italien gefoltert; Irmgard Möller, die von einem Mordversuch in der Justizvollzugsanstalt Stammheim berichtet; eine Palästinenserin, die die Massaker in Flüchtlingslagern schildert. Allein der Bericht einer jüdischen Auschwitzüberlebenden findet sich an zentraler Stelle im Hörspiel am Ende des ersten Teils. Ihre Schilderung der Qualen vor den Gaskammern in Auschwitz ersetzt die Vorführung von dokumentarischem Filmmaterial aus Ghettos und Konzentrationslagern, die im Drama vorgesehen ist (• Hörzitat 13). Im Unterschied zur Vorlage reicht das Verhör Eichmanns durch Chass bis in den zweiten Teil hinein. Die Gliederung des Dramas wird auf diese Weise verschoben. Teilt in Kipphardts Text der ausgesparte Prozess die Vernehmungen im ersten Teil von den Szenen in der Todeszelle nach der Urteilsverkündung, bilden nun die Dialoge zwischen Eichmann und Chass den Großteil des Hörspiels, lediglich ergänzt durch die Figuren, die Eichmann vor seiner Hinrichtung besuchen. Insgesamt lässt sich feststellen, dass die dramaturgische Bearbeitung des Textes für den Funk darauf abzielte, die Handlung auf die Figur Eichmanns zu konzentrieren und ihr nur exemplarische Analogieszenen an die Seite zu stellen, die als Zwischenspiele in die Handlung eingefügt wurden. Hatte Kipphardt jedem ‚Bruder‘ Eichmanns eines seiner Opfer gegenübergestellt, spart das Hörspiel die Opferperspektive größtenteils aus.

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3.3.2. „Amtssprache ist meine einzige Sprache“146: Die Eichmann-Haltung In der Hörspielfassung bildet die Figur Adolf Eichmanns das unangefochtene Zentrum der Handlung. Abhängig von seinem jeweiligen Gegenüber – verhörender Polizist, Psychologin, Anwalt, Pfarrer oder Ehefrau – werden die verschiedenen Aspekte seiner Persönlichkeit beleuchtet, jedoch immer mit dem gleichen Ergebnis: Eichmann ist ein Karrierist ohne besondere Talente und Fähigkeiten, ausgenommen seine Bereitschaft zur bedingungslosen Unterordnung sowie seine ausgeprägte Vorliebe für Ordnung und Systematik. Diese Voraussetzungen lassen Eichmann als einen Automaten erscheinen, der nach eigener Einschätzung das mustergültige „Rädchen im Getriebe“147 der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie darstellte: ohne Gefühle, ohne eigene Ansichten oder besondere Leidenschaften. Menschliche Züge, zwischenmenschliche Begegnungen sind ihm unmöglich oder auf angenommene Floskeln beschränkt. Mechanisch berichtet er von der maschinellen Perfektion, mit der er ihm übertragene Aufgaben verrichtete. Im Hörspiel wird diese Charakterisierung Eichmanns vor allem über seine Sprache vorgenommen. Vergleicht man die beiden Eichmann-Entwürfe in Kipphardts Dramen, wird schnell die Differenz zwischen dem Protagonisten in Joel Brand und in Bruder Eichmann deutlich: Hatte man es in Joel Brand noch mit dem überlegenen und berechnenden Zyniker Eichmann zu tun, der auf der Höhe seiner nationalsozialistischen Karriere die Sprache ebenso wie seine Untergebenen und Gegner beherrscht, tritt den Hörerinnen und Hörern in Bruder Eichmann ein Gefangener entgegen, der, den Tod vor Augen, versucht, seine neuen ‚Vorgesetzten‘ für sich einzunehmen, indem er Unterwerfung und Kooperation mit der gegenwärtigen Macht signalisiert. Ekkehard Schall verkörpert nicht das ‚Monster‘, den mächtigen Drahtzieher, sondern einen kleinen, offenbar unbedeutenden Beamten, der den Hörern in Pantoffeln, den Zellenboden wischend, entgegentritt und dessen Charakterschwäche und Rückgratlosigkeit sich in jedem seiner Sätze niederschlagen. Der Sprachgestus der Figur, der häufig geradezu tragikomisch wirkt, ist dem der historischen Person nachempfunden: In Eichmanns Mund wirkt das Grauenhafte oft nicht einmal mehr makaber, sondern ausgesprochen komisch. Komisch ist auch Eichmanns heldenhafter Kampf mit der deutschen Sprache, in dem er regelmäßig unterlag [...]. Komisch sind auch die endlosen Sätze, die niemand verstehen kann, weil sie ohne alle Syntax Redensart auf Redensart häufen. Als Landau ihm sagt, daß es so nicht weiterginge,

_____________ 146 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 125. 147 Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. 1. Teil, S. 1. Kontroll-Exemplar im DRA Potsdam unter der Signatur: B 009-00-04/1386. Zitate werden im Folgenden direkt im Text nachgewiesen (= Hs I).

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spürte er wohl dunkel einen Defekt, der ihm schon in der Schule zu schaffen gemacht haben muß – wie ein milder Fall von Aphasie –, und entschuldigt sich: „Amtssprache ist meine einzige Sprache.“148

Und auch der Polizeibeamte Avner Less, auf dessen Verhör Kipphardt in weiten Teilen des Dramas zurückgriff, stellte fest: „Er sprach ein grausiges Deutsch. Anfangs hatte ich die größte Mühe, ihn zu verstehen – ein österreichisch-berlinerisches Nazibeamtendeutsch mit ellenlangen Schachtelsätzen, in denen auch er sich gelegentlich verirrte.“149 Die Hörspielregie verzichtet im Interesse der Verständlichkeit und der Hörerbindung darauf, Eichmann mit einem Dialekt auszustatten oder völlig Unverständliches vorbringen zu lassen. Die Dialoge sind jedoch geprägt von Eichmanns angestrengten Versuchen, sich auszudrücken. Immer wieder werden Aussagen mitten im Satz abgebrochen, um an derselben Stelle neu anzusetzen. Die Reden sind durchzogen von Wiederholungen und Sprachhülsen, deren Pathos oft an den Rand des Lächerlichen gerät.150 Diese ‚Wucherungen‘ in Eichmanns Schilderungen reflektieren einerseits seinen Sprachstil, der antrainiert und in weiten Teilen phrasenhaft wirkt, andererseits aber betonen sie die Bemühungen der Figur Eichmann, möglichst wahrheitsgemäß und bis in die Einzelheiten hinein Auskunft zu erteilen. Eichmanns eilfertiger Sprachgestus, der seine Autoritätsgläubigkeit und seine eifrige Neigung zur Unterordnung mit jedem Satz kundtut – bereits in der ersten Szene antwortet Eichmann in drei von fünf Redebeiträgen mit einem militärischen „Jawohl“ (Hs I, 3) –, trägt so vor allem zur Charakterisierung der Figur und der von ihr verkörperten ‚Eichmann-Haltung‘ bei. Hierzu gehört auch der Umstand, dass Eichmann selbst es ist, der um die ‚Gespräche‘ mit Hauptmann Chass bittet: Wenn es sich einrichten ließ, daß ich gelegentlich mit irgendjemandem sprechen kann. Mit Ihnen oder einer anderen amtlichen Persönlichkeit. [...] Über alles, was mich betrifft. Ich möchte mir über alles klar werden, mich erinnern und offen darlegen, welche Rolle ich tatsächlich gespielt habe. (Hs I, 3)

Das Gespräch mit dem israelischen Polizeihauptmann Leo Chass – in der Rolle vorerst kühl und gefasst Ulrich Mühe – beginnt dann auch im Hörspiel mit der Feststellung: „Chass: Ich möchte dabei klarstellen, es handelt _____________ 148 Arendt: Eichmann in Jerusalem, 124 f. 149 Avner Less: „Nachwort“. In: Jochen von Lang: Das Eichmann-Protokoll. Wien 1991. 265–276, S. 266. 150 „Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, daß dieser Mann kein ‚Ungeheuer‘ war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, daß man es mit einem Hanswurst zu tun hatte. Und da dieser Verdacht das ganze Unternehmen ad absurdum geführt hätte und auch schwer auszuhalten war angesichts der Leiden, die Eichmann und seinesgleichen Millionen von Menschen zugeführt hatten, sind selbst seine tollsten Clownerien kaum zur Kenntnis genommen und fast niemals berichtet worden.“ Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 132.

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sich um kein Verhör, zu dem wir Sie etwa zwingen, es kann von Zwang keine Rede sein, und Sie können die Gespräche jederzeit einstellen“151, worauf die Erläuterung des umständlichen Prozederes folgt: Chass: Wir werden das auf Tonband nehmen und danach abschreiben lassen. Um Missverständnisse auszuschalten, haben Sie Gelegenheit, die Abschrift durchzusehen und sie können dabei korrigieren, was Sie zu korrigieren wünschen. [...] Es ist klar, dass Ihre Aussagen in einem künftigen Prozess gegen Sie verwendet werden können.“ (Hs I, 4)

Seinen äußerlichen Bemühungen um Klärung der Sachverhalte steht Eichmanns Abwehr konkreter Vorwürfe gegenüber. Entweder war er für eine Maßnahme gar nicht zuständig oder sie war bei weitem nicht so folgenschwer, wie es ihm unterstellt wurde. Neben dem häufigen: „nein, nein, nein“, „nie, nie, nie“ bzw. „no no no no no“, das auf die Rhetorik des historischen Eichmann zurückgeht und von Avner Less als sicheres Zeichen einer Lüge verstanden wurde,152 bevorzugt er Umschreibungen, die die tatsächlichen Geschehnisse entstellen oder bagatellisieren: „Wir hatten nie, nie, nie etwas mit der Tötung zu tun, wir hatten mit der Konzentrierung zu tun, und daß die Züge bereitgestellt wurden, daß sie dorthin kamen, wo es befohlen war.“ (Hs I, 33; • Hörzitat 12) Allerdings hatte Eichmann als Leiter der Abteilung IV B 4 des Reichssicherheitshauptamtes damit nur verinnerlicht, was durch die nationalsozialistische Führung vorgegeben war, nämlich sogenannte „Sprachregelungen“, die bezüglich der Deportation und des Völkermordes an den Juden Europas verharmlosend Begriffe wie „Aussiedlung“ oder „Verlegung des Wohnsitzes“ oder „Umsiedlung“, „Sonderbehandlung“ oder „radikale Lösung“ benutzten.153 Der Sinn dieser sprachlichen Umschreibungen war offensichtlich: Sie zielten darauf ab, innerhalb der NS-Bürokratie Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, denn sie ermöglichten es den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, sowohl nach außen als auch vor sich selbst die Verbrechen zu leugnen und sie von früher geltenden Wertvorstellungen abzukapseln: Im Endeffekt sollte dieses System von Sprachregelungen die Vernichtungsexperten nicht etwa blind machen für die Natur ihrer Tätigkeit, wohl aber verhindern, daß sie sie mit ihren alten, „normalen“ Vorstellungen von Mord und Lüge gleichsetzten. Eichmanns große Anfälligkeit für Schlagworte und Phrasen und seine

_____________ 151 Im Nachwort zur Publikation der Gesprächsprotokolle verweist der historische Polizeibeamte Avner Less darauf, dass ein Polizeiverhör in Israel „ohne Zwang und aus freiem Willen“ durchgeführt werden muss, es handelt sich hierbei also um eine Routinehandlung. Avner Less: „Nachwort“, S. 273. 152 Less schreibt: „Mit der Zeit merkte ich, daß Eichmann jedesmal log, wenn er ‚Nie! Nie! Nie, Herr Hauptmann‘ sagte oder ‚Zu keiner Zeit! Zu keiner Zeit!‘ Das war stets Anlaß, meine Kollegen zu bitten, nach zusätzlichem Material zu einem solchen neuralgischen Punkt zu suchen. Oft wurden sie fündig [...].“ Avner Less: „Nachwort“, S. 275. 153 Die Begriffe sind zitiert nach Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 170.

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Unfähigkeit, sich normal auszudrücken, machten ihn natürlich zu einem idealen Objekt für „Sprachregelungen“.154

Das Motiv, innerhalb des herrschenden Systems trotz einer schlechten Ausgangsposition möglichst weit aufzusteigen, beherrscht die Figur Eichmanns so stark, dass ihm alle anderen Anwandlungen untergeordnet werden. Um die eigene Person innerhalb des Beamtenapparats möglichst weit voranzubringen und so das geringe Selbstbewusstsein zu stärken, ist Eichmann paradoxerweise in einen Zustand vorgedrungen, der einer Selbstaufgabe nahekommt. Je weniger Charakter, je weniger Geist und je mehr mechanische Arbeitswut und penible Pflichterfüllung, desto größer die Anerkennung. Mit jeder befolgten Anordnung werden von Eichmann Gewissen und Verantwortung an jene Vorgesetzten und übergeordneten Organe delegiert, die die Entscheidungen treffen. Der ausführende Beamte betrachtet sich selbst einerseits als machtlos, andererseits aber auch frei von jeder Schuld. Dies ist die Eichmann-Haltung, auf die der Autor Kipphardt abzielt und die der titelgebende Protagonist am ausgeprägtesten verkörpert. Gefühl und Mitgefühl scheinen sehr früh einem Disziplinierungsprozess zum Opfer gefallen zu sein, der dann beim erwachsenen Eichmann in Gedanken- und Verantwortungslosigkeit mündete. Denn wie Arendt beschrieben hat, war Eichmann offenbar einfach nicht in der Lage, sich das Schicksal der von ihm in den Tod geschickten Menschen zu vergegenwärtigen: Je länger man ihm zuhörte, desto klarer wurde einem, daß diese Unfähigkeit, sich auszudrücken aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgend etwas vorzustellen. Verständigung war mit Eichmann unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.155

Wenn seine Vorgesetzten ihn zwangen, sich die Konsequenzen des gemeinsamen Handelns nicht nur vorzustellen, sondern sie persönlich anzusehen, überfällt Eichmann nicht etwa das Mitgefühl mit den bestialisch Ermordeten, sondern ein grenzenloses Selbstmitleid, in dem Eichmann sich selbst zum Opfer stilisiert. Der Zynismus dieser Haltung strebt seinem Höhepunkt entgegen, wenn Eichmann in der 6. Szene des Hörspiels von Chass nach seiner Reaktion auf die Mitteilung der ‚Endlösung‘ gefragt wird. Eichmann antwortet: _____________ 154 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 171. 155 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 126.

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Ich habe nichts gesagt, weil ich dazu nichts sagen konnte, denn an solche Sachen selbst habe ich nie gedacht. Damit schwand auch alles bei mir, alle meine Arbeit, alles was ich aufgebaut hatte betreffs Auswanderung, Madagaskarplan, jüdisches Reservat im östlichen Generalgouvernement, da war ich gewissermaßen ausgeblasen. (Hs I, 25)

„Der Führer hat die physische Vernichtung der Juden befohlen“ (Hs I, 25) – und Eichmann versteht diesen Umstand nicht als Todesurteil für Millionen von Menschen, sondern als sein eigenes: Seine Karriere, seine Arbeit ist auf einmal nutzlos, weil die Objekte seiner Planung in Kürze nicht mehr existieren werden. Die Umkehrung des ‚instinktiven‘ Mitleids, „das normale Menschen beim Anblick physischer Leiden nahezu unweigerlich befällt“, in Selbstmitleid gehörte zu den typischen Strategien, die Durchschnittsmenschen während des Nationalsozialismus in Mörder verwandelte: „So daß die Mörder, wenn immer sie die Schrecklichkeit ihrer Taten überfiel, sich nicht mehr sagten: Was tue ich bloß!, sondern: Wie muß ich nur leiden bei der Erfüllung meiner schrecklichen Pflichten, wie schwer lastet diese Aufgabe auf meinen Schultern!“156 So muss das Hörspielpublikum an den Radios Eichmanns Schilderungen großangelegter Vernichtungsaktionen – massenhafte Erschießungen, Vernichtungen in Lublin durch U-Boot-Abgase, Vergasungen auf LKWs in Treblinka und Culm, Tötungen in den Gaskammern von Auschwitz – immer aus der egozentrischen Perspektive des Täters folgen. Die Figur Eichmann geht sogar so weit, sich selbst als besonders sensiblen Zeitgenossen zu stilisieren, der in der Betroffenheit durch das Leid anderer vor allem einen persönlichen Fehler entdeckt: Das war für mich ungeheuerlich. [...] Ich bin keine so robuste Natur, die, sagen wir mal, ohne irgendwelche Reagenz etwas über sich in dieser Art ergehen lassen kann. Wenn ich heute eine klaffende Schnittwunde bei einem Menschen sehe, dann kann ich nicht zusehen, so daß man mir oft sagte, ich hätte kein Arzt werden dürfen. (Hs I, 26)

Während er sich an seine eigenen Gefühle des Entsetzens und der Übelkeit lebhaft erinnern kann und diese ausführlich schildert, geraten ihm einfache Fakten immer wieder durcheinander. So erinnert er sich weder genau an den Zeitpunkt seiner Reisen in Vernichtungslager noch an die jeweiligen Ortsnamen und noch weniger an den Namen des Giftes, mit dem in Auschwitz getötet wurde.157 Kollektive Amnesie und Verdrängung bestimmten auch das Verhältnis der Nachkriegsdeutschen zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs. Die Berufung auf ohnmächtige Positionen während des Nationalsozialis_____________ 156 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 195. 157 Vgl. vor allem die 6. Szene, in der Eichmann seine Dienstreisen rekapitulieren soll (Hs I, 26–29).

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mus und der Verweis auf einen geradezu allmächtigen Diktator kennzeichneten die Rechtfertigungsstrategien, die lange Zeit in Ost wie West wirksam waren. Das Hörspiel Bruder Eichmann führt einerseits den irritierend einfach gestrickten, intellektuell offenbar überforderten Massenmörder vor; andererseits aber auch die Aktualität seiner Einstellung. Die Analogieszenen des Dramas dienen dazu, das Spektrum der ‚EichmannHaltung‘ aufzufächern. Sie finden sich, wenn auch gekürzt, in der Hörspielfassung wieder. 3.3.3. Bruder Eichmann: Die Analogieszenen im Hörspiel Der Protagonist Die Brisanz des Stückes Bruder Eichmann – und damit auch des Hörspiels – deutet sich bereits in seinem Titel an: Bruder Eichmann158 bezweifelt den Sonderfall des Täters Eichmann, der eben nicht der außergewöhnliche Mörder ist, sondern dessen Perversion gerade in seiner Normalität liegt, und holt damit den ‚Bruder‘ zurück in den Kreis der ‚Familie‘. Dieser Versuch, den Nationalsozialismus und seine Verbrechen als Teil der deutschen Gesellschaft zu begreifen und darüber hinaus aufzuzeigen, dass die ‚funktionale Haltung‘ ein gesellschaftliches Produkt ist, dessen Wurzeln viel tiefer und historisch weiter zurückliegen als die Hitlerdiktatur und auch nach deren Ende noch immer fortwirken, forderte eine harsche, teilweise auch polemische Auseinandersetzung mit dem Drama heraus. Denn Kipphardts Bruder Eichmann diskutiert nach Aussage des Autors den widerspruchsvollen Satz, daß der Mensch einerseits das Objekt der Fremdund Individualgeschichte ist, die er andererseits selbst macht. Konkret formuliert: Wäre ich in ähnlicher Lage wie Eichmann unter ähnlichen Umständen aufgewachsen, wäre ich Eichmann geworden? Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?159

Im Hörspiel bleiben von den 21 Analogieszenen nur sieben erhalten. Im Gegensatz zum Drama sind sie nicht zu ganzen Sequenzen zusammengefasst, in denen sich die ‚Eichmann-Haltung‘ kaleidoskopartig auffächert, _____________ 158 Vgl. zu den intertextuellen Bezügen des Bruder-Motivs die Argumentation von Karbach, der zu jenen Interpreten gehört, die eine Affinität Kipphardts zu Thomas Manns Text „Bruder Hitler“ in Zweifel ziehen. Statt dessen richtet er den Blick auf Bruder-Motive im Alten Testament (Kain und Abel) und in der DDR-Dramatik (vor allem in Heiner Müllers Dramen Germania Tod in Berlin und Hamletmaschine). Karbach: Mit Vernunft zu rasen, S. 370– 373. 159 Heinar Kipphardt in einem Interview mit Fritz Rumler. „Wäre ich Eichmann geworden?“ In: Der Spiegel (15.05.1967); zit. nach Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. Schauspiel und Materialien. Reinbek 1983, S. 189.

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sondern sie sind wie ein szenisches Zwischenspiel in die primäre Handlung eingebettet, die sie jeweils kommentieren oder kontrastieren. Den Höhepunkt der Analogiebildung stellt im Hörspiel der Schluss des ersten Teils dar: die Gegenüberstellung der jüdischen Frau, die vor den Gaskammern von Birkenau gezwungen war, ihre „Schwestern“ zu beruhigen, um sie geordnet in den Tod gehen zu lassen und diese Schuld seelisch nicht überlebte,160 mit dem Monolog eines bundesdeutschen Neonazis, der „die Ausländer, diese dummen Untermenschen“ aus Deutschland „rausschmeißen“ will. (Hs I, 38; • Hörzitat 13) Mit seinen Worten endet die Sendung des ersten Teils von Bruder Eichmann, sie bilden den Höhepunkt und die Quintessenz des Hörspiels, indem das Leiden der Vergangenheit mit derzeitigen politischen Entwicklungen im ‚Bruder‘-Staat BRD verknüpft wird. Die von Kipphardt und seinen Fürsprechern betonte Differenz wird so im Hörspiel wieder eingeebnet. Die Vielfalt der ‚Geschwister‘ aus der ‚Familie Eichmann‘ wird schlussendlich doch auf das ‚schwarze Schaf‘ in der Familie reduziert, das auf der anderen Seite der Mauer lebt. Die Nebenfiguren Es gibt nachvollziehbare Gründe, auch in jeder der Nebenfiguren Brüder Eichmanns zu entdecken, die die funktionale Haltung verkörpern. Hierfür spricht der Umstand, dass mit Ausnahme der Ehefrau Eichmanns alle in ihren jeweiligen Funktionen als Polizist, Gefängnisdirektor, Strafverteidiger, Psychiatrin oder Pfarrer auftreten und mit Ausnahme von Chass ohne private Züge gestaltet werden. Auf der Handlungsebene ist es jedoch vor allem der höchst zweifelhafte Eichmann, der immer wieder versucht, Parallelen zwischen seiner Tätigkeit für das NS-System und der Arbeit des Polizeihauptmanns Chass zu ziehen:161 „Es war, daß Hitler ja von allen Kulturstaaten anerkannt und großenteils sogar bewundert wurde, was sollte da ich mich verweigern, als ein Polizeioffizier wie Sie an Eid und Befehl bedingungslos gebunden bis zum bitteren Ende.“ (Hs I, 6) Chass dagegen ignoriert die Versuche der ‚Verbrüderung‘ Eichmanns und fährt mit seinem Verhör fort; nur in einem kurzen, unbeobachteten Moment lässt er eine erschütternde Ahnung durchscheinen: Er ist einer von den Leuten, die ich im Bus nicht wiedererkennen würde. Das Monster, es scheint, ist der gewöhnliche funktionale Mensch, der jede Maschine

_____________ 160 Der klagende Monolog, eindringlich gesprochen von Käthe Reichel, endet mit dem Satz: „[...] und ich, die ich dies überlebte, überlebte mich nicht“ (Hs I, S. 38; • Hörzitat 13). 161 Vgl. auch Avner Less, der von den “Anbiederungsversuchen” des historischen Eichmanns berichtet. Avner Less: „Nachwort“. In: Jochen von Lang (Hg.): Das Eichmann-Protokoll. Tonbandaufzeichnungen der israelischen Verhöre. Wien 1991, 265–276, S. 267.

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ölt und stark im Zunehmen begriffen ist. In diesen Monaten, schrecklicher Weise, kommen wir uns näher. (Hs II, 11)

Die Kritiker des Dramas, die die vermeintliche Parallelsetzung des israelischen Holocaust-Überlebenden mit dem NS-Verbrecher Eichmann als Affront werteten, sahen sich durch den ‚realen‘ Avner Less, dessen Person als Vorlage für Chass diente, unterstützt. Entschieden verwahrte er sich nach Erscheinen des Dramas gegen die ihm von Kipphardt unterstellte Annäherung: Die gesamte Szene 13 des Stückes ist pure Erfindung. Auch der mir in den Mund gelegte Ausspruch: ‚In diesen Monaten, schrecklicherweise, kommen wir uns näher‘, wurde von mir weder je gesprochen noch gedacht. Die Wahrheit ist, daß Eichmann mir zu keinem Augenblick ‚menschlich‘ näher kam. Er hatte nichts ‚Brüderliches‘ an sich.162

Die auch von Less als Ausdruck der ‚Verbrüderung‘ mit Eichmann interpretierte Szene kann m. E. aber nicht als Parallelisierung der Figuren Eichmann und Chass gelesen werden. Schon beim ersten Versuch Eichmanns, die israelische „politische Polizei“ als „geheime Polizei“ zu betiteln, wird er vom Gefängnisdirektor Ofer berichtigt (Hs I, 4); und im Gegensatz zu Eichmann trägt die Figur des verhörenden Polizisten sehr wohl menschliche Züge: Seine Familie – Opfer der Nationalsozialisten – wird ebenso thematisiert wie seine kranke Frau; und trotz aller Bemühungen, Eichmann so neutral wie möglich zu befragen und persönliche Empfindungen aus Gründen der Professionalität zurückzuhalten, fällt Chass an zwei Stellen aus seiner ‚Rolle‘ und schreit den Gefangenen an: „(schreit) Halten Sie Ihren Mund! Halten Sie Ihren Mund! Halten Sie Ihren Mund! [...] Sie lügen! Sie heucheln! Sie winden sich heraus. Wenn es nach ihnen ginge, dann wäre niemand, niemand, dann wäre nur Hitler zur Verantwortung zu ziehen und der hat sich vergiftet!“ (Hs I, 33; • Hörzitat 12) Der oben benannte Prozess einer Annäherung beschreibt daher eher jene paradoxe Situation, die bereits Hannah Arendt für die Richter im historischen Eichmann-Prozess konstatiert hat: In engem Zusammenhang mit diesem Versagen stand die sichtbare Hilflosigkeit der Richter vor der Aufgabe, der sie sich am wenigsten entziehen konnten, nämlich, den Angeklagten zu verstehen, über den sie zu Gericht saßen. [...] Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind.163

_____________ 162 Avner Less: „So war es nicht!“ In: Theater heute 24.4 (1983): 67. In seinem Nachwort zur Publikation der Verhörprotokolle schreibt Avner Less: „Wir hüteten ihn wie einen Augapfel“, jedoch nicht, weil sich das Gefängnispersonal Eichmann brüderlich verbunden gefühlt hätten, sondern weil der junge Staat Israel der Weltöffentlichkeit einen rechtlich einwandfreien Prozess und damit funktionierenden Justizapparat präsentieren wollte. 163 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 400

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Und auch Avner Less schreibt über seine erste Begegnung mit Eichmann: Doch nun stand plötzlich ein ganz gewöhnlicher Mensch vor mir, wenig größer als ich, eher mager als schlank, mit sehr spärlichem Haarwuchs, kein Frankenstein und kein Teufel mit Klumpfuß und Hörnern. Diese Normalität ließ mich seine leidenschaftslosen Aussagen noch bedrückender empfinden, als ich sie mir aus den Dokumenten erwartet hatte.164

Eichmanns ‚Menschlichkeit‘ ist Arendt und Less zufolge nicht etwa mit Humanität zu verwechseln, sondern bezieht sich eher auf eine Vorstellung von bürgerlicher Durchschnittlichkeit im Kontrast zu sadistischer Vertierung und Verrohung. Das Schreckliche besteht gerade nicht darin, sich selbst in Eichmann wiederzuerkennen, sondern zu begreifen, dass seine Haltung ‚normal‘ ist, dass es eben ‚normal‘ ist, sich in Hierarchien zu fügen und seine Arbeit zu erledigen, und dass diese Anpassungsfähigkeit an gesellschaftliche Erfordernisse in der Person Eichmanns lediglich potenziert und damit pervertiert ist. Die Figur Leo Chass dagegen überdenkt seine Tätigkeit und eventuelle Parallelen zwischen ihm und seinem Häftling. Allein diese Reflexion und seine Fähigkeit, die eigene Person in Frage zu stellen, lassen ihn aus der funktionalen Haltung ausbrechen und eher als einen positiven Gegenentwurf zur Figur Eichmanns erscheinen. Auch Bemerkungen des Gefängnisdirektors Ofer wie „Ich möchte Ihnen doch sagen, Herr Eichmann, daß ich disziplinmäßig nie einen korrekteren Gefangenen kennengelernt habe [...] Die Registratur der Dokumente, fabelhaft“ scheinen in diesem Zusammenhang weniger Ausdruck einer heimlichen Sympathie für den pflegeleichten und peniblen Häftling zu sein als der Akzentuierung seiner Bürokratennatur zu dienen, die nicht einmal im Angesicht des eigenen Todes von menschlichen Anwandlungen irritiert wird. Und so ist es wieder Eichmann, der auf das Lob antwortet: „Das ehrt mich, Herr Direktor. [...] Es bleibt das Aktenmäßige immer das Gleiche irgendwie.“ (Hs II, 1) Außerhalb der Analogieszenen, in denen die funktionale Haltung der Figuren mehr als offensichtlich ist, kommen der Rechtsanwalt Dr. Servatius und das Pfarrerehepaar Hull als ‚Brüder Eichmanns‘ in Betracht. Gerade Frau Hull scheint die christliche Religion in Form von Worthülsen zu verbreiten. Mechanisch zitiert sie ununterbrochen aus der Bibel und behauptet ebenso unreflektiert, während der NS-Zeit wäre kein Christ schuldig geworden. In dieser Hinsicht wird sie allerdings von Eichmann scharf berichtigt: „Sie irren da, gnädige Frau. Katholische und protestantische Geistliche haben jeden Sonntag für den Sieg der deutschen Armeen gebetet und viele von ihnen waren Parteimitglieder.“ (Hs II, 19) _____________ 164 Avner Less: „Nachwort“, S. 265.

