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German Pages 242 [244] Year 1998
Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 97
Kathy Zarnegin
Tierische Träume Lektüren zu Gertrud Kolmars Gedichtband >Die Frau und die Tiere
Die Frau und die Tiere< / Kathy Zamegin. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 97) ISBN 3-484-32097-4
ISSN 0083-4564
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Einband: Industriebuchbinderei Hugo Nädele, Nehren
Vorwort
Für die vielfältige Unterstützung, die ich während der Arbeit an dieser Studie geniessen durfte, sei ein Wort des Dankes vorausgeschickt. Ich betrachte es als grosses Glück, dass Herr Prof. Dr. Hans-Jost Frey diese Arbeit aufmerksam begleitet und sie als Dissertation angenommen hat. Während meines Studiums waren mir seine Texte eine grosse Anregung; unvergesslich ist mir noch der Nachhall seiner Studie über den »freien Vers«. Ich bedanke mich bei ihm für seine stets feinfühligen Bemerkungen. Frau Prof. Dr. Heidy M . Müller bot während der Niederschrift dieser Untersuchung eine grosse Hilfe. Zwei von ihr veranstaltete Kolloquien über Gertrud Kolmars Lyrik sowie die Herausgabe des zusammen mit den Seminarteilnehmerlnnen erarbeiteten Bandes über die Dichterin waren wertvolle Gelegenheiten, um den eigenen Standpunkt neu zu reflektieren. Ihr und den Teilnehmerinnen der Kolloquien sei hier mein Dank ausgesprochen. Auf Kolmars Namen bin ich erstmals durch einen zufälligen Hinweis von Herrn Prof. Dr. Wolfram Groddeck aufmerksam geworden - was schliesslich der Anstoss fur diese Arbeit wurde. Dafür und fur die Übernahme des Korreferats bin ich ihm dankbar. Frau Prof. Dr. Sigrid Weigel war so freundlich, die Ergänzungsprüfung abzunehmen. Herr Prof. Dr. Gert Mattenklott hat die Anfänge dieses Projektes betreut. Obwohl die räumliche Distanz eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr zuliess, möchte ich mich dennoch herzlich fur sein spontanes Entgegenkommen bedanken. Frau Dr. Birgit R. Erdle gilt ebenfalls mein liebevoller Dank: für die offenen und kompetenten Anregungen zu meinen Lektüren. Ohne die finanzielle Unterstützung von folgenden Institutionen wäre mein Projekt unmöglich gewesen: Herrn Prof. Dr. Blome und mit ihm der Kommission der Freiwilligen Akademischen Gesellschaft in Basel fühle ich mich verpflichtet und möchte mich fur das mir entgegengebrachte Ver-
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trauen herzlich bedanken. Herrn Prof. Dr. Mihatsch und der Kommission des Schweizerischen Nationalfonds gilt ebenfalls mein Dank für das mir gewährte Auslandsstipendium in der Anfangszeit meines Projektes. Dem Kuratorium der Max Geldner-Stiftung möchte ich mich fur die grosszügige Unterstützung bedanken. Frau Dr. med. Massini von den Schweizerischen Akademikerinnen und Herrn Prof. Dr. Lochman von der Stiftung für theologische und philosophische Studien sei ebenfalls herzlich gedankt. Herr Dr. Stirnimann vom Amt für Ausbildungsbeiträge in Basel hat mit einem Darlehen die letzte Phase meiner Untersuchung ermöglicht; ich danke ihm an dieser Stelle. Die Stiftung Dr. Robert Thyll-Dürr stellte freundlicherweise einen Beitrag fiir die Drucklegung des Buches zur Verfugung. Schliesslich gilt mein aufrichtiger Dank Frau Dr. Katja Guth von der Dreyfus-Stiftung für ihren unermüdlichen Einsatz. Mein Dank gilt nicht zuletzt Andreas Cremonini für seine unverzichtbaren Lektürehilfen und Wolfram Schneider-Lastin, der mir bei der Herstellung der Druckfassung zur Seite stand. Zürich, im April 1998
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Kathy Zarnegin
Inhalt
Einleitung I.
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Tristesse oblige: Zur Bildproduktion in der dichterischen Rede
II.
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1. Ein Todeswunsch? (>Die KrankeDer Seegeist«)
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3. Zur Poetologie eines Alptraums (>Mörder TaubeDas Götzenbild«)
86
3. Im Namen der Liebe (>Die Tochter«)
III.
96
4. Weiblichkeit: eine stille Epiphanie
105
Spiegelungen
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1. Verwandlungen: Vom »Ich« und »Du« zum »Wir« (>Die Dichterin«)
IV.
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2. Was heisst ein Kind? (>Eine Mutter«)
143
3. Anders gesagt
153
Von den Tieren
160
1. Ein fatales Bündnis oder: Jenseits des Vereinigungsprinzips (>Der Schlangengarten«)
165
2. Kreuzungen (>Der Hamadryas«)
187
3. Eine tierische Kosmologie (>Der grosse Alk«)
203
4. Auf der Suche nach der verlorenen Stimme
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Literaturverzeichnis
227
Anhang: >Die Frau und die Tiere< Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe 1938
233
VIII
Einleitung
»Was, wenn Verwandlung nicht ist dein drängender Auftrag?« Rilke
Nach wie vor herrscht die Tendenz vor, in den Texten der Dichterin Gertrud Kolmar die Bestätigung für jene Ereignisse zu lesen, die für biographische Interessen von Belang sind. Der beste Beweis hierfür liegt darin, dass ihr Werk den meisten unbekannt ist, obwohl ihr Name in historischfeministischen Diskursen oft Erwähnung findet. Dabei handelt das Werk der Dichterin von weitaus mehr als nur von Kompensation und Verarbeitung ihrer tragischen Lebensumstände. Davon zeugen nicht allein die entschiedenen Äusserungen Kolmars zu ihrem Schaffen. Ihr Werk selbst stellt ein Beispiel für ausserordentliche dichterische Tätigkeit dar. Hierzu gehört zum einen ihre unübersehbare Belesenheit, die sowohl in den Briefen wie auch durch in den Texten versteckte Zitate immer wieder auffällt, zum anderen und vor allem der strenge und oft hermetische Aufbau der Gedichte selbst. Die lyrischen Manifeste der Dichterin haben zwar zumeist aus weiblicher Sicht geschilderte individuelle Probleme zum Anlass, erreichen aber in ihrer wuchernden Bildlichkeit eine undurchdringliche Dichte, die den Texten jene geschmeidige Reflexion verleiht, die man getrost Literarizität nennen darf. Der Grund fur die häufig unternommene historisch-biographisch orientierte Lektüre muss jedoch in den Gedichten und den Prosatexten selbst gesucht werden. Eines der tragischsten Ereignisse im Leben der Dichterin, nämlich eine auf Druck ihrer Eltern abgebrochene Schwangerschaft in jungen Jahren, hat in die Texte Eingang gefunden. Zahlreich sind die Gedichte, in denen ein Kind liebevoll und zärtlich angesprochen wird, und solche, in denen die Erinnerung an ein Kind wahnhafte Gefühle und Vorstellungen auslöst. Unübersehbar ist der schmerzerfüllte Selbstentwurf einer Frau, die nur im Tod Ruhe erblickt, weil sie kinderlos ist. Drei verschiedene Variationen dieser Thematik werden bereits im ersten Kapitel meiner Un-
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tersuchung vorgestellt werden. Es wird aber die Aufgabe des dritten Kapitels sein, diesen Umstand auch poetologisch zu beleuchten. Der unübersehbaren Schwermut zum Trotz sind die Texte Kolmars durch einen auffallenden Hang zu sinnlichen Gegebenheiten geprägt und mit Düften, Körpern, Tieren, Steinen, Blumen, Farben und Stoffen reich ausgestattet. Dieses an das Alte Testament erinnernde Bühnenbild macht als Kontrast zum traurigen Ton der Gedichte nicht zuletzt auch ihren Reiz aus. Die spärlich überlieferten Daten aus Kolmars Leben bestätigen in jeder Hinsicht das, was man sich unter einem tragischen Dichterinnenleben vorstellt und vorstellen möchte, denn Dichterinnen und Dichter scheinen nach wie vor nur in ihrem bzw. durch ihr Unglück zu interessieren. Das Echo, welches die dramatischen Lebensereignisse im Werk Kolmars hinterlassen haben, berechtigt jedoch noch nicht zu der Annahme, dass die Cousine Walter Benjamins mit ihrem lyrischen Œuvre lediglich eine rhythmisierte Fassung ihrer Tagebücher vorgelegt habe. Dafür sind die Gedichte zu komplex und das Selbstverständnis Kolmars von sich selbst als Lyrikerin zu differenziert, zu reif. U m der Trauer und dem Schmerz in den Texten näher zu kommen, dürfte es sinnvoller sein, zunächst zu vergessen, durch welche Lebensumstände diese motiviert sind. Allein auf diese Weise wird dem einzelnen Gedicht derjenige Raum zuteil, dessen es bedarf, um einlösen zu können, dass es in Wahrheit eine buchstäbliche Tragödie ist. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich ausschliesslich mit Kolmars allerletzter Veröffentlichung zu Lebzeiten: >Die Frau und die Tiere«. Dieser verschollene Gedichtband fristete als Publikation ein sehr kurzes Dasein. Er erschien im August 1938 unter dem bürgerlichen Namen der Dichterin, Gertrud Chodziesner, und verschwand schon einige Monate später durch die Novemberpogrome von der Bildfläche. Übriggeblieben sind nur schmale Spuren von diesem Gedichtband: ein Exemplar der Originalausgabe im Marbacher Literaturarchiv und ein Inhaltsverzeichnis der allerersten Variante des Buches, welches bereits im Februar 1933 bei der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart durch die Vermittlung der Dichterin Ina Seidel eingegangen war. Ansonsten muss das Buch durch mühsame Detektivarbeit aus dem Inhaltsverzeichnis der Kolmarschen Gesamtausgabe bei dtv rekonstruiert werden. 1 Die Erstversion des Gedichtbandes aus dem Jahre 1933 wurde im Februar desselben Jahres abgelehnt, wobei der Dichterin ein »scharfe[r] Intellekt«, jedoch eine minder so starke »ursprünglich
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Siehe Anhang.
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quellende dichterische Begabung« 2 attestiert wurde - knapp zwei Wochen nach dieser Ablehnung, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar brannte der Reichstag nieder. Im gleichen Schritt, wie sich eine gerade Linie zwischen dem immer lauter werdenden politischen Ton im Jahre 1933 und dem Nationalchorus fünf Jahre später nachzeichnen lässt, differieren - bei gleichbleibendem Titel - die beiden Fassungen der Sammlung >Die Frau und die Tiere«. Ist es dem Zufall zuzuschreiben, dass ein in der Zwischenzeit entstandener Zyklus der Dichterin sich >Welten< nennt? 3 W i e auch immer: Zwischen der ersten und der zweiten Fassung der Gedichtsammlung liegen Welten. Der Gedichtband beinhaltet zwei prominente Zyklen, nämlich Weibliches Bildnis< und >TierträumeMein Kind< und >TierträumeDie Frau und die Tiere« setzte sich aus 6 Gedichten aus dem Zyklus >Mein Kind«, 14 aus dem Zyklus >Tierträume< und 18 aus dem Zyklus Weibliches Bildnis« zusammen. Die Gedichtaus2
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Gustav Klipper, der damalige Verleger der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart in seinem Brief vom 15. Februar 1933, adressiert an Ina Seidel. Vgl. Marbacher Magazin, hg. von Johanna Woltmann, 63/1993, S. 83. Das Titelblatt dieses Zyklus trägt das Datum 17. 8. - 20. 12. 1937. Vgl. ebd., S. 182. Ebd., S. 79. Vgl. ebd.
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wähl, wie sie von der Dichterin dem Verlag vorgeschlagen wurde, umfasste die Titel - von kleinen Abweichungen abgesehen - in ebengenannter Reihenfolge der Zyklen. Es steht auf jeden Fall fest, dass Gertrud Kolmar zum erstmaligen Zeitpunkt der Auswahl den Zyklus >Mein Kind< als ein der Sammlung >Die Frau und die Tiere< gehörendes Element betrachtete. Beinahe ausnahmslos fallen bei der Veröffentlichung von 1938 die 6 Gedichte aus diesem Zyklus weg, anders gesagt, der Zyklus >Mein Kind< bleibt in der neuen Sammlung vollkommen unberücksichtigt. 6 Statt dessen verdoppelt sich die Zahl der Gedichte aus Weibliches Bildnis«. Zu den 18 Gedichten der Erstauswahl kommen weitere 17 hinzu, und ungefähr gleich verhält es sich mit den 14 Gedichten aus dem Zyklus >TierträumeTierträume< unter Beibehaltung der zyklischen Ordnung kann nur - wie dies vom Buchtitel ohnehin suggeriert wird - in programmatischer Hinsicht verstanden werden. Allein der Hinweis auf die ikonographische Tradition, in der die Paarung von »Frau« und »Tier« durch die Suggestionskraft der antiken Mythologie zu einem selbstverständlichen Sujet geworden ist, dürfte vorläufig genügen, um den topischen Charakter des Buchtitels zu unterstreichen. Die Beleuchtung der näheren Umstände dieses chiastischen Wechselverhältnisses zählt zu den Hauptaufgaben meiner Lektüre. Als Titel ruft >Die Frau und die Tiere< unweigerlich ein Bild hervor, ja er könnte eigentlich der Titel eines Bildes sein. Die Alleinherrschaft der Substantive mit dem bestimmten Artikel hat den Effekt einer apodiktischen Präsentation. In dieser verweisenden Bewegung auf Präsenz entsteht eine Plastizität, die man besonders aus dem Genre der Landschafts- oder Porträtmalerei kennt. Kein Wunder, wenn der erste Teil des Buches die Erwartung auf Bild- und Räumlichkeit sogar wortwörtlich erfüllt. 7 Die Implikation der Unmittelbarkeit bzw. Immanenz durch die bildliche Evokation des Titels muss allerdings mit Vorsicht genossen werden, fragt es sich doch mit aller Dringlichkeit, an welchen Ort der Topos >Die Frau und die Tiere< appelliert. Denn nimmt man ihn als eine Wendung ernst, so muss 6
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Was natürlich nicht bedeutet, dass die Kindthematik als solche gänzlich unterdrückt wird. Weibliches Bildnis«: >Erster Raum«, >Zweiter Raums >Dritter Raum«.
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ihm die einer Wendung seinsmässige illusorische Form der Selbstpräsenz zugestanden werden. Wendung ist im ursprünglich griechischen Sinne eine trophe·. eine Umkehr; diese besondere Wesenheit des Titels muss scharf hervorgehoben werden, denn in dieser Abwendung von dem, was der Titel zu sein vortäuscht, nämlich: ein plastisch nahestehender (Gemein-)Ort zu sein, kann erst sein scheinbar nur motivisches Dasein begründet werden. Diese Abwendung ist jedoch zugleich ein Widerspruch in sich, denn wenn sich die Trope (Gemeinplatz) davon abwendet, was sie ja selbst zugleich darstellen bzw. sein soll, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen Abwendung und Präsenz. Um diese fiir eine poetologische Lektüre, welche die unsere sein wird, auf eine Formel zu bringen: von der Wörtlichkeit des Textes ausgehend, die Erfahrung zu machen, wie dieser zugleich etwas anderes aus sich heraus sagen lässt. Um auf den Titel zurück zu kommen: >Die Frau und die Tiere< ruft zwar einen feststehenden Gemeinplatz aus der bildenden Kunst hervor, kann diesem aber als Wort nur gerecht werden, indem er diesen Gemeinort in eine andere, sprich literarische Umgebung überführt. Schliesslich: Wo könnte man den Tieren ungenierter begegnen als in den tropischen Wäldern der Schreibkunst?
Verwandlungen Die Frage richtet sich somit nach der literarischen Gestaltung dieser u(r)topischen Frucht der Räumlichkeit, das heisst nach der Projektion räumlicher Figürlichkeit durch den Buchstaben. Damit wird der programmatische Zwiespalt, ja vielleicht gar die Aporie einer Bewegung auch nennbar. Wie schon das Beispiel des Buchtitels vorführt, interessiert Kolmar offenbar eine Paarung ganz besonderer Art: nämlich die des Wortes mit dem Bild. Gewiss kann dieser Beobachtung entgegengehalten werden, dass dies nichts Neues für die literarische Sicht der Dinge darstelle. Und dennoch ist die Paarung, von der hier die Rede ist, eine ungewöhnliche Form in der sonst üblichen Vergleichsstruktur, weil sie ihren metaphorischen Charakter nicht nur in der Juxtapposition homogener Elemente erhält, sondern ihn in einem noch zu zeigenden Kreuzungsverfahren erst hervorbringt. Das Herausfordernde an dieser Figur, die wir näher erläutern werden, liegt darin, dass sie das Identische und das Differente, das heisst: Gegensätzliches, in beunruhigende Nähe bringt. 5
Die Besonderheit des Titels liegt damit in der Evokation einer reellen Referenz in der Bildkunst, welche auf dem Umweg dieser Vergegenwärtigung die Literarizität des Bildes erst gewahr zu werden erlaubt. Dieses Verfahren hat einen einfachen Namen: Es nennt sich Vortäuschung, besser vielleicht: Simulation. Auf jeden Fall gibt der Titel seine Spezifität damit bekannt, mit Bildproduktion eng zusammenzuhängen. Auf der mikrokosmischen Ebene der Sammlung sieht es wie folgt aus: Das, was den besonderen Charakter der Gedichte in dem bezeichnenderweise »Weibliches Bildnis< betitelten Zyklus hauptsächlich ausmacht, ist die Tatsache, dass sie sich als Bilder verstehen wollen, Sprachbilder genau genommen. Ebenso verhält es sich mit den >TierträumenDie Frau und die Tiere< demnach nahelegt, ist eine bestimmte Form der Promiskuität, die sich in der Bildproduktion der Gedichte zu erweisen hat. 8 Wir werden dem Problem nachgehen müssen, wie sich das Bild der »Frau« mit denjenigen der »Tiere« in der einheitlichen Form eines Gemäldes sehen, d. h. erklären lässt. Die ungewöhnliche Leistung dieser harmlos anmutenden Bildproduktion, deren schillernder Effekt die metaphorische Aussage ist, besteht bei Kolmar in der intimen Landschaft der allegorischen Struktur. Was haben dennoch Bilder und Räume in einem Text zu suchen? Oder genauer: Was ist unter einem Wort zu verstehen, das sich »Bildnis« liest? In dieser eigentümlichen, weil Gattungen überschreitenden Konstellation, die ganz nebenbei einen zweideutigen Effekt hervorbringt, entdeckt die Ratlosigkeit der Leserin und des Lesers ein Reizwort, ein reizendes Wort, nämlich den Reiz selbst, in der sich darbietenden Verbindung Gebärden einer Kunst wahrzunehmen, die sich Verführung nennt. Die spannungsvolle Aporie des Wort-Bild-Verhältnisses wird in einer Beziehung realisiert, deren spezifische Natur bisher unbenannt blieb, nämlich: dass die traditionelle Referenz der Topik der »Frau« und der »Tiere« die erotische Domäne ist. In dieser Hinsicht liefert auch Kolmars Gedichtbuch mit eigenen Worten die Bestätigung, legt es doch in seinen Titeigebungen die Vermutung sehr nahe, dass das, was die »Frau« zu den »Tieren« treibt, ihre »Träume« sind. Damit lässt sich die besondere Eigenschaft des »Raumes« ebenfalls benennen, denn
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Es ist auffallend, wie die konzeptuelle Verschränkung von Bild und Text Kolmar in die Nähe ihres prominenten Cousins Walter Benjamin bringt.
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der Raum, welcher den Träumen buchstäblich eingeräumt wird, ist derjenige der Schrift. 9 Allein die Kontraktion zweier Gestalten in der synthetischen Einheit eines Titels verweist mit aller Gewissheit auf den Darstellungsmodus eines Subjekts, weil sie damit die Skizzierung einer möglichen Fragestellung nach der Selbstpräsenz entwirft. Auch der ikonographische Charakter des Titels unterstreicht die im Titel des Buches angelegte Darstellungsproblematik, heisst doch Bildsein nicht zuletzt auch unweigerlich sich selbst sein. Es ist also von Bedeutung zu erfahren, was die Konsequenzen dieses Etwas-(anderes)-Seins oder, allgemeiner gesprochen, dieses Darstellungsprojektes fiir die Gedichte ist. Und damit ist ein impliziter Problemkomplex der vorliegenden Studie angesprochen. Jenseits von statistischen Spitzfindigkeiten lassen sich - wie auch bereits fur Gertrud Kolmars Poetik im allgemeinen formuliert worden ist - wenige Gedichte in der Sammlung >Die Frau und die Tiere< finden, in denen nicht Anspielungen auf den Körper oder auf leibliche Sensationen gemacht würden. Sei es im lasziv-verfuhrerichen Ton einer Geliebten, sei es als eine leidende Frauenfigur, sei es in der omnipräsenten Beschwörung der verschiedenen Tiergestalten: Der Körper steht im Zentrum der lyrischen Konfigurationen. Die Gegenwart der Tierfiguren in der Sammlung ist von solch umfassender Bedeutung, dass wir diese in einem eigenständigen Teil genauer zu untersuchen haben werden. Allem Anschein nach präzisiert sich das, was sich im Buchtitel als »Die Frau« buchstabiert, in der Sammlung als eine leibliche Erfahrung. Daneben ist zu beobachten, dass häufig in der Rede der weiblichen Hauptperson ein Gespräch zwischen ihrem Körper mit der Welt stattfindet. Mehr noch: In manchen Gedichten lässt sich diese Interferenz nicht einmal nachweisen, der Körper taucht selbst als die Inkarnation der Welt, selbst als die fremde Instanz auf. Die Aufhebung der Differenz zwischen einem »Ich« und einem »Du« bedeutet folglich, dass die Selbstpräsenz des Ich in der Darstellung eines anderen Objekts begründet ist. Diese auf der sprachlichen Ebene erzielte Identität mit einem fremden Objekt - und da halte ich mich an die Hegeische Lektion - ist eine, die nur aufgrund eines unaufhebbaren Unterschieds zu denken ist. Die inhaltliche Signifikanz dieses Unterschieds lässt sich jedoch - der Dialektik des Prozesses wegen - nur im Fehlen, d. h. als Abwesenheit einer Gesicht-zeigenden Instanz festmachen. 9
Ein Blick auf das theoretische Feld verstärkt unsere Behauptung: Jacques Derrida nennt prinzipiell »das Eigentliche der Schrift« die »Verräumlichung«; vgl. hierzu »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Schrift und Differenz, Frankfurt a. M. 1989, hier S. 330f.
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Das Motiv der Leiblichkeit - wenn diese überhaupt eine motivische Gegebenheit sein sollte — fällt in erster Linie in den verschiedenen Rollen und Selbstdarstellungen des weiblichen Subjekts auf. Allein die Titelgebungen im Zyklus Weibliches Bildnis< belegen, dass sich das lyrische »Ich« in 33 von 35 Fällen 10 als eine andere sieht bzw. präsentieren möchte. Die leiblichen Rollenwechsel oder Veränderungsformen, die bereits unter dem Ausdruck Verwandlungen subsummiert worden sind," bestehen schliesslich in der Überfuhrung in eine jeweils neue, fremde Figur. Mit dieser Eigentümlichkeit stellt sich Kolmars Lyrik in eine illustre Tradition, welche durch Ovids >MetamorphosenSonette an Orpheus< geprägt ist. Es geht zwar an dieser Stelle nicht darum, Kolmars lyrische Leistung mit bekannten Namen zu würdigen, es drängt sich jedoch auf, daran zu erinnern, dass, wo immer es förderlich scheint, die Lektüre die intertextuellen Referenzen hervorheben wird. In diesem Kontext wird vor allem der Einfluss der deutschen Romantik von besonderem Interesse sein. Verwandlungen sind - um auf das Thema zurückzukommen - vor allem Verhüllungen. Dieses Zurücktreten zugunsten eines Anderen ist eine Aufforderung an die Leserin und an den Leser, das Sichtbare nicht als es selbst, sondern als Zeichen aufzunehmen. Mit einer solchen Eigenschaft verweist die Verhüllung auf ein anderes Moment im Textaufbau, welches sich als Die Gedichte >Der Seegeist« und >Das Götzenbild« sind in dieser Hinsicht als Ausnahmetitel zu betrachten. " Vgl. Gundel und Gert Mattenklott: Berlin Transit. Eine Stadt als Station, Hamburg 1987. 12 In seiner originellen wie auch informativen Publikation Metaformations, London 1985 unterstreicht der amerikanische Altphilologe Frederick Ahl die sprachlichen Mutationen in Ovids >Metamorphosen< mit zahlreichen Beispielen, welche belegen, dass die Figurenverwandlungen in Ovids Werk von den sprachlichen Verwandlungen auf der phonetisch-zeichenhaften Ebene begleitet, besser: eingeleitet sind. Die Figur der sogenannten falschen Etymologie, eine auf Varo zurückgehende rhetorische Kategorie, soll sich, so Ahls Belege, in der Antike - selbst bei Anti-Rhetorikern wie Piaton - einer grossen Beliebtheit erfreut haben. Ahl ist in dieser Hinsicht nicht allein; vgl. ferner M . Eigeldinger: Poésie et métamorphoses, Neuchâtel 1973, S. 7, oder sämtliche Beiträge bei G . Demerson: Poétiques de la métamorphose, Saint-Etienne 1981; auch Tomlinsons Studie dürfte zu dieser Interpretationskategorie gezählt werden, vgl. Poetry and Metamorphosis, Cambridge u. a. 1983. Mit diesem Befund wird aber keineswegs die Behauptung aufgestellt, dass wir in Kolmars Gedichten einem, nach einer schönen Formulierung von Hans-Jost Frey, »Buchstabenballett« à la Mallarmé beizuwohnen haben, obwohl der Einfluss des symbolistischen Dichters hier und da in den Arbeiten Kolmars unbestreitbar ist; vgl. Studien über das Reden der Dichter, München 1986. 10
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Dunkelheit, besser: als Rätsel beschreiben lässt.13 Es ist dennoch kaum möglich, von Verhüllungen zu sprechen, ohne ihren begrifflichen Gegenpart, nämlich die Enthüllung ausser acht zu lassen. In der Spannweite des Verbergens und Offenbarens bewegt sich der Text, und mit diesem unsere Lektüre. Wenn wir uns nun bereits im ersten Teil die Beobachtung der Selbstmutationen zur Aufgabe gestellt haben, dann heisst das, dass wir implizit die Verhüllungen des weiblichen Subjekts in ihrer zumeist metaphorisierten Rede zu entziffern bzw. zu enthüllen haben werden. Dabei wird sehr früh auffallen, dass der bildreichen Rede der Ich-Person - gemäss dem Diktum der metaphorischen Rede — phantasmatische Elemente innewohnen. Vergessen wir nicht, dass die Titeigebungen (sowohl fur das Buch wie für die Zyklen) - und wir werden zu sehen haben, dass nicht nur diese allein - auf den besonderen Umstand der Weiblichkeit und des Phantasmas mit der Berücksichtigung des Animalischen im Sinne einer libidinösen Ökonomie geradezu insistieren. Ich möchte in keiner Weise der Textinterpretation eine wie auch immer orientierte theoretische Abhandlung vorausschicken, kann es aber nicht unterlassen, zum - vom Text selbst - gegebenen Zeitpunkt auf die Errungenschaften einer Disziplin zu verzichten, welche hinsichtlich der Erläuterung der Traumbilder in der Sprache - und davon spricht Kolmars Buch in aller Offenheit — uns nützliche Anregungen zu liefern imstande ist. Mit der psychoanalytischen Lehre verbindet uns nämlich unser ausgesprochenes Interesse für das Ich als das Vermittlungsorgan zwischen der manifesten und verborgenen Sprache, als das Bindeglied zwischen Repräsentation und Affekt im textlichen Geschehen. 14 Ferner nährt sich unser Rekurs auf diese Theorie nicht zuletzt auch aus der Intention, die unerkannte, verborgene Sinnschicht im Text zu analysieren. Als unerkannt darf jedoch nur gelten, was sich in einem nichtreferentiellen Sinnzusammenhang befindet, in einem Gedicht hiesse es: diejenigen Momente, die die ikonischen Elemente bereithalten.
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Die Auffassung der Kunst als ein Rätsel wird in der Sammlung gelegentlich sogar wortwörtlich vertreten; vgl. beispielsweise das Gedicht >Die Gauklerin< im Zyklus Weibliches BildnisDie Dichterin«, wird zunächst die Rede an das » D u « exemplarisch unter die Lupe genommen. D a s Resultat dieses Gesprächs wird alsdann mit der Anrede des Kindes in einem signifikanten Gedicht näher erläutert. Daraus lässt sich das Kind, insbesondere seine Funktion für das Subjekt der Gedichte schärfer formulieren, denn nirgends zeigt sich der selbstbezügliche Charakter von Kolmars Dichtung so deutlich wie in ihrem U m g a n g mit der Figur des Kindes. Der letzte Abschnitt in jedem Kapitel hat in meiner Studie einen abschliessenden Charakter in bezug auf die jeweils untersuchten Gedichte und formulierten Thesen. An solcher Stelle
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wird jeweils zusammengefasst, was ein Kapitel als Ganzes geleistet hat. Auch wird hier der Ort sein, an dem zu veranschaulichen ist, wie der Komplex im Zusammenhang mit den vorhergehenden und noch kommenden zu verstehen ist. Der narzisstische Zug in der Sprache der Mutter, ihre allegorisierende Natur gehören im dritten Kapitel zu den Diskussionen der letzten Rubrik. Doch meine Untersuchung wird hier auch die strukturelle Nähe des Kindes und des Tieres in Erwägung ziehen. Wenn also im zweiten und dritten Kapitel hauptsächlich Gedichte aus dem Zyklus Weibliches Bildnis< herangezogen werden, dann legt der erwähnte Befund sehr nahe, nun die Sache mit den Tieren eingehender zu beleuchten. Das vierte Kapitel ist zwar der Tierproblematik gewidmet, wird jedoch gelegentlich auch ein Licht auf diejenigen Bezüge werfen, die in den vorhergehenden Lektüren zur Sprache gebracht wurden. Damit muss für die Programmatik dieses Kapitels festgehalten werden, dass hier je nach Zusammenhang zwar auf die jeweilige Tiersymbolik vielleicht verwiesen wird, jedoch keineswegs eine symbolische Interpretation der Tiere angestrebt worden ist. Das Tier stellt nämlich nach dem Kind eine weitere metonymische Aktion in der lyrischen Schmuckkette der Frau dar. Ja, mehr noch: In struktureller Hinsicht stehen die Tiere sowohl für die Frau als auch für das Kind. Mit dieser Doppelverbindung gepaart, steht das Tier in einem schicksalhaften konstellativen Aspekt. Diese Perspektive wird der rote Faden des letzten Kapitels sein. Die Lektüre zieht in einem ersten Teil die Genredebatte in Erwägung und kommt zusammen mit den von Kolmar geschätzten Autoren wie Lessing zum Schluss, dass die >Tierträume< nicht in der Kategorie Tierfabel klassifizierbar sind. In der gleichen Rubrik wird die Funktion des Tieres im Alten Testament sowie Kolmars Anregungen und Abweichungen vom sakralen Text veranschaulicht. Hier wird das schicksalhafte Bündnis der Frau mit den Tieren in historischer Hinsicht beleuchtet. Im Zusammenhang mit einer Gedichtinterpretation wird jedoch ausführlich besprochen werden, inwiefern die rhetorische Qualität der Gedichte die geschichtlichen Bezüge erst ermöglicht. Zwei weitere Abschnitte in diesem Kapitel setzen sich alsdann mit dem oben schon angedeuteten Kreuzungsverfahren in Kolmars Dichtung auseinander. Zum einen wird hier in der Korrespondenz des Tiernamens mit poetologischen Gesten die Figur der Katachrese auf sich aufmerksam machen. Zum anderen wird in der selben Ordnung zu sehen sein, dass die Versammlung der Tiere in einer konstellativen Beziehung zu den Tierkreiszeichen bzw. Sternbildern interpretierbar ist. In Anlehnung an Walter Benjamin wird diese Konstellation 12
fur die Sache der Schrift lesbar gemacht. Der letzte Abschnitt in diesem Kapitel vergegenwärtigt die Perspektive des Gedächtnisses fiir die Gedichte und erinnert - selbst als ein letztes Erinnerungsgefäss - an die in den Lektüren gesammelten Topoi im Lyrikband >Die Frau und die TiereDie Frau und die TiereTierträume< einerseits, diesen und dem Titel der Sammlung >Die Frau und die Tiere< andererseits erlaubt, diesem Verhältnis eine erste These abzugewinnen: Das quasi-metonymische Verhältnis zwischen dem Substantiv »Die Frau« und dem Adjektiv »weiblich« und der anaphorische Gebrauch des Wortes »Tier« im Zyklustitel sowie im Buchtitel fuhren zwar die enge Verknüpfung der Frau mit den Tieren ostentativ vor, sie suggerieren darüber hinaus, dass auch umgekehrt anstelle der »Frau« »Träume« und fur die »Tiere« »Bildnis[se]« befragt werden können. Wenn man der genannten Arithmetik weiter nachginge, müsste nun folgerichtig ergänzt werden, dass die Austauschbarkeit von Träumen und Bildern auch diejenige der Frau und der Tiere provoziert. Tatsächlich wird es sich zeigen, dass eines der wichtigsten Charakteristika der Gedichtsammlung die Paarungsthematik bzw. das Kreuzungsverfahren ist. Ossip Mandelstam hat diese Operation als das sine qua non der dichterischen Rede qualifiziert. Die poetische Sprache, so Mandelstam, zeichne sich durch ein Kreuzungsverfahren aus, welches sich aus zwei Klangweisen zusammensetzt.1 1
Vgl. Ossip Mandelstam: Gespräch über Dante, Bd. 2, Zürich 1991, S. 113. So verweist Birgit R. Erdle in ihrem Text ebenfalls auf den Kreuzungsaspekt bei Kolmar, indem sie an einer Stelle beispielsweise die Verwobenheit des ästhetischen und des religiösen Diskurses unterstreicht; vgl. Erdle: Antlitz - Mord Gesetz. Figuren des Anderen bei Gertrud Kolmar und Emmanuel Lévinas, Wien
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Der Ausgangspunkt meiner Interpretation wird im vorliegenden Teil jeweils markiert durch einen Selbstmetaphorisierungsakt des Subjekts; gemeint sind damit Stellen, in denen sich das lyrische Ich mit etwas anderem vergleicht. Es soll jedoch an dieser Stelle schon verdeutlicht werden, warum der Akt der Selbstmetaphorisierung als Ausgangspunkt von Belang ist. Ohne hier eine neue Metaphertheorie aufstellen zu wollen, lässt sich zunächst folgendes über die metaphorische Struktur festhalten: Die metaphorische Rede versteht sich als eine neue und eigenständige Beziehungsform von vorher existenten Wahrnehmungskonzepten bzw. -einheilen. Von daher ist ihre Verwandtschaft mit dem Verwandlungsvorgang naheliegend. Eine Verwandlung besteht ihrerseits zwar darin, aus einer vorgefundenen Gestalt eine neue Gestalt zu schaffen, dies - im Unterschied vielleicht zu einer Beziehungsform - aber so, dass die vorhergehende Gestalt dabei zerstört werden muss. Dem Grimmschen Wörterbuch 2 zufolge hat das Verbum »verwandeln« verschiedene, jedoch, wie zu zeigen sein wird, untereinander keineswegs inkohärente Bedeutungseinsätze. Diese reichen von »zerstören«, »aufheben«, »sterben« bis hin zu »verwandeln durch übernatürliche Kraft, göttliche Wirksamkeit oder Zauber«. »Verwandlung« wiederum bestreitet einen eigenen Raum: Seine Bedeutung entspricht den lateinischen Begriffen der »mutatio«, »conversio« und »transfiguratio«, ferner kann man eine Verwandlung »erleiden«, von der Verwandlung der »Gestirne« oder der »Insekten« sprechen oder ganz allgemein mit diesem Wort den »Übergang aus dem Wachen in den Schlaf« bezeichnen. Die Bedeutung »zerstören«, »aufheben« lässt ahnen, dass im Wesen der Verwandlung eine destruktive Kraft am Werk ist, welche einer Metapher erst dann zukommt, wenn sie ihre Bezüglichkeit aufgibt. 3 Die Verwandlung
1994, S. 205. Erdle hat in ihrer Arbeit über Gertrud Kolmar bereits auf die wichtigsten Besonderheiten des Kolmarschen Werkes aufmerksam gemacht, indem sie vor allem dessen theoretische Grundlage beleuchtet hat. Es ist demnach unvermeidbar, wenn ähnliche Beobachtungen in der vorliegenden Untersuchung registriert werden. Obwohl Erdle durch ihre Fragestellung und Bezugnahme auf verschiedene Denkmodelle einen Interpretationspfad verfolgt, der von dem unseren abweicht, wird in der Folge trotzdem gelegentlich auf Gemeinsamkeiten in der Lektüre aufmerksam gemacht. 2 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1-16 und Quellenverzeichnis, Leipzig 1854-1960/1971; im folgenden zitiert als Grimmsches Wörterbuch. 3 Solche radikalen Formen eines Zustands jenseits der Metapher lassen sich meines Erachtens in Paul Celans Lyrik belegen.
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oder Metamorphose lässt sich somit als die Verabsolutierung der metaphorischen Rede verstehen.4 Und dennoch ist die zu einer Verwandlung verdichtete Metapher nicht mehr eine Metapher im eigentlichen Sinne. Denn im Gegensatz zur Zeitlosigkeit der metaphorischen Aussage ist die Zeit der konstitutive Faktor der Metamorphose, da sie allein aus der Unterscheidung eines Vorher und Nachher überhaupt begriffen werden kann. In der Zeitlichkeit der Metamophose liegt die überwältigende Dynamik eines Verwandlungsaktes, in welchem sich eine neue, unerhörte Realität Ausdruck verschafft. Zu einer Metamorphose gehört also die Vorher/Nachher-Beziehung, wobei sich darin das literarische Moment noch lange nicht erschöpft. Denn paradoxerweise ist es erst das Vorhandensein eines Kontinuums, welches die vollbrachte Verwandlung signalisieren bzw. zur Sprache bringen kann. Nach der Mutation muss ein Kontinuum, ein Bindeglied zum vorherigen Zustand lesbar bleiben, um die vollzogene Verwandlung als Verwandlung gegenwärtig zu halten. Eine Verwandlung ohne eine solche Kontinuität käme einer creatio ex nihilo gleich. Wenn von Verwandlungen die Rede ist, steht mithin zusätzlich zur Kreation vollkommen neuer Wesen, d. h. des ganz Anderen, auch das Identische im Zentrum. Es ist im Grunde genommen dieses letztere, welches Auskunft über eine radikale Veränderung erteilt. Dieses Selbige, dessen Funktion darin besteht, die Promiskuität fremd gewordener Elemente aufrechtzuerhalten bzw. deren Ferne zu signalisieren, ist das Subjekt der Rede, also diejenige Instanz, welche »Ich« sagt.5 Unter »Ich« ist demnach jenes vom Linguisten Jakobson als s h i f t e r bezeichnete Wort zu verstehen: ein variables Sprachelement, das von Fall zu Fall eine 4
In diesem Sinne argumentiert Michel Le Guern, wenn er schreibt: »la démarche de création [va] de la métaphore à la métamorphose«, in: Poétiques de la métamorphose, hg. von G u y Demerson, Saint-Etienne 1981, S. 3 2 . Auch Julia Kristeva argumentiert in diesem Z u s a m m e n h a n g in einer Weise, die unserer Interpretation sehr nahekommt; dort wo die metaphorische Verdichtung in der »Wahrnehmungsregion« anlangt, so Kristeva, »wird die Metapher zur Metamorphose«. In: Geschichten von der Liebe, Frankfurt a. M . 1994, S. 318.
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H u g h Silverman schlägt eine interessante These bezüglich des Verhältnisses zwischen Ich und literarischem Kreuzungsverfahren der Texte vor; davon ausgehend, dass ein X »das Kennzeichen von Visibilität ist«, k o m m t er zu dem Schluss: » D a s X oder C H I oder C H I A S M [ C H I A S M U S ] ist der O r t des I C H , des >I< [Ich], welches sich nicht im Z e n t r u m befindet [...]. D a s >I< [Ich] kennzeichnet den O r t des Abgrunds - des C H A S M [Kluft] - wo das >I< [Ich] fehlt, wo die Abwesenheit des il< [Ich] den C H A S M [die Kluft] im C H I A S M [Chiasmus] identifiziert.« Vgl. Der Entzug der Bilder, hg. von M . Wetzel und H . Wolf, München 1994, S. 46.
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andere Person meint und diese auch ist; mithin die einzige Sprachfigur, die stets in den Prozess des Aussagens einbezogen ist. Wir wollen uns in der Folge an der Rede der Ich-Person orientieren, natürlich besonders dann, wenn sie sich mit etwas vergleicht. Diese SelbstVergleiche geschehen in den meisten Fällen auf zwei Weisen: Entweder spricht das Ich seine neue, ihm fremde Identität direkt aus, indem es seinen Zustand mit dem Zusatz »bin« präzisiert, oder es vergleicht sich partiell mit dem Fremden, d. h. meist durch die Intervention eines Körperteils. In beiden Fällen kann das Vergleichswort »wie« herangezogen sein. Ich werde jedoch nicht die von der Dichterin vorgeschlagenen Selbstbilder in den Titeigebungen berücksichtigen. Gewiss lassen sich einzelne Titel, insbesondere diejenigen aus dem Zyklus »Weibliches Bildnis< auch als Metamorphosen des lyrischen Subjekts verstehen. Es scheint mir sinnvoller — abgesehen davon, dass auf diese Weise die ganze Sammlung in Erwägung gezogen werden kann - , die Gedichte in ihrem Wortlaut, nach den immanenten Selbstdarstellungen der Ich-Person zu berücksichtigen. Das besagte Kontinuum im Verwandlungsakt macht ferner das Problem des Ahnlichkeitsprinzips thematisch. Im Auftauchen des Wörtchens »wie« ist zwar dieses Prinzip gelegentlich gewährleistet. Das Beibehalten der Erkennungsmerkmale trotz der vollständigen Vernichtung einer Gestalt zugunsten einer neuen ist jedoch nicht immer leicht und lässt sich nicht immer anhand eines »wie« ausmachen. Homophonien beispielsweise sind, wie das schmale Werk Mallarmés vorfuhrt, Raritäten, und vielleicht deshalb müssen Metapher oder Metonymien häufiger fxir die Transfigurationen in den Gedichten verantwortlich gemacht werden. Wir sprechen von Metaphern und Metonymien bzw. von der Notwendigkeit eines Kontinuums und können nicht umhin, auch daran zu erinnern, dass die metaphora continua nach Quintilian eine andere Bezeichnung für eine bildliche Konstellation, namentlich die Allegorie ist. Auf diesen Begriff sowie die nähere Beleuchtung der Ähnlichkeitskategorie komme ich jedoch an einer anderen Stelle zurück. Dem Ich auf den Pfaden seiner Verwandlungen zu folgen, seine »Bildnisse« aufzuspüren, bedeutet auch, die Verhüllungen der weiblichen Protagonistin, ihre rätselhaften Phantasien zu enthüllen. Eine auf Eindeutigkeit ausgerichtete Interpretation der Gedichte, und das gilt für die gesamte Studie, wird also insofern angestrebt, als die Bildproduktion bzw. die exzentrische Bewegung der Verwandlungen vorwiegend im Hinblick auf die Autoreflexivität der Texte, d. h. auf ihre literarische Tragfähigkeit hin gelesen 17
wird. Und dennoch wird sich selbst die Eindeutigkeit dieser erklärten Absicht aufgrund der gelegentlichen Unübersetzbarkeit der Bilder in die Zweibzw. Mehrdeutigkeit einer Vermutung verwandeln müssen.6 Mit einer einzigen Ausnahme befinden sich sämtliche Gedichte, in denen das weibliche Subjekt sich einem Gegenstand gleichsetzt, im Zyklus Weibliches BildnisDie Kranke«) »So ist Verzweiflung, diese Krankheit im Selbst, die Krankheit zum Tode.« Kierkegaard
Es gehört zu den unglücklichen Eigentümlichkeiten der Kolmarschen Dichtung, dass sie voreilig für verständlich, damit aber auch fiir etikettierbar gehalten werden kann. Eine eingehende Lektüre zeigt jedoch, dass das Blumige dieser Sprache und das scheinbar Naive ihrer Aussagen, unterstützt durch märchenhafte Komponenten, aber auch durch eine listige Reimstruktur in den Gedichten, nur Aspekte einer Fassade darstellen, deren Tiefe in ganz anderen Regionen gründet. Eine eindringlichere Sichtung des Gesamtwerks von Gertrud Kolmar vermittelt jedoch den Eindruck, dass im Gegensatz zu einer naiv-malerischen Phantasiewelt vielmehr komplexe Zustände, eine übermässige und zum Teil schwer entzifferbare Bilderlandschaft, damit aber auch eine bewusst elaborierte Sprache als die eigentliche Grundlage ihrer Dichtung auszumachen sind. Dabei fungieren Gefiihlszustände wie Verzweiflung und Trauer oder auch eine fundamentale Orientierungslosigkeit oft als Begleitmerkmale fiir die Traumbühne der Gedichte. Das hat zur Folge, dass die Stabilität der Verständigung oft in hohem Masse in Frage gestellt ist. Dieses grundsätzliche Ausser-Funktion-Geraten der kommunikativen Sprache lässt sich, eingebettet in den von den Texten proklamierten Traumzuständen sowie in Anlehnung an die explizite Terminologie der Gedichte selbst, als wahnhaft bezeichnen. Das Gedicht >Eine Mutters welches ursprünglich in der Ausgabe von 1938 den Titel >Eine Andere« trug, legt durch die Hervorhebung der Spaltung in der Identität der Mutter Zeugnis davon ab; und ein anderer, nicht zur Sammlung gehörender Text nennt den Zustand des weiblichen Subjekts ganz laut bereits in seinem Titel »Die Irre«. Die Präsenz wahnhafter Momente ist sogar im Prosawerk der Dichterin unübersehbar: »Susanna«, die Protagonistin aus der gleichnamigen Ge20
schichte ist gemütskrank; »eine Mutter« im gleichnamigen Roman gerät nach der tragischen Verletzung und Vergewaltigung ihrer kleinen Tochter derart in Verzweiflung, dass sie - wie einst Medea - ihrem Kind den Tod gibt. Es mag sein, dass in der Prosa die Artikulation der Affekte eine andere Aufgabe darstellt als in der Poesie. Jener steht die Handlung und die Erzählung zur Verfügung. Doch woran lässt die poetische Sprache auf ein destruktives Selbstbild, besonders jedoch auf eine verzweifelte Seele, auf ein gespaltenes Subjekt in der Rede schliessen? Wie ich vorhin ausgeführt habe, erlauben die Selbstmetaphorisierungen des lyrischen Subjekts durch die als Verwandlung beschriebene Bewegung der Struktur seiner Rede wie auch der seines Selbstentwurfs nahezukommen. Das heisst: Die Selbstbilder werfen ein Licht auf das Selbst des Subjekts, das jedoch ein sprachliches ist. Ein Blick auf das Selbstbild der Protagonistin in den Gedichten mag nun veranschaulichen, was damit gemeint ist. Während in einigen Gedichten des Zyklus >Tierträume< die thematische Anwesenheit eines Ich fehlt, 9 verzichtet beispielsweise lediglich ein Gedicht aus dem Zyklus Weibliches Bildnis« — >Die Schlangenspielerin« aus dem >Zweiten Raum« - auf das souveräne Pronomen. Dafür ist die Präsenz des Ich in all den Gedichten an das Moment der Selbstmetaphorisierung gekoppelt. Sobald ein Ich-sagendes Subjekt auftaucht, unterwirft es sich einem Vergleich. Dies mag vielleicht einleuchten, solange die Protagonistin der Gedichte sich mit weiblichen Attributen versieht, wenn sie sich als eine Zauberin sieht, wie im Gedicht >Das Haar« oder als eine Hexe, wie dies in >Die Blinde« der Fall ist. Auch ohne weiteres nachvollziehbar sind die Selbstvergleiche mit den Naturelementen: mit »Sand« und »Flamme«, »Fluten« und »Wolken«, wie im Gedicht >MädchenDie Landstreicherin«, >Die Geliebte«, >Die Frau mit dem Adlerweibchen«, >Die Hässliche« etc.
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In den Gedichten >Die Reiher«, >Die Unke«, >Die Rehe«, >Legende«, >Die Morgenvögel«, >Die Biene«, »Teichfrosch«, >Die Ottern«, >Der Hamadryas«, »Aquarium«, >Der Schlangengarten«, »Trauerspiel«, »Ein Hund«, »Ein altes Pferd«, »Der Schwan«, »Schwarzbild« und »Liebende« k o m m t kein Ich vor. - D i e in dieser Studie verwendeten Zitate aus dem Gedichtband »Die Frau und die Tiere« sind der Ausgabe Weibliches Bildnis. Sämtliche Gedichte, München 1987 entnommen und werden im folgenden nicht mehr ausgewiesen. Allein die Besprechung der Gedichte berücksichtigt die ursprüngliche A n o r d n u n g der Gedichte aus der Publikation im Jahr 1938. Vgl. hierzu das Inhaltsverzeichnis des einstigen Buches im Anhang.
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Weitaus bemerkenswerter und zugleich seltener sind jedoch diejenigen Fälle, in denen sich das Ich einem Gegenstand gleichsetzt. In solchen Selbstvergleichen dominiert die Leblosigkeit der Objektwelt die Atmosphäre des Gedichts. Gleichwohl wird in dieser Text- und Selbstgestaltung eine reiche Bilderlandschaft ausgebreitet; so vergleicht sich beispielsweise >Die Sinnende< aus dem >Dritten Raum< mit einem »Bilderkasten«. Es ist — wie zu zeigen sein wird — die auffallende Gemeinsamkeit dieser Texte, dass sie von Todesphantasien und wahnhaften Vorstellungen durchtränkt sind und dass sie sich in einem traumähnlichen Raum bewegen. In der Folge widmet sich die Lektüre einem Gedicht, welches seinen Wahn beim Namen nennt: als Krankheit. 10 Im autobiographisch geprägten Gedicht >Die Kranke< deutet ein dunkles Stammeln auf den Mord an einem nicht geborenen Kind: »Ein Fäserchen war es, ganz fein und schwächlich, / In wenig Stunden ist es verdorrt« (4. Strophe). Der Tod des Kindes geschieht aufgrund von »Leiden« einer Mutterfigur, ihrer »strafende[n] Rute«: »Die schlug auf es ein und vollzog den Mord« (ebd.). Wie fast alle anderen Gedichte, in denen sich das weibliche Subjekt einem Gegenstand gleichsetzt, befindet sich auch dieses Gedicht im Zyklus Weibliches BildnisDrittem RaumDritte Raum< ist vor allem dadurch charakterisiert, dass er biographischen Spekulationen mehr Platz lässt als die anderen »Räume«; hier haben also Ereignisse aus der Realität mehr als sonst Einzug in die Texte erhalten. Das Motiv der Krankheit legt davon ein Zeugnis ab, denn allem Anschein nach steht es für den Schmerz über einen radikalen Verlust: für den Tod eines geliebten Wesens. Damit kann vorerst behauptet werden, dass der Anlass und das eigentliche Thema des Gedichts der Todesgedanken ist. Die düstere Stimmung der »Kranken« steht von Anfang an im Vordergrund. In der ersten Strophe ist es ihre matte und farblose Physiognomie, welche die Gedichtlandschaft prägt: Das golden und kupferne Mondenbecken Brennt Kräuter; aber sie heilen mich nicht,
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Erdle verwendet den Ausdruck »psychotische Rede« in bezug auf Kolmars Texte und bestätigt ihrerseits die Dominanz der wahnhaften Momente wie folgt: »Indessen inszeniert der Text Gertrud Kolmars den Prozess der Auflösung der materiellen Realität im Imaginären dadurch, dass er sich aus der psychotischen, entgleisten Rede eines weiblichen Ich heraus bildet, welches gleichsam den Faden verloren hat [...].« Vgl. Erdle, a. a. O., S. 107.
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Wenn auch die sinkenden Flammen lecken Mein kahles, nachtwärts erhobnes Gesicht; Des Birkengestricheis schwärzliche Tinte Und Katzengeschrei auf den Ruf einer Flinte Verschmieren den Himmel, das blaugraue Licht.
Durch die Betonung einer bunten wie auch geräuschvollen Umgebung wird die Leblosigkeit der »Kranken« um so mehr hervorgehoben: »golden und kupfern« ist der Mond, »schwärzlich« die Birkenzweige, eine »Katze« schreit, eine »Flinte« ruft, während selbst der »verschmierte« »Himmel« nicht blank und stumm ist, bleibt das Gesicht der »Kranken« »kahl« und finster, ein Antlitz, zeichenlos und bar jeglicher Regung. Ein trüber Blick berührt die Welt und stellt angesichts der tief sitzenden Trauer bei sich selbst nur Blindheit fest (2. Strophe). In Vers 15 erst, das ist der Auftakt zur dritten Strophe, beschreibt sich die unheilbar Kranke zum ersten Mal anders, indem sie hierfür zu einem Bild greift: »Ich dreh meinen Kopf wie den Kopf einer Puppe.« Nach der Markierung der Leidensgeschichte in der vierten Strophe kommt das Ich in der letzten Strophe des Gedichts schliesslich auf seinen leiblichen Zustand zu sprechen; gleichsam wird die Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung auf die Probe gestellt: Ich will nicht mehr sinnen. Denn was ich sinne, Zerquirlt mir das Hirn zu stickigem Schaum, Und über den Schädel läuft prickelnd die Spinne, Und vor meinen Augen verzerrt sich der Raum; Einmal, einmal schliesse ich beide: Dann wächst aus dem einen die Trauerweide Und aus dem andern ein Lebensbaum.
Auffallend ist, dass der »Kopf« bzw. das »Hirn« jeweils das Wesen des Ich symbolisieren soll. Der Kopf bietet die Vergleichsbasis zwischen dem kranken Ich und der Puppe. Kranksein heisst demnach Puppe-Sein, weil das Denken - wie die Strophe nahelegt - nicht mehr möglich ist. Die zitierte Strophe beschreibt die bildlichen Momente in der Halluzination; die vorhergehende, hier nicht zitierte, führt hingegen das seelische Durcheinander sprachlich vor: »Da singen Kinder. So unaussprechlich ... / Ruhe, o Ruhe ... es ist ja fort« (V. 22f.). Der Schmerz, umgesetzt in Unvermögen zu vollständiger Rede, muss als Krankheit apostrophiert werden, was wiederum nur ein toter Gegenstand, ein köpf- und sprachloses Abbild des Menschen zu figurieren imstande ist. Das Ich ist also einer Puppe gleichgesetzt, indem es auf den »Kopf« aufmerksam macht. Dieser soll nicht mehr einem normalen Kopf entsprechen, weil er im Zustand der Auflösung begriffen ist.
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Wessen Kopf sich nicht mehr in der richtigen Weise betätigen lässt, ist in einem wahnähnlichen Zustand, gleichsam von Sinnen. Oder ganz im Sinne des Gedichts: Er könnte sogar tot sein, wie ein lebloser Gegenstand - so eine weitere Gemeinsamkeit mit der »Puppe«. An anderen Stellen der Gedichtsammlung lassen sich ähnliche Vergleiche aufzeigen: Kranksein ist ausschliesslich konnotiert mit Kopflosigkeit und Irrsinn. Im Gedicht >Die LumpensammlerinKranken< vorausgeht, übernimmt der H u t die Rolle des Kopfes; hier wird Kopflosigkeit nicht einmal im übertragenen Sinn aufgefasst: »Da liegt sein Kopf, ihm abgerissen / Da liegt sein Rand, zerknüllt und krank« heisst es in den Versen 9 und 10. In einem anderen Gedicht desselben »Raums« überkreuzen sich die Eigenschaften der »alten Jungfer« mit denen ihrer Uhr: Gegenüber ihrer pedantischen Genauigkeit in der stummen Wiederholung alltäglicher Rituale verhält sich die mit ihrer Besitzerin alt gewordene Uhr geradezu expressiv, so »keucht die kranke Uhr: es ist spät!« (V. 6). Das fragmentarisch zitierte Gedicht »Die Kranke< ist daher von Interesse, weil es exemplarisch vorführt, dass dort, wo ein abgegriffenes Bild wie »die Puppe« zum Einsatz kommt, um im Kontext der Krankheit einen bestimmten Gefühlszustand zu signalisieren, die unverzichtbare Instanz für die Bildherstellung, d. h. die Augen, um so stärker an Bedeutung gewinnt. Von diesen Bildern zieht eines am nachhaltigsten die Aufmerksamkeit auf sich: das Wachsen der Bäume aus den Augen. 11 Denn mit dieser ausdrucksstarken Metapher wird die metonymische Partnerin der weiblichen IchPerson, d. i. »die Puppe«, zwar wachgerüttelt, damit gleichzeitig aber auch ausser Funktion gesetzt. Der Unterschied zwischen der Puppe und dem Ich lässt sich auch so formulieren: dass die Puppe keine Bilder vor den Augen haben kann. Das aus fünf Strophen zu je sieben Zeilen komponierte Gedicht >Die Kranke< gibt sich vordergründig auf einer vorerst narrativen Ebene als ein Krankenbericht. Sein Reimschema ababccb kommt noch zwei weitere Male im Zyklus >Tierträume< zum Einsatz: in den Gedichten >Die Rehe< und >Der WalDie Kranke< zur Tradition der weltlichen wie auch geistlichen Volkslieder, der Balladen und sehr häufig der Bilder- und Andachtsgedichte. 12 Wir werden noch zeigen, inwiefern >Die Kranke< sich als ein trauriges Andachtsgedicht lesen lässt. 11 12
Ich beziehe mich in der Folge auf die oben zitierte Strophe des Gedichts. Vgl. Horst J. Frank: Handbuch der deutschen Strophenform, Tübingen/Basel 1993, S. 525ff.
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Die zwei Bäume, die »Trauerweide« und der »Lebensbaum«, die der »Kranken« buchstäblich aus den Augen wachsen, sind ein Baumpaar. Dies schreibt nicht nur die Augenphysiognomie vor, sondern auch der drittletzte Vers der Strophe. Er stellt nämlich die beiden in eine anaphorische Reihe und unterstreicht damit ihre wesensmässige Verbundenheit: »Einmal, einmal«. Als formale Entsprechung zu diesem Baum-Paar dürfte das einzige Paar des Gedichts, nämlich das Reimpaar (cc) betrachtet werden. Hinzu kommt, dass das Wort »Raum«, jener Ort, wo die »Bildnisse« im Zyklus ihren Platz gefunden haben, sich mit dem Wort »Baum« im letzten Vers reimt. Das Bild von den Bäumen entsteht dank der Finsternis; die Augen müssen geschlossen sein, damit diese sichtbar werden (V. 33). Bilder, die uns überkommen, wenn wir die Augen schliessen, nennen sich für gewöhnlich Träume. Darauf verweist der Vers »Einmal, einmal schliesse ich beide«, denn er lässt sich sowohl als ein Wunsch wie auch als Ankündigung eines Vorhabens lesen. In beiden Fällen aber scheint der Zustand der geschlossenen Augen von Bedeutung zu sein, denn nicht zuletzt gleicht das Ich der Puppe dadurch, dass es nicht zu sehen imstande ist. Der Wunsch, der sich aus diesem Vers offenkundig und ohne Schwierigkeiten hören lässt, ist der Wunsch nach dem Tod. Gleichzeitig aber lassen sich die Schlussverse des Gedichts als eine Vision, als eine Art verschlüsselter Tagtraum lesen. In einem anderen Gedicht aus dem >Zweiten Raum< wird noch eindeutiger als hier eine doppelt angelegte Wunschphantasie im Zusammenhang mit Bäumen formuliert. »Die Erzieherin* schliesst ihr Gedicht mit den Worten: Mag sein, sie haben meinen Traumwald nicht Mit Blättern, die sich langsam müde färben, Und nicht die kahle Strasse vorm Gesicht, Darauf ich täglich wandre in mein Sterben.
In der Folge soll geprüft werden, inwiefern die beiden angesprochenen Interpretationen im Grunde zusammenhängen; dazu nochmals die Schlusspassage des Gedichts: Und vor meinen Augen verzerrt sich der Raum; Einmal, einmal schliesse ich beide: Dann wächst aus dem einen die Trauerweide Und aus dem andern ein Lebensbaum.
Der Wunsch nach ewiger Ruhe drängt sich durch drei Aspekte auf: »Einmal, einmal« lässt sich hier als das Wissen von einer Zeit lesen, welche bestimmt kommen wird. Eine solche ist mit aller Gewissheit der Zeitpunkt 25
des Todes. Dieser wird alsdann durch die Dazugehörigkeit der geschlossenen Augen bestätigt. Hinzu kommt, dass mit der eingebürgerten metaphorischen Funktion der Augen als der Fenster der Seele eine bedeutungsträchtige Transzendenz ins Spiel kommt. Die letzten zwei Verse bezeugen vordergründig einen Sprung, wie dies durch den Doppelpunkt angedeutet wird. Denn die aus den Augen wachsenden Bäume vergegenwärtigen nicht mehr das Moment des Sterbens, sondern sie stehen bereits für das Totsein, auf einem Friedhof zum Beispiel. In diesem Kontext sind die Bäume eine symbolische Referenz für eine ruhige, beschattete Grabstätte, während der eigentliche Ort der Leiche, das heisst das Grab selbst, durch die Augen verkörpert wird. Der Todeswunsch bzw. seine bildliche Suggestion birgt also gleichwohl ein Rätsel. Dieses lässt sich auf zwei Weisen formulieren: als die Frage nach der Bedeutung der wachsenden Bäume einerseits und als diejenige nach der metaphorischen Funktion der Augen andererseits. Die Fragestellung zeigt eindeutig, dass die Interpretation der Textstelle als ein Todeswunsch nicht ausreicht. Der Wunsch beinhaltet mehr, als bisher nennbar wurde, und es wird vielleicht erst durch die Beleuchtung dieses mehr möglich sein herauszufinden, warum es trotzdem mit dem Tod zusammenfällt. In einem grösseren Zusammenhang betrachtet, vergegenwärtigt die zitierte Stelle eine Grabstätte, weil sie auch Anspielungen auf andere literarische Texte beherbergt; sie ist eine Art Zitatenschacht - dunkel und still. Die hier anzuführenden Beispiele sollen zugleich als eine Einleitung für die zweite Interpretationsebene dienen. Denn als Geste eines intertextuellen Passus muss damit von einer tendenziell auf Eindeutigkeit angelegten Interpretation schrittweise Abschied genommen werden. Die Rede von den Augen als einem dunklen Ort, einem Grab oder einem Abgrund findet sich häufig in der symbolistischen Literatur, die von Gertrud Kolmar besonders geschätzt wurde. 13 In einem der berühmtesten 13
Allein einige Titel aus der Lyrik Kolmars unterstreichen die Nähe der Dichterin zu den symbolistischen Vorbildern. Als Beispiele sind hier zu erwähnen: die Gedichte >Das Haar«, >Die Lumpensammlerin« und >Der Schwan«, welche ihre Vorbilder in den Gedichten >La Chevelures >Le vin des chiffonniers« und >Le Cygne« bei Baudelaire gefunden haben. Das Gedicht >Die Biene« dürfte jedoch von Valérys >L'abeille< oder, noch wahrscheinlicher, von Maeterlincks >La vie des Abeilles« inspiriert worden sein. Bayerdörfer hat bereits in einem Aufsatz auf bestimmte Aspekte hingewiesen, welche die Affinität von Kolmars Lyrik zu Baudelaires Gedichtkonzeption beleuchten. U n d Monika B. Schenker hat mit einer ausgezeichneten linguistischen Analyse die Nähe zu Baudelaire bestätigt. Wenn es stimmt, dass mit Baudelaire die französische Lyrik zu einer europäischen Ange-
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Gedichte Baudelaires, in >Danse macabreDie Leugnerin< führt das weibliche Subjekt ein laszives Gespräch mit Gott, dabei erscheint er ihr - der alttestamentarischen Tradition gemäss - als ein Traum. 19 Die ganze Choreographie im Gedicht >Der Hamadryas< scheint Anleihen bei den Gesetzen der Traumgestaltung gemacht zu haben. Ein anderes Gedicht, welches weiter unten ausfuhrlich diskutiert werden wird, >Mörder TaubeTierträume< von entscheidender Bedeutung sein dürften, versteht sich von selbst. Damit ist angedeutet, dass diese Struktur uns bis zum Schluss der Untersuchung beschäftigen wird. Obwohl soeben die Präsenz des Subjekts im Gedicht behauptet wurde, zeigen die herangezogenen Bilder, dass hier auf Rationalität im Sinne einer referentiellen Bedeutungswahrnehmung verzichtet wird. Die programmatische Fülle der Selbst-Bilder im Zyklus Weibliches BildnisDer Seegeist«) »Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene.« Rilke »Jetzt - zwischen zwei Nichtse eingekrümmt, ein Fragezeichen, ein müdes Räthsel - ein Räthsel für Raubvögel ...« Nietzsche
Einige Topoi aus der romantischen Literatur lassen sich in Gertrud Kolmars Werk beim Namen nennen. Ich möchte an dieser Stelle nur den einen für die vorliegende Problematik bedeutsamen Punkt herausgreifen, werde aber in einem anderen Rahmen (Kap. IV) auf die Impulse des romantischen Einflusses bei ihr näher eingehen. Das, worauf es hier ankommt, betrifft die Präsenz der Edelsteine. Damit aber noch mehr, denn die unverhohlene Aufnahme der Mineralien ins Werk bei Gertrud Kolmar evoziert eindeutig intertextuelle Bezüge: Novalis, Tieck, E.T.A. Hoffmann, aber auch Baudelaire und Mallarmé könnten hierfür als Referenz stehen. Edelsteine gehören zu den unabweisbaren Accessoires in Kolmars Dichtung. Sie finden eine Erwähnung sowohl im Zusammenhang mit dem Kind als auch im Kontext der Tiere. Diese Dreieckkonstellation zwischen dem Kind, den Tieren und den Edelsteinen kommt im Prosawerk noch deutlicher zum Ausdruck. Die allerletzte Prosaarbeit der Dichterin, >SusannaGlasErsten Raum< des Zyklus Weibliches Bildnis< und hat den Titel >Der SeegeistDer Sandmann< denken.
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anderen Seite aber auch, dass diese Augen eigentlich gar nicht sehen, weil sie in der Identifikation mit dem Metapher-Bild erstarrt sind, wie die Augen einer »Puppe«, wie ein blosses Stück Glas. Dass die Identifikation des Auges mit dem Glas Blindheit, d. h. Unvermögen zur visuellen Aufnahme bedeutet, lässt sich auch dem Gedicht >Die Lumpensammlerin< entnehmen: »Und blind: kein Aug mehr, buntes Glas« (V. 15). Das Gedicht >Die Kranke< hat uns aber gelehrt, dass der tranceähnliche Zustand, in dem die Augen nicht zur aktiven Wahrnehmung befähigt sind, eine Bedingung der Bildproduktion darstellt. Die Beschreibung des gläsernen Auges im maritimen Umfeld evoziert zugleich auch die Augen der Seebewohner, das heisst der Fische. Das Gedicht nimmt, wie noch zu zeigen sein wird, in kryptischer Weise auf das Hauptcharakteristikum der Fische, auf deren Stummheit, Bezug. Und in diesem Sinne figuriert bereits eine Tierfigur am Horizont. Die erwähnte Spiegelungssituation erklärt im weiteren Verlauf des Gedichts >Der Seegeist«, wie dieser »Geist« sich Identifikationsfiguren schafft, vor allem, wie er zum Besitz eines von einem »Königsknaben« begehrten Körpers wird (3. Strophe), welcher allerdings unbefriedigt bleibt: »Mein Schoss verwuchs zur Wabe / Die nie empfing und nie gebar« (V. 23f.). Im vorerst Stummheit evozierenden Bild des ersten Verses: »Die Glashaut der Lider« stört ein klirrender Faktor die behauptete Stille. Dieser erklärt sich zum einen durch die Homophonie zwischen den Wörtern »Lider« und Lieder. Zum anderen verschreibt sich diese klanglose Beziehung zum Klang dem Umstand, dass das Verbum des Wortes »Glas« in der Seemannssprache die Bekanntgabe einer bestimmten Zeit durch Anschlagen an die Schiffsglocke bedeutet. Dass den Augen durch diesen Sinnhorizont nicht nur Bild-, sondern auch Klangfunktionen zugesprochen werden, spricht das Gedichtkorpus selbst aus, da es an einer Stelle zugibt, dass ihm »[d]ie Zunge [...] gebunden [ward]« (V. 13); damit kommt den Augen die zusätzliche Aufgabe zu, sprachfähig zu sein - stellvertretend für die »gebundene Zunge«. Es ist auffallend, wie stark ein Gedicht, welches sich im Titel als ein »Geist« gibt, in seinem textlichen Aufbau hingegen und ausschliesslich seine Körperlichkeit betont. Die Dichotomie Geist - Körper veranlasst, die Repräsentation des Geistes in diesem Text genau dort zu erblicken, wo dieser seit der Antike sich zu verbergen pflegt: nämlich im Auge selbst. Bisher dürfte zumindest ansatzweise klar geworden sein, wie komplex und omnipräsent die Funktion des Auges fur die Herstellung der Bilder in den Gedichten ist. Dabei sind noch nicht einmal die bildlichen Dimensionen des Auges selbst erschöpfend in Betracht gezogen. Das Gedicht gibt in dieser Hinsicht bereits in der ersten Strophe Rätsel auf: 35
D i e Glashaut meiner Lider Verwirft die Nacht, verwirft das Licht; Der M ö w e Sturmgefieder H a t keine Feder, die sie bricht. Weil ihre wölbge Schale Nicht von des Auges Sternfrucht sprang: Es sah den Tanz der Wale U n d fühlt niemals Salz noch Tang. ( 1. Str.)
Die Erwähnung des »Glases« bezieht sich ja zunächst auf die »Haut« und erst in indirekter Weise auf die »Lider«. Die Bedeutung der Haut liegt darin, dass mit ihr die Buchstäblichkeit der Wahrnehmung hautnah betont wird. Die Haut ist in dieser Hinsicht nicht ein Organ der Distanz, ganz im Gegenteil: Sie inkarniert das Ineinandergreifen von Bild und dessen Hintergrund. In einem anderen Gedicht im >Dritten RaumDie LeugnerinDer Seegeist< nicht direkt vom Auge selbst, sondern von »des Auges Sternfrucht« die Rede ist. Die genitivische Wendung fuhrt demonstrativ vor, wie sehr das Sprachbild, d. h. die metaphorische Aussage, von der buchstäblichen Präsenz des Auges abhängig ist.
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Vgl. Gérard Simon: Der Blick, das Sein und die Erscheinung in der antiken Optik, München 1992, S. 67ff. In diesem Z u s a m m e n h a n g drängt sich natürlich, weitaus mehr als die Euklidsche Optikauffassung, das Bildkonzept Baudelaires auf. Wie bei Baudelaire ist auch Kolmars Interesse für die bildende Kunst in ihrem Werk unübersehbar. Das Interesse für die Malerei erklärt sich aus der Bedeutung, die d e m Bild im Sinne eines ursprünglichen Entwurfs gegeben wird. N u r in diesem Sinne lassen sich die Augen mit den Bildern vergleichen. Es lässt sich in diesem Z u s a m m e n h a n g auch an Mallarmé denken, welcher mit d e m Vers »rien ni le vieux jardin reflété par les yeux« im Gedicht >Brise marine< die Ursprünglichkeit des Bildes eindeutig in den Augen situiert.
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Manfred Frank: Kaltes Herz, Frankfurt a. M . 1989, hier S. 4 6 .
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Die Bedeutung des Auges kommt auch im Schlussvers des Gedichts zur Geltung. Es verlautbart sich ein rätselhafter Wunsch, welcher im Umkreis der obigen Augenmetaphorik zu liegen vorgibt. Dieser Wunsch scheint von existentieller Natur zu sein, denn nachdem zwei Verse zuvor bekanntgegeben wird, dass das Ich den »Tod um[wirbt]«, wird nun abschliessend verkündet, wovon auf der anderen Seite dessen Leben abhängig ist: »Nur dies darf nimmer sterben, / Was nun und ewig fruchtlos bleibt« (V. 31 f.). Diese Textstelle reizt offenkundig, das dunkle Bild der Fruchtlosigkeit, an dessen Fortbestand - als Wunsch - festgehalten wird, mit dem der »Sternfrucht« des Auges einerseits und einem bereits zitierten Vers, in dem in sehr direkter Weise von der Fruchtlosigkeit die Rede ist, andererseits in Verbindung zu bringen. Das was nicht sterben darf, ist ein fruchtloses - so die etwas merkwürdige Schlussaussage des Textes, welche einer Interpretation bedarf. Fruchtlosigkeit ist - die Textstelle wurde oben zitiert - dem lyrischen Subjekt des Gedichts beschieden, weil es uns anvertraut, dass es »nie empfing und nie gebar« (V. 24). Haben wir es nun am Schluss des Gedichts mit einem tautologischen Wunsch zu tun? Wünscht sich das bereits fruchtlose Ich, weiterhin fruchtlos zu bleiben? Warum aber, so liesse sich fragen, taucht ausgerechnet das Bild der Wabe für den fruchtlosen Schoss auf? Folgende Überlegung drängt sich in diesem Zusammenhang auf: Wenn das, was fruchtlos ist, nicht sterben darf, dann deshalb, weil die Fruchtlosigkeit des Ich dadurch kompensiert wird, dass die Wabe für seinen Schoss Rede und Antwort zu stehen hat. Es ist also nicht, wie wir vorerst formuliert haben, die Fruchtlosigkeit an und fur sich, welche gewünscht wird; gewünscht wird vielmehr etwas, dessen Eigenschaft im Gedicht als fruchtlos beschrieben worden ist, d. i.: die Wabe. Bevor aber die metaphorische Dimension der »Wabe« beleuchtet wird, soll die Charakteristik des Wunsches näher umrissen werden. Dass wir diese omnipräsente Redefigur der Kolmarschen Poetik auf die poetologische Organisation des Gedichts zurückfuhren, gründet sich auf der einfachen Tatsache, dass ausserhalb der Sprache keine Wunschäusserung möglich ist: Ein Wunsch ist nur ein Wunsch in der Sprache. Damit ist aber mehr gesagt, denn auch die erste Bedingung der Wunscherfiiillung knüpft an der Sprachlichkeit an. Vor dem Hintergrund dieses, Kolmars Gedichte beinahe durchgängig charakterisierenden Musters wird der Einsatz der »Wabe« in der Bildproduktion noch eindeutiger. Die Wabe ist nämlich jenes kunstvolle, durch hartnäckige Bienenarbeit entstandene Gebilde, welches als Metapher für die gewobene Textur der Schrift, fur das Gedicht selbst stehen kann. Als 38
Metapher ist sie dazu bestimmt, ein Zusammengesetztes zu sein: In ihr verdichten sich zwei Sachverhalte, welche nur durch Abkürzungen und Auslassungen zu einem neuen Bild gefunden haben. Von der »Wabe« als einer Gebärenden zu sprechen, bedeutet, sie in den Status einer WunschPhantasie zu erheben, weil die Wabe selbst eher ein Produkt ist als ein Produzierendes. Durch diese Inversion stellt die »Wabe« im genannten Zusammenhang die Figur des Zeugmas dar, denn: Eigentlich ist es nur der Schoss, welcher »nie empfing und nie gebar«. Als Vergeltung für diesen unbefriedigten Wunsch, taucht - der allgemeinen Verschiebungslogik der Wunscherfiillung zufolge - ein neues Wunsch-Bild auf: Der Schoss verwächst zur Wabe, d. h., er wird zu jenem Ort, wo Süsses, also Erfüllung gehortet und gespendet werden soll. Das Bild der Wabe als ein Wunsch-Phantasma, dem sich die Existenz des Gedichts verschreibt, verdeutlicht die innige hermetische Verwobenheit von Geschlechtlichkeit und Zeichen.23 Die Vermutung liegt sehr nahe, dass in der leidenschaftlichen Verbindung der Leiblichkeit mit Schrift der Grund fur die geheimnisträchtige Struktur der Gedichte zu suchen ist. Ein anderes Geheimnis des Textes soll uns aber an dieser Stelle noch für eine Weile interessieren. Wenn die honigsüsse, allerdings fruchtlose Wabe des Gedichts Leben spendet, welches Verhältnis unterhält sie denn zum Subjekt des Textes, welches sich als Auge apostrophiert? Das Wort »fruchtlos« wurde oben mit der »Sternfrucht« des Auges zwar in Verbindung gebracht, in der Folge jedoch nicht näher erläutert. Die Metapher »Sternfrucht« macht gewisse Verschiebungen und Verdichtungen sichtbar; auch erinnert die Konstellation »des Auges Sternfrucht« eindringlich an den Ausdruck Augenstern, obwohl er diesen nicht vollkommen einschliesst. Der Grund dafür liegt in dem Zusatzwort »Frucht«. Denn: Ist der Augenstern selbst eine metaphorische Aussage, so bekommt dessen Uberbietung durch die Verselbständigung des Sternes im Bild »des Auges Sternfrucht« ein nahezu hyperbolisches Ausmass. Für die Interpretation dieses Fragments ist es hilfreich, die einfachere Formulierung: die Frucht des Augensterns heranzuziehen. Augenstern meint in bildlicher Weise die leuchtende Pupille des Auges, d. h. das Licht des Auges, mithin das, was dem Auge das Sehen ermöglicht. Aus diesem Zusammenhang erklärt sich vor allem die Bedeutung des Ausdrucks im übertragenen Sinne: Augenstern meint einfach unser Liebster und Wertvollster. Die »Frucht« des Augensterns zu sein, besagt demnach, Frucht des 23
Von einer ganz anderen Seite her verweist Erdle an verschiedenen Stellen ihrer Arbeit auf diesen Zusammenhang; vgl. beispielsweise a. a. O . , S. 118.
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Augenlichts zu sein, d. h.: ein Bild. Die »Frucht« von etwas zu sein, hat aber immer auch die Bedeutung: ein Kind zu sein - Frucht ist nämlich die geläufige Bezeichnung für den wachsenden Keim im Mutterleib. 24 Es ist hier noch nicht der Ort, den poetologischen Aspekt im Kolmarschen Umgang mit dem Wort »Kind« zu beleuchten. 25 Was diese in auffallender Weise das ganze Werk der Dichterin durchziehende Thematik betrifft, wollen wir es hier bei der Bemerkung belassen, dass, wie auch immer die Dichterin den schmerzhaften Verlust des eigenen, nicht zur Welt gebrachten Kindes in ihrem Werk zu thematisieren unternommen hat, dieses Ereignis uns höchst selten nur in mimetischer Weise vorgeführt wird. 26 Der unverhohlene Wunsch des lyrischen Subjekts nach einem Kind bzw. seine Trauer über dessen Verlust ist immer in einen dichterischen Kontext eingebettet, welcher gleichzeitig andere Interpretationen geradezu herausfordert. Um die eingeschlagene Gedichtinterpretation zu einem provisorischen Schlusswort zu bringen: Das Wunsch-Bild der Wabe »bleibt« (V. 32). An ihrem traurigen Zustand ist, wie der Vers verlautbart, nicht zu rütteln, weil sie ein anderes — wenn auch in den Augen des lyrischen Ich vergebliches — Konstrukt, nämlich das Gedicht selbst, vergegenwärtigt. Die »Wabe« als Gedicht-Phantasma »bleibt« jedoch deswegen unbefriedigend »fruchtlos«, weil das Auge es nur mit einem imaginierten Bild - dem des geliebten Kindes - befruchtet. So gesehen wird das Gedicht zu einem traurigen Klagelied, welches seine Wunschbefriedigung im Akt des lyrischen Sprechens zwar bewusst wahrnimmt, dessen Vergeblichkeit jedoch zugleich zutiefst bedauert. An dieser Stelle drängt sich schliesslich die Frage auf, wer in diesem Text überhaupt redet. Zweimal greift das Ich direkt in die Rede ein - in Vers 14 »Und wenn ich liebend bitten mag« und drei Zeilen später in Vers 17: »Ich ruf aus hellen Armen«. Ansonsten sind es die Körperinstanzen, die das Ich repräsentieren: »Die Glashaut meiner Lider«, »Dies Aug«, »Die Zunge«, »mein Herzensschlag«, »dies gelbe Haar«, »Mein Schoss«, 14
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Freud hat in seiner Hysteriekonzeption sehr früh schon auf die psychische Beziehung von Auge und Sexualität hingewiesen; vgl. »Die psychogene Sehstörung in psychoanalytischer Auffassung«, in: Gesammelte Werke, hg. von Anna Freud, London 1942. Vgl. meinen Aufsatz »Kinder und Bücher - zu einer poetologischen Figur in Gertrud Kolmars >SusannaSeegeist< bestimmt nicht unpassende Vermutung aufkommen, dass die Trübung des Auges offenbar die Selbständigkeit der Sehlinse im imaginativen Bereich provoziert. Die Trübung des Auges durch die Glasmetaphorik Hesse sich aber auch als ein mit Tränen benetztes Auge denken. Fische repräsentieren die Stummheit. Darin mag die Rätselhaftigkeit des Gedichts begründet sein, dass ein Sinnbild des Schweigens und der Sprachlosigkeit hier zum Wort greift. Die Stummheit des Fisches wird durch weitere Erklärungen im Text betont: dem »Seegeist« ist die »Zunge [...] gebunden« und sein »Herzschlag« »spricht nur mit heissen Munden«. Die dunkle Wendung »heissen Munden« lässt vor allem an die Redewendung »sich heiss reden« denken, denn nur im Sinne einer leidenschaftlichen Rede
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Diese besondere Hervorhebung erinnert an das »Fischauge«, einen Terminus technicus aus der Photographie: ein Objektiv mit extrem weitem Blickwinkel und entsprechend kurzer Brennweite. A u f diese Weise wird die Bedeutung der O p t i k im Gedicht durch eine andere Interpretation abermals unterstrichen.
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So das Grimmsche Wörterbuch im Artikel >GlasLinse des menschlichen Auges< bedeutet.« Vgl. a. a. O . , S. 4 6 .
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wird einsichtig, warum das Herz hier zum Einsatz kommt. Die Rätselhaftigkeit dieser hitzigen Rede zeigt sich auch im Durcheinander der sinnlichen Erlebnisse. Weiter oben wurde erläutert, dass die Augen im Gedicht klangfähig werden, dass also ein Austausch zwischen visuellen und auditiven Elementen stattgefunden hat. Im Vers »Ich ruf aus hellen Armen« wird dieser Umstand nochmals betont, denn hell kann sowohl »glänzend, mit Licht erfüllt« als auch eine Gehörsempfindung im Sinne von »hochklingend« bedeuten. So sehr der »Seegeist« sich in seiner Stummheit präsentieren möchte, so sehr wird die Ruhe und Stille im Gedicht konstant durch aussenstehende Elemente unterbrochen. Dies geschieht vor allem durch Tätigkeiten, welche Bewegung oder Akustik evozieren wie »bricht«, »sprang«, »Tanz«, »wirbelnd drehen«, »erklirren«, »Schrein« und »vertreibt«. Hingegen ist der »Seegeist« selbst ständig durch Wendungen charakterisiert, welche Konstanz, Bewegungslosigkeit und Emotionalität ausstrahlen: »verwirft«, »fühlte«, »steht«, »hoffen«, »glauben wagt«, »Zunge ward gebunden«, »bitten mag«, »spricht«, »ruf«, »verwuchs«, »nie empfing und nie gebar« und »Tod umwerben«. Ausser den Augen geben wenige Beschreibungen Auskunft über die Physiognomie des »Seegeists«. Einzig seine Haare werden in einem erotischen Kontext erwähnt, sie sind »gelb«: »Und trinkt der Königsknabe / In kühlster Lust dies gelbe Haar« (3. Strophe). Gelb ist eine Farbe, die vermutlich ihrer leuchtenden Dominanz wegen häufig in den Gedichten eingesetzt wird; eines der Lieblingstiere der Sammlung, die Kröte, hat im Gedicht >Die Hässliche< sogar »gelbe Augen«. Bemerkenswert ist, dass auch hier mit der Beschreibung der Augen als gelb auf eine Grundbedeutung des Wortes Glas - »leuchtend-durchscheinender, gelblicher Gegenstand« 30 Bezug genommen wird. Daneben fällt auf, dass von allen Körperteilen die Haare die am meisten mit Farben versehenen sind. Die Haare, der natürliche Schmuck der Frau, sind in den Gedichten meistens farblich gekennzeichnet: Sie sind »blau und rot«, »bestaubt« und »bunt« (>Das GötzenbildJudithDie Morgenvögel·), oder sie sind lebendig und bewegen sich wie »Füsse kupferhaariger Nächte im Hafen« (>MädchenDas Haar< fuhrt vielleicht am prägnantesten vor, was das Haar alles kann, bzw. welche Bedeutung den Haaren zukommt. »Das gelbe Haar« im Gedicht »Der Seegeist< steht in Verbindung mit der »Lust« des »Königsknaben«. Berücksich-
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Vgl. den Artikel >Glas< im Grimmschen Wörterbuch.
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tigt m a n , dass die H a a r e in der S a m m l u n g nicht selten als b l o n d vergegenwärtigt werden, dann könnte m a n in diesem Z u s a m m e n h a n g an eine Meerjungfrau, an ein amphibisches Wesen denken. D a n n wird auch die Aussage einleuchtend, dass sie »nie e m p f i n g u n d nie gebar«. Ein anderes Gedicht aus d e m Zyklus >Tierträume< n i m m t eine ähnliche Assoziation mit d e m Wunsch nach Fruchtbarkeit - wiederum im Z u s a m m e n h a n g mit einem K ö n i g 3 1 - auf; im >Fischkönig< heisst die letzte Strophe: Ich heb dir ein Königreich Über Schlämmgoldkörner. Deine Haare wehen Laich, Spülen Schneckenhörner. Meine Tiefe spaltet ein Stein, Den Fäuste hinverstiessen. Da will ich dich setzen, dich allein, Und die Wasser über dir schliessen. Also: Fisch oder Frau? - dies scheint insofern keine Rolle zu spielen, als die Präsenz des Fisches in den Gedichten ebenfalls mit der Fruchtbarkeit in Z u s a m m e n h a n g steht. Zwei Gedichttitel aus d e m Zyklus >Tierträume< fuhren in direkter Weise einen Fisch im Titel: >Der Wal< 32 und >FischkönigAquarium< aus d e m selben Zyklus ist die Präsenz der Meeresbewohner nur implizit u n d nebenbei ausgesprochen, und im >Flehn< bereitet sich das Klagelied eines z u m T o d e verurteilten, von G o t t verlassenen Fisches aus. Drei Gedichte aus d e m Zyklus Weibliches Bildnis< erwähnen expressis verbis die s t u m m e n Wasserbewohner; bereits die Titeigebungen machen nach d e m bisher Gesagten a u f sich aufmerksam: >MädchenDie
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Das Motiv scheint das Werk zu durchziehen, denn auch in der Kurzgeschichte >Susanna< spielt ein Meereskönig fur die erotischen Phantasien Susannas eine grosse Rolle. Das Gedicht >Der Wal< ist ein Liebesgedicht, welches, wie manch andere Gedichte, mit einer Widmung für K.J. besiegelt ist - fiir denjenigen Mann, auf den sich Gertrud Kolmar einige Jahre hinweg wohl vergeblich eingelassen hatte. Gemäss J. Woltmanns Bericht über die Selbstdarstellung des Geliebten als eines, der sich nach eigenen Worten »Weite, Meer und Wogen« verschrieben hatte, dürften beinahe sämtliche Gedichte in der Sammlung, in denen Wasser oder Wasserelemente vorherrschend sind, durch diese kurze Liaison inspiriert worden sein. Die indirekte, stark metaphorisierte Erwähnung des geliebten Mannes in der ersten und letzten Strophe des Gedichts könnte demnach ebenfalls im Zusammenhang mit dem Wunsch nach einem Kind gelesen werden. In dem Sinne erfährt die Interpretation der »Sternfrucht« in der ersten Strophe als ein inniges Wunsch-Bild nach einem Kind eine weitere Bestätigung. Vgl. Marbacher Magazin, bearbeitet von Johanna Woltmann, 63/1993, S. 99.
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Kindlose< und >Singende Mutter«. Dass die Fische die Metapher für ein stilles Klagelied sind, wird im Gedicht >Die Kindlose< nochmals einsichtig, da hier der Fischgesang sich zu einer sprechenden Träne - denken wir an trenos, griech. fur Klagelied - verdichtet: Wie das Silberhemd der Fische Wird mein Singen leicht, da mir eine Hand der Frische Kühlen Fruchtmond reicht, Bis ich heiss mit Lippen rühre Dürstend dein Gesicht Und am Lid den Tropfen spüre Und der Tropfen spricht: (3. Str.)
Das stillschweigende Klagelied hat im Gedicht >Der Seegeist< tödliche Dimensionen. Die Schlussstrophe enthüllt die Todesphantasien durch die Klage über das Nichtsterbenkönnen. Der »Fürst der Wolken«, jener den Dichtenden nahestehende Vogel33 leitet das Ende des Gedichts ein. Das schrille Schreien der »Albatrosse« über dem Haupt des im Wasser treibenden »Seegeists« wird zum Motiv für die eigene Todesumwerbung. Der weisse Sturmvogel ruft den Tod; dem unvermeidbaren Appell kann jedoch - in aller Unfruchtbarkeit - nur die Stirn bieten, was sich »Geist« nennt und in aller Stille als Schrift daherkommt - wenn auch in der kryptischen Gestalt eines Fisches.
3. Z u r Poetologie eines A l p t r a u m s (>Mörder TaubeL'AlbatrosDer SeegeistMörder TaubeMörder Taube< ist das letzte Gedicht des Zyklus >Tierträume< und damit von einem besonderen Gewicht, was die poetologische Zielsetzung dieses Zyklus betrifft. Wie die Mehrheit der Texte im Zyklus >Tierträume< ist 45
dieses Gedicht in Kreuzreimen verfasst, was sich als ein Hinweis darauf lesen lässt, dass das Gedicht Gegensätzliches, Unharmonisches in sich vereinigt — weil es kreuzen muss und nicht paarend ans Werk geht. Bereits der Titel bestätigt diese Vermutung: Er irritiert, gibt Fragen auf. Schon beim Versuch, den Titel zu lesen, ergeben sich Schwierigkeiten, denn es geht aus der Konstellation nicht hervor, wie sich die selbständigen Substantive zueinander verhalten. Warum sind die zwei Wörter, wenn sie zusammengehören - und sie gehören, wie das Gedicht verlautbart, offensichtlich zusammen - nicht zusammengeschrieben? Noch beunruhigender dürfte die Bezeichnung »Mörder« fur das Sinnbild des Friedens, nämlich die Taube sein; auch die Frage stellt sich: Warum steht da nicht Mörderin?35 Immerhin beleuchtet der etymologische Hintergrund des Wortes »Taube« die Unklarheiten: »das Wort wird als >die Dunkle< erklärt, vgl. griech. pèleia »Waldtaube« zu griech. pelios »grau-schwarz« [,..].«36 Das letzte Gedicht der eingestampften Sammlung >Die Frau und die Tiere< aus dem Jahre 1938 kündigt sich mithin als ein mörderisch rätselhaftes und dunkles Projekt an. Mit Rücksicht auf die programmatische Bedeutung, welche diesem Gedicht zukommt, soll es in seinem vollen Wortlaut zitiert werden: Mörder Taube O Krug, o Hafen, wer nur stürzte euch um? Ich kehrte mich zu euch in einer jungen Nacht Und spürte die fernen Hände, lieblich und stumm, Die Wein aus Himmeln, Erde zu Brot gemacht. Ich trank und ass und erblickte den roten Strom, Der zart in mir glomm - als war ich ein gläsernes Ding Und feines Goldstaubkorn mit süssem Arom, Das durch mein Leben wie duch eine Sanduhr ging. Und in meiner Mitte, da waren Ufer, war Land, Da sass es wie Zwergenkind: Wesen, wunderlich klein; Es grub seine Füsse spielend in glitzernden Sand Und tauchte den Finger sacht in die roten Quellbäche ein.
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Auch bei einem Verständnis von »Taube« als »Gehörlose« wird der Titel, selbst wenn die Etymologie von »taub« im Sinne von »unempfindlich« berücksichtigt wird, nicht klarer. Wir werden allerdings in einem anderen Zusammenhang auf die Bedeutung »Unempfindlichkeit« eingehen. Artikel >Taube< in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Aufl., Berlin/New York 1989.
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Ich wollte es küssen und rührte die Haut von Glas, Die konnte ich nicht zerbrechen, weil selbst ich sie war; Nun häufte sich Düne, und auf der Düne trieb Gras, Wuchs hoch und dicht und grau und wucherte in mein Haar. Es kam eine Taube, rosa und blaugrau, geschwebt An einem bleichen Himmel. Der Himmel war nackt. Ihr Schnabel schien mächtig, krumm und vom Blute verklebt Der schwachen Gefährtin, der sie die Stime zerhackt. Und ich sah, wie es wirklich war, das lächelnde Perlglanzkleid, Ich fand in ihm das Bild von den Tauben der Welt Und fand aller Tauben Gier und Jähzorn und Neid. So schwang sich der grosse Vogel über mein Feld. Und wo der Halm das verborgene Kind umstrich, Da zückte er lang sanft schimmernder Schwingen Schlag, D a sank er nieder, anmutig und fürchterlich, Und es verging ein Blick und es verging ein Tag. Und es verging ein Jahr. Und ich hob mich auf, Ich rieb meine Augen, ich wusste kaum, was geschehn, Erspähte die Inseln, suchte der Flüsse Lauf, Das Kind, die Taube und konnte nichts mehr verstehn.
Von der Schlussstrophe aus betrachtet, scheint das Gedicht und damit der ganze Zyklus, dem es zugehört, Traumcharakter zu haben. Auffällig ist hier - wie an vielen anderen Stellen der Sammlung >Die Frau und die Tiere< der Umstand, dass der Traum und ein traumatisches Erlebnis sich verzahnen. Ob dies wohl allein der homophonischen Beziehung der beiden Begriffe zuzuschreiben ist?37 Im Gedicht >Die Kranke< beispielsweise beginnt die wahnhafte Traumrede der Ich-Person unmittelbar, nachdem ein traumatisches Ereignis, nämlich der Mord an einem Kind, eine Strophe zuvor fragmentarisch vergegenwärtigt wurde. Auch im vorliegenden Fall scheint es sich ähnlich zu verhalten: Genau mit dem Einsatz der zweiten Hälfte des Gedichts ist die Rede von einem Bild, worin Gewalt und Grausamkeit die Hauptakzente setzen. Wenn in der dritten Strophe noch von einem Kind als »Zwergenkind« nur im Modus der Anspielung die Rede ist, macht die siebte Strophe deutlich, dass der Gewaltakt an einem Kind auch in diesem Gedicht von traumatischem Gewicht ist. 38
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In einem ähnlichen Sinne stellt Didier Anzieu die Frage, ob das Trauma nicht ein Vergrösserungsglas sei, das jedem Traum zugrundeliegt; vgl. Das Haut-Ich, Frankfurt a. M . 1991, hier S. 2 7 5 . Für eine eingehende theoretische Untersuchung der Gewaltrede in den Texten
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Auffallend im komplexen Text von >Mörder Taube< ist, dass er Zweifel in bezug auf das eigene Gedächtnis äussert. Die Unsicherheit darüber, ob das als verwirrend und gewaltsam erlebte Geschehnis sich auch tatsächlich ereignet hat, wird im Gedicht zweimal formuliert. Unter Benennung der Wahrhaftigkeit des Eindrucks in der sechsten Strophe (»Und ich sah, wie es wirklich war [...]«) erscheint die Rede um so zweifelhafter, denn man kann sich fragen, warum das Gedicht den Zusatz »wirklich« nötig hat; 39 noch eindeutiger wird das Gedicht hinsichtlich seiner Gedächtnislücke in der letzten Strophe: Diese wendet alles um, stellt das ganze Gedicht, um nicht zu sagen: die ganze Sammlung, in Frage, indem sie die Wirklichkeit der Ereignisse - und Ereignisse sind immer Schreibereignisse - gänzlich in Zweifel zieht. Die Ungewissheit der Rede im Gedicht >Mörder Taube« entsteht durch die Heraufbeschwörung von Gesten, die den Eindruck entstehen lassen, das Ich sei soeben erst erwacht. Es wird in der letzten Strophe wörtlich an Rituale gemahnt, welche verdeutlichen sollen, dass das Ganze eigentlich ein Traum war, oder vielleicht besser: ein Alptraum. In der Aufzählung entscheidender Traumelemente in der genannten Strophe des Gedichts, d. h. durch das Zitieren von Fragmenten aus der eigenen Rede, wird zugleich - und einmal mehr — der beste Beweis dafür geliefert, dass dieses Gedicht im Bewusstsein seines eigenen Schicksals spricht. Die Infragestellung der Tatsächlichkeit der Erlebnisse ist aber eine andere Formulierung dafür, dass hier etwas vergessen wurde, wie der Zusatz »ich wusste kaum« in der letzten Strophe präzisiert. Eine solche vergessliche Haltung ist auch an anderen Stellen der Sammlung lesbar: Bereits >Die Dichterin« gesteht im Auftakt, dass sie »das schönre andre Wort verlernt« (V. 21) habe; auch im Tagebuch«, dem Eröffnungsgedicht des Zyklus Tierträume«, wird bestätigt, dass das Ich kein intaktes Gedächtnis hat: »Mir ward der Stab geschnitten, / Der zur Erinnerung führt« (V. lf.). Das, was vergessen wird, kann sich jedoch nur auf die eigene Rede des Ich im Gedicht - in den Gedichten generell — beziehen. Dass das Ich sich nicht mehr an das erinnert, was ihm während seiner Rede zugestossen ist, bedeutet, dass das Gedicht, buchstäblich genommen, Gefahr läuft, unverständlich, d. h. auch unglaubwürdig, zu sein. Die träumende Sprecherin im Gedicht >Mörder Taube« gibt sogar selbst zu, ihre gegenwärtige Situation, genauer:
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Kolmars verweise ich auf die Studie von Erdle, die sich explizit mit diesem Problem auseinandersetzt; vgl. a. a. O., u. a. S. 9ff. und 139ff. Diese Frage stellt sich selbst, wenn das Wort »wirklich« auf das »Perlglanzkleid« bezogen wird.
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die eigene Rede, nicht mehr zu verstehen. Es wird von Bedeutung sein zu erfahren, warum die Sprache überhaupt in einem solchen Verdacht steht. Hilfreich dürfte dabei die Berücksichtigung des schon erwähnten Umstandes sein, dass sich dieses Gedicht im letzten Akt eines Zyklus befindet, welcher sich explizit als ein »Traum« — genauer: ein »Tiertraum« — versteht; doch darauf kommen wir in einem anderen Kapitel zurück. Inwiefern Gertrud Kolmar von Sigmund Freuds Lehre Kenntnis hatte oder gar beeinflusst war, kann nur vermutet werden. Zum Zeitpunkt der erstmaligen Publikation der >Traumdeutung< im Jahre 1900 war die Dichterin jedenfalls erst sechs Jahre alt. Berücksichtigt man jedoch ihre spätere Belesenheit, ihre nüchterne und reife Umgangsform mit allerlei gedanklichen Experimenten, was besonders in ihren Briefen an ihre Schwester Hilde aus den Jahren 1938 bis 1943 zum Ausdruck kommt, mag die Annahme, dass sie von Freuds Lehre des Unbewussten Kenntnis hatte, zumindest nicht als abwegig gelten. Immerhin ist es uns bekannt, dass die erste verlegerische Absage hinsichtlich ihres Manuskripts aus dem Jahre 1933 unter anderen gegenstandslosen Vorwürfen noch damit gespickt war, sie setze psychoanalytisches Wissen in Lyrik um. Die Diagnose des »feinfühligen« Lektors 40 hatte gelautet: In Kolmars Gedichten »spielen auch GehirnPhantasien eine Rolle; Komplexe werden abreagiert. Also Naturanschauung, Naturerlebnis, Märchenton und als Zugabe literarische Würze, Pfeffer, Ingwer, Pulver aus Freuds Apotheke«. 41 Dass die geringschätzige Anspielung auf Freuds Namen auch als Hinweis auf die jüdische Herkunft der Dichterin zu dienen hatte, braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Was dem besagten Lektor ein Dorn im Auge war, ist uns mit oder ohne »Ingwer« eine willkommene Koinzidenz; schliesslich soll hier nicht weiter beschäftigen, ob und in welcher Form Gertrud Kolmar im persönlichen Bereich mit dem psychoanalytischen Wissen umgegangen ist. Ich erlaube mir allein aufgrund dessen, was bestimmte Gedichte aussprechen, Psychoanalyse als Entzifferungstechnik in die Lektüre zu integrieren, 42 und zeige damit an, dass ich die jeweiligen Traum- und Wunschreden in der Gedichtsammlung >Die Frau und die Tiere< buchstäblich nehme. 40
Der Verleger Gustav Klipper verteidigt den K o m m e n t a r seines Lektors Martin L a n g gegenüber Ina Seidel, indem er sie daran erinnert, dass Lang »ein ganz feines Gefühl fur die gute Lyrik hat und so ziemlich alles kennt, was echt und bedeutend ist«. Vgl. Marbacher Magazin, a. a. O . , S. 83.
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Ebd. Eine ausgezeichnete Studie zu diesem T h e m a ist Rike Felka: Psychische Schrift, Wien 1991.
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Der angekündigte Ansatz erklärt sich somit durch die Umkehrung des bekannten Diktums von Lacan: Wenn das Unbewusste, wie er unermüdlich wiederholt, strukturiert ist wie die Sprache, dann muss sich eine Sprache, die sich des einschlägigen Vokabulars des Unbewussten bedient, gefallen lassen, hinsichtlich ihrer Unbewusstheit erforscht zu werden. Darunter verstehe ich die Manifestation von Empfindungen in sprachlichem Material. Bestätigen sollen uns auf diesem Weg die Gedichte selbst, wovon uns eines sogar nachdrücklich auffordert, zu verstehen, »was [es] fühlt«. 43 Es ist klar, dass der poetische Text keineswegs mit dem Produkt eines Träumenden verwechselt werden darf; der Text, dieses »artifizielle Unbewusste«44 unterscheidet sich gerade in seiner überlegten und motivierten Form des Aussagens vom Sprechen in der analytischen Situation. Und dennoch bewirken einige Gemeinsamkeiten zwischen Traum und Poesie, dass der Traum für die Dichtung von grosser Bedeutung ist; Beispiele für diese Übereinstimmungen wären: Orakelhaftigkeit, Umdeutung von herkömmlicher Semantik und Wahrnehmung, Bilderproduktion, Subjektivitiät, Textherstellung, indem man einen Traum erzählt, d. h. konstruiert etc. Was uns erlaubt, diese zwei Sprachmanifestationen zu parallelisieren, ist ferner die Tatsache, dass sie beide auf einer Deutung, auf der Enthüllung ihrer verschleierten sprachlichen Struktur insistieren. In Anlehnung an Derrida - und im Hinblick auf eine an Freuds Psychoanalyse orientierte Poetologie des Unbewussten - interpretiert die Literaturwissenschaftlerin Rike Felka den sinnigen Ausdruck der »psychischen Schrift« wie folgt: »Alles, was das absichtsvolle Aussagen und das hermeneutische Verstehen überbordet, was »sich nur schwer in der logozentrischen Umzäunung zügeln lässtDie DichterinMörder Taube< scheint hierfür, wie noch zu veranschaulichen sein wird, ein exemplarischer Fall zu sein, da sich in ihm eine dem »Traum« zugehörige Rede mit einer poetischen Schrift, die als solche ohnehin psychische Merkmale aufweist, 48 verschränkt. Der erste Vers des Gedichts beseitigt kaum die mit dem Titel >Mörder Taube< sich einstellende Verlegenheit. Auch der weitere Verlauf der Strophe macht nicht besonders einsichtig, worin die Bedeutung von »Krug und Hafen« liegen soll. Vielleicht machen sie auf die psychische Struktur des Gedichts aufmerksam, da es nur dort einen Trauminhalt geben kann, wo es auch einen Behälter gibt. Interessant ist jedoch, dass beide Worte in ihrer Bedeutung im Grunde eines repräsentieren: einen Ort, worin man etwas bewahrt, ein Gefäss. 49 »Krug und Hafen« sind im buchstäblichen Sinne Repräsentanten, weil sie in ihrer Funktion als Aufbewahrungsort auf etwas anderes verweisen. Mit dem gleich zweimal zum Einsatz gebrachten elegischen Ausrufewort »O« und der im Vers formulierten Frage wird zunächst
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Ebd., S. 63. Im Anschluss an ihre theoretische Auseinandersetzung mit Freud und Derrida untersucht Felka die Dichtung Paul Celans als ein exemplarisches Modell der
psychischen Schrift. 48
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Vgl. hierzu Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Schrift und Differenz, Frankfurt a. M. 1989, S. 331: »Zwischen dem nicht-phonetischen Raum der Schrift (sogar in der >phonetischen< Schrift) und dem Raum der Traumszene ist die Grenze ungewiss.« Dies gilt auch für die ursprüngliche Bedeutung des Wortes »Hafen« im Sinne von »Seehafen«; vgl. Duden, Deutsches Universalwörterbuch s. v. Hafen. Die etymologische Bedeutung des Wortes »Krug« im Sinne von »Schenke« hingegen geht nicht auf die des »Gefasses« zurück. Vgl. hierzu den Artikel >Krug< in: Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, a. a. O.
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ausgesagt, dass der jetzige Zustand der Gefässe unheilbringend ist, da diese der Suggestion der Frage gemäss nicht mehr unversehrt sein sollen (»stürzte euch um?«). Bevor aber das zu rekonstruierende Ungliicksereignis berücksichtigt wird, soll die bildliche Eigenart der besagten Gefässe herausgehoben werden: Der an »Krug und Hafen« gerichtete Vokativ macht nämlich aus diesen einen vollwertigen Gesprächspartner fur die sprechende Person. Wer oder was auch immer angesprochen wird, von ihm muss angenommen werden - selbst, wenn die Ansprache nur eine rhetorische Geste sein sollte —, dass er respektive es sprachfähig ist. Die zunächst etwas merkwürdig anmutende Apostrophe 50 der Gefässe macht deutlich, dass diese im Grunde genommen Sprachgefässe sind, d. h. Zeichen. Dieses Zeichenhafte an »Krug und Hafen« hat eine weitere Implikation: Es besagt, dass wir sie als blosses Sprachvehikel, mithin auch - bzw. demgemäss - als ein Ort des Gedächtnisses zu verstehen haben. Im Lichte dieser Interpretation rückt der Schluss des Gedichtdramas in eine nachvollziehbare Perspektive. In der Schlussstrophe verlautbart sich, wie oben schon angedeutet wurde, die Unsicherheit der weiblichen Hauptperson bezüglich ihres Gedächtnisses. Dieses letztere ist jedoch nicht zu trennen von dem Vorhandensein des Gedichts selbst, welches das eigentliche Erinnerungs-Gefäss der Ereignisse ist: Ohne die Rede der Ich-Person im Gedicht gäbe es keine Möglichkeit zum Aufbewahren der Eindrücke. Wenn das Ich also Formulierungen wie »ich wusste kaum, was geschehn« oder »[ich] konnte nichts mehr verstehn« (vgl. letzte Strophe) einsetzt, dann dürften sich diese unmittelbar auf die sprachliche Textur des Gedichts beziehen. Auf diese Weise lassen sich die von Unsicherheit geprägten Redefragmente am Schluss des Gedichts mit jener anderen Unwissenheitsgeste des Gedichts in Verbindung bringen: mit der eingangs schon zitierten Frage im ersten Vers. Der Zweifel an der Wirklichkeit der eigenen Rede rührt mithin daher, dass das Ich von Anfang an (V. 1) einer nicht einwandfreien, nicht vermittlungsfähigen Sprache gegenübersteht. Die Vermutung drängt sich auf, die Signalisierung der Wahrnehmungsstörung - wie sie die Schlussstrophe nachhaltig vorführt — auf eine fundamentale Sprach- und damit auch Sinnstörung in der Gedichtrede selbst zurückzuführen. Im buchstäblichen Fragesatz im Auftakt des Gedichts wird demnach die Intaktheit der Sprache — damit aber auch die der poetischen Fiktion — in Frage gestellt. 50
Zur eminenten Bedeutung der Figur der Apostrophe im Werk Kolmars vgl. die abschliessenden Bemerkungen Erdles, a. a. O., S. 322f.
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Dem im Titel inszenierten Sinnverlust folgt zunächst der Versuch, durch den der Frage immanenten Anspruch auf Rationalität im ersten Vers des Gedichts der Verwirrung zu entkommen. Der zweite Vers sowie das übrige Gedicht führen jedoch vor, dass es unmöglich ist, diesem Verlust zu entgehen. Im Vers »Ich kehrte mich zu euch in einer jungen Nacht« wird die Erwähnung des Wortes »Nacht« zu einem zusätzlichen Indiz dafür, dass es sich hier um ein nächtliches, also dunkles Gespräch handelt. Der umständlichen Formulierung im zweiten Vers folgen weitere Bruchstücke eines komplizierten Geständnisses. Wie in der Traumstruktur verzichtet dieses Gedicht auf gängige Formen der Linearität und Kausalität. Wem gehören beispielsweise in der ersten Strophe die »fernen Hände«, die schweigsam Wunder vollbringen: »Wein aus Himmeln, Erde zu Brot gemacht«? Etwa »Krug und Hafen«, welche nun — da umgestürzt - ausser Funktion gesetzt sind und deshalb handgreiflich intervenieren? Sind sie deswegen stumm? Die Lektüre muss sich mit dem blossen Wiederhall dieser Fragen im Gedicht begnügen. Die zweite Strophe schliesst durch einen rituellen Akt (»Ich ass und trank und erblickte den roten Strom«) an die Evokation der an biblische Elemente erinnernden Wunder im vierten Vers der Anfangsstrophe an. Der dadurch entstandene unmittelbare Trance-Effekt ist nicht zu übersehen: Die Wahrnehmungsfähigkeit des Ich wird durch die Aufnahme der Zaubernahrung massiv gesteigert; es wird für sich selbst transparent: »als war ich ein gläsernes Ding«. Das Ich sieht in sich hinein und hindurch. Es entfaltet sich von dieser zweiten Strophe an wie eine Landschaft, es erlebt und sieht sich dabei zugleich zu, wie im Traum. Die Einführung des »gläsernen Dinges«, die erste metonymische Verwandlung des Ich im Gedicht, bewirkt, dass die bildhaften Facetten des Ich sichtbar werden. Diese Verwandlung hat zur Folge, dass der Präsenz des Ich selbst Bildhaftigkeit eignet. Ein Höhepunkt dieser bildhaften Selbstbeschreibungen ist das »Zwergenkind«, welches in der topographischen »Mitte« des Ich sitzt (3. Strophe). Um diese Gestalt wird sich fortan die Traum- bzw. Gedichtrede drehen. Die vierte Strophe, die letzte der ersten Hälfte des Gedichts, markiert eine Wende. Nach den Beschreibungen des Kindes in der vorhergehenden Strophe drückt sich hier endlich das wesentliche Element der Traumrede aus: ein Wunsch. Das imaginierte Kind ist der Traumlogik zufolge ein Wunschkind, dessen im Optativ gefasster Gedanke durch seine Vergegenwärtigung bzw. Anschauung im Präsens ersetzt worden ist.51 Das Ich be51
Vgl. hierzu Sigmund Freud: Über den Traum, a. a. O., Bd. 2/3, S. 660.
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kündet im ersten Vers der besagten Strophe, dieses gewünschte »Wesen« »küssen« zu wollen. Und damit beginnt das Drama: Die Sprecherin kann das Kind nicht küssen, weil die Haut, die sie berührt - hier taucht zum zweiten Mal der Vergleich auf, demzufolge die »Haut« aus »Glas« sein soll - , ihre eigene ist, welche sie nicht »zerbrechen«, d. h. durchdringen kann. Das Kind bleibt trotz seiner unmittelbaren Körpernähe zur weiblichen Träumerin für deren Verlangen unzugänglich. Wichtig ist bei dem fur den Traum charakteristischen Moment der Wunscherfüllung eine Verdichtung, die zugleich verantwortlich dafür ist, dass der Wunsch, das Kind zu küssen, nicht in Erfüllung geht. Keineswegs spricht das Ich, wie wir dies soeben voreilig getan haben, von seiner
Haut
im Sinne von einem ihm gehörenden Körperteil, denn, wie das Ich es präzisiert: Es selbst ist die Haut (vgl. V. 14). 52 Von grosser Bedeutung scheint zu sein, dass die Haut eine direkte Repräsentantin des Ich innerhalb einer metonymischen Reihe verkörpert. Mit dieser Gleichsetzung erklärt sich das Ich als eine Leinwand, worauf Bilder reflektiert werden können im Gedicht >Der Seegeist« war diese Folie unmissverständlich im Auge situiert. Damit wird aber auch klar, dass das Ich - trotz des Zusatzes »ist« im Grunde genommen ein metaphorisches Verständnis von sich als Organismus hat. Die Ambiguität des - bereits zum zweiten Mal - ausgesuchten metaphorischen Bilds des Glases erlaubt, das Ich sowohl als einen objektiven Körper als Ort der äusseren Perzeption wie in seiner Phänomenalität als Ort der inneren Wahrnehmung zu verstehen. Diese Ich-Konzeption hat auch bei Freud eine Formulierung gefunden. Freud begreift nämlich die Oberfläche des Körpers als ontogenetisch ursprüngliche Bildungsstätte des Ich: Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. [... D a s Ich] kann also als eine seelische Projektion der Oberfläche des Körpers betrachtet werden neben der Tatsache [...], dass es die Oberfläche des seelischen Apparates ist. 5 3
52
53
Sehr passend hierzu Didier Anzieus These: » D a m i t überhaupt ein T r a u m entstehen kann, muss ein Haut-Ich gebildet worden sein.« Vgl. a. a. O . , hier S. 2 7 2 . Ferner macht das G r i m m s c h e Wörterbuch im Artikel >Haut< darauf aufmerksam, dass das Wort u. a. auch die Bedeutung von »Mensch« besitzt. Diese Stelle ist nicht in der deutschen Ausgabe von Freuds Werk über Das Ich und das Es enthalten, sondern erschien erstmals in der englischen Ubersetzung von 1927. Ich entnehme sie Robert H e i m s Studie D i e Rationalität der Psychoanalyse, Basel 1993, S. 480f.
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Die Verbindung der Haut mit Glas — letzteres ist eine ambivalente, weil durchsichtige, Projektionsscheibe - macht deutlich, inwiefern das Subjekt »als psychische Projektion aus dieser textuellen Oberfläche körperlicher Empfindungen« 54 hervorgeht. Die Erklärung der Haut zur eigentlichen Bühne der Empfindungen und Projektionen des Ich scheint aber auch ein illustres Vorbild gehabt zu haben: »Was am tiefsten im Menschen liegt, ist die Haut [...]. Und dann Mark, Gehirn, alles, was man zum Fühlen, Leiden, Denken ... In-die-Tiefe-Gehen [...] braucht, sind Empfindungen der Hauú [...] Wir können graben, Doktor, aber wir sind ... ektoderm«, so Paul Valéry.55 Die beschriebene Situation in der Strophe darf als tragisch eingestuft werden, denn, was das Ich daran hindert, seinen Wunsch zu erfüllen, ist es selbst oder der Ort seiner Erscheinung: die Haut. Das wiederum scheint den Konflikt einer aporetischen Szenerie zu vergegenwärtigen: Auf der Haut, dieser zur Projektionsfläche erklärten Ich-Fassade, schreiben sich die innigsten Wünsche ein, deren Erfüllung jedoch zugleich wie von einer Trennwand verhindert wird. Der Haut kommt damit die Funktion eines Oxymorons, besser vielleicht: eines hartnäckigen Truggebildes zu: Durchsichtig und undurchlässig zugleich ist sie wie ein Stück Glas. Sie ist somit die Metapher für etwas Schimärenhaftes. Das Scheitern des Wunsches, bedingt durch die gläserne Dichte der Haut hat traumatische Folgen für das Ich. Eine Feststellung, die in gleicher Weise auch für das Gedicht gilt, denn von diesem Moment an kündigt sich im Gedichttext der drohende Einbruch eines Alptraums an. Noch in der vierten Strophe, in deren Mitte, setzt, nachdem das Ich festgestellt hat, dass es »die Haut«, welche es vom geliebten Kind trennt, nicht durchbrechen kann, eine wirre, durch Aufzählung und Akkumulation von Bildern charakterisierte Rede ein, die noch stärker als die vorhergehenden Strophen verblüffende Ähnlichkeiten mit dem Erzählen eines Traumes im Wachzustand aufweist: »Nun häufte sich Düne, und auf der Düne trieb Gras, / Wuchs hoch und dicht und grau und wucherte in mein Haar« (V. 15f.). Viermal muss das Wörtchen »und« dem Ich aus der Verlegenheit helfen; was daraus entsteht, sind gehäufte Bildfragmente, deren Kohärenz 54 55
R. Heim, ebd. »Ce qu'il y a de plus profond dans l'homme, c'est la peau [...]. Et puis, moelle, cerveau, tout ce qu'il faut pour sentir, pâtir, penser ..., être profond: Tout vient de là [...]. Nous avons beau creuser, docteur, nous sommes ... ectodernes.« Paul Valéry: L'idée fixe, in: Œuvres Complètes (La Pléiade), Bd. 2, Paris 1960, hier S. 215f.
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unverständlich bleibt. In Anbetracht der kryptischen Traumrede, die uns hier vorgesetzt wird, ist es angebracht, technische Unterstützung aus der Traumlehre Freuds zu holen. Diese besagt, dass der kausale Zusammenhang zwischen zwei Gedanken durch das Nacheinander von zwei verschieden langen Rede- bzw. Traumstücken ersetzt werden kann, wobei diese Darstellung häufig eine verkehrte ist — Freud präzisiert, was darunter zu verstehen ist: »[...] indem der Anfang des Traumes die Folgerung, der Schluss desselben die Voraussetzung bringt. Die direkte Verwandlung eines Dinges in ein anderes im Traum scheint die Relation von Ursache und Wirkung darzustellen.«56 Die dritte Strophe und die erste Hälfte der vierten bilden einen durchgehenden Gedanken, in dessen Zentrum das Wunschbild eines Kindes steht. Die fünfte und die ihr folgenden zwei Strophen kreisen um das furchterregende Bild der Taube. Das Nacheinander dieser Bilder ist unterbrochen durch die vorhin zitierten Verse 15 und 16. Was jedoch unterbricht, verbindet auch: Dass diesen zwei unverständlichen Versen, welche sich vordergründig als ein Störfaktor präsentieren, keine semantische, sondern vorwiegend eine formale Funktion zukommt, begründet sich einerseits durch ihren Einschub zwischen die zwei Traumgedanken (Kind und Taube) und andererseits dadurch, dass in ihnen ein buchstäbliches Bindungselement, nämlich die Konjunktion »und« einen geradezu exzessiven Einsatz findet. In meiner sich an der Chronologie des Gedichts orientierenden Lektüre erhalten somit die Verse 15 und 16 vorerst eine formale Bedeutung. Sie signalisieren einfach, dass sie als ein bindendes Element im Sinne eines und zu verstehen sind, dass somit das Bild des Kindes unmittelbar mit dem der Taube in engem kausalen Zusammenhang steht. Der Einsatz des Wortes »und« am Anfang der Strophen (vgl. die 3., 6., 7., 8. Strophe) ist ein weiteres auffallendes Zeichen dafür, dass die Gedichtrede um Kontinuität, aber auch um Kohärenz kämpfen muss. Bevor sich aber die Frage beantworten lässt, ob es sich bei den genannten Traumgedanken Freuds oben resümierter These entsprechend um eine verkehrte Darstellung handelt, ist zunächst eine Erhellung des darauffolgenden, von seiner etymologischen Herkunft her mit »Dunkelheit« belasteten Bildes vonnöten. Die Erscheinung der »Taube« darf als ein Wendepunkt im Text bezeichnet werden, weil sie unvermittelt genau nach der Mitte des Gedichts erfolgt. Erstaunlicherweise ist die fünfte, mit dem Auftauchen der »Taube« 56
Vgl. S. Freud, a. a. O., S. 674.
56
verknüpfte Strophe im Vergleich zu den vorhergehenden Strophen geradezu verständlich aufgebaut. Ausser der »Taube« selbst bedroht kein dunkles Bild das Verständnis der Strophe. Als einziges fällt eine an die Hölderlinsche Syntax erinnernde Satzverschiebung auf, 57 welche von der Evokation eines Gewaltaktes begleitet wird: »Ihr Schnabel schien mächtig, krumm und vom Blute verklebt / Der schwachen Gefährtin, der sie die Stime zerhackt« (V. 19f.). Die »Taube« wird bereits bei ihrem erstmaligen bildlichen Auftauchen als ein streit- und blutsüchtiges Wesen vorgestellt, was in krassem Gegensatz zur üblichen Symbolbedeutung dieses Tieres steht. Für das ungewohnte, weil auf den Kopf gestellte Bild unmittelbar nach der Mitte des Gedichts lässt sich damit behaupten, dass es ein in sich verkehrtes Bild ist. Die sechste Strophe schreibt der Taube menschliche Eigenschaften zu (»Gier und Jähzorn und Neid«) und gibt ferner eine Beschreibung des als boshaft dargestellten Tieres ab, wodurch die Vermutung bestärkt wird, dass mit der »Taube« etwas anderes gemeint sein dürfte: »So schwang sich der grosse Vogel über mein Feld« (V. 24). Seit wann, so könnte eine einfache Frage lauten, ist die Taube zu den grossen Vögeln zu zählen? Es scheint, dass die Traumarbeit im Bild, d. h. aber auch im Wort »Taube«, eine Verdichtung erfahren hat, welche nun einer Deutung bedarf: Die Taube gehört zu den Tieren, welche sowohl in der alten heidnischen wie auch in der biblischen Symbolik von ganz besonderer Bedeutung sind. In Anbetracht der grossen Begeisterung Gertrud Kolmars fur den Orient soll die der Taube in der orientalischen Symbolik zukommende Bedeutung berücksichtigt werden, zumal diese sich in den vorliegenden Zusammenhang am besten einfugt. Im alten Orient galt die Taube nämlich als »heiliges Tier«, besonders als Attribut der Istar, die mit Aphrodite, der Göttin des weiblichen Prinzips und der animalischen Fruchtbarkeit, ungefähr gleichbedeutend war.58 Die Taube gehört bekanntlich zu den Tieren, welche in lautstarker und auffälliger Weise fur ihren Nachwuchs sorgen. Zu den grossen Vögeln (V. 24) gehört sie mithin durch die Homophonie der Gattungsbezeichnung mit dem vulgären Ausdruck für den Geschlechtsverkehr. Die Liebesspiele und das Gurren der Taube sind ja ebenfalls bekannte amoreske Topoi: Tauben sind Symbole der Versöhnung, der Sehnsucht, kurz der 57
58
Vgl. die Syntax in zwei Versen im Gedicht >Brot und Weine »Aber indessen kommt, als Freundenbote, des Weines / Göttlichgesandter Geist unter die Schatten herab«; zitiert nach Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, hg. von D. E. Sattler, Bd. 6, Elegien und Epigramme, Frankfurt a. M. 1976, S. 245. Vgl. D. Forstner: Die Welt der Symbole, Innsbruck 1967, S. 260ff.
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Liebe. Hierin kann ein Grund dafür gesehen werden, weshalb sich das Gedicht, welches in der Sammlung >Die Frau und die Tiere< dem Text >Mörder Taube< vorausgeht, >Liebende< nennt. Die fünfte Strophe im Gedicht >Mörder Taube< spricht denn auch von der »Gefährtin« der »Taube« und bestätigt auf diese Weise die vorgeschlagene Konnotation. Im vorhin zitieren Vers 24 lässt sich nebst dem Wort »Vogel« eine weitere Anspielung auf den Kopulationstrieb der Tauben lesen, die evoziert wird, insofern der Traum sich durch den Wunsch nach einem Kind organisiert: Das Wort »schwang« lässt nämlich - wenn auch entfernt - Schwangerschaft ahnen. Liebe, Liebesakt, Schwangerschaft, Kind - der Traum vergisst ein weiteres, zu diesem Arsenal gehörendes Element nicht: »das lächelnde Perlglanzkleid«. Ein Brautkleid schimmert in diesem Bild hindurch, zumal die Taube von einer anderen Seite her mystische Beziehungen zur Braut-Kirche pflegt. Nun wird deutlicher, weshalb die im Titel erwähnte Taube mit einem Maskulinum (»Mörder«) verbunden ist: Die Taube, von der das Gedicht spricht, ist männlich; sie steht für einen Mann. In einer Weise verrät sogar der Text selbst, inwiefern es sich bei der Taube um ein gewünschtes Phantasieprodukt handelt. Dem Vers »Es kam eine Taube [...]« geht eine Kluft voraus, welche die topographische Mitte des Gedichts markiert. Noch vor dieser Kluft steht ein Bild, in dem von einem nahezu beängstigenden Wachstum des »Grases« die Rede ist, welches in der Bemerkung kulminiert: »[...] und wucherte in mein Haar«. Danach kommt, wie gesagt, die »Taube«. Es besteht kein Zweifel, dass diese mit dem »Haar« in Zusammenhang steht. Davon spricht zunächst die Ähnlichkeit der Farben; sowohl das vom »Gras« überwucherte »Haar« wie auch die »Taube« sind dem Text zufolge »grau« — wobei zu präzisieren ist, dass die Taube als »rosa und blaugrau« beschrieben wird, aber die Farbe Grau verknüpft die beiden gleichwohl. Verbindend ist auch die etymologische Perspektive des Wortes »Taube« im Sinne von »grau-schwarz« oder »die Dunkle«, welche die Atmosphäre des »Haar«-Bildes zutreffend visualisiert. Die Abfolge der Bilder, zunächst das »Haar«, dann die »Taube«, legt nahe, dass die Herkunft der »Taube« im »Haar« zu suchen sei, beziehungsweise in dem, was das »Haar« synekdochisch im genannten Vers verkörpert: im Kopf. Um das unvermittelte Auftauchen der Taube in poetologischer Hinsicht auf eine griffige Formulierung zu bringen: Die Taube im Text scheint eine Kopfgeburt zu sein.59
59
Kopfgeburten scheinen Kolmar generell interessiert zu haben; vgl. hierzu den
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Diese ungewöhnliche Geburt lässt sich jedoch weiter erklären: Die »Taube« entsteigt dem Kopf des Ich, oder anders, das Ich hat offenbar Tauben im Kopf, was bedeutet, wie eine Redensart sagen will, dass das Ich im wahnhaften Sinne phantasiert. Dieses Gedicht, welches uns in Form einer Traumrede vorliegt, ist eine reichlich geschmückte Wunschphantasie. Wenn die »Taube« für einen Mann steht, mit dem sich ein unangenehmes Erlebnis verbindet (6. Strophe), so scheint der Traum durch die Möglichkeit der Wunscherfüllung eine kompensatorische Aufgabe übernommen zu haben. Damit scheint eine Umkehrung des Traumgedankens zulässig zu sein. Auch könnte man an dieser Stelle den ersten Vers des Gedichts vergegenwärtigen, welcher buchstäblich von einer »Umstürzung«, also einer Umkehrung spricht und mit dieser Figur das Wesen des Gedichts gleich vorwegnimmt. Wunschphantasien beinhalten bekanntlich nicht immer angenehme Inszenierungen, sie können ganz gegen das phantasierende Subjekt gerichtet sein. In dieser Sorte von Phantasien wiederholt sich ein traumatisches Erlebnis in einer modifizierten Neuinszenierung. Dasselbe gilt fur den Alptraum. Was im Zusammenhang mit der »Taube« sinnfällig wird, ist, dass sie als ein Trauer und Verwirrung stiftendes Phantasiebild (vgl. die Schlussstrophe) bzw. als ein Wunscherfullungsbild auf die Wiederholungsthematik besonders aufmerksam macht.60 Deshalb ist auch die Erwähnung des Wirklichkeitsmoments in der sechsten Strophe so bedeutsam: »Und ich sah, wie es wirklich war, [...]« — nur in bezug darauflässt sich das Phantasmatische der darauffolgenden siebten Strophe als die Neuauflage einer »wirklich« erlebten Begebenheit nachvollziehen. Wir werden nicht herausfinden können, was sich in »Wirklichkeit« ereignet hat, was uns jedoch nicht davon abhalten kann, uns für deren Aufnahme als ein Wiederholungsmoment im Gedicht zu interessieren, weil dieses in seiner bildhaften Struktur mit dem Darstellungsmodus des Textes eng verknüpft ist. Das Bild oder das Traum-Bild ist die Erscheinungsform der »psychischen Schrift«, es manifestiert sich in ihr als ein Symptom, weil es zu seiner Eigenart gehört, genau dort aufzutreten, wo das Deskriptive scheitert. Das Deskriptive versagt aber nur, damit das Unmögliche seine Wahrheit finde. Brief vom 15- Januar 1940 und meine Interpretation hierzu im Aufsatz »Kinder und Bücher - zu einer poetologischen Figur in Gertrud Kolmars >SusannaMörder Taube< nennt. Darin liegt das Traumatische im Erscheinungsbild des Vogels begründet. Dadurch erklärt sich aber auch das Poetisch-Phantasmatische in der Textorganisation, mehr noch: Wenn nun das ganze Gedicht eine imaginierte und willentlich komponierte Phantasie ist, welche sich aus Elementen wie Wunsch und Trauma konstituiert, dann muss darin das Wiederholungsmoment in seiner interpretativen Tragweite erläutert werden. Das psycho61
analytische Bühnenmodell ist mit seinen poetischen Anleihen, die es sowohl bei Aristoteles wie auch bei Brecht gemacht zu haben scheint, in diesem Zusammenhang von grosser Bedeutung. Die Freudsche Auffassung von Wiederholung als Nachträglichkeit63 kann fxir die Erläuterung dieses Begriffs grosse Hilfe leisten. Mit Wiederholung im Sinne von Nachträglichkeit werden nämlich die Züge einer Bedeutungsverschiebung sichtbar, die dem dramatischen Effekt einer Verfremdung nahekommt. Damit kann aber der Wiederholung keine mimetische Funktion im Sinne von massstabgetreuer Abbildung einer ursprünglichen Situation zukommen. Für diese Figur dürfte das Reimschema ein geeignetes Demonstrationsmodell sein, welches unten anhand eines Beispiels veranschaulicht wird. Wenn die Wiederholung die Resonanz einer Verfremdung bedeutet, dann deshalb, weil dem Wiederholungsmoment der Ausdruck eines fundamentalen Mangels und Verfehlens innewohnt. Wiederholt wird nämlich und das macht den Sinn einer Wunschphantasie aus - , was nicht stattgefunden hat und deshalb der Rekonstruktion bedarf. Dadurch lässt sich auch erklären, weshalb das Ich in der achten und letzten Strophe zugeben muss, dass es »nichts mehr versteht«. Das Ich versteht seine Situation, die uns als eine sprachliche vorliegt, nicht, weil es sich nicht mehr erinnert, wie das Vorangegangene zustande gekommen ist, denn schliesslich: Wer wiederholt, erinnert sich nicht. Der Antagonismus von Wiederholung und Erinnerung charakterisiert das Gedicht >Mörder Taube< und mit ihm den ganzen Zyklus >TierträumeMörder Taube< dokumentiert. Entscheidend für die vorliegende Lektüre ist jedoch das folgende Ergebnis: Trägt sich die Sprache als Traum bzw. als Wunsch vor, so legt sie beiläufig - und dennoch hörbar - das Geständnis ab, Bilder zu entwerfen. Daher dürfte nämlich die Unsicherheit und das Misstrauen des redenden Subjekts rühren, dass es während seiner Rede, d. h. während des Traumes, Bilder und danach bzw. zugleich nichts von den phantasierten Bildern vorfindet. Lacan scheint diese Eigentümlichkeit des Sehens im Traum formuliert zu haben, wenn er schreibt, »dass wir im Traum letzten Endes eine Position einnehmen, die die Position dessen ist, der nicht sieht«. 66 Auf die brisante Stelle aus der letzten Strophe des Gedichts wurde schon hingewiesen: »[...] Und ich hob mich auf, / Ich rieb meine Augen [...]«, wonach suggeriert wird, dass in der (Erzähl-)Zeit zuvor die Augen nicht präsent waren. Die vorletzte Strophe des Gedichts nimmt diese Lücke buchstäblich vorweg: Im Vers »Und es verging ein Blick und es verging ein Tag« ist unter »Blick« mit grosser Wahrscheinlichkeit ein Augenblick zu verstehen, denn nur auf diese Weise lässt sich die Steigerung zum »Tag« und einen Vers später zum »Jahr« nachvollziehen. Die Bedeutung des Nichtsehens im vorliegenden Kontext, der eine Haut-Metapher als Ausgangspunkt hatte, erinnert wiederum an die Parallelisierung von »Haut« und »Lid« im Gedicht >Die Leugnerin«; offensichtlich steht das Lid, das heisst das zu einer Falte verdichtete geschlossene Auge, in einer metonymischen Reihe mit der Haut. In bezug auf die Ausführungen zur ersten Strophe von >Mörder Taube< lässt sich nun ergänzen, dass die Intaktheit der poetischen Sprache und damit auch die der poetischen Fiktion in Ermangelung einer als geeignet empfundenen Sprache in Frage gestellt ist. Gleichzeitig ist es aber so, dass diese Sprache vorwiegend dank ihrer Wunschbilder lebensfähig ist. Mit der Poetisierung des Wunsches zeigt die Kolmarsche Lyrik somit nicht nur um an den berühmten Titel Calderòns zu erinnern — dass das Leben wie ein Traum aufgefasst werden kann, sondern dass die gewünschte Wirklichkeit in gedichteter Form, d. i. das Gedicht als Wirklichkeit selbst ein Traum
66 67
Jacques Lacan: Das Seminar Buch XI, a. a. O., S. 82. Damit etabliert sich der Text in der Dialektik von Traum und Wirklichkeit als dasjenige Gewebe, an dem auch die Struktur dieses Verhältnisses lesbar wird. Ist es die Ironie des Schicksals, dass das Gedicht >Mörder Taubei den aus dialekti-
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4. »Ihre Augen: trauriges Geleucht«. Ein Zwischenergebnis Die Lektüre der drei Gedichte hatte zum Ziel, die poetologische Struktur mit Blick auf Selbstmetaphorisierungen des lyrischen Subjekts sichtbar zu machen. Als Ausgangspunkt diente jeweils ein Selbstvergleich mit einem Objekt. Wer sich einem Objekt gleichsetzt, und das tut eine solche metaphorische Aussage in aller Kürze, der spricht sich das Leblose und Gegenständliche des Objekts zu. Und stärker noch: Er übernimmt dadurch die Eigenschaften des Dinges. Dabei zeigte sich, dass das metaphorische Objekt der Identifikation jeweils in einer Phantasmagorie entsteht, die auf Metonymien basiert: »als war ich ein gläsernes Ding«. Es kann somit nicht überraschen, wenn diese Gedichte von Trauer und Verzweiflung mitunter von Unverständlichkeit geprägt sind. In den Beispielen, die herangezogen wurden, waren diese Objekte: »die Puppe« im Gedicht >Die Kranke< und zweimal »die Glashaut« in den Gedichten >Der Seegeist< und »Mörder TaubeDie Kranke< angedeutet, dass die Finsternis der Augen, der »heliotropischen Metapher« par excellence, von essentieller Bedeutung im poetologischen Zusammenhang ist, weil nur dadurch eine Metapher wirklich eine Metapher werden kann, dass sie auf dem kürzesten Weg verschiedene Bilder sichtbar macht und damit ftir Ungewissheit, aber auch fur Spannung sorgt. Ein Gedicht, >Die OtternDas RaubermädchenDer Seegeist< war zu lesen, dass die Augen sprachliche Funktionen übernehmen; andere Gedichte sprechen von den Augen als Geräusche erzeugenden Organen: Von »zischenden Augen« ist in »Das Mädchen< die Rede und von »summenden Augen« im Gedicht »Singende MutterDer Krötendämon< aus dem Zyklus »Tierträume< wird hier präziser: »Ihrer Augen trauriges Geleucht / Wiegt todverwunschene Sterne noch, ein Weib« (V. 9f.). Und wir nehmen ein weiteres Thema des folgenden Teils vorweg, indem wir daran erinnern, dass blinde, traurige Augen nicht selten auch verliebte Augen sind. Das Gedicht >Die Blinde< aus dem »Dritten Raum< des Zyklus »Weibliches Bildnis< synthetisiert, was bisher im Kontext der Augen und der Trauer gestreift wurde. Hier ist Nichtsehen ausdrücklich das Thema des Gedichts. Dem Titel gemäss wird eine Welt, eine innere Welt, beschrieben, die als klein, eng und dunkel empfunden wird. D a sich das lyrische Ich als eine Blinde einfuhrt, treten die übrigen Sinnesorgane besonders markant hervor. Aber auch hier scheint, wie bisher, die sinnliche Wahrnehmung durch das Fehlen der Augen, durch das Fehlen des vernünftigen Organs, dem Chaos unterworfen zu sein. Dieser verwirrte Zustand bekommt jedoch in der Mittelstrophe des Gedichts einen Namen, der den Umständen einen vorsätzlichen Charakter verleiht: Das Ich vergleicht sich mit einer sprechenden »Hexe«, womit die Ereignisse sich als Hexerei, als eine Art Zauberakt verstehen lassen. Visuelle Elemente wie das »»Licht« sind in diesem Text hörbar, die »Dinge« nach ihrem »Ruch« benennbar, die finstere Blinde, die sich im Gedicht mit einem »fensterlosen Haus« vergleicht, »bleicht« die »Wangen« der Welt mit ihrem schwarzen Blick, wofür an einer anderen Stelle im Text »die Brücke« metaphorisch einsteht. Die rätselhaft anmutende Schlussstrophe lautet dann: Die Brücke ist versunken In einem tiefen, bittren Maar; Wenn ich es ausgetrunken, Wird alles klar.
Der versunkene Blick, einer Brücke gleich, scheint in einer abgründigen Quelle, einem Kratersee, verlorengegangen zu sein. Das »Maar«, im Zusammenhang mit der »Hexe« an etwas fiktives, märchenhaftes erinnernd, scheint mit den ihm zugeschriebenen Attributen »tief« und »bitter« bzw. trinkbar sowohl etwas Rätselhaftes als auch etwas Heilsames auszustrahlen.
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Zwischen »Leben« und »Maar« besteht insofern ein Zusammenhang, als »das Leben« mehrfach an Stelle des »Ich« Auskunft erteilt. Die Verbindung erklärt sich nicht zuletzt auch dadurch, dass das Gedicht mit »Mein Leben« (im zweiten Vers der ersten Strophe) beginnt und mit »Maar« (im zweiten Vers der letzten Strophe) endet: »Maar« könnte demnach von seiner »topographischen« Position her den Tod bedeuten. Das »Austrinken« der Flüssigkeit, welches ja zur Klarheit führen soll, erinnert zugleich an einen Zaubertrank: Durch ihn soll alles wieder gut werden. Das Trinken hat aber selbst eine quasi metaphorische Eigenschaft, weil dadurch eine Verbindung, eine Art Vereinigung zustande kommt. Es scheint aber, dass erst im Tod, im Ausleben des Lebens, im Austrinken der unheimlichen Flüssigkeit Klarheit, also Helligkeit möglich ist. In einem utopischen, weil unmöglichen Akt wäre Sehen und Heilung möglich. Die geschlossenen Augen der Blinden sind die Voraussetzung dieses Gedichts. Eine Voraussetzung, die wie auch andere Gedichte belegen, tödliche Implikationen hat. Die Entfernung der Augen in dem sonst üblichen Kontext macht nun einsichtig, weshalb der Körper bzw. sinnliche Sensationen eine derart starke Rolle in den Gedichten spielen. Besonders diejenigen Sinneswahrnehmungen, die am wenigsten im Schreiben nachgebildet werden können, wie der Geruch- und Geschmacksinn, tauchen entsprechend häufig auf.70 Oft sind es auch schlicht orale Handlungen, die diese Rolle übernehmen: Im obigen Zitatfragment aus dem Gedicht >Die Blinde< ist es das »Trinken«, welches Heil bringen soll. Im ganzen Gedicht jedoch sind es eine ganze Reihe von vergleichbaren Tätigkeiten: »essen«, »beissen« und »sprechen«. Auch die Aufnahme von Nahrung scheint eine Form von Hingabe, ein Angleichen und in letzter Instanz auch ein Vergleichen zu sein. Wein, Brot, exotische Früchte etc. - diese Elemente stehen nicht nur im Dienste der Vermittlung einer sinnlichbetonten Atmosphäre, sondern sie nehmen in ihrem blossen Auftauchen einen nicht immer vollzogenen Metaphorisierungsakt vorweg und sind deswegen selbst als eine materielle, d. h. sinnliche Angelegenheit zu verstehen. Die Hauptinstanzen des Schreibzustands sind — das kann hier festgehalten werden - auf Wahrnehmungsbereiche delegiert worden. Diese noch näher zu erörternde Synästhesie, ein Erbstück Baudelaires, soll der konfusen Eigenempfindung des Ich Bestand verleihen. Doch die betonte Sinnlichkeit und Körperhaftigkeit sind nicht folgenlos. Wer sich durch seine Sinne be70
Ist nicht der D u f t das Baudelairesche Motiv par excellence? Hier nur einige Gedichttitel: >Parfum exotique«, >Le Parfums >Le flaconDas Götzenbild< ist die Rede von der »Macht«; hierzu präzisiert das Ich: »Ich musste in ihr thronen wie in einem Hause; / Ich bin sie nicht: als Bild ihr eingedacht.« Dieser Selbstentwurf wird - abgesehen von dessen programmatischer Ankündigung im Titel Weibliches Bildnis< - auch im Gedicht >Der Schwan< ausgesprochen; in dessen vierter Strophe steht »Bild der Frau / Singt er tiefstes Neigen«. Sich einem Objekt anzugleichen, d. h. sich zu verbildlichen, zu entwerfen, ist im Grunde genommen eine Form von Selbst-Objektivierung. Im neuen Entwurf soll der alte verworfen werden. Dafür scheint die von der Romantik übernommene »Glas«-Metapher geeignet zu sein. Sie führt die Operation der Selbstmetaphorisierung darum sinnfällig vor, weil hier die Grenzen zwischen dem Subjekt und dem Objekt verschwinden bzw. verwischt werden. Die Verwendung von »Glas« in den Texten Kolmars schwankt auffällig zwischen den medial-sichtbarmachenden und den gegenständlich-sichtbaren Aspekten des Materials. Diese tiefgreifende, unauflösliche Ambivalenz, welche den Akt der Selbstmetaphorisierung durchzieht, kennzeichnet gleichzeitig so etwas wie einen unmöglichen, zerrissenen Blick: Das Selbst muss zum einen von sich absehen, sich transparent denken, um etwas Bestimmtes, Anderes zu ergreifen; sobald es sich jedoch sich selbst zuwendet, wird es zu diesem anderem, erfasst es sich in der undurchdringlichen Opakheit eines Dings. Mit anderen Worten: Die medialen Eigenschaften des Selbst lassen sich niemals mit denjenigen Qualitäten zur Deckung bringen, die es an sich selbst entdeckt. In der Glasmetapher tritt somit die fundamentale Spannung zutage, welche in anderer, theoretischer Hinsicht auch das Selbst kennzeichnet: eine Spannung, welche die Kontinuität, die Einheit des Selbst in den Gedichten Kolmars manchmal buchstäblich zum Bersten, zum Zerspringen bringt. Im übertragenen Sinne heisst dies auch, dass die Grenzen zwischen Bild und Abbild obsolet werden.
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Indes ist in keinem Text so genau zu erfahren, was der Anlass seiner Trauer ist. Das schmerzvolle Ereignis präsentiert sich jeweils in Fragmenten einer Anspielung oder in einer kaleidoskopischen Metaphorik, brüchig, rätselvoll und lückenhaft. Dennoch Hess sich die Trauer in den untersuchten Gedichten mehr oder weniger markieren: im ersten Fall war es eine »Krankheit«, die sich aus den Todesphantasien speiste; im >Seegeist< war es das plötzliche Auftauchen eines Vogels, welcher das Leben des unbestimmten Wesens, des »Seegeists«, zu bedrohen schien; und im Gedicht >Mörder Taube< liess sich das Schema eines Alptraums nachzeichnen. An diesen Beispielen lässt sich zeigen, dass die für eine Lektüre nachvollziehbare Trauer eigentlich erst im Text akut wird, d. h., sie bricht wie eine Krankheit im Verlauf der Textorganisation aus. Es ist, als ob das Ich erst dann seiner Trauer wirklich gewahr würde und ihr den entsprechenden Ausdruck verliehe, wenn es sich in der Umgebung widerspiegelt, denn: Was es da sieht, ist nicht sich selbst, sondern etwas anderes. Erst nach der Wahrnehmung dieser unmöglichen Perspektive bricht die eigentliche Verzweiflung des Ich aus. Ein Ich, ein Subjekt, welches sich zugleich als ein Es, ein Ding, wahrnimmt, das ist der Effekt der Selbstmetaphorisierung — mit zweideutigen, weil unaussprechbaren Nebenwirkungen. Das was die unvermeidliche Tristesse dieser Texte verursacht, muss demnach in der Optik der metaphorischen Redeweise gesucht werden. Diese lässt sich in zwei Vorgängen näher beschreiben. Im einen ist die Selbstverbildlichung den sinnlichen Gegebenheiten und Instanzen verpflichtet: Es ist die Haut, ein taktiles Organ, welches eingeschaltet wird, oder ein Körperteil wie der Kopf. Gleichzeitig ist diese, vielleicht von Baudelaire, vielleicht aber auch von der blumigen Landschaft des Alten Testaments inspirierte, synästhetisierende Metaphorik mit einer anderen Leistung der bildlichen Rede stark verknüpft. Diese zweite Form des poetischen Vergleiches ist in erster Instanz dem Phantasma eines Ich, seiner buchstäblichen Präsenz verbunden. Sie idealisiert das metaphorische Objekt im Selbstmetaphorisierungsakt des Ich derart, dass das Objekt wie ein dem Ich entgegengehaltenes widergespiegeltes Bild, als eine metonymische Version desselben dasteht. Die Formierung der Metapher in der Lyrik Gertrud Kolmars ist durch den prädikativen Einsatz des Verbums »sein« motiviert. Die meisten der untersuchten Metaphern des Selbst können demzufolge durch die Formel »Ich bin x« ausgedrückt werden. Das Ich nimmt ein Bild, ein x, für sich in Anspruch — man könnte auch sagen: es verbildlicht sich —, indem es dieses χ von sich aussagt. Weil aber diese Darstellung durch das Verbum »sein« 70
geschieht, bleibt der für die metaphorische Wendung entscheidende Sprung aus. Damit gerät aber die Metapher in die Nähe eines anderen rhetorischen Tropus: der Metonymie. Hierzu ein weiteres Beispiel: Im Gedicht >Die Unerschlossene« behauptet das Ich im ersten Vers forsch »Auch ich bin ein Weltteil« (V. 1), um uns in der Folge in die Geographie seines Körpers einzuführen. Die Brüste werden als Berge und auch als Blumenlandschaft gedacht, »Meiner Brüste Knospen spülte nicht Regen« (V. 6), und zum Schluss wird präzisiert: »Ich bin ein Kontinent der eines Tages stumm im Meere versinkt« (der letzte Vers). Die Verschiebung des »Ich« zu einem »Kontinent« ist eine Operation der Umbenennung, wörtlich: eine Metonymie, wie wir sie bisher nur gelegentlich erwähnt haben. Die programmatische Bedeutung dieses Tropus lässt sich durch einen Blick auf die zyklische Organisation der Sammlung gewinnen: Der Zyklus Weibliches Bildnis< soll bei all den Facetten des Ich, die er gleichsam zentrifugal entwirft, diese gleichwohl zu einem Bildnis bündeln. Dieses Ziel kann der Zyklus aber nur, wie die Titel belegen, durch den Namenstausch erreichen, d. h., indem er ständig umbenennt. Als ein »reales« Verhältnis - real im Sinne von res: das Nicht-Wörtliche, der Gedanke, das Argument 71 - beleuchtet die Metonymie einen argumentativen Zusammenhang und nicht wie die Metapher den einer Ähnlichkeit. Ein logischer Zusammenhang liegt vor, wenn beispielsweise Ursache und Wirkung vertauscht werden - man erinnere sich in diesem Kontext an die Umkehrungsmomente im Gedicht >Mörder TaubeDie Unerschlossene< buchstäblich formuliert. Der metaphorische Effekt bleibt trotz seines Scheiterns dennoch nicht aus. Dieser verdankt sich dem Verbum »sein«, welches dem weiblichen Subjekt eine Verwandlung ermöglicht, die dem Vorgang einer Übertragung, metaphorein, sehr nahe steht. Das Uberschreiten der Metapher auf den mythischen Bereich der Metamorphosen hin beleuchtet einen Transzendierungsvorgang, der mit der Vorstellung vom Körper als einem Ding eine unverhüllte Nähe zum Tod aufrechterhält. Von diesem mortifizierten Körper, von diesem Jenseits aus erscheint der Selbstentwurf des Ich als ein Phantom, als eine geisterhafte Erscheinung, was damit auch als eine Anspielung auf das Scheitern der metaphorischen Rede lesbar wird. In Verzweiflung und Trauer gibt es kein Gedächtnis, d. h. auch keine Kontinuität im logisch-zeitlichen Sinne. Verzweiflung schreibt ihre eigene Geschichte und hat kein Gehör für andere, fremde Gesetze. Der Verzweiflung entgeht die eigene Geschichte, ihr Lauf, ihr Sinn. Sie ist auf eine heimtückische Weise vergesslich. Das zeigt vor allem ihre Rede, die oft von Inkohärenz und Lücken geprägt ist, was die Verzweiflung noch verzweifelter macht: Woher die Worte nehmen? und wie? Auf verschiedene Weisen führen die Gedichte dieses Moment des Nicht-mehr-Erinnerns, Nichtverstehens, des Sich-Entgehens vor, indem die Sprechende nicht mehr weiss, was sie spricht, und sei es sogar, weil ihre Rede ein unverständliches, rätselhaftes oder ein wahnhaftes Ausmass annimmt. Auch mit diesen Gesten signalisiert der Text, dass er darauf verzichtet, sich auf eine Bedeutung festzulegen. Die Protagonistin der Gedichte hat bisweilen keinen Begriff von ihrer Rede, weil sie als Auge und Haut der Gedichte die Fetzen ihrer Geschichte auf sich trägt, in sich spürt, zur Schau stellt. Die synästhetische Gestaltung scheint mithin das Indiz für eine labil werdende, d. h. referentielle Beziehungen aufgebende Sprache zu sein. Die Klage der Gedichte betrifft mithin die Erfahrung, dass das Ausmalen der Trauer mit dem Sprachverlust einhergeht. Es war ein Ziel dieses Kapitels, die bildliche Struktur des Ausmalens und die Verankerung der Trauer in der sprachlichen Organisation der Gedichtsammlung zu veranschaulichen. Das folgende Kapitel bespricht diejenigen Konfigurationen und Elemente, welche die Insuffizienz der Sprache an den Tag legen, gemeint ist der Sprachverlust in all seinen Varianten. Denn im Grunde sind sie unzertrennlich: die Trauer und das Schweigen in der Dichtung. 72
II. Gestalten der Sprachlosigkeit
»Es ist in aller Trauer der tiefste Hang zur Sprachlosigkeit, und das ist unendlich viel mehr als Unfähigkeit oder Unlust zur Mitteilung.« Walter Benjamin
Das Bild entsteht dort, wo die Sprache ihr Ziel nicht erreicht. Es ist insofern ein Denkmal des Sprachverlusts. Umgekehrt dokumentiert das Versagen des Bildes auch ein sprachliches Scheitern. Das vergangene Kapitel hat aufgezeigt, dass der Schmerz, wenn er sich zum Wort verdichtet, nicht nur ein metaphorisches Dasein fristet. Der Schmerz, wenn er sich zu schreiben und beschreiben unternimmt, steht zugleich dem Problem gegenüber, dass er gar nicht weiss, wie er zum Wort, zum entsprechenden, d. h. schmerzerfullten und schmerzhaften, werden und finden soll: Er wird vieldeutig und dadurch, paradoxerweise, ungewiss. Das Leiden, zumal im Text, ist also immer auch eines, das durch die Suche nach dem Wort verursacht ist, nach dem richtigen, wohl verstanden - und die Trauer im Text ist somit eine doppelte. Dass die Sprachbilder sich nicht vom Rest der Sprache isolieren lassen, erklärt, warum die Bildmomente auch im vorliegenden Zusammenhang auf sich aufmerksam machen werden. Eine von Verzweiflung geprägte, dem Wahnsinn nahestehende Wunschrede, die traurigen Worte eines dem Tode geweihten rätselhaften Gedichtkörpers oder ein Gedichtdrama, das sich als Alptraum konzipiert, all diese abweichenden, weil von Deskriptivem distanznehmenden Redeformen, signalisieren zugleich auch, dass das Ich sich in einem Kampf auf Leben und Tod befindet. Den nach Ausdruck strebenden Empfindungen stehen die Worte als Erlöser gegenüber. Gewiss ist die Wortsuche allein noch kein Indiz für ein gravierendes sprachliches Problem, geschweige denn ein Symptom des Sprachverlusts. Die Intensität der Wortwahl, die Einbettung der Bilder in unvollständigen Satz- und Gedankenbildungen und vor allem die Fülle der Bilder haben jedoch in den angeführten Gedichten gezeigt, dass dort, wo die metaphorische Rede dem lyrischen Subjekt zu Hilfe 73
kommt, sich am Schluss des Textes eine Ungewissheit in bezug auf die Gesamtrede einstellt. Im vorliegenden Abschnitt geht es um Artikulationen, die das Versagen der Sprache signalisieren. Als Begleitsymptome der phantasmatischen Rede gehören auch diese Gesten zur komplexen Choreographie des Gedichts und lassen sich deswegen auch als poetologische Referenzen lesen. Ein eindeutiges Zeichen der Ungewissheit in bezug auf die Intaktheit der Rede ist zum Beispiel deren Thematisierung im Text. Spricht ein Gedicht aus, dass es gar nicht weiss, wie es sich bilden soll, dann wird die Frage nach der Darstellung in diesem Text von essentieller Bedeutung. Die Beschäftigung mit dieser Frage hat zur Folge, dass das Gedicht selbst eine zwiespältige, ja ungewisse Haltung einnimmt. Auch ist die Sprache ihrer selbst nicht mehr sicher, wenn Mächte des Vergessens oder wahnhafte Vorstellungen sich in ihren Raum drängen. Die auf diese Weise entstandenen Lücken im Text und auch im Textverständnis werden jedoch zu den Intentionen der Autorin gerechnet. Wenn die Lücke aber zur dichterischen Zielsetzung gehört, dann heisst es, dass der Leserin und dem Leser in solchen Manifestationen etwas verschwiegen wird. Das Subjekt, welches im Gedicht »Ich« sagt, wird dadurch geheimnisvoll. Und so tritt das Schweigen ins Gespräch. Still und ohne dass es erwähnt würde. Dies ist nun durchaus nichts Neues in der Literatur. Das Schweigen hatte immer schon einen Platz an heiligen Orten und in mystischen Schriften inne. Ein wohlbekannter Topos ist die Unaussprechlichkeit des Numinosen im religiösen Bereich, aber auch im literarischen. Das Undarstellbare bzw. das Unaussprechbare drückt sich durch das Schweigen aus. Dass heisst: Ein zur Sprache sich paradox verhaltendes Element, nämlich das Schweigen, wird zum Organ einer Darstellungsform. Eine derart mit Gegensätzen operierende Rede kann unter Umständen einen Effekt erzielen, der sich seit Longinus »erhaben« nennt. In poetischen Diskursen gibt es eine regelrechte Schweigetechnik. Davon legt die Moderne, spätestens seit Hölderlin, Zeugnis ab. Die Paradoxie des schweigenden Textes besteht darin, dass er nur unter Verwendung verbaler Mittel auf sein Schweigen aufmerksam machen kann. Dieser Hinweis des Textes geschieht auf verschiedene Weisen: Das Schweigen kann ein explizites Thema eines Gedichtes sein, oder das Gedicht kann das Schweigen, ohne dies eigens zu erwähnen, in seiner Darstellung vorführen. In poetologischer Hinsicht heisst dies, dass der grundsätzliche Bruch mit der referentiellen Sprache, was als die Kehrseite von Metaphernbildungen ge-
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sehen werden muss, eine Geste des Schweigens hervorbringt. Dieses verschwiegene Begleitmoment der Bilder erschwert seinerseits das Textverständnis. Eine Möglichkeit, das Schweigen im Text darzustellen, besteht darin, den Körper in Anspruch zu nehmen. Denn auch der Körper als Zeichen, als Körpersprache, kann diese Funktion übernehmen. Die Sprache des Körpers ist, obwohl in aussertextlichen Situationen gelegentlich beredter als Worte, in einem Text meistens ein Signal dafür, dass diejenige, die reden sollte, nicht spricht, nicht sprechen kann - schweigt. Der Einsatz des Körpers, seine Sensationen, sind in den Gedichten Gertrud Kolmars kaum zu übersehen. Die auffällige Rolle der Wahrnehmung und die unverzichtbare mediale Funktion des Körpers bei der Metapherbildung werden auch deshalb für die hier verfolgte Fragestellung von Bedeutung sein. Halten wir darüber hinaus noch fest, dass kein anderer Ort derart von sprachlichen Verfehlungen gezeichnet ist wie der Körper, der von Natur aus ein Spurenträger, ein Sammelort fur Narben ist. Dass der Körper die Aufgabe übernimmt, sich zur Schau zu stellen, d. h. ein Ausstellungsobjekt zu sein, spricht der Zyklus Weibliches Bildnis< unverhohlen aus. Bildnisse betreffen jedoch definitionsgemäss Gesichter. Der Zyklus legt eine Vielzahl von Gesichtern vor und provoziert somit die Frage nach deren Verhältnis zu der expliziten Behauptung, ein Bildnis zu sein. Diese Verbindung erzeugt eine rätselhafte Spannung, wenn nicht gar einen Widerspruch. Die Dissonanz betrifft das Genre (literarisches) Selbstporträt, wo das menschliche Antlitz als Sprachorgan zu fungieren hat. Dieser Problematik geht die Studie in zwei Schritten nach. In einer ersten Etappe richtet sich die Frage nach der Relevanz der Inanspruchnahme einer Gattung für die Sammlung. Zugleich wird versucht, in einer grossen Bewegung anzudeuten, auf welche Weise die Stummheit den tragenden Grund der Gedichte bildet. In einem zweiten Abschnitt wird sodann das Bild als Gesichtsbild, als Porträt anhand eines Gedichts näher untersucht. Die Genreproblematik wird darüber hinaus auch durch einen anderen Brennpunkt thematisch: Der Zusatz »weiblich« im Titel Weibliches Bildnis< erlaubt nämlich, die Frage nach dem Genre auch im übertragenen Sinne als die Frage nach dem Geschlecht zu verstehen. Auf dieses Problem nimmt der letzte und zusammenfassende Abschnitt des Kapitels Bezug. Eine weitere Variante des Schweigens im Text liegt in der Figur des Verhüllens. Sie ist in einigen Gedichten metaphorisch ausgedrückt. Im >Zweiten Raum< möchte sich das »Mädchen« »mit Schweigen verkleiden« 75
(V. 10), und im folgenden Gedicht gesteht die »Liebliche«, dass ein »mürrisch grobes Schweigen« ihr Lächeln »deckt« (V. 11 f.); im selben Raum, der offenbar vieles zu verschweigen hat, ist ferner zu erfahren, womit das Gedicht >Das Götzenbild< das »Schweigen« des »Bildes« ausfüllt, nämlich: »mit Menschenflüstern und -gebrause«. Das zuletzt zitierte Fragment spricht selbst die Paradoxie des schweigenden Textes aus, indem es zugibt, dass es sein Schweigen mit Geflüster, also doch mit Laut belegt. Auf diesen Umstand machen auch andere Gedichte aufmerksam: >Der Schwan< singt sein »tiefstes Neigen«, während »aus dem glaskühlen Tau« das »süsse Schweigen [läutet]« (2. Strophe), >Die Schlangenspielerin< - ein Gedicht ebenfalls aus dem >Zweiten Raum< - vergleicht den »schmale[n] Leib« der Schlange mit »einem schweigenden Gesänge« - womit zugleich die Affinität von Gesang und Körper ausgesprochen wird. Der Dingwelt wird das Sprachvermögen kategorisch abgesprochen. Sie wird nämlich nicht als schweigend bezeichnet, vielmehr scheint sie einer natürlichen Stummheit verfallen zu sein: der Wald, die Luft, ein Keim, ein Kontinent - wie dies die Gedichte >Die Mutten, >Die ErzieherinDie Kranke* und >Die Unerschlossene< belegen. Dass aber alles in allem das Schweigen und seine Varianten der Zauberkraft der Kunst zu verdanken sind, spricht eine Figur der Sammlung aus, die genau wissen muss, was sie tut: Die »Gauklerin«; im gleichnamigen Gedicht aus dem >Dritten Raum< lehrt sie, dass »die Kunst« »schweigend«, einem »Regenbogenfall« ähnlich, immer wieder neue »Rätsel« schreibt — oder im Wortlaut des Textes: Rätsel, die sie immer wieder »mischt und verwischt«. Gerade im vorliegenden Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass der breite Raum, welcher den Tieren in der Gedichtsammlung gewidmet ist, unter anderem auch als ein sprachloser Raum zu verstehen ist. Da Tiere bzw. die Gedichte aus dem Zyklus >Tierträume< sich in einen anderen Kontext einfügen, wird in diesem Kapitel darauf verzichtet, ein Tiergedicht heranzuziehen.
1. Selbstbildnisse: ein stummes Panorama Im Zusammenhang mit dem Zyklus Weibliches Bildnis* ist bereits das folgenschwere Urteil gefällt worden, er sei ein »Portrait ohne Portraitierung«.1 Diese treffende Charakterisierung rechtfertigt sich durch die Viel'Vgl. Erdle, a. a. O., S. 181.
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zahl der Gesichter, welche die Festlegung auf ein Bildnis verunmöglichen; das Bildnis ist somit ohne einen wirklichen Inhalt, d. h., es ist gesichtslos. Die Frage bleibt dennoch offen, wie das Verhältnis von Porträt und Gesicht zu verstehen, d. h. fruchtbar zu machen ist. Eine erste grobe Skizze soll zeigen, inwiefern der Zyklus in seiner Grundgestik ganz im Stil des literarischen Porträts gelesen sein möchte. Dabei wird es keineswegs darum gehen, autobiographische Elemente für eine Lektüre stark zu machen. Ganz im Gegenteil: Für die Auflösung des Widerspruchs ergibt sich in diesem Kontext eine ganz andere Fragestellung, welche sogar von den autobiographischen Funktionen des Zyklus absieht. Diese betrifft die Affinität der Komposition zum kunsthistorischen Bereich. Einige charakteristische Momente aus der Porträtmalerei sollen zur Veranschaulichung der These dienen, wonach Gertrud Kolmar mit dem Programm beschäftigt gewesen sei, sprachliche Äquivalente zur bildenden Kunst zu schaffen. Ein auffälliges Moment dieser Parallelisierung lässt sich gleich vorwegnehmen. Dieses besteht darin, dass Stummheit die Natur des gemalten Bildes ausmacht. Bei der Ergänzung des Zyklus Weibliches Bildnis« fur die Buchpublikation des Jahres 1938 greift die Dichterin nicht auf die Anordnung ihrer Auswahl von 1933 zurück, 2 sondern orientiert sich wieder an der ursprünglichen Gestalt ihres Inhaltsverzeichnisses. Von unerhörter Bedeutung bei dieser Entscheidung ist die nochmalige Einteilung der Gedichte in »Räume« 3 - dies allerdings in neuer Anzahl: Im Unterschied zu der ersten Auflistung, welche »vier Räume« aufweist, wird der Zyklus im Buch >Die Frau und die Tiere< in der symbolisch brisanteren Dreiteilung gehalten. Die Straffung im endgültigen Inhaltsverzeichnis wird durch die stellenweise neue Reihenfolge der Gedichte zusätzlich verstärkt. So bleibt der >Erste RaumZweiten< und >Dritten RaumZweite Raum< beispielsweise aus dem >Zweiten< und >Dritten Raum< der Originalfassung zusammensetzt, sind an der Konfiguration des >Dritten Raums< Gedichte aus dem >ZweitenDritten< und Vierten Raum< beteiligt. Ein flüchtiger Blick auf die endgültige Liste zeigt mehr als deutlich, dass der Sinn dieser neuen 1
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Die Sammlung hätte erstmals 1933 erscheinen sollen, wurde aber nach der Machtübernahme der Nazis als nicht publikationswürdig empfunden. Bei der Auswahl vom 1933 hatte Kolmar nämlich auf die Raum-Einteilungen verachtet. Dieser Raum lässt bei gleichbleibender Anordnung nur zwei Gedichte weg. Es handelt sich dabei um die Gedichte >Die Drude< und >Die Gärtnerin«.
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Kombinatorik in der verschärften Konturierung der Selbstentwürfe des lyrischen Subjekts gesucht werden muss. Auf der anderen Seite kann man sich beim Titel Weibliches BildnisErster Raums >Zweiter Raums >Dritter RaumErsten Raums die uns in ihre reizvollen Geheimnisse einfuhrt, lässt sich im >Zweiten< und >Dritten Raum< als solche nicht mehr sehen. Eine Ausnahme zu dieser Beobachtung bietet einzig >Die Gauklerins die Kunstfigur aus dem >Dritten Raums Etwas schwieriger wird es aber, eine derartige Divergenz zwischen dem >Zweiten< und >Dritten Raum< markieren zu wollen. Tatsächlich scheint die motivische Nuancierung der beiden letzten »Räume« eher im Grad ihrer thematischen Verdichtung als in einer inhaltlichen Differenz zu liegen. Sind Titel wie >Die Tochters >Die Kindlose< oder >Die Erzieherin< aus dem >Zweiten Raum< leicht mit den realen Umständen der Dichterin assoziierbar — mit ihrer innigen Beziehung zu ihrem Vater, dem zeit ihres Lebens unerfüllt gebliebenen Wunsch nach einem Kind oder mit ihrer eigenen Tätigkeit als Erzieherin taubstummer Kinder - so sind im Vergleich dazu die Gedichte aus dem >Dritten Raum< stärker auf die Konse5
Vgl. den gleichnamigen Titel im lErsten RaumDie Verlassene«, >Die Sinnende« und >Die Beterin* wird dieser Sachverhalt besonders sichtbar. Die Gedichttitel der Sammlung halten die Wandlung, welche die Ich-Person in dem Zyklus durchläuft, schwarz auf weiss fest: Aus der kecken »Landstreicherin« des >Ersten RaumsDritten Raum< heran, die von sich selbst gar nichts mehr hält: Sanft wälzt der grosse Schatten sich Vor meinen Fuss mit Sack und Karre, Wächst dicht und grau: und wirft, wenn ich D e n heissen Stock einst stütz und starre, Auch mich zu unserm Müll. Auch mich. (V. 2 5 - 3 0 )
Die Selbstdemontage, die hier, wenn auch unter dem Deckmantel des Mysteriösen, betrieben wird, ist unübersehbar. Sind die Selbstbildnisse etwa doch als Bausteine der eigenen tragischen Lebensgeschichte zu verstehen? Ist das Ende der »Dichterin« die »Beterin«? Warum wird aber zu diesem Zweck eine Galerie der Bildnisse benötigt, um ein »Bildnis« hervorzubringen? Oder anders, warum trägt der Zyklus nicht den Titel »Weibliche Bildnisse«, wo er doch eine nicht geringe Anzahl von Selbstentwürfen in sich beherbergt? In diesem Kontext reizt auch die Gebärde des triptychonartigen Selbstbildnisses, welches durch die Erwähnung des »Raumes« in eindeutiger Weise auf eine andere künstlerische Referenz anspielt. Überlegungen zum autobiographischen Gehalt der Gedichte sind für die Lektüre nicht fruchtbar.6 Der dichterische Anspruch des Projekts spricht das Verdikt aus, aussertextliche' Sachverhalte in die Gedichte hineinzulesen. Hinzu kommt, dass sich in keinem Gedicht eine »Story« herausfiltrieren lässt, welche die biographischen Interessen befriedigen könnte. Selbst wenn hier und da Textsegmente an Lebensumstände der Dichterin erinnern, dann geschieht dies nur, weil diese von einem anderen Kontext her bereits bekannt sind. Aus den Gedichten allein ist keine andere Lebensgeschichte lesbar als eine fiktive. Sollte nun aber die Fiktionalität der Selbst-
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Höchstens in einem anderen Kontext, nämlich für die Untersuchung, warum die Einbindung biographischer Elemente derart auf Bilder und Bildlichkeit angewiesen ist. Ich denke hier zum Beispiel an Charlotte Salomon, eine Zeit- und Leidensgenossin Kolmars, die mit ihrem einzigartigen Werk die Möglichkeiten und Grenzen einer solchen Kunst aufzeigt. Vgl. Leben oder Theater? Ein autobiographisches Singspiel in 7 6 9 Bildern, Köln 1981.
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entwürfe ganz im Sinne des Genres »literarisches Porträt« im Vordergrund stehen, stellt sich ein anderes Problem. Das charakteristische Merkmal des literarischen Porträts besteht in der Deskription. 7 Das Deskriptive aber weiss sich einer Rede verpflichtet, die narrativ vorgeht. Wenn es stimmt, dass die Gedichte Kolmars die eigene Entstehung dokumentieren, dann kann in ihnen von Erzählung im gängigen Sinne nicht die Rede sein, zumal Gedichte im allgemeinen nicht zu den geeignetsten Erzählmedien gehören. Den ohnehin umständlichen Genrebegriff »literarisches Porträt« in den bisher vorgelegten Zusammenhang einzubeziehen, bereitet aber noch weitere Probleme. Der Begriff gilt als eine Form der Personendarstellung und ist nicht eindeutig genug, weil sich mit ihm keine präzisen Formvorstellungen und auch keine Definition verbinden. Er verkörpert vielmehr eine Darstellungstechnik innerhalb eines fiktionalen Erzähltextes und tritt mit dem Anspruch auf, ein Gesamtbild von einer Figur zu vermitteln. Einzig mit der Vielfalt der Bildnisse, welche den Zyklus charakterisiert, liesse sich dieser Anspruch vielleicht noch vereinbaren. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich das Kriterium der Vielfalt zum Hauptmerkmal des Genres entwickelt. Im Übergang zur Moderne schliesslich löst sich die Personendarstellung in eine Vielzahl von Einzelaspekten auf: Das Bild entsteht aus der Vielzahl der Details. Was aber mit dieser neuen Technik geschieht — man denke beispielsweise an Flauberts >Madame Bovary< - kann sich nicht mehr Porträt nennen, weil die Ganzheit des Individuums, seine Unzerteilbarkeit, durch die Auflösung beeinträchtigt ist. Dass hier die autobiographische Darstellung verworfen wird, hat jedoch nicht die Konsequenz, dass wir die Entwürfe nicht als Erinnerungsbilder auffassen dürfen. 8 Der topographische Zugriff erlaubt den Lebensbezug zeitlich, damit aber auch inhaltlich anders zu betonen: Wenn Gedichte gedächtnisartig Lebensereignisse der Dichterin aufbewahren, dann bedeutet dies, dass die Präsenz der Vergangenheit erst in dieser nachträglichen Wiedergabe zu finden ist. Als Schauplatz vergangener Ereignisse kann das Gedicht nur in seiner Gegenwärtigkeit, d. h. aber nur in Rückbezug auf sich selbst Auskunft erteilen. Ich werde im vierten Kapitel nochmals auf diese Struktur eingehen. Die bisher skizzierten Schwierigkeiten mit dem Genre »literarisches Porträt« veranlassen also, das Problem anders anzugehen.
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Ich stütze mich in diesem Zusammenhang auf die Forschungsergebnisse von Gisela Ruth Köhler: Das literarische Porträt, Bonn 1991. Vgl. diese Thematik in Walter Benjamins Werk bei Sigrid Weigel: Bilder des kulturellen Gedächtnisses, Dülmen-Hiddingsel 1994, S. 85.
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Es ist nicht eindeutig auszumachen, inwiefern Gertrud Kolmar sich mit ästhetischen Theorien, mit denjenigen Baudelaires beispielsweise, auseinandergesetzt hat. Absolut auffallend und bisher in der Forschung unberücksichtigt ist das Interesse der Dichterin für die Motive und Formen aus der bildenden Kunst. Dieses Interesse verursacht vermutlich am ehesten die Nähe zum französischen Dichter als andere werkimmanente Umstände. Das Gesamtoeuvre Kolmars dokumentiert die unbestreitbare Affinität der Dichterin für die Malerei. Die kurze Prosageschichte >Susanna< legt beispielsweise Aspekte frei, welche die Einflussnahme der ikonographischen Tradition sichtbar machen. Die bildlichen Referenzen zum Zyklus »Alte Stadtwappen< sind sogar nachweisbar und gehen auf eine heitere Vorgeschichte zurück, welche Georg Chodziesner, der Bruder Gertrud Kolmars, mit folgenden Worten wiedergegeben hat: Es dürfte Sie vielleicht interessieren, dass ich der unschuldige Anlass zu den Wappen Gedichten war. Ich sammelte nämlich die Wappen Marken, die den Packeten von Kaffee Hag beilagen, und diese Marken gaben meiner Schwester die Idee zu den Gedichten. Ein Exemplar der ursprünglich erschienenen Wappengedichte, die ich nach England mitnahm, hat die Wappenmarken bei jedem Gedicht eingeklebt. 5
Einige Gedichte mit marianischen Motiven, ferner der hier zu berücksichtigende Zyklus Weibliches Bildnis« legen nahe, dass sich die Dichterin sehr intensiv mit Bildlichkeit im Sinne von Phänomenalität beschäftigt hat. Diese Beschäftigung ist, so meine Vermutung, für die Texte nicht folgenlos geblieben: Das Phänomen Bild ist nämlich in einer Weise in die Sprache integriert worden, dass es als eine Erscheinung bzw. eine sinnliche Gegebenheit wahrnehmbar ist. Das Gespensterhafte mancher Gedichte, auch das Interesse der Texte für gespensterhafte Figuren und Erscheinungen, die auffallende Betonung des Körpers sowie die auf Plastizität bedachte Darstellungsweise und die Hervorhebung der Augen als Bildinstanzen in den Gedichten - vergleichbar mit dem Einsatz des Auges bzw. des Blickes in der Malerei — machen auf die Nähe zur bildenden Kunst aufmerksam. Als ein solcher Annäherungsversuch darf sich auch der Titel der Sammlung verstehen, welcher seinen Reiz nicht zuletzt aus den erotischen Konnotationen im Verhältnis von Frau und Tier in der Tradition der bildenden Kunst bezieht. 10 9
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Das Brieffragment ist datiert auf den 20. November 1968 und gerichtet an Johanna Woltmann; vgl. Marbacher Magazin, a. a. O., S. 67. Vgl. Midas Dekkers: Geliebtes Tier. Die Geschichte einer innigen Beziehung, München/Wien 1994, vor allem die Ausführungen S. 205.
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Die Briefe, welche Gertrud Kolmar in den letzten Jahren ihres Lebens an ihre Schwester Hilde geschrieben hat, dokumentieren eine Selbststilisierung, wie man sie in der Literatur von vielen Dichtern und Dichterinnen gewohnt ist — man denke beispielsweise an die Briefe Rilkes, die sogar von Kolmar erwähnt werden. In diesen Selbstzeugnissen diskutiert die Dichterin hauptsächlich ihren ästhetischen Standpunkt und befestigt somit ihr Bild als eine poeta docta, denn die ästhetischen Erwägungen betreffen vor allem literarische Kunstwerke. Auffallend zahlreich sind in diesem Zusammenhang Erwähnungen der von ihr besonders geschätzten Werke. Im Brief vom 11. September 1940 spricht sie zum Beispiel von denjenigen Autoren, die ihr nahestehen bzw. die sie bewundert - Rilke bzw. Julien Green. Dabei wird das Verhältnis zu den Vorbildern in ein nüchternes Licht gerückt: »hier trifft zu«, argumentiert die Dichterin, »wovon Lessing im >Laokoon< spricht: ein Künstler scheint einen anderen nachzuahmen, weil er das gleiche Vorbild hat wie jener. Und ich hatte das gleiche Vorbild [die Rede ist von Rilke] : die grosse französische Lyrik; auch der Eindruck der Slawen ist da.« 11 Vergessen wir dabei nicht, dass >Laokoon< diejenige Schrift ist, die auch auf den Titel >Über die Grenzen der Malerei und Poesie< hört. In einem anderen Brief vergleicht Kolmar das ästhetische Ziel ihres Schreibens mit den Impressionisten: Und von mir selbst weiss ich, dass ich Gegenwärtiges, Nahes viel seltener als Vergangenes, Fernes zum Gegenstande meines Dichtens mache. Ich glaube, ich habe in einem Briefe an Dich vergleichsweise schon einmal die impressionistischen Gemälde erwähnt, die für den allzu nahen Betrachter ein Wirrwarr von Tupfen sind und erst dem Fernerstehenden sich richtig zeigen. 12
Diese Belege lassen sich durch einige Merkmale ergänzen, die den Zyklus Weibliches Bildnis< kennzeichnen. Hierzu zählen: die explizite Betonung des Raums, der durch die Vielfalt erzeugte Aspekt der Entzeitlichung und die Inanspruchnahme eines Titels, welcher genausogut für ein Bild stehen könnte. Das bisher Gesagte lässt demnach die Nähe eher zum gemalten Porträt als zu seinem literarischen Pendant vermuten. Zwar erschweren die unterschiedliche mediale Realisation sowie kategoriale Unterschiede wie die Zuordnung der Zeit zum Geschriebenen und die des Raums zum Gemalten eine Parallelisierung, doch dürfte aufgrund der auffallenden Anspielungen ein Vergleich aufschlussreich sein. In seiner äusserst lehrreichen Studie zum
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Vgl. Briefe, a. a. O., S. 73. Ebd., S. 65.
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Ursprung der Porträtmalerei hat der Kunsthistoriker Gottfried Boehm auf diejenigen Momente hingewiesen, die das Wesen des Bildnisses bestimmen. 13 Einige Ergebnisse dieses Werkes werden in aller Kürze aufgegriffen, um die Nähe von Kolmars Bildnissen zur Malerei in struktureller Hinsicht zu beleuchten. Die Methode kann letztlich dadurch plausibel gemacht werden, als auch gerade das Genre »Porträtmalerei« ohne Rhetorisierung und Literarisierung nicht denkbar zu sein scheint. 14 Als »erstes hermeneutisches Schlüsselphänomen der Porträtdeutung« nennt der Kunsthistoriker denjenigen Punkt, der für den vorliegenden Zusammenhang am allerwichtigsten ist: »die Stummheit« des Bildnisses. 15 Damit spricht Boehm die Zirkularität der Bildlandschaft an. Denn im Bildnis verschränkt sich der Ausdruck der Person bzw. ihre bildliche Artikulation mit der Bedeutung des ganzen Bildes. Knappheit, Distanziertheit, eine gewisse Unbestimmbarkeit zeugen von der Schweigsamkeit des Dargestellten, obwohl dieses dem Betrachter etwas mitzuteilen scheint. Es versteht sich von selbst, dass Schweigen zu den Grundsäulen der Malerei gehört. Jedes Bild ist der Beweis seiner Stummheit. Gerade deswegen ist aber das Schweigen kein elementares Problem des gemalten Bildes. Entsprechend geht auch Boehm auf diese primordiale Bedingung der Porträtkunst nicht ein. Durch andere Bestimmungen des Bildnisses bzw. durch dessen Vergleich mit den Beobachtungen, die die Studie bisher zusammengetragen hat, kann das Phänomen der Sprachlosigkeit durch die unabweisbare Nähe zum gemalten Bild evident gemacht werden. Eine einfache Definition des Porträts dürfte darin bestehen, dass es nicht eine Geschichte illustriert. In einem Bildnis bezeugt der Dargestellte nur sich selbst. Das hat zur Folge, dass das Bildnis seine Bedeutung durch die »Selbstbeziehung« des Dargestellten erhält. 16 Dieses Muster eines durchgängigen Selbstbezugs ändert sich jedoch in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Dargestellte erscheint als entpersonalisiert, er wird zu einem Phänomen, einem anschaulichen Ereignis, er wird einer Puppe gleich, d. h. zum reinen Bild, gestaltlos und universell. Die Glas- und Puppenmetaphern im vorausgehenden Kapitel dürfen als Belege für diese Merkmale herangezogen werden. Auch die Bedeutung des souveränen Pronomens, welches von An-
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Vgl. Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum, München 1985. Vgl. ebd., S. 79: »Die Argumentationsformen der Porträtmalerei und der Rhetorik erweisen sich als vergleichbar, ja verwandt.« Ebd., S. 26. Ebd., S. 13.
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fang an in unseren Ausführungen seinem Rang gemäss beachtet wurde, veranschaulicht die »Selbstbeziehung« der Protagonistin in den Bildnissen. Unser Vorschlag lautet daher, diese Beziehung als eine narzisstische zu präzisieren. Die Berechtigung dieser Bezeichnung erweist sich in bezug auf das Selbstporträt dadurch, dass der Maler sich nur indirekt, d. h. konkret: mit einem Spiegel, zu Gesicht bekommt. Das vorausgehende Kapitel hat die metonymische Organisation der Selbstbilder ausführlich behandelt. Es bietet sich deshalb an, auch die Heterogenität der Bildnisse als Metonymien, als Doppelungen zu lesen. Es wird die Aufgabe eines anderen Kapitels sein, die Problematik der Spiegelungen in kohärenter Form zu veranschaulichen und ihre Konsequenzen für die Sammlung zu benennen. Für den vorliegenden Komplex genügt der Hinweis, dass auch dem Maler bei seinem Porträt der Blick entgeht, allerdings nicht der eigene, sondern der des Betrachters, der fur das Bild konstitutiv ist. Das heisst: Die blickenden Augen des Malers bezeichnen eine Blindstelle, einen blinden Fleck im Selbstporträt, weil der Blick desjenigen fehlt, der den Maler und seinen Blick objektivieren könnte. Mit anderen Worten: Was der Maler bei seinem eigenen Porträt nicht ins Bild bekommt, ist sein Blick. Auf das durchgehende Motiv der Blindheit in der Gedichtsammlung muss hier nicht mehr hingewiesen werden. Seine Erwähnung mag hier dazu dienen, an einen verwandten, eminent bedeutsamen Aspekt in der bildenden Kunst zu erinnern. Der Umstand, wonach ein sehender, objektiver Blick nicht einsichtig ist, erklärt den fundamentalen Mangel im Subjekt, sozusagen seinen toten Winkel. Zwar konstituiert sich das Subjekt aus dieser blinden Stelle seines Ich heraus, aber diese wohnt ihm als ein Loch, eine Leerstelle inne. Das Subjekt ist mithin das Produkt eines Paradoxons, einer Kreuzung: Es ist bestimmt durch die Unmöglichkeit, das zu sehen, was ihm sein Sehen ermöglicht. Mit anderen Worten: Unsere Selbsterfahrung deckt sich nicht mit dem Bild, das uns die Augen liefern. Deswegen erfiillt uns das Spiegelbild mit jener entsetzlichen Erfahrung der Fremdheit. Das zweite Gedicht der Sammlung, welches bezeichnenderweise >Die Jüdin< im Titel fuhrt, formuliert auf unheimliche Weise in seinem ersten Vers diese Erfahrung mit den Worten: »Ich bin fremd.« Kein Mensch ist ohne seine vielfältigen Äusserungen aus sich heraus zu erschliessen; oder anders: Subjektivität ist ohne Pluralität nicht denkbar. Die Vielfalt der Bildnisse zeigt nämlich, dass die Funktion der Hilfsmittel — Spiegelungen, Metonymien - wichtiger ist als eine adäquate Darstellung der Protagonistin durch sich selbst. In dieser Perspektive scheint die Ko84
härenz der Facetten weniger bedeutsam zu sein als die Erscheinungsfläche des weiblichen Subjekts. In den Doppelungen manifestiert sich jene Spaltung, die als solche dem Subjekt inhärent ist. Durch diese Dialektik etabliert sich die Voraussetzung des Vergleichens, weil sie die Abwandlungen des Ich, seine Verschiebungen sichtbar macht. In den 35 Verschiebungen der Selbstentwürfe im Weiblichen Bildnis< bekundet sich eine »elliptisch gespannte Person«,17 welche sich in ihren Brechungen interpretiert wissen möchte. Die Brechung verdeutlicht ihrerseits die Rolle eines reflektierenden Mediums für die Erfahrung des Selbstbezugs. Mit den Verschiebungsaktionen der Spiegelungen zeigt sich, dass der Spiegel nicht imstande ist, Selbstdarstellung zu garantieren. Mehr noch: Die dadurch entstandene übergeordnete Rolle der Oberfläche, die sich in der Plastizität der Darstellung und im Bilderreichtum bei Kolmar offenbart, bewirkt, dass die Innenseite des Ich nicht zur Entfaltung kommt. Auch dies fugt sich in die Argumentation von einer narzisstischen Verlorenheit ein. Von einem Porträt wird aber - so die apodiktische Forderung der Selbstbeziehung - die Ähnlichkeit eines dargestellten Charakters mit sich selbst erwartet. Die durch die Spiegelungen provozierten Verschiebungen stellen jedoch diesen grundsätzlichen Zug der Porträtkunst in Frage. Damit aber die Dissonanz zwischen Verzerrung und Ähnlichkeit den Rahmen des Genres nicht sprengt, wird eine Ausdrucksweise erforderlich, die sich, so Boehm, an einer organischen Verbindung des einzelnen Elements mit dem Ganzen zu orientieren hat. 18 In der kunstgeschichtlichen Terminologie soll der Begriff des »Bildleibes« dieser Forderung Genüge leisten. Am Modell des Körpers werden jene Bedingungen sichtbar, an denen jedes Porträt Anteil hat. Diese Beobachtung - so die hier vertretene These - gilt aber auch für die Gedichte. Unsere Argumentation läuft darauf hinaus, dasjenige Element für die Selbstbildnisse in Anspruch zu nehmen, das dem gemalten Bild angeboren ist: seine Stummheit. Die folgenden Lektüren lassen sich entsprechend als Beispiele für diese Behauptung lesen.
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Ebd., S. 242. Vgl. ebd., S. 79f.
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2. Die Gesichtslosigkeit (>Das Götzenbild^ »Das Gedicht ist ein Ikon und kein Zeichen.« Paul Ricoeur
Das Auftauchen des Körpers in einem Text bleibt selten ohne gravierende Folgen. So sehr einem gemalten Bild die Möglichkeit gegeben ist, den Körper in seiner Ganzheit darzustellen, so sehr versagt der Text in der Aufgabe, den Körper gänzlich zu fassen. Trotz seiner Abhängigkeit vom Körper scheint der Textleib - im Unterschied zum »Bildleib« - an andere Phänomene gebunden zu sein. Der literarische Umgang mit dem Körper ist im Grunde gewaltsam, weil er die Zerstückelung des Leibes bewirkt. Bereits im ersten Kapitel, insbesondere im Zusammenhang mit dem Gedicht >Der Seegeistheteroklites Mannequin, eine barocke Puppe, eine GIiedertrophäeMetamorphosen< präzisieren: »Was von ihr noch lebt, ist der Klang nur« (V. 401). Die Selbstauflösung auf Kosten des Leibes, die Verwandlung in den Klang macht paradoxerweise aus Echo eine omnipräsente Figur: als Schall wird sie nämlich ein Teil der Welt. Im Gegensatz zu Narziss entdeckt Echo nichts, auch bleibt ihr Erkenntnis fremd, dafür ist sie als Partizipation an fremden Stimmen, als Ruf gegenwärtig. Echos Selbstpräsenz beruht somit auf der Gegenwart anderer. Auf die obige Frage bezogen, lässt sich nun präzisieren, dass die Antwort auf eine narzisstische Rede sich im Klang zum Gehör bringt. Die Sprache des Alleinseins in künstlerischer Hinsicht bewahrheitet sich in der Stimme Echos. Wo Echo auftaucht, wird der Raum zum Ort der Trans-
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Ovid: Metamorphosen, übers, von Erich Rösch, 2. Aufl., München 1990, hier: 3. Buch, S. 90, V. 3 9 3 - 3 9 9 . Die Strafe, welche Juno der Nymphe aufbürdet, lautet bei Ovid wörtlich: »[...] Nun verdoppelt Echo der Reden / Ende und trägt nur die Worte zurück, die sie vorher gehört hat«; ebd., S. 89, V. 368f.
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formation. Wo Echo auftaucht, wird aus dem Ort ein Wort. Nirgends aber lässt sich Echos Am-Werk-Sein eindrücklicher demonstrieren als in der Reimstruktur. So auch im Gedicht >Die DichterinDie Dichterin< vorlegt. Die letzte Strophe bestätigt diese Einsicht, indem sie in der Gegenüberstellung von einer auf Visualität bedachten Metaphorik (»harte Lauge«, »ausgebleicht« [V. 31] und »ausgespült« [V. 32]) mit der rein akustischen Instanz, nämlich dem »Ruf«, diesen als den widerstandsfähigeren hervorhebt. Mit diesem Vergleich, welcher sich auf die Rekonstruktion eines Ereignisses bezieht — in der genannten Strophe ist nur von einem »es« die Rede - kommt dem »Ruf« eine weitere bedeutende Funktion zu: Er soll das Gedächtnis des Textes sein, denn in ihm soll schliesslich das, was dem Subjekt »widerfahren« ist, nenn- bzw. hörbar gemacht werden. Der »Ruf«, der sich poetologisch mit dem Reim identifizieren lässt, soll demnach ein Symptom, ein Zeichen sein — das, was das »Ich« »weisend« zu Gehör bringen möchte. Das heisst aber auch: In der Reimstruktur werden die literalen Verwandlungen des Textes dokumentiert. In der Volkslyrik oder in den Kinderliedern wird seit je schon von diesem didaktischen Zug des Reimes Gebrauch gemacht. Auf die vorhin angedeutete solipsistische Situation des redenden bzw. rufenden Subjekts, auf seine Zweisamkeit mit sich selbst, machen bereits die ersten zwei Verse aufmerksam. Der erste Vers des Gedichts (»Du hältst mich in den Händen ganz und gar«) reimt sich mit keinem der darauffolgenden Verse. Er ist eben ein Waise, eine Verszeile, die keine Reimentsprechung in einem gereimten Text hat 13 - dies scheint die Ausgangsposition des »Ich« zu sein, welches sich, wie oben schon angeführt, erst gegen
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Dieter Breuer: Deutsche Metrik und Versgeschichte, München 1981, S. 53.
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Schluss des Gedichts als »Ich« inszeniert. Vorläufig ist es erst ein Akkusativobjekt, welches immerhin - sprechend - die Subjektattitüden nachahmt. Dieses Auf-sich-geworfen-Sein des Subjekts, inkarniert im Wort »mich«, reflektiert sich formal, d- h. als Doppelung, in der Wendung »ganz und gar«, welche durch ihre Homophonie einen Reimersatz anbietet - allerdings eine introvertierte Version davon. Entsprechungen von der Art dieser inneren Widerspiegelungen lassen sich auch in der Prosodie des Verses aufzeigen. So führt das metrische Schema des Amphibrachys (ν - ν) die Umschlungenheit der Situation in den ersten drei Worten »Du hältst mich« vor. Die hermetische Harmonie der Alliterationen und Assonanzen gilt ebenfalls als Indiz für die Ab- und Ausgeschlossenheit des allerersten Bildes. Aber auch der zweite Vers (»Mein Herz wie eines kleinen Vogels schlägt«) erliegt demselben Schicksal wie der erste. Hier ist das Schlagen des Herzens rhythmisch in einem Blankvers nachzuvollziehen. Erst nach diesem dissidenten Verspaar bekommt das Gedicht das ordentliche, wenn auch ungewöhnliche Reimschema, welches in seiner Gesamtheit wie folgt aussieht: a bcdc defe fghg usw. Dass der alleinstehende Auftakt eine sogenannte Waise ist, lässt sich erklären; aber warum sträubt sich der zweite Vers des Gedichts, welcher sogar in die syntaktische und typographische Ordnung einer Strophe einbezogen ist, sich in das eigenwillige Reimschema des Gedichts einzufügen? Es tauchen somit von Anfang an zwei »Waisen« in der einsamen Landschaft des Gedichts auf. Die herr(in)losen, sich gegenüberstehenden Zeilen lassen sich somit als eine Spiegelungssituation interpretieren. Im zweiten Vers des Gedichts >Die Dichterin< ereignet sich ferner die erste Metamorphose des lyrischen Subjekts, indem das Ich stellvertretend für sich sein eigenes Herz mit dem »eines kleinen Vogels« vergleicht, d. h. sich selbst dem kleinen Vogel gleichsetzt. Dies muss als eine ursprüngliche Setzung für eine Reihe von fast unaufhörlichen Verwandlungen in der ganzen Sammlung verstanden werden: Das »Herz« des »kleinen Vogels« - genau genommen der Vogel selbst - ist das erste Bild, die erste Imago in der Sammlung. 1 4 Versteht man den Entwurf eines Abbilds in struktureller Hinsicht als eine iterative Wiederholung, so scheint diese Figur sowohl Echo wie auch Narziss wesensmässig nahezustehen. Während Echo fixiert, ja im Grunde genommen auf die partielle Repetition dessen beschränkt ist, was sich lautlich anbietet, kann Narziss Bezüglichkeit nur zu seinem Spiegel14
Die Situation erinnert an die Schlusspassage des Gedichts >Das Götzenbilds wo das Subjekt in ein Tête-à-tête mit seinem Herzen verwickelt ist. 138
bild, zu einem fiktiven Doppel seiner selbst herstellen. In der mehrdeutigen Dimension der sprachlichen Phantasien der »Dichterin« überschneiden sich nicht zuletzt die zwei Instanzen, welche für das Zustandekommen »ihrer« Rede und »ihrer« Existenz, d. h. aber auch für »ihre« multiplen Metamorphosen verantwortlich sind; diese text- bzw. lebensnotwendige Konfiguration besteht in der besonderen Vereinigung des Bildes und des Rufes. Oder mit den Schlagwörtern des Mythos gesprochen: Das Gedicht scheint zum locus amoenus geworden zu sein, wo Echo und Narziss einer fatalen, weil missglückten Begegnung ausgesetzt sind. Der zweite Vers des Gedichts ist mithin der erste Selbstentwurf des noch nicht definierten Ich und daher von grosser Bedeutung. Zur Erinnerung: Bis Vers 25, worin das »Ich« erstmals zur Sprache kommt, spricht das Subjekt von sich als einem abwesenden, zunächst im Akkusativ, danach in der dritten Person. Das Subjekt ist abwesend, aber dennoch spricht es zu uns. Dieser kinematographisch organisierten Off-Stimme im Text entspricht die ununterbrochene Reihe der Verwandlungen. Sie scheint eine Folge oder zumindest eine Begleiterscheinung der obligaten Metamorphosen zu sein, welche notgedrungen eine konsistente Präsenz des Bildes signalisieren. Ein Bild löst ein nächstes Bild ab, um das Ich schärfer zu konturieren. Was damit aber geschieht, ist gerade das Gegenteil, denn das Ich-Defizit wird dadurch erst sichtbar. In diesem Sinne muss auch der beinahe manische Charakter des Gedichts verstanden werden: die Anhäufung der Bilder, ihre zeitweilige Inkohärenz, die sich auch als Erinnerungslücke manifestiert - in Vers 21 beispielsweise wird zugegeben, dass das uns unbekannte aber »schönre andre Wort verlernt« worden ist; dabei verhelfen die Synkopen im Vers der Buchstäblichkeit dieser Gedächtnislücke - und vor allem der Wechsel der Zustände. Diese Bildproduktion entspringt einer Panik - oder vielleicht ist die Panik eine Begleiterscheinung jedweder Bildproduktion, die zum Ziel hat, das »Ich« zu ergreifen. Der Abwesenheit des Ich entspricht auch die eines Bildes, weil die im Text heraufbeschworenen Bilder nicht von Dauer sind. Anders gewendet: Die Abwesenheit des Ich erklärt die Vielfalt der Bilder bzw. das Fehlen des Bildes. Aus diesem Mangel heraus wird die Bedeutung der Stimme oder des »Rufes« hörbar. Ein fortwährender Wechsel zwischen dem Begehren, das Ich darzustellen, und dem Verfehlen dieses Zieles charakterisiert die wesentlichen Momente des Gedichts. Was dabei entsteht, ist die reizende Dynamik einer Suche, die als Rede sich nur als ein Fund begreifen lässt. Dass diesem Initialspiegelbild in der Gestalt des zweiten Verses Einzigartigkeit zukommt, 139
gilt als Indiz dafür, dass die Bildsetzung als Voraus-Setzung fiir die Subjektkonstitution fungiert. Solange das Ich vorgibt, sich selbst darzustellen, ist es selbst nicht im Bilde. Erst dann, wenn das Ich »Ich« sagt, erübrigt sich die bildliche Darstellung. Damit wird aber möglich, »Ich« und »Du« zu sagen, genau genommen wird das Ich dadurch erst seiner eigenen Sprachfähigkeit bewusst - auf eindrückliche Weise führt Vers 25 und seine nächste Umgebung diesen Umstand vor. Was damit behauptet wird, ist eine These, die wir im Verlaufe dieses Kapitels noch vertiefen werden: Das »Du« im Text kann nach den bisherigen Ausführungen nicht einfach eine aussertextliche Instanz sein; vielmehr muss das »Du« in der träumerischen Haltung des Ich als das Andere des Ich selbst, als sein angesprochenes Spiegelbild, sozusagen sein alter ego, verstanden werden. Das Gedicht >Die Dichterin< bestätigt mit seiner Schlussfrage den symptomatischen Konfliktpunkt der Gedichtsammlung >Die Frau und die TiereEine MutterDie Frau und die Tiere< hier und da von einem Kind die Rede ist, dürfte nicht überraschen, gehört doch diese Figur zu den konstanten - und bekanntesten - Topoi der Kolmarschen Poetik. Auch ist die Auseinandersetzung mit dem »Kind« für das vorliegende Projekt schon deswegen unumgänglich, weil das Phantom einer leidenden Mutterfigur als das Urbild des Schweigens vor allem fur den Gedichtzyklus »Weibliches Bildnis< kenntlich gemacht wurde. Kein Wunder also, wenn hier nach der poetologischen Leistung des »Kindes« gefragt wird. Das »Kind« kommt überall in der Sammlung vor. Selbst >Tierträume< kommen ohne Kinderträume nicht aus - im Gedicht >Der Schlangengarten< ist sogar wörtlich die Rede von einem »Kindesschlaf, der traumwärts sinkt«. Die Assoziationen zum »Kind« in diesem Zyklus lassen sich an zwei Stellen fassen: Zum einen wird das hässliche, von der Dichterin jedoch geliebte Tier einem Kind gleichgesetzt, wie im Gedicht »Die UnkeDie Rehe