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German Pages 295 [298] Year 2012
Andrea Rottloff Die Frau im grünen Mantel
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Andrea Rottloff
Die Frau im grünen Mantel Roman
VERLAG PHILIPP VON ZABERN 3
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Prolog
An der Küste von Yorkshire im 12. Jahrhundert Es war ein strahlend schöner Tag – einer jener Tage, die selten sind im Norden Englands, das allzu oft eingehüllt ist in Nebel und Regen. Eine Frau und ein kleines Mädchen wanderten die Küste entlang, das Kind ungeduldig an der Hand seiner Mutter Sibylla. Sehr lebhaft war die Kleine. Die rotbraunen Locken, die ihren Kopf umgaben, tanzten, und der von einem gewebten Band gehaltene Schleier war – wie meistens – zur Hälfte heruntergerutscht. Sie mochte etwa fünf oder sechs Jahre alt sein, trug aber wie ihre Mutter ein nach Erwachsenenart geschnittenes helleres Unterkleid zum dunkleren Surcot. Nun waren beide am Meer angekommen, doch die Mutter wollte ihre Tochter nicht loslassen, die am liebsten gleich so, wie sie war, ins Wasser gestürmt wäre. Das Mädchen blickte sehnsüchtig hinaus über die Wellen, stellte sich auf die Zehenspitzen, blinzelte angestrengt, als könnte es dann noch besser sehen und ein für alle anderen unsichtbares Traumbild erhaschen. „Mama“, begann sie, „Mama, wo liegt Jerusalem?“ Ihre Mutter seufzte. „Aber Margret, das weißt du doch. Weit jenseits des Meeres – du kannst es von hier aus nicht sehen, so sehr du dich auch bemühst.“ „Aber wo genau, in welcher Richtung? Zeig es mir doch noch einmal!“, bettelte das Kind und schaute Richtung Südosten, kannte es doch die Antwort längst auswendig. Unzählige Male schon hatte Margret ihre Mutter gebeten, von Jerusalem zu erzählen, und wann immer sie in die Nähe der Küste kamen, wollte sie wieder und wieder aufs Neue erfahren, wo denn nun ihr himmlisches Sehnsuchtsziel lag. Sibylla sah ihre Tochter nachdenklich an. Schon mehr als einmal hatte sie sich gefragt, wieso ausgerechnet sie so wissbegierig und aufgeweckt war, wo doch die meisten gleichaltrigen Kinder aus ihrer Nachbarschaft in Beverley eher ruhig und schweigsam waren. Selbst Lesen und Schreiben wollte die Kleine unbedingt lernen, was ihre Eltern vor nicht geringe Probleme gestellt hatte – denn 5
Schulen, die Mädchen aufgenommen hätten, gab es im ganzen Umkreis nicht. Zum Glück hatte ein Grundherr aus der Nachbarschaft das Talent des Mädchens erkannt und gestattet, dass es gemeinsam mit seinem Sohn Henry unterrichtet werde. So kam es, dass Margret zu einer der wenigen nichtadeligen Frauen in Beverley heranwachsen sollte, die diese Kunstfertigkeit beherrschte, zeitlebens Bücher liebte und sich damit immerhin ein wenig Geld verdienen konnte. „Mama, bitte, beschreib mir Jerusalem!“, drängte das Mädchen erneut. „Oh Margret, du kleine Nervensäge. Das habe ich schon tausendmal getan, frag mich doch nicht immer aufs Neue aus!“ Da sie allerdings genau wusste, dass sich dies nun zu einer längeren Rast entwickeln würde, setzte Sibylla sich auf eine Düne und zog ihre Tochter, die noch immer gespannt aufs Meer blickte, zu sich heran. „Nun, wie du ja bereits weißt, gingen dein Vater und ich vor nunmehr sechs Jahren auf Pilgerfahrt ins Heilige Land. Kaum waren wir unterwegs, da bemerkte ich, dass du dich ankündigtest. Durch Gottes und aller Heiligen Hilfe und Fürsorge haben wir es gerade noch rechtzeitig in die Heilige Stadt Jerusalem geschafft, wo du bald nach unserer Ankunft geboren wurdest.“ „Aber warum kann ich mich dann nicht an Jerusalem erinnern, wenn ich doch dort geboren bin? So, wie ich mich an Beverley oder York erinnern kann.“, wollte Margret wissen. „Du warst noch viel zu klein dazu. Du wurdest geboren in einem riesigen, hellen Spital in Jerusalem; das war so groß, dass man die Betten, die in einem Raum standen, kaum zählen konnte. Und das war nur die Abteilung für die Frauen, denn natürlich hatten die Männer einen eigenen Schlafsaal. Das Spital lag gleich in der Nähe der Grabeskirche, dem wichtigsten aller Pilgerziele, das wir mehr als einmal besucht haben. Darum herum gab es unzählige weitere Kirchen, überwölbte Märkte und weiträumige Unterkunftshäuser für Fremde wie uns. Alles miteinander ist umgeben von einer mächtigen Stadtmauer mit noch mächtigeren Toren. Die Stadt liegt inmitten einer öden Wüste, also nicht wie hierzulande die meisten an der Küste oder einem Fluss.“ „Und woher bekommen die Leute dann Wasser?“, wunderte sich Margret. 6
„Es gibt sehr viele Zisternen und Wasserbecken in der Stadt, in denen man im Winter das Regenwasser auffängt. Weißt du, im Heiligen Land schneit es selbst im Winter nur selten, stattdessen regnet es in Strömen.“ „Wie hier bei uns auch!“, bemerkte die Kleine, und ihre Mutter musste lachen. „Ja, das ist allerdings schon so ähnlich wie hier in England.“ Sie schwieg einen Moment. „Ich glaube, da du deine erste Reise noch vor deiner Geburt unternommen hast, zieht dich das Heilige Land geradezu magisch an. Ob du willst oder nicht, einmal wirst du dorthin reisen müssen.“ Margret hüpfte nun vor Aufregung von einem Bein auf das andere, und Sibylla hatte Mühe, sie festzuhalten. „Aber ich will ja, Mutter. Am besten gleich noch heute – geht das?“ „Natürlich nicht, Margret, erst wenn du erwachsen bist, kannst du dich auf den Weg machen.“ „Und wann bin ich erwachsen?“ „Nun, etwa so in acht bis zehn Jahren.“ Margret seufzte voller Ungeduld. „So lange noch! Erzählst du mir dann wenigstens noch einmal die Geschichte mit den Wölfen, die Vater in die Flucht geschlagen hat?“ Sibylla küsste ihre Tochter auf die Wange und begann zu erzählen. „Es war auf unserer Rückreise von Jerusalem, irgendwo südlich der Alpen. Du warst noch ein kleines Kind, ich trug dich warm eingepackt in einem Bündel auf dem Arm und ritt auf dem Esel, der auch unser Gepäck beförderte. Es war schon fast dunkel, und wir suchten einen geeigneten Platz, um für die Nacht zu rasten.“ „Wie die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten!“, rief Margret. „Ja, genau so. Plötzlich tauchte ein hungriges Wolfsrudel auf, das sich schon auf sein unerwartet reichhaltiges Nachtmahl freute. Die Wölfe schnupperten und umkreisten uns, fletschten fl die Zähne und knurrten drohend. Vor Schreck waren wir zunächst wie gelähmt, und ich fing an, zu Gott und der Jungfrau Maria um Rettung für dich und uns zu beten. Dann ergriff dein Vater, der, wie du weißt, eher praktisch veranlagt ist und weniger vom Beten hält, einen Knüppel und schlug damit nach den Wölfen. Ja, und so, als hättest du die Gefahr, in der wir waren, gespürt, fingst du auf einmal an, laut und erbärmlich zu weinen und zu schreien. Die Wölfe 7
waren so verblüfft, dass sie vor deinem Geschrei und Vaters Knüppel Reißaus nahmen und wir die ganze Nacht nicht wieder gestört wurden.“ Margret legte den Kopf etwas schief, wie immer, wenn sie genau über etwas nachdachte. „Weißt Du, Mama, ich glaube aber, daran kann ich mich erinnern. Ich habe es schon manchmal gesehen, bei Nacht.“ „Bei Nacht? Du meinst im Traum?“, fragte Sibylla erstaunt. „Ja, in einem Traum. Woher kommen solche Träume, Mama?“ Das hatte Sibylla befürchtet, dass ihre Tochter ihr wieder eine jener Fragen stellen würde, die eigentlich nur ein Magister oder ein Pastor beantworten konnte, nicht aber eine Bürgersfrau aus Yorkshire. Doch davon, die Wissbegierde kleiner Kinder zu enttäuschen, hielt sie nichts, und so suchte sie eine Weile nach geeigneten Worten. „Nun, weißt du, manchmal schickt uns Gott, der Herr, Botschaften, wenn wir schlafen. Das können vergessene Erinnerungen sein oder Ratschläge, wenn wir Kummer haben. Oder aber es sind Einflüsterungen des Teufels, vor denen wir uns hüten müssen.“ „Und woher weiß ich, was von Gott ist und was vom Teufel?“ Margret war beunruhigt, denn vor den Machenschaften Satans warnte ihre Mutter sie immer wieder. „Leider kann das niemand mit Sicherheit sagen. Nur Heilige können das auf den ersten Blick unterscheiden, wir anderen Menschen müssen versuchen, uns selbst darüber klar zu werden. Aber das wirst du begreifen, wenn du älter bist, jetzt musst du dich noch nicht ständig fürchten vor dem Teufel“, sagte Sibylla, obwohl sie sich insgeheim schon überlegte, ob nicht der Höllenfürst ein wenig bei den ungewöhnlichen Talenten ihrer Tochter mitgemischt hatte. Doch Margrets Gedanken waren längst nicht mehr bei den nächtlichen Dämonen, sondern schon wieder in weiter Ferne. „Und warum träume ich dann nicht von Jerusalem? Wenn ich schon einmal dort war, wie du sagst? Als wir die Wölfe trafen, war ich doch auch nicht viel größer und kann davon träumen.“ „Weil du von Jerusalem keine Vorstellung in dir hast, du hast es noch nicht mit eigenen Augen gesehen, sondern nur gespürt. Bei der Geschichte mit den Wölfen ist das anders – du kennst deinen Vater und mich, hast schon einmal einen Esel gesehen, und wie Wölfe aussehen und sich verhalten, weißt du auch. Deswegen 8
kannst du diese Geschichte in deinen Gedanken und Träumen zusammensetzen, so viel Fantasie, wie du hast.“ „Oh, ich möchte so gern von Jerusalem träumen!“, sagte Margret sehnsuchtsvoll. „Ach Kind, lass dir einfach noch ein wenig Zeit, und du wirst sehen, ehe du dich versiehst, bist du nicht nur im Traum, sondern leibhaftig in Jerusalem!“
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I
Jerusalem! 25 Jahre später – Ende September 1187 „Margret, hier herüber!“, rief Ida, die Kölner Weberin, ein wenig schriller als notwendig. „Hier kommen wir leichter durch.“ Die beiden Frauen schleppten bis zum Rand gefüllte hölzerne Wassereimer über Stiegen und Leitern nach oben auf die Mauern in der nordöstlichen Ecke Jerusalems, wo sie von den wenigen erschöpften Kämpfern schon sehnsüchtig erwartet wurden. Die Hauptaufgabe der in der Stadt verbliebenen Frauen bei der nunmehr schon fast zwei Wochen andauernden Belagerung war es, die kämpfenden Männer mit Nachschub zu versorgen. Trinkwasser war dabei das Wichtigste, manchmal trugen sie jedoch auch Steine für die Schleudergeschosse auf die Mauern, sammelten verschossene Pfeile ein oder brachten Verbandsmaterial. Da sie sich damit in Reichweite der feindlichen Schützen bewegten, hatten sie sich so gut es eben ging gewappnet. Margret etwa hatte sich zum Schutz vor sarazenischen Pfeilen einen halbwegs passenden Kochtopf, den sie mit ihrem zweiten Leinenhemd gepolstert hatte, wie einen Helm auf den Kopf gesetzt und behelfsmäßig mit einer breiten Lederschnur festgebunden. Außerdem hatte ihr eine alte Frau ein halblanges Kettenhemd geschenkt, das ihrem einzigen Sohn gehört hatte, der im Kampf gegen die Sarazenen gefallen war – ein unbezahlbarer Schatz im Jerusalem dieser Tage. Nach langer Überredung hatte sie auch Ida, die sich davor fürchtete, die Kleidung eines Toten zu tragen, überzeugen können, den wattierten Gambeson eines Gefallenen überzustreifen, der wenigstens den einfachsten Schutz bot. Die meisten Frauen trugen allerdings nur ihre verschwitzte, zerschlissene Alltagskleidung und versuchten, ihre Körper wenigstens notdürftig durch eine lederne Weste, einen Pilgerhut oder einen dicken Filzumhang, den die Myriaden von Pfeilen nicht so einfach durchdringen konnten, zu schützen. Es war der Tag nach dem Fest des Heiligen Michael, und selbst die fanatischsten Verteidiger mussten zugeben, dass sich die Stadt nicht mehr lange würde halten lassen. 10
Anders als viele der Stadtbewohner war Margret vergleichbare Ausnahmesituationen durchaus gewohnt, auch wenn sie natürlich noch nie einem ganzen sarazenischen Heer gegenübergestanden hatte. Aber auf ihren bisherigen Pilgerreisen hatte sie einiges erlebt, zumal als allein reisende Frau. Sie kannte den groben Tonfall der Schiffer und Soldaten und wusste, dass man in manchen Situationen einfach nur zupacken statt reden und jammern musste. Eine patente Frau war sie von Haus aus, und manches Mal ertappte sie sich sogar dabei, die geschäftigen Verteidigungsversuche geradezu spannend und anregend zu finden – trotz der über allem schwebenden Todesangst, vor der auch sie nicht gefeit war. Der pechschwarze Drache mit Namen Furcht überfi fiel sie mit Vorliebe des Nachts oder in dunklen Ecken wie ein höllischer Dämon. Tagsüber war sie viel zu beschäftigt, um Angst zu empfi finden, und wenn einer der Verteidiger, mutlos geworden, anfi fing zu klagen und zu verzagen, war sie schnell mit aufmunternden, aber auch ermahnenden Worten bei der Hand. Gut 30 Jahre war sie jetzt alt, schlank und temperamentvoll, mit lebhaften grünen Augen und glänzenden rotbraunen Haaren – und in den Augen ihrer ehemaligen Nachbarn im kleinen Örtchen Beverley eine verschrobene alte Jungfer. Aber so fühlte sie sich noch lange nicht, gab es doch hinter jeder Ecke etwas Neues zu entdecken und zu erforschen. Sollten die Krämerseelen ruhig in ihrem nebligen Nest hocken bleiben, sie wollte sich die Welt ansehen, und hier im Orient hatte niemand etwas dagegen, wenn sie neugierig auf alles war. Fast drei Wochen war es jetzt her, dass Margret in Jerusalem angekommen war. Hier im Zentrum der Christenheit, das allen Christen als der Nabel der Welt und wichtigstes Heiligtum galt, konzentrierten sich nicht nur diejenigen Stätten, die für die Passion Christi von Bedeutung waren, sondern auch solche aus alttestamentlicher Zeit. Nicht umsonst wurde Jerusalem auch die „Stadt Davids“ genannt und war seit jeher auch heiligstes Zentrum der Juden, die Jahr um Jahr an den Ort des nun zerstörten jüdischen Tempels pilgerten. War Jerusalem für diese beiden Religionen die bedeutendste Stadt, so war es für alle Muslime doch immerhin die drittheiligste nach Mekka und Medina: Von Jerusalem aus hatte dem Koran zufolge der Prophet Mohammed seine Reise in den Himmel angetreten, und hier befanden sich mit dem Felsendom und der Aksa-Moschee zwei überaus wichtige Heiligtümer. 11
Diese bedeutende Stadt war vor nunmehr 88 Jahren von zahllosen christlichen Kreuzrittern und Abenteurern, die dem Aufruf Papst Urbans II. gefolgt waren, für die Christen mit brutaler Waffengewalt von den Muslimen zurückerobert worden. In diesen knapp 90 Jahren hatten nicht nur zahllose fromme Kreuzfahrer und Pilger an den Orten der Verehrung Jesu gebetet, sondern es hatte sich zudem ein Königshaus in dem neuen Lateinischen Königreich etabliert, das zunächst über äußerst fähige Herrscher und vorausschauende Politiker verfügt hatte. Doch mit den letzten beiden Königen vor dem nun regierenden war der Glanz etwas verblasst und die Situation der Lateiner schwieriger geworden – der vierte König mit dem Namen Balduin war noch als junger Mann an Lepra verstorben und sein gleichnamiger Neffe war ihm schon ein Jahr später, noch als Knabe, ins Jenseits gefolgt. Beide Herrscher hatten unter dem Einfl fluss mächtiger politischer Fraktionen gestanden, von denen die eine, bestehend aus Anhängern des lateinischen Adels, traditionelle Werte verfolgte, während die andere, zu der Neuankömmlinge und Glücksritter aus dem Westen gehörten, vor allem ihr persönliches Vorankommen im Auge gehabt hatte. Die Schwester des unglücklichen vierten Balduin, Sibylla, war schließlich gegen den Widerstand einiger Barone zur Königin gekrönt worden und hatte ihrerseits ihren zweiten Gatten, den Emporkömmling Guy von Lusignan, zu ihrem König erwählt, denn als Frau allein zu regieren, wäre undenkbar gewesen, auch wenn die Königin eine sehr fähige Herrscherin war. Diese angespannte Situation wurde nun noch durch das Auftauchen des großen Sultans Saladin vor den Mauern der Stadt verstärkt. Nach einer langen Phase des Waffenstillstandes hatte der Sultan den Kampf gegen die Christen wieder aufgenommen, nachdem der französische Glücksritter Reynald von Châtillon, der Herr von Kerak, eine muslimische Karawane entführt hatte, mit der Saladins Schwester gereist war. Reynald hatte schon mehrfach die Vereinbarungen gebrochen, und der Sultan hatte erwartet, dass König Guy ihn bestrafen würde. Als dieser sich aus Angst vor dem Ritter geweigert hatte, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, war Saladin selbst zur Tat geschritten. Zehn Wochen waren vergangen, seit er das Heer der Kreuzfahrer bei den Hörnern von Hattin in Galiläa in eine Falle gelockt, vom rettenden Trinkwasser abgeschnitten und schließlich vernichtend geschlagen hatte. 12
Bei dieser Schlacht war selbst das Wahre Kreuz verloren gegangen, jene heilkräftige Reliquie, die der größte Schatz der Christenheit war, seit Kaiser Konstantins Mutter Helena sie vor über 850 Jahren auf wundersame Weise wiedergefunden hatte. Und so konnte dieses heilige Kreuz, das dem königlichen Heer schon viele Male zuvor beigestanden und zum Sieg verholfen hatte, diesmal nichts ausrichten – so wie es nichts gegen die Unfähigkeit König Guys hatte ausrichten können, der den falschen Beratern unter Châtillon und dem Templergroßmeister Gerhard von Ridefort Glauben geschenkt, nicht aber dem erfahrenen Grafen von Tripolis, und so mit der Schlacht von Hattin das Ende des Reiches besiegelt hatte, ohne es zu bemerken. Die Situation war verzweifelt – fast alle Kämpfer hatte das Königreich Jerusalem in der Schlacht verloren, kaum ein waffenfähiger Mann war noch in der Stadt. Die meisten waren damals, vor brennender Hitze und unerträglichem Durst zu keinem Kampf mehr in der Lage, gnadenlos niedergemacht worden. Nicht nur, dass fast alle Ritter dort am See von Tiberias gemeinsam mit vielen Templern und Johannitern den Tod gefunden hatten, nein, auch einfache Soldaten oder Knappen waren nur wenige zurückgekehrt. Diejenigen Adeligen, die nicht in der Schlacht gefallen waren, befanden sich nun in muslimischer Gefangenschaft – mit Ausnahme Reynalds, der von Saladin persönlich getötet worden war. Einer der wenigen Überlebenden von Hattin war Graf Balian von Ibelin, ein Landadeliger italienischer Abstammung, der nur deshalb während der Belagerung nach Jerusalem zurückgekommen war, um – mit ausdrücklicher Erlaubnis Saladins, der ihn seinen persönlichen Freund nannte – seine Frau Maria Komnena und die vier kleinen Kinder aus der Stadt herauszuholen. Damit ihm dies gestattet wurde, hatte er schwören müssen, nie wieder die Waffen gegen die Muslime zu erheben. Diesen Eid zu leisten, war ihm nicht schwergefallen, da er in den Sarazenen nie die von der Kirche propagierten Todfeinde gesehen hatte, sondern vielmehr überaus kultivierte Menschen, deren Lebensstil er während seines Lebens in Outremer durchaus zu schätzen gelernt hatte. Doch einmal vor Ort war ihm angesichts der verzweifelten Einwohner und zahllosen Flüchtlinge sofort klar gewesen, dass ein solch ungeordneter Haufen kaum in der Lage sein würde, die Stadt 13
wirksam zu verteidigen. So hatte er schließlich der Bitte, die Verteidigung der Stadt zu organisieren, nachgegeben. Zuvor hatte die Königin allein, mit der Hilfe des Patriarchen Heraclius, die Verteidigungsmaßnahmen geleitet. Balian aber hatte sich vom Patriarchen von seinem dem Sultan gegebenen Eid entbinden lassen, diesem in einem Brief seinen Wortbruch erklärt und auf sein Verständnis gehofft. Anschließend hatte Balian von Ibelin alles mobilisiert, was laufen und eine Waffe überhaupt nur halten konnte, und Männer zu Rittern geschlagen, die sonst niemals auch nur in die Nähe dieser hohen Ehre gekommen wären. So waren fortan viele ganz alte und sehr junge Männer auf den Mauern zu sehen, manche finster fi entschlossen, andere ratlos und voller Angst vor dem Kommenden. Auch die Frauen und Kinder machten sich – wie Margret und Ida – nach ihren Möglichkeiten nützlich: Sie schafften Nachschub aller Art heran und versorgten die Verteidiger unablässig mit dem, was in der brütenden Hitze am wichtigsten zum Überleben war – Wasser, Wasser, Wasser. Lange Reihen solcher Wasserträgerinnen liefen zwischen den Zisternen und den Verteidigungsanlagen hin und her und waren dennoch nie in der Lage, alle Durstigen ausreichend zu versorgen. *** Schließlich mussten sie rasten, und während Ida ihre eigenen Wege ging und sich wohl einmal mehr auf die Suche nach einem menschlichen Wesen des anderen Geschlechts machte, ließ Margret sich erschöpft ein wenig abseits von der Mauer nieder. Sie war gerade dabei ihren Behelfshelm abzubinden, als sie nur wenig entfernt eine Gestalt erblickte, die inmitten einiger Männer Nachschub verteilte und die ihr fast überirdisch schön vorkam. Fast glaubte Margret in ihrer Erschöpfung, dass sich nun auch himmlische Heerscharen an der Verteidigung der Heiligen Stadt beteiligten, doch dann schüttelte sie den Kopf und kniff die Augen zusammen. Der vermeintliche Engel stellte sich als ein halbwüchsiges Mädchen heraus, das am Fuße einer der zur Mauer hinaufführenden Treppen stand und Vorräte an diejenigen weiterreichte, die die Stufen ohne Unterlass hinauf- und hinunterliefen. Sie mochte vielleicht zwölf Jahre alt sein, war jedoch hochgewachsen 14
für ihr Alter und von nur selten gesehener Anmut. Ihr Teint hatte einen schwach bronzefarbenen Schimmer, ihr Haar war fast schwarz und ihre Augen glichen schwarzglänzenden Glasperlen. Sie trug ein Gewand in orientalischem Stil, kupferfarben mit grünblauen, goldbestickten Borten, einen dünnen Gazeschleier und feine Lederstiefelchen an den Füßen. „Marjam!“, rief in diesem Moment ein älterer, beleibter Mann mit schulterlangem Haar und graumeliertem Bart, der im Laufschritt eine der Gassen aus der Stadt entlangkam. „Marjam! Schau her, ich habe noch einige saubere Leinenbinden auftreiben können, auch wenn die ganze Stadt inzwischen ein einziger mit Bandagen versehener, verwundeter Körper zu sein scheint!“ „Das ist wunderbar, Großvater“, antwortete sie mit einem strahlenden Lächeln und nahm dem Alten das Päckchen mit den Binden aus der Hand. Der lehnte sich einen Augenblick schnaufend an die Mauer und schloss die Augen. Noch ehe er sie wieder geöffnet hatte, hatte seine Enkelin das kostbare Gut bereits auf den Weg zu den Kämpfern auf der Mauer geschickt. Obwohl Margret wusste, dass es unhöfl flich war, jemanden über längere Zeit hinweg anzustarren, konnte sie ihre Augen nicht von dem Mädchen abwenden. So war es nur eine Frage der Zeit, bis Marjam sich dessen gewahr wurde und nun ihrerseits Margret ansah. Ihr Blick war von solch einer entwaffnenden Offenheit und Freundlichkeit, wie es Margret selten erlebt hatte. Sie verließ ihren Platz und kam zu ihr herüber. „Seid gegrüßt, edle Dame! Ich bin Marjam des Moulins – meiner Familie gehört ein großes Landgut in der Nähe von Ibelin und wir sind Vasallen des Grafen Balian. Wir haben eine große Lieferung Früchte in die Stadt begleitet und hier verkauft.“ „Es ist mir eine große Ehre, Euch kennenzulernen, Marjam des Moulins!“, erwiderte Margret verlegen. „Und ich bin keineswegs eine Edelfrau, sondern eine einfache Pilgerin, die aus dem Norden Britanniens endlich wieder den Weg in die Heilige Stadt gefunden hat – auch wenn ich mir genau genommen einen besseren Zeitpunkt dafür hätte aussuchen können. Mein Name ist Margret von Beverley.“ „Warum ‚endlich wieder‘?“, fragte Marjam interessiert. „Das klingt, als wäret Ihr schon einmal in Jerusalem gewesen.“ „Das war ich auch – ich bin hier im Johanniterspital geboren. Allerdings haben meine Eltern bald darauf ihre Pilgerfahrt vollen15
det und wir kehrten zusammen nach Beverley zurück. Es hat endlose Jahre gedauert, bis ich mich endlich noch einmal auf den Weg machen konnte.“ „Dann seid Ihr ja beinahe auch eine poulaine!“, rief Marjam begeistert aus. „Sieh nur, Großvater, wen ich getroffen habe! Dies ist die Dame Margret aus dem Lande Britannien, die aber hier im Spital geboren wurde und somit eigentlich eine Einheimische ist wie wir.“ Der alte Mann kam zu den beiden Frauen herüber und begrüßte Margret galant. „Ich bin Abo des Moulins. Und was meine Enkeltochter mit poulainee gemeint hat – ich bin mir nicht sicher, ob Ihr das wisst –, so nennen wir uns selbst, die wir zwar fränkische Vorfahren haben, aber hier im Heiligen Land geboren wurden. Mein Geschlecht stammt aus der Auvergne in Frankreich, doch bereits mein Großvater hat sich in der Gefolgschaft des ersten Königs Balduin hier niedergelassen.“ Bevor sie darauf antworten konnte, schlug nur wenig entfernt eine Granate mit naft, t dem gefürchteten „Griechischen Feuer“, ein und sie mussten sich von der Mauer weg in Sicherheit bringen, bevor alles in Flammen aufging. Sie zogen sich aus der Reichweite der sarazenischen Geschosse bis an die Mauern der kleinen St. Annen-Kirche, der Klosterkirche der Benediktinerinnen, zurück. Im Umkreis dieser schlichten dreischiffigen Basilika, die der Legende nach an der Stelle des Elternhauses der Gottesmutter Maria errichtet worden war, kauerten bereits so viele erschöpfte Menschen, dass Margret, Marjam und Abo nur mit Mühe einen Platz fanden. Einige der Gefl flohenen sahen Marjam misstrauisch an, die sie allzu sehr an eine orientalische Schönheit aus den Geschichten von Tausend und einer Nacht erinnerte. „Ihr braucht überhaupt nicht so zu glotzen und zu tratschen!“, fuhr Abo ein paar Frauen an, die besonders penetrant tuschelten. „Ich bin Abo des Moulins, ein Vasall Balians von Ibelin, und das ist meine Enkelin Marjam. Und ja, ihre wunderbare Mutter, die Gattin meines unglücklichen Sohnes, der in Hattin geblieben ist, ist eine Sarazenin. Wenn euch das nicht passt, könnt ihr euch gerne anderswo verstecken.“ Während die Frauen sich empört von ihnen abwandten, blickte ein etwa gleichaltriger Junge Marjam mit riesigen Augen bewundernd an. 16
„Ihr kennt den Grafen Balian?“, fragte er atemlos. „Ja, sicher. Er ist ein edler Herr und unser Freund!“, antwortete Marjam unbekümmert. „Ich wäre so gerne einer seiner Ritter geworden!“, seufzte der Junge, dem eine wirre Strähne schmutzigbraunen Haares in die Stirn hing, sehnsüchtig. „Aber alle sagen, ich sei zu jung dazu ...“ „Und ich hätte dich nicht gehen lassen!“, fiel ihm ein grobschlächtig wirkender Mann, der neben ihm hockte, barsch ins Wort. Seine blitzenden Augen ließen jedoch erkennen, dass er im Kern ein liebenswerter Mensch war. Er wandte sich den Neuankömmlingen zu und stellte sich vor. „Ich bin Meister Adam, oberster Steinmetz der Bauhütte an der Grabeskirche – und ich hoffe, dass die Sarazenen von meiner Arbeit der letzten Jahre noch etwas übrig lassen, wenn das hier alles vorbei ist.“ „Wir haben gerade im Auftrag der Königin Sibylla die Grabmäler des großen und des kleinen Königs Balduin fertiggestellt – Ihr müsst sie euch unbedingt ansehen, wenn ihr dazu Gelegenheit habt!“, platzte der Junge heraus. „Ach ja, und dieser Naseweis ist Roque, mein Lehrbub. Ritter will er sein – dabei soll er erst mal ein anständiger Steinmetz werden!“, brummte Adam. „Aber Ritter werden hier im Moment dringender gebraucht als Steinmetzen!“, konterte der Junge und duckte sich gleichzeitig, als Meister Adam ihm schmunzelnd einen Schlag androhte. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Roque!“, lächelte Marjam. „Und Euch natürlich auch, Meister Adam.“ Dieser nickte stumm in ihre Richtung, während Roque nur verlegen grinste. Bald darauf waren die Brände entlang der Mauer gelöscht, und sie kehrten gemeinsam an die Nordmauer Jerusalems zurück, um sich wieder ihren Verteidigungsaufgaben zuzuwenden. „Margret, sieh nur!“, rief Marjam da plötzlich. „Dort drüben – die Königin!“ Alle unterbrachen, was immer sie gerade taten, und blickten in die angegebene Richtung. An der Mauer oberhalb der Kirche der Heiligen Maria Magdalena war eine erstaunliche Ansammlung von Rittern zu erblicken, in deren Mitte die schmale, in Reitkleidung und einen wallenden blauen Mantel gehüllte Gestalt Königin Si17
byllas fast unterging. Sie inspizierte in Vertretung ihres Gatten König Guy, der sich seit Hattin in sarazenischer Gefangenschaft befand, den Zustand der Verteidigungsanlagen. „Und da ist auch Graf Balian!“, ergänzte Marjam mit einem Blick auf Roque und deutete auf einen gut aussehenden, hochgewachsenen Mann mittleren Alters, der im Gegensatz zu den weiß gekleideten königlichen Rittern einen rot-goldenen Wappenrock über seinem Kettenhemd trug. Er hatte ein dem Tatzenkreuz der Templer ähnliches geschweiftes rotes Kreuz auf goldenem Grund als Wappenzeichen. „Na los, Roque, wenn du schnell da hinüberrennst, kannst du ihn fragen, ob er dich doch noch zum Ritter schlägt!“, jubelte sie. Roque sah sie nur verunsichert an und erwiderte nichts, während Meister Adam ihn mit einem freundschaftlichen Klaps auf den Kopf an seine eigentliche Aufgabe, das Schäften von frisch gegossenen Pfeilspitzen, erinnerte. Zu Beginn der Belagerung hatten Saladins Truppen den westlichen Teil der Stadt berannt; dort hatte der König, nachdem er den Ordensrittern das Tempelareal zur Verfügung gestellt hatte, den Königspalast in der zuvor von den Templern genutzten Zitadelle einrichten lassen, unmittelbar an der Stadtmauer und dem Davidstor gelegen. In dem östlich daran anschließenden Stadtviertel befand sich der christliche Kern der Stadt, in dem neben den großen Pilgerzielen wie der Grabeskirche, zahllosen weiteren Kirchen und den Pilgerhospizen auch der Palast des lateinischen Patriarchen, die Läden der Geldwechsler und die verschiedensten Märkte zu finden waren. Da die Muslime dort, im Herzen der Stadt, mit einer größeren Gegenwehr rechnen mussten als in der rein zivil besiedelten und weniger gesicherten Nordecke Jerusalems, versuchten sie nun, dort eine Bresche in die Mauer des syrischen Viertels zu schlagen und damit zugleich einen direkten Zugang zu dem von ihnen verehrten Tempelbereich zu erlangen. Dort hatten seit Jahren die Tempelritter ihr Hauptquartier, die ihren Kloster- und Werkstattbezirk immer weiter vergrößert hatten und deren unterirdisch für Tausende von Pferden angelegten Stallungen weithin berühmt waren. Als die Belagerung begonnen hatte, waren sie gerade mit dem Neubau einer eigenen Kirche beschäftigt gewesen, die wohl nun nicht mehr fer18
tiggestellt werden würde. Auch der Friedhof der Tempelritter lag auf der Tempelplattform, und dies war es, was die Muslime am meisten erboste – ihre ärgsten Glaubensfeinde so nahe an ihren heiligsten Moscheen zur Ruhe gebettet zu wissen. Bereits seit fünf Tagen feuerten die Sarazenen ohne Unterlass aus dieser zweiten Stellung, allerdings hatten die hölzernen Belagerungsmaschinen – insgesamt etwa vierzig an der Zahl –, die entweder Steinbrocken oder Brandbomben verschossen und die Mauern an verschiedenen Stellen beschädigt hatten, noch keine wirkliche Bresche schlagen können. Zudem versuchten sie, die Mauern an einigen Stellen mittels heimlich gegrabener Tunnel zu unterminieren und so zum Einsturz zu bringen. Schon am Tag zuvor hatten sich gepanzerte und gut geschützte Spezialtruppen unter dem Feuerschutz von Bogen- und Armbrustschützen bis an die Mauern vorgearbeitet und deren Fundamente abzutragen begonnen. Jetzt, am späten Nachmittag, stand die Sonne so, dass sie direkt in die Augen der Verteidiger schien und den Muslimen einen Vorteil verschaffte, den diese versuchten, durch das Entsenden von Sturmtruppen zu nutzen. Auch als langsam die Dämmerung nahte und die Sicht an den Mauern Jerusalems immer schlechter wurde, schossen die Sarazenen unbeirrt weiter. Als der Pfeilregen endlich nachließ, vermuteten alle, dass sich die Muslime – wie die Lateiner auch – erst einmal auf die Suche nach verschossenen oder neuen Pfeilen machen mussten, bevor sie sie wieder in dicken Trauben über die Mauer schicken konnten. Doch noch während sie die schützenden Mauern verließen, hagelte es plötzlich kleinere und größere Steinbrocken und Margret schrie auf, als sie von einem scharfkantigen Gesteinssplitter am Arm unterhalb des Kettenhemdes erwischt wurde, der eine stark blutende, tiefe Wunde riss. Vor Schreck und Schmerz ging die Getroffene in die Knie und wurde sofort von Abo und Meister Adam untersucht. „Da können wir hier nicht viel ausrichten“, sagte Abo mit düsterer Miene. „Sie muss ins Spital. Marjam, Roque, ihr begleitet sie hin und bleibt dort – das ist jetzt in der Nacht sowieso sicherer.“ Im Gegensatz zu Roque, der die Aussicht auf eine halbwegs ruhige Ecke im Spital durchaus zu schätzen schien, protestierte Marjam heftig. „Ich lasse dich hier nicht allein, Großvater, du brauchst mich!“ 19
„Deine neue Freundin Margret braucht dich aber mehr – ihr musst du helfen. Ich komme schon zurecht mit den paar Sarazenen!“ Meister Adam schärfte Roque ebenfalls ein, Margret schleunigst ins Spital zu bringen – und, bei allen Heiligen und Teufeln, dort auch zu bleiben. ***
Spital in Jerusalem, Nacht vom 30.9./1.10. Die beiden Halbwüchsigen halfen Margret auf und führten sie vorsichtig die Treppen hinunter zur Straße. Der Weg zum Spital in der Nähe der Grabeskirche war zu weit, um dorthin zu gelangen, hätten sie zwei Drittel der überfüllten Stadt durchqueren müssen. So steuerten sie ein näher gelegenes Behelfshospital an, das im Innenhof und den Wandelgängen eines weitläufi figen Palacium im ehemaligen jüdischen Viertel untergebracht war. Immer wieder wurden sie angerempelt oder weggestoßen, mussten eilig zu Pferde dahinpreschenden Rittern ausweichen – oder aber frei laufenden Schweinen, die es vorzogen, auch heute Abend nicht zum Opfer eines der städtischen Metzger zu werden. Je näher sie dem Hospital kamen, desto mehr Verletzte und Kranke strömten aus allen Richtungen zu dem Haus. Die meisten von ihnen waren bei den Kämpfen verletzt worden, allerdings begannen sich aufgrund der katastrophalen hygienischen Bedingungen auch bereits erste Seuchen auszubreiten. Als es den dreien endlich gelungen war, in den Hof vorzudringen, ließ Marjam sich mit der erschöpften Margret in einer Ecke nieder, während Roque sich auf die Suche nach einem Medicus machte. Er fand erstaunlich schnell einen, der Zeit hatte und mit ihm kam. Dieser Arzt, ein mürrischer älterer Armenier, reinigte den Riss an Margrets Arm mit Essigwasser und verband ihn sorgfältig, bevor er ohne große Worte zum nächsten Notfall davoneilte. Margret lehnte den Kopf an die Mauer und schloss die Augen – ihr Arm schmerzte nach der Behandlung beinahe mehr als vorher, das Kettenhemd war schwerer als je zuvor und sie begann, sich schwindlig zu fühlen. 20
Marjam blieb bei ihr, als Roque abermals aufbrach, um sich in dem Haus, das sich anfühlte wie ein riesiger Ameisenhaufen, auf die Suche nach etwas Essbaren zu begeben. Überall hockten oder lagen Verletzte, manche umsorgt von Freunden oder Angehörigen, viele aber allein und verzweifelt, und einigen war von Weitem anzusehen, dass sie nie wieder aufstehen würden. Obwohl das offene Gebäude luftig und weiträumig war, roch es nach verschwitztem und verwundetem Mensch, nach Blut, Tod und Exkrementen. Gebrauchte Verbände lagen herum, die nicht nur einmal aufgesammelt, selten ausgewaschen und wiederverwendet wurden. Roque schauderte, obwohl es noch immer unerträglich warm war, und lief weiter, ohne allzu genau in die Ecken und Ritzen zu spähen – sicher gab es hier auch Ratten und anderes Ungeziefer. Eine alte Frau, die sich hinkend durch die Menschenmenge drängte, verteilte aus einem Korb heraus frische, noch warme Fladenbrote, und er konnte zwei davon ergattern. Schließlich fand er noch einen vergessenen leeren Wasserschlauch an einer Zisterne, füllte ihn und kehrte mit seiner Ausbeute zu seinen beiden Gefährtinnen in der Mauerecke nahe dem Tor zurück. Alle drei tranken durstig, auch wenn sie schon besseres und frischeres Wasser getrunken hatten und Marjam sich insgeheim fragte, ob sie davon nicht erst recht krank werden würden. Anschließend teilten sie das Brot unter sich auf, von dem Margret allerdings kaum etwas aß – sie war nicht mehr völlig klar im Kopf, alles drehte sich und als sie einmal zu Marjam hinübersah, meinte sie, wie in einer Vision die Gottesmutter Maria zu sehen, die sich fürsorglich um ihr Kind kümmerte – dabei verbarg das Mädchen nur gerade den Brotrest in ihrer Tasche. Da schlug plötzlich mit lautem Getöse nur wenig entfernt ein sarazenisches Schleudergeschoss ein und ließ die Wände des Hofhauses erzittern. Margret öffnete mit Mühe die Augen und blickte Marjam an, die sich erhoben hatte und halblaut in Richtung des Tores, durch das nun roter Feuerschein zu sehen war, Gebete murmelte. „Oh Gott im Himmel, Weltenherr, oh Allah, Du Erbarmer, Du Barmherziger, schütze meinen Großvater und alle anderen tapferen Männer und Frauen auf den Mauern. Lass die himmlischen Heerscharen zu Hilfe kommen und endlich Frieden bringen. Gib 21
Einsicht und Verständnis dem Grafen Balian und dem Sultan Saladin ...“ „Du betest zu zwei Göttern? Geht das denn überhaupt?“, fragte Margret, nicht sicher, ob ihr schmerzender Schädel ihr einen Streich gespielt hatte. Marjam schaute sie sehr ernst an. „Aber nein, Margret“, antwortete sie, „es ist doch ein- und derselbe Gott! Die Menschen nennen ihn nur anders, je nachdem ob sie sich als Christen oder Muslime bezeichnen. Wir alle wurden schließlich von der höchsten Macht im Himmel erschaffen, wie immer wir sie auch benennen wollen. Ich glaube, niemand kann das wirklich mit Sicherheit tun – und das ist auch richtig so, denn der Schöpfer ist mächtiger als alles auf der Welt, und der Mensch sollte nicht versuchen, ihn in irgendwelche Namen einzusperren.“ Margret wollte darauf etwas antworten, war aber zu müde, um einen sinnvollen Satz zu formulieren, und schloss wieder die Augen. Kurz darauf fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, lebhaft wie nur selten zuvor, von ihren ersten Eindrücken in der Heiligen Stadt, von ihrem Staunen und ihrer Begeisterung, endlich am Ziel ihrer lebenslangen Sehnsucht zu sein. Erst knapp zwanzig Tage war es her, seit sie mit einer bunt zusammengewürfelten Gruppe von Pilgern Jerusalem durch das Davidstor betreten hatte. Andächtig hatten sie zuvor auf dem Mons Gaudii gestanden, dem Berg der Freude, der den müden Reisenden einen ersten Blick auf die nur noch wenig entfernte Heilige Stadt erlaubt und ihnen so deutlich gemacht hatte, dass sie das Ziel ihrer Pilgerfahrt nun endlich erreicht hatten. Margret hatte sich als Allererstes ihren Weg in die Grabeskirche gebahnt und dort am Grab des Herrn gebetet. Weitaus faszinierender als dieses spirituelle Ereignis war für sie jedoch die Stimmung, die in dem verwinkelten Gotteshaus geherrscht hatte, gewesen. Sie hatte laute Gesänge und Gebetslitaneien in den unterschiedlichsten Sprachen wahrgenommen – Griechisch, Lateinisch, Armenisch und hundert weitere, die es unmöglich war, genau zu bestimmen. Die unzähligen betenden oder flehenden Menschen, in lange Reihen gelenkt durch Mönche unterschiedlicher Orden und Nationalitäten, schoben sie sich in dichten Trauben durch die Kirche und ihre Seitenkapellen. Alles wurde von den Lichtern abertausender Kerzen 22
erleuchtet, die die Räume in ihren fl flackernden Schein tauchten und von den gläsernen Tesserae der Wandmosaiken tausendfach reflekfl tiert wurden. Selbst von der Decke hingen zahllose gläserne oder metallene Lampen, während gefährliche Stellen an Treppenabgängen oder abgetretenen Schwellen von Kohlebecken beleuchtet wurden. Der Geruch all dieser Flammen vermischte sich mit dem des Weihrauchs, der beständig in dicken, schweren Schwaden durch die Gänge wehte und wie ein seltsames Fabeltier die Kuppeln emporkroch. Doch über all diese Heiligkeit und Andacht hatte sich noch etwas anderes gelegt – nackte Furcht. Die Menschen in Jerusalem, sowohl die Einwohner als auch die zahlreichen Pilger und Flüchtlinge aus den umliegenden Gebieten, hatten tagtäglich erwartet, von Saladins Truppen eingeschlossen und belagert zu werden. Der Sultan hatte nach seinem spektakulären Sieg bei Hattin Burg um Burg, Stadt um Stadt eingenommen und stand nun vor der Stadt aller Städte, Jerusalem, um auch diesen Ort wieder für den Islam einzufordern. Die Belagerung hatte noch nicht begonnen, aber allen Menschen war klar gewesen, dass sie nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Und nicht wenige hatten sich davor gefürchtet, dass die Sarazenen, einmal siegreich, mit den Einwohnern genau das tun würden, was die ersten Kreuzfahrer im Jahre 1099 in vollstem Vertrauen auf Gottes Willen mit den damaligen Bewohnern, Muslimen und Juden, aber auch zahllosen orientalischen Christen getan hatten: Sie hatten unter ihnen ein solch entsetzliches Blutbad angerichtet, dass die fränkischen Ritter nach Augenzeugenberichten bis zu den Knöcheln im Blut der Hingeschlachteten gewatet waren. Eine Sonnenfi finsternis hatte weiter zum Erschrecken der Menschen beigetragen, da sie vielen als eindeutiges Vorzeichen des unmittelbar bevorstehenden Desasters galt. Deus lo vultt – Gott will es? Der Kampfruf der ersten Kreuzritter, einstmals weitgehend unwidersprochen, rief nun nicht mehr überall Zustimmung hervor und selbst viele Lateiner und poulains wünschten sich Verständigung statt Krieg. Trotzdem mussten die Alltagsgeschäfte weitergehen, und überall auf den Gassen und Plätzen hatte ein reges Treiben geherrscht. Margret war staunend umhergewandert und hatte schließlich eine überwölbte Marktstraße für Esswaren gefunden, die vor nicht ganz 23
einem halben Jahrhundert im Auftrag der Königin Melisende errichtet worden war. Noch hatten die Händler hier lautstark ihre Waren angepriesen, hatten doch gerade erst neue christliche Requirierungszüge im Umland die Vorratslager gefüllt – doch schon wenige Tage später sollten das Angebot ausdünnen und die Preise in die Höhe schießen. Auf dem Malcuissinat, t der „Straße der schlechten Köche“, wie ihr ein Einheimischer grinsend und durchaus schadenfroh übersetzt hatte, hatte sich Margret mit einem Imbiss auf eine Treppe gesetzt, um von dort aus in Ruhe das bunte Treiben beobachten zu können, während sie sich stärkte. Doch nach und nach verschwanden die reinen Erinnerungsfetzen aus ihrem Traum, und das, was sie nun vor Augen sah, wurde zunehmend irrealer. Immer wieder fassten fremde Menschen sie am Arm, hielten sie gegen ihren Willen fest und baten verzweifelt um ihre Hilfe. „Rettet uns vor dem Sultan, edle Dame, helft uns, damit wir nicht abgeschlachtet werden wie Vieh!“ – „Bete für uns, damit Gott der Herr Gnade walten lässt und uns verschont!“ – „Erbarmt Euch unserer armen Seelen, edle Dame!“ Verzweifelt versuchte Margret, ihnen klarzumachen, dass sie, als einfache Pilgerin ohne Verbindungen und mit nur wenig Geld in der Tasche, dazu keinesfalls in der Lage wäre. Immer größer wurden die Menschentrauben, die sie zu bedrängen schienen, so dass sie irgendwann die Flucht ergriff und sich davonstürzen sah. Auf einmal war sie nicht mehr in den engen Gassen der Stadt, sondern vor deren Toren im Bereich des großen Friedhofes im Süden Jerusalems. Die Menschen, es mussten inzwischen Tausende sein, verfolgten sie laut flehend, fl und ihre Schar wurde noch durch die Toten verstärkt, die – gleich wie am Jüngsten Tag – rundum aus ihren Gräbern hervorkrochen und Margret mit hoch erhobenen Knochenhänden anbettelten und zu ergreifen versuchten. Immer wieder meinte sie, grob an ihrem verletzten Arm gepackt zu werden. Schließlich wurde die Bedrohung für sie so real, dass sie mit einem Schrei aus ihrem Traum erwachte und sich – zu ihrer Verwirrung – noch immer in der Ecke des Spitalhofs sitzend wiederfand, zusammen mit Marjam und Roque, die sich zu ihren beiden Seiten eingerollt hatten und friedlich schliefen. *** 24
Am nächsten Morgen hatte Margret sich so weit erholt, dass die drei an ihren Mauerabschnitt zurückkehren konnten. Ihr war noch ein wenig flau im Magen und ihr Arm schmerzte mehr als sie sich eingestehen wollte, aber immerhin war das Fieber gesunken, so dass sie wieder klar denken konnte. Marjam war überglücklich, Abo unverletzt in die Arme schließen zu können, bemerkte dann jedoch betroffen, dass Meister Adam weniger Glück gehabt hatte. Ein Pfeil hatte seine Stirn gestreift und eine tiefe blutige Schramme hinterlassen. „Hätte schlimmer kommen können“, wiegelte der ab. „Was sollte schließlich ein Steinmetz mit nur einem Auge anfangen?“ Auch Ida war wieder aufgetaucht, und an ihrem beseelten Lächeln konnte Margret unschwer erkennen, dass sie sich in der letzten Nacht weniger mit dem Verteidigen als vielmehr mit dem Hingeben beschäftigt hatte – offenbar war irgendeinem der Männer das gelungen, was Saladins Armee seit Tagen vergeblich versuchte: eine Bresche zu schlagen und eine Eroberung zu machen. „Und was tut sie, wenn sie nun ein Kind bekommt?“, dachte Margret bei sich. Sie war sicherlich nicht prüde, hatte doch Gott nur deshalb Frauen und Männer als zwei getrennte Geschöpfe geschaffen, damit sie sich von Zeit zu Zeit vereinten. Aber hier und jetzt? Das war sicherlich ebenso der falsche Zeitpunkt wie der, an dem sie selbst das Ziel ihrer Pilgerreise erreicht hatte. Nachdem der Tag relativ ruhig begonnen hatte, versuchte auf einmal eine Schwadron Sarazenen, mit Sturmleitern in die Stadt zu gelangen. Zwar wurden sie aufs Heftigste bekämpft und nicht wenige samt ihrer Leitern wieder in die Tiefe gestürzt, doch einigen gelang es, die Verteidiger auf der Mauerkrone in Kämpfe Mann gegen Mann zu zwingen. Auch hier schien der Ausgang unentschieden, einmal gelang es den Sarazenen, für kurze Zeit die Oberhand zu gewinnen, dann wieder den Verteidigern, ihre Gegner zurückzuschlagen oder zu töten. Auf einmal drang ein Sarazene mit hoch erhobenem Schwert auf Abo ein, der sich wegduckte und so aus der Linie brachte. Als der Angreifer erneut versuchte, den Alten niederzumachen, bewarfen Adam und Roque ihn und weitere nachdrängende Muslime mit Steinen, während Marjam sich Hilfe suchend nach Rettung umsah. Da erblickte sie hinter sich einen gefallenen sarazenischen Bogen25
schützen. Ohne lange zu überlegen, wand sie ihm den Refl flexbogen aus der erstarrenden Hand, ergriff einen herumliegenden Pfeil und legte auf den Angreifer an. Der befand sich inzwischen mit Abo im Ringkampf und drehte Marjam den Rücken zu. Sie zielte, obwohl sie noch nie selbst einen Bogen gespannt hatte, und ließ den Pfeil fliegen. Er traf den Sarazenen zwischen die Schulterblätter. Der Mann schrie erstickt auf und ließ sein Opfer los, um gleich darauf mit weit ausgebreiteten Armen nach vorn zu kippen. Seine Kampfgefährten hielten abrupt inne und blickten Marjam, die verblüfft mit dem Bogen dastand, entgeistert an – damit, dass sich auch halbwüchsige Mädchen mit Waffengewalt verteidigten, hatten sie ebenso wenig gerechnet wie mit dem schnellen Tod ihres Anführers. Von unten erschollen arabische Befehle, und die wenigen verbliebenen Angreifer zogen sich unverzüglich über ihre Sturmleitern zu ihren Truppen zurück. Abo hatte sich inzwischen der Leiche des Sarazenen, der im Sterben auf ihn gekippt war, entledigt, schüttelte sich und rekapitulierte kurz, was überhaupt geschehen war. Marjam stand noch immer unbewegt an der Stelle, von der aus sie geschossen hatte, und Abo kletterte über weitere Gefallene zu ihr hinüber und nahm sie in die Arme. Margret und die anderen waren sprachlos über so viel Kampfglück und dankten Gott für ihre und des Alten Rettung. *** Am folgenden Tag machte sich Graf Balian erneut zum auf dem Ölberg gelegenen muslimischen Lager auf, um Saladin um Übergabeverhandlungen zu bitten. Gestern war ihm schon zweimal eine Audienz verweigert worden, diesmal wurde er jedoch vorgelassen. Saladin hatte lange mit seinen engsten Beratern und Amiren konferiert und zeigte sich Balian gegenüber zunächst unversöhnlich. Er drohte an, jeden fränkischen Christen als Vergeltung für das Blutbad des Jahres 1099 nach Erstürmung der Stadt ohne Gnade umzubringen. Balian konterte, dass er und seine Männer in diesem Fall zuvor selbst alle Einwohner Jerusalems bis hin zum letzten Kind töten würden – einschließlich der gut 5000 muslimischen Gefangenen, die sich noch in ihren Händen befanden. Anschließend, so versicherte er dem Sultan, würden sie die gesamte Stadt niederbrennen und alle 26
Heiligtümer, ob nun christliche oder muslimische, dem Erdboden gleichmachen. Alles Vieh würden sie töten, alle Schätze vernichten – zurück würden sie nur verbrannte Erde lassen. Zuletzt würden er und seine Kämpfer schließlich einen mörderischen Ausfall unternehmen, um als Märtyrer im Kampf gegen die Sarazenen einen glorreichen Tod zu sterben. Wiederum überlegte Saladin lange, schließlich lenkte er ein und verzieh dem Christen auch seinen Wortbruch. Er sicherte allen Menschen in Jerusalem freien Abzug unter der Bedingung zu, dass sie binnen vierzig Tagen ein Kopfgeld von zehn Dinar pro Mann, fünf pro Frau und einem pro Kind bezahlten. Sogar seinen tragbaren Besitz durfte mitnehmen, wer das wollte, während jeglicher Grundbesitz ohne Entschädigung als verloren gelten musste. Wer allerdings zum Bezahlen nicht in der Lage war, sollte von den Siegern ohne Gnade in die Sklaverei verkauft werden. Nur wenige durften bleiben: einheimische Christen, aber auch eine geringe Anzahl an Johannitern, die für die Dauer eines Jahres die Versorgung der Kranken und Verletzten in ihrem Spital sicherstellen sollten. Auch zwei christlichen, fast hundertjährigen Greisen erlaubte Saladin zu bleiben, denn sie aus der Stadt zu weisen, wäre einem Todesurteil gleichgekommen. Graf Balian löste 18.000 mittellose Menschen auf eigene Kosten aus, und um ihm in Mildtätigkeit nicht nachzustehen, übernahm Saladin selbst aus seiner Privatschatulle das Lösegeld für zahlreiche weitere – trotzdem gerieten schließlich fast noch einmal so viele Franken in Sklaverei. Es war der 2. Oktober des Jahres 1187, nach muslimischer Zeitrechnung der 27. Rajab 583, als erstmals die Fahnen Saladins und des Kalifen in Bagdad über Jerusalem wehten und die Tore von muslimischen Wachen besetzt wurden. Die Stadt befand sich nun, da das Ende der Kämpfe beschlossen war, noch mehr in Aufregung als zuvor. Jeder Reiche raffte so viel von seinem Besitz zusammen, wie er transportieren konnte, während die Ärmeren ihre Barschaft zählten und überlegten, wie sie das Kopfgeld für ihre Familien aufbringen sollten – entsprachen doch zehn Dinar zwei durchschnittlichen Monatslöhnen eines Arbeiters. Lange Reihen an Besiegten wanderten an den muslimischen Posten vorbei, deren Kassen sich von Stunde zu Stunde wei27
ter füllten. Auch die Königin wurde ehrenvoll aus der Stadt eskortiert und durfte zu ihrem Gatten Guy reisen, der sich in Nablus in muslimischer Gefangenschaft befand. Saladin, umgeben von seinen engsten Beratern, saß etwas abseits auf seinem reich geschmückten Pferd und beobachtete den schmachvollen Auszug der Christen aus der Heiligen Stadt ohne erkennbaren Triumph. Obwohl nicht von körperlich großem Wuchs, so war der Sultan dennoch eine eindrucksvolle Erscheinung, angetan mit kostbar bestickten Gewändern und einem ledernen, vergoldeten Schuppenpanzer. Auf dem Kopf trug er einen nach oben hin spitz zulaufenden, ebenfalls vergoldeten Helm, dessen Nackenpartie durch ein Kettengefl flecht geschützt war, und darüber einen hellen Turban. Seine Haare waren nicht zu erkennen, doch ließen sich in seinem dünnen Bart schon einige grauweiße Strähnen erkennen, die davon zeugten, dass der Herrscher kein ganz junger Mann mehr war. Am hervorstechendsten waren seine Augen, die sich mit brennender Intensität auf sein Gegenüber richten konnten – oder aber mit der gütigen Milde eines nachsichtigen Herren. Als der Patriarch Heraclius mit seiner aufgedonnerten Mätresse im Schlepptau ganze Wagenladungen an Schätzen aus der Stadt bringen wollte, aber ebenfalls nur die 15 Dinar für sich und die „patriarchesse“ bezahlte, kam unter den Muslimen großer Unmut auf. Saladin aber weigerte sich, sein einmal gegebenes Wort zu brechen und ihm die Wertgegenstände abzunehmen, auch wenn ihm einige seiner Amire dazu rieten. Auch viele Christen schimpften auf diesen in ihren Augen so gar nicht christlich erscheinenden Kirchenfürsten, der sich nicht erst mit seiner Weigerung, mit in die Schlacht von Hattin zu ziehen, beim Volk unbeliebt gemacht hatte – zumal sein gezwungenermaßen dorthin geschickter Stellvertreter, der Bischof Rufi finus von Akko, getötet worden und das Wahre Kreuz in muslimische Hand geraten war. Viele konnten nicht verstehen, dass er die kirchlichen Schätze nicht ebenfalls dazu hergab, seine Glaubensbrüder und -schwestern vor der Sklaverei zu bewahren – selbst wenn er das Lösegeld für eine ganze Reihe von ihnen aus eigener Kasse bezahlt hatte. Als Heraclius an Abo vorbeikam, warf er diesem einen solch vernichtenden Blick zu, dass diejenigen, denen es auffiel, fi sich überrascht ansahen. 28
Abo ließ sich nichts anmerken, trotzdem fragte Marjam sofort nach. „Was hatte das denn zu bedeuten? Kennt der Patriarch dich? Und warum ist er so wütend?“ „Nun“, begann Abo, „man könnte fast sagen, ich bin sein Lieblingsfeind. Der Streit, der daran schuld ist, liegt schon ein gutes Jahr zurück – damals lebte mein Bruder Roger noch, der, wie du weißt, Großmeister bei den Johannitern war. Es ging um die Krönung der Königin und ihres geschniegelten Emporkömmlings. Während wir echten Lateiner einen der Unseren zum neuen Herrscher krönen wollten, hatte die Hofpartei andere Pläne und verstand, diese auch durchzusetzen. “ „Aber warum ist er noch immer böse, wenn doch der Streit schon längst beigelegt ist?“, fragte Marjam. „Nun, er kann mir wohl nicht verzeihen, dass ich an die Öffentlichkeit gebracht habe, wie er überhaupt auf seinen Patriarchenposten gekommen ist – er hat sich nämlich bei der Edlen Agnes von Courtenay, der Königinwitwe und Mutter der jetzigen Königin, so angedienert, dass sie ihm diese Position zugeschanzt hat. Seitdem kursieren im gesamten Königreich Gerüchte, welcher Art denn nun seine Liebesdienste für die Dame gewesen sein könnten“, schmunzelte Abo, offensichtlich noch immer amüsiert über die für den Patriarchen höchst peinliche Situation. Margret und ihre Begleiter gehörten zu denen, die das Lösegeld gerade noch aufbringen konnten. Sie, Ida, Adam und Roque bezahlten, wobei es noch zu Streitigkeiten kam, ob der Lehrbub nun noch als Kind oder schon als Erwachsener zu gelten habe. Schließlich wurde Meister Adam dies zu dumm, und er bezahlte für sie beide die je zehn Dinar für erwachsene Männer, was Roque vor Stolz fast ein Stück wachsen ließ. Danach waren Abo und Marjam an der Reihe, doch da erkannte der Sultan von seinem Aussichtsposten aus den Alten, den er schon früher mehrfach getroffen und – wie auch Balian von Ibelin – als seinen persönlichen Freund bezeichnete. Sofort schickte er einen seiner Offi fiziere aus, um Abo zu ihm zu führen. Auch Margret und die anderen näherten sich, allerdings in respektvollem Abstand. Abo begrüßte den Sultan ehrfurchtsvoll auf Arabisch, was dieser mit einer würdigen Geste erwiderte. 29
„Es ist mir eine große Ehre, Euch wiederzutreffen, wenn auch unter solch unglücklichen Umständen“, sagte Abo und winkte Marjam zu sich heran, die zögerlich näherkam. „Darf ich Euch meine Enkelin Marjam vorstellen – ihre Mutter gehört Eurem Volke an. Marjam ist ein tapferes junges Mädchen. Sie hat gestern Morgen mein Leben gerettet, indem sie einen Eurer Soldaten, ich muss es gestehen, mit einem Pfeilschuss tötete. Dabei hatte sie nie zuvor einen Bogen abgefeuert.“ Marjam verbeugte sich tief vor Saladin, den sie schon so lange sie denken konnte als vorbildlichen Herrscher verehrte, aber noch nie persönlich getroffen hatte. „Edler Sultan“, begann Marjam, wobei ihre Stimme kaum merklich zitterte, nun ebenfalls auf Arabisch, „edler Sultan, es tut mir sehr leid, dass ich einen der Euren getötet habe – und dennoch, ich musste das Leben meines Großvaters schützen. Bitte vergebt mir meine Tat!“ Saladin sah sie lange unverwandt an und Marjam hielt seinem Blick stand – schließlich neigte der Sultan den Kopf, sprach leise mit seinen Beratern und wandte sich dann an das Mädchen. „Ich nehme Eure Entschuldigung an, Marjam des Moulins. Selbstverständlich musstet Ihr Eurem Großvater, der ein edler, gerechter Mann und ein Freund der Muslime ist, helfen. Wie sagte schon der Prophet: ‚Gott liebt Mut, und wenn es beim Töten einer Schlange ist‘. Ihr wart sehr mutig, den Pfeil abzuschießen, und noch mutiger, mich deshalb um Verzeihung zu bitten. Geht nun, Abo und Marjam – ich gestatte Euch, auf Euer Landgut zurückzukehren. Das erlaube ich sonst keinem einzigen Lateiner in dem ganzen von mir eroberten Gebiet. Doch da Ihr mit Menschen meiner Religion versippt seid, soll es Euch gestattet sein, weiterhin hier zu wohnen und Eure Felder zu bestellen. Ich wünsche Euch und uns eine friedliche Zukunft.“ Abrupt wendete er sein Pferd und ritt mit seiner Eskorte zurück ins muslimische Lager, um seinen würdigen Einzug in Jerusalem und die rituelle Entsühnung der muslimischen Heiligtümer vorzubereiten. Abo, Marjam und die anderen aber machten sich, wie so viele weitere Menschen an diesem Tag, auf den Weg in Richtung Westen. *** 30
In langen Reihen bewegten sich die aus Jerusalem Vertriebenen in Richtung Küste – der einzigen Region im zerfallenden Lateinischen Königreich, in der die Franken noch geduldet waren. Nur wenige Orte im Norden wie Tyrus hatten der muslimischen Bedrohung widerstanden und waren nun Ziel all derer, die trotz allem weiterhin im Heiligen Land bleiben wollten. Doch auch diejenigen, die sich entschlossen hatten, das nächstbeste Schiff in Richtung Westen, das sie an Bord nehmen würde, zu besteigen, um ins Frankenreich zurückzukehren, mussten dort hinziehen. Andere wollten Unterschlupf bei Freunden oder Verwandten suchen oder sich sonst wie durchschlagen. Margret, Ida, Adam und Roque wollten Abo und Marjam nach Casal Moulins begleiten, um dort in Ruhe zu überlegen, was nun werden sollte. Margret wollte keinesfalls nach England zurückkehren und lieber weiter im Orient herumreisen, ganz im Gegensatz zu Ida, die sich sehr nach Köln und dem Rheinland sehnte und wohl in Bälde eine Schiffspassage buchen würde. Meister Adam war der Ansicht, dass solange es noch einige Städte unter fränkischer Kontrolle gab, dort auch talentierte Steinmetzen gebraucht würden, und dort würden er und sein Lehrling sicher Arbeit finden. fi Alle waren mehr oder weniger der Meinung, nun, nachdem sie in Jerusalem das Kopfgeld an die Muslime bezahlt hatten, wären sie vor deren Nachstellungen sicher. Plötzlich erschien eine Gruppe vermummter Beduinen auf einem Hügel, und während sich viele der Flüchtlinge noch in Sicherheit wiegten und in normalem Tempo weitergingen, beschleunigten manche schon voller Angst ihren Schritt, obwohl sie genau wissen mussten, dass auch das sie nicht vor einer Schar Berittener in Sicherheit bringen würde. Im nächsten Augenblick schwärmten die Beduinenreiter aus, um einen Kreis um ihre Beute zu legen. Nun brach endgültig Panik aus, und die Menschen versuchten in alle Richtungen zu entkommen. Abo, Adam und die beiden Jugendlichen schafften es, noch bevor der Ring aus Pferden geschlossen wurde, sich in Richtung einiger Felsen zu retten. „Margret! Ida! Bleibt bei uns – hier herüber!“, rief Abo, doch die beiden Frauen waren schon zu weit zurückgefallen. Ida war gestürzt und konnte nicht sofort wieder aufstehen, und Margret ließ ihre Freundin natürlich nicht allein. 31
So kam es, dass beide zusammen mit zahlreichen anderen von den Beduinen eingekreist und gefangen genommen wurden. Sie wurden mit Stricken aneinandergebunden und in Reihen zwischen den Pferden der Beduinen nach Süden geführt. Abo und die anderen konnten nur hilfl flos zusehen. Marjam, die den Frauen verzweifelt folgen wollte, musste von dem Alten mit Gewalt festgehalten werden. „Sei vernünftig, Mädchen“, sagte er. „Du kannst ihnen nicht helfen – oder willst Du auch mit verschleppt werden?“ Marjam weinte, und auch die Männer waren sehr unglücklich über die gewaltsame Trennung, die sie so kurz nach dem doch hoffnungsvollen Ende der Belagerung Jerusalems ereilt hatte. Sie konnten nichts anderes tun, als ihren Weg nach Casal Moulins fortzusetzen, wo Hamza, Marjams Mutter, schon sehnsüchtig ihre Rückkehr erwartete. *** Bis zur Nacht und den ganzen folgenden Tag mussten die Gefangenen – es waren gut zwei Dutzend Frauen und einige wenige Männer – gefesselt zwischen den Beduinen einhergehen. Immerhin bekamen sie von ihnen in halbwegs regelmäßigen Abständen Wasser zu trinken, zu essen gab man ihnen allerdings nur am Abend ein wenig, als sie an einer kleinen, staubigen Oase rasteten. Die Menschen waren verzweifelt – gerade noch waren sie den Muslimen in Jerusalem entkommen, und dann gerieten sie so unvermittelt in einen neuen Hinterhalt. Keiner wusste, wohin man sie brachte, denn keiner von ihnen sprach oder verstand Arabisch. Margret versuchte trotzdem, sie alle aufzuheitern. „Verliert nicht die Hoffnung. Sie werden uns nicht töten – das hätten sie gleich an der Straße tun können. Nein, ich bin sicher, sie wollen uns an den Meistbietenden verkaufen.“ „Und das nennst du Hoffnung?“, jammerte Ida, deren Fuß inzwischen schmerzhaft angeschwollen war, so dass Margret sie während des Laufens hatte stützen müssen. „Ich kann nicht sehen, warum das jetzt besser sein soll als ein schneller Tod auf der Straße.“ „Bist du nicht mehr bei Sinnen, Ida?“, entsetzte sich Margret. „Du bist noch am Leben! Natürlich ist das besser! Bestimmt wird es nicht einfach werden – aber wenn Gott der Herr es will, wird diese 32
Fron auch einmal wieder vorüber sein. Daran musst du einfach glauben, Ida, komme, was da wolle!“ „Da hast du aber gut reden!“, schmollte Ida und rollte sich wie eine Schnecke im Wüstensand zusammen. Am nächsten Morgen trieben die Beduinen ihre menschliche Beute sofort zum Weitermarschieren nach Süden an. Nach wenigen Stunden trafen sie auf eine weitere Gruppe Araber, die eindeutig nicht zum Stamm der Beduinen gehörten und auch anders aussahen als die Soldaten Saladins, die die Franken in Jerusalem kennengelernt hatten. Der Anführer der Beduinen verhandelte eine kurze Weile mit dem Kommandeur der anderen Truppe, ein kleiner, aber prall gefüllter Geldbeutel wechselte den Besitzer, und die fränkischen Gefangenen hatten neue Herren, die nicht unbedingt besser zu sein schienen als die alten. Sie trieben sie in eine nahe gelegene Hügelkette hinein, und bald darauf kam die Gruppe bei einer riesigen Höhle an, vor der einige hastig errichtete Holzhütten standen. Den Gefangenen wurde bedeutet, in diese hineinzugehen und dort unter Bewachung zu warten. Schließlich kam eine Art Vorarbeiter zu ihnen, ein halbverhungerter Franke, der etwas Arabisch sprach und schon über ein Jahr für die Sarazenen arbeiten musste. Der Mann stellte sich nicht namentlich vor – er meinte, sie würden bald sowieso ihren eigenen, geschweige denn fremde Namen vergessen. Er erklärte ihnen kurz und knapp, was sie wann zu tun hatten, und setzte sie darüber in Kenntnis, dass ihre neuen Herren tatsächlich keine Soldaten Saladins waren, sondern Angehörige eines ägyptischen Stammes, der hier nördlich des Sinai ein Bergwerk betrieb und dafür alle christlichen Zwangsarbeiter einsetzte, derer er habhaft werden konnte. Das wiederum war für die kriegerischen Beduinen zu einer willkommenen Einnahmequelle geworden. An Flucht war offenbar nicht zu denken, denn alle, die das bislang versucht hatten, waren nach kurzer Zeit eingefangen und getötet worden. „Das sind ja tolle Aussichten – bist du dir noch immer sicher, dass es besser ist, zu leben, Margret?“, wollte Ida zornig wissen. Margret reagierte nicht auf die Frage, auch wenn sie sie für sich eindeutig mit Ja beantwortete. *** 33
Das Landgut von Casal Moulins lag auf einem sanft ansteigenden Hügel in Sichtweite der viertürmigen Burg Ibelin, die bis vor einem halben Jahr noch von den Familienangehörigen des Grafen Balian bewohnt worden war. Doch seit Saladins Sieg bei Hattin saß dort eine muslimische Garnison. Seit mehreren Generationen bebaute die Familie des Moulins das Land, das ihr von der Familie Ibelin zum Lehen übergeben worden war, und jedes Jahr erzielte sie reiche Erträge an Weintrauben, Datteln, Feigen und was sonst noch auf den Tafeln begüterter Lateiner oder Muslime begehrt war. Vor einigen Jahren hatte Abo außerdem eine Zuckerrohrplantage dazugekauft, die jetzt den meisten Gewinn von allen Produkten des Gutes erwirtschaftete. Das große, mehrstöckige Haupthaus des Landgutes lag an zentraler Stelle eines weiträumigen, ummauerten Hofes, der außerdem noch verschiedene Wirtschaftsbauten wie Ställe und Lagerhäuser einschloss. Gleich neben dem Haus befand sich ein großer Küchengarten, in dem alles angebaut wurde, was der große Haushalt der familia des Moulins samt aller Mägde und Knechte benötigte. Außerdem gab es Koppeln für die Pferde und einige Brunnen sowie Zisternen. Die auf das Gut zuführende Straße passierte dort, wo sie den Mauerring durchschnitt, einen imposanten gemauerten Bogen, der mit massiven Torfl flügeln verschlossen werden konnte. Im Scheitelpunkt dieses Bogens war das Wappen der Familie angebracht, eine stilisierte Windmühle mit vier Flügeln, denn „Moulins“ bedeutete nichts anderes als „Mühlen“ und bezog sich auf die ursprüngliche Einnahmequelle der Familie in Frankreich. Abo und Marjam waren die einzigen Franken weit und breit, denen es erlaubt war, nach Hause zurückzukehren. Sie taten es voller Trauer und Sorge. Adam und Roque verließen sie gleich am Morgen nach ihrer Ankunft aus Jerusalem und brachen nach Norden auf, denn Adam wollte versuchen, in einer Bauhütte in Tyrus oder Sidon, notfalls sogar im weiter entfernten Antiochia, Arbeit für sich und seinen Lehrling zu finden. fi Marjam war nach ihrer Rückkehr aus Jerusalem verändert – das strahlende Lächeln war einem melancholischen Zug gewichen, immer wieder musste sie daran denken, dass Margret und Ida jetzt irgendwo in der Wüste in sarazenischer Gefangenschaft waren und dass sie selbst auf den Mauern Jerusalems einen Menschen getötet hatte. 34
Eines Abends wandte sie sich unvermittelt an Abo. „Großvater, hast du schon einmal einen Menschen getötet?“ „Im Kampf, ja, allerdings. Aber es ist mir nicht leichtgefallen“, antwortete er. „Es war ja im Kampf“, meinte Marjam verzweifelt, „ich musste versuchen, dir zu helfen – und trotzdem kann ich nicht vergessen, wie ich den Mann getroffen habe und er vornübergekippt ist. Selbst Saladin hat mir verziehen, warum kann ich selbst es dann nicht?“ „Einen anderen Menschen umzubringen ist für jeden eine schreckliche Erfahrung“, erwiderte Abo ernst. „Oder sollte es zumindest sein, und beim ersten Mal ist es sicher bei den meisten auch so. Es gibt leider Situationen, in denen man nichts anderes tun kann, aber man muss sich immer dessen bewusst sein, was man tut – man löscht ein Leben aus, und das kann nicht wieder rückgängig gemacht werden. Es ist kein Spiel und kein Abenteuer, und dafür halten es viele der jungen Franken, die als Kreuzritter hierher nach Outremer kommen und das Töten meiner Meinung nach etwas zu leichtnehmen. Du aber musst dir keine Vorwürfe machen – auch wenn du es nie wirklich wirst vergessen können, solange du lebst. Und du hast ihn glücklicherweise nur von hinten getroffen – das Schlimmste beim Töten ist, seinem Opfer in die Augen sehen zu müssen. Das immerhin ist dir erspart geblieben.“ „Aber du hast dafür seine Augen gesehen.“ „Ja, allerdings. Aber ich werde dir nicht davon erzählen.“ „Ich habe aber auch so das Gefühl, nicht mehr dieselbe zu sein wie zuvor!“ „Das ist auch so, du bist nicht mehr dieselbe. Durch die Entscheidung, die du in diesem Moment getroffen hast, hast du dein gesamtes Leben mit einem Schlag verändert. Nun kannst du dir die Frage stellen, ob es anders wäre, hättest du es nicht getan. Aber das ist müßig, denn du hast es getan und musst nun damit zurechtkommen. So einfach und zugleich so schwer ist das nun mal.“ „Dann werde ich damit zurechtkommen, irgendwie.“ Sie schwieg und blickte hinüber nach Ibelin, ihre Augen aber waren in viel weitere Entfernung gerichtet. Einige Zeit nach ihrer Rückkehr ritt eine Abordnung von drei Soldaten Saladins in den Hof des Gutes ein. Abo begrüßte sie und fragte auf Arabisch: „Was führt Euch hierher, edle Herren?“ 35
„Wir bringen ein Geschenk für die Dame Marjam, die die Tapferkeit einer Löwin hat. Wo können wir sie finden?“ Abo rief seine Enkelin, die mit schmutzigen Händen und staubiger Kleidung aus dem Garten auftauchte. Sie versuchte verlegen, ihre Hände notdürftig an ihrem Oberkleid abzuwischen und trat den Boten entgegen. „Edle Jungfrau Marjam, dies hier schickt Euch ein großer Verehrer Eures Mutes und Eurer Entschlusskraft!“, sagte der Anführer der drei und reichte Marjam einen kostbaren, aus verschiedenen Holzarten zusammengesetzten Bogen sowie einen ledernen, ebenfalls verzierten Köcher, in dem mindestens zwei Dutzend Pfeile mit bunter Fiederung steckten. Die Lederwicklung des Bogens und die Arabesken auf dem Köcher waren reich vergoldet. Marjam wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte, nahm dem Boten aber das Geschenk des Sultans aus der Hand, verbeugte sich und bedankte sich leise. Die drei Abgesandten verbeugten sich ebenfalls und hatten im nächsten Augenblick den Hof von Casal Moulins auch schon wieder verlassen. Abo trat zu seiner Enkelin und betrachtete das kostbare Geschenk, das diese noch immer unbewegt in Händen hielt. „Das sieht Saladin ähnlich!“, meinte er lächelnd. „Der Sultan ist bekannt dafür, Menschen, die er schätzt, mit reichen Geschenken zu bedenken. Ich glaube, Marjam, er will dir damit sagen, dass du das Bogenschießen jetzt richtig lernen sollst.“ Marjam sah ihn stumm an und hatte Tränen in den Augen. Doch schon bald darauf erprobte sie den Bogen, und von da ab verbrachte sie jeden Morgen lange Zeit damit, Schießen zu üben. Abo ließ ihr eine Zielscheibe bauen, und es dauerte nicht lange, bis Marjam zu einer hervorragenden Bogenschützin geworden war, die nirgends ohne ihren Bogen hinging. Dabei hatte sie insgeheim nur den einen Wunsch, mit ihrem Können irgendwann Margret und Ida aus muslimischer Hand befreien zu können.
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II
Begegnung mit Flammen und Drachen Arbeitslager der Ägypter, Winter 1187–1. Februar 1189 Die fränkischen Gefangenen vergaßen zwar nicht ihre Namen, verloren aber jegliches Zeitgefühl – jeder Tag war genauso anstrengend wie der vorangegangene, und was der morgige bringen würde, wusste nur Gott allein. Irgendwann hätte niemand mehr sagen können, wie lange sie schon hier gefangen waren. Es war inzwischen Winter geworden, mit oft sintfl flutartigem Regen, und schließlich wieder Frühling, denn der Regen hatte ebenso plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Bald war es so unerträglich heiß, dass es Sommer geworden sein musste. Während die Männer im Bergwerk schufteten, mussten die Frauen nicht weniger schwere Hilfsdienste leisten: Holz hacken und aufstapeln, Steine oder Wassereimer schleppen und Kamele mit Lasten beladen. Nachts und wann immer zu wenig Soldaten vor Ort waren, um alle Gefangenen im Auge zu behalten, wurden die Frauen in Ketten gelegt, die schon bald tiefe Spuren an ihren bloßen Beinen hinterließen. Sie bekamen auch immer wieder Schläge von ihren Bewachern, sei es wegen angeblicher Vergehen, sei es völlig grundlos; aber wenigstens – und das war eine Gnade – wurde keine der Frauen von einem Muslim missbraucht. Zu essen gab es wenig, was bei der schweren Arbeit schnell zu Unterernährung führte. Margret und einige andere mutige Frauen machten sich daher bald neben der Arbeit heimlich auf die Suche nach Kräutern oder Wurzeln – kein ungefährliches Unterfangen, war doch keine von ihnen mit der Pfl flanzenwelt Palästinas vertraut. Margret konnte die Unsicherheit kaum ertragen, wenn eine der Frauen etwas gegessen hatte und sie bangend warteten, ob das Kraut nährend oder giftig war. Sie schwor sich insgeheim, dass sie, sollte sie je aus dieser Gefangenschaft freikommen, jede sich ihr bietende Gelegenheit nutzen würde, um alles über Kräuter, Pflanzen fl und deren Gifte zu lernen. Lernen konnte man überhaupt nie genug, das stellte Margret schon bald fest, als sie und die anderen versuchten, mit den täglich neuen, unbekannten Herausforderungen fertigzuwerden. 37
Ihre Kleider, die bereits in Jerusalem abgenutzt gewesen waren, fielen ihnen nun fast schon vom Leib, und nur selten konnten sie sich ein Stück Tuch oder Sackleinen erbetteln, um wenigstens notdürftig ihre Blöße zu bedecken. Die Männer im Bergwerk kannten solche Probleme nicht: Sie arbeiteten nackt – was die übrigen Gefangenen immer dann mitbekamen, wenn ein zu Tode gekommener Häftling aus den Tiefen der Höhle herausgeschleppt und hinter dem nächsten Hügel verscharrt wurde. Das Schlimmste für Margret und die anderen war jedoch, dass sie zu völligem Schweigen gezwungen waren, denn die Muslime duldeten kein fränkisches oder lateinisches Wort. Ein mitgefangener Priester, der sich nicht daran gehalten und seinen Leidensgenossen immer wieder mit Psalmen und Bibelworten Mut zugesprochen hatte, war eines Tages spurlos verschwunden. So kam es, dass sich Margret, sobald sie abends erschöpft auf ihr Lager fiel, in Erinnerungen flüchtete. Sie dachte dann an ihre Heimat in Nordengland, die ihr in ihrer Fantasie geradezu himmlisch kühl erschien – etwas, das ihr während ihrer Jahre in Beverley niemals auch nur in den Sinn gekommen wäre. Und sie dachte an Thomas, ihren elf Jahre jüngeren Bruder, der allein unter ihrer Obhut aufgewachsen war, nachdem die Eltern bei einem verheerenden Brand in ihrer Werkstatt ums Leben gekommen waren. Thomas war als junger Knabe in der nahe gelegenen Klosterschule aufgenommen worden, hatte aber trotzdem weiterhin zu Hause gewohnt. Margret hatte ihn jeden Tag in der Frühe dorthin gebracht und nachmittags wieder abgeholt – eine Pflicht, fl die sie nie als solche empfunden hatte. Sie hatte diese Wege geliebt und es schon damals genossen, mit offenen Augen die Welt zu beobachten – selbst an „englischen“ Tagen. Es waren Lichtblicke in ihrem Alltag, war sie doch in Gottes freier Natur, konnte Pfl flanzen und Tiere, das Wetter und die Jahreszeiten beobachten. Überhaupt war ihr Gottes Schöpfung fast wichtiger als der Schöpfergott selbst, was nach orthodoxer Lehre an Ketzerei grenzte und immer wieder Anlass zu Diskussionen mit dem Pfarrer gegeben hatte. Dieser konnte nicht verstehen, warum sie sich jedem Käfer und jedem Unkraut mit einem Eifer widmete, der beim Kirch38
gang und Psalmenbeten nie auffiel. fi Schließlich hatte Gott der Herr gesagt: „Macht euch die Erde untertan!“, und somit allzu große Rücksichtnahme auf niedere Kreaturen wohl nicht erwartet. Doch Margret konnte nicht anders – sie sah Gott in jedem Blatt und jedem Tier, das ihren Weg kreuzte, spürte ihn in jedem Regentropfen und jeder Windböe. Wie konnte man den Schöpfer mehr ehren als durch Lobpreisung dessen, was Er erschaffen hatte? Auch ihre Mitmenschen begegneten Margret zunehmend mit Skepsis und Misstrauen. Eine freiheitsliebende Frau, die ihr Geld mit Schreiben verdiente, mit der Natur sprach und alles genau erforschen wollte, anstatt brav zu beten und einem Ehemann zu dienen? Sollte Margret etwa mit den dunklen Mächten im Bunde sein? Ihr merkwürdiges Verhalten hatte die Nachbarn schon ab und zu daran denken lassen, und viele hatten ihr nur notgedrungen Schreibaufträge erteilt. Davon und von dem wenigen, was ihre Eltern ihnen hinterlassen hatten, hatte sie mit Thomas ein einfaches Leben geführt. Als ihr Bruder schließlich alt genug gewesen war, um für immer ins Kloster einzutreten, hatte Margret ihn zunächst nicht gehen lassen wollen, obwohl er sie immer wieder inständig darum gebeten hatte. Doch dann hatte sie erkannt, dass es selbstsüchtige Gründe waren, die sie daran hinderten, zuzustimmen, und so hatte sie schließlich widerwillig nachgegeben. Die Möglichkeit selbst ins Kloster zu gehen, hatte sie jedoch weit von sich geschoben – trotz des gleichlautenden Versprechens, das sich die Geschwister nach dem Tod der Eltern gegeben hatten. Nachdem Thomas von Beverley kurze Zeit später in den Zisterzienserorden eingetreten und in dessen Auftrag nach Frankreich gereist war, hatte auch Margret nichts mehr auf der Insel gehalten. Aus Reue über ihre Selbstsucht hatte sie gelobt, Pilgerfahrten zu unternehmen, kleinere zunächst, wie die zum Marienheiligtum von Walsingham. Schnell hatte sie jedoch bemerkt, dass ihr diese Art des Reisens sehr gefi fiel, und sich, wenn auch zögernd, eingestanden, dass die Freude, die sie dabei empfand, eine eher weltliche war – zumal diese Reisen die ungeliebte Vorstellung von einem Klostereintritt in weite Ferne rücken ließen. Daraufhin hatte sie versucht, das Reisen fester mit dem Glauben zu verbinden und beschlossen, sich auf den Weg zu anderen, weiter entfernten Pilgerzielen zu machen. 39
Dies hatte sie allerdings erst nach heftigem Disput mit dem örtlichen Pfarrer durchsetzen können, der ihr als alleinstehender Frau die Erlaubnis dazu beharrlich verweigern wollte. Frauen, die ohne einen männlichen Blutsverwandten oder Ehemann zu weit entfernten Pilgerzielen zögen, hatte er ihr vorgehalten, würden sofort in den Ruf eines zweifelhaften Lebenswandels geraten. Dagegen hatte Margret sich nach Kräften gewehrt – denn so sehr sie auch an allen Facetten der Natur interessiert war, die Natur des Mannes gehörte nicht zu ihren bevorzugten Themen und sie würde ganz sicher nicht in den Bund der Ehe treten, nur um eine Pilgerreise antreten zu können. Schließlich hatte der Ortspfarrer sie entnervt an seinen Vorgesetzten, den Pastor Roger im nahe gelegenen Howden verwiesen, der ihr schließlich die Erlaubnis erteilt hatte. Er hatte letztlich ihrer Frage, warum es einer Christin verwehrt sein sollte, ihren Geburtsort aufzusuchen, nichts entgegenzuhalten gewusst – zumal es nicht nur in England Sitte geworden war, sowohl im Angedenken an Christus als auch an die eigenen Vorfahren zu pilgern. An den würdevollen Beginn ihrer Pilgerfahrten dachte Margret ebenfalls oft – daran, wie sie und einige Gleichgesinnte während einer aufwendigen Messe in der Kirche von Beverley die Insignien ihrer Pilgerreise erhalten hatten. Das kleine Gotteshaus war brechend voll gewesen – all diese Menschen hatten die Pilger persönlich aus ihrer Gemeinde verabschieden und ihnen Glück auf ihrem Weg wünschen wollen, so wie es inzwischen überall der Brauch war. Unzählige Kerzen hatten gebrannt, Weihrauchschwaden waren umhergezogen, der Chor hatte das Kyrie gesungen und die Gemeinde das Paternoster und mehrere Pilgerpsalmen gebetet: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt, bleibt im Schatten des Allmächtigen ... denn er bietet seine Engel für dich auf, dich zu bewahren auf allen deinen Wegen ... Über Schlange und Basilisk sollst du gehen, treten auf Löwen und Drachen ...“ Diese Stelle, bei der der Basilisk und die Drachen erwähnt wurden, die den Pilgern zu Füßen liegen sollten und ihnen in keinster Weise schaden konnten, liebte Margret besonders. Wie diese Fabeltiere wohl aussehen würden? Und ob sie im Laufe ihrer Reise tatsächlich lebenden Exemplaren dieser Spezies begegnen würde? In England 40
hatte sie noch keine zu Gesicht bekommen, aber im Orient? Sie war schon mehr als gespannt darauf gewesen ... „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher wird meine Hilfe kommen? ... Er wird nicht zulassen, dass dein Fuß wanke. Dein Hüter schlummert nicht ... Am Tag wird die Sonne nicht stechen, der Mond nicht bei Nacht.“ „Ich erhebe meine Augen zu den Bergen ...“ – genau so hatte sie sich ihre Reise vorgestellt: mit offenem Herzen und Geist in Gottes Natur unterwegs zu sein und alle seine Wunder mit Begeisterung in sich aufzunehmen. Voller Gottvertrauen hatte sie sich darauf gefreut, und keine Furcht vor Unfällen oder feindseligen Menschen verspürt, würde sie doch unter Gottes Schutz unterwegs sein. „Ich freute mich, als sie zu mir sagten: ‚Wir gehen zum Haus des Herrn!‘ Unsere Füße standen dann in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem, die du aufgebaut bist als eine fast in sich geschlossene Stadt ...“ Den 121. Psalm hatte Margret besonders herbeigesehnt, machte er doch ihr Lebensziel Jerusalem vor ihren Augen wie leibhaftig greifbar, so dass sie schon fast auf seinem heiligen Boden zu stehen meinte, auf wundersame Weise dorthin versetzt durch die heiligen Gesänge und Gebete. Andächtig war sie in ihrem Pilgermantel vor dem Altar niedergekniet und hatte ihren Stab und ihre Tasche vor dem Priester auf die Steinstufen gelegt. Dieser hatte sie angesichts des Zwistes, den sie hatten, noch immer etwas mürrisch angeblickt, dann aber dennoch den Segensritus gesprochen. Anschließend hatte er die Gerätschaften aufgehoben und sie Margret mit den Worten zurückgegeben: „Nimm diese Tasche, nimm diesen Stab im Andenken an Jesus Christus, der sagte: ‚Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und mir nachfolgt, ist meiner nicht würdig‘.“ Zuletzt war der zukünftigen Pilgerin feierlich ihr Stoffkreuz überreicht worden, das sie auf die rechte Schulter ihres Mantels aufnähen sollte – erst nach Abschluss der Pilgerfahrt, kurz vor der Rückreise nach Hause, sollte 41
das Kreuz seinen Platz wechseln und auf den Rücken wandern. Ein abschließender Segen und weitere Gebete hatten die Zeremonie beendet. So war Margret auch mit Gottes Einverständnis Pilgerin geworden und hatte sich endlich auf den Weg ins Heilige Land machen können. *** Irgendwann in jenem glühend heißen Sommer schenkte Ida an ihrem Schlafplatz einem Knaben das Leben. Das Abenteuer auf den Mauern Jerusalems war tatsächlich nicht folgenlos geblieben. Die anderen Frauen halfen ihr, so gut sie konnten, und auch die muslimischen Aufseher waren ganz begeistert von dem kleinen Menschenwesen, das da so mutig aus dem schmutzigen Bauch seiner Mutter hervorgekrochen war. Andächtig sahen sie zu, wie Ida das Kind stillte und versorgte, und man meinte manchmal sogar, mitfühlende Menschen hinter der brutalen Aufseherfassade erkennen zu können. Sicher hatten auch sie irgendwo in Ägypten Familien – Frauen, kleine Söhne und Töchter –, an die sie dieses vorwitzige Frankenkind tagtäglich erinnerte und auf diese Weise sein Los sowie das seiner Mutter erträglicher machte. Die Muslime steckten ihm immer wieder etwas zu, brachten sauberes Wasser, Kamelmilch oder Tücher, um es zu bekleiden, sogar einen Worfelkorb als Wiege. Aber sobald Ida etwas Milch oder Wasser für sich selbst erbat, wurde sie erbarmungslos geschlagen – so weit reichte der plötzlich aufkeimende Funke an Menschlichkeit nicht. Ida nannte ihren Jungen Gereon, nach einem in Köln verehrten Märtyrer der Thebäischen Legion – die Sehnsucht nach ihrer Heimatstadt war inzwischen so groß geworden, dass sie Tag und Nacht von ihr fantasierte. Gut, dass sie ihn nicht Pantaleon genannt hat, dachte Margret bei sich, die wahrlich nicht alle Heiligennamen für passend für kleine Kinder hielt, selbst wenn dieser als Patron der Hebammen galt. Sie war sehr erleichtert gewesen, als Idas ungeplante Schwangerschaft trotz aller Gefahren ein glückliches Ende genommen hatte, und betete dafür, dass der Kleine sich auch weiterhin würde gut entwickeln können. Allerdings fragte sie sich, was Ida den respektablen Kölner Bürgern sagen würde, wenn sie mit einem schwarzlockigen Bastard im Arm nach Hause zurückkehrte? Sicherlich könnte sie eine dramatische Geschichte von ei42
ner Vergewaltigung durch die Sarazenen erfinden fi – aber sollte sie das wagen, möge Gott ihr ob dieser Lüge die Zunge im Mund verdorren lassen. Trotz der widrigen Lebensumstände entwickelte sich der kleine Gereon unter der Fürsorge der Frauen erstaunlich gut und schaute mit seinen riesigen Knopfaugen in eine Welt, die für ihn sicher genauso wunderbar und aufregend war wie für alle kleinen Kinder – mochte sie auch für die Erwachsenen die Hölle sein. *** Ein paar Monate vergingen, und erneut zog ein regenreicher Winter über den Süden Palästinas. Die Gefangenen hatten sich notgedrungen mit ihrer Situation abgefunden und konzentrierten ihre Aufmerksamkeit darauf, den kleinen Gereon gut zu versorgen. Im Grunde waren die Frauen, die aus vielen verschiedenen Teilen der lateinischen Welt stammten, erst durch ihre gemeinsame Fürsorge für den Säugling zu Freundinnen geworden. Fiamma, ein Schankmädchen aus Genua, begeisterte sich besonders für den Kleinen und sprach immer wieder davon, wie sehr auch sie sich ein Kind wünschte. Eines Tages jedoch nahm einer der Aufseher Gereon aus den Armen seiner Mutter und band ihn mit einem Strick an dem eisernen Ring fest, der sonst die Fußketten der Frauen aufnahm. Der Kleine begann sofort, lauthals zu brüllen, worauf Ida so sehr in Panik geriet, dass sie auf den Aufseher losging und auf ihn einschlug. Der zeigte sich zunächst unbeeindruckt und bedeutete ihr, dass sie gefälligst wieder arbeiten solle, ihr Junge könne schließlich nicht davonlaufen. Ida war so aufgebracht, dass sie ihn nicht verstand, nicht verstehen wollte, und immer weiter auf ihn eindrosch – so dass der Aufseher schließlich zurückschlug. Entsetzt versuchte Margret, dazwischenzugehen, aber der Ägypter war inzwischen so wütend, dass er nun auf beide Frauen mit einer Rute einprügelte und Margret schließlich von sich stieß. Sie landete im Lagerfeuer, das in der Höhlenmitte brannte, und sah auf einmal nur eine Flammenwand vor sich. Augenblicklich erschienen die Schreckensbilder von ihrem brennenden Elternhaus wieder vor ihren Augen – sollte dies also auch ihr Schicksal sein? Doch während sie damals bloß auf dem Hügel gestanden und hilfl flos zuge43
sehen hatte, konnte sie hier etwas tun. Doch obwohl sie sofort versuchte, außer Reichweite des Feuers zu kommen, erlitt sie Verbrennungen am Kopf und an den Händen. Alles roch auf einmal nach versengten Haaren, und als sie zurückblickte, sah sie, dass das, was von ihren einstmals langen rötlichen Strähnen übrig geblieben war, nun von gierigen Flammen abgefressen wurde. Instinktiv rollte sie ihren Kopf über den sandigen Boden, um das Feuer zu ersticken, da kam auch schon der nächste Rutenhieb, dem sie nicht ausweichen konnte. Wieder und wieder schlug der Araber zu – er war so in Rage, dass es ihm nicht einmal etwas ausmachte, immer wieder ins Leere zu schlagen, weil Margret sich so heftig bewegte. Trotzdem erreichte seine Rute oft genug ihr Ziel, und schließlich hörte sie auf, sich zu wehren und versank mit einem letzten Blick auf die Flammen in einem schwarzen Abgrund voller Feuer und Schmerzen. Die anderen Gefangenen standen stumm und voller Entsetzen dabei. Niemand wagte es, das Wort zu erheben oder den Gefährtinnen zu Hilfe zu kommen. Da erscholl vom Eingang der Höhle plötzlich eine laute Stimme, die den Wachen auf Arabisch Befehle zurief. Die Posten sahen sich unsicher an, denn keiner von ihnen kannte den Mann, der jetzt mit raschen Schritten in die Höhle kam. Er war vergleichsweise klein und drahtig und trug einfache arabische Kleidung, zuoberst eine hell gestreifte Djellaba und auf dem Kopf einen Turban. Bis auf einen am Gürtel getragenen Dolch war er unbewaffnet – und doch war er es offenbar gewohnt, Befehle zu geben und sie augenblicklich ausgeführt zu sehen. Als sich keiner der Wachposten rührte, wiederholte er seine Anordnung, die Frauen nicht weiter zu schlagen – diesmal bedrohlich leise. Wie aus Trotz versetzte der Aufseher erst Margret, dann Ida noch einige heftige Hiebe mit der Rute, bis der Fremde unmittelbar vor ihm stand. Im Gegensatz zu dem Wachmann wirkte dieser keineswegs wütend, sondern kontrolliert und beherrscht, obwohl er gut einen Kopf kleiner war als der Aufseher, der ihn ungläubig und bewegungslos anstarrte. Der Fremde nahm dem Posten die Rute aus der Hand, schlug sie ihm einige Male um die Ohren, brach sie dann mittendurch und warf sie ins Feuer. Alle schauten nur sprachlos und ängstlich zu. Wer war dieser Mann, der so offensichtlich kein Muslim war, und doch von seiner Umgebung mehr Ehrfurcht einforderte als der Sultan selbst? 44
Erst jetzt trat der Kommandant der Truppe hinter ihn und bellte seinerseits Befehle an seine Wachen. „Er hat die Frauen freigekauft – dafür hat sein Geld ausgereicht, die Männer bleiben hier!“, erklärte er auf Arabisch. „Lasst sie gehen, allesamt.“ Nur der gemaßregelte Wächter rührte sich nicht und hielt die Augen nach wie vor auf den Fremden gerichtet. Dieser hatte sich zu Margret hinuntergebeugt, die knapp neben dem Feuer lag, und untersuchte vorsichtig ihre Verletzungen. Während ihre Unterarme und Hände schlimme Brandwunden zeigten, war es ihr halbwegs gelungen, die hungrigen Flammen von ihrem Kopf fernzuhalten. Sie war nicht bei Bewusstsein, aber ein gezielter Griff an ihren Hals verriet dem Fremden, dass sie noch lebte. Wieder gab er den Arabern rasche Befehle, und diesmal gehorchten sie ihm: Sie hoben Margret vorsichtig auf und trugen sie aus der Höhle, vor der mehrere mit Zeltplanen überdachte Wagen warteten. Der Fremde untersuchte nun Ida, die mittlerweile den noch immer schreienden Gereon losgebunden und hochgenommen hatte. Idas Striemen waren bei Weitem nicht so schlimm wie die Margrets, und auch dem Kleinen schien es gut zu gehen. Die übrigen Gefangenen wurden aus der Mine hinausgeleitet, und einige der Wachen holten sogar deren wenige Habseligkeiten sowie die Korbwiege von den Schlafplätzen und trugen sie dem seltsamen Geleitzug hinterher. Margret wurde in einem der Wagen auf Decken gebettet, und Ida setzte sich mit ihrem Sohn in den Armen neben sie. Der Fremde reichte Ida einen Wasserschlauch, aus dem sie sofort begierig trank, bevor sie ihn an die anderen Frauen weitergab. Auch Margrets aufgeplatzte Lippen wurden mit dem kühlen Nass befeuchtet, doch wirklich trinken konnte sie nicht – sie war noch nicht ganz ins Leben zurückgekehrt. Der Fremde warf noch einen prüfenden Blick auf sie und wandte sich dann den anderen Frauen zu. „Ihr seid frei!“, sagte er auf Fränkisch, ohne den Anfl flug eines arabischen Akzentes. War er also tatsächlich ein Franke? „Ich habe euch freigekauft, ihr könnt gehen, wohin es euch beliebt. Ich werde mit meinen Begleitern und den Verwundeten nach Tyrus ziehen, wo ich ein Spital betreibe. Wer von euch uns begleiten möchte, kann das gerne tun – ich stelle es euch frei.“ „Seid Ihr ein Medicus?“, fragte eine der Geretteten vorsichtig. „Ja, das bin ich. Mein Name ist Jonas, und ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, denjenigen Opfern dieser unseligen Glaubens45
kämpfe zu helfen, die mich am nötigsten brauchen – wo immer es möglich ist. Heute wart ihr das.“ Er wandte sich ab. Die Frauen standen noch immer schweigend da und betrachteten ihn wie ein Wesen aus dem Paradies. Ein reicher Franke, der es sich zur Aufgabe machte, Gefangene zu befreien und Verwundete zu pfl flegen? Schließlich ergriff eine der Frauen das Wort und stammelte einige wirre Worte des Dankes. Der Fremde drehte sich wieder zu ihnen um – und lächelte. „Ihr müsst mir nicht danken. Ich trage mit dem, was ich für euch und andere tue, nur eine eigene, ganz persönliche Schuld ab, die mich vor vielen Jahren gezwungen hat, meine Heimat und mein Elternhaus zu verlassen. Doch nun müssen wir uns auf den Weg machen, denn es ist weit bis Tyrus.“ Wieder wandte er sich ab, und nun trat ein junger, bronzehäutiger Diener mit einem wundervollen Pferd am Zügel zu ihm. Der Mann aus Tyrus nickte dem Jugendlichen zum Dank zu und stieg in den Sattel. Ohne sich noch einmal umzusehen, setzte er sich neben dem Wagen in Bewegung. Fiamma sah dem Aufbruch einen Augenblick zu, doch als der Wagen sich etwas entfernt hatte, rannte sie, so schnell es ihr durch den Sand möglich war, hinter ihnen her. „Nehmt mich mit, Herr! Margret ist meine Freundin!“, keuchte sie, als sie den Wagen eingeholt hatte. Der Fremde zügelte sein Pferd und blickte prüfend auf Fiamma hinunter. „Das fällt Euch aber früh ein!“, meinte er leicht spöttisch. Trotzdem griff er vom Sattel aus nach ihrem Arm und half ihr auf den Wagen, wo Ida bereits etwas beiseitegerückt war. „Wenn sie Eure Freundin ist, dann könnt Ihr Euch ja auch um sie kümmern!“, sagte der Medicus und warf Fiamma ein Bündel Leinenbinden zu, das er aus seiner Satteltasche geholt hatte. „Wickelt dies locker um ihre Arme und ihren Kopf. Ich werde sie vernünftig versorgen, sobald wir rasten. Nur möchte ich erst einige Meilen zwischen uns und die Minenaufseher bringen. Ich weiß nicht, wie lange die mit unserem Geschäft zufrieden sein werden.“ Schließlich folgten auch die Übrigen dem Zug, um zumindest in Begleitung zur Hauptstraße zu gelangen. Dann würde man weitersehen. *** 46
Es wurde langsam dunkel, und der Treck näherte sich einem kleinen, von Ferne kaum zu erkennenden Wadi. „Dort werden wir rasten“, wies der Fremde seinen jungen Diener an, der ihm das Pferd gebracht hatte und seitdem auf seinem Maultier kaum von seiner Seite gewichen war. Der schwarzlockige Junge nickte, ritt zu den Treibern an der Spitze des Zuges und teilte ihnen die Wünsche ihres Herrn mittels weniger Handzeichen mit. „Kann er nicht sprechen?“, fragte Fiamma, die alles verwundert beobachtet hatte, den Fremden, der nach wie vor auf gleicher Höhe mit dem Wagen ritt. „Nein. Said ist taubstumm. Er ist mein Lehrling.“ „Euer Lehrling? Wie geht das, wenn er nicht sprechen oder hören kann?“ „Besser als Ihr Euch vorstellt. Wir verständigen uns über Handzeichen, wie Ihr eben gesehen habt, außerdem kann er von meinen Lippen lesen“, war die knappe Antwort. Der kleine Geleitzug verschwand zusammen mit den letzten Sonnenstrahlen in dem Wadi, das nicht nur Sichtschutz, sondern auch eine kleine, von wenigen kümmerlichen Palmen und Buschwerk umstandene Quelle barg. Als das Nachtlager hergerichtet war und ein kleines, rauchloses Feuer loderte, ließ Jonas Margret, die noch immer ohne Bewusstsein war, vom Wagen heben und neben das Feuer legen. Er rief auch Ida herbei und bedeutete Said, ihm zu helfen. Fiamma gesellte sich ebenfalls zu ihnen. Einer der Treiber brachte Wasser, damit Jonas die Wunden der beiden Frauen verarzten und Gereon richtig untersuchen konnte. Ida hatte nur wenige blutige Striemen auf ihren Schultern und Armen, die schnell gesäubert und versorgt waren, ihr übriger Körper war durch die wenn auch zerschlissene Kleidung geschützt gewesen. Anschließend wandte sich der Medicus Gereon zu, der glücklich im Arm seiner Mutter vor sich hin gluckste und dem es, wie er beruhigt feststellte, von allen am besten ging, selbst wenn er vor Dreck starrte. Dann widmete sich Jonas Margret und sah sie eine Weile nachdenklich an. Said hatte inzwischen ein kleines Holzkästchen gebracht und geöffnet, in dem sich alle Arten von Instrumenten und Medizinfl fläschchen befanden. Jonas berührte seine Schulter, damit 47
der Junge ihn ansah, und sagte leise einige wenige Worte, die Fiamma und die Kölnerin nicht verstanden. Said nickte und eilte davon. Der Medicus wickelte die Verbände von Margrets Armen und warf sie ins Feuer. Er untersuchte sorgfältig ihre Verbrennungen, die an einigen Stellen recht schwerwiegend waren, und reinigte die tiefen Striemen, die die Rute des Aufsehers gerissen hatte, behutsam mit einem mit Essig befeuchteten Leinentuch. Als Margret durch die Schmerzen halb aus ihrer Ohnmacht erwachte, flößte fl er ihr sofort etwas Wasser ein, denn sie hatte seit Stunden nichts getrunken. Dann suchte er in seinem Medizinkästchen ein bestimmtes Fläschchen, entkorkte es und tröpfelte ihr etwas von der starken Essenz in den Mund. Sie hustete, war kurz darauf jedoch wieder ruhig. „Ist sie wieder ohnmächtig?“, erkundigte sich Fiamma besorgt. Jonas blickte kurz zu ihr hinüber. „Nein. Ich habe ihr Medizin gegeben, die sie ohne Schmerzen schlafen lässt. Bis wir in Tyrus sind, wird sie noch ein paar Mal fast wach werden, dann müssen wir ihr immer sofort zu trinken geben, habt Ihr gehört? Doch die Strapazen der Reise wird sie nicht mitbekommen.“ Er wandte sich wieder Margrets Wunden zu, und bald darauf kam auch Said zurück, ein Büschel Zweige in der Hand, die er Jonas mit fragendem Blick hinhielt. Der nickte anerkennend und nahm die Stängel entgegen. Rasch streifte er die Blätter von ihnen ab und befeuchtete sie mit Wasser. „Was ist das?“, wollte Fiamma wissen, während Ida ihre ganze Aufmerksamkeit ihrem Sohn widmete. „Henna“, antwortete Jonas knapp. „Die Blätter helfen bei Verbrennungen, sie wirken kühlend.“ Sowohl die Genuesin als auch Said sahen ihm genau zu, wie er die tropfnassen Blätter auf Leinenbinden verteilte und Margrets Hände und Arme damit verband. Auch die arg verbrannte Stelle an ihrer Stirn bedeckte er mit einer solchen Bandage und knotete sie um ihren Kopf fest. Schließlich war Margret zu Jonas’ Zufriedenheit versorgt, und erst jetzt bemerkten die Frauen, wie hungrig sie waren, und stellten zu ihrer Freude fest, dass Jonas’ Diener die Zeit genutzt hatten, um für die Reisenden ein einfaches Abendessen zu bereiten. Nun hockten sich alle um das Feuer und aßen, ohne dass sich eine Unterhaltung ergeben hätte. Ida und Fiamma waren durch die Eindrücke 48
des vergangenen Tages zu erschöpft, und Jonas machte sowieso nie viele Worte. Da fiel es nicht weiter auf, dass Said nichts sagen konnte, der mit allzeit wachen Augen neben seinem Meister hockte. Auch die Treiber waren müde, nur einer sang leise eine fremdartig klingende Melodie vor sich hin. Dann aber sammelten sich über dem kleinen Lager urplötzlich dunkle Gewitterwolken, die sich schnell vermehrten, und so, als hätten sie nichts anderes erwartet, sprangen Jonas’ Diener auf, um in kürzester Zeit am höchsten Punkt des Wadi eine kleine Gruppe von eng nebeneinanderstehenden Zelten zu errichten. Auch Said half eifrig mit, und Jonas brachte als erstes die verletzte Margret ins Zelt. Schon begannen dicke Tropfen herunterzuprasseln, die sich augenblicklich zu einer jener allseits gefürchteten Regenwände verdichteten, die wie eine massive Mauer aus Wasser nicht einmal einen genauen Blick auf den eigenen Begleiter erlaubten. Es blitzte und donnerte, und Margret schien sich davor zu fürchten, sie zuckte mehrfach im Schlaf zusammen und schrie auf. Jonas wickelte sie in eine Decke, jederzeit bereit, ihr wieder etwas Medizin zu geben, wenn es nötig sein sollte. *** Margret sah sich einer hell aufl fleuchtenden Gestalt folgen, die sie in einen engen Felsengang führte. Dieser erinnerte sie an die Höhle beim Bergwerk, so dass sie kurz zögerte, hineinzugehen, doch dann folgte sie der seltsamen Gestalt. Kurz hinter dem Eingang blieb das Lichtwesen stehen und wandte sich ihr zu. Es entpuppte sich als ein hell gekleideter Engel mit großen geschwungenen Flügeln, der wie aus sich selbst heraus zu leuchten schien. Die Federn, mit denen seine Flügel besetzt waren, hatten unterschiedliche Größen: Entlang des Rückens befanden sich kleine, in dichten Reihen gestaffelte Federn, von denen jede Reihe größer war als die vorherige, bis schließlich die äußerste Federlinie von eindrucksvoll großen, in tausend Blautönen gehaltenen Schwungfedern gebildet wurde. Die anderen Federn erschienen auf den ersten Blick naturfarben, doch wenn der Engel sich bewegte, zeigten sie unterschiedlich matte und doch zugleich bunt leuchtende Farbtöne: orange, rosa, gelb, aber auch bläulich, graugrün und violett. Der Engel hatte das Antlitz einer jungen, wunder49
schönen Frau von überirdischer Sanftheit. Er trug ein weiß-silbriges, faltenreiches Gewand, das ihm bis über die schmalen bloßen Füße reichte und eine Haube aus demselben Stoff, die in engen Falten um seinen Kopf geschlungen war, so dass man nirgends auch nur eine Strähne seines Haares erblicken konnte. Das Wesen lächelte und sprach Margret an. „Folge mir, Pilgerin, denn du sollst sehen, was dich nach deinem Tod erwartet.“ „Bin ich denn tot?“, fragte diese erschrocken zurück, die sich zwar zerschunden und schwach, aber eindeutig am Leben fühlte. Der Engel antwortete nicht, sondern bedeutete ihr, ihm zu folgen, und schritt würdevoll vor ihr den felsigen Gang entlang, der wie mit riesigen schwarzen Säulen gerahmt aussah, in den Berg hinein. Margret folgte ihm und fühlte sich dabei merkwürdig zerrissen. Zeitweise hatte sie den Eindruck, ihre Seele würde ihren Körper verlassen und über ihr schweben, dann konnte sie sich und ihren Begleiter von oben erkennen, wie sie beide den Gang durchschritten. Im nächsten Augenblick befand sie sich wieder direkt hinter ihrem Führer und folgte ihm in die Tiefen des Berges, hatte jedoch gelegentlich das Gefühl, das die Struktur der Felsen schmutziggrauen Zeltplanen glich, auf die heftiger Regen wie Trommelwirbel prasselte. Inmitten all dieser verstörenden Eindrücke ging Margret eine äußerst profane Frage durch den Kopf: Wenn der Engel sie in die Unterwelt führte, warum führte der Weg dann immer geradeaus und nicht hinunter? Kaum hatte sie dies zu Ende gedacht, führte der Weg plötzlich tatsächlich nach unten, am Anfang nur sanft geneigt, um immer steiler zu werden. Die Felswände des Ganges, die zu Anfang noch weit auseinandergelegen hatten, verengten sich nun und schienen mit scharfen Gesteinsspitzen bewehrt zu sein, die sehr an die von den Sarazenen in Jerusalem verschossenen Brocken erinnerten. Bald waren die Felsen bedeckt von Sickerwasser, bald von einer Art übel riechendem, weißgrünlichem Schleim, dann wieder von dickfl flüssigem Blut, das an manchen Stellen langsam heruntertropfte und andernorts schon eine geronnene braunrote Kruste bildete. Schließlich hätte sie die Wände berühren können, ohne ihre Hände auszustrecken, so nahe waren sie beieinander. Der vorangehende Engel berührte die Wände des Öfteren mit seinen Flügeln 50
oder seinem Gewand, und auch Margret spürte die bedrohliche Berührung der Felsen, die nach ihr zu greifen oder sie erdrücken zu wollen schienen. Trotzdem wurden weder der Engel noch sie selbst in irgendeiner Weise beschmutzt oder verletzt, und gelegentlich, wenn sie wieder einmal das Geschehen aus der Höhe zu verfolgen schien, meinte sie sogar zu sehen, wie die steinernen Wände den beiden Wesen auf wundersame Weise auswichen. Nun erreichten sie eine Art höllischer Höhle, in der eine Unzahl Dämonen damit beschäftigt war, arme Sünder zu quälen. Sie räderten sie, tauchen sie immer wieder in Wasserbecken unter und kochten sie in Kesseln, die auf lodernden Feuern vor sich hin simmerten. Einige zwickten ihre Opfer mit riesigen glühenden Zangen oder rissen sie damit in Stücke. Manche der Verzweifelten versuchten, sich die Himmelsleiter hinaufzuretten und fielen fi doch immer wieder hinunter. Die Dämonen halfen dabei kräftig nach, indem sie sie von der Leiter herunterschüttelten oder ihnen nachstiegen und sie herunterrissen. Andere wurden ergriffen und trotz ihrer Gegenwehr von einem oder mehreren Dämonen davongeschleppt, um in rauchende Kessel oder lodernde Abgründe geworfen zu werden. Andere nackte Sünder waren in allen nur denkbaren Positionen an Gestänge gefesselt – kopfunter, quer, mit seltsam verrenkten Gliedern. Ein Ausruhen war nirgends möglich, nur manchmal wurden Menschen wie tot auf Haufen geworfen, nur um kurz darauf wieder herbeigezerrt und weiter gequält zu werden. Riesige hässliche Kröten verschlangen sie, Schlangen versuchten, sie hinunterzuwürgen, oder die Dämonen tauchten sie immer wieder in kochendes Pech oder Öl. All dies betrachtete Margret mit Abscheu, sie glaubte sogar, das Pech und das Feuer riechen zu können, und dennoch schien das alles in einer gespenstischen Lautlosigkeit vor sich zu gehen. Das Einzige, was trotz dieses Schreckensszenarios zu hören war, war das überirdische Rauschen, das von ihrem Begleiter bei jeder Bewegung hervorgerufen wurde, sowie dessen sanfte Stimme, sobald er seinem Gast etwas erläuterte. Die Schreie der Gequälten jedoch, die Margret sich, ohne es bewusst zu wollen, lebhaft vorstellte, waren nicht zu hören. „Hier beginnt der Bereich der Bestrafung“, erklärte der Engel, „in dem alle Sünder ihre Vergehen genau gemäß ihrer Untaten büßen. Auch du bist nicht frei von Schuld – so ist es an der Zeit, einmal 51
die wahren Motive deiner Reisen zu bedenken. Bist du sicher, dass du zum Lobe Gottes pilgerst oder etwa doch, um deiner eigenen verwerfl flichen Neugier nachzugeben? Noch dazu, nachdem du eine Frau bist?“ „Ist Neugier bei einem Mann denn eine geringere Sünde?“, platzte es empört aus Margret heraus. „Neugier ist immer eine Sünde, egal, wer sie begeht“, gab der Engel zurück. „Das Streben eines jeden Christen sollte allein Gott gelten.“ „Und warum stattet Gott dann Menschen mit genau dieser Gabe aus? Nur, um sie in Versuchung zu führen? Das kann ich nicht glauben. Nein, es muss auch einen gottgewollten Grund für die Neugier geben, meint Ihr nicht auch?“ Der Engel antwortete nicht, sondern schritt weiter in den Berg hinein, während Margret ihm folgte. Nach endlosen Abfolgen felsiger Räume, in denen ganze Scharen geschäftiger Teufel und Dämonen ihrem grausigen Tagwerk nachgingen, weitete sich der Gang plötzlich wieder zu einer weiten Höhle. Ein riesiger Kessel, größer als alle, die Margret zuvor gesehen hatte, brodelte auf einem begierigen Feuer. Es roch so intensiv nach heißem Öl und Pech, dass ihr beinahe übel davon wurde. „Sieh diese heimtückischen Dämonen, Pilgerin – sie bereiten sich vor, einen großen Herrscher der Menschen in Empfang zu nehmen, der in seinem Kampf gegen die Ungläubigen viel Böses tut und noch viel Böseres tun wird. Jedes einzelne der roten Haare an seinem Körper werden diese Dämonen ihm genüsslich ausreißen, ihn mit kochendem Öl übergießen und seine Haut in dünne Streifen schneiden, Stück für Stück, als Erinnerung und Mahnung an die vielen Menschen aller Nationen, die durch seine Schuld zu Tode gekommen sind und in Zukunft noch sterben müssen.“ „Hat Saladin denn rote Haare?“, wunderte sich Margret. „Ich habe das Gerücht gehört, er soll glatzköpfi fig sein?“ Sie versuchte, sich an ihre Begegnung mit dem Sultan vor den Toren Jerusalems zu erinnern, doch damals hatte er einen Helm und darüber einen Turban getragen, der seine Haare verborgen und nur den graumelierten Bart hatte sehen lassen. Der Engel antwortete nicht, doch ein feines Lächeln schien seine Lippen zu umspielen. „Denke an diesen Augenblick, wenn du ihn, jenen gewaltigen Herrscher, in nur wenigen Monaten vor Akko treffen wirst.“ 52
Sie gelangten nun aus den felsigen Gängen zurück ins Freie, über eine sandige Ebene, die mit zahllosen blühenden Wüstenpflanzen fl bestanden war. Nur wenig vor ihnen lag eine wunderbar grüne Oase, wie sie noch niemand in der wirklichen Wüste gesehen hatte. Unter Palmen breitete sich ein prunkvolles orientalisches Zeltlager vor ihnen aus, mit spitzen, bunten Zelten, wehenden Seidenbannern und einigen der schönsten Pferde, die Margret je in ihrem Leben gesehen hatte. Hell gekleidete Diener bereiteten offenbar die Ankunft ihres Herrn vor, jedoch ohne Eile und Hast, so als stünde sein Kommen noch nicht unmittelbar bevor, obwohl schließlich beizeiten alles bereit sein sollte. „Auch hier wird ein großer Herrscher der Menschen erwartet“, erläuterte der Engel, „da dieser hingegen an Gott glaubt und nur strikt nach den Regeln seines Glauben handelt, wird er hier sein ganz privates Paradies vorfinden.“ fi Margret wollte fragen, wer nun dieser Herrscher sei, da kamen sie an einem klaren Tümpel vorbei, und Margret, die auf einmal unbändigen Durst verspürte, bückte sich, um etwas Wasser zu trinken und meinte tatsächlich das Wasser auf ihren Lippen schmecken zu können ... Jonas hatte bemerkt, dass Margret aufzuwachen begann und sofort gab er ihr zu trinken und noch etwas Medizin. Vorsichtig bettete er sie zurück auf die Decken. Jenseits der Oase begann der Boden wieder felsiger zu werden, und auf einmal erhob sich ein zuvor nicht erkennbarer schwarzer Berg vor Margret und ihrem Begleiter. Nach nur wenigen Schritten waren sie wieder in einem unterirdischen Felsengang angelangt, der kühl und glatt war und nicht so bedrohlich wie der, den sie zuvor durchschritten hatten. Am Ende des langen, fast geraden Ganges leuchtete jedoch unheilvoll ein rötlicher Feuerschein. Sie gelangten schnell an jenen feurigen Abgrund, an dessen gegenüberliegendem Ufer nur schwarze Leere zu sein schien. „Diese Brücken der Prüfung musst du überqueren, um an dein Ziel zu gelangen“, sagte der Engel. „Zaudere nicht, gehe zügig vorwärts und sieh dich keinesfalls um, denn sonst verschlingt dich die Hölle! Geh’ nun!“ „Kommst du denn nicht mit?“, fragte Margret erschrocken. 53
Der Engel antwortete nicht, schloss stattdessen die Augen und legte den Kopf weit in den Nacken. Aus der schönen, jungen, geflüfl gelten Menschengestalt wurde nach und nach ein riesengroßer Nachtfalter, so groß, wie Margret noch niemals zuvor einen gesehen hatte. Sie trat vor Schreck einen Schritt zurück, prallte an die Felswand und konnte dennoch ihre Augen nicht von der Metamorphose abwenden, die sich nun vor ihr abspielte. Der Kopf des Engels wurde braun und erschien plötzlich wie mit Pelz bedeckt, die hellen Augen wurden zu riesigen schwarzen Perlen. An die Stelle des hellen leuchtenden Kopftuches traten lange, geschwungene und gefiederte fi Fühler. Die bunten, seidigen Engelsfl flügel verwandelten sich unvermittelt in große, dreieckig-matte Falterschwingen, die ein kompliziertes Muster aus braunen, weißen und schwarzen Ornamenten trugen, dazwischen eingestreut schwach rosenrote Arabesken. Einzelne Federn waren schon nicht mehr zu erkennen, die riesigen Schwingen sahen vielmehr aus wie ein kostbarer, reich gemusterter Mantel aus damaszenischem Stoff. Der Engel-Falter stand nun auf den Zehenspitzen, und während sich sein faltiges Kleid langsam in einen pelzigen Insektenkörper auf spindeldürren Beinen verwandelte, begann er, heftig mit den riesigen Flügeln zu schlagen. Im nächsten Augenblick hob er ab und verschwand in eleganten Kreisbewegungen nach oben zum Dach der Höhle. Margret verfolgte ihn mehr fasziniert als erschrocken mit ihren Augen, bis er nur noch ein winziger, sich bewegender Punkt war, nur wenig heller als die schwarze Felsenkuppel, die ihn schließlich endgültig aufsog. Was sollte sie jetzt tun? Margret war verunsichert und fühlte zugleich eine vorher kaum gekannte klare Entschlossenheit. Sie sollte über die Brücke ans andere Ufer gehen, um dahinter immer und immer wieder eine neue Brücke über einem neuen Abgrund zu finden? Wenn dies ihre Aufgabe war, so würde sie sie nach besten Kräften erfüllen! Der erste Steg war relativ breit, allerdings ließ sich der gähnende rotleuchtende Abgrund, den er überspannte, weder in Breite noch Tiefe abschätzen. Trotzdem ging Margret mutig los, doch schon nach wenigen Schritten verjüngte sich der Steg, während gleichzeitig ein starker Gewittersturm aufkam, der sie von ihren Füßen zu reißen drohte. Nichtsdestotrotz ging sie zügig weiter und erreichte rasch das andere Ufer, ohne es vorher genau wahrgenommen zu haben. 54
Der Untergrund auf der anderen Seite war sandig und der Wind trieb ihr die feinen Körner ins Gesicht. Je weiter sie ging, desto grober wurde der Boden und erschwerte das weitere Vorankommen, dafür ließ der Sturm allmählich nach, bis er sich schließlich vollständig legte. Da tat sich unvermittelt der nächste Abgrund auf, erneut überspannt von einem schmalen Steg, den Margret schon etwas zögerlicher betrat. Dort musst du hinüber, r hatte der Engel ihr eingeschärft. Bald wandelte sich der Sand in Eis und Schnee, und der Steg erwies sich als rutschig und schwer passierbar. Im Abgrund darunter lauerten spitze Eisberge, und Margret fror immer heftiger, je weiter sie voranschritt. Jonas’ Patientin zitterte und verkrampfte sich immer stärker, ihr Gesicht spiegelte höchste Anstrengung wider. Sie begann zu fiefi bern, so dass ihre Pfl fleger die Decke um sie herum fester steckten und Said ein kleines Kohlebecken herbeibrachte. Als Margret schließlich unter großer Kraftanstrengung das andere Ufer erreicht hatte, ließ sie sich erschöpft zu Boden fallen und fiel fi in einen tiefen Schlaf. Als sie wieder erwachte, war sie von Schnee bedeckt – und doch war sie nicht erfroren, sondern fühlte sich erstaunlicherweise wohlig gewärmt. Auf wundersame Weise ausgeruht stapfte sie durch die eisige Landschaft, bis sie den nächsten Abgrund erreichte. Sie hatte diesen Steg kaum betreten, als sich schon im nächsten Augenblick das Gewitter zurückmeldete. Donner grollten, Blitze schienen in die Brücke kurz vor und hinter ihr einzuschlagen und Steinbrocken daraus herauszusprengen. Als sie auf halbem Wege ans andere Ufer war, prasselten plötzlich Steine herunter und rissen das schmale Stegchen hinter ihr mit sich, das donnernd im Abgrund verschwand. Nur dank einiger beherzter Sprünge schaffte sie es, wieder festen Boden zu erreichen. Erschöpft hielt sie inne, und schlagartig wurde ihr klar, dass sie nun wirklich nicht mehr zurückkonnte – der Rückweg war endgültig abgeschnitten. Dreh dich nicht um! Schau nicht zurück! Die Worte des Engels klangen wieder in ihren Ohren. Voller Angst musste sie nun an Lots Frau denken, die zu Stein erstarrt war, eben weil sie sich umgedreht hatte, und wagte es nicht, den Kopf zu wenden. Um nicht 55
den Mut zu verlieren, ging sie schnell weiter. Wenigstens hatte sich das Gewitter gelegt, als sie das Ufer erreicht hatte. Nun herrschte kalte Leere von unendlichem Ausmaß, die sich schon bald zu klebriger, feuriger Lava wandelte. Die Luft war schwer von Rauchschwaden, die Margret den Atem nahmen und sie husten ließen. Sie musste sich zwingen, Schritt für Schritt weiterzugehen, zumal ihre Glieder sich auf einmal bleischwer anfühlten. Nachdem sie die nächste Brücke erreicht und betreten hatte, wollten sich ihre Füße nur mühsam von deren Boden lösen. Sie schienen in einer zähen, feurigen Masse festzustecken. Trotzdem verbrannte oder verletzte sie sich nicht, und schon bald wandelte sich die Lava unvermittelt zu einem riesigen, übel riechenden See aus Blut, durch den Margret schreiten musste, ohne überhaupt einen Steg darunter erkennen zu können. Als sie endlich das nächste Ufer erreichte und einen Moment ausruhen wollte, stürzten sich alle Arten von Ungeziefer und Aasfressern auf sie, da ihr Körper über und über von dem Blut bedeckt zu sein schien. Spinnen krabbelten an ihr hoch, Schmeißfl fliegen umsurrten ihren Kopf, Hyänen mit feurigen Augen lauerten in Felsspalten und über allem kreisten gierige Geier, drohend, sie anzufallen. Panisch schüttelte sie sich und das Blut verschwand. Das Getier ließ von ihr ab und sie ging weiter, bemüht, nicht auf die Kreaturen zu achten, die diese Gegend bevölkerten. Auch der nächste Steg war sehr schmal, und diesmal konnte Margret im schwarzen Abgrund darunter allerlei Untiere erkennen. Drachen, gigantische Echsen, ihr unbekannte Raubtiere mit schwarzen Glubschaugen oder feurigen Augenschlitzen. Sollten dies etwa die Drachen aus dem Pilgerpsalm sein? Margret erschrak. Riesige grüne Drachenköpfe erhoben sich aus dem Abgrund, aus mit Reißzähnen bestückten, schuppigen Echsenmäulern loderten Flammen, die Margret rot und golden umzüngelten. Obwohl die Flammen ihren gesamten Körper einhüllten und auch ihr Kleid zu ergreifen schienen, verbrannte sie das Feuer nicht. Sie ahnte zwar dessen Hitze, wusste aber aus ihren bisherigen Begegnungen mit diesem unzähmbaren Element, dass diese nur ein kleiner Vorgeschmack war. Alles in ihr verlangte danach, sich umzudrehen, umzusehen, dann aber dachte sie wieder an die Worte des Engels und wagte den nächsten und wieder den nächsten Schritt. 56
Mehrfach lief sie Gefahr, von dem schmalen steinernen Steg, der nicht einmal so breit war wie ihre beiden Füße nebeneinander, hinunterzustürzen, konnte sich aber jedes Mal wieder fangen und die Balance zurückgewinnen. Erst kurz vor Ende des Abgrundes fiel fi sie dann doch und wurde augenblicklich von einem der lauernden Drachen, einem wahren Leviathan, verschlungen. Sie wähnte sich in seinem Maul und blickte durch einen Zaun spitzer Zähne nach draußen, dann wieder schien sie oben in seinem Kopf zu sein, glaubte, dass seine Augen plötzlich ihre eigenen wären, mit denen sie wie durch eine Glasglocke ins feurige Dunkel hinausblickte. Ihr Körper aber steckte zur Gänze im Schlund des Untieres – weder Arme noch Beine konnte sie bewegen, so fest hielt er sie umschlossen. Wie die heilige Margarethe, dachte sie, die nur durch die Kraft ihres Glaubens das Untier zum Platzen gebracht hatte, so dass sie unversehrt daraus hervorkommen konnte. Sie musste versuchen, es ihr gleichzutun, musste wirklich und wahrhaftig glauben und nicht nur neugierig und naseweis sein. Als sie versuchte, den Kopf zu wenden, erkannte sie in einiger Entfernung am Rand des riesigen Auges einen hellen Uferstreifen, auf dem ein Mann zu stehen schien, der zu ihr herübersah und seine Hände nach ihr ausstreckte. In diesem Moment spie der Drache sie aus, und erneut stürzte Margret in die unendlichen Tiefen, aus denen sie schließlich ein plötzlich auftauchendes grelles Licht befreite und wieder auf scheinbar festen Grund stellte. Dieses blendend helle, brutale Licht umhüllte sie, schmerzte in ihren Augen, dennoch blieb sie trotz aller Furcht nicht stehen, sondern war sich nun sicher, dass bald das Ende ihrer Prüfungen gekommen sein musste. Zwar hatte sie nicht genau mitgezählt, über wie viele Brücken sie sich bereits vorgekämpft, wie vielen Gefahren sie schon ins Auge gesehen hatte, doch empfand sie das Licht trotz aller schmerzhaften Helligkeit als wohltuend und wärmend. Sie glaubte fast schon, am Ziel zu sein, konnte jedoch den Mann, den sie eben noch gesehen zu haben meinte, nirgendwo mehr entdecken. Stattdessen sah sie erneut eine Brücke vor sich, die über einen weiteren Abgrund führte, in dem sich etwas, das noch nicht genau zu erkennen war, heftig bewegte und einen so grässlichen Lärm machte, dass es schlimmer als das Gewitter einige Brücken zuvor klang – es hörte sich an wie der Schlachtenlärm einer fürchterlichen Metzelei. Noch mehr Drachen? Oder was konnte jetzt noch kommen? 57
Vorsichtig näherte sie sich und erblickte zu ihrem Schrecken ein einziges Gewimmel toter oder halbtoter menschlicher Körper, viele umgeben von einem bläulich-violetten Lichtschein. Einige waren nackt oder nur mit Fetzen bekleidet, andere trugen Rüstungen oder zerfallende Kettenhemden und befanden sich in verschiedenen Stufen der Verwesung. Margret erstarrte, sie konnte weder denken noch sich rühren – das taten dafür die Toten, die sich zwar ungelenk, aber stetig auf sie zubewegten und ihr folgen wollten, wie damals in dem Alptraum in Jerusalem. Sie meinte sogar, in diesem Heer ihr bekannte Gesichter zu erkennen: Kreuzfahrer aus ihrer Heimat, ehemalige Nachbarn, die im Heiligen Land gefallen waren. Und da war Henry, ihr Jugendfreund und Mitschüler. Waren das alles verlorene Seelen? Und wer war der halb skelettierte Ritter mit der Königskrone auf dem Kopf, der sie entfernt an Richard Löwenherz erinnerte, den sie nur einmal kurz von Weitem gesehen hatte? War Löwenherz bereits gefallen? Margret hatte Angst, auch selbst zu sterben; sie glaubte, das Heer sei gekommen, sie ins Jenseits zu holen, wogegen sie sich mit aller Kraft wehrte. Sie versuchte, sich abzuwenden, um nicht noch mehr die Aufmerksamkeit der Toten auf sich zu ziehen, schaffte es aber nicht und musste weiter wie gebannt hinsehen. Gespenstische Rufe schallten herauf, flehentliche Bitten wurden an sie gerichtet, Bitten um Gebete für die Rettung der armen Seelen. Henry bat Margret nun unter Tränen, etwas für ihn zu tun, und während sie sich auf ihn konzentrierte und sogar versuchte, ihn zu berühren, bemerkte sie kaum, wie andere Leichname ihr gefährlich nahe kamen. Die Toten mit flammenden Augen und Mündern kletterten nun an den Wänden hoch, versuchten sogar, sich aufeinanderzustellen, um die Pilgerin zu erreichen. Einige bekamen ihr Gewand zu fassen, und einer der toten Ritter ergriff mit flammenden fl Kettenhandschuhen ihre Arme, die sofort zischende Brandwunden ausbildeten. Doch schließlich konnte Margret sich im letzten Moment losreißen und eine der lebhaften Leichen mit einem beherzten Fußtritt wieder in den Abgrund befördern. Flammen züngelten empört nach oben, Verwünschungen wurden ihr nachgeschleudert und einmal mehr schien ihr Kleid zu verbrennen. Sie wandte sich hilfesuchend zum jenseitigen Ufer um, wo erneut ein helles Licht aufgetaucht war, das jedoch bei Weitem nicht so grell und schmerzhaft war wie das zuvor. Plötzlich sah sie inmitten 58
des Lichtes wieder den hell gekleideten bärtigen Mann mit erhobenen Händen, diesmal viel deutlicher. Konnte das Jesus sein, der gekommen war, sie zu erretten? Er schien etwas zu ihr zu sagen, aber Margret konnte ihn nicht verstehen. Scheinbar auf seinen Befehl hin erschien von oben ein anderes bläuliches Licht, aus dem heraus ein sehr großer, kräftiger Engel Gestalt annahm. Dieser, den Margret ohne zu wissen, warum, als Uriel erkannte, löschte mit einer schnellen Handbewegung die Flammen. Auch das Totenheer zerfi fiel geräuschvoll zu Staub, und Margret fühlte sich wie von unsichtbarer Hand aufgehoben und sicher aufs andere Ufer gesetzt. Sie stand nun unmittelbar vor dem, den sie für Jesus hielt, allerdings war sie zu sprachlos, um auch nur einen Laut von sich zu geben. „Bedenke nun, Pilgerin, wie du fürderhin dein Leben führen sollst!“, rief eine hohl klingende, allumfassende Stimme von weit oben herab – es schien die des Engel-Falters zu sein. Die magische Höhle löste sich plötzlich wie in einem Erdbeben voller Lichtblitze auf, verwandelte sich in eine Art schaukelndes Zelt, während dieser Jesus weiterhin an ihrer Seite saß und ihre Wunden versorgte. Bevor sie ihn jedoch fragen konnte, was dies alles zu bedeuten hatte, verlor sie wieder das Bewusstsein. *** Der Geleitzug um den Medicus kam aufgrund des Winterwetters nur langsam in Richtung Tyrus voran. Die Reise, die sonst maximal eine Woche gedauert hätte, wurde immer wieder dadurch verlangsamt, dass die Wagen im Matsch stecken blieben und man des Öfteren längere Zwischenstopps einlegen musste, um Verletzte und Kranke zu behandeln oder sie gegebenenfalls für eine Behandlung mit nach Tyrus zu nehmen. Die Menschen, die entlang und in der Nähe der Küstenstraße wohnten, kannten Jonas bereits, denn der Medicus reiste auf seiner Mission mehrmals im Jahr von Tyrus süd- oder nordwärts. Viele erwarteten sein Kommen bereits sehnsüchtig, auch wenn er für manchen Schwerkranken zu spät kam. Jonas behandelte sämtliche Kranken gleichermaßen, ihm war es egal, ob es Christen waren, die seine Hilfe erbaten, oder aber Muslime oder Juden. Alle waren Menschen, und er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, jedem von ihnen so gut er konnte zu helfen – so und nicht anders hatte er es von seinen Meistern gelernt. 59
Als der Zug sich langsam einem kleinen Gehöft in der Gegend von Jaffa näherte, war schon von Weitem die korpulente Bäuerin zu sehen, die den Medicus inmitten vieler kleiner und größerer Kinder erwartete. Allerdings nicht, weil eines ihrer Kinder krank war – diesmal ging es um etwas anderes. Als Jonas sein Pferd vor ihr zügelte, sie begrüßte und um Wasser und Wegzehrung bat, sagte sie nicht eben freundlich: „Wenn Ihr dafür bezahlt!“ Jonas musste sich beherrschen, denn er kannte die Frau, eine einheimische Christin, seit Langem und wusste, dass ihr Hof nie unter Mangel zu leiden hatte. Zudem hatte er ihrer Familie schon mehr als einmal geholfen – obwohl sie ihm noch nie sympathisch gewesen war. Kommentarlos nahm er einige wenige Goldmünzen aus seiner Tasche und warf sie ihr zu. Die Frau fing die Münzen geschickt auf und steckte sie ein. Im nächsten Moment nahm sie eines der Kinder hoch, einen schmalen, dunkelhaarigen Buben. „Den hier könnt Ihr mitnehmen!“, sagte sie barsch. Jonas stutzte, sah genauer hin und erkannte, dass der Knabe eindeutig kein eigenes Kind der Bauersfrau war, sondern wohl ein Findelkind sein musste. Während die anderen Kinder wohlgenährt lärmten und umhertobten, sah ihn der Kleine nur stumm und ängstlich an. „Erzählt mir nicht, Ihr habt hier nicht genug zu essen für einen Mund mehr“, sagte er erbost. Die Frau zuckte mit den Schultern und reichte Jonas den Buben aufs Pferd, ob beide das nun wollten oder nicht. Dann drehte sie sich um, bellte einer Dienerin Anweisungen zu und ließ für Jonas und seine Begleiter einen kargen Imbiss herrichten. Jonas wendete sein Pferd, um den Jungen, der vielleicht zwei Jahre alt sein mochte, auf den Wagen zu setzen. „Woher kommt das Kind denn? Ist es ein christliches oder sarazenisches Kind?“, wollte Fiamma, die die Verhandlungen verfolgt hatte, wissen. „Das weiß ich ebenso wenig wie Ihr“, entgegnete Jonas schroff. „Was macht das für einen Unterschied?“ „Oder etwa ein jüdisches?“, ließ Fiamma nicht locker. „Seht selbst nach, wenn es Euch so wichtig ist“, erwiderte er gereizt. „Ich dachte, dass Ihr Euch von Herzen ein Kind wünscht? Nehmt das inzwischen, bis Euch Gott ein eigenes schenkt!“ 60
Er reichte Fiamma den Buben hinüber und ritt wortlos davon, um zusammen mit Said und den anderen die Pferde zu tränken. Fiamma nahm den Kleinen etwas zögerlich auf den Schoß und wusste nicht recht, wie sie sich mit ihm anfreunden sollte. Doch der war offensichtlich froh, von der Bäuerin wegzukommen. Er berührte seine neue Amme vorsichtig am Arm und sah sie mit seinen schwarzen Augen unverwandt an. Als Fiamma ihn schließlich anlächelte, wagte er jedoch nicht, diese Geste zu erwidern – zu tief saßen das Misstrauen und die Angst, trotz vorgeschobener Freundlichkeit schlecht behandelt zu werden. Es sollte noch viele Tage dauern, bis er schließlich zu seinen neuen Beschützern Vertrauen fassen sollte.
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III
Gespenster der Vergangenheit Tyrus 1189/1190 Endlich näherten sich die Reisenden der Stadt Tyrus, die auf drei Seiten vom Meer umgeben war und nur über eine Landzunge mit dem Festland in Verbindung stand. Sie war von starken Mauern umgeben und mit einer dreifachen Toranlage gesichert. Die „Königin des Meeres“, wie sie wegen ihres günstig gelegenen Hafens genannt wurde, war eine seit langen Jahrhunderten blühende Metropole, in der sich vor allem Kunsthandwerker und Händler angesiedelt hatten. Es gab keine Stadt im Königreich Jerusalem, die einen besseren Ruf als Tyrus hatte, und viele Neuankömmlinge aus dem Westen – von frommen Kreuzfahrern über Glückssucher bis hin zu Freudenmädchen – suchten diesen Ort als ihr erstes Ziel im Orient auf. Dabei lockte das von jüdischen Spezialisten hergestellte und seit alten Zeiten berühmte tyrenische Glas ebenso wie die fein gewebten weißen oder purpurfarbenen Stoffe der Tuchmacher. Und trotz ihrer vielen Besucher galten die im gesamten Mittelmeerraum bekannten Marktstraßen von Tyrus als ungewöhnlich sauber – insbesondere im Vergleich zu Akko. Zwei Drittel der Stadt gehörten zum Königreich Jerusalem, während das verbleibende Drittel unabhängiger Besitz der Venezianer war. Die einheimische Bevölkerung gehörte zu weiten Teilen dem muslimischen Glauben an, aber auch zahlreiche Franken und Juden lebten hier. Die Templer und Johanniter hatten ebenfalls große Niederlassungen in der Stadt. Es gab Moscheen und Kirchen gleichberechtigt nebeneinander, deren größte und bedeutendste die Kathedrale Heilig Kreuz war, wo viele königliche Hochzeiten und Krönungen abgehalten wurden. Sie lag nicht weit von der Burg des Stadtkommandanten entfernt, dessen Posten seit dem Sommer 1187 mit dem italienischen Markgrafen Konrad von Montferrat besetzt war. Ihm war es gelungen, Tyrus erfolgreich gegen Saladin zu verteidigen, das dem Sultan damit als einzige Stadt widerstanden hatte. Dies war nicht ohne Konsequenzen geblieben. War nach den anfänglichen Eroberungen Saladins im Sommer 1187 noch eine überschaubare Anzahl an Flüchtlingsgruppen nach Tyrus gekom62
men, so waren es jetzt ganze Scharen aus allen Teilen des ehemaligen Lateinischen Königreiches. Selbst in dieser Stadt, in der man aufgrund des Platzmangels auf der Halbinsel seit ehedem Wohnhäuser von bis zu fünf oder sechs Stockwerken Höhe errichtete, war nun der letzte Winkel besetzt. *** Jonas hatte noch weitere Kranke, die eine intensivere Behandlung brauchten, aufgesammelt und brachte sie gemeinsam mit Margret, Ida und ihrem Sohn sowie Fiamma und dem Findelkind nach Tyrus. Der kleine Lockenkopf, den Jonas Moses genannt hatte, war der Genuesin inzwischen sehr ans Herz gewachsen, auch wenn sie über seine Abstammung noch nichts weiter hatte in Erfahrung bringen können. Als der Medicus ihn bei einer Rast untersucht und festgestellt hatte, dass das Kind in den letzten Monaten nur sehr schlecht versorgt und außerdem oft geschlagen worden war, war er darüber so wütend geworden, dass er am liebsten umgehend zurückgeritten wäre, um die Bäuerin zur Rede zu stellen. Stattdessen hatte er beschlossen, in Zukunft eine andere Route zu wählen und einen großen Bogen um das verfluchte fl Gehöft zu machen. Dieses unchristliche Weibsbild würde keinen einzigen Dinar mehr von ihm bekommen – ganz zu schweigen von irgendwelcher medizinischen Hilfe für eines ihrer vielen Bälger. In der überfüllten Stadt herrschte ein heilloses Gedränge und Geschiebe, so dass die kleine Karawane große Schwierigkeiten hatte, sich ihren Weg zum Spital zu bahnen. Dicht an dicht tummelten sich die lärmenden Menschen und die, die den Wagen des Medicus erkannten, schoben sie noch enger an sie heran. Falsche und echte Krüppel drängten sich ebenso um sie wie Bettler, fliegende Händler und zahllose Neugierige, und jeder versuchte, ungeachtet der vielen anderen Bittsteller, sein Anliegen am lautesten vorzubringen. Viele von ihnen lebten auf den Straßen und Plätzen der Stadt und wären froh gewesen, für kurze Zeit im Spital des Jonas Thorgilsson aufgenommen zu werden. Dies lag an einer der Hauptstraßen im Zentrum, nahe bei der Burg und der Kathedrale, und umfasste mit allen zugehörigen Versorgungseinrichtungen eine gesamte Insula. Als Jonas vor Jahren 63
mit dem Betrieb angefangen hatte, hatte er nur das Vorderhaus kaufen können, aber im Laufe der Zeit weitere Bauten sowie Lagerräume in nahe gelegenen Gebäuden dazu erworben. Von außen sah das mehrstöckige Haus fast unscheinbar aus, sah man einmal von den massiven Doppeltüren ab, die zu einer Toranlage gehörten. Jonas hatte sie bauen lassen, da es zahlreiche Versuche gegeben hatte, ins Spital einzubrechen, und ließ sie Tag und Nacht von Wächtern beaufsichtigen. Als sie die äußeren Torfl flügel, die von zwei stämmigen Männern mit Lanzen bewacht wurden, an denen kleine Banner mit fremdartigen Tiermotiven befestigt waren, endlich erreicht hatten, öffneten sich diese knarzend. Prompt kam ein resoluter Pförtner herausgestürmt, der Jonas für dessen Begriffe wie immer ein wenig zu stürmisch begrüßte, während die Wagen und Reiter sich ins Innere begaben. Kaum hatte der letzte Reiter das Tor passiert, schlossen sich die äußeren Tore auch schon wieder und ließen eine enttäuscht starrende Menschenmenge auf der Straße zurück. Die Karawane durchquerte eine Art rechteckigen Wirtschaftshof, der vor allem als Lager diente. Auf den drei Stockwerken wurden alle Arten von Waren und Ballen gelagert, im Erdgeschoss befanden sich die Stallungen und Remisen. Die Wagen fuhren auf ein zweites, monumentaleres Tor zu, das genau in der Flucht des ersten lag und wesentlich kunstvoller gestaltet war. Sobald sich die kostbar geschnitzten Türfl flügel genügend geöffnet hatten, kamen Diener herbeigeeilt, die halfen, die Patienten aus den Wagen zu laden und in den zweiten Hof zu bringen, wo sich Pfl fleger und Pfl flegerinnen sofort um sie kümmerten. Dieser Hof war im Gegensatz zum ersten annähernd quadratisch und das Gebäude nur zweistöckig, wobei um das gesamte obere Stockwerk eine Art Galerie verlief, die über hölzerne Treppen zu erreichen war. Im Erdgeschoss befanden sich Wirtschaftsräume wie ein Behandlungszimmer, eine Kräuterkammer, eine Küche samt Backofen, eine Wäscherei und eine Badestube, der erste Stock war den Wohn- und Patientenzimmern vorbehalten. Wer immer sich hier von seiner Pein erholte, meinte nicht, sich in einer mit Menschen überfüllten Stadt zu befi finden, sondern vielmehr in einer Oase der Ruhe und Beschaulichkeit. Der Innenhof war zum Himmel hin offen, konnte aber mit Zeltplanen beschattet und bei Regen 64
verschlossen werden; in seiner Mitte befand sich ein marmorner Brunnen und an seinen Säulen waren Käfi fige mit Ziervögeln befestigt. Kaum waren alle dort angelangt, schlossen sich auch die inneren Tore, und der gesamte Lärm, der eben noch aus dem Vorhof und von der Straße zu hören gewesen war, verstummte abrupt. Das Einzige, was jetzt noch zu hören war, war das Plätschern des Brunnens, das Zwitschern der Vögel und die eiligen Schritte der vielen Helfer. Als erstes boten diese den erschöpften Reisenden Getränke und Obst an, dann geleiteten sie sie zum Badehaus, wo sie mit einem Bad allen Schmutz, allen Ärger und alle bösen Erinnerungen davonspülen konnten. Auch Jonas war froh, wieder heil zu Hause zu sein, und, wohl wissend, dass seine neuen Schützlinge in den besten Händen waren, tauchte auch er erst einmal in seinem Privatbad unter und ließ sich im warmen Wasser treiben. Bilder der Vergangenheit drängten in seine Gedanken, denn es war nicht immer so gewesen, dass ihn nur seine Mitarbeiter begrüßten. Vor wenigen Jahren noch war da eine ganz besondere Frau gewesen, Marwa, eine schöne junge Araberin, mit der er sein weiteres Leben hatte teilen wollen. Doch ihnen war nur wenig gemeinsame Zeit vergönnt gewesen – seine Geliebte war an einer die ganze Stadt heimsuchenden Seuche gestorben, und er, der weithin gerühmte Medicus, hatte weder für sie noch für all die anderen Unglücklichen etwas tun können. Um das unsägliche Ohnmachtsgefühl zu verdrängen, hatte er sich in der Folgezeit wie manisch in seine Arbeit gestürzt und viele Wochen und Monate auf den staubigen Straßen Palästinas verbracht. Noch immer vermisste er seine Gefährtin, und gerade die beiden kleinen Buben, die er auf dieser letzten Fahrt unter seine Obhut genommen hatte, erinnerten ihn schmerzlich an seine Einsamkeit. Wie sehr hatten sie sich einen solchen kleinen Sohn gewünscht, damals, bevor die Pest auch vor seinem Haus nicht Halt gemacht hatte! Und jetzt? Sicherlich könnte er sich eine neue Frau suchen, allerdings war er bisher noch nicht bereit dazu gewesen. Zu seiner Überraschung musste er unwillkürlich an Margret denken, die zur selben Zeit in einem Nebenraum versorgt wurde. Nun, in den nächsten Wochen würde man sich näher kennenlernen – und alles andere der Zeit überlassen. 65
Margret wurde derweil von zwei Pfl flegerinnen umsorgt, und obwohl sie schon ab und zu wieder etwas wacher wurde, war sie trotzdem noch nicht wieder bei vollem Bewusstsein. Jonas hatte genaue Anweisungen gegeben, wie sie zu behandeln war, und so wuschen die beiden Frauen die Verletzte und schoren ihr das Haar, denn es hatte zu sehr unter der Begegnung mit dem Lagerfeuer gelitten und verbreitete noch immer einen üblen, versengten Geruch. Margret nahm zwar wahr, dass sie jetzt nicht mehr in einem schaukelnden Wagen befördert, sondern von sanften Händen in einer großen Wanne gewaschen wurde, konnte aber trotz aller Anstrengung die Augen nicht öffnen, um jemanden zu erkennen. Flüchtig kam ihr der Mann in den Sinn, der entweder Jesu selbst oder aber mit ihrer Vorstellung von Jesus verschmolzen war. Bei ihm fühlte sie sich geborgen, und es war, als träfen sich in diesem Augenblick seine und ihre Gedanken – doch wo? Bevor sie darauf eine Antwort gefunden hatte, verlor Margret wieder das Bewusstsein. *** Als Margret schließlich aufwachte, konnte sie sich nur schwer orientieren. Sie war nicht mehr in der Höhle, sondern befand sich im Zimmer eines Hauses und lag auf einem richtigen Bett, statt auf dem seit Langem gewohnten dreckigen Strohsack. Es war sehr dunkel in dem Raum, und nur mit Mühe konnte sie Einzelheiten erkennen. Als sie ihre Hände etwas anhob, sah sie Verbände aus hellem Leinen, die die gesamten Unterarme bis zu den Fingern bedeckten. Matt ließ sie die Arme wieder sinken. Aus dem hinteren Teil des Zimmers drang schwacher Feuerschein, aber als sie versuchen wollte, sich dorthin zu drehen, durchfuhr sie ein scharfer Schmerz und ließ sie aufstöhnen. Sie hörte jemanden sich ihrem Bett nähern, doch die Person zeigte sich ihr nicht, sondern hob nur vorsichtig Margrets Kopf an. „Trinkt das, das wird Euch helfen“, sagte eine leise melodische Stimme, von der Margret nicht einmal zu sagen vermochte, ob sie zu einer Frau oder einem Mann gehörte. Sie versuchte erneut, den Kopf zu drehen, doch es gelang nicht. Ein stechender Geruch aus Kräutern und Alkohol drang ihr in die Nase, und sie wollte sich abermals abwenden. Ein Becher wurde ihr 66
an die Lippen gehalten, und als sie sich schwach weiter wehrte, etwas von der bitteren Flüssigkeit mit sanfter Gewalt in ihren Mund gegossen. „Ganz ruhig. Trinkt diese Medizin, sie hilft gegen die Schmerzen“, wiederholte die Stimme. Das Zeug schmeckte bitter und unangenehm, doch schon bald bemerkte Margret seine wohltuende Wirkung, so dass sie schließlich den Becher langsam leerte. Ihr Kopf wurde wieder auf das Kissen gebettet, und sie konnte nun schemenhaft eine Hand mit einem schmalen silbernen Ring an einem der Finger erkennen, die sanft über ihre Stirn strich. Sie wollte fragen: „Wer seid Ihr?“, doch dazu kam sie nicht mehr, denn die Medizin wirkte nun endgültig und Margret schlief wieder ein, ohne eine Antwort erhalten zu haben. *** Margret hatte keine Vorstellung, wie lange sie geschlafen hatte, allerdings wirkte der Raum anders als das letzte Mal. Sie blinzelte und verzichtete diesmal auf vorschnelle Bewegungen, nur zu gut konnte sie sich noch an die Schmerzen erinnern, die ein simples Drehen des Kopfes hervorgerufen hatte. Sehr langsam wendete sie den Kopf, und als dies ohne unangenehme Folgen blieb, drehte sie ihn ein wenig weiter, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen. Beim Inspizieren der ihrem Bett gegenüberliegenden Wand erkannte sie, warum der Eindruck des Raumes diesmal so anders war – unter den geschlossenen geschnitzten Fensterläden waren leuchtende Lichtstreifen zu sehen, die zuvor nicht dagewesen waren. Es war also, im Unterschied zum letzten Mal, Tag. Im hinteren Teil des Raumes war es erneut heller, diesmal aufgrund eines offenen Fensterladens, durch den das Sonnenlicht ins Zimmer streifte. In der Ecke vor dem geöffneten Fenster stand ein kleiner Tisch, beladen mit Papieren und Schriftrollen, von denen sich noch viele weitere in zwei über Eck stehenden Holzregalen stapelten. Hinter dem Tischchen saß ein Mann auf einem kunstvoll geschnitzten Lehnstuhl, der ein Schriftstück studierte. Noch war er ganz in seine Lektüre vertieft und hatte nicht bemerkt, dass Margret wach geworden war. Sie betrachtete ihn, so gut es mit ihrem schmerzenden, verletzten Körper eben ging. Der Fremde war von schlanker, aber athletischer 67
Statur, hatte ein schmales Gesicht, helle Augen und dunkelblonde Haare. Also kein Muslim, konstatierte Margret, obwohl er ein typisch arabisches Gewand trug, wenn auch keine der sonst üblichen Kopfbedeckungen. Sein sorgfältig gestutzter Bart, in dem sich erste graue Strähnchen zeigten, verlieh ihm ein würdigeres Aussehen, als es seine lebhaft blitzenden grüngrauen Augen hätten vermuten lassen. Margret schätzte, dass er etwas älter als sie selbst war. Sie versuchte, sich noch weiter umzudrehen, um bessere Sicht zu erhaschen, doch diesmal ließen sie die Schmerzen wieder aufstöhnen. Noch im selben Moment hob der Fremde seinen Blick und sah sie mit seinen klaren Augen an. Er legte das Schriftstück auf den Tisch, erhob sich und näherte sich fast lautlos ihrem Bett. „Endlich!“, meinte er mit einem Lächeln. „Ich dachte schon, Ihr würdet überhaupt nicht mehr aufwachen, Margret. Wie fühlt Ihr Euch?“ Wie sie sich fühlte? Wie von den Toten auferweckt, schwindlig und wie gerädert. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf die Kissen zurücksinken und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Der Fremde hatte sich inzwischen auf die Kante ihres Bettes gesetzt und legte die Hand auf ihre Stirn. „Gut“, nickte er zufrieden. „Ihr habt kein Fieber mehr, das ist ein gutes Zeichen. Nun lasst mich Eure Verbände ansehen.“ Sanft erfasste er ihre verbundenen Hände, prüfte, ob sich auf der Oberfl fläche des Leinens Blutfl flecken oder Wundsekret zeigten, schien auch mit deren Zustand zufrieden zu sein und bettete sie vorsichtig zurück auf die Decke. Dann sah er sie unverwandt an, seine Hände nun entspannt über den Beinen gekreuzt. Margret gelang es mit Mühe, ihre Gedanken zu sortieren. „Wer seid Ihr? Ich kenne Euch von irgendwo her. Seid Ihr ein Medicus? Und wo bin ich hier?“ Der Fremde lächelte. „Ja, ich bin Medicus, unter anderem. Mein Name ist Jonas Thorgilsson, ich bin vor vielen Jahren aus dem hohen Norden hierhergekommen, ursprünglich um Handel zu treiben. Doch bald erkannte ich, dass Mediziner hier dringender gebraucht werden als Händler, und so ging ich eine Weile bei den besten Ärzten des Orients in die Lehre. Ihr seid hier in meinem Haus in Tyrus, wohin ich all die Menschen bringe, die längerer Behandlung bedürfen.“ Margret setzte mühsam in Gedanken ihre Erinnerungsfetzen zusammen. Was war geschehen? Wo hatte er sie aufgelesen, und wo 68
waren ihre Gefährtinnen? Ging es ihnen allen gut? Verzweifelt durchsuchte sie ihr Gehirn nach den letzten Eindrücken, bevor sie zum ersten Mal in diesem Raum, demnach in Tyrus, aufgewacht war. Sie erinnerte sich an eine allumfassende, bedrohliche Feuerwand, die sich vor ihren Augen erhoben und sie verschlungen hatte – und dann war nur noch schwarze, blutdurchtränkte Leere in ihrem Kopf, aus der sich seltsame Schauerwesen und gespenstische Heere erhoben und sie zu bedrohen schienen. Ob all das jedoch wirklich passiert war, konnte sie beim besten Willen nicht sagen – ihre Verbände sprachen allerdings dafür, dass zumindest etwas Wahres daran war. Der Fremde, der also Jonas hieß, schaute weiterhin geduldig lächelnd auf sie herunter. Margret meinte, sich nun zu erinnern, eben diesen Mann schon vorher einmal gesehen zu haben – hatte sie ihn nicht für Jesus gehalten? War dieser Fremde nun Jesus – oder hatte sie das nur angenommen? Hatte Jesus womöglich seine Gestalt angenommen oder gar dieser Jonas im Diesseits die Gestalt Jesu? All das schwirrte in ihrem Kopf und machte das Denken unmöglich. Zudem flackerten unerklärliche Bilder vor ihrem geistigen Auge: Sie sah Untiere mit weit aufgerissenen Mäulern vor sich und meinte gleichzeitig wie durch eine riesige, durchsichtige Kuppel heraus auf den Mann zu schauen, der jetzt auf dem Rand ihres Bettes saß. Und war da nicht auch Henry, der Freund ihrer Kindertage gewesen? Auf einmal erfasste die Angst sie wieder mit eiserner Hand, und sie fing an, sinnlos zu stammeln. „Immer mit der Ruhe“, sagte Jonas, der ihre aufkeimende Unruhe bemerkte und nun seine linke Hand beruhigend auf ihren verbundenen Arm legte. An seinem Finger trug er einen silbernen Ring, in dessen Reif seltsame Schriftzeichen eingeritzt waren. „Beruhigt Euch und dann der Reihe nach. Alles, was ich bisher weiß, ist, dass Ihr Margret heißt, eine englische Pilgerin seid und ich Euch mit Euren Gefährtinnen von den Ägyptern nahe Gaza freigekauft habe.“ „Meine Gefährtinnen, Ida und Fiamma, sind sie auch hier? Sind sie gesund? Und …“, erneut stieg Panik in ihr auf, „… und wie geht es Gereon?“ „Beide Frauen sind in meinem Haus, zusammen mit ihren Buben. Gereon geht es am besten von allen“, Jonas schmunzelte. „Der Kleine ist schon deshalb ein medizinisches Wunder, weil er in die69
ser Umgebung überlebt hat. Die anderen Freigelassenen wollten lieber ihrer eigenen Wege gehen, und ich hoffe sehr, dass diese sie nicht sofort wieder in zweifelhafte Gastfreundschaft geführt haben.“ Margret stutzte, hätte aber nicht zu sagen gewusst, warum – dann weckte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig an, so dass sie jetzt vorsichtig danach tastete, sie konnte dort einen Verband fühlen und so etwas wie eine Haube, doch … „Was ist mit meinem Haar passiert?“, fragte sie entsetzt. „Erinnert Ihr Euch nicht? Ihr seid ins Feuer gefallen, das Eure Haare abgesengt und Eure Kopfhaut verbrannt hat. Ich habe den traurigen Rest abscheren lassen müssen, vor allem um Eure Wunden besser behandeln zu können.“ Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie das hörte. Abgeschorene Haare, wie eine Verbrecherin, eine Verstoßene. „Seid nicht traurig“, meinte Jonas tröstend. „Ihr werdet sehen, bald wächst es wieder, und bis dahin seid Ihr wieder gesund und habt alle bösen Erinnerungen vergessen.“ Wenn das so einfach wäre, dachte Margret, nickte aber tapfer. „Und schließlich seid Ihr auch so sehr schön“, schmeichelte er. „Ihr heißt Margret – wisst Ihr, was dieser Name bedeutet?“ Sie schüttelte den Kopf, erinnerte sie sich doch nur, dass sie nach der Heiligen Margarethe von Antiochia benannt worden war. „Margarethe bedeutet ‚die Perle‘“, erklärte Jonas, „oder auch ‚Kind des Lichts‘. Daran müsst Ihr immer denken, denn nichts anderes wollt Ihr wieder werden, nachdem Ihr so lange Zeit in der feurigen Hölle verbracht habt – ein Kind des Lichts.“ Seine Hand berührte sanft ihren verbundenen Kopf, und Margret fragte sich insgeheim, warum sie das so schön fand. Jonas erhob sich, und auf sein Zeichen kam Said herein, der in der offenen Tür gewartet hatte. „Dies ist mein guter Geist Said“, stellte Jonas ihn vor. „Ihr könnt Euch sicher nicht mehr daran erinnern, aber er hat Euch mit hierher gebracht.“ Der Junge verbeugte sich vor dem Bett der Kranken und sah dann seinen Meister an, um dessen Wünsche zu erfahren. „Geh bitte hinunter in die Küche und sieh nach, ob die Köchin gerade eine wohltuende Suppe auf dem Herd hat. Dame Margret 70
hat lange nichts mehr zu sich genommen, und Zainabs Hühnersuppe wäre da ein guter Anfang!“ Sofort lief Said aus dem Zimmer, und beide sahen ihm nachdenklich hinterher. „Er sieht aus wie ein verzauberter Beduinenprinz“, bemerkte Margret versonnen. Jonas lachte. „Ja, das könnte stimmen! Leider kann er nicht sprechen. Ich weiß nicht sicher, ob er von Geburt an taubstumm ist oder ob ihn eine schreckliche Erfahrung erst dazu gemacht hat. Ich habe ihn vor über zehn Jahren vor einer Truppe Wegelagerer gerettet, die ihm übel mitgespielt hatten. Seitdem lebt er hier und ist inzwischen mein Assistent geworden.“ In diesem Moment kam Said mit einem Schüsselchen dampfender Suppe zurück, stellte es ab und sah seinen Meister fragend an – was hatte das Lachen zu bedeuten? Jonas wiederholte Margrets Bemerkung, und Said wurde tatsächlich etwas rot. Er bedankte sich mit einer ungelenken Verbeugung bei Margret für das Kompliment und verließ fluchtartig den Raum. „Ich wollte nicht unhöfl flich sein!“, entschuldigte sich Margret. „Nein, das wart Ihr auch nicht. Wir alle rätseln immer wieder, woher Said ursprünglich kommt, aber ich glaube nicht, dass wir dieses Geheimnis je lüften werden. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er selbst noch Erinnerungen an seine Herkunft oder sein früheres Leben hat. Aber nun müsst Ihr versuchen, etwas zu Euch zu nehmen – meine Perle!“ Nun war es an Margret, rot und verlegen zu werden, doch beide taten so, als bemerkten sie es nicht. Jonas half ihr in eine sitzende Position auf und hielt ihr die Schüssel mit der klaren duftenden Suppe an die Lippen. *** In den nächsten Tagen kam Margret immer mehr zu Kräften, und auch ihre Verbrennungen heilten gut, so dass sie schon bald keine Verbände mehr brauchte und das Tuch um ihren Kopf nur noch dazu diente, ihren geschorenen, mit Brandnarben bedeckten Schädel zu verbergen. Es dauerte nicht lange, dann konnte sie das Bett verlassen und erste kurze Ausfl flüge zum Fenster oder auf die Galerie unternehmen. Beides war ihr gleich lieb – das unbändige Trei71
ben in den Straßen und Gassen vor dem Fenster, dem sie hätte tagelang zuschauen können, ebenso wie die friedliche Atmosphäre des Spitalhofes mit seinem Brunnen und den beständig zwitschernden Vögeln. Jonas, mit dem sie sich immer mehr anfreundete, sah mehrmals am Tag bei ihr vorbei, ging aber ansonsten seinen vielfältigen Geschäften nach, die nicht nur die Krankenpfl flege, sondern auch Arbeiten im Handelskontor im Vorhof und in der Stadt umfassten. So blieb Margret oft für lange Zeit ihren düsteren Gedanken überlassen, denn je besser ihre körperliche Verfassung wurde, desto deutlicher traten auch die Erinnerungen an ihren Traum – oder ihre Vision? – zutage. Margret verstand nicht, woher diese Schreckensbilder kamen. Waren sie eine Warnung, ein Zeichen Gottes oder vielmehr eine heimtückische Einfl flüsterung des Teufels? Warum hatte sie, die über dreißig Jahre lang eine sehr patente, rationale Frau gewesen war, hier im Heiligen Land auf einmal Visionen? Oft genug hatte sie selbst über die heimischen Mystikerinnen gespöttelt, die mit vergeistigtem Blick von ihren nächtlichen Begegnungen mit Heiligen oder gar dem Herrn Jesus selbst berichteten, und nun sollte sie selbst eine sein? Das wollte ihr einfach nicht in den Sinn. Gern hätte sie mit Jonas darüber gesprochen, hatte aber bislang noch nicht den Mut dazu aufgebracht, schließlich warnten viele Stimmen davor, einen solchen Traum weiterzuerzählen. War nicht schon mancher Träumer für seine Redseligkeit mit dem Tode bestraft worden? Noch nie in ihrem Leben war die Angst vor dem Tod so präsent gewesen wie jetzt – nicht einmal auf den Mauern Jerusalems oder in der Haft der Sarazenen. Ihr kam eine Stelle aus einer nordischen Saga in den Sinn, die genau auf ihre jetzige Lage zu passen schien: Ich schien verloren zwischen den Welten während um mich herum Feuer brannten. Schließlich aber, als sie eines Tages schier an ihrer Last zu zerbrechen drohte und sich weigerte ihr Bett zu verlassen, war es Jonas, wohl ahnend, was sie quälte, gelungen, sie zum Reden zu bringen, 72
indem er sie darauf hingewiesen hatte, dass sie allein die Lösung für ihr Problem nicht würde finden können. Margret hatte zunächst abweisend reagiert, aber als er nicht nachließ in seinem Drängen, hatte ihr die Kraft gefehlt, weiterhin Widerstand zu leisten. Und so beschrieb sie, zunächst zögerlich, dann immer befreiter, die Felsengänge und Höhlen mit ihren vielfältigen Gefahren, den wunderbaren Engel und seine spätere Metamorphose, die gequälten Sünder und die beiden in Bälde im Totenreich zu erwartenden weltlichen Herrscher, schließlich die ungezählten Brücken der Prüfung. Zuletzt berichtete sie von dem Totenheer, vor dem sie sich am meisten ängstigte und vor dem er – Jonas? Jesus? – sie am Ende gerettet hatte. All das hörte er sich ruhig und mit ernstem Gesicht an und überlegte lange, bevor er antwortete. Sie hatte ihn für Jesus gehalten? „Danke für das Kompliment!“, schmunzelte er, wurde jedoch sofort wieder ernst. Auch er hatte sich vor vielen Jahren einmal in seinen Träumen von einem Toten verfolgt gefühlt – allerdings war das ein ganz bestimmter, ihm nur zu gut bekannter Toter gewesen, und er hatte genau gewusst, warum dieser ihn wieder und wieder heimsuchte. Dies war der Grund dafür gewesen, Heiler zu werden und in Jórsalaland, wie man im Norden das Königreich Jerusalem nannte, zu bleiben. Auch kannte er solche Heere von draugar, r von wiedergängerischen Toten, die die Menschen in mörderischer Absicht angriffen, aus den nordischen Sagen seiner weit entfernten Heimat. Dass Margrets Brandwunden aber ebenfalls Folge dieser Vision gewesen seien, konnte er widerlegen – schließlich war er selbst Zeuge gewesen, wie der Ägypter sie ins Lagerfeuer geschleudert hatte, und dass der tote Ritter später in ihrem Traum genau diese Stellen an ihren Armen berührt und verbrannt hatte, erklärte er mit den Schmerzen, die diese Verletzungen hervorgerufen hatten. Außerdem sprach noch ein weiteres Argument dafür, dass Margrets Wunden eindeutig real waren, denn in den bekannten Geschichten über die übernatürliche Herkunft solcher Verletzungen, die sich plötzlich nach dem Aufwachen aus dem Traum zeigten, zeichneten sich diese dadurch aus, dass sie nicht mehr verheilten und immer wieder aus Neue aufbrachen – dies war bei Margret eindeutig nicht der Fall. Wer jedoch die toten Ritter und die beiden Herrscher waren, wusste auch Jonas nicht zu sagen. „Einer der Ritter“, berichtete Margret zögernd, „war eindeutig Henry, der Sohn unseres Gutsherren – wir kennen uns seit unserer 73
Kindheit; sein Vater hatte erlaubt, dass ich mit ihm zusammen unterrichtet wurde. Ich weiß, dass er das Kreuz genommen hat, kann aber nicht sagen, ob er noch lebt oder schon gefallen ist. Er bat mich inständig, diesen Krieg zu beenden und ihren Seelen Frieden zu geben – wie um alles in der Welt könnte ich das tun?“ Margret war jetzt sehr aufgeregt und verzweifelt. „In Jerusalem im Spital hatte ich schon einen ähnlichen Traum – ich hatte ihn lange Zeit fast vergessen. Auch dort haben mich ganze Heerscharen von Lebenden und Toten um Hilfe gebeten, doch was kann ich allein denn ausrichten?“ „Sicher ist es nicht so direkt gemeint“, beruhigte sie Jonas. „Ich verstehe es so, dass du dich nach deinen Erfahrungen für das Heilige Land einsetzen sollst – etwa indem du hier eine Aufgabe übernimmst. Aber welche genau gemeint ist, kann ich dir auch nicht sagen – es sei denn, du würdest mir hier im Spital helfen!“, fügte er mit verschmitztem Lächeln hinzu, auf das Margret jedoch nicht reagierte. „Und die beiden Könige? Was bedeuten die?“ Jonas zog sich am Ohrläppchen, was er immer tat, wenn er überlegte. „Hat dir nicht der Engel gesagt, du würdest es vor Akko erkennen? Demnach gehst du – oder gehen wir – nach Akko, und ich denke, dann wird sich vieles von dem, was dich jetzt erschreckt, aufklären. Versuche jetzt nur, dich nicht in diesem „Traumgestrüpp“ zu verfangen, denn aus dem barzach, wie die Araber das Zwischenreich zwischen Tod und Leben nennen, bist du schon längst wieder zurückgekehrt.“ *** Am folgenden Tag fühlte Margret sich bereits so gut, dass sie – mit Saids tatkräftiger Hilfe – einen ersten Rundgang im Haus unternehmen konnte. Dabei sah sie endlich auch ihre Gefährtinnen wieder, die Jonas zunächst nicht zu ihr gelassen hatte. Beide sahen sichtlich erholt aus und berichteten Margret kichernd und lachend von all den schönen Erlebnissen, die sie und ihre Buben seit ihrer Ankunft hier im Haus gehabt hatten. „Wieso Buben?“, wunderte sich Margret, der nun auch Jonas’ Bemerkung wieder einfiel. fi Da sah sie auch schon Moses, der sich an Fiammas Kleid hochzog und auf ihren Schoß hangelte. Die Ge74
nuesin berichtete kurz die traurige Geschichte des kleinen Findelknaben, der mit Gottes – und Jonas’ – Hilfe nun ebenfalls ein Heim hier in Tyrus und in ihren Armen gefunden hatte. Besonders angetan hatte es ihnen allen das Badehaus – kein Wunder nach der entbehrungsreichen Zeit im Arbeitslager –, und Ida erzählte strahlend, wie der verblüffte kleine Gereon seine erste Begegnung mit dem warmen Badewasser gemeistert hatte. Zunächst nur vorsichtig Arme und Beine ausstreckend und die Wärme und Konsistenz des Wassers kostend wie eine fremdartige, deliziöse Speise, hatte er sich wenig später aus den Händen seiner Mutter befreit, war freiwillig untergetaucht und wie ein junger Otter herumgepaddelt, so als hätte er noch nie etwas anderes getan. Seither tat er seiner Mutter stets quengelnd kund, wann es seiner Meinung nach wieder einmal Zeit für einen Besuch des Bades war – also mindestens einmal am Tag. Da Jonas von ihnen zwar keine Bezahlung in barer Münze für seine Hilfe erwartete, wohl aber, dass jede nach ihren persönlichen Möglichkeiten und Fähigkeiten beim Betreiben des Spitals mithalf, hatte sich Ida zum ersten Mal seit Jahren wieder an einen Webstuhl gesetzt, der zwar etwas anders konstruiert war, als die von zu Hause gewohnten, aber doch vertraut genug, um ihm lange Bahnen feiner Gewebe oder aber Leinenbinden für die Verletzten zu entlocken. Sie unterstützte drei Musliminnen, die schon lange beim Medicus arbeiteten und sie herzlich aufgenommen hatten. Fiamma dagegen half in der Küche aus, sobald dort geschickte Hände gebraucht wurden, und bereicherte die tyrenischen Spezialitäten mit ländlichen Rezepten aus ihrer Heimat, die von der experimentierfreudigen Köchin begeistert ausprobiert wurden. Die Buben waren immer in der Nähe der beiden Frauen, die sie gut neben ihren Arbeiten beaufsichtigen konnten. So wurde das rhythmische Geräusch des Webstuhls für den kleinen Gereon zu seinem liebsten Schlafl flied, während Moses das Klappern und Gewusel in der Küche bald kaum noch wahrnahm. Ihn faszinierten vielmehr die Singvögel im Innenhof – stundenlang konnte er stumm vor den Käfi figen stehen oder sitzen und die buntgefi fiederten Sänger beobachten. Er hatte bereits angefangen, ihre Laute nachzuahmen, und Jonas war sich sicher, dass er nun auch bald mit dem Sprechen beginnen würde.
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Das ganze Haus war mit verzierten Holzmöbeln sowie reichen Textilien – Vorhängen und Drapierungen – ausgestattet, diese waren entweder selbstgewebt oder von Jonas auf seinen Reisen erworben worden. Schließlich war es eine der Spezialitäten des Händlers Jonas Thorgilsson, im gesamten Orient die wunderbarsten Stoffe zu kaufen und sie, zusammen mit Zucker und anderen arabischen Kostbarkeiten, nach Europa zu verhandeln. Das so verdiente Geld wiederum nutzte er zum Betreiben seines Spitals. Zwischen diesen erkennbar orientalischen Tuchen hingen an manchen Stellen jedoch auch kleine oder größere Fahnen, die mit einer fremdartigen Darstellung bestickt waren: Sie zeigten auf gelbem Grund ein Seeungeheuer mit langem, geringeltem Drachenschwanz und zahnbewährtem Maul, das einen nackten Mann auf einen Strand spuckte. Als Margret Jonas fragte, ob er mit dem Wappen auf die biblische Geschichte von Jonas anspielen wollte, bestätigte er ihre Vermutung. Auch wenn es genau genommen kein Wappen war, was die Tücher zeigten, denn als Nichtadeliger hatte Jonas darauf keinen Anspruch. Er nannte das Motiv seine Hausmarke, und deren Ausführung war ganz im nordischen Stil seiner Heimat gehalten. Er hatte das Bild selbst vorgezeichnet und war überrascht gewesen, wie genau es den einheimischen Stickerinnen gelungen war, es umzusetzen. Am häufi figsten hielt Margret sich im Innenhof auf, sie liebte die üppigen grünen Pfl flanzen, die dort und auf der Galerie aufgestellt waren – verschiedenste Palmenarten, blühende Hibiskussträucher von zum Teil immensen Ausmaßen und andere Blütenpflanzen fl noch nie gesehener Arten sowie kleine Bäumchen, die Zitronen oder Orangen trugen. An manchen Stellen des Hauses meinte man, eher in einem riesigen Garten denn im Stadthaus einer übervölkerten Metropole zu sein. Margret genoß den reichen Duft, den die verschiedenen Pflanfl zen verströmten, aber auch die unzähligen Farben, die im Wechselspiel des Lichtes dem Hof eine immer neue Atmosphäre verliehen. Jede Ecke im Haus lud so auf ihre individuelle Weise zum Ausruhen und Meditieren ein, was der Patientin bei ihrer Genesung sehr hilfreich war. Eine Besonderheit war der große zwölfeckige Brunnen, der in der Hofmitte stand, in ihm schwammen kleine zierliche Fische, wie sie Margret noch nie zuvor gesehen hatte. 76
„Ich wusste gar nicht, dass Gott auch so kleine Fische geschaffen hat“, bemerkte sie einmal gedankenverloren zu Jonas. „Denn wozu könnten die nützlich sein? Zum Essen sind sie ja viel zu klein!“ Jonas lachte. „Hältst du es denn für ausgeschlossen, dass Gott sie allein deshalb geschaffen hat, um uns Menschen zu erfreuen?“ Nach einigen Tagen zeigte Jonas Margret die Krankenstation und die Kräuterkammer, beides waren große, helle Räume mit praktischem Mobiliar. Besonders letzterer hatte es Margret angetan, denn dort roch es wunderbar nach allen Arten von Heilkräutern. Auf einem riesigen Tisch standen Mörser, verschiedene Teller und Korbschalen, Apothekergefäße sowie Destillierkolben und ein Alembik herum. Hier verarbeitete Jonas mit Saids Hilfe die Kräuter und Pfl flanzen, die er für seine Medizin benötigte. An der Rückwand der Kräuterkammer gab es eine zweite Tür, die in einen großen ummauerten Garten führte. In ihm zogen Jonas, Said und Zainab all jene Kräuter und Pflanzen, fl die in der Stadt wachsen konnten, so dass sie nur für die selteneren Wüstengewächse Sammeltouren unternehmen oder noch rarere Arten auf dem Markt einhandeln mussten. Hier fühlte Margret sich vom ersten Augenblick an heimisch – in der folgenden Zeit kam sie oft in diesen Garten und setzte sich im Schatten einer Laube nieder, um ihre Gedanken zu ordnen oder einfach nur die paradiesische Atmosphäre zu genießen. Auch über Jonas dachte sie in diesen Momenten häufi fig nach, denn er faszinierte sie immer mehr, je besser sie ihn kennenlernte. Er war ein hervorragender, fürsorglicher Heiler und gleichzeitig ein zäher, scharf rechnender Geschäftsmann. Am meisten aber bewunderte sie, dass er allen Menschen mit gleichbleibender Freundlichkeit und Güte begegnete, egal ob es sich um fränkische Kreuzfahrer oder einheimische Bauern handelte. Auch seine eigenen Helfer, ob nun Türhüter oder Krankenpfl flegerin, behandelte er eher wie persönliche Freunde, und sie dankten es ihm, indem sie jeden seiner Aufträge sofort und nach bestem Können erfüllten. Sobald Jonas aber das Gefühl hatte, irgendjemand wollte ihn übertölpeln oder sich ihm oder seinen Schützlingen gegenüber schlecht benehmen, konnte er schlagartig so wütend werden wie ein Wüstengewitter. Er hasste es, wenn Hilfl flose übervorteilt und ausgenutzt oder aber Schwache nur zum Spaß gequält wurden und brachte oft die 77
Opfer solcher Zwischenfälle von den Straßen der Stadt mit zurück ins Spital. Bei den Einwohnern von Tyrus war der Medicus als gerechter Herr bekannt – und bei allen Spitzbuben gefürchtet. Und bei Margret war er auf dem besten Wege, ihr Herz zu erobern … *** Eines Spätnachmittags, Margret war gerade am Brunnen, der zu einem ihrer Lieblingsplätze im Haus geworden war, öffneten sich die inneren Tore und lautes Stimmengewirr scholl herein. Helfer brachten eine Trage, auf der ein verwundeter Mann lag, der erbärmlich schrie und wimmerte. Margret schrak auf und ging spontan auf die Träger zu, da sah sie, warum der junge Mann, ein Kreuzritter, solche Schmerzen hatte: Jemand hatte ihm beide Hände an den Handgelenken abgehackt und die Stümpfe bluteten so sehr, dass sie auf dem Boden eine breite Blutspur hinterließen. Die provisorisch angelegten Verbände waren schon unterwegs durchgeblutet. Jonas begleitete die Trage und dirigierte sie ins Behandlungszimmer, das gleich neben der Kräuterkammer im rückwärtigen Teil des Hofes lag. Der junge Ritter wurde dort hineingebracht und auf den Tisch gelegt. Margret folgte, ohne es zu wollen. „Kannst Du ihm nicht die Medizin geben, die du mir damals gegeben hast?“, wandte sie sich an Jonas. „Die Medizin ist dafür zu schwach, das bringt nichts“, erwiderte er hastig. „Bitte, Margret, ich muss mich jetzt um den Jungen kümmern, geh zurück in den Hof!“ Margret gehorchte erschrocken, und während Jonas und seine Helfer fieberhaft arbeiteten, um die heftige Blutung zu stillen, was ihnen jedoch nicht gelingen wollte, setzte Margret sich benommen auf den marmornen Rand des Brunnens. Von hier aus hatte sie zumindest noch ein wenig Einblick in das Behandlungszimmer. Doch nicht einmal das Kauterisieren, das Ausbrennen der Armstümpfe, konnte mehr helfen – nach und nach wurde das Wimmern des jungen Ritters immer leiser, bis es schließlich ganz aufhörte. Sein Leichnam wurde von einigen Helfern stumm mit einem Tuch bedeckt und zurück in den Vorhof getragen, während andere sich daranmachten, den Behandlungsraum zu säubern und die Blutspur auf den Fliesen des Innenhofs zu beseitigen. 78
Scheinbar Ewigkeiten später erhob sich Margret und ging ins Behandlungszimmer, um nach Jonas zu sehen. Alles roch stechend nach verbranntem Fleisch und Knochen. Inzwischen waren die meisten der vielen Kerzen wieder gelöscht, die zur Notbehandlung des Ritters entzündet worden waren, sodass der Raum im Halbdunkel lag. Jonas stand nur mit der Bruche bekleidet am hinteren Tisch und wusch sich Oberkörper, Arme und Hände; sein blutbeflecktes fl Obergewand hatte er achtlos auf einen der Hocker geworfen. Fast lautlos kam Said hinter Margret herein, um ihm einen frischen Kaftan zu bringen. Jonas nickte ihm zum Dank müde zu und bemerkte erst jetzt Margret, die neben dem Behandlungstisch stand. Er trocknete sich ab, warf das Gewand über und kam zu ihr. „Komm weg hier!“, sagte er leise. Sein Gesichtsausdruck war wie versteinert, fast wie aus einer anderen Welt. Er fasste Margret am Arm und gemeinsam verließen sie den Raum, in dem eben noch ein Mensch seinen letzten Atemzug getan hatte. Er führte sie hinauf in sein Arbeitszimmer, wo Said inzwischen Kerzen und Kohlebecken entzündet sowie einen Imbiss hergerichtet hatte und nun mit besorgtem Blick auf weitere Anweisungen wartete. „Ruh dich aus, Junge“, meinte Jonas tonlos. „Heute haben wir einmal nicht gewonnen.“ Said nickte und zog sich zurück, während sein Meister sich auf einige Sitzkissen fallen ließ und Margret bedeutete, es ihm gleichzutun. Zögernd setzte sie sich auf den äußersten Rand der Kissen und sah ihn stumm an. Jonas goss etwas Wein in zwei Becher und reichte einen davon Margret. Noch immer war er tief in Gedanken und sprach lange kein Wort. Margret hatte noch nie einen so mitfühlenden, ja mitleidenden Menschen wie ihn erlebt, es war beinahe, als verursachte der Tod des Ritters Jonas selbst körperliche Schmerzen. Sie war zutiefst berührt und fasziniert von diesem Mann. „Es gibt Tage“, brach Jonas plötzlich die dichte Stille, „an denen verzweifl fle ich fast an meiner Berufung. Heute ist solch ein Tag. Natürlich ist mir klar, dass ich nicht alle retten kann – und trotzdem ist es unendlich schwer.“ 79
Margret fröstelte, obwohl sie neben dem Kohlebecken saß. „Wer hat dem Ritter das angetan?“, fragte sie. „Irgendwelche muslimischen Eiferer – ich weiß es auch nicht genauer.“ „Was ich einfach nicht verstehe“, erwiderte Margret bedrückt, „ist, warum Menschen so etwas anderen Menschen antun können. Es ist so furchtbar und doch passiert es jeden Tag an jedem Ort.“ „Das liegt in unserer Natur – in jedem von uns“, seufzte Jonas. „Auch ich habe schon einmal aus Übermut einen Menschen getötet.“ Margret sah ihn entsetzt an, und er sprach kaum hörbar weiter. „Ich war noch sehr jung, damals, zu Hause auf Island. Mein Freund Sigurd und ich balgten uns auf dem Hof – du weißt, eines dieser Spiele, um herauszufinden, fi wer der Stärkere ist. Auf einmal schlug ich Sigurds Kopf auf einen Stein, der halb im Boden lag – ich hatte die Gefahr einfach nicht gesehen und natürlich auch noch keine Vorstellung davon, wie schnell ein menschlicher Schädel bricht, wenn man durch Zufall die richtige Stelle trifft. Das Spiel war aus, Sigurd war tot, und ich musste bald darauf Island verlassen.“ „Das ist ja schrecklich!“, entfuhr es Margret. „Aber du hast ihn nicht vorsätzlich umgebracht, es war ein Unfall ...“ „Sicher, es war kein geplanter Mord, aber das änderte nichts an meiner Verbannung.“ Langsam begann Jonas zu erzählen – von den unbeschwerten Kinderjahren voller Abenteuer und Legenden auf Island, die seinen Charakter geprägt hatten. Von seinem Vater, der ein kleines Handelskontor auf der Insel geleitet hatte, und seiner Mutter, die die Tochter eines reichen seeländischen Händlers war. Alle Vorzeichen hatten darauf gedeutet, dass der junge Jonas schon bald in die Geschäfte seines Vaters und Großvaters einbezogen werden würde – bis zu jenem unglückseligen Tag, als das Unbegreifl fliche geschehen war. Jonas wurde auf dem nächsten Althing in die Verbannung geschickt, obwohl seine Familie das geforderte Wergeld an Sigurds Sippe gezahlt hatte. Der junge Mann hatte sein ganzes bisheriges Leben in Frage gestellt, verzweifelt Gott und alle Heiligen um Hilfe gebeten und sich schließlich entschlossen, eine Pilgerfahrt ins weit entfernte Jórsalaland, das Heilige Land, und nach Jórsalaborg, Jerusalem, anzutreten. Dorthin war zu Anfang des 12. Jahrhunderts 80
schon ein norwegischer König, der ebenfalls den Namen Sigurd trug und zu Ehren seiner Reise den Beinamen ‚Jórsalafari‘, also ‚Jerusalemfahrer‘, erhalten hatte, gepilgert, und seinem Vorbild folgten seitdem viele andere Bewohner des Nordens. Sein Vater hatte ihm daraufhin die Namen verschiedener Handelspartner im Mittelmeerraum und im Orient mitgegeben, an die sich Jonas wenden sollte, allerdings hatte der noch lange nicht wieder an Geschäfte denken können. Zu groß waren seine Schuldgefühle und Reue gewesen, aus Übermut seinen besten Freund getötet zu haben. Vielmehr hatte er gehofft, dass es auch ihm helfen würde, dieses Jerusalem zu sehen und am Ort der Kreuzigung Jesu zu beten und zu meditieren. Doch noch bevor er in Jerusalem angekommen war, war er zusätzlich von Alpträumen heimgesucht worden, in denen sein toter Freund ihn verfolgt und um die Rettung seiner Seele gebeten hatte. Fast jede Nacht war Sigurd schließlich in seinen Schlaf gekommen, so dass Jonas alles Mögliche versucht hatte, nur um nie wieder einzuschlafen zu müssen. Voller Verzweifl flung hatte er endlich einen berühmten muslimischen Arzt in Jerusalem aufgesucht, um von ihm ein Mittel zu bekommen, das ihn wach bleiben lassen würde und auf diese Weise die Geister vertreiben sollte. Der Medicus hatte ihm jedoch keine Medizin, sondern Arbeit gegeben – er hatte ihn als seinen Lehrling angestellt und ihm so den Weg gewiesen, das Tal der Verzweifl flung zu durchschreiten. Obwohl Jonas nie zuvor daran gedacht hatte, Medizin zu studieren – war doch von klein auf klar gewesen, dass er in die Handelsdynastie seiner Eltern und Großeltern eintreten würde –, hatte jetzt auf einmal alles einen Sinn ergeben. Dadurch, dass er anderen Menschen half und ihnen vielleicht sogar das Leben rettete, konnte er zumindest etwas von der Schuld, die er durch Sigurds Tod auf sich geladen hatte, abtragen und so aus der schwärzesten Nacht seiner Seele wieder ans helle Licht des Tages treten. Von diesem Augenblick an, da er die beginnende Vergebung Gottes gespürt hatte, war Jonas nicht mehr derselbe Mensch wie zuvor gewesen. Als er bald darauf eine Darstellung des biblischen Jonas-Mythos gesehen hatte, hatte er sich darin schlagartig wiedererkannt – das Seeungeheuer hatte ihn zwar verschlungen und lange Zeit in seinem dunklen Bauch gefangen gehalten, aber schließlich doch wieder ausgespien. Damit hatte er ein neues Leben geschenkt bekommen – ja, es kam fast einer Wiedergeburt gleich. 81
„Und genau an diesem Punkt bist du jetzt, Margret“, schloss er. „Die Hölle liegt hinter dir, du kannst ein neues Leben beginnen.“ „Ja, du hast Recht, ich bin nach meiner Gefangenschaft auch wiedergeboren worden – durch deine Hilfe“, erwiderte sie dankbar. „Wie der Phoenix, der aus den Flammen neu geboren wird …“, entgegnete er versonnen. „Hast du von diesem Fabelwesen gehört? Es ist ein wunderbarer Vogel, der statt zu sterben in Flammen aufgeht, und aus der Asche kommt dann ein perfekter junger Phoenix hervor.“ Doch Margret hatte ihm gar nicht richtig zugehört, ihre Gedanken waren zurück zu ihrer Gefangenschaft in der Wüste gewandert. Sie sah sich wieder mickrige Pfl flänzchen ausgraben und vorsichtig kosten. „Damals in dem Lager“, begann sie nachdenklich, „haben wir versucht, unter den spärlichen Wüstenpfl flanzen irgendetwas Essbares zu finden – und oftmals konnten wir uns nicht sicher sein, ob das Kraut nicht doch giftig war. Ich habe mir geschworen, dass mir das nie wieder passieren soll. Ich wollte alles über Pflanzen fl und Kräuter lernen, denn diese Unsicherheit zu ertragen, war schrecklich.“ „Nun, da haben wir ja deine neue Aufgabe!“, freute sich Jonas. „Ich kann dir alles beibringen, was du über Heilkräuter wissen musst, und ich besitze viele Bücher darüber. Du bleibst einfach hier und arbeitest dich ein.“ Margret musste ob dieses nicht völlig uneigennützigen Vorschlages lächeln, fühlte sich aber einer solchen Herausforderung noch nicht gewachsen. Die lange Haft bei den Ägyptern hatte auch ihre Persönlichkeit verändert, selbst wenn sie nicht im Bauch eines Wales, sondern in einem Bergwerk gefangen gewesen war. „Niemand drängt dich, Margret“, beruhigte Jonas sie „Du kannst dir erst einmal in Ruhe und ohne Zwang die Gestalt und den Geruch einiger Kräuter einprägen – alles andere kommt dann später von selbst. Willst du es zumindest versuchen?“ Margret nickte zögernd, und Jonas, der sich inzwischen bequem zurückgelehnt hatte, war fürs erste zufrieden damit. Dann bat er sie, auch ihm etwas von ihrem Leben zu erzählen, und sie war einverstanden. Nachdem sie sich ebenfalls bequemer hingesetzt hatte, begann sie, ihm von ihrer Herkunft und ihrem lebenslangen Wunsch, Jerusalem zu sehen – oder besser wiederzusehen –, zu berichten. Sie schilderte die langen, glücklichen Jahre in Nordengland, ihre Liebe zur Natur und die Jahreszeiten am Bibersee – denn nichts 82
anderes bedeutete „Beverley“, der Name ihrer Heimatstadt, die einen Biber im Wasser im Wappen führte. Sie beschrieb, wie der kleine Marktfl flecken im Laufe ihrer Jugend immer größere wirtschaftliche Bedeutung erlangt hatte, sodass sie als Erwachsene fast gemeint hatte, das Beverley ihrer Kindheit nicht mehr wiederfinden fi zu können. Sie erwähnte auch ihren Vater, der Möbeltischler gewesen war und seine Waren bis nach York und Kingston verkauft hatte, wohin Margret ihn manchmal auf den Markt hatte begleiten dürfen, und der ebenso wie ihre Mutter eines Tages von einem Feuer verschlungen worden war. Sie schloss mit dem Eintritt ihres Bruders Thomas ins Kloster, der zuvor das Besiegen ihrer eigenen Selbstsucht nötig gemacht und letztlich dazu geführt hatte, dass sie auf Pilgerreisen gegangen war. Sie verschwieg auch nicht ihre Zweifel bezüglich ihrer Motivation – hatte ihre unstillbare Sehnsucht nach Pilgerreisen wirklich spirituelle Gründe oder war sie allein Ausdruck ihrer angeborenen Neugier und Abenteuerlust? Seit der Engel in ihrer Vision sie dies gefragt hatte, musste sie immer wieder darüber nachdenken und forschte fortwährend nach ihren wahren Motiven. Und sie gestand, dass sie nach wie vor Angst hatte, dass das höllische Heer sie holen würde – nun da sie Jonas von ihren Traumbildern und Ängsten erzählt hatte. „Ich kenne aber viele solcher Geschichten“, versuchte dieser sie zu beruhigen, „in denen die Visionäre noch viele Jahre gelebt haben, obwohl sie von ihrem Traum erzählt haben. Bitte hab deswegen keine Angst.“ „Aber ich habe Dinge gesehen, die kein sterbliches Wesen sehen darf“, entgegnete sie voller Verzweifl flung. „Das habe ich auch, Margret“, antwortete Jonas und nahm ihre Hand. „Wenn es allein danach ginge, hätte ich schon vor vielen Jahren den Tod finden müssen – und ich lebe noch, denn ich habe eine Aufgabe. Du musst einfach bereit sein, die deine anzunehmen.“ Margret war zwar nicht überzeugt, wollte aber nicht weiter über dieses Thema sprechen. Stattdessen berichtete sie Jonas von ihrer Teilnahme an der Verteidigung Jerusalems, das schon wenige Tage nachdem sie dort angekommen war, von Saladin unter Belagerung genommen worden war. Sie erzählte auch von Marjam, der Enkelin des Abo des Moulins und auf einmal leuchteten Jonas’ Augen auf. „Ich kenne die Familie gut – ich habe damals meinem Meister dabei geholfen, Marjam auf die Welt zu bringen. Ohne uns wäre die Geburt schlimm ausgegangen, denn das Kind wollte sich im 83
Körper Hamzas, seiner Mutter, nicht drehen. Ich habe hineingefasst und nachgeholfen, denn ich hatte damals von allen die schmalsten Hände. Ja, ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen – die winterliche Gewitternacht voller Wolkenbrüche und Donnergrollen, die von manchen als schlechtes Vorzeichen interpretiert wurde. Die enge, überheizte Stube im damals noch alten Haupthaus des Landgutes, die Angst aller um Mutter und Kind. Mir ist sogar, als könnte ich noch die Kräutermischung riechen, die die Hebammen nahe bei Hamzas Gebärstuhl in mehreren Kohlebecken verbrannt haben und den eilig aus Ibelin herbeigerufenen Kaplan hören, der fortwährend die Anrufung an Lazarus rezitierte, ‚Lazarus, komm heraus‘, und damit alle nur noch nervöser machte.“ „Aber wieso ausgerechnet diese Bibelstelle? Sie bezieht sich immerhin auf den toten Lazarus, der wiederauferstehen soll, und nicht auf die Geburt eines Kindes!“, wunderte sich Margret. „Sicher, und trotzdem wird genau diese Stelle sehr gerne bei schwierigen Geburten gebetet, um das Kind aus dem Leib der Mutter zu rufen. Auch die Heilige Margarethe als Beschützerin der Geburt hat er angerufen, und natürlich die Jungfrau Maria. Doch alles half nichts, und so schickte mein Meister mich vor – zum großen Entsetzen aller Helfer und insbesondere des Kaplans. Abo und sein Sohn Anno aber wollten nur, dass Mutter und Kind überlebten – denen war es gleich, wer das im Endeffekt wie bewirkte. Natürlich hatte ich große Angst und auch Scheu vor dieser Aufgabe – du kannst dir sicher vorstellen, wie erleichtert ich war, wir alle waren, als das Drama endlich sein glückliches Ende nahm.“ Margret blickte ihn stumm an – mit einem Mal war ihr klar, dass hinter all dem, all jenen schrecklichen und tröstlichen Ereignissen ein Plan Gottes zu erkennen war, der seine Kinder auf ihren Lebensbahnen lenkte und ihnen ab und zu Begegnungen schenkte, die ihre weitere Existenz nachhaltig veränderten. Da fiel ihr Blick mit einem Mal wieder auf den merkwürdigen Ring, an dem Jonas