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Dr. Servatius, bereits Verteidiger von NS-Kriegsverbrechern während der Nürnberger Prozesse und demnach auch ein ‚Profi‘ auf seinem Gebiet, dem eine funktionale Haltung unterstellt werden darf, versucht – allerdings erfolglos – eine Intervention der Bundesregierung zu erwirken. Er versäumt nicht, bei dieser Gelegenheit die Meilensteine der nationalsozialistischen Biographie des Staatssekretärs im Bundeskanzleramt Hans Globke aufzuzählen: „Ministerialrat im damaligen Innenministerium unter Frick, der den Juden das ‚J‘ in ihren Pässen beschert hat, die Vornamen Sarah und Israel, der Kommentator der Nürnberger Gesetze“, um abschließend festzustellen: „[...] und der deshalb nicht zu tadeln ist, denn er machte das aus katholischen Gründen und um Schlimmeres zu verhüten.“ (Hs II, 7) Wenn Eichmanns Anwalt Servatius Globke im Hörspiel verteidigt, diskreditiert er sich damit selbst und reiht sich ein in die Reihe der ‚Brüder Eichmanns‘; denn in den Ohren der Hörerinnen und Hörer dürfte der Vergleich zwischen Globke und Eichmann auch zwanzig Jahre nach dem Prozess noch geklungen haben. In der ostdeutschen Presse hatte der Jerusalemer Prozess zu Beginn der 1960er Jahre eine Kampagne ausgelöst, die darauf zielte, den Staatssekretär Globke als „Eichmanns Bonner Komplicen“165 oder „Eichmann Bonns“166 zu entlarven und die Bundesregierung auf diese Weise in eine Traditionslinie mit den Nationalsozialisten zu stellen.167 Da im Hörspiel die Vielfalt der Analogieszenen stark eingeschränkt und die Verantwortung der Bundesrepublik für vergangene wie gegenwärtige nationalsozialistische Verbrechen betont wird, verhindert die Radiofassung von Bruder Eichmann die Wirkungsabsicht des Autors. Hatte Kipphardt nach eigener Aussage danach gestrebt, jeden einzelnen in der gegenwärtigen bürgerlichen Gesellschaft für den ‚Eichmann‘ in sich selbst zu sensibilisieren, so verzichtet die Hörspielversion, wie nun zu zeigen sein wird, auf die Möglichkeit, den Hörer selbst anzusprechen und in seiner Haltung zu irritieren. Eichmanns Brüder in der DDR? Inwiefern die Funkfassung den Text Bruder Eichmann für politische Interessen umfunktioniert, belegt bereits der Beginn des Hörspiels: In den Szenen 1–3 des ersten Teils rekapituliert Eichmann – entsprechend der _____________ 165 Vgl. Neues Deutschland (12.4.1961). 166 So die Schlagzeile im Neuen Deutschland (29.07.1961). 167 Eine ausführliche Auswertung der ost- und westdeutschen Reflexion des Jerusalemer Prozesses in den Printmedien bietet Krause: Der Eichmann-Prozeß in der deutschen Presse, speziell zur DDR-Presse S. 208–244.

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Dramenvorlage – seine familiäre Herkunft und seinen beruflichen Werdegang. Hierbei kontrastiert die Hörspielfassung seine Ausführungen zum vorgeblich unpolitischen, religiös orientierten Elternhaus und seinem scheinbar zufälligen Eintreten in die SS am Ende der zweiten Szene mit einer Textstelle aus Hitlers Mein Kampf. Im Drama sollte an dieser Stelle „eine sehr ernste, sehr verführerische Sequenz einer Hitlerrede, die Weltwirtschaftskrise betreffend“ im Original eingespielt werden, während das Publikum im Dunkeln sitzt; die Verführung durch die suggestive Stimme unter Ausschaltung des Visuellen und die Frage an das Publikum, ob es der Sogwirkung unter ähnlichen Umständen hätte widerstehen können, steht so ganz am Anfang des Dramas im Raum. Das Hörspiel dagegen entscheidet sich für eine viel distanziertere Variante: Der auktoriale Sprecher, der in jede Szene des Hörspiels einführt, indem er den Ort der Handlung und auftretende Figuren benennt, liest nun mit sonorer Stimme eine Textstelle aus Hitlers Mein Kampf über die Bildung der Volksgemeinschaft durch Rassegefühl und Blutreinheit. Die technisch-mechanisch wirkende Intonation, an moderne Computerstimmen erinnernd, deren gleichförmige Langsamkeit fast Verwunderung über das Gelesene ausdrückt und von einzelnen klanglichen Akzenten rhythmisiert wird, lässt den Text isoliert und äußerst fragwürdig erscheinen. Enthüllt werden die Anfänge jener Rassenideologie, für die Eichmann als Leiter des sogenannten Judenreferats exemplarisch einstand, jedoch ohne dass die Hörerschaft sich in irgendeiner Weise selbst hierzu in Beziehung setzen müsste. Der in die Handlung eingefügte Text dient also eher dazu, Hintergrundinformationen zu liefern als den Hörer oder die Hörerin im Sinne des Brudermotivs in das verhandelte Thema einzubeziehen. Im Gegensatz zu Theateraufführungen, die es darauf abzielten, das ostdeutsche Publikum und ostdeutsche Schauspieler durch Neuanordnungen von Bühnen- und Zuschauerraum mit Eichmann auf eine Stufe zu stellen, delegiert das Hörspiel Fragen der persönlichen Verantwortung erneut gen Westen. Obwohl es selbst in einer Kritik zum Hörspiel heißt, Ekkehardt Schall als Eichmann würde „das platte Mittelmaß Eichmanns transparent machen, mit dem Aspekt der potentiellen Möglichkeiten eines jeden Menschen, in die Nähe des Verbrechens zu gelangen“168, sind es schlussendlich die USA, Israel und die Bundesrepublik Deutschland, in denen die Brüder Eichmanns leben und wirken. Mitte der 1980er Jahre, nur fünf Jahre vor dem Zusammenbruch des ostdeutschen Sozialismus hatte man sich in der Öffentlichkeit des staatlichen Rundfunks noch immer nicht von den Topoi des Kalten Krieges verabschiedet. Judenverfol_____________ 168 Edith Opelt: „Protokoll des Verbrechens – Kipphardts ‚Bruder Eichmann‘ als Hörspiel“. In: Neue Zeit (19.06.1984); archiviert im DRA Potsdam.

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gung, Deportationen und ‚Endlösung‘ sind inzwischen im thematischen Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus angelangt, jedoch nur, um ein weiteres Mal im ideologischen Kampf gegen den Westen eingesetzt zu werden. Dies ist sicher bereits in der Textvorlage angelegt, an der Kipphardt seit den 1960er Jahren gearbeitet hat; die Bearbeitung für den Rundfunk aber komprimiert diese Ansätze noch einmal, ohne sie für ein Publikum zu öffnen, das durch die DDR-Literatur geradezu darauf trainiert war, Untertöne oder Parabeln aufzuschlüsseln und auf das gegenwärtige Leben in Ostdeutschland zu beziehen. Parallelen zu einer ‚Eichmann-Haltung‘ hätte es in einer Gesellschaft, die nur wenige Jahre später pauschal als Überwachungsstaat mit einem Volk aus Spitzeln verurteilt wurde, sicher viele gegeben.169 3.3.4. Die Stimmen der Opfer Wenn im historischen Prozess – wie in Strafprozessen insgesamt – der Täter im Mittelpunkt steht, dem ein Verbrechen nachgewiesen werden muss, während die Perspektive der Opfer lediglich als Zeugenaussage dient und jenseits dieser Funktion keinen selbständigen Wert in dem Verfahren hat, so hatte die Anklage in Jerusalem dafür gesorgt, dass in dem viel beachteten Schauprozess gerade nicht ausschließlich die Verbrechen Adolf Eichmanns verhandelt wurden, sondern der nationalsozialistische Holocaust in den Blick der Weltöffentlichkeit rückte und die Schilderungen der Opfer die des Täters weit überwogen. Nach einem aufwendigen Verfahren wurden mehr als einhundert Belastungszeugen aus Hunderten von Bewerbern ausgesucht. Die Zeugen sagten in 62 von insgesamt 121 Sitzungen des Gerichts aus, während der Angeklagte in 33½ Sitzungen gehört wurde.170 Offenbar hatte die Anklage die Zeugen so ausgewählt, dass sowohl die unterschiedlichen Staaten, in denen die Nazis gewütet hatten, als auch die Konzentrationslager, mit denen Eichmann mehr oder weniger in Zusammenhang stand, repräsentiert wurden und so ein umfassendes Bild von der Vernichtung des europäischen Judentums entstand.171 _____________ 169 Kipphardt selbst erwähnt in einem Brief an George Tabori, dass sich die EichmannHaltung auch auf Seiten des antifaschistischen Widerstandes wiederfindet: „Bizarr, ich stieß auf Verhaltensmuster, die ich von meinem Vater kannte. Der war aber ein KZ-Häftling in Buchenwald, leidenschaftlicher Anti-Nazi, ein sehr mutiger Mann, der sich für einen Marxisten hielt.“ Brief an Tabori vom 1. September 1978, zit. n. Karbach: Mit Vernunft zu rasen, S. 353. Diese Erkenntnis bleibt im Drama jedoch unausgesprochen. 170 Die Angaben entstammen Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 335. 171 Vgl. Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 337.

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Gideon Hausner hatte seine Aufgabe von Anfang an jenseits seiner juristischen Funktion als Generalstaatsanwalt in der Rolle eines ‚Sprachrohrs‘ der Toten gesehen: An dieser Stelle, an der ich vor Sie trete, Richter in Israel, stehe ich nicht allein. Mit mir treten zu dieser Stunde sechs Millionen Kläger auf. Aber sie können sich nicht mehr erheben. Sie können mit ihren Fingern nicht drohend auf diese Glaszelle weisen und dem Mann, der in ihr sitzt, zurufen: ‚Ich klage an!‘ ... Ihr Blut schreit, aber ihre Stimme ist verstummt. Darum werde ich ihr Mund sein: in ihrem Namen werde ich die furchtbare Anklage erheben.172

Es ist Heinar Kipphardt wiederholt vorgeworfen worden, in Bruder Eichmann den Täter in den Mittelpunkt der Handlung zu stellen. Auf den ersten Blick scheint dies gerade auch für das Hörspiel zu gelten. Durch die Streichungen ganzer Passagen und Szenen wirkt das Hörspiel wie ein akustisches Handlungsspiel, dessen Zentrum die Figur Eichmanns bildet. Die anderen Figuren erfüllen lediglich die Funktion eines Reporters im Interview: Sie befragen ihr Gegenüber, liefern ihm Stichworte oder konfrontieren es mit bestimmten Sachverhalten; sie selbst jedoch bleiben als Charaktere im Hintergrund. Ihre Eigenarten, persönlichen Lebensumstände, Ansichten und Motive scheinen lediglich dann durch, wenn sie in einem Verhältnis zur Hauptfigur stehen, darüber hinaus erhalten sie keine Aufmerksamkeit. Das Hörspiel bietet also der Figur Eichmanns eine Plattform, von der aus er seine ‚Wahrheit‘, seine Sicht auf die Vergangenheit, seine Erinnerungen präsentieren kann. Diese Perspektive wird jedoch im Hörspiel mehrfach gebrochen. Ein wesentlicher Aspekt hierbei ist die akustische Ebene, die neben illustrativen Geräuschen wie Türenklappen, Schritten, Wasserplätschern, Papierrascheln, Telefonklingeln und Schließgeräuschen den gesprochenen Text musikalisch unterlegt. Die atonale Komposition von Herrmann Keller bietet nicht etwa eine atmosphärisch-illusionistische Erweiterung der präsentierten Handlung, sondern kontrastiert an ausgewählten Punkten die Aussagen Eichmanns. Gerade an jenen Stellen, an denen Eichmann versucht, seine eigene Verantwortung herunterzuspielen oder direkt zu leugnen, wecken schrille Klänge die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer und stellen die Semantik klanglich in Frage. Grundsätzlich ist die Musik von zwei Hauptmotiven geprägt: Es treten hohe, schrille Töne von Holz- und Blechblasinstrumenten in Erscheinung, darüber hinaus gibt es tiefe, rhythmische Sequenzen, die durch das Schlagen oder Reißen bassähnlicher Saiten entstehen, akzentuiert durch das Schlagen eines Gongs und eines Bleches. _____________ 172 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 381; die Auslassungen entstammen dem Original.

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Der Klang der eindringlichen, gequälten Töne, die in den meisten Fällen einzeln oder in kurzen Folgen gesetzt werden, trägt einen beunruhigenden Charakter. Er schreckt auf, schärft das Ohr und verleiht den Worten Eichmanns einen warnenden Akzent. Vor allem an Stellen, an denen die ‚Eichmann-Haltung‘ in den Vordergrund tritt, Adolf Eichmann seine Verantwortung vehement leugnet und sich als unpolitischen Bürokraten darstellt, der nur zufällig eine Schlüsselposition im NS-System einnahm, unterbrechen die Töne seine Rede und überführen sie der Lüge. Wer aber könnte die ‚Wahrheit‘, die Eichmann verdeckt, bezeugen, wenn nicht diejenigen, die ihm zum Opfer fielen. Sie verkörpert die Musik der Blasinstrumente. Hier ist die ‚Stimme der Opfer‘ – musikalisch verfremdet – präsent und im Hörspiel permanent anwesend. Sie erklingt nicht nur als Kontrast zu Eichmanns Aussagen, sondern auch in jenen Analogieszenen, in denen die Eichmann-Haltung als gefährlich und menschenverachtend charakterisiert werden soll. Wenn nun allerdings auf jene Analogieszenen im Hörspiel verzichtet wird, in denen Opfer der Eichmann-Haltung verbal Bericht erstatten und auf diese Weise Anklage erheben, führt die musikalische Fassung des Opfer-Motivs auf rezeptionsästhetischer Ebene zu einer Emotionalisierung. Unterschwellig nehmen die Hörerinnen und Hörer Gefahr und Verletzung wahr, ohne dass diese auf der sprachlichen Ebene rationalisiert würden. So verhindert die atonal gequälte Musik einerseits eine empathische Aufnahme der Äußerungen Eichmanns und fördert andererseits eine Identifikation mit den Opfern. Das zweite musikalische Motiv, das starken Variationen unterworfen ist, eher ein düsterer Rhythmus als ein klangliches Element, trägt einen aggressiven Charakter und erklingt häufig an Textstellen, die das nationalsozialistische System, vor allem seine militärischen Organisationen und die Brutalität, die von ihnen ausging, thematisieren. Die Gewalt, mit der das Instrument malträtiert wird, weckt Assoziationen der Zurichtung des Menschen im totalitären System zu einem funktionierenden ‚Teilchen im Getriebe‘. Entsprechend ertönt diese Art Rhythmus verstärkt auch in jenen Analogieszenen, die die ‚Brüder‘ Eichmanns vorstellen. Beispielsweise ist das Interview mit dem Kommandanten des B-52-Bombers Weiss in Vietnam mit einem sehr schnellen, blechernen Rhythmus unterlegt, der sich zum Ende hin steigert und das in seinem Gestus sehr selbstzufriedene, heitere Gespräch – es ist von permanentem Lachen begleitet – zwischen Reporter und Militär kontrastiert. Andererseits begleitet ein ähnlicher, doch langsamerer Rhythmus, ergänzt durch eine Art Hintergrundknarren, die Schilderungen eines überlebenden weiblichen Funktionshäftlings der Gaskammern in Auschwitz. Hieran schließt sich der Monolog des ehemaligen Bundeswehr-Leutnants und Neonazis Kühnen

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unmittelbar an. Er wird von einem aggressiv-blechernen Schlagen begleitet, das – vorerst dem Text unterlegt und den Monolog rhythmisierend – sich zum Ende der Szene in eine wilde Misshandlung des Instruments steigert, während die Lautstärke anschwillt, und mit dessen abruptem Abbruch der erste Teil des Hörspiels endet (• Hörzitat 13). Die musikalisch-rhythmischen Zeichen in Bruder Eichmann gehen so über den traditionellen Einsatz von Geräuschen und Musik im Hörspiel hinaus. Die Komposition dient nicht der Illusionierung oder atmosphärischen Untermalung einer Szene, sondern stellt ein Element der Strukturierung und Interpretation dar, die die Bedeutung des Textes teilweise unterläuft. Handelt es sich bei Bruder Eichmann auf verbaler Ebene um ein Hörspiel in der Tradition der politischen Instrumentalisierung, so relativieren die nonverbalen, auditiven Zeichen diese Ausrichtung. Die medialen Aspekte des Hörspiels und seine Strategien der Authentifizierung wie Differenzierung werden noch einmal auf der Handlungsebene reflektiert, die das Medium Tonband auf unterschiedliche Weise zum Thema macht. 3.3.5. Das ‚Tonband im Tonband‘: Authentifizierungsstrategien Als Gegenstand der Handlung spielt das Tonband eine bedeutende Rolle, die weit über die eines Requisits hinausgeht. Mehrmals wird die Frage aufgeworfen, ob Gespräche, die keinen Verhörcharakter haben, mitgeschnitten werden. Beim Besuch der Psychiatrin Schilch, des Pfarrerehepaars Hull und der Ehefrau Eva Eichmann bleibt das Band aus; hier soll der Eindruck des privaten Gesprächs nicht gestört werden. Die Verhöre durch Chass allerdings werden grundsätzlich aufgezeichnet. Es soll etwas gespeichert und überliefert werden; die Beweggründe der Figuren hierfür sind allerdings unterschiedlich: Während der Polizeihauptmann hofft, das Band im anstehenden Prozess als Beweismittel einsetzen zu können, möchte der selbstbezogene Eichmann seine Memoiren auf Band sprechen. Noch der Abschiedsbrief Eichmanns an seine Familie, der stark testamentarische Züge trägt, wird auf ein Tonband aufgenommen, das später abgeschrieben werden soll. Als Eichmann hier nach einer Unterbrechung durch den Gefängnisdirektor Ofer das Band noch einmal zurückspult, um sein Diktat fortzusetzen, kommt es zur Potenzierung des Medialen, denn, wie es in Dramen hin und wieder ein „Theater auf dem Theater“ gibt, hört man nun ein Tonband auf dem Tonband. In der beschriebenen Szene ist der Effekt entlarvend, denn die letzten pathetischen Worte Eichmanns: „[...] was immer in diesen Tagen in der beherrschten Weltmeinung über mich geschrieben wird, ich versichere Euch –“ (Hs II, 14), klingen in

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der Wiederholung und Verzerrung des Tonbandgeräts schwülstig und antrainiert: „– versichere Euch bei der ewigen Ruhe meiner und Deiner toten Eltern, liebe Vera, bei der ewigen Ruhe meines gefallenen Bruders Helmut und Deinen gefallenen Brüdern, daß ich a. nie getötet habe, b. nie einen Befehl zum Töten gegeben habe.“ (Hs II, 15) Der mechanische Duktus des Diktats macht an dieser Stelle nochmals die automatenhafte Denk- und Handlungsweise Eichmanns deutlich, die bis in seine familiären Beziehungen reicht und auch seinen Umgang mit der Vergangenheit bestimmt. Arendt beschreibt die scheinbar automatisierte Reproduktion vergangener Geschehnisse auch für den historischen Angeklagten im Bild eines Tonbands: Es war als ließe sein Gedächtnis für diese Geschichte [gemeint ist hier das sog. „Madagaskar-Projekt“, M.G.] ein separates Tonband ablaufen – dieses auf Band fixierte und katalogisierte Gedächtnis, das völlig abgesichert zu sein schien gegen Vernunft und Argumente, gegen Informationen und Einsichten jeglicher Art.173

Das Tonband als Speichergedächtnis impliziert an dieser Stelle nicht die objektivierte Aufzeichnung eines authentischen Geschehens durch ein technisches Medium, sondern die Unveränderlichkeit einer einmal produzierten Version von Vergangenheit. Der Beamte Eichmann, mit einer ausgeprägten Vorliebe für Listen und Archive, ist nicht in der Lage, lebendige, demnach menschliche Erinnerungen hervorzubringen. Symbolisiert das Tonband im Hörspiel also einerseits Eichmanns Inhumanität, markiert es andererseits auch das Ablaufen von Lebenszeit. Eichmanns Tage sind gezählt, wie es in zwei Szenen des Hörspiels deutlich wird: Erstmalig während des Verhörs durch Chass im ersten Teil. Nachdem Chass einen Anruf erhalten hat und das Gespräch abbricht, missversteht Eichmann die Situation und fürchtet, ohne Verhandlung auf der Stelle hingerichtet zu werden. Es ist der einzige Moment im Hörspiel, in dem Eichmann die Fassung verliert und um das Fortsetzen des Verhörs bettelt.174 In einem späteren Moment, kurz vor dem Ende des ersten Teils, ist es dagegen Chass, der Eichmanns Unschuldsbeteuerungen mit der Bemerkung abbricht: „Das Band ist fast abgelaufen.“ (Hs I, 37; • Hörzitat 13) Auf der rezeptionsästhetischen Ebene dient das Tonband vor allem der Authentifizierung der Handlung. Nachdem Töne bis in die 1920er Jahre hinein ausschließlich auf Schallplatten aufgezeichnet wurden, erlaubte das Magnettonband seit den 1930er Jahren eine größere räumliche wie ästhetische Flexibilität. Es eignete sich zur kostengünstigen Tonaufnahme, für Schnitt und Montage; vor allem aber ermöglichte es die Aufnahme _____________

173 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 161. 174 „Eichmann: (weicht zurück) Nein! Nein! Ich habe doch, Herr Hauptmann, noch so viel zu sagen!“ (Hs I, 29).

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von akustischen Ereignissen jenseits des Studios. Ohne größere Schwierigkeiten konnte es an den unterschiedlichsten Orten eingesetzt werden, und bereits 1936 wurden erste Live-Aufnahmen auf Tonband festgehalten. Von Beginn an ist das Tonband demnach mit dem Eindruck der LiveAufzeichnung verbunden. Da es für Laien kaum zu unterscheiden ist, ob die Aufnahmen im Studio gemacht wurden oder ob es sich um Originaltöne (O-Töne) handelt, wecken Tonbandaufnahmen in vielen Fällen den Eindruck des Realen und damit auch des Authentischen. Die mediale und inhaltliche Reflexion des Tonbands unterstützt den dokumentarischen Charakter des Hörspiels, denn die Materialien, die Heinar Kipphardt für die Textfassung benutzte, beruhen auf OriginalTonaufnahmen der Verhöre Eichmanns durch Avner Less (der sich wiederum an einigen Stellen auf Tonbandaufnahmen eines früheren Interviews Eichmanns mit Willem Sassen bezieht): Für die Hörspielfassung haben die Tonbänder demnach eine bemerkenswerte Metamorphose durchlebt: Die im Israelischen Gefängnis mitgeschnittenen Aussagen wurden noch vor Ort abgeschrieben, dem Gefangenen in schriftlicher Form vorgelegt und von ihm zur Bestätigung der Richtigkeit Seite für Seite gegengezeichnet. In der Transformation des Schauspiels in eine andere Kunstgattung, ein Hörspiel, wird der Text nun wieder in gesprochene Sprache überführt und auf Tonbänder aufgenommen. Die Stimmen der Sprecher werden abermals ihrer (neuen) Körperlichkeit beraubt. Wie jede andere dokumentarische oder fiktive Sendung, wird das Resultat ‚Hörspiel‘ dann über das Radio einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Auf der Handlungsebene des Hörspiels Bruder Eichmann, das selbst auf Tonband aufgenommen und bearbeitet wurde, wird der Mitschnitt des Verhörs durch Chass an mehreren Stellen betont. In einigen Szenen wird darauf hingewiesen, dass das Tonband nun angestellt werde, begleitet von einem knackenden Geräusch; genaue Datumsangaben werden aufgesprochen, die den dokumentarischen Charakter noch unterstreichen. Auf diese Weise wird dem Hörspiel der Eindruck des Authentischen verliehen, denn der Stoff des Dokumentarhörspiels beruht nicht nur auf historischen Tatsachen, die in den Namen der auftretenden Figuren und wortwörtlichen Textpassagen zitiert werden, sondern es liegt der Eindruck nahe, die im Radio gesendeten Bänder könnten ebensogut eine Schnittfassung jener O-Töne sein, die in den 1960er Jahren in Israel aufgezeichnet wurden. Wie den Jerusalemer Richtern wird dem Radiopublikum die Stimme Eichmanns zum Beweis seiner Schuld vorgespielt. Während dies vor Gericht zu der eher paradoxen Konstellation führte, dass die Stimme des Angeklagten auf einem Tonband als „wichtigster Zeuge“ gegen ihn aussagte, während er selbst hinter Glaswänden anwesend war:

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Die Tonbandaufnahmen aus dem Polizeiverhör [...] wurden vor Gericht in der zehnten der einhunderteinundzwanzig Sitzungen des Prozesses abgespielt, am neunten Tag der nahezu neun Monate, die der Prozeß dauerte. Keine dieser Aussagen des Angeklagten, die da mit seltsam körperloser Stimme vom Tonband abliefen – doppelt körperlos, da der Körper selbst, zu dem diese Stimme gehörte, zwar gegenwärtig war, aber hinter den dicken Glaswänden, die ihn umgaben, seiner Körperlichkeit beraubt zu sein schien –, wurde von ihm selbst oder von seinem Verteidiger bestritten.175

Alle Parteien – der Angeklagte und sein Verteidiger, die Vertreter der Anklage und das Gericht – akzeptieren die Beweiskraft des Tonbands. Warum aber sollte Eichmann als anwesende Person weniger glaubwürdig sein als jene Sätze, die er vor Monaten auf ein Tonband sprach? Hier unterliegen die Hörer dem Glauben an die Apparatur, der Vorstellung, dass das technische Medium ‚objektiv‘ aufzeichnen und wiedergeben würde: ohne Auswahl, ohne Intention oder Interpretation, bestenfalls ohne Störung. Wie die Kamera für die visuellen Medien zeichnet das Tonband als Apparatur auditive Daten auf und überwindet so ihre Flüchtigkeit. Als Speichermedium erweckt es den Eindruck einer unbestechlichen Objektivität. Der Tonband-Stimme des Angeklagten Eichmann, den die Staatsanwaltschaft als notorischen Lügner betrachtete, wird im Gericht von allen Seiten Glauben geschenkt, da sie durch das technische Medium authentifiziert und objektiviert wurde. Dieser Glaube an die Technik wiederholt sich nun vor den Radioapparaten: Die Hörerinnen und Hörer des Hörspiels können objektiv nicht unterscheiden, ob es sich bei den gesendeten Eichmann-Sequenzen um Original-Töne oder um aufgezeichnete Schauspielerstimmen handelt. Allein die vorangestellte Mitteilung, dass es sich hierbei um ein ‚Hörspiel‘ – im Gegensatz zum Feature der FiktionsVerabredung unterworfen – handelt und eine Aufzählung der Sprecher in der Absage, lassen darauf schließen, dass es sich um eine künstlerische Bearbeitung historischer Geschehnisse handelt. Im Schauspiel Bruder Eichmann, wo Theatersituation und unmittelbare Präsenz der Schauspieler den ästhetisch-fiktionalen Charakter der Aufführung herausstellen, dienen eingespielte Filmbänder der Authentifizierung des Dargestellten, indem sie einerseits dokumentarisches Material von den Orten der Vernichtung darbieten und andererseits auf die historische Gerichtsverhandlung verweisen, in der solche Filme ebenfalls vorgeführt wurden.176 Wenn auf diese im Hörspiel verzichtet wird, ist dieser Umstand _____________ 175 Arendt: Eichmann in Jerusalem, S. 177. 176 Vgl. den ersten Teil des Schauspiels, der mit der Vorführung dokumentarischen Filmmaterials endet: „Der Vorführer läßt eine Filmzusammenstellung ablaufen. Filmdokumente über das Warschauer Ghetto, die Befreiung der in Auschwitz überlebenden Häftlinge [...] Aus einer amerikanischen Dokumentation: Frauenlager Mauthausen [...]“ (D 95 f.).

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nicht nur den auditiven Beschränkungen des Hörspiels geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass die Authentifizierung bereits durch das Medium selbst geleistet wurde.

4. Einbruch des Irrealen Ilse Aichinger: „Knöpfe“ 4.1. Aichingers ‚Poetik der Übersetzung‘ als Schreibverfahren der Holocaust-Erinnerung Seit der Veröffentlichung ihres ersten und einzigen Romans Die größere Hoffnung 1948 kennzeichnet die Rezeption des Werkes der Österreicherin Ilse Aichinger eine Polarisierung, wie sie Gisela Lindemann treffend beschrieben hat: Ich kenne kaum einen zeitgenössischen deutschsprachigen Autor, der, wie Ilse Aichinger, so sehr einerseits die schrankenlose Bewunderung der Kenner und Eingeweihten genießt und andererseits derartig extrem der aggressiven Ungeduld der durchaus Interessierten, aber mit dem Werk noch wenig Vertrauten ausgesetzt ist und deren oft geradezu übergriffartiger Zudringlichkeit – bis hin zu der Aufforderung nach einer öffentlichen Lesung, sie möge doch bitte mal erklären, was sie da eben gelesen habe. In der Mitte zwischen diesen beiden Extremen gibt es, bei Lesern und auch bei Rezensenten, eine ganze Skala des inneren Widerstands, von vorsichtiger Skepsis bis zum unverhohlenen Vorwurf der Weltflucht, der Weltfremdheit.177

Die Irritation, die von ihren Texten – nach dem Roman Kurzprosa, Dialoge, Hörspiele, Lyrik – ausgeht, resultiert aus einer Schreibweise, die gerade nicht auf sinnstiftende Narration zielt, sondern darauf, „eine vernichtete Welt zu erinnern“178 – in einer Sprache, die sich, ebenso fragmentarisch wie poetisch verdichtet, einer schlichten Rezeption verweigert. Dieses eigenwillige Schreibprinzip ist immer wieder Gegenstand der Forschung, die versucht, Aichingers „Poetologie der Transzendenz“179, ihre „Poetik des Vergessens“180, „Poetik der Negation“181, „Poe_____________ 177 Gisela Lindemann: Ilse Aichinger. München 1988, S. 8. 178 Nicole Rosenberger: Art. „Ilse Aichinger“. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur. Jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. v. Andreas B. Kilcher. Stuttgart, Weimar 2000. 7–10, S. 7. 179 Almuth Hammer: „‚Die Engel träumen uns‘. Zur Poetologie der Transzendenz bei Ilse Aichinger“. In: „Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u. Barbara Thums. Würzburg 2001. 93–107. 180 Barbara Thums: „Poetik des Vergessens“. In: „Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u. Barbara Thums. Würzburg 2001. 108–123.

Aichingers ‚Poetik der Übersetzung‘

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tik des Widerstands“182, „Poetik des Ungefügten“183 oder „Mythopoetik“184 usf., um nur einige zu nennen, zu umreißen. Die 1921 in Wien geborene Autorin ist mütterlicherseits jüdischer Herkunft und wurde im katholischen Glauben erzogen. Nach der Annexion Österreichs durch die Nationalsozialisten war Aichingers Mutter vor der Deportation geschützt, solange sie ein, wie es in der Terminologie der Nazis hieß, „halbjüdisches“ minderjähriges Kind betreute. Aichingers Zwillingsschwester konnte nach England flüchten, während die Angehörigen der Mutter, darunter die Großmutter Ilse Aichingers, die ihr sehr nahe stand, in Vernichtungslagern ermordet wurden. Lediglich der Roman Die größere Hoffnung, veröffentlicht 1948, wird in der Forschung ausnahmslos der Holocaust-Literatur zugeordnet. Anstelle einer realistischen und chronologischen Schreibweise überträgt Aichinger hier ihre persönlichen Erfahrungen im nationalsozialistischen Wien in verfremdende poetische Bilder, die in Anlehnung an das expressionistische Stationendrama in loser Folge angeordnet sind. Sie verknüpft reale und irreale Handlungsebenen und Orte sowie verschiedene Zeitebenen so kunstvoll miteinander, dass sich Traum und Wirklichkeit, Vernunft und Imagination ineinanderschieben. Traum, Spiel, allegorische, biblische und historische Figuren haben den gleichen Wirklichkeitsgrad wie die Realität der handelnden Figuren in historisch konkreten Zeiten und Orten. Hierbei nutzt Aichinger die spezifische Logik von Traum, Spiel, Lied und Märchen, um in der kindlichen Perspektive der Protagonistin die Wirklichkeit in ihrer ganzen Perversion sichtbar zu machen. Trotz aller phantastischen Elemente bleibt die historische Wirklichkeit als Referenz im Text präsent. Es handelt sich bei Aichingers Roman eben gerade nicht um eine Verklärung der Wirklichkeit ins Lyrische, wie häufig behauptet, sondern um eine Übersetzung der Wirklichkeit in Sprach-Bilder, die den Sinn und die Bedeutung neu zuordnen und die Realität prägnant reflektieren. Diese Sinnstiftung durch Bedeutungszuweisung bestimmt nicht nur das Schreibkonzept, sondern auch die Handlungsebene des Romans, indem sie als autonomer Akt charakterisiert wird. Die Protagonistin Ellen wie auch die anderen jüdischen Kinder und ebenso die Großmutter setzen den gewaltsamen Zuschreibungen der Nationalsozialisten ihre eigene _____________ 181 Sigrid Schmid-Bortenschlager: „Poetik der Negation“. In: Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Hg. v. Heidy Margrit Müller. Bielefeld 1999. 21–30. 182 Beatrice Mall-Grob: „Ilse Aichinger – Poetik des Widerstands“. In: Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Hg. v. Heidy Margrit Müller. Bielefeld 1999. 47–70. 183 Nicole Rosenberger: Poetik des Ungefügten. Zur Darstellung von Krieg und Verfolgung in Ilse Aichingers Roman „Die größere Hoffung“. Wien 1998. 184 Barbara Thums: „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“. Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers. Freiburg i. Br. 2000, S. 61.

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Deutung der Welt entgegen.185 Auf diese Weise entziehen sie sich zwar nicht der äußeren Verfolgung, erringen aber eine innere Freiheit. Es handelt sich nicht um eine Flucht vor der Realität, sondern um eine sprachliche und/oder spielerische Aneignung der Welt als Moment des Widerstands. Die sprachliche Selbstermächtigung zu Sinngebung und Sinnstiftung entlarvt einerseits die vermeintlich ‚natürliche‘ und ‚wahre‘ Bedeutungszuschreibung in der Sprache als willkürlich und ist andererseits als Zeichen der Autonomie und der Subversion charakterisiert. Im Romankapitel „Im Dienst einer fremden Macht“ werden Ellen und ihre Freunde auf dem Dachboden mit ihrem alten Lehrer Noah, der ihnen in Zeiten des Krieges und der Vernichtung Englisch lehrt, von einer Gruppe Hitlerjungen überrascht. Ein vor dem Haus verlorenes Vokabelheft wies ihnen den Weg zum Versteck unter dem Dach. Über das Heft, das im Regen auf der Straße lag, heißt es: In der Mitte der Gasse lag auf dem grauen Pflaster ein offenes Schulheft, ein Vokabelheft für Englisch. Ein Kind mußte es verloren haben, Sturm blätterte es auf. Als der erste Tropfen fiel, fiel er auf den roten Strich. Und der rote Strich in der Mitte des Blattes trat über die Ufer. Entsetzt floh der Sinn aus den Worten zu seinen beiden Seiten und rief nach einem Fährmann: Übersetz mich, übersetz mich! Doch der rote Strich schwoll und schwoll und es wurde klar, dass er die Farbe des Blutes hatte. Der Sinn war immer schon in Gefahr gewesen, nun aber drohte er zu ertrinken, und die Worte blieben wie kleine verlassene Häuser steil und steif und sinnlos zu beiden Seiten des roten Flusses. Es regnete in Strömen, und noch immer irrte der Sinn rufend an den Ufern. Schon stieg die Flut bis zu seiner Mitte. Übersetzt mich, übersetzt mich! (81)

Auch die Hitlerjungen erkennen den trennenden Strich zwischen den deutschen und den englischen Wörtern als Blutspur und antworten dem Übersetzung fordernden Sinn: „Eher soll der Sinn ertrinken, als daß wir das Blut verraten.“ (82) Wie an anderer Stelle im Leitmotiv des Sterns wird die NS-Rassenideologie – die trennende Blutspur – in ein Bild gefasst, das ihre Absurdität und Gewaltförmigkeit verdeutlicht und sie gleichzeitig an die Sprache rückbindet.

_____________ 185 Exemplarisch hierfür ist das Leitmotiv des Sterns, das sich durch den Roman zieht und immer wieder neue Deutungen erfährt. Ursprünglich als Davidstern Symbol des Königs der Juden, wird er von den Nationalsozialisten zur rassischen Stigmatisierung der jüdischen Bevölkerung missbraucht. In der kindlichen Welt Ellens aber erfährt er eine fortwährende Umwertung ins Positive: Er erscheint als Morgen- und Abendstern, als Stern Davids, als Stern von Bethlehem, als Zeichen der Identität, der inneren Freiheit, als Zeichen der „größeren Hoffnung“. Vgl. auch Thums, die zu Recht darauf verweist, dass mit dem Widerstandspotential auch die Gefahr der Vernichtung einhergeht. Thums: Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede, S. 86.

Aichingers ‚Poetik der Übersetzung‘

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Die später immer wieder gestellte Frage der jüdischen Kinder nach dem Sinn des Englischlernens angesichts geschlossener Grenzen, beantwortet Noah mit den Worten: Wer von euch ist kein Fremder? Juden, Deutsche, Amerikaner, fremd sind wir alle hier. Wir können sagen ‚Guten Morgen‘ oder ‚Es wird hell‘, ‚Wie geht es Ihnen‘, ‚Ein Gewitter kommt‘, und das ist alles, was wir sagen können, fast alles. Nur gebrochen sprechen wir unsere Sprache. Und ihr wollt das Deutsche verlernen? Ich helfe euch nicht dazu. Aber ich helfe euch, es neu zu erlernen, wie ein Fremder eine fremde Sprache lernt, vorsichtig, behutsam, wie man ein Licht anzündet in einem dunklen Haus und wieder weitergeht. […] Übersetzen, über einen wilden, tiefen Fluß setzen, und in diesem Augenblick sieht man die Ufer nicht. Übersetzt trotzdem, euch selbst, die andern, übersetzt die Welt. An allen Ufern irrt der verstoßene Sinn: Übersetz mich, übersetz mich! Helft ihm, bringt ihn hinüber. (90 f.)

Aichinger fordert hier auf der Handlungsebene jene Sprachfindung ein, die auch ihr Schreiben bestimmt: ein erneutes Erlernen der eigenen Sprache, als würde es sich um eine Fremdsprache handeln. Sie fordert den verfremdenden und befremden Gebrauch der Wörter, um sie mit einer Bedeutung zu versehen, die über den banalen alltäglichen und sinnentleerten Gebrauch hinausgeht. Gleichzeitig ermöglicht diese ‚Poetik des Übersetzens‘186 – der neuen Zuordnung von Zeichen und Sinn – eine Form der Verständigung über die Grenzen hinweg, die hier als wilder, tiefer Fluss oder als Blutspur charakterisiert sind. Auch in dem nur wenige Jahre später entstandenen Hörspiel Knöpfe ‚übersetzt‘ Aichinger die historische Wirklichkeit in Sprach- und Hörbilder, hinter die vordergründige Vorstellungen von Realität zurücktreten. Sie gilt es in einem beharrlichen Prozess des Freilegens von Bedeutungen zu entschlüsseln, ihre semantischen Zusammenhänge zurückzuübersetzen und dabei den verschiedenen Konnotationen, die einander überlagern und widersprechen, Geltung zu verschaffen. Die folgende Interpretation beansprucht daher keine Kohärenz – denn sie wird im Hörspiel geradezu verweigert –, sondern zielt darauf ab, die verschiedenen Aspekte einer weiblichen Holocaust-Erinnerung in Aichingers Hörspiel offenzulegen.

_____________ 186 Vgl. hierzu auch Thums ausführliche Entwicklung der „Denkfigur des Übersetzens“ im Roman mit Bezug auf den biblischen Mythos vom Turmbau zu Babel. Barbara Thums: „Mythopoetik: Strukturen mythischen Erzählens“. In: dies.: „Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede“. Mythos, Gedächtnis und Mystik in der Prosa Ilse Aichingers. Freiburg i. Br. 2000. 61–185, speziell S. 93–114.

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4.2. Das Motiv der Verwandlung in „Knöpfe“ Im Hörspiel Knöpfe187 fasst Aichinger die Holocaust-Erinnerung in das Motiv einer Verwandlung von Menschen in Gegenstände, bindet es an Vernichtung und Tod zurück und bettet es gleichzeitig in die realistische und gegenwärtige Kulisse einer Fabrik, vermutlich im England der 1950er Jahre, ein. In Zeiten wirtschaftlicher Rezession findet die Protagonistin Ann eine Anstellung als Sortiererin in einer Knopffabrik. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen, Jean und Rosi, erträgt sie die unmenschlichen Arbeitsbedingungen in der Fabrik, bis sie erkennt, woher die Knöpfe stammen, die die Frauen täglich sortieren: Auf geheimnisvolle Weise verwandeln sich die Fabrikarbeiterinnen selbst im Laufe der Zugehörigkeit zum Unternehmen in das Produkt, das sie verarbeiten. Ein bedrohlicher Prozess von geistiger und körperlicher Erstarrung verwandelt sie in kleine, glänzende Knöpfe von besonderer Ausstrahlung und Anziehung. Mit dem Erscheinen eines neuen Knopfes im Sortiment bleibt die jeweilige Arbeiterin verschwunden, der neue Knopf trägt ihren Namen, wird tausendfach vervielfältigt und verkauft sich trotz der ökonomisch schwierigen Zeiten hervorragend. Unterstützt von ihrem Freund John, einem arbeitslosen Hafenarbeiter, gelingt es Ann unter großen Anstrengungen, sich selbst vor der Verwandlung zu bewahren; ihre Kollegin Jean allerdings verlässt, in Schmuckknöpfe verwandelt und unzählige Male reproduziert, die Fabrik und gelangt zu Höchstpreisen in den Handel. Die Diskrepanz zwischen dem vordergründig irrealen, geradezu märchenhaften Motiv der Verwandlung, dessen literaturgeschichtliche Tradition bis in die Antike zurückreicht und mit Kafkas Die Verwandlung einen Höhepunkt der Moderne markiert, und seiner konsequenten Situierung in der gegenwärtigen Realität macht den ästhetischen Reiz, aber auch das kritische Potential des Hörspiels aus. Gerade die Selbstverständlichkeit, mit der Aichinger in ihren Hörspielen die Grenzen traditioneller Genres – Märchen, Sage, Mythos, phantastische Literatur, Science Fiction usw. – sprengt, verhinderte eine adäquate Rezeption von Knöpfe seit der Erstsendung am 16.12.1953 im SDR/NWDR, aber auch die Möglichkeit einer Produktion im DDR-Rundfunk. Während Eichs Träume (Erstsendung im NDR 1951) mit fast 30 Jahren Verspätung am 30.08.1981 im Radio DDR II lief, konnte Aichingers Knöpfe erst am Ende der 1980er Jahre, am 21. Dezember 1989, im Berliner Rundfunk gesendet werden. War es zu Beginn der 1980er Jahre zumindest legitim, Traumsequenzen als metapho_____________ 187 Ilse Aichinger: „Knöpfe“. In: dies.: Auckland. Hörspiele. Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Bd. 6. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991. 11–73. Soweit nicht anders vermerkt, werden Zitate im laufenden Text nachgewiesen.

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rischen Spiegel der Realität einzusetzen, brauchte es fast eine weitere Dekade, bis die Verwandlung von Frauen in Gegenstände nicht mehr als intellektuelle Spielerei einer überzüchteten bundesdeutschen Hörspielästhetik abgetan werden musste. Dabei galt Knöpfe im Vergleich zu den späteren Dialogen und Hörspielen der Autorin als leicht interpretierbar, denn es bringt eine noch nachvollziehbare Handlung und greifbare Figuren zu Gehör. Der Blick auf die Rezeptionsgeschichte offenbart allerdings, dass sich die vorherrschende Deutung des Hörspiels in einer schlichten Kritik am industrialisierten Arbeitsleben erschöpft, die sich bereits bei Heinz Schwitzke findet: [Aichingers] Hörspiel Knöpfe, in dem Fabrikarbeiterinnen – durch die unmenschliche Gleichheit ihres Arbeitsprozesses oder vielleicht auch infolge der Schablone, der sie freiwillig nachlaufen – eine nach der andern ihre Individualität verlieren und sich in Knöpfe verwandeln, hat noch einen einfachen Sinnvorgang: eben diesen zunehmenden Individualitätsverlust, der natürlich auch nur in gleichnishafter Abstraktion darzustellen ist.188

Entsprechend folgte man noch 1989 in der Ankündigung des Berliner Rundfunks dieser eindimensionalen Interpretation, die dem Reichtum an Deutungsmöglichkeiten des Hörspiels nicht gerecht wurde und seine Auseinandersetzung mit dem Holocaust schlichtweg ausblendete. Die Zusammenfassung des Inhalts im Kontrollexemplar der Abteilung „Internationale Funkdramatik“ lautet: „Symbolisches Stück über die Entfremdung im kapitalistischen Produktionsprozeß.“189 Doch auch jüngere Forschungsarbeiten zur Literatur Aichingers übersehen die Relevanz von Knöpfe. So schreibt auch Bettina Bannasch, Aichinger formuliere im Hörspiel „eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft“.190 Diese einseitige Wertung ist hier umso erstaunlicher, als Bannasch die späteren Hörspiele Aichingers sehr wohl in die Tradition von (Holocaust-)Erinnerung und Vergessen stellt.191 Auch andere Autorinnen, die sich ausführlich mit der Holocaust-Erinnerung Aichingers beschäftigt haben, überhören diese Dimension im Hörspiel Knöpfe.192 _____________ 188 Heinz Schwitzke: Das Hörspiel. Dramaturgie und Geschichte. Köln, Berlin 1963, S. 371. 189 Ilse Aichinger: Knöpfe. Kontroll-Exemplar (Typoskript). DRA Potsdam. Signatur: B 009-0005/0777, Deckblatt. 190 Bettina Bannasch: „Bildungsgut und Schlechte Wörter. Die Hörspiele Ilse Aichingers“. In: „Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u. Barbara Thums. Würzburg 2001. 147–166, S. 158, Anm. 33. 191 Bannasch: „Bildungsgut und Schlechte Wörter“, S. 154 ff.; ebenso Heidy Margrit Müller: „Verwandlung und Entwandlung. Zur Dialektik der Selbstaufhebung in Knöpfe und Zu keiner Stunde“. In: Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Hg. v. ders. Bielefeld 1999. 121–136, S. 122. 192 Barbara Thums: „Poetik des Vergessens“. In: „Was wir einsetzen können, ist Nüchternheit“. Zum Werk Ilse Aichingers. Hg. v. Britta Herrmann u. Barbara Thums. Würzburg 2001. 108–123; dies.: Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede.

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Aus diesem Grund soll vorerst das in Knöpfe zentrale Motiv der Verwandlung vor dem Hintergrund von Aichingers ‚Poetik der Übersetzung‘ und dem Hörspiel der 1950er Jahre herausgearbeitet und interpretiert werden. Es gilt zu zeigen, dass der Bedeutungshorizont des Hörspiels gerade in der Überblendung von Individualitätsverlust, Kritik an Geschlechterverhältnissen und Holocaust-Erinnerung begründet liegt. Aus diesem Grund wendet sich die Analyse vorerst dem Hörspieltext von 1953 zu, um die bisher in der Forschung vernachlässigten Aspekte der Holocaust-Erinnerung nachzuzeichnen. Erst im Anschluss daran werden die Rundfunkproduktionen des SDR/NWDR (1953) und des Rundfunks der DDR (1989) vergleichend vorgestellt. 4.2.1. Metamorphosen und Verwandlungen im Hörspiel der 1950er Jahre Der aus dem Griechischen stammende Begriff ‚Metamorphose‘ bezeichnet den Wechsel oder den Wandel einer (äußeren) Gestalt und wird ins Deutsche gemeinhin mit ‚Verwandlung‘ übersetzt.193 Während man seit der griechischen und römischen antiken Literatur – z. B. in den Metamorphosen des Ovid194 – von einer Metamorphose im Sinne einer Verwandlung spricht, bei der ein Wesen seine Gestalt plötzlich und mit Hilfe übersinnlicher Kräfte ändert, wird der Begriff seit dem 17. Jahrhundert von Naturwissenschaftlern benutzt, um Entwicklungsprozesse, vor allem von Insekten, zu beschreiben.195 Clemens Heselhaus verweist in seiner Abhandlung „Metamorphose-Dichtung und Metamorphose-Anschauung“ ausdrücklich darauf, „daß dieser Begriff nicht zuerst ein naturwissenschaftlicher Begriff ist und daß er bis zuletzt seine symbolische Bedeutung gehabt hat.“196 Speziell in Goethes Arbeiten zur Metamorphose der Pflanzen und später auch der Tiere am Ende des 18. Jahrhunderts spiegelt sich die vollzogene Bedeutungsverlagerung von der mythischen ‚Verwandlung‘, bei der „noch alles aus allem werden“197 kann, zur ‚Entwicklung‘ der dem _____________ 193 Vgl. Wolfgang Pfeifer (Hg.): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin 21993, S. 866. 194 Vgl. auch Heidy Margrit Müllers differenzierten Vergleich zwischen den Verwandlungen in den Texten Aichingers und Ovids Metamorphosen. Heidy Margrit Müller: „Verwandlung und Entwandlung. Zur Dialektik der Selbstaufhebung in Knöpfe und Zu keiner Stunde“. In: Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Hg. v. ders. Bielefeld 1999. 121–136, speziell S. 133 ff. 195 William Harvey führte den Begriff 1651 bezüglich der Insektenentwicklung ein. Vgl. Clemens Heselhaus: „Metamorphose-Dichtung und Metamorphose-Anschauung“. In: Euphorion 47.2 (1953): 121–146, S. 142. 196 Heselhaus: „Metamorphose-Dichtung und Metamorphose-Anschauung“, S. 142. 197 Ernst Cassirer: Die Philosophie der symbolischen Formen. Bd. II: Das mythische Denken. Darmstadt 1969, S. 62.

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Wesen innewohnenden Anlagen aufgrund des Wirkens allgemeiner Naturgesetze.198 Die stufenweise Ausbildung der Organe der Pflanze überträgt Goethe auch auf die Selbst-Bildung des Menschen, der sich im Wechsel von „Verselbstung und Entselbstung“199 formt und sich seinem eigentlichen Wesen annähert. Diese Metamorphose der Höherentwicklung und Vervollkommnung vollzieht sich im Wachstum gegebener Anlagen.200 Die Gegenüberstellung der historisch differenzierten Begriffe der Metamorphose bei Ovid und Goethe erlaubt eine Unterscheidung zwischen der Metamorphose im Sinne von (gesetzmäßiger) Veränderung, wobei „das, was sich verändert, zugleich dasselbe bleibt“, und der Verwandlung, bei der „etwas auf einmal und als Ganzes ein anderes ist“.201 In den Szenen und Dialogen Zu keiner Stunde202, die wenige Jahre nach Knöpfe, 1957, erschienen, entwirft Aichinger wie in ihren Hörspielen eine Wirklichkeit in ‚entfremdeten‘203 Bildern. Dabei treten Figuren auf, „die alles andere als nüchtern und alltäglich beobachtbar“204, aber trotzdem weder metaphorisch noch symbolisch zu deuten sind, sondern Realität beanspruchen.205 Es entsteht eine Anzahl von Texten, in denen Verwandlungen von Menschen in andere Daseinsformen, z. B. in Tiere oder Gegenstände, vorgeführt werden.206 _____________ 198 Vgl. Johann Wolfgang v. Goethe: „Die Metamorphose der Pflanzen“. In: ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. 1. Abt. Bd. 3. Weimar 1887 ff., S. 85– 87. 199 Christa Lichtenstern: Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 1. Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes: von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys. Weinheim 1990, S. 3. 200 Heselhaus: „Metamorphose-Dichtung und Metamorphose-Anschauung“, S. 146. 201 Hans Georg Gadamer: „Hermeneutik I. Wahrheit und Methode“. In: Gesammelte Werke I. Tübingen 1986, S. 116 f. 202 Ilse Aichinger: Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Richard Reichensperger. Bd. 7. Frankfurt a. M. 1991. 203 Ilse Aichinger: „Die Sicht der Entfremdung. Über Berichte und Geschichten von Ernst Schnabel“. In: Frankfurter Hefte 9 (1954): 46–50. 204 Dagmar Lorenz: Ilse Aichinger. Königstein/Ts. 1981, S. 41. 205 Heinz F. Schafroth schreibt: „Die apodiktische Installierung des Paradoxen kennzeichnet zu jeder Zeit die Wirklichkeitserfahrung in Ilse Aichingers Werk, macht seine Konsequenz aus und stellt innerhalb einer durchaus überraschenden, radikalen Entwicklung die irritierende und provozierende Konstante dar.“ Heinz F. Schafroth: Art. „Ilse Aichinger“. In: KLG – Kritisches Lexikon zur dt. Gegenwartsliteratur. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1989, S. 2. 206 Im Dialog „Tauben und Wölfe“ beispielsweise, von dem noch an anderer Stelle die Rede sein wird, lockt ein altes Ehepaar ein Mädchen auf ihre Geflügelfarm, um es schließlich in eine Taube zu verwandeln; den Band Zu keiner Stunde, in dem dieser Dialog veröffentlicht wurde, eröffnet der Text „Französische Botschaft“, in dem ein Polizist versucht, wiederum ein Mädchen zu überreden, sich mit ihm in eine Statue zu verwandeln. Ilse Aichinger: „Tauben und Wölfe“. In: dies.: Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Werke. Taschenbuch-

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Überhaupt finden sich Verwandlungen in auffälliger Häufung im deutschsprachigen traditionellen Hörspiel der 1950er Jahre. Als Ilse Aichinger 1953 Knöpfe verfasste, hatte Günter Eich die Tradition der Verwandlungen im Hörspiel mit Sabeth (1951), Die Andere und ich (1952) und Der Tiger Jussuf (1952) bereits eröffnet. Sie setzt sich beispielsweise in Ingeborg Bachmanns Die Zikaden (1955) und Wolfgang Hildesheimers Herrn Walsers Raben (1960) fort.207 In den Hörspielen von Günter Eich dienen die Verwandlungen von Menschen in Tiere (und umgekehrt) sowie von Individuen in andere Individuen vor allem der „Infragestellung der Identität des Menschen und seiner Existenz bzw. [der] Verschränkung von Identitäten“.208 Sie drücken das Bedürfnis und die Suche nach der verdrängten anderen Seite des Ichs aus, nach einem einheitlichen Ursprung der Welt. Insofern stellen die Hörspiele Eichs – wie in der Sekundärliteratur zu den Hörspielen der 1950er Jahre immer wieder bestätigt wird209 – eine Abkehr von den konkreten Lebensumständen dar, da sie den Eindruck vermitteln, der Mensch könnte in einer Einheit mit sich und der Welt leben, wenn er nur die Fähigkeit entwickelte, hinter die vordergründige ‚Wahrheit‘ zu schauen und die metaphysischen Gegebenheiten zu erkennen. Diese Auffassung lässt sich aber nicht auf alle Verwandlungshörspiele des traditionellen Hörspiels übertragen, denn gerade die jungen österreichischen Autorinnen Ingeborg Bachmann210 und Ilse Aichinger, die in den fünfziger Jahren mit Hörspielen debütierten, nutzten das Verwandlungsmotiv für eine Gesellschafts- und Kulturkritik, die vor allem gegen eine Verdrängung der jüngsten NS-Vergangenheit anschrieb. So thematisiert Bachmann in Die Zikaden (1955) Weltflucht, Erinnerungsverlust und Entmenschlichung: Auf einer unbenannten Insel im Mittelmeer haben sich die Aussteiger aus der bürgerlichen Gesellschaft des Festlandes nach dem Krieg versammelt, um zu vergessen. Die Insel, die seit Morus’ Utopia als Inbegriff des utopischen Raumes gilt, bietet bei Bachmann aber keinen Ort für einen Neuanfang. Er bleibt Illusion; Vergessen und Ausstieg aus der Geschichte sind nur um den Preis des Ver_____________ 207 208 209 210

ausgabe in acht Bänden. Bd. 7. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991. 91– 98; Ilse Aichinger: „Französische Botschaft“. Ebd., S. 11–14. Im DDR-Rundfunk finden sich Hörspiele mit mythischen oder märchenhaften Elementen außerhalb des Kinderprogramms erst in den 1980er Jahren. Vgl. Sibylle Bolik: Das Hörspiel in der DDR. Themen und Tendenzen. Frankfurt 1994, S. 280. Rainer Hannes: Erzählen und Erzähler im Hörspiel. Ein linguistischer Beschreibungsansatz. Marburg 1990, S. 174. Vgl. Margret Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel. Frankfurt a. M. 1985, S. 37. Ingeborg Bachmann: „Die Zikaden“. In: dies.: Werke. Hg. v. Christine Koschel u. Inge von Weidenbaum Bd. 1. München 1978, S. 217–268, S. 268.

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lusts der Menschlichkeit zu erlangen. Hieran erinnert die Inselbewohner der mittägliche Gesang der Zikaden, die einst selbst Menschen waren; er warnt sie vor der drohenden Verwandlung in ein Tier. Das Hörspiel endet mit der Höreransprache des Erzählers: Nun? Hier ist eine Insel, und was willst du? […] Willst Du nicht aufstehen und sehen, ob diese Hände zu gebrauchen sind? Oder willst du dir die Welt erlassen und die stolze Gefangenschaft? Such nicht zu vergessen! Erinnere dich! Und der dürre Gesang deiner Sehnsucht wird Fleisch.211

Was die Verwandlungen in traditionellen Mythen und Märchen verbindet – das Fiktionalitätsabkommen mit den Rezipientinnen und Rezipienten –, trennt sie von denen im Hörspiel. Es ist speziell die Doppelfunktion des Rundfunks als Medium der Unterhaltung und Nachrichtenübermittlung, die dem Hörspiel im Zusammenhang mit den technischen Möglichkeiten der Umsetzung eine besondere Authentizität verleiht und die Verwandlung als ‚reales‘ Geschehen erscheinen lässt. Auch in den Hörspieltexten selbst wird immer wieder behauptet, das von den Protagonisten Erlebte und vom Publikum Gehörte sei kein Traum. Die Hörspielautorinnen und -autoren beanspruchen, Realitäten zu zeigen, auch dort, wo es sich auf den ersten Blick um „unmöglich[e] und dem Naturgesetz widersprechend[e]“212 Vorgänge handelt.213 Die Authentizitätsbehauptung und die meist fehlende Rückverwandlung grenzen die Verwandlungshörspiele von jenen häufigen Hörstücken ab, in denen der Traum das zentrale Motiv darstellt. Traumhörspiele eröffnen ebenfalls ‚irreale‘ Räume, thematisieren die Ängste und Hoffnungen der Menschen in ähnlichen Bildern und Symbolen, lassen sich aber immer psychologisch erklären und entschlüsseln. Über ihr Hörspiel Knöpfe sagt Aichinger, es sei „das einzige wirklich realistische Hörspiel, das [sie] gemacht habe, wo zwei Leute in Knöpfe verwandelt werden“.214 Der Widerspruch zwischen einem herkömmlichen Realismus-Begriff und dem irrationalen Verwandlungsmotiv könnte kaum beherzter überschritten werden. Da es sich bei der Verwandlung geradezu _____________ 211 Bachmann: „Die Zikaden“, S. 267. 212 Heselhaus: „Metamorphose-Dichtung und Metamorphose-Anschauung“, S. 123. 213 Vgl. die Reden zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden von Günter Eich und Wolfgang Hildesheimer. Schriftsteller und Hörspiel. Reden zum Hörspielpreis der Kriegsblinden. Hg. v. Klaus Schöning. Königstein/Ts. 1981, S. 20–23 u. 27–29. 214 „Ilse Aichinger im Gespräch mit Richard Reichensperger“. Literarisches Colloquium Berlin, 31. Oktober 1996, gesendet im DeutschlandRadio Berlin am 30. November 1996; zit. n. Klaus B. Kaindl: „Gegensätze? Ilse Aichingers Hörspiele“. In: Ilse Aichinger. Text + Kritik 175. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Gastredaktion: Roland Berbig. München 2007. 49–56, S. 50.

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um ein „Leitmotiv“215 der Texte Aichingers handelt, soll es im Mittelpunkt der folgenden Analyse des Hörspiels stehen. 4.2.2. Die Verwandlung als Holocaust-Erinnerung in „Knöpfe“ Die Topographie im Hörspiel Knöpfe folgt einer geradezu strengen Symmetrie, die von einem Innen und einem Außen bestimmt ist: Die Fabrik wird als geschlossener Raum entworfen, der in seiner trockenen, stickigen Hitze für Stagnation und Tod steht, während dem kühlen, nassen Meereswind des Hafengeländes draußen Entwicklung, Leben und Vergänglichkeit zugeschrieben werden.216 Die Dualität von drinnen und draußen kennzeichnet auch die Figurenkonstellation. Die Arbeiterinnen Jean, Rosie und Ann bilden mit den Vertretern Bill und Jack sowie dem arbeitslosen John drei Paare; wobei die Verbindung zwischen Ann und John, der als einziger mit dem Raum außerhalb der Fabrik assoziiert wird, das Verhältnis aus dem Gleichgewicht bringt. Die zeitliche Zugehörigkeit zum Unternehmen bestimmt den Grad der Verwandlung der jeweiligen Arbeiterin: Je länger sie in der Knopffabrik arbeitet und den dortigen Bedingungen als auch den Manipulationen durch die Knopfvertreter Bill und Jack ausgesetzt ist, desto stärker ist sie emotional und physisch an sie gebunden, desto mehr ist sie aber auch von Müdigkeit und Lähmung befallen.217 Die endlose Arbeitszeit erscheint ihr nach und nach ebenso erträglich wie die ständige Hitze. Zudem verliert sie _____________ 215 De Felip stellt neben „Verwandlung und Entwandlung“ die Leitmotive „Zeit“ und „Vergänglichkeit“ für Aichingers „Zu keiner Stunde“ heraus. Eleonore De Felip: Die Zumutung einer Sprache ohne alle Gewähr. Ilse Aichingers Szenen und Dialoge „Zu keiner Stunde“. Innsbruck 2005, S. 17. 216 Hafennähe und die Namen der Figuren verweisen darauf, dass Aichinger Erfahrungen ihrer ersten Englandreise verarbeitet hat, die sie 1952 in „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“ beschreibt: „Der erste große Eindruck, den ich nach den Kriegserlebnissen hatte, war eine Reise nach England, es war auch das erste fremde Land, das ich sah. Vielleicht ist es mir deshalb gleich vertraut gewesen, weil das Meer dort überall nahe ist, weil einen das Bewußtsein, auf einer Insel zu sein, das Gefühl der Küstennähe dort nie verläßt. [...] Am liebsten waren mir die Hafenviertel, das Eastend und die Docks, und ich habe auch hier den Kai am liebsten, die Donau, Gegenden mit Schiffen und Brücken, an denen noch gebaut wird, und von allen Jahreszeiten den Herbst.“ Ilse Aichinger: „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“. In: Ilse Aichinger. Materialien zu Leben und Werk. Hg. v. Samuel Moser. Frankfurt a. M. 1990. 23–24, S. 23. 217 Ilse Aichinger: „Die Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist“, S. 24. Vgl. auch die positive Konnotation des Meeres im Roman Die größere Hoffnung. Hier bestand die „große Hoffnung“ des halbjüdischen Mädchens Ann zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft darin, mit ihrer Mutter über das Meer in die Freiheit zu flüchten. Ilse Aichinger: Die größere Hoffnung, S. 17.

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das Bedürfnis, die Fabrik zu verlassen. Vor allem aber hört sie das Geräusch, das Ann zu Beginn noch regelmäßig in Panik versetzt, nicht mehr. Das beängstigende Geräusch erhält durch seine besondere Stellung in der Exposition des Hörspiels eine zentrale Funktion für die Handlung. Durch eine mysteriöse Wand dringt es unregelmäßig in die Fabrikhalle, in der die Frauen arbeiten. Die Wand betont als materielle Begrenzung die Geschlossenheit des Raumes und symbolisiert zudem eine soziale Demarkationslinie, aber auch eine Grenze des Wissens218 zwischen den männlichen Vertretern und den Arbeiterinnen in der Fabrik. Hinter der Wand lassen die Vertreter geheimnisvolle Dinge geschehen, die nur akustisch zu den arbeitenden Frauen hinüberdringen und sie ängstigen. Erst mit ihrer eigenen Verwandlung – und der damit einhergehenden Vernichtung – werden die Frauen ‚hinter die Wand‘ und an das Wissen um die tatsächlichen Geschehnisse gelangen. Der Prozess der Gewöhnung an die unmenschlichen Verhältnisse in der Fabrik gipfelt in der körperlichen Veränderung, die sich vor allem an der schon seit zwei Jahren an diesem Ort arbeitenden Jean vollzieht. Ihr Gesicht wird runder und glatter (24): „ANN ängstlich Im luftleeren Raum, jetzt weiß ich’s, Jean. So siehst du aus. [...] Als wärst du im luftleeren Raum. Als bliebst du so.“ (21) Während die Veränderung zuerst von einer anderen Person benannt wird, beschreibt Jean im Folgenden selbst ihre Verwandlung. Mit einem Gefühl der grenzenlosen Müdigkeit erstarrt der Körper der Frau: JEAN Alles wird kleiner, wenn man so müde ist. [...] Mir scheint, daß auch mein Mund kleiner wird, Mund und Augen – [...] Mund und Augen, Rosie, aber ich kann sie nicht schließen. Wenn ich so müde bin, werden mir die Augen klein, ohne daß ich sie schließen könnte. Nur du wirst groß, Rosie, du wirst riesengroß – [...] Ich kann die Augen nicht mehr schließen. Als blieben sie immer so, klein und halboffen, als hätte ich zwei Lücken im Kopf, sonst nichts. (22 f.)

Nicht nur in ihrer Selbstwahrnehmung wird Jean immer kleiner; die Veränderungen werden auch von Außenstehenden bestätigt. Ihr Kopf und seine Öffnungen schrumpfen; Letztere lassen sich – wie Knopflöcher – nicht mehr schließen: Der Kopf der Arbeiterin Jean ist zu einem Knopf geworden. Die letzte Möglichkeit der Rettung scheint auf, wenn Ann zurückkehrt und Jean auffordert, sie nach draußen zu begleiten, wo der Wind ihr guttun würde, Jean sich aber entscheidet, auf Bill zu warten (23).219 Als dieser mit dem seltsamen Geräusch hinter der Wand tatsäch_____________ 218 Im Laufe des Hörspiels wird deutlich, dass das Wissen der Arbeiterinnen auch von ihnen selbst begrenzt wird, denn es ist auch ein Nicht-Wissen-Wollen, das ihre Haltung bestimmt. Die Wand begrenzt somit auch den geistigen Raum, den der Vorstellungskraft. 219 Diese Verwandlung erinnert an den bereits erwähnten Dialog „Französische Botschaft“. Den Überredungen des Polizisten, sich mit ihm für die Ewigkeit in eine Statue zu verwan-

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lich erscheint, ist Jean bereit, alles zu tun, was Bill von ihr verlangt. Sie hat inzwischen nicht mehr die Kraft, Augen und Ohren zu benutzen: BILL Dann bist du wohl so weit? JEAN Dann bin ich so weit. BILL Dann hätten wir dich, Jean. JEAN Noch kleiner als ich dachte. (24)

Auf den letzten Satz folgt erneut das „Geräusch“, diesmal „sehr stark“ (24). Nach ihrer Verwandlung erscheint Jean nicht mehr in der Fabrik. Eine Woche nach ihrem Verschwinden taucht der neue Knopf auf, der ihren Namen trägt und binnen kurzer Zeit in zunehmender Anzahl verfügbar ist. Das Thema ‚der Mensch in der modernen Arbeitswelt‘ ist der naheliegendste und am meisten strapazierte Zugang zum Hörspiel Knöpfe: Das Hörspiel problematisiert die industrielle Arbeitswelt, indem es einerseits die skrupellose Vereinnahmung von Menschen im Dienst ökonomischer Interessen anprangert, andererseits die Bequemlichkeit, Denkfaulheit und naive Gutgläubigkeit der allzu anpassungswilligen und geradezu autoritätssüchtigen jungen Arbeitnehmerinnen kritisch beleuchtet.220

Es gibt zahlreiche Argumente, die diese Lesart stützen: So bildet die Arbeit in der Knopffabrik den Lebensmittelpunkt der Protagonistinnen, sie ist monoton und stellt keine besonderen Anforderungen an die Mitarbeiterinnen. Sie sortieren Knöpfe, um sie zu zählen und in Schachteln zu verpacken. Wie die Fabrikarbeiterinnen, von denen beispielsweise Franz Kafka in einer Tagebucheintragung von 1912 berichtet, werden sie, bis in ihre Gesichtszüge hinein durch die monotone Tätigkeit entmenschlicht: Gestern in der Fabrik. Die Mädchen in ihren an und für sich unerträglich schmutzigen und gelösten Kleidern [...], mit dem vom unaufhörlichen Lärm der Transmissionen und von der einzelnen, zwar automatischen, aber unberechenbar stockenden Maschine festgehaltenen Gesichtsausdruck, sind nicht Menschen [...] Ist es aber sechs Uhr und rufen sie das einander zu, binden sie die Tücher vom Hals und von den Haaren los, stauben sich ab [...], ziehn sie die Röcke über die Köpfe und bekommen sie die Hände rein, so gut es geht, – so sind sie schließlich doch Frauen, können trotz Blässe und schlechten Zähnen lächeln, schütteln den erstarrten Körper [...]221

_____________ deln, begegnet das Mädchen mit den Hinweisen auf den Wind, die heranziehenden Wolken und den nahenden Winter, die den stetig blauen Himmel verändern würden. Auch im Hörspiel Knöpfe setzt Aichinger der Erstarrung in der immer gleichbleibenden Hitze des Raumes die kühlende, Veränderung bringende Bewegung des Windes entgegen. Ilse Aichinger: „Französische Botschaft“, S. 13 f. 220 Heidy Margrit Müller: „Verwandlung und Entwandlung. Zur Dialektik der Selbstaufhebung in Knöpfe und Zu keiner Stunde“. In: Verschwiegenes Wortspiel. Kommentare zu den Werken Ilse Aichingers. Hg. v. ders. Bielefeld 1999. 121–136, S. 122. 221 Franz Kafka: „Tagebucheintragung vom 5. Februar 1912“. In: Franz Kafka: Tagebücher 1910–1923. Frankfurt a. M. 1951, S. 246–248, S. 247 f. Zu Aichinger in der Tradition Kaf-

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Nach Arbeitsschluss verlassen auch die Knopfsortiererinnen in Aichingers Hörspiel die Fabrik. Ann, um mit John durch den Abend zu spazieren, Rosie, um zu ihren Eltern zu gehen. Sie können die von Kafka beschriebene Rückverwandlung in ein menschliches Wesen anfangs noch vollziehen. Im Laufe des Hörspiels nimmt aber die Arbeitsintensität zu, denn da eine der Arbeiterinnen ausgefallen ist, muss nun auch sonntags gearbeitet werden. Die Abende verbringen die Frauen öfter mit den männlichen Arbeitskollegen, so dass eine körperliche wie auch geistige Entfernung von der Tätigkeit und damit eine Rückverwandlung immer weniger möglich sind. Die Abstumpfung durch die immer gleichbleibende, anspruchslose Arbeit führt erst zu psychischen und dann auch physischen Veränderungen bei den Arbeiterinnen.222 Körperlich beginnen sie, den Gegenständen ihrer ständigen Aufmerksamkeit zu ähneln, bis sie selbst zu einem Produkt werden; da man sie wie leblose Objekte benutzt, verlieren sie ihre Menschlichkeit. Ihre Individualität wird den Marktanforderungen, die der industrialisierte Produktionsprozess stellt, angepasst – Gleichheit wie beim Massenartikel Knopf ist gefragt: „ROSIE Alle finden es, ich bin hübscher geworden. Meine Mutter sagt auch, sie hätte sich früher nicht mit mir sehen lassen können, aber jetzt – jetzt sehe ich endlich so aus wie alle andern.“ (25) Die zeitgenössischen Umstände im Europa der 1950er Jahre rechtfertigen die Lesart von der Darstellung eines inhumanen Arbeitslebens: In Deutschland gelten die fünfziger Jahre als Zeit des Wirtschaftswunders. Von den persönlichen Kriegstraumen wird durch eine betont optimistische Weltsicht, die keinen Rückblick erlaubt, abgelenkt. Die neuen Technologien erhalten zunehmend Macht über die Werktätigen, die so spezialisiert arbeiten, dass die eigentliche Herstellung als geheimnisvolles Mysterium erscheinen kann. Zu arbeiten und für materiellen Wohlstand zu sorgen gilt als Hauptaufgabe der Menschen. Margret Bloom schreibt über „Das Leben im ‚Wirtschaftswunder‘“: Arbeit, Fleiß und Tüchtigkeit sind allerhöchste Werte; [...] das Fließbandsystem wird verstärkt eingesetzt, die Arbeitshetze verschärft und der Arbeitstag durch „Überstunden“ verlängert. Wirtschaftsminister Erhard fordert die Konzernlei-

_____________ kas gibt es zahlreiche Forschungsbeiträge; exemplarisch: Gertrud Bauer Pickar: „‚Kalte Grotesken‘. Walser, Aichinger, and Dürrenmatt and the Kafkan Legacy. In: Crossings = Kreuzungen: a Festschrift für Helmut Kreuzer. Hg. v. Edward R. Haaymes. Drawer 1990. 115– 143; Müller: „Verwandlung und Entwandlung. Zur Dialektik der Selbstaufhebung in Knöpfe und Zu keiner Stunde“, speziell S. 132 f.; vgl. auch Ilse Aichinger: „Die Zumutung des Atmens. Zu Franz Kafka“. In: dies.: Kleist, Moos, Fasane. Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Bd. 5. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991. 102–107. 222 Vgl. auch Schwitzke: Das Hörspiel, S. 371.

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tungen auf, „eine Ordnung zu schaffen, die das Letzte an Energie aus den Menschen herauszuholen versteht“.223

Die Deutung des Hörspiels lässt sich aber keinesfalls auf diese Kritik an den zeitgenössischen Produktionsweisen beschränken, da die Elemente, welche auf eine Thematisierung der jüngsten Vergangenheit und der gesellschaftlichen Restauration in den fünfziger Jahren hindeuten, nicht zu überhören sind. Diese in den vorliegenden Interpretationen existierende Leerstelle wurde jedoch allein von Gisela Lindemann zu Beginn der 1990er Jahre mit Blick auf Aichingers Dialog „Tauben und Wölfe“ und die Verwandlungshörspiele von Bachmann, Eich und Hildesheimer benannt: „Sie alle leben von solcher Verwandlungskunst, von solch märchenhaft unalltäglichen Ereignissen. Allerdings war diese Verwandlungskunst wenige Jahre zuvor einmal ein schauerlich alltägliches Ereignis gewesen.“224 Damit eröffnet Lindemann schlaglichtartig den so lange verweigerten225 Blick auf das Hörspiel als Verarbeitung der Erfahrung des Holocaust. Eine genauere Analyse von Knöpfe unter diesem Aspekt unterbleibt allerdings auch hier. Im Hörspiel werden die Vernichtungslager der Nationalsozialisten in Erinnerung gerufen, wenn sich nach und nach herausstellt, dass das Geräusch hinter der Wand eben „doch nicht ganz wie Regen“ oder „wie Hagel“, sondern „wie das Prasseln von Feuer“ (15) klingt, und Rosie gar von „elektrischen Öfen“ (18) spricht, die die Assoziationen an die Verbrennungsöfen, in denen nur wenige Jahre zuvor Millionen von Leichen beseitigt wurden, und an den elektrischen Stuhl, der bis heute der Vollstreckung der Todesstrafe dient, in sich vereinen. Zudem findet auch das inzwischen ikonographisch zu nennende Bild von Gleisen und Zügen, die in Hörspielen wie Filmen über den Holocaust zum Symbol der Deportationen wurden, im Text Erwähnung: Die Frauen können von der Fabrik aus „draußen von den Gleisen die Züge“ (51) pfeifen hören. Die Topographie zwischen Meer und Bahn deutet an, was wenige Jahre später in Aichingers Verwandlungstext „Tauben und Wölfe“ stärker herausgearbeitet werden wird: Die in diesem Dialog zentrale Geflügelfarm, vergleichbar mit der Fabrik in Knöpfe, liegt schlecht einsehbar zwischen dem Fluss als Rettungsoption und den Bahngleisen, die einerseits für den Warenhandel, _____________ 223 Margret Bloom: Die westdeutsche Nachkriegszeit im literarischen Original-Hörspiel, S. 185. Das Zitat Ludwig Erhards stammt aus der Stuttgarter Zeitung (12.05.1955). 224 Gisela Lindemann: Ilse Aichinger. München 1988, S. 91. 225 Vor Lindemann findet sich ein einzelner Hinweis auf die Interpretation des Hörspiels als Anspielung auf den Holocaust im unveröffentlichten Kommentar von Oskar Negt (NDR III am 30.12.1976), in dem der Autor die Sortierabteilung mit einem Gefängnis und die Produktion mit einem Krematorium vergleicht, zitiert bei Barbara Schubert-Felmy: „Anpassung und Aufbruch. Aspekte in Ilse Aichingers Hörspiel ‚Knöpfe‘“. In: literatur für leser 4.3 (1981): 170–184, S. 173.

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andererseits für Deportationen bestimmt sind. In „Tauben und Wölfe“ ist darüber hinaus mehrfach die Rede von einem Kohlehaufen, der wie das Geräusch des Feuers in Knöpfe an die Verbrennungen erinnert. Die Lagebeschreibung des Frauen-KZ Ravensbrück bei Sigrid Jacobeit weist verblüffende Ähnlichkeiten mit den topographischen Parametern bei Aichinger auf: Ravensbrück lag verkehrsmäßig nahe einer […] Fernstraße, der heutigen B 96, und einer entsprechenden Eisenbahnlinie mit Anschlußgleisen sowie an der Havelwasserstraße im brandenburgisch-mecklenburgischen Seengebiet. Trotzdem erlaubte diese Landschaft, das FKL von der Umwelt abzuschirmen und Neugierigen einen Blick in das Lager zu verwehren.226

Doch auch Auschwitz drängt sich als historische Referenz auf, denn „[es] lag auf einer flachen, etwas höher gelegenen Ebene entlang den Bahngleisen und dem Fluß, etwa fünf Kilometer östlich des Ortes Auschwitz“227, wobei die „Nähe von Wasser und Kohle, die günstigen Verkehrsverbindungen“228 die Standortwahl der IG Farben für den Bau ihrer Fabrik bestimmten. Die Ausbeutung der KZ-Häftlinge entwickelte sich speziell in den letzten Kriegsjahren zu einem wichtigen ökonomischen Faktor.229 Die Häftlinge wurden, solange sie körperlich dazu in der Lage waren, in Massen zur Zwangsarbeit für deutsche Konzerne herangezogen. Die grausamen Arbeitsbedingungen sicherten einen größtmöglichen Gewinn und führten gleichzeitig zu dem Ziel der ‚Vernichtung durch Arbeit‘. Diese Vernichtung findet im Hörspiel Entsprechungen in der Sonntagsarbeit230, den unmenschlichen Temperaturen231 und dem Ersatz zugrunde gegangener Arbeiterinnen durch neue232. _____________ 226 Sigrid Jacobeit: „Zur Arbeit weiblicher Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück“. In: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939–1945. Hg. v. Hermann Kaienburg. Opladen 1996. 199–209, S. 200. 227 Peter Hayes: „Die IG Farben und die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz“. In: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939–1945. Hg. v. Hermann Kaienburg. Opladen 1996. 129–148, S. 134. 228 Hayes: „Die IG Farben und die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen im Werk Auschwitz“, S. 136. 229 Hermann Kaienburg: „Einleitung“. In: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939–1945. Hg. v. dems. Opladen 1996, S. 7–16, S. 7. 230 „Sonntagsarbeit mußte jahrelang, in manchen Lagern immer, bis mittags oder nachmittags mit verhältnismäßig kurzen Unterbrechungen geleistet werden.“ Eugen Kogon: Der SSStaat. Das System der deutschen Konzentrationslager. München 1946, S. 98. 231 In Sigrid Jacobeits Beitrag zu den Arbeitsbedingungen im Frauen-KZ Ravensbrück findet sich folgende Aussage einer ehemaligen Gefangenen über den Einsatz in der Uniformschneiderei, die bedrückende Ähnlichkeit mit den Verhältnissen in der Knopffabrik in Aichingers Hörspiel aufweist: „Da die Fenster nachts zugehängt wurden, und da es in den Werkhallen, in denen zu gleicher Zeit 900 bis 1000 Personen arbeiteten, keinerlei Ventilation gab, herrschten oftmals Temperaturen von 35 Grad Celsius. Wenn man morgens um

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Wie die Häftlinge in den Konzentrationslagern beherrscht eine diffuse Angst die Arbeiterinnen im Hörspiel. Das unheimliche Geräusch der Vernichtung wird zwar in den ersten Sätzen eingeführt, jedoch ohne dass es als solches benannt werden könnte: JOHN Hast du es heute wieder gehört, Ann? ANN Ja. Wie immer. Kurz bevor ich wegging. JOHN Und die andern? Hören die es auch? ANN Jean sagt, man gewöhnte sich so daran, daß man es zuletzt nicht mehr hört. Sie ist schon zwei Jahre in der Abteilung und hört es fast nicht mehr. Und auch Rosie sagt, sie hätte zuerst Angst davor gehabt. (13; • Hörzitat 14; Hervorhebungen MG)

Es ist die „Angst vor der Angst“ – wie ein Kapitel in Die größere Hoffnung überschrieben ist –, die Ann auf das Geräusch warten lässt und sie andererseits davon abhält, die Vertreter nach seiner Herkunft zu fragen. Instinktiv ist allen drei Arbeiterinnen klar, dass Fragen verdächtig ist und die Entlassung – oder Schlimmeres – zur Folge haben könnte, aber auch, dass das Wissen um die Ursache des Geräuschs – und damit das Wissen um die Herkunft der Knöpfe – die Arbeit in der Fabrik unmöglich machen würde. Denn das Geräusch wird bei der Herstellung der außergewöhnlichen Zierknöpfe erzeugt, die die Frauen sortieren. Es begleitet also die ‚Verwandlung‘ von Frauen in Knöpfe. Wären die Arbeiterinnen sich dieses Umstandes wirklich bewusst, könnten sie die Arbeit, die von ihnen als lebenswichtig erachtet wird, unmöglich verrichten. Die aktive Verdrängung ist für sie überlebensnotwendig: „ROSIE Laß mich in Frieden, Ann, ich wills nicht wissen.“ (52) Eine weitere schmerzliche Parallele zwischen Hörspiel und NS-Historie tut sich auf – dass es die Opfer selbst waren, die gezwungen wurden, in sogenannten ‚Sonderkommandos‘ an der eigenen Vernichtung teilzuhaben. Sie waren gezwungen, die Gaskammern zu reinigen, den Toten die Goldzähne herauszubrechen, ihnen die Haare zu schneiden und die Leichen der Verbrennung zuzuführen.233 _____________ 5.00 Uhr wegging – mitunter herrschten draußen minus 25 Grad Celsius – machten uns diese Temperaturunterschiede schwer zu schaffen.“ Sigrid Jacobeit: „Zur Arbeit weiblicher Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück“. In: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939– 1945. Hg. v. Hermann Kaienburg. Opladen 1996, S. 199–209, S. 203. 232 Ein ehemaliger Häftling berichtet über die Arbeit im Untertagekommando Bad Salzungen: „Nicht wenige von meinem Transport starben schon nach wenigen Wochen an Entkräftung – sie wurden im Krematorium in Bad Salzungen verbrannt. Aber was machte das schon aus, die toten Häftlinge wurden vom Bestand abgeschrieben und neue Häftlinge aus dem KL Buchenwald nahmen ihren Platz ein.“ Kaienburg: „Einleitung“, S. 7. 233 „Hierauf zogen die Häftlinge des Sonderkommandos [...] die Leichen heraus, nahmen ihnen die Ringe ab und schnitten ihnen die Haare ab, die, in Säcken gesammelt, in Fabriken zur Verarbeitung verschickt wurden.“ Kogon: Der SS-Staat, S. 132.

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Nicht „Bequemlichkeit, Denkfaulheit und naive Gutgläubigkeit“234, sondern der äußere Druck, unter dem Rosie, Jean und Ann leiden, stellt einen der wichtigsten Gründe für ihre Kraftlosigkeit dar, die Jean und Rosie schließlich in die eigene Tötung einwilligen lässt.235 Der österreichische ehemalige KZ-Häftling Eugen Kogon berichtet in seinem bereits 1946 veröffentlichten Bericht Der SS-Staat236 von folgendem Phänomen: „Von verschwindenden, geringfügigen, völlig unerheblichen Ausnahmen abgesehen, haben sich die KL-Gefangenen, ob einzeln, in Gruppen oder in Massen, wenn sie zur Hinrichtung, in welcher Form immer, geführt wurden, niemals zur Wehr gesetzt!“237 Als Gründe für dieses Verhalten gibt er neben „politischem Verantwortungsbewußtsein“238 vor allem die Willensgebrochenheit an: „Sie ließen mit sich geschehen, was eben geschah, weil alle Kräfte in ihnen gelähmt oder bereits vernichtet waren.“239 Den Hauptgrund für den widerstandslosen Untergang sieht Kogon aber in der Vermassung der Häftlinge: Tatsache ist, daß eine Masse niemals Willen besitzt [...] Die seelischen Kräfte sind Individualbesitz, sie nehmen, wenn sie nicht von Führern zusammengefasst werden, im Maße der zunehmenden Zahl ab, nicht zu – die Einsicht sowohl, wie die Entschlossenheit. Der Einzelne wird in der Menge zum nichts, er fühlt keine persönliche Verantwortung mehr; aufgelöst, ja geborgen folgt er der Richtung des Ganzen, auch in den Abgrund.240

Die Vermassung der Arbeiterinnen – in das Bild der vielen Knöpfe gefasst – verhindert auch eine Auflehnung gegen die Verwandlung im Hörspiel. Bis in die Wortwahl hinein finden sich Parallelen im Hörspiel, in dem den gelähmten Arbeiterinnen immer wieder Geborgenheit (67) versprochen wird. Auch die Berge von Haaren, Schuhen und Brillen, die man in der Gedenkstätte Auschwitz als beklemmende Überbleibsel der Vernichtung noch heute sehen kann, finden als Knopfberge ihre Entsprechung im Hörspiel:

_____________ 234 Müller: „Verwandlung und Entwandlung“, S. 122. 235 Andere Interpreten führen diese Verhaltensweisen vornehmlich auf die „individuelle Disposition“ zurück; vgl. Heidy Margrit Müller: „Verwandlung und Entwandlung“, S. 128; oder auf „[d]ie Anfälligkeit für Manipulation“ als „angeborene Eigenschaft“; Maciej Drynda: Kritik der Weltbilder im Prosawerk Ilse Aichingers. Ein Versuch über die Poetik der Verweigerung. Poznań 2001, S. 151. 236 Kogon: Der SS-Staat. 237 Kogon: Der SS-Staat, S. 318. 238 Kogon: Der SS-Staat, S. 318. 239 Kogon: Der SS-Staat, S. 319; Hervorh. M.G. 240 Kogon: Der SS-Staat, S. 320; Hervorh. M.G.

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ROSIE [...] Aber weshalb hast du sie hier zu einem Berg gelegt? ANN Weil ich sie anschauen wollte. ROSIE Gibst du sie nicht ins Fach? Als Ann nicht antwortet Wie sie leuchten. ANN Ist es nicht schon matter? ROSIE Mir reicht es, es ist auch erst acht. Fast jubelnd Aber ich habe jetzt immer das Gefühl, daß es bald finster wird, Ann, immer! (49)

Die Finsternis steht in Aichingers Roman Die größere Hoffnung immer wieder für die Zeit des Nationalsozialismus. Im Roman ist es allein der Davidstern, der in dieser Dunkelheit leuchtet: „Leuchten mußte man, wenn es so dunkel war, und wie sollte man leuchten, wenn nicht durch den Stern.“241 Wie der gelbe Stern leuchten auch die besonderen Knöpfe im Hörspiel gerade in der Finsternis an den Kleidern ihrer Besitzerinnen. Im Gegensatz zum Stern aber bringen sie ihren Trägerinnen nicht die „Stärke und kollektive Identität“242, sondern fungieren als Schmuckstück, dessen fremde Identität nicht bereichert, sondern als Zeichen der Vernichtung erneut zerstört. Im Gegensatz zu ihrer ursprünglichen Funktion, auf dekorative Weise Dinge zusammenzuhalten,243 spalten sie die Identität des Menschen, der sich mit ihnen schmückt. In der Dunkelheit verwandelt sich das Gesicht des Betrachters: Fragmentiert erscheinen zusammenhanglose Bruchstücke, Körperteile fremder Personen, die in seinem Antlitz aufscheinen und ihn sich selbst und seinem Gegenüber entfremden: ANN Als hättest du andere Augen und einen anderen Mund. JOHN Es ist der Knopf. […] Es ist das Licht von dem Knopf. Es glänzt, wie ich mir denke, daß Knochen glänzen. ANN Weißt du, wie du jetzt aussiehst, John? Als hättest du Mund und Nase und Ohren und alles für sich. Als wärst du Mund und Nase und Augen und Ohren, aber nicht du, als hielte nichts dich zusammen. Als wärst du’s gar nicht, John, als wärst du’s nie gewesen! (28 f.)

Es sind die Überreste der Toten, die sich auf den Gesichtern der Lebenden und Überlebenden spiegeln und deren bruchlose Identität zerstören. Die Unmöglichkeit einer kohärenten autobiographischen Erzählung deckt sich in der Holocaust-Erinnerung mit den Schwierigkeiten einer kohärenten Geschichtsschreibung: Soll der ständig erfolgende Verweis auf den besonderen Charakter der Massenvernichtung als bürokratisch und industriell mehr gewesen sein als eine rhetorische Figur für das gesteigerte Böse, so findet er seinen tieferen Sinn darin, daß die fabrikmäßig erfolgte millionenfache Stanzung von Lebensgeschichte in ein

_____________ 241 Aichinger: Die größere Hoffnung, S. 101. 242 Sigrid Weigel: „Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger“. In: Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts. Hg. v. Inge Stephan, Regula Venske u. Sigrid Weigel. Frankfurt a. M. 1987. 11–37, S. 21. 243 Vgl. auch Sabine I. Gölz: „Buttons“. In: Substance. A Review of Theory and Literary Criticism 68 (1992): 77–90, S. 82.

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gleichförmiges tödliches Schicksal dem Ereignis im nachlebenden Bewußtsein jegliche Erzählstruktur nimmt. Die abstrakte, statistisch verfaßte Vervielfachung eines sich gleichförmig wiederholdenden Todes – bürokratisch und industriell […] – entzieht dem Geschehen ein vom Bewußtsein eingefordertes angemessenes Narrativ.244

Mit den Knöpfen, einem alltäglichen allgegenwärtigen Gebrauchs- und Schmuckgegenstand als Sinnbild für den industriellen Massenmord bricht die Holocaust-Erinnerung in den Alltag der Nachkriegsgesellschaft ein. Ausführlich formuliert Ann die schmerzliche Leerstelle, die ihre spurlos verschwundene Kollegin hinterlassen hat: ANN Jean wird auch sonst an keinem Fenster lehnen. […] Weil sie nicht mehr da ist. […] Nein, nicht mehr da, nicht hier und auch nicht unten auf der Straße. Wenn du jetzt Schritte hörst, so sind sie nicht von Jean. […] Und wenn du draußen von den Gleisen die Züge pfeifen hörst, so kannst du sicher sein: Jean ist in keinem. Sie steigt jetzt nirgends aus und streift ihr Haar zurück, sie geht durch keine Sperre. […] Sie ist auch nicht auf irgendeinem von den Booten, die draußen liegen oder abgefahren sind, und es gibt keinen Lift, in dem sie eben hochfährt, und kein Zimmer, selbst wenn es noch so dunkel wäre, in dem sie eben ist! (51 f.)

Assoziationen an die unzähligen Toten, von denen nichts, nicht einmal die sterblichen Überreste oder eine Grabstelle geblieben ist, werden aufgerufen in den Zügen, die die Frauen von der Fabrik aus hören können und die wieder an Deportationen erinnern wie die Boote, die einigen wenigen die Flucht ermöglichten. Was bleibt, ist ein Gegenstand, der nur dem Namen nach an sein vorheriges Leben erinnert, im Unterschied zur Dialektik von Leben, Vergänglichkeit und Tod zur Ewigkeit verdammt ist und nicht mehr rückverwandelt werden kann.245 Die teuren Knöpfe, die auf undefinierbare Art leuchten und „wie Knochen“ (28) glänzen, stellen noch einen weiteren Zusammenhang zwischen den im Hörspiel dargestellten Verhältnissen und der Konzentrationslagermaschinerie her: Nach ihrer Arbeitskraft nutzte man noch die Überreste der ermordeten Häftlinge zur Bereicherung. In Buchenwald z.B. spezialisierte man sich auf die Herstellung von Tischlampen aus „Men_____________ 244 Dan Diner: „Gestaute Zeit – Massenvernichtung und jüdische Erzählstruktur“. In: Fünfzig Jahre danach. Zur Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Hg. v. Sigrid Weigel u. Birgit R. Erdle. Zürich 1995. 3–15, S. 5. Diner kritisiert in seinem Beitrag eine jüdische Geschichtsschreibung „gesteigerter Kausalisierung und finaler Linienführung historischer Prozesse“; ebd., S. 4. 245 „Doch wird der Tod nicht nur als positives, notwendiges und komplementäres Phänomen zum intensiven Leben gesehen, sondern der Einheit von Leben und Tod wird eine Existenz in der Erstarrung als Kontrast entgegengesetzt.“ Elisabeth Weber: „Zum frühen Werk Ilse Aichingers“. In: Romantik und Moderne. Neue Beiträge aus Forschung und Lehre. Festschrift für Helmut Motekat. Hg. v. Erich Huber-Thoma u. Ghmela Adler. Frankfurt a. M. 1986, S. 535.

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schenknochen mit Menschenhaut bespannt“246, Handtaschen und Taschenmesseretuis aus Menschenhaut; man stellte Seife aus den bei der Verbrennung in den Krematorien anfallenden menschlichen Fetten her und verkaufte die entstehende Asche an Düngemittelproduzenten.247 „Nach einem von Berlin geschickten Rezept wurden Schrumpfköpfe nach der Methode der Südseekopfjäger hergestellt, die entweder nach Berlin gingen oder als Schreibtischschmuck Verwendung fanden.“248 Gerade Letztere könnten das grausame Vorbild für Jeans Verwandlung in einen ‚Schrumpfk(n)opf‘ abgegeben haben, der ebenfalls ‚ästhetische‘ und ökonomische Funktionen erfüllt. Dabei erinnert die Zerstreuung der Knöpfe im Hörspiel auch an die Zerstreuung des jüdischen Volkes, das während des Dritten Reiches durch ganz Europa deportiert wurde oder, um dies zu vermeiden, in verschiedenste Teile der Welt fliehen musste: ANN Es macht mir Angst. ROSIE Was? ANN Daß es so viele von Gladis gibt und daß sie über die ganze Welt verstreut sind. Daß man, selbst wenn man wollte, Gladis nie mehr sammeln, daß man nie mehr alle von Gladis vereinigen könnte zu einem grünen Berg – (50)

Die Knopfberge, in die Ann während der Arbeit greift, sind die einzigen Überbleibsel verschwundener Menschen. Ann kann sie sammeln, wärmen und rufen wollen (51), doch nie wieder wird der industrielle Massenmord rückgängig zu machen sein. 4.3. Spezifisch weibliche Holocaust-Erfahrungen Sigrid Weigel konstatierte Ende der 1980er Jahre, Ilse Aichinger sei für eine weibliche Literaturtradition bisher nicht entdeckt worden, da ihrer Literatur das Stigma der Unverständlichkeit anhaftet und „die Thematisierung weiblicher Erfahrung bei der Lektüre ihrer Texte nicht ins Auge springt“.249 Weigel zeigt jedoch, dass die Bedeutung der Texte Aichingers für die Tradition einer weiblichen Ästhetik „aus ihrer Sensibilität für die Funktionsweise von Sprache und ästhetischen Formen und aus ihrer Opposition gegen die herrschende Ordnung, die von ihr allerdings nicht als _____________ 246 Hermann Kaienburg (Hg.): Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939–1945. Opladen 1996, S. 127. 247 Heinz Kühnrich: Der KZ-Saat. Die faschistischen Konzentrationslager 1933–1945. Berlin 51988, S. 183–187. 248 Kühnrich: Der KZ-Saat, S. 187. 249 Weigel: „Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger“, S. 11.

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männliche bezeichnet wird“250, resultiert. Mit Blick auf das Hörspiel Knöpfe muss an dieser Stelle ergänzt werden, dass Aichinger in ihren Texten die kritische Sicht auf die Auswirkungen erstarrter Geschlechterkonstellationen mit einer Infragestellung überkommener Machtverhältnisse und einer spezifisch weiblichen Erfahrung des Holocaust verbindet. Der Zusammenhang zwischen dem nationalsozialistischen Genozid an den Juden und patriarchalen Machtstrukturen, den Gisela Lindemann zu „Tauben und Wölfe“ formuliert hat, ist demnach auch für Knöpfe relevant. Lindemann fragt, [w]ie es möglich war, daß so viele Millionen Menschen so stillschweigend und reibungslos ausgesondert, abtransportiert, eingesperrt, ausgeblutet, mißhandelt und umgebracht werden konnten;

und wie es, in Maßen bis heute, möglich ist, daß Frauen auch wohl noch immer nach Millionen zählend, erst verführt, dann überredet, am Ende verwandelt werden können in gefügige Tauben für die Geflügelfarm, ganz wie das Mädchen in Aichingers Dialog […] Unerwähnt soll auch nicht bleiben, daß diese beiden Fragen etwas miteinander zu tun haben müssen.251

Im Hörspiel sind es – mit einer Ausnahme252 – ausschließlich Frauen, die in der von Männern geleiteten Fabrik arbeiten und zu ästhetischen Produkten erstarren: June, Susan, Gladis, Margaret, Elisabeth, Jean. Hierbei ist augenfällig, dass das Motiv des Zierknopfes das feminin konnotierte Ideal von Schönheit mit traditionell weiblichen Handarbeiten wie dem Herstellen und Reparieren von Kleidung253 verknüpft und es in ein Bild erstarrter Weiblichkeit fasst. Vor dem Hintergrund der oben entwickelten Holocaust-Erinnerung in Knöpfe eröffnet sich so eine weibliche Sicht auf die NS-Konzentrationslager, in denen auch die Zwangsarbeit weitgehend geschlechtlich codiert war. Frauen wurden Sigrid Jacobeit zufolge u. a. mit ‚typisch weiblichen‘ Arbeiten betraut, die im Zuge der Industrialisierung eigentlich längst von Maschinen übernommen wurden, so schreibt Jacobeit über die Zwangsarbeit im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück: Zunächst ist es die lukrative Möglichkeit gewesen, Frauen als billige Arbeitskräfte in Tätigkeiten massenhaft auszubeuten, die nach jahrhundertealten Vorstellungen und Vorurteilen als dem weiblichen Geschlecht angemessen, gewissermaßen ge-

_____________ 250 Weigel: „Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger“, S. 26. 251 Lindemann: Ilse Aichinger, S. 88. 252 Vernon ist der einzige männliche Vorname unter den Knopfserien. Vgl. auch Gölz: „Buttons“, S. 82. Wie der Text „Das Plakat“, in dem ein hübscher Junge auf einem Werbebanner erstarrt, ist er ein Hinweis darauf, dass Aichinger Schönheit und Naivität vorwiegend, doch nicht ausschließlich weiblichen Figuren zuschreibt. Über Vernon wird bezeichnenderweise gesagt: „wir haben auch schönere“ (27). 253 Jacobeit: „Zur Arbeit weiblicher Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück“, S. 201.

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nuin, zugeschrieben waren […] Das betraf nicht nur die Arbeit in Feld oder Garten […], sondern umfaßte nicht minder Handfertigkeiten […] so beispielsweise Flechten, Weben, Nähen, Schneidern und Stricken.254

Die anachronistische wie chauvinistische Ideologie der Nationalsozialisten vermeintlich ‚natürlicher‘ Geschlechterrollen bestimmt noch die von ihnen betriebenen Vernichtungslager.255 Aichinger thematisiert in Knöpfe darüber hinaus die doppelte Ausbeutung der Frau im kapitalistischen System als Arbeiterin, die schlecht bezahlte, schwere körperliche Arbeit verrichtet und deren Körper darüber hinaus als ästhetisches Produkt vermarktet wird. So findet die gewaltsame Reduzierung von Weiblichkeit auf rein Physisches ein Bild in der Verdinglichung von Frauen in Knöpfe:256 Nach und nach passen sich die Körper der Arbeiterinnen dem von den Vertretern vorgegebenen Schönheitsideal an: Sie werden „glatt und rund“ (24), „hübscher“ (25) und erstarren schließlich zu einem von Männern geschaffenen und vermarkteten ästhetischen Produkt. „Schön sind sie“, sagt Ann zu Beginn des Hörspiels über die Knöpfe (14). Wie in Ovids „Pygmalion257 macht den Wert der Schmuckknöpfe im Hörspiel die in ihnen enthaltene ebenso idealisierte wie erstarrte Weiblichkeit aus. Erstirbt die Individualität der Frauen in den schönen Knöpfen, so ermöglicht die Verwandlung bei Ovid umgekehrt ein lebendes Ideal, wenn die von Pygmalion entworfene und geliebte Statue mit Hilfe der Aphrodite schließlich lebendig wird. Den Zusammenhang von Schönheit, Erstarrung, Verdinglichung und Vermarktung thematisiert Aichinger bereits in der Erzählung „Das Plakat“, erschienen 1953 in Der Gefesselte258. Die Zuweisung von Produzent und Produkt ist hier jedoch nicht geschlechtsspezifisch: Ein Junge auf einem Werbeplakat möchte seinem eingefrorenen jugendlichen Lächeln entkommen und an Vergänglichkeit und Tod – damit aber erst am Leben _____________ 254 Jacobeit: „Zur Arbeit weiblicher Häftlinge im Frauen-KZ Ravensbrück“, S. 201. 255 Obwohl andere Strategien der Vernichtung gerade auf die Zerstörung und Auslöschung von Individualität, die bspw. auch von der Geschlechtszugehörigkeit bestimmt wird, zielten; vgl. Sigrid Weigel: „Der Ort von Frauen im Gedächtnis des Holocaust. Symbolisierungen, Zeugenschaft und kollektive Identität“. In: Sprache im technischen Zeitalter 33.135 (1995): 260–268, S. 263. 256 Vgl. auch Neva Slibar-Hojker: „Entmaterialisierung und Fiktionalisierung von Zeit, Raum und Körperlichkeit – Ilse Aichingers Hörspiele der Spätphase“. In: Acta Neophilologica XV (1982): 33–62, S. 43. 257 Schon bei Ovid findet sich die Idee einer vom männlichen Künstler geschaffenen weiblichen Statue, die – als Verkörperung seiner Idealvorstellung – von ihm geliebt und mithilfe der Liebesgöttin Aphrodite schließlich lebendig wird; vgl. Ovid: Metamorphosen. Buch 10, Vers 243 ff. 258 Ilse Aichinger: „Das Plakat“. In: dies.: Der Gefesselte. Erzählungen (1948–1952). Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Bd. 2. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991. 39–47.

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– teilhaben.259 Die Erstarrung drückt sich wie in Knöpfe aus, denn auch der Junge kann Mund und Augen nicht mehr schließen: Der Junge auf dem Plakat lachte schreckerfüllt mit weißen Zähnen und starrte geradeaus. Er wollte dem Mann nachschauen, hatte aber keine Möglichkeit, den Blick zu senken. Seine Augen waren aufgerissen.260

Das Schönheitsideal besteht wie im Hörspiel in ewiger Jugend, Gleichheit und Ebenheit – ohne Ecken und Kanten, also ohne individuelle Züge. Bezahlt wird die Erfüllung dieses Ideals mit dem Verlust der Menschlichkeit und des Lebens: „Er war jung und schön und strahlend. Er hatte das Spiel gewonnen, doch den Preis hatte er zu bezahlen.“261 In Aichingers Dialog „Tauben und Wölfe“ ist es wiederum ein Mädchen, das einer Verwandlung zum Opfer fällt. Traditionell vorgeblich weibliche Eigenschaften – Höflichkeit, Freundlichkeit und Naivität – verhindern in dieser kurzen Szene trotz der Kinderstimmen, die vor Wölfen warnen, den Widerstand gegen die Überredungskünste der Besitzer einer Geflügelfarm. Auch hier zeichnen sich die Produkte durch ein schönes Äußeres aus: „MÄDCHEN klatscht in die Hände Die schönen Vögel! […] Wie hübsch sie sind!“262 – Prompt verwandelt sich auch das Mädchen in eine gurrende Taube. Im Hörspiel Knöpfe bricht Aichinger die Zwangsläufigkeit der Verwandlungen auf. Es werden drei Paare vorgestellt. Die Knopfvertreter Bill und Jack entsprechen wie ihre Partnerinnen Jean und Rosie einem tradierten Geschlechterbild, denn sie verkörpern Macht, finanzielle Stärke und soziale Sicherheit. Während sie den Arbeiterinnen Geborgenheit und Wärme in Aussicht stellen – im Bild einer „großen Familie“ (44) und in immer wiederkehrenden Sätzen wie „Es wird jetzt alles ganz einfach“ (37 u. 39) –, erwarten sie im Gegenzug von den Frauen Gefügigkeit, Unterwerfung und Anpassung. Die Frauen bezahlen die Hoffnung auf immerwährende Sicherheit mit dem Verlust ihrer Individualität, ihrer Unabhängigkeit und schließlich mit ihrem Leben. Doch Aichinger zeigt auch Alternativen auf: Im Gegensatz zu den konventionellen Beziehungen zwischen Rosie und Jack sowie Jean und Bill beruht die Beziehung zwischen Ann und John auf gegenseitiger Zu_____________ 259 „Die Erzählung lässt sich lesen als eine Parabel über den Zusammenhang von Erstarrung und Dauer in der Ästhetik und über die Dialektik von Lebendigkeit und Sterben [...]“ Weigel: „Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger“, S. 29. 260 Aichinger: „Das Plakat“, S. 40. 261 Aichinger: „Das Plakat“, S. 42. 262 Ilse Aichinger: „Tauben und Wölfe“. In: dies.: Zu keiner Stunde. Szenen und Dialoge. Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Bd. 7. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991. 91–98, S. 97.

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neigung und nicht auf einem Interesse an Versorgung oder Sicherheit.263 Der arbeitslose John bietet als Ernährer im bürgerlichen Sinne für Ann keine Perspektive; andererseits ermöglicht seine Außenseiterposition es ihm aber, sein klares Urteilsvermögen zu bewahren und die Bedrohung, der Ann in der Fabrik ausgesetzt ist, zu erkennen. Nur durch sein unermüdliches abendliches Erscheinen kann er Ann, die zunehmend unter den Einfluss der Versprechungen Bills gerät, dem Zugriff der Knopfvertreter entziehen. Als Gegenstück zu John entspricht auch Ann nicht dem von den Vertretern propagierten Weiblichkeitsideal. Während Rosie und Jean ihre geistige und körperliche Individualität immer mehr aufgeben und sich schließlich selbst in die Hände der Vertreter begeben, ist Ann froh, sich das Denken „angewöhnt“ zu haben (31), und unterscheidet sich von den anderen beiden Fabrikarbeiterinnen darüber hinaus durch ihr Interesse an ihren Mitmenschen. Die Attacken des Vertreters Bill, der sich besonders nach dem Verschwinden von Jean um Ann bemüht, richten sich aus diesem Grunde gerade gegen ihre ‚Kopfarbeit‘, die ihr andere Dimensionen – Räume der Phantasie, der Imagination und der Erinnerung – eröffnet und damit die Macht des Vertreters einschränken könnte: ANN Ich bin froh. Wenn ich mir vorstelle – BILL Sie sollen sich jetzt nichts vorstellen. ANN Wenn ich mir denke – BILL Und auch nichts denken. ANN Wenn ich mich erinnere – BILL Sie sollen sich nicht erinnern. (37)

Dagmar Lorenz verweist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich auf Knöpfe als „ein Wortspiel auf Köpfe, die ihre bedeutendste Funktion, das Denken, verlieren, bis die Person, die sie trägt, wirklich nur noch ein Objekt ist.“264 Vor allem verdeutlicht die Szene jedoch die definierende Kraft, die der Sprache zukommt. Dass der Kampf um die Machtverhältnisse, um Wandlung und Verwandlung – und auch um Erinnerung – gerade in der Sprache ausgetragen wird, zeigen die Wortgefechte zwischen Ann und Bill: BILL [...] Sie finden heute keine neue Stelle. Sie können alt werden, eh’ Sie – ANN Lassen Sie mich alt werden, Bill. BILL Und John? ANN Aus Ihrem Spiel. BILL Soviel ich läuten hörte, wollte er zu uns.

_____________ 263 Diese Motivation ordnet Preuß den Paaren Jean und Bill sowie Rosie und Jack zu, die von egoistischen Interessen geleitet seien. Helmut Preuß: „Die poetische Darstellung der Arbeitswelt im Hörspiel Knöpfe von Ilse Aichinger“. In: Sprachpädagogik Literaturpädagogik. Festschrift für Hans Schorer. Hg. v. Wilhelm L. Höffe. Frankfurt a. M. 1969. 171–188, S. 178. 264 Lorenz: Ilse Aichinger, S. 90.

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ANN Sie hören nichts läuten, Bill. Sie hören nur ab und zu, was hinter den Ladenwänden kracht. [...] BILL Bei uns hätten Sie Arbeit, Ann. [...] Sie sind geborgen. ANN Ich weiß, zuletzt in Fächern. BILL Bei uns wären Sie sicher, Ann! ANN Weil ich Ihnen sicher wäre. Wie Jean. (67)

Wie bereits Heidy Margrit Müller konstatierte, werden in Aichingers Hörspiel „Machtverhältnisse durch Wortspiele in Frage gestellt und probeweise neu definiert.“265 Ebenso wie Ellen in Die Größere Hoffnung und das Mädchen in „Französische Botschaft“ – doch im Gegensatz zur Protagonistin in „Tauben und Wölfe“ – enttarnt und unterläuft Ann die von Bill vorgegebenen Bedeutungen, indem sie Formulierungen doppeldeutig verwendet und sie so mit neuen Konnotationen versieht. Entworfen wird aber auch eine Utopie der Zuneigung und des Wandels, die im Gegensatz zur tödlichen Erstarrung das Leben als Entwicklung und Bewegung versteht. Ann kann sich aufgrund ihrer eigenen geistigen Anstrengung und der Unterstützung durch John der aufoktroyierten Verwandlung entziehen. Gleichzeitig aber vollzieht sie genau jene Wandlung im Sinne einer Metamorphose, „sich inmitten der eigenen Verwandlung die Hinwendung zu den Verwandlungen anderer zu bewahren, auch zu ihren Leiden“, die Aichinger in der „Rede an die Jugend“ (1988) einfordert, um einer „Verharmlosung“ entgegenzuwirken.266 Knöpfe muss somit in die Reihe jener Texte Aichingers eingeordnet werden, in denen sie den Versuch unternimmt, „nach dem ‚Zivilisationsbruch‘ Auschwitz mit […] Sprachkonzeptionen zu neuen, unverbrauchten Ausdrucksformen zu finden, die sich dem Eingedenken an die Toten verpflichten und zugleich Einspruch erheben gegen restaurative Tendenzen in der Nachkriegszeit“.267 Aichingers Sprache, die auch in Knöpfe aus dem Zusammenspiel vieler, einander ergänzender, aber auch widersprechender Assoziationen besteht, übersetzt das Unfassbare, Unaussprechliche in eine Form, in der die verschiedensten Aspekte in ihren unterschiedlichen Schattierungen aufgerufen werden, ohne dass es möglich wäre, eine Frage hinlänglich zu beantworten. Es handelt sich um eine bereits für den Roman Die größere Hoffnung konstatierte „Verweigerung gegenüber Verstehenszusammenhängen, die erzählend und deutend eine sinnhafte Integration in gegenwärtiges Erle_____________ 265 Müller: „Verwandlung und Entwandlung“, S. 123. 266 Ilse Aichinger: „Rede an die Jugend“. In: dies.: Die größere Hoffnung. Roman. Werke. Taschenbuchausgabe in acht Bänden. Hg. v. Richard Reichensperger. Frankfurt a. M. 1991. 278–281, S. 280. 267 Thums: „Poetik des Vergessens“, S. 108.

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ben und Erinnern vornehmen“.268 So entwirft Aichinger „eine neue Sprache, die der Opfer eingedenk ist und sie darin birgt“.269 Dieser alternative Gebrauch der Sprache, der Paradoxien und Ambivalenzen hervorbringt, entlarvt den erstarrten Sprachgebrauch des Gedenkens; er erzeugt neue Bedeutungen und unterläuft Abstumpfung und Vergessen, die die Figur Rosie im Hörspiel verkörpert. „Insgesamt richtet sich ein derart widerstreitendes, unabschließbares Gedächtniskonzept gegen das Paradigma der Vergangenheitsbewältigung, das auf stabile Identitäten ausgerichtet ist und sich hierfür die Vergangenheit bewältigend wiederanzueignen sucht.“270 Aichingers Sprache formuliert das vermeintlich Unsagbare und entzieht es gleichzeitig einer sentimentalen Rezeption,271 wie sie beispielsweise die 1950 in der Bundesrepublik veröffentlichte Übersetzung des Tagebuchs der Anne Frank – auch ein ‚weibliches‘ Zeugnis des Holocaust – geradezu herausforderte. Indem sie die Darstellung der industrialisierten Vernichtung von Menschen in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern an patriarchale Machtstrukturen und moderne Arbeits- und Produktionsmethoden rückbindet, zeigt sie auch die Tatsache auf, dass die beteiligten Konzerne die Herstellung von profitträchtigen Konsumgütern nach dem Zweiten Weltkrieg nahtlos fortsetzen konnten.272 Dass Aichinger gerade dieses Faktum nicht übersah, belegt erneut der Verwandlungstext „Tauben und Wölfe“, in dem Assoziationen an die Konzentrationslager geweckt werden, wenn die Care-Pakete, die als Lockmittel für die zu Verwandelnden dienen, nun aus Kalifornien stammen und einen Zusammenhang zwischen der Wiederaufbauhilfe von Seiten der USA, der bun_____________ 268 Thums: Den Ankünften nicht glauben wahr sind die Abschiede, S. 219. 269 Brita Steinwendtner: „Ilse Aichinger. Wien. Und andere Ortlosigkeiten“. In: Ilse Aichinger. Text + Kritik 175. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. Gastredaktion: Roland Berbig. München 2007. 3–14, S. 4. 270 Thums: „Poetik des Vergessens“, S. 109. 271 Sigrid Weigels Aussage über den realistischen Gehalt von Die größere Hoffnung gilt m. E. auch für das Hörspiel Knöpfe: „Der Stoff des Buches ist so realistisch wie in wenigen Nachkriegstexten, wenn auch durch die Schreibweise Aichingers die unglaublichen Ereignisse in einer traumhaften, phantastischen Sphäre vergegenwärtigt werden. Ihr Roman hat damit an der in der Nachkriegszeit üblichen Tabuisierung, Verharmlosung und Verdrängung des Grauens nicht teil.“ Weigel: „Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger“, S. 11 f. 272 Vgl. z. B. Manfred Grieger, der feststellt, dass bei der Zwangsarbeit für den VolkswagenKonzern eine hohe Zahl an Todesopfern zu beklagen war: „Dagegen überdauerten die meisten Produktionsmittel des Unternehmens unbeschädigt das Kriegsende. Die weitgehende Unversehrtheit des Maschinenparks stellte eine wesentliche Voraussetzung für den ökonomischen Erfolg des Volkswagens in der Nachkriegszeit dar.“ Manfred Grieger: „Unternehmen und KZ-Arbeit. Das Beispiel der Volkswagenwerk GmbH“. In: Konzentrationslager und deutsche Wirtschaft 1939–1945. Hg. v. Hermann Kaienburg. Opladen 1996. S. 77–93, S. 93.

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desrepublikanischen Restauration und dem Nationalsozialismus aufrufen.273 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Aichinger in Knöpfe im Motiv der Verwandlung eine dreifache Kritik an historischen wie gegenwärtigen Machtstrukturen überblendet: entmenschlichte Arbeitsbedingungen in den industrialisierten Gesellschaften; Zwangsarbeit und Massenmord während des Zweiten Weltkriegs sowie erstarrte Geschlechterrollen. Sie zeigt so Zusammenhänge auf, die erst in der feministischen Geschichtsschreibung der 1980er und 1990er Jahre theoretisch formuliert wurden.274 In den verschiedenen Hörspielinszenierungen werden diese drei maßgeblichen Aspekte von Knöpfe auf höchst unterschiedliche Weise umgesetzt. Exemplarisch sollen im Folgenden die Ursendung im SDR/NWDR (1953) und die im Rundfunk der DDR (1989) gegenübergestellt werden.275 4.4. Zwischen Romanze und Kriminalhörspiel (SDR/NWDR 1953) Die Ursendung des Hörspiels Knöpfe am 16.12.1953 war eine Gemeinschaftsproduktion des SDR Stuttgart mit dem NWDR Hamburg unter der Regie von Otto Kurth. Der Text wurde so stark bearbeitet, dass ein genauer Fassungsvergleich an dieser Stelle unterbleiben muss. Ganze Passagen sind hinzugefügt, umgeschrieben oder gestrichen worden. Dies diente einerseits dem Herausarbeiten der Paarstrukturen, die stark an Liebesromanzen erinnern, und andererseits der Verschiebung der Opfer-TäterKonstellation. Als Beleg hierfür kann die Szene herangezogen werden, in der Jean ihre Verwandlung wahrnimmt und Bill erscheint: „BILL Dann bist du wohl so weit? JEAN Dann bin ich so weit.“ (24) Während darauf im Original noch Bills „Dann hätten wir dich“ sowie Jeans „Noch kleiner als ich dachte“ und das Geräusch hinter der Wand folgen, heißt es in der Hörfassung: „BILL Dann ruf ich den Alten. Schritte entfernen sich. JEAN Den Alten? Doch nicht den Alten! Bill! Als Schrei Bill!“ Die an dieser und ande_____________ 273 Aichinger: „Tauben und Wölfe“, S. 91. 274 „Ein Interesse an Klasse, Rasse und sozialem Geschlecht signalisierte zunächst das Engagement für eine Geschichtsschreibung, die Geschichten der Unterdrückten und eine Analyse des Wesens und der Bedeutung ihrer Unterdrückung beinhaltet sowie ein wissenschaftliches Verständnis dafür zeigt, daß die Ungleichheit der Macht wenigstens drei Achsen hat.“ Joan W. Scott: „Gender: Eine nützliche Kategorie der historischen Analyse“. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg. u. komm. v. Dorothee Kimmich [u.a.]. Stuttgart 1996, S. 416–440, S. 418. 275 Darüber hinaus gibt es eine gelungene Inszenierung des NDR aus dem Jahr 1962 unter der Regie von Fritz Schröder-Jahn sowie eine des Schweizer Radios DRS von 1974 (Regie: Joseph Scheidegger).

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rer Stelle eingefügten Schreie sind als dramaturgische Elemente von Kriminalgeschichten hinlänglich bekannt und dienen auf der Rezeptionsebene dem Schock wie der Spannungssteigerung. Im Hörspiel steht weniger die unheimliche, rational nicht fassbare Verwandlung im Vordergrund als die verängstigte Frau, die einem Verbrechen zum Opfer fällt. Dabei nehmen nicht Bill und Jack die Verwandlung vor, sondern sie liefern ihr gefangenes Opfer dem eigentlichen, unsichtbaren Vollstrecker – dem Alten – aus. In Aichingers Vorlage wird der Alte nur zweimal erwähnt, wenn klar wird, dass er es ist, der am Verkauf der Knöpfe verdient (14 u. 18). In der Bearbeitung dagegen wird der Alte schon früh eingeführt und dann mehrmals in Erinnerung gebracht. So unbestimmt wie seine Bezeichnung repräsentiert er eine nicht greifbare Macht hinter den Kulissen (hinter der Wand), die weder aktiv in Erscheinung tritt, noch zur Verantwortung zu ziehen ist. Um dem „Alten“ alle Schuld aufzuladen, fehlt in der vorliegenden Fassung auch die Textstelle, in der Jack und Bill sich selbst für die geglückte Herstellung des Knopfes „Jean“ loben: „ANN zögernd Es ist ein schöner Knopf. / JACK Ja. Er ist uns gelungen. / BILL lacht Nach großer Mühe!“ (45) Während Bill und Jack in Aichingers Textvorlage die Angestellten einstellen, beaufsichtigen, die Knöpfe produzieren und vertreiben, lässt die Bearbeitung den Verantwortlichen für die Verwandlungen außerhalb der dargestellten Realität und damit im Unverbindlichen. Diese Änderung unterstützt den Gedanken des vom Dämonischen beherrschten Produktionsprozesses, lässt das Hörspiel aber märchenhafter, der gegenwärtigen Realität entrückter wirken. Die Angst, die bei Aichinger als Sensibilität und Selbstschutz auch positiv besetzt ist, wird in der Inszenierung in eine lähmende Ängstlichkeit verwandelt, die vor allem der Spannungssteigerung dienen soll. Im Text erscheint das Geräusch hinter der Wand, um den unheimlichen Verwandlungsvorgang der Frauen in Knöpfe hörbar zu machen. Während Ann zu Anfang in der Beschreibung des Geräusches noch unsicher ist und von Regen und Hagel spricht, setzt sich die Assoziation des Feuers im Folgenden durch. Sie wird an mehreren Stellen explizit genannt und unterstützt den Gegensatz zwischen drinnen (heiß und trocken) und draußen (kühl und nass). In der Hörfassung begleiten zwei Geräusche die Handlung: Wenn die Frauen bei ihrer Arbeit eingeblendet werden, ertönt das rhythmisch-monotone Klicken der Knöpfe, die beim Sortieren in eine Schachtel mit anderen Knöpfen fallen. Es charakterisiert den Ort der Handlung und dient der realistischen Ausgestaltung der Szene. Das unheimliche Geräusch, das „wie das Prasseln von Feuer“ (15) klingt, wurde in der Hörfassung durch das schwere Plumpsen größerer Steine ersetzt. Es illustriert die Annahme Johns, es würde vom Abbrö-

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ckeln der mysteriösen Wand herrühren. Diese Vermutung wird aber von Ann in der Textvorlage sofort widerlegt: „Es ist nicht die Wand, es ist hinter der Wand, John.“ (14) Damit entspricht die akustische Umsetzung nicht mehr der verbalen Beschreibung des Geräusches, und die Erinnerung an die Verbrennungsöfen der 1953 nur wenige Jahre zurückliegenden nationalsozialistischen Diktatur geht auf diese Weise verloren. Insgesamt taucht das leitmotivische Geräusch im Vergleich zum Originaltext seltener auf. Wenn Jeans Verwandlung vorgeführt wird und das Geräusch besonders stark zu hören sein soll (24), setzt unmittelbar nach ihrem Schrei die Musik ein, die zur neuen Szene überleitet. Ein Zusammenhang zwischen dem Geräusch und der Verwandlung der Frauen besteht nicht mehr, so dass die Verwandlung keinen akustischen Niederschlag findet. Das Geräusch dient nun ausschließlich der Erzeugung einer unheimlichen Atmosphäre und als Auslöser für die Angst der Frauen. Außer dem Geräusch erklingen im Text geforderte akustische Illustrationen: das Schlagen der Turmuhr, das Klappen der Tür und Schritte. Letztere kündigen meist den Auftritt Bills an und wirken stark bedrohlich. In der Hörfassung wird ausschweifender Gebrauch von Musik gemacht, die der Text an keiner Stelle fordert. Sie dient vor allem als Musikbrücke, die zwischen den Szenen ein- und ausgeblendet wird und Ort sowie Stimmung der folgenden Szene vermittelt. Die Dialoge im Gasthaus wurden zusätzlich mit leichter Musik und Lachen unterlegt. Das plötzliche Aussetzen der Musik steigert die Spannung oder deutet den Wechsel des Ortes an, wenn Ann in Rückblenden erzählt. Für die Orte im Freien und in der Fabrik wechseln sich zwei unterschiedliche Motive ab, die von einem Orchester gespielt werden. Während der ersten Szenen zwischen John und Ann, in denen sie sich über die Beschaffenheit der Knöpfe unterhalten, ertönt ebenfalls Musik, die z. T. nur aus den rhythmisierenden Tönen eines Kontrabasses besteht, die den Dialog in ihrer dunklen Gleichförmigkeit begleiten und illustrieren. Bewegungen im Raum werden durch unterschiedliche Raumklänge angedeutet. Radiophonische Effekte kommen nicht zum Einsatz. Pausen werden entgegen der Vorlage nur als kurze Sprechpausen eingesetzt, die keine besonderen Akzente setzen. Die Umsetzung unter der Regie von Otto Kurth verfolgt vor allem die Dramaturgie von Kriminalstücken, in denen sich die Angst der Figuren auf die Hörerinnen und Hörer als unterhaltsames Grauen überträgt. Die dargestellten Vorgänge wirken auf diese Weise als außergewöhnliche, an das Genre des Kriminalhörspiels gebundene Begebenheiten und müssen nicht auf zeitgenössische Verhältnisse übertragen werden. So kommt es zu Wertungen des Hörspiels als „Synthese aus Grusel- und Kriminalge-

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schichte“, wie sie Carine Kleiber noch 1984 vornimmt,276 die dem Hörspiel seine Brisanz nehmen und es zu einem reinen Unterhaltungsangebot degradieren.277 4.5. Hörbilder des Holocaust (Berliner Rundfunk 1989) Im August 1989, als das Ende der DDR sich bereits andeutete, waren auch die kulturpolitischen Verhältnisse so weit liberalisiert, dass ein Hörspiel, dessen Handlung als ‚irreal‘, ‚symbolisch‘ oder auch ‚gleichnishaft‘ bezeichnet wurde, das enge Nadelöhr des sozialistischen Realismus nicht mehr passieren musste, sondern ohne nennenswerte Textbearbeitung und in einer extravaganten akustischen Umsetzung über den Sender gehen konnte. Die Geräuschebene dient wie in anderen Hörspielen auch der Kennzeichnung der unterschiedlichen Handlungsebenen. So werden Straße, Fabrik und Gasthaus durch Straßenlärm, Maschinenbrummen und Stimmengewirr unterschieden und Rückblenden mit Hall gekennzeichnet. Darüber hinaus nutzt das Hörspiel alle Facetten der Stimmmodulation. Sowohl Lautstärke – von Flüstern bis Schreien – als auch nonverbale Äußerungen wie Gähnen, entrücktes, z. T. hysterisches Lachen werden in außergewöhnlichem Maße variiert. Neben diesen Illustrationen mit nahem Textbezug erhält eine Reihe von akustischen Elementen einen eigenständigen Zeichencharakter. Dem Hörspiel geht eine etwa dreiminütige akustische Collage voran, die mit einem undefinierbaren, tiefen Brummen einsetzt, das stärker wird und beunruhigend klingt. In dieses Grundgeräusch hinein hört man die Ansage von Börsendaten aus aller Welt, die wiederum von hohen Klängen zunehmend übertönt werden, welche sich schließlich zu einer bedrohlichen Instrumentalmusik mit unterlegten Rhythmen formen. Die Musik wird nach einigen Takten langsam ausgeblendet; darüber sagt ein Sprecher Titel und Autorin des Hörspiels an, woraufhin die Musik wieder voll aufgeblendet wird. In die Musik hinein erklingt die Stimme einer weiblichen Sängerin, die einige Worte aus einer Arie singt. Erst anschließend wird dieser Klangteppich überblendet von den Geräuschen einer nassen, von Autos befahrenen Straße, die den Handlungsraum der ersten Szene andeutet (• Hörzitat 14). Dieser akustische Prolog stimmt die Hörerinnen und Hörer bereits auf das Zeichensystem des Hörspiels ein: Das noch undefi_____________ 276 Carine Kleiber: Ilse Aichinger. Leben und Werk. Bern 1984, S. 79. 277 Eine weitaus gelungenere Produktion von Knöpfe ist die des NDR von 1962 unter der Regie von Fritz Schröder-Jahn. Sie findet sich auf der Audio-Kassette: Ilse Aichinger: Behutsam kämpfen. Das Hörspiel Knöpfe, Prosa und Gedichte. München 1996.

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nierte Brummen nimmt das spätere Motiv der Knopfproduktion vorweg und ist ganzen Szenen in der Fabrik unterlegt; internationale Börsendaten verweisen auf medienvermittelte weltwirtschaftliche Zusammenhänge, auf das Diktat des Marktes, das im Laufe des Hörspiels alle Anzeichen wirtschaftlicher Rezession aufgreifen wird; dagegen gesetzt ertönt die klagende menschliche Stimme des weiblichen Opfers, das sowohl als Arbeiterin als auch als Rohstoff den entmenschlichten Teil dieser Prozesse darstellt. Alle Teile der Collage kehren motivisch an anderer Stelle im Hörspiel wieder. So betont das Brummen in der Fabrik den industriellen Charakter der Knopfproduktion hinter der Wand und schwillt teilweise zu presslufthammerartigen Rhythmen an; die Börsendaten ertönen ein zweites Mal, wenn Bill Ann und Rosie mitteilt, dass sie nun auch am Sonntag arbeiten müssen. Der Sprecher nennt erwartungsgemäß ausschließlich Entwicklungen in westlichen Industrienationen – London, Sydney, Paris, Mailand –, wodurch die Handlung und ihre Deutung allein auf die kapitalistische Wirtschaft bezogen wird. Bestimmte musikalische Themen und Geräusche dienen der Charakterisierung und Ankündigung von Figuren. Beispielsweise geht jedem Auftritt von Bill, dem offenbar mächtigsten unter den Vertretern, eine unheimliche Instrumentalmusik voran, in die hinein dann seine Schritte erklingen. Diese Schritte werden in einigen Sprechpausen eingesetzt, um einerseits eine räumliche Bewegung der Figur anzudeuten und andererseits Bills bedrohliche Nähe zu den Frauen spürbar zu machen. Die unheimliche Musik erinnert an die musikalischen Traditionen des Gruselfilms und stattet die Figur auf diese Weise mit dämonischen Zügen aus, die sich auch in seinem Lachen widerspiegeln. Während der Dialoge mit Bill hört man ein feines, elektronisch verzerrtes Sirren, das teilweise gleichbleibend, teilweise rhythmisch unterbrochen zu hören ist. Diese „Untertöne“ stellen die vordergründig freundlichen Sätze Bills in Frage, sie drücken die Zweifel an seiner Integrität aus und signalisieren akustisch die Gefahr, die von ihm ausgeht (• Hörzitat 15). Der klagende Gesang der Frauenstimme erhebt sich dagegen dann, wenn die Verwandlung der Frauen in Knöpfe thematisiert wird. Es ist die Stimme der toten Frauen, die Stimme der Opfer, die sich in Erinnerung ruft. Wird die besondere, unheimlich anziehende und zerstörerische Macht der Knöpfe verbal über optische Bilder des seltsamen Leuchtens oder außergewöhnlichen Glanzes beschrieben, so findet die Inszenierung des Hörspiels hierfür auch ein akustisches Bild, nämlich die sirenenhaft klagende und gleichzeitig lockende Frauenstimme, von deren trauriger Schönheit eine eigene Faszination ausgeht. Ein Vergleich mit den mythologischen Sirenen, die als tierisch-menschliche Mischwesen das Verwandlungsmotiv als Todesmotiv nochmals aufgreifen, lässt an dieser Stelle eine

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Interpretation dieses Gesangs als Stimmen der verwandelten Frauen aus dem Reich des Todes und gleichzeitig als Totenklage zu. So heißt es über die Sirenen: In der griechischen Mythologie sind die Sirenen nicht nur Sängerinnen im Diesseits, sondern vor allem Dämoninnen des Jenseits. Es gibt zahlreiche antike Darstellungen, wo Sirenen auf Grabstelen klagen, Menschen in den Tod locken oder Gestorbene in den Tod geleiten. Sie sind Todesbotinnen, Todesbegleiterinnen, Todesbringerinnen.278

Entsprechend ertönt der Gesang aus der Ferne wahrnehmbar, wenn von den Schmuckknöpfen die Rede ist, die den Frauen die Arbeitsplätze sichern, stärker aber noch wenn Jean angstvoll und unter Erstickungsanfällen ihre eigene Verwandlung beschreibt279, und ein letztes Mal, wenn der neue Knopf „Jean“ erstmalig präsentiert wird (• Hörzitat 15). Da der Gesang immer aus dem Brummen der Knopfproduktion hervorgeht, entsteht ein klarer Bezug zwischen Verwandlung und Tötung und fallen auf akustischer Ebene mythische (Gesang der Sirenen) und historische Bezüge (Geräusche industrieller Vernichtung) in eins. Ein weiteres Geräusch begleitet die gleichförmige Sortierarbeit der Frauen. Während sie die Namen der Knöpfe – „June, Margaret, Vernon“280 – vor sich hinsprechen, fallen die Knöpfe klappernd in ihre Kästen (• Hörzitat 15). Mit der Zeit wird dieses Geräusch mit zunehmendem Hall unterlegt und verdeutlicht auf diese Weise die Monotonie und endlose Ausdehnung der Arbeit. Gerade bei der Sonntagsarbeit, die in der Interpretation als Teil der KZ-Metaphorik verstanden wurde, dehnt sich das Geräusch der fallenden Knöpfe immer stärker aus. Die Knöpfe scheinen schwerer und schwerer zu werden und klingen zunehmend wie fallende Steine. Die eigentlich leichte Arbeit der Frauen, das Sortieren handlicher Knöpfe, wächst sich aus zu schwerer körperlicher Arbeit, die akustisch an die Arbeit von Häftlingen in Steinbrüchen erinnert. Die Produktion unter der Regie von Peter Groeger281 gibt allen drei Interpretationsebenen gleichermaßen Raum: Sowohl die Entmenschli_____________ 278 Inge Stephan: Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln, Weimar, Wien 1997, S. 124. 279 Ilse Aichinger: Knöpfe. Kontrollexemplar im DRA Potsdam unter der Signatur B 009-0005/0064, S. 7. 280 Ilse Aichinger: Knöpfe. Kontrollexemplar, S. 5. 281 Peter Groeger (geb. 1933) ist Schauspieler, Regisseur und Synchronsprecher. Nach dem Schauspielstudium in Berlin und einer Regieassistenz bei Wolfgang Langhoff am Deutschen Theater und einem Regiestudium in Moskau arbeitete er als Leiter der Abteilung Internationale Funkdramatik beim Rundfunk der DDR. Er inszenierte mehr als 400 Hörspiele, darunter Der gute Gott von Manhattan von Ingeborg Bachmann (DDR 1977), Träume von Günter Eich (DDR 1981), das Holocaust-Hörspiel Katzengeschrei (DDR 1988) und die Tagebücher Victor Klemperers (Zeugnis ablegen, DLR/ORB 1996); vgl. http://www.mdr.de/ mdr-figaro/ hoerspiel/1840013.html; http://www.hoerdat.de.

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chung im Arbeitsprozess, die Ausbeutung von Weiblichkeit in der modernen Konsumgesellschaft als auch der Assoziationsraum nationalsozialistischer Konzentrationslager finden sich in der akustischen Umsetzung berücksichtigt. Gerade in der montierten Gleichzeitigkeit auditiver Zeichen – Musik, Gesang und Geräusche werden nicht als illustrative Ergänzung des gesprochenen Wortes gebraucht, sondern stehen für sich mit einer jeweils eigenen Bedeutungsebene – findet eine Verschränkung der unterschiedlichen Aspekte statt und wird eine einseitige Auslegung verhindert. Die Inszenierung von Aichingers Hörspiel im DDR-Rundfunk nutzt die spezifischen Zeichensysteme des Hörspiels effektiv, um dessen Mehrdimensionalität erfahrbar zu machen. Die DDR-Hörspielproduktion zum Thema Judenverfolgung im Nationalsozialismus ist somit an ihrem ästhetischen Höhepunkt gelangt, der zeitgleich auch ihren Endpunkt markiert.

Resümee Das Hörspiel als kollektives Gedächtnismedium Die vorangehende Untersuchung behandelte den umfassenden Zeitraum von 45 Jahren deutscher Rundfunk- und Erinnerungsgeschichte, um die Relevanz des Hörspiels als kollektives Gedächtnismedium herauszuarbeiten. Im Zusammenspiel mit anderen Medien konstruiert und prägt das Hörspiel die kollektive Erinnerung an den Holocaust und weist starke Wechselwirkungen mit Literatur, Film und Theater auf. Entgegen der herrschenden Forschungsmeinung konnte konstatiert werden, dass die Holocaust-Erinnerung ein wesentliches Thema des DDR-Hörspielprogramms darstellte, das in nahezu 50 Stücken behandelt wurde. Die Auswertung des umfangreichen Quellenmaterials machte darüber hinaus deutlich, dass die Produktion und Sendung von Hörspielen, die sich mit dem Holocaust im sog. ‚Dritten Reich‘ auseinandersetzten, in direkter Abhängigkeit zum öffentlichen Umgang mit dem Thema und der ästhetischtechnischen Entwicklung des Hörspiels standen. Da der Rundfunk der SBZ/DDR zunächst der Sowjetischen Militäradministration und dann der ostdeutschen Partei- und Staatsführung unterstand, waren die Interferenzen von Literatur, Rundfunk und Politik erheblich. Die Darstellung der literarisch-künstlerischen Umsetzung erforderte daher einen Überblick über die Phasen kollektiver Erinnerung an den Holocaust in der DDR, der im ersten Kapitel der Arbeit gegeben wurde. Im Anschluss hieran konnte die theoretische Konturierung des Hörspiels als kollektives Gedächtnismedium geleistet und das Analyseinstrumentarium erarbeitet werden. Die in den folgenden drei Hauptkapiteln vorgenommene Untersuchung der Arbeit der Hörspielabteilung, aber auch die Einzelanalysen der Hörspiele offenbarten eine geradezu mustergültige Verquickung der Instrumentalisierung von Vergangenheit für gegenwärtige Interessen mit den jeweils verfügbaren Medientechnologien und der sozialsystemischen Institution Rundfunk, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: 1945–1959: In der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren fungierte ‚der Jude‘ im DDR-Hörspiel als religiöse Identifikationsund Integrationsfigur. Die Holocaust-Erinnerung diente einerseits der Legitimation eines antifaschistisch-kommunistischen Staates im Rahmen

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von Bildung und Umerziehung; andererseits machte sie der deutschen Nachkriegsgesellschaft Entlastungs- und Integrationsangebote, um sie in den anstehenden Wiederaufbau eines ‚anderen Deutschlands‘ einzubinden. In restriktiveren politischen Phasen (1950–1955) wurden Judentum und Judenverfolgung gegenüber der Leiterinnerung an den antifaschistisch-kommunistischen Widerstandskampf marginalisiert oder gänzlich tabuisiert. 1959–1970: In den 1960er Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, diente die historische Aufarbeitung des Holocaust vor allem der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Die Hörspiele zielten als Teil einer umfassenden politischen Kampagne darauf, die Bundesrepublik in der ungebrochenen Tradition des Nationalsozialismus erscheinen zu lassen. Gerichtshörspiele in Anlehnung an aktuelle Strafverfahren ermöglichten eine Authentifizierung der im (fiktiven) Hörspiel geführten Debatte um Schuld und Verantwortung. 1971–1989: Die politische Liberalisierung nach der Machtübernahme durch Erich Honecker und ein zunehmendes Nischendasein des Hörspielprogramms als Folge der Ablösung des Leitmediums Radio durch das Fernsehen mündeten in einer ästhetischen und thematischen Vielfalt der Auseinandersetzung mit Holocaust und Judentum, das nun auch als selbstbewusste religiöse Identität verstanden und gezeigt werden konnte. Eine zunehmende Individualisierung kennzeichnete den Umgang mit Geschichte, die sich auch in einem erweiterten Spektrum an Spielformen niederschlug, das auch irreale Handlungsebenen einschloss. Der Jude als religiöse Identifikations- und Integrationsfigur im Nachkriegsdeutschland und in den 1950er Jahren (1945–1959) Nach der Gründung des deutschen demokratischen Rundfunks in der Sowjetischen Besatzungszone diente das Hörspiel als Instrument der Umerziehung und Wertevermittlung. In idealer Weise vereinte es in sich die Möglichkeit, kulturelle, politische und ästhetische Zielsetzungen miteinander zu verbinden und im zerstörten Nachkriegsdeutschland mit wenig technischem und finanziellem Aufwand ein breites Publikum zu erreichen. Obwohl die unmittelbare Vergangenheit, Nationalsozialismus und Krieg, das dominante Thema der Hörspielproduktion darstellte, nahm die Judenverfolgung nur eine marginale Rolle ein. Als Thema fand sie nur vereinzelt Eingang in das Hörspielprogramm. Diese wenigen Fälle sind aber von einem herausragenden Niveau: Mit der Funkfassung des Exildramas Professor Mamlock eröffnete das Hörspiel bereits 1945 einen differenzierten Blick auf die Gruppe der verfolgten Juden und stellte ein breites Spektrum der deutschen Juden als assimilierte Bürger, kommunistische Antifaschisten und religiöse Zionisten vor. Überwiegt die humanistische

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Charakterisierung des Protagonisten Mamlock im Hörspiel, so zeigen die Verfilmungen des Stoffes von 1938 und 1961 die Dimensionen einer Instrumentalisierung der Judenverfolgung für die Legitimation eines sozialistisch-kommunistischen Weges auf. In der Frühphase des DDRRundfunks deutet sich eine solche Tendenz jedoch nur zaghaft an. Im Mittelpunkt steht, wie auch in der öffentlichen Behandlung des Holocaust in anderen Medien und in der Politik der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Thematisierung des jüdischen Schicksals an sich. Hierarchisierungen innerhalb der Opfergruppen finden zu diesem Zeitpunkt kaum einen Niederschlag. Bietet Mamlock als bürgerlicher Humanist ein hohes Identifikationspotential für das deutsche Publikum, so verhandelt Woher kennen wir uns bloß? Ende der 1950er Jahre aus der größeren historischen Distanz unter starker Rückbindung an historische Fakten persönliche Schuld und Verantwortung. Im Vergleich zur Ursendung im NWDR verdeutlicht sich die Abwendung des DDR-Hörspiels vom traditionellen Hörspiel in der Bundesrepublik. In Ermangelung eigener Originalhörspiele wird der Weyrauch’sche Text übernommen, um ihn in ein Hörspiel zu verwandeln, das eine gelungene Balance zwischen dem radiophonen Kunstwerk und den historischen Bezügen der Holocaust-Erinnerung findet. Die im Titel angedeutete Reflexion des Erinnerungsprozesses als gegenwärtig, interpersonal und konstruktiv, die Nutzung radiophoner Zeichen zur Charakterisierung der Erinnerungsräume sowie die Schilderung des Aufstands im Warschauer Ghetto als Widerstandskampf religiöser Juden lassen eine ebenso sensible wie innovative Inszenierung entstehen, deren Niveau erst in den 1970er Jahren erneut erreicht werden wird. Ästhetisch ist Professor Mamlock als Auftakt des Holocaust-Hörspiels der Dramaturgie einer auditiven Theaterinszenierung verhaftet, die Gewalt und Widerstand vornehmlich in Schweigen artikuliert und Geräusche lediglich illustrativ verwendet. Entgegen den Zwängen des sozialistischen Realismus, der auch im DDR-Hörspiel seinen normativen Niederschlag fand, zeigt Woher kennen wir uns bloß? die Möglichkeiten einer akustischen Umsetzung von verschiedenen Zeitebenen, Erinnerungssequenzen, aber auch religiöser und kultureller Identität auf. Geräusch, Hall und Musik werden leitmotivisch eingesetzt und etablieren so einen auditiven symbolischen Zeichenapparat, der über den Horizont einer herkömmlichen Geräuschkulisse des traditionellen Hörspiels weit hinausweist. Nach der jahrelangen Tabuisierung des Holocaust und der Konzentration auf den antifaschistischen Widerstandskampf im Hörspiel führt die politische Liberalisierung nach Stalins Tod auch zu einer Öffnung der literarischen Geschichtsaufarbeitung im Radio der DDR. Woher kennen wir uns bloß? markiert so ein kurzes Interim zwischen der Marginalisierung von

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Judentum in den 1950er Jahren und der Instrumentalisierung des Holocaust in den 1960er Jahren. Instrumentalisierung des Holocaust im Kalten Krieg (1959–1970) Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust im ostdeutschen Hörspiel findet in den 1960er Jahren vor allem im Deutschlandsender statt und richtet sich somit auch an ein westdeutsches Publikum. In der Zeit des Kalten Krieges wird die Erinnerung an die nationalsozialistische Judenverfolgung in der Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik instrumentalisiert, die als Unrechtsstaat und Hort neonazistischer Tendenzen charakterisiert wird. Es findet eine unverhohlene Verquickung zwischen der deutsch-deutschen Tagespolitik, aktuellen Kriegsverbrecherprozessen und künstlerischen Artefakten im Radio statt. Die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion werden bewusst transzendiert, um den publizistisch-dokumentarischen Charakter der Stücke zu betonen. Das Genre des Gerichtshörspiels bietet für die Thematisierung des Holocaust aus verschiedenen Gründen einen geeigneten dramaturgischen Rahmen: Zum einen kann es in dokumentarischer Weise an die aktuellen Prozesse anknüpfen und so einerseits Authentizität behaupten und andererseits dem Realismusgebot entsprechen; zum zweiten bietet sich das allgemein bekannte Setting einer Gerichtsverhandlung, das keine visuelle Konkretisierung benötigt, mit seiner vorherrschenden Dialogstruktur für die Sendung als Hörstück geradezu an; zum dritten impliziert die Gerichtsverhandlung im Hörspiel automatisch wesentliche Aspekte der Holocaust-Auseinandersetzung wie Schuld, Verantwortung und Möglichkeiten von Sühne und Wiedergutmachung. Ungeachtet ihrer politischen Instrumentalisierung durch die Hörspielabteilung konfrontieren die beiden analysierten Hörspiele Aussage unter Eid von Günter de Bruyn und Die Ermittlung von Peter Weiss die Hörerinnen und Hörer mit Fakten des nationalsozialistischen Genozids, die spezifische Leiden der jüdischen Bevölkerung, darunter explizit Frauen und Kinder, herausstellen und den kommunistischen Widerstand als Leiterinnerung an den Nationalsozialismus in den Hintergrund treten lassen. In der auditiven Umsetzung greifen beide Hörspiele auf zwei nonverbale Zeichen zurück, die in den Inszenierungen leitmotivischen Charakter annehmen: Kennzeichnet das Schweigen die Ohnmacht und Traumatisierung der Zeugen und das Verschweigen der Täter, so steht das wiederholte Gelächter der angeklagten Nationalsozialisten im Hörspiel Aussage unter Eid und im Drama Die Ermittlung für fehlendes Unrechtsbewusstsein und unveränderte Machtstrukturen. In der Sendung des Hörspiels brechen die nonverbalen auditiven Zeichen – hier vor allem das Schweigen – in die semantische Verhandlung historischer Tatsachen ein und markieren die

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Verletzung der Opfer, ohne sie durch eine Überführung in Sprache aufzulösen. Beide Hörspiele reflektieren in dieser Weise auch die Schwierigkeiten der Zeugenschaft angesichts des industriellen Massenmords. Sind die Holocaust-Hörspiele der 1960er Jahre in der DDR noch bestimmt von einer Ambivalenz zwischen politischer Instrumentalisierung und zunehmender Sensibilität gegenüber den Opfern, ermöglichen sie trotz allem keine Debatte über eine mögliche Verantwortung der DDR und der ostdeutschen Bevölkerung für die Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Erst in den 1970er Jahren kann es im Rahmen einer partiellen politischen Liberalisierung auch eine Hinwendung zu den eigenen Verdrängungen und Unterlassungen in der Geschichtsaufarbeitung geben. Ästhetische und thematische Vielfalt der Auseinandersetzung mit Holocaust und Judentum in den 1970er und 1980er Jahren (1971–1989) Das Hörspielprogramm der 1970er und 1980er Jahre offenbart eine verstärkte Aufmerksamkeit gegenüber den Themen Judentum und Judenverfolgung, die sich in den wachsenden Zahlen einschlägiger Hörspiele abzeichnet. Diese Tendenz steht in einem nachweislichen Zusammenhang zum generell liberalisierten Umgang mit dem Thema in der politischen und kulturellen Öffentlichkeit der DDR. Es lässt sich eine vorsichtige Abkehr von den wesentlichen Paradigmen der Erinnerung an die nationalsozialistische Diktatur im DDR-Rundfunk beobachten: Einerseits tritt der antifaschistisch-kommunistische Widerstandskampf in den Hintergrund, andererseits wird die Doktrin des sozialistischen Realismus aufgeweicht. Einzug halten Genres, die eine Individualisierung von Geschichte unter verstärkter Verwendung von Authentifizierungsstrategien betreiben oder irreale Momente zur Darstellung des ‚Undarstellbaren‘ nutzen. Die verschiedenen individuellen Perspektiven auf die deutsche Geschichte entwerfen ein differenzierteres Bild von der Vergangenheit, als es in den Jahren zuvor verbreitet wurde. Bereits seit Anfang der 1970er Jahre treten jüdische Figuren auf, die für sich selbst stehen und sprechen, ohne notwendig ins Verhältnis zum antifaschistischen Widerstandskampf gesetzt zu werden. Der religiöse Jude als Antiheld oder Vertreter eines ‚leisen Widerstands‘ (Jakob der Lügner, Die Grünstein-Variante) ermöglicht eine sensible Thematisierung von NS-Geschichte jenseits ausgetretener didaktischer Pfade. Spezifische Probleme der Holocaust-Erinnerung wie fehlende Kohärenz in der Narration, das Verhältnis von Erinnerung und Vergessen sowie individueller Erfahrung und kollektiver Geschichtsschreibung, Zeugenschaft und Totengedenken werden zunehmend verhandelt. Nichtsdestotrotz hat diese neue Toleranz gegenüber Spielformen und Inhalten Grenzen. Diese sind auch Ende der 1980er Jahre noch nicht

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durchlässiger, wenn es sich um Kritik am eigenen Land handelt. Schweigendes Dorf, aber auch die Rundfunkbearbeitungen literarischer Vorlagen wie Jakob der Lügner und Bruder Eichmann legen einen unverändert tendenziösen Umgang mit den Texten offen. Im Vergleich zur Literatur, die in Buchform publiziert wurde, waren die ideologischen Grenzen des Hörspiels als künstlerisches Genre eines Massenmediums noch immer relativ eng. Eine Anerkenntnis der eigenen Geschichte und die Wahrnehmung der eigenen Bevölkerung in der Nachfolge eines nationalsozialistischen antisemitischen Deutschlands waren kaum möglich. Vorsichtige Annäherungen an diese heikle Problematik fanden sich allerdings in Übernahmen osteuropäischer Hörspiele, die die gegenwärtigen Folgen des Genozids an den Juden thematisierten. Schließlich kam es in den letzten beiden Jahrzehnten der DDRHörspielgeschichte zu einer zunehmenden Selbstreflexion der auditiven Medien. Radio und Tonband wurden als Technologien in den Handlungen selbst thematisiert. Als objektivierendes Speichermedium (das Tonband in Bruder Eichmann) und grenzüberschreitendes Empfangsgerät (das Radio in Jakob der Lügner) beleuchten sie das komplexe Verhältnis von Illusion und Abbild, Fakt und Fiktion und offenbaren ihr medienpolitisches Potential. Insofern kritisiert gerade Jakob der Lügner unterschwellig genau jene Prozesse politischer Instrumentalisierung, die sich auch in der Textbearbeitung der Romanvorlage für den Rundfunk abzeichnen. Medienästhetisch ist die Herausbildung einer auditiven Signatur des Holocaust zu beobachten, die sich sowohl innerhalb der Hörspielgeschichte als auch medienübergreifend in der Wechselwirkung vor allem mit dem (Ton-)Film abzeichnet. Über die im traditionellen Hörspiel üblichen Möglichkeiten von Musikbrücke und Geräuschkulisse hinaus entwickelt sich ein Zeichensystem, das einerseits die Gewaltförmigkeit des nationalsozialistischen Systems codiert, andererseits aber auch den Opfern eine Stimme verleiht. Diese Stimme kann als Stimme der Toten in Form einer in die Handlung integrierten Figur oder als Klang bzw. Musik die Narration der Überlebenden unterstützen und ergänzen oder auch als Gegenstimme die Rede der Täter kommentieren. Das Hörspiel ermöglicht im fehlenden visuellen Zeichen und mit den Mitteln einer körperlosen Anwesenheit die mediale Präsenz der Opfer. Die Durchsetzung ideologischer und ästhetischer Richtlinien fand sich vor allem auf der sprachlichen Ebene in Form von Umarbeitungen einzelner Formulierungen und in der Ausgrenzung phantastischer oder irrealer Handlungen. Erst am Ende der 1980er Jahre kann mit dem Hörspiel Knöpfe eine fundamentale Gesellschaftskritik, die patriarchale Machtverhältnisse, industrielle Produktion und Holocaust-Erinnerung auf verbaler wie auditiver Ebene miteinander verschränkt, gesendet werden.

352

Resümee

Tonspuren – die auditive Signatur des Holocaust Neben der Analyse von Programmstrukturen und Textbearbeitungen war ein wesentlicher Teil der vorliegenden Untersuchung den Spezifika des Hörspiels als akustischem Gedächtnismedium gewidmet. Medienästhetisch konnte die Herausbildung einer auditiven Signatur des Holocaust herausgearbeitet werden, die sich sowohl innerhalb der Hörspielgeschichte als auch medienübergreifend abzeichnete. Über die im traditionellen Hörspiel üblichen Möglichkeiten von Musikbrücke und Geräuschkulisse hinaus entwickelte sich ein Zeichensystem, das einerseits die Gewaltförmigkeit des nationalsozialistischen Systems codierte, andererseits aber auch den Opfern eine Stimme verlieh. Das komplexe auditive Zeichensystem des Hörspiels stand zwar im Dienst der oben genannten Instrumentalisierung durch die DDR-Kulturpolitik; die Umsetzung ideologischer Richtlinien fand sich allerdings weniger auf der auditiven als auf der sprachlichen Ebene in Form von Textbearbeitungen, häufig aber auch in den Umtexten (An- und Absagen, Ankündigungen, Zusammenfassungen) sowie in der internen Kommunikation der Abteilung Funkdramatik. Es steht zu vermuten, dass die kulturpolitische Aufmerksamkeit weniger den flüchtigen, schwer definierbaren auditiven Zeichen als den fixierbaren Texten galt, da erstere in ihrer Wirkung schlechter dingfest zu machen waren. Entsprechend konnte die auditive Ebene des Hörspiels aufgrund ihrer Flüchtigkeit und Unspezifizierbarkeit auch zum Ort einer alternativen Lesart von Geschichte werden. Die ‚Zurichtungen‘ allzu (selbst-)kritischer HolocaustTexte erfahren somit in den auditiven Zeichen der akustischen Umsetzung eine Korrektur. Da das auditive Zeichensystem schwerer zu etablieren ist als das visuelle, sind die Mittel des Hörspiels im Vergleich bspw. zum Film letztlich begrenzt. Folgende Zeichen traten dennoch hervor und können als auditive Signatur des Holocaust herausgestellt werden: Wiederkehrend eingesetzt wurden Musik, Musikakzente und Rhythmen, die affirmativ, aber auch kontrastiv genutzt wurden. Eine auffällige Präsenz weisen nonverbale Zeichen wie Lachen und Gelächter auf, die vor allem die Gruppen- und Identitätsbildungsprozesse sowie Hierarchien im Verhältnis von Tätern und Opfern betonen. Neben Zuggeräuschen als Symbol für die Deportation in Konzentrationslager sind Schweigen und Stille die am häufigsten eingesetzten auditiven Zeichen bei der Thematisierung des Holocaust. Stille im Hörspiel als radikaler Bruch in der Kommunikation sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Rezeptionsebene steht hier für die Traumatisierung der Opfer, die eine Überführung der erlittenen Gewalt in Sprache unmöglich macht; für den Zivilisationsbruch, der den Glauben an eine Kultur der Verständigung zerstört hat; für das Gedenken der Toten; aber auch für das Verdrängen und Verschweigen der Täter.

Resümee

353

Darüber hinaus aber ermöglicht die Präsenz des Abwesenden im auditiven Medium, den Opfern des Holocaust, auch den Toten, medial eine Stimme zu verleihen. Diese Stimme kann gerade im Hörspiel als Stimme der Toten in Form einer in die Handlung integrierten Figur oder als Klang bzw. Musik die Narration der Überlebenden unterstützen, ergänzen oder auch als Gegenstimme die Rede der Täter konterkarieren. Das Hörspiel ermöglicht im fehlenden visuellen Zeichen und mit den Mitteln einer körperlosen Anwesenheit die mediale Präsenz der Opfer, wobei die Doppelfunktion des Radios als Medium der Nachrichtenübermittlung und Literaturvermittlung dieser Präsenz eine spezifische Authentizität verleiht. Die detaillierte Analyse und Interpretation der auditiven Zeichensysteme in den Hörspielproduktionen offenbarte den wesentlichen Anteil der akustischen Umsetzung an der Bedeutungsproduktion des Hörspiels. Für zukünftige Untersuchungen bedeutet dies, dass allein textbezogene Interpretationen des genuin radiophonen Kunstwerks Hörspiel, wie sie die Forschung noch immer dominieren, letztlich scheitern müssen; statt dessen ist das Zusammenspiel interdisziplinärer Analysemethoden geboten. Die vorliegende Arbeit hofft über diesen medientheoretischen Aspekt hinaus, der florierenden Forschung zum Verhältnis von Medien und kollektivem Gedächtnis Impulse zu verleihen, die auditiven Medien ebenso in die Betrachtung der komplexen Strukturen kollektiver Erinnerung einzubeziehen wie die gesamtdeutsche Perspektive auf die nationalsozialistische Vergangenheit.

Quellen und Literatur

Die Hörzitate sind nun online abrufbar unter folgendem Link: www.degruyter.com/doi/10.1515/9783110225907 Rubrik „Zusatzmaterial“

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1. Hörzitate auf der Audio-CD bzw. Online Ich danke dem Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam für die freundliche Genehmigung der Veröffentlichung der Hörzitate. Friedrich Wolf: Professor Mamlock. Berliner Rundfunk. 08.11.1945. Gesamtlänge: 01:36:30. DRA-Nr. B 009982707. • Hörzitat 1: • Hörzitat 2:

00:00:00 – 00:04:17 01:07:11 – 01:08:18

Wolfgang Weyrauch: Woher kennen wir uns bloß? Berliner Rundfunk. 23.05.1957. Gesamtlänge: 00:44:37. DRA-Nr. B 009985143. • • • •

Hörzitat 3: Hörzitat 4: Hörzitat 5: Hörzitat 6:

00:00:00 – 00:03:26 00:12:08 – 00:13:35 00:24:00 – 00:25:43 00:32:20 – 00:35:56

Günter de Bruyn: Aussage unter Eid. Deutschlandsender. 02.11.1964. Gesamtlänge: 01:02:48. DRA-Nr. B 009987663. • Hörzitat 7:

00:46:50 – 00:49:28

Peter Weiss: Die Ermittlung. Deutschlandsender. 26.10.1965. Gesamtlänge: 04:08:23. DRA-Nr. B 009987956. • Hörzitat 8:

01:42:59 – 01:47:19

Jurek Becker: Jakob der Lügner. Berliner Rundfunk. 19.04.1973. Gesamtlänge: 01:21:45. DRA-Nr. B 009992299. • Hörzitat 9: 00:00:00 – 00:06:53 • Hörzitat 10: 01:02:15 – 01:05:58 • Hörzitat 11: 01:16:46 – 01:20:00

Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann. DT 64. 16.06.1984. Gesamtlänge: 01:24:41. DRA-Nr. B 009998811. • Hörzitat 12: 01:08:02 – 01:11:38 • Hörzitat 13: 01:17:52 – 01:23:37

Aichinger: Knöpfe. Berliner Rundfunk 1989. 21.12.1989. Gesamtlänge: 01:15:44. DRA-Nr. B 012766935. • Hörzitat 14: 00:00:00 – 00:03:46 • Hörzitat 15: 00:41:46 – 00:45:44

358

Holocaust-Hörspiele in der SBZ/DDR

2. Holocaust-Hörspiele in der SBZ/DDR Friedrich Wolf: Professor Mamlock

08.11.1945 Berliner Rundfunk

Bertolt Brecht: Furcht und Elend des Dritten Reiches 30.01.1949 Mitteldeutscher Rundfunk Jan de Hartog: Schiff ohne Hafen

06.01.1955 Berliner Rundfunk

Gerhard Jäckel: Jenseits der Barriere

01.04.1956 Deutschlandsender

Wolfgang Weyrauch: Woher kennen wir uns bloß? 23.05.1957 Berliner Rundfunk Günter Kunert: Die Steine werden reden

02.09.1957 Radio DDR

Erwin Sylvanus: Korczak und die Kinder

22.06.1959 Deutschlandsender

Friedrich Karl Kaul u. Walter Jupé: Alles beim Alten 13.07.1959 Deutschlandsender Rolf Schneider: Zimmer 112

02.10.1959 Deutschlandsender

Jan Otcenasek: Romeo und Julia und die Finsternis 18.05.1960 Radio DDR 1 Georg Dannenberg: Der Schoß ist fruchtbar noch 19.06.1960 Deutschlandsender Manfred Bieler: Die achte Trübsal

03.10.1960 Deutschlandsender

György Sós: Wahre Legende

16.11.1960 Radio DDR 1

Karl-Heinrich Bonn: Nächtlicher Besuch

19.06.1961 Deutschlandsender

Lothar Kleine: Die zweite Nacht

05.11.1962 Deutschlandsender

Günter de Bruyn: Aussage unter Eid

02.11.1964 Deutschlandsender

Stanislaw Wygodzki: Das Wunschkonzert 29.04.1965 Berliner Rundfunk Adolf Schröder: Gelassen stieg die Nacht an Land 10.06.1965 Deutschlandsender Peter Weiss: Die Ermittlung

26.10.1965 Deutschlandsender

Hans-Jörg Dost: Sieben Gespräche um Trinkgeld 06.03.1966 Radio DDR 2 Ilja Konstantinowski: Verjährungsfrist

07.04.1968 Berliner Welle

Holocaust-Hörspiele in der SBZ/DDR

359

Jurek Becker: Jakob der Lügner

19.04.1973 Berliner Rundfunk

Hans-Jörg Dost: Namyslowskis Zimmer

05.01.1975 Radio DDR 2

Günther Rücker: Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir 03.12.1975 Radio DDR 1 Wolfgang Kohlhaase: Die GrünsteinVariante 25.12.1976 Stimme der DDR Wolfgang Kohlhaase: Die GrünsteinVariante 08.05.1977 Radio DDR 1 Günther Rücker: Einer Reise zusehen

22.11.1977 Radio DDR 1

Kazimierz Moczarski: Gespräche mit dem Henker 29.03.1979 Berliner Rundfunk Lia Pirskawetz: Stille Post

13.02.1980 Radio DDR

Günter Eich: Träume

30.08.1981 Radio DDR 2

Irina Liebmann: Sie müssen jetzt gehen, Frau Mühsam 13.11.1982 Stimme der DDR Peter Swet: Das Interview

06.03.1983 Radio der DDR 2

Jerzy Janicki: Der Daunenträger

06.12.1983 Radio DDR 2

Heinar Kipphardt: Bruder Eichmann

16.06.1984 DT 64

Erich Schlossarek: In den letzten Tagen

20.04.1985 Stimme der DDR

Hans Bräunlich: Gewaltmarsch

13.10.1985 Radio DDR 2

Reinhard Griebner: Ich gehöre aber einer anderen Richtung an 24.09.1987 Berliner Rundfunk Gitta Sereny: Am Abgrund

22.11.1987 Radio DDR 2

Christoph Hein: Passage

16.07.1988 Radio DDR 2

Adolf Schröder: Katzengeschrei

03.11.1988 Berliner Rundfunk

Elisabeth Augustin: Der Improvisationsredner 05.11.1988 Stimme der DDR Heide Böwe: Philippine G., Geborene Rothschild 08.11.1988 Radio DDR 2 Irene Runge: Die Kneipe im Keller des Sammlers 09.05.1989 Radio DDR 2

360

Tonträger im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam

Gilles Segal: Der Puppenspieler von Lodz

29.06.1989 Berliner Rundfunk

Olaf G. Klein: Bis zum Tode

01.08.1989 Radio DDR 2

Manfred Müller: Als ich Jüdin geworden war 09.11.1989 Berliner Rundfunk Ilse Aichinger: Knöpfe

21.12.1989 Berliner Rundfunk

3. Tonträger im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam Aichinger, Ilse:

Knöpfe

IFD 865

Becker, Jurek:

Jakob der Lügner

3001097X00

Bieler, Manfred:

Die achte Trübsal

3000393X00

Bonn, Karl-Heinrich:

Nächtlicher Besuch

3000429000

Böwe, Heide:

Philippine G., Geborene Rothschild

HSP 2062

Brecht, Bertolt:

Furcht und Elend des Dritten Reiches 3000030X00

Dannenberg, Georg:

Der Schoß ist fruchtbar noch

3000396X00

de Bruyn, Günter:

Aussage unter Eid

3000568X00

Dost, Hans-Jörg:

Namysowskis Zimmer

3001220000

Hartog, Jan de:

Schiff ohne Hafen

3000221X00

Janicki, Jerzy:

Der Daunenträger

IFD 588

Kaul, Friedrich Karl u. Walter Jupé: Alles beim Alten

3000347X00

Kipphardt, Heinar:

Bruder Eichmann

HSP 1797

Kleine, Lothar:

Die zweite Nacht

3000489X00

Kohlhaase, Wolfgang:

Grünstein-Variante

3001351X00

Kohlhaase, Wolfgang:

Grünstein-Variante

3001352X00

Konstantinowski, Ilja:

Verjährungsfrist

3000738X00

Moczarski, Kazimierz:

Gespräche mit dem Henker

3001534X00

Mularczyk, Andrzej:

Aus den Tiefen der Wasser

IFD 893

Otcenasek, Jan:

Romeo und Julia und die Finsternis

3000385X00

361

Dokumente im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam

Roth, Thomas:

Das schwarze Zimmer

HSP 2268

Rücker, Günther:

Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir 3001288X00

Runge, Irene:

Die Kneipe im Keller des Sammlers

HSP 2086

Schlossarek, Erich:

In den letzten Tagen

HSP1804

Schneider, Rolf:

Zimmer 112

3000354X00

Schröder, Adolf:

Gelassen stieg die Nacht an Land

3000595000

Schröder, Adolf:

Katzengeschrei

IFD 811

Segal, Gilles:

Der Puppenspieler von Lodz

IFD 821

Sós, György:

Wahre Legende

3000405X00

Stöcker, Friedbert:

Wer wird Steine sammeln

HSP 2182

Swet, Peter:

Das Interview

IFD 545

Sylvanus, Erwin:

Korczak und die Kinder

3000344X00

Weiss, Peter:

Die Ermittlung

3000602X00

Weyrauch, Wolfgang:

Woher kennen wir uns bloß?

3000279000

Wolf, Friedrich:

Professor Mamlock

3000001X00

Wygodzki, Stanislaw:

Das Wunschkonzert

3000593X00

4. Dokumente im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam Dokumente im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam

Aichinger, Ilse: Knöpfe. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 009-00-05/0777. Becker, Jurek: Jakob der Lügner. Kontroll-Exemplar. Signatur: 3 009-0004/0611. Begründung für die Verleihung des Hörspielpreises 1986 – Kritikerpreis – an den Autor Hans Bräunlich für sein Hörspiel „Gewaltmarsch“. Signatur: I 009-00-04/0209. Bräunlich, Hans: Gewaltmarsch, Vorbemerkung des Autors zum Manuskript. Signatur: B 009-00-04/0114, ohne Paginierung. Bräunlich, Hans: Gewaltmarsch. Originalhörspiel. Erstsendung 13.10.1985 im Radio DDR II unter der Regie von Fritz Göhler. Manuskript. Signatur: B 009-00-04/0114. Dannenberg, Georg: Der Schoß ist fruchtbar noch. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 082-00-04/0095.

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Dokumente im Deutschen Rundfunkarchiv Potsdam

de Bruyn, Günter: Aussage unter Eid. Manuskript. Signatur: B 082-0004/0049. de Bruyn, Günter: In einer dunklen Welt.. Manuskript. Signatur: B 082-0004/0052. Dost, Hans-Jörg: Sieben Gespräche um Trinkgeld. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 082-00-04/0051. Eich, Günter: Träume. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 082-00-04/0051. Jäckel, Gerhard: Jenseits der Barriere. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 09900-05/0046. Jahresbericht der Hauptabteilung Hörspiel 1975. Signatur: F 009-0004/0232. Jahresbericht der Hauptabteilung Hörspiel 1984. Signatur: F 009-00104/02/32. Jahresplanung der Hauptabteilung Hörspiel 1984. Signatur: I 009-0004/0230. Kipphardt, Heinar: Bruder Eichmann. 1. Teil. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 009-00-04/1386. Kipphardt, Heinar: Bruder Eichmann. 2. Teil. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 009-00-04/1387. Peter Weiss: Die Ermittlung. Leserbriefe. Signatur: H 082-00-04/0225. Pirskawetz, Lia: Stille Post. Ein Hörspiel für kopfbezogene Stereophonie frei nach Tagebuchnotizen von Victor Klemperer. Manuskript. Signatur: A 009-0004/2203. Schirmer, Bernd: „Bemerkungen über das Hörerecho zur ‚Ermittlung‘ von Peter Weiss“. Signatur: H 082-00-04/0225. Schröder, Adolf: Gelassen stieg die Nacht an Land. Kontroll-Exemplar. Signatur: B 082-00-04/0262. Schweickert, Walter Karl: Herhören, hier spricht Hackenberger! Signatur: B 082-00-04/0034. Seher, [ohne Nennung des Vornamens]: „Kommentar zur Hörerpost zur Ermittlung“. Signatur: H 082-00-04/0225. Weiss, Peter „Die Ermittlung“. Oratorium in 11 Gesängen. Kontrollexemplar. Signatur: B 082-00-04/0256.

Literatur

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Literatur

–: „Echo und Phantom – die Stimme als Figur des Nachlebens“. In: Phonorama. Eine Kulturgeschichte der Stimme als Medium. Hg. v. Brigitte Felderer. Berlin 2004. 56–70. –: „Schreibarbeit und Phantasie: Ilse Aichinger“. In: Frauenliteratur ohne Tradition? Neun Autorinnenporträts. Hg. v. Inge Stephan, Regula Venske u. Sigrid Weigel. Frankfurt a. M. 1987. 11–37. Weiß, Christoph: Auschwitz in der geteilten Welt. Peter Weiss und die „Ermittlung“ im Kalten Krieg. 2 Bde. St. Ingbert 2000. Weiss, Peter: „Anmerkung“. In: ders.: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1991. –: „Gespräch über Dante“. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. 142–169. –: „Meine Ortschaft“. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. 113–124. –: „Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia“. In: ders.: Rapporte. Frankfurt a. M. 1968. S. 125–141. –: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Frankfurt a. M. 1991. –: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Mit einem Kommentar von Marita Meyer. Frankfurt a. M. 2005. –: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Produktion des Hessischen Rundfunks 1965. 3 CDs. München 2007. Welzer, Harald: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002. Weyrauch, Wolfgang: „13 Fragen an Bertolt Brecht. In: Literatur 1.16 (1952). –: „Aus einem Rundfunk-ABC“. In: Reinhard Döhl, Bernard Willms u.a.: Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Hg. v. Irmela Schneider und Karl Riha. Siegen 1981. 5–7. –: Dialog mit dem Unsichtbaren. Sieben Hörspiele. Mit einem Nachwort von Martin Walser. Freiburg i. Br. 1962. –: „Die japanischen Fischer“. In: Sinn und Form 8 (1956): 373–402. –: „Die japanischen Fischer“. In: ders.: Dialog mit dem Unsichtbaren. Sieben Hörspiele. Mit einem Nachwort von Martin Walser. Freiburg i. Br. 1962. 59–90. –: „Manifest“. In: Aussprache 3 (1951): 385. –: „Mit dem Kopf durch die Wand“. In: ders.: Mit dem Kopf durch die Wand. Geschichten – Gedichte – Hörspiel 1929–1971. Darmstadt 1972. 126–135. –: „Woher kennen wir uns bloß?“. In: ders.: Dialog mit dem Unsichtbaren. Sieben Hörspiele. Mit einem Nachwort von Martin Walser. Freiburg i. Br. 1962. 9–27.

Literatur

387

–: „Zu dem Hörspiel Die Ilsebill“. In: Reinhard, Bernard Willms u. a.: Zu den Hörspielen Wolfgang Weyrauchs. Hg. v. Irmela Schneider u. Karl Riha. Siegen 1981. 8–9. Wickert, Erwin: „Die innere Bühne“. In: Akzente 1 (1954): 505–514. Wiesel, Elie: „Die Massenvernichtung als literarische Inspiration“. In: Gott nach Auschwitz. Dimensionen des Massenmordes am jüdischen Volk. Hg. v. Eugen Kogon u. a. Freiburg 1979. 51–50. Wolf, Friedrich: Briefe. Eine Auswahl. Berlin 1958. –: „Der Aufstand des Warschauer Ghettos (1948)“. In: ders.: Aufsätze 1945–1953. Hg. v. Else Wolf u. Walther Pollatschek. Berlin u. Weimar 1968. 198–204. –: „Deutsche zum Nürnberger Prozess“. In: ders.: Aufsätze 1945–1953. Hg. v. Else Wolf u. Walther Pollatschek. Berlin u. Weimar 1968. 5–12. –: Doktor Mamlocks Ausweg. Tragödie der westlichen Demokratie. Zürich 1935. –: „Ein ‚Mamlock‘? – 12 Millionen Mamlocks! (1936)“. In: Friedrich Wolf: Dramen. Leipzig 1978. 458–461. –: „Formprobleme des Theaters aus neuem Inhalt. Ein Zwiegespräch mit Bertolt Brecht“ (1949). In: ders.: Dramen. Leipzig 1978. 472–476. –: „John D. erobert die Welt“. In: ders.: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin u. Weimar 1965. 43–104. –: „‚Krassin‘ rettet ‚Italia‘“. In: ders.: Gesammelte Werke. Hörspiele, Laienspiele, Szenen. Berlin u. Weimar 1965. 7–41. –: „Kunst ist Waffe! Eine Feststellung (1928)“. In: Friedrich Wolf: Dramen. Leipzig 1978. 433–449. –: „Professor Mamlock“. In: ders.: Das dramatische Werk. Bd. 3. Berlin, Weimar 1988. 295–365. Wolf, Markus: „Nürnberg bleibt aktuell!“ In: Erinnerungen sozialistischer Rundfunkpioniere. Ausgewählte Erlebnisberichte zum 30. Rundfunkjubiläum. Berlin 1975. 50–56. Wolfram, Gerhard: „Das Hörspiel als Kunstform“. In: Sonntag 6.37 (1951): 5. Würffel, Bodo: Art. „Hörspiel“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. 3 Bde. Bd. 2. Berlin u. New York 1997. 77–81. –: „Das Hörspiel in der DDR“. In: ders.: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart 1978. 186–223. –: Das deutsche Hörspiel. Stuttgart 1978. Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a. M. 1997 [engl. Orig.: Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation, 1988]. –: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur. Hamburg 2002.

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Literatur

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Personenregister Abusch, Alexander 55, 208, 211 Adenauer, Konrad 179 Adorno, Theodor W. 4 Aichinger, Ilse 27, 84, 88, 259, 312–345, 351 Ainsztein, Reuben 167 Amon, Ingrid 11 Apitz, Bruno 37, 208, 261 Appen, Karl von 208 Arendt, Hannah 26, 121, 195, 280 f., 283f., 294–297, 301f., 305 f., 309, 311 Aris, Helmut 45 Aristoteles 124 f, Arnheim, Rudolf 70 Arnold, Klaus 90, 135, 176 Assmann, Aleida 6–9, 31 f., 57–59, 61, 225 Assmann, Jan 7, 65 Aurich, Rolf 119

Bolik, Sibylle 16 f., 21, 63, 85–87, 89, 99, 101, 134, 164, 175, 194, 200, 204, 243–346, 249 f., 254, 256, 259, 320 Bonn, Karl-Heinrich 181 Borchert, Wolfgang 145 Bradfisch, Otto 191–193, 196, 200 f. Braese, Stephan 14 Braun, Alfred 133 Braun, Harald 141 Braun, Karlheinz 212, 231 Bräunlich, Hans 255 f. Brecht, Bertolt 84, 89, 91, 104, 112, 125, 135, 154, 232 Broders, David 65 Brook, Peter 208 Brunecker, Wolfgang 185 Bredekamp, Horst 6 Burmester, Gustav 147, 156 Busch, Ernst 208

Bachmann, Ingeborg 84, 320, 326, 344 Baden, Herrmann 45 Bannasch, Bettina 317 Bartel, Walter 41 Barthes, Roland 157 f. Baudrillard, Jean 72, 224 Bauer, Leo 38 Baum, Bruno 41 Bayer, Wolfgang 246 Becher, Johannes R. 145 Beck, Wolfgang 265 Becker, Jurek 26, 246 f., 250, 254, 259, 260–279, 350 f. Beethoven, Ludwig van 129, 131 Beinemann, Gert 178 Bellag, Lothar 208 Benjamin, Walter 66 Benthien, Claudia 70–72 Berfelde, Lothar 256 Berghahn, Klaus L. 285 Bergmann, Ingmar 71 Beyer, Frank 273 Bieler, Manfred 178, 180, 244 Biermann, Wolf 242 Bischof, Rita 221 Bloom, Margret 76, 83, 152, 271, 320, 326

Cage, John 71 Cassirer, Ernst 318 Charlotte von Mahlsdorf s. Lothar Berfelde Classen, Arnold 92 Classen, Christoph 90, 92 Combe, Sonja 33 Cremer, Fritz 208, 211 Dahlem, Franz 33 Dannenberg, Georg 178–180 Dante Alighieri 221, 229 f., 232 de Bruyn, Günter 26, 181, 187–207, 232, 349 De Felip, Eleonore 322 Dessau, Paul 208, 211 Dimitroff, Georgi 33 Diner, Dan 6, 34 f., 331 Djordjevic, Mira 22 f. Döblin, Alfred 104 Döhl, Reinhard 22, 145, 147, 150 f., 157 Dorschel, Andreas 67 Dost, Hans-Jörg 186, 251 Douglas, Lawrence Dresden, Sem 6 Drewitz, Ingeborg 158 Dürig, Günter 235 Dürrenmatt, Friedrich 17, 84

390

Personenregister

Dylan, Thomas 89 Eco, Umberto 68 Edel, Peter 46, 208 Egel, Karl-Georg 129, 131 Eich, Günter 17, 84, 88, 248, 259, 277 f., 316, 320 f., 326, 344 Eichmann, Adolf 43 f., 121, 177–179, 196, 279–312 Eisler, Gerhart 55 Emmerich, Wolfgang 241 f. Ende, Lex 38 Engel, Erich 208 Engelhardt, Manfred 188, 212 Erll, Astrid 9, 24, 59–62 Ernst, Wolfgang 60, 67 Erpenbeck, Fritz 97 f., 101 Esche, Eberhard 208 Evers, Karl 192 Farenburg, Hanns 133 Field, Noel H. 38 Fischer, Jörg-Uwe 97–99, 101 f., 105 f., 114, 122 Fischer, Otto 97 Fischer-Lichte, Erika 63, 77 Flückiger, Barbara 10, 62, 69 f., 73, 77–79 Frank, Anne 338 Frank, Armin P. 12, 16, 64, 74 Frevert, Ute 8, 31 f. Frisch, Max 17 Fuchs, Günter 191, 193, 196, 201 Gadamer, Hans Georg 319 Galinski, Heinz 56 Gansel, Carsten 15 Gebauer, Gunter 228 Geschonneck, Erwin 208 Geserick, Rolf 92 Gess, Nicola 70, 73 Geyer-Ryan, Helga 226 Gilbert, Gustave M. 286 Globke, Hans 43 f., 135, 177, 179, 282, 303 Goehler, Fritz 141 Goethe, Johann Wolfgang von 102, 113, 318 f. Gogol, Nikolai 101 f. Goguel, Hans 146 Goldhammer, Bruno 38 Goldstein, Kurt 46 Gölz, Sabine I. 330 Gorbatschow, Michail 242 Gordon, Wolff von 145

Goß, Marlies 17 Göttert, Karl-Heinz 271 Gottzmann, Carola L. 75 Granach, Alexander 112 Greif, Heinrich 101 Greiser, Arthur 192 Griebel, Ulrich 293 Grieger, Manfred 338 Grillparzer, Franz 102 Groeger, Peter 344 Groehler, Olaf 35, 38 f., 41, 53, 55 Grundig, Lea 46 Gugisch, Peter 86 f., 104, 244 f., 254 Gugisch, Renate 244 Gunold, Rolf 104 Hacks, Peter 291 Hagen, Wolfgang 70, 78, 80 Hähnel, Siegfried 86 f. Haiduk, Manfred 211, 236 f. Halbwachs, Maurice 7 Hammer, Almuth 312 Handke, Peter 285 Hannes, Rainer 17, 82, 182, 320 Hartel, Gaby 83 Hartog, Jan de 136, 139, 186 Haucke, Lutz 129–131 Hauptmann, Gerhard 102 Hausner, Gideon 280, 286, 306 Hayes, Peter 327 Hebbel, Friedrich 102 Heinz, Wolfgang 129, 211 Heise, Thomas 257 f., 351 Heiß, Kurt 135 Heister, Hans S. von 83 Heizer, Donna K. 121 Herf, Jeffrey 33, 36–38, 40 Hermand, Jost 136 Hermlin, Stephan 119, 187, 208, 237 Herzog, Roman 53 Heselhaus, Clemens 318 f., 321 Heukenkamp, Ursula 37 Heym, Stephan 119 Hickethier, Knut 10, 13, 69, 76, 84 Hiebler, Heinz 12, 76, 81 Hilberg, Raul 192, 210 Hildesheimer, Wolfgang 17, 84, 320 f., 326 Hindemith, Paul 232 Hippler, Fritz 166 Hirszfeld, Ludwik 166 Hitler, Adolf 53, 137, 195, 301, 304 Hobl-Friedrich, Mechthild 68 Hochhuth, Rolf 284

Personenregister Hohmann, Lew 127, 129 Holliger, Heinz 72 Honecker, Erich 48, 56, 176, 241 f. Hörner, Petra 75 Huchel, Peter 101, 103 Hull, William L. 286 Huwiler, Elke 18–20, 23, 63, 65, 68, 77 Illichmann, Jutta 42, 44–47, 49–52, 55 Jäckel, Gerhard 137 Jacobeit, Sigrid 327, 333 f. Jacobsen, Wolfgang 119 Jäger, Ellen-Maria 141 Jandl, Ernst 85 Jung, Thomas 267, 277 Jungmann, Erich 39 Jupé, Walter 178 Kafka, Franz 316, 324 f. Kagel, Mauricio 74, 256 Kahn, Siegbert 41, 46, 53 Kaienburg, Hermann 327 f., 332 Kamnitzer, Heinz 46 Kamper, Dietmar 221 Karbach, Walter 289, 299, 305 Kaspar, Frank 83 Kaul, Friedrich Karl 46, 176–178 Keßler, Mario 39, 41 Kipphardt, Heinar 26, 194, 257, 279–312, 351 Kirsch, Rainer 244 Kittler, Friedrich 10 Kleiber, Carine 342 Klein, Matthäus 97 Kleine, Lothar 181 Klemperer, Victor 75, 254 f., 344 Klevenow, Heinz 147 Knigge, Volkhard 37 f., 218 Knilli, Friedrich 17 Kogon, Eugen 327–329 Kohlhaase, Wolfgang 89, 246–251, 254, 350 Kolb, Richard 66 Köppen, Manuel 2, 277 Korczak, Janusz 143 Kormes, Karl 55 Kramer, Sven 9 Krämer, Sybille 61 Krankenhagen, Stefan 1, 4 Krause, Peter 43, 177, 282 Krautkrämer, Horst-Walter 15 Krug, Hans-Jürgen 81, 87 Kuhlmann, Karl 147

391

Kühnrich, Heinz 332 Kulcsar, Istvan S. 286 Kunert, Günter 139–141, 237, 242, 244 Küpper, Hannes 114, 133 Kurth, Otto 339, 341 Ladler, Karl 68 Landzettel, Ulrike 145 f., 153–155, 165 Langhoff, Wolfgang 106, 289 f. Lanzmann, Claude 5 f. Lau, Eva 255 Leonhard, Wolfgang 98 Lermen, Birgit 64, 153 Less, Avner 283, 285 f., 295 f., 300–302 Lessing, Gotthold Ephraim 51, 102, 113, 124 f. Lethen, Helmut 73, 168 Lichtenfeld, Kristiane 87, 88 Lichtenstern, Christa 319 Liepach, Horst 254 f. Lindemann, Gisela 312, 326, 333 Lindtberg, Leopold 112 Loeser, Franz 46 Lohser, Helmut 40 Lommer, Horst 105 Lorenz, Dagmar 319, 336 Lotmann, Jurij 62 Löwenkopf, Leo 40 Lübke, Heinrich 43, 177 Luxemburg, Rosa 55 Maetzig, Kurt 110 Mahle, Hans 97–100, 102, 135 Mall-Grob, Beatrice 313 Mann, Thomas 299 Mannbar, Artur 97 Mark, Bernard 164, 166, 171 Marszolek, Inge 80, 92 Marx, Karl 34, 38, 55 Maurach, Martin 83 Mayröcker, Friederike 85 Meckl, Markus 151, 170 Medek, Tilo 246 f. Meier, Michaela 91 Merker, Paul 38–40 Mertens, Lothar 177 Meshinski, Sergei 127 Meyen, Michael 91 Meyer, Julius 40, 41 Meyer, Marita 210, 212, 214, 216, 224–226, 229 f. Meyer, Moritz 111 Mießner, Rudolf 100 Minkin, Adolf 127 f.

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Personenregister

Mitscherlich, Alexander 31, 124 Mitscherlich, Margarete 31, 124 Mixner, Manfred 75 Moczarski, Kazimierz 169 Molière 102 Mommsen, Hanns 281 Morus, Thomas 320 Mühe, Ulrich 295 Mühl-Benninghaus, Wolfgang 90, 92, 97, 99 Müller, Heidy Margrit 318, 324, 329, 337 Müller, Heiner 244, 299 Müller, Henning 111–113 Naber, Hermann 208 Neuhaus, Lutz 136 Neumann, Isaac 51 Nono, Luigi 208, 231 Norden, Albert 55 Nünning, Ansgar 9, 60 Oberländer, Theodor 43, 135, 177 Ong, Walter 11 Otcenasek, Jan 183 Ovid 318 f., 334 Passarge, Marion 71 f. Pätzold, Kurt 53 f. Pelz, Josef 102 Penderecki, Krzysztof 231 Picard, Max 153 f. Piek, Wilhelm 45 Pietrzynski, Ingrid 90, 97–99, 101 f., 105 f., 114, 122, 133, 136, 139, 177 Pijet, Georg W. 109 Pirskawetz, Lia 75, 254 f. Piscator, Erwin 112, 208, 285 Plensat, Barbara 293 Plieviers, Theodor 102 Pollatschek, Walther 107–109 Popp, Theodor 184 Puschkin, Alexander 101 Radnóti, Miklós 255 Rajk 38 Rappaport, Herbert 127 f. Reichel, Käthe 300 Reinacher, Eduard, 248 Rentzsch, Gerhard 64, 70, 85 f., 180 Riedel, Heide 16, 75, 81, 176, 245 Ring, Käthe 257 Röcke, Werner 202 f. Rödel, Wolfgang 249 Rosenberger, Nicole 312 f. Rosewicz, Tadeus 237

Ruchatz, Jens 60 Rücker, Günther 194, 246, 250–254 Runge, Irene 53 f. Ruttmann, Walter 70 Sassen, Willem 310 Schafer, Murray 11, 73, 82 Schafroth, Heinz F. 319 Schall, Ekkehard 208 Scheer, Maximilian 133 Scheidegger, Joseph 339 Schenk, Heinz 46 Scherpe, Klaus R. 2, 209, 277 Schiller, Friedrich 131 Schindler, Oskar 5 Schirmer, Bernd 236 f. Schlemmer, Eva 255 Schlüter, Bettina 72 f. Schmedes, Götz 18 f., 23 f., 61–63, 65, 68 f., 71, 74, 76 f., 84 Schmid-Bortenschlager, Sigrid 313 Schmidt, Siegfried J. 61 Schmidt, Walter 53–55 Schoeps, Hans-Joachim 118 Schoeps, Julius H. 49 Schönemann, Horst 289 Schonendorf, Wolfgang 182, 208 Schöning, Klaus 70, 84 f., 256 Schramm, Helmar 250 Schreiner, Florian 70, 73 Schröder, Adolf 182 Schröder-Jahn, Fritz 339, 342 Schubert-Felmy, Barbara 326 Schulz, Manuela 70, 73, 158 Schulze-Rohr, Peter 208 Schweickert, Walter Karl 257 Schwitzke, Heinz 11 f., 16, 64, 70, 317 Scott, Joan W. 339 Seghers, Anna 55, 104, 119, 208 Semper, Jonty 71 Semprún, Jorge 72 Shakespeare, William 184 Simone, André 39 Singer, Paul 55 Slánský, Rudolf 39 Slibar-Hojker, Neva 334 Sós, György 184 Soschtschenko, Michael 101 Spielberg, Steven 5, 65, Staadt, Jochen 42 Stalin, Josef W. 110, 126, 136, 252, 348 Steinwendtner, Brita 338 Stephan, Inge 2, 4, 25, 344 Stern, Frank 112, 120

Personenregister Stroop, Jürgen 169 Sylvanus, Erwin 141–143 Tacke, Alexandra 2, 4, 25 Thomas, Peter 158, 168, 170 Thums, Barbara 312 f., 315, 317, 337 f. Timper, Christiane 15, 276 Tolstoi, Leo N. 150, 152 Töteberg, Michael 6 Ulbricht, Walter 44 f., 241 Veiczi, János 178 Velten, Hans Rudolf 202 f. Verhoeven, Paul 145 Vismann, Cornelia 234 Vowinckel, Antje 74 Wagner, Hans-Ulrich 16, 18, 98 f., 101 f., 110, 114, 177 Wagner, Richard 11 Walser, Martin 147 f., 156, 237, 285 Waterstradt, Berta 248 Weber, Elisabeth 331 Weichselbaumer, Susanne 18, 90 Weigel, Helene 208, 211, 332 Weigel, Sigrid 64, 66 f., 227, 330, 334, 338 Weill, Kurt 232 Weiß, Christoph 210 f., 214, 218 f. Weiss, Peter 26, 105, 138, 143, 181, 187, 194, 202 f., 205 f., 207–238, 284 f., 349

393

Weiterer, Maria 38 Wekwerth, Manfred 208 Welles, Orson 83 Welzer, Harald 10, 57, 59 Weyrauch, Wolfgang 25, 139, 145–171, 348 Wickert, Erwin 11, 66, 84, 104, 271 Wiesel, Elie 210 Wilde, Oscar 102 Wilke, Fritz 97 Wodianka, Stephanie 59 Wolf, Christa 104 f., 241 f., 291 Wolf, Friedrich 25, 106, 107–132, 347 f. Wolf, Konrad 111, 119, 129–132, 208 Wolf, Markus 106 Wolfram, Gerhard 134 Wulf, Christoph 221 Würffel, Stephan Bodo 15, 17, 18, 85, 152 Wuttig, Heinz Oskar 146 Wygodzki, Stanislaw 185 Young, James E. 1, 210 Zeplin, Rosemarie 189 Zhakov, Oleg 127 Zierold, Martin 7, 9, 14, 58, 60, 62 Zinner, Hedda 101, 104 Zorn, John 73 Zweig, Arnold 46, 119, 206 Zweig, Max 168

Werkregister Das Werkregister verzeichnet literarische Texte, Hörspiele und Filme. Achte Trübsal, Die (Manfred Bieler) 178, 180 f. Alles beim Alten (Friedrich Karl Kaul u. Walter Jupé) 141, 176–178 Als ich Jüdin geworden war (Manfred Müller) 256 Anabasis (Wolfgang Weyrauch) 146 Andere und ich, Die (Günter Eich) 320 Arme Konrad, Der (Friedrich Wolf) 107, 110 Ästhetik des Widerstands (Peter Weiss) 209 Auf der bewegten Erde (Wolfgang Weyrauch) 145, 154, 165 Aussage unter Eid (Günter de Bruyn) 26, 181, 187–207, 232, 349 Befehl ist ausgeführt, Der (Theodor Plievier) 102 Berlin, Große Hamburger (Günter de Bruyn) 207 Brautschau, Die (Nikolai Gogol) 101 Bruder Eichmann (Heinar Kipphardt) 26, 194, 257, 259, 279–312, 351 Bruder Hitler (Thomas Mann) 299 Cyankali (Friedrich Wolf) 107 Damals als die Brücke zerriss (Wolfgang Weyrauch) 145 Davidsbündler, Die (Wolfgang Weyrauch) 154 Dialog mit dem Unsichtbaren (Wolfgang Weyrauch) 146 Divina Commedia (Dante Alighieri) 221, 229, 232 Dr. Mamlocks Ausweg (Friedrich Wolf) 116, 118 Draußen vor der Tür (Wolfgang Borchert) 145 Dresden (Roland Suso Richter) 4

Flucht, Die (Kai Wessel) 4 Französische Botschaft (Ilse Aichinger) 319, 337 Fünf Mann Menschen (Frederike Mayröcker u. Ernst Jandl) 85 Furcht und Elend des Dritten Reiches (Bertolt Brecht) 135 Garne und Gewebe (Günther Rücker) 254 Geben Sie mir die Ehre und trinken Sie ein Glas Tee mit mir (Günther Rücker) 250–254 Gefesselte, Der (Ilse Aichinger) 334 Gelassen stieg die Nacht an Land (Adolf Schröder) 165, 182 Gelbe Fleck, Der (Friedrich Wolf) 112, 117 Germania Tod in Berlin (Heiner Müller) 299 Gespräche mit dem Henker (Kazimierz Moczarski) 169 Geteilte Himmel, Der (Konrad Wolf) 129 Gewaltmarsch (Hans Bräunlich) 255 f. Ghetto Warschau (Max Zweig) 168 Ghetto, Das (Stephan Hermlin) 237 Göttliche Komödie s. Divina Commedia Größere Hoffnung, Die (Ilse Aichinger) 312–315, 328, 330, 337 Grünsteinvariante, Die (Wolfgang Kohlhaase) 89, 246–251, 350 Gute Gott von Manhatten, Der (Ingeborg Bachmann) 344

Ermittlung, Die (Peter Weiss) 26, 105, 138, 143, 181, 187, 194, 202, 205 f., 207–238, 285, 349 Ewige Jude, Der (Fritz Hippler) 166

Hamletmaschine (Heiner Müller) 299 Heldenepos des Alten Bundes, Das (Friedrich Wolf) 111 Herhören, hier spricht Hackenberger (Walter Karl Schweickert) 257 Herrn Walsers Raben (Wolfgang Hildesheimer) 320 Hohlweg, Der (Günter de Bruyn) 187 f. Holocaust (Marvin J. Chomsky) 2 Holzweg, Der (Günter de Bruyn) 187 Hypnose (Josef Pelz) 102

Fetzers Flucht (Günter Kunert) 139

Ilsebill (Wolfgang Weyrauch) 150

Werkregister In der Sache J. Robert Oppenheimer (Heinar Kipphardt) 285 In einer dunklen Welt (Stephan Hermlin) 187 f. Jakob der Lügner (Jurek Becker) 26, 246 f., 250, 259, 260–279, 350 f. Japanischen Fischer, Die (Wolfgang Weyrauch) 146 Jenseits der Barriere (Gerhard Jäckel) 137 f., 140 Joel Brand (Heinar Kipphardt) 283, 285, 294 John D. erobert die Welt (Friedrich Wolf) 109 Kalte Herz, Das (Paul Verhoeven) 145 Kaninchen bin ich, Das (Kurt Maetzig) 180 Katzengeschrei (Adolf Schröder) 344 Kindheitsmuster (Christa Wolf) 241 Kneipe im Keller des Sammlers, Die (Irene Runge) 256 Knöpfe (Ilse Aichinger) 27, 88, 259, 312– 345, 351 Korczak und die Kinder (Erwin Sylvanus) 141–144, 165, 171, 266 Krassin rettet Italia (Friedrich Wolf) 107 f. Kristallnacht (John Zorn) 73 Laßt uns (Tadeus Rosewicz) 237 Leinenmappe, Die (Michael Soschtschenko) 101 Lindberghflug, Der (Bertolt Brecht) 232 Lissy (Konrad Wolf) 129 Mädchen von Viterbo, Die (Günter Eich) 248 Matrosen von Cattaro, Die (Friedrich Wolf) 110 Meine Ortschaft (Peter Weiss) 224 Metamorphosen (Ovid) 318 Mit dem Kopf durch die Wand (Wolfgang Weyrauch) 154 Mohammed (Friedrich Wolf) 107 Monolog für einen Taxifahrer (Günter Kunert) 139 Mozart und Salieri (Alexander Puschkin) 101 Nächtlicher Besuch (Karl-Heinrich Bonn) 181 Nachtstreife (Heinz Oskar Wuttig) 146 Nackt unter Wölfen (Bruno Apitz) 37, 261

395

Namyslowskis Zimmer (Hans-Jörg Dost) 186, 251 Narr mit der Hacke, Der (Eduard Reinacher) 248 Nathan der Weise (Gotthold Ephraim Lessing) 51, 113, 124 Philippine G., Geborene Rothschild (Heide Böwe) Plakat, Das (Ilse Aichinger) 334 f. Professor Mamlock (Wolf, Friedrich) 25, 102, 105 f., 107–132, 347 f. Professor Mannheim (Friedrich Wolf) 120 Pygmalion (Ovid) 334 Rat der Götter, Der (Friedrich Wolf) 110 Romeo und Julia (William Shakespeare) 184 Romeo und Julia und die Finsternis (Jan Otcenasek) 141, 183 f. Sabeth (Günter Eich) 320 Schiff ohne Hafen (Jan de Hartog) 136, 139, 186 Schindler’s List (Steven Spielberg) 5 f., 277 Schindlers Liste s. Schindler’s List Schoß ist fruchtbar noch, Der (Georg Dannenberg) 178 f., 181 Schweigen, Das (Ingmar Bergmann) 71 Schweigendes Dorf (Thomas Heise) 257 f., 351 Shakespeare dringend gesucht (Heinar Kipphardt) 289 Shoah (Claude Lanzmann) 5 f. Sieben Gespräche um Trinkgeld (Jans-Jörg Dost) 186 Solo Sunny (Konrad Wolf) 129 Steine werden Reden, Die (Günter Kunert) 139–141 Stellvertreter, Der (Rolf Hochhuth) 285 Stille Post (Lia Pirskawetz) 75, 254, 256 Tauben und Wölfe (Ilse Aichinger) 319, 326, 333, 335, 337–339 Tausendjährige Reich, Das (Horst Lommer) 105 Totentanz (Wolfgang Weyrauch) 146 Träume (Günter Eich) 88, 259, 277 f., 316, 344 Under Milk Wood (Dylan Thomas) 89 Ungebetene Gast, Der (Günter Kundert) 237

396 Unser Auschwitz (Martin Walser) 237 Utopia (Thomas Morus) 320 Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats, Die (Peter Weiss) 209 Vierzig Jahre (Günter de Bruyn) 188 Vögel beginnen zu singen, wenn es noch finster ist, Die (Ilse Aichinger) 322 Wahre Legende (György Sós) 184 f. Während der Stromsperre (Berta Waterstradt) 248 War of the Worlds (Orson Welles) 83

Werkregister Was der Mensch säet (Friedrich Wolf) 110 Weekend (Walter Ruttmann) 70 Woher kennen wir uns bloß? (Wolfgang Weyrauch) 25, 138 f., 144, 145–171, 348 Wunschkonzert (Stanislaw Wygodzki) 185 Zar Saltar, (Alexander Puschkin) 101 Zikaden, Die (Ingeborg Bachmann) 320 f. Zweite Nacht, Die (Lothar Kleine) 181 Zwischenfall in Benderath (János Veiczi) 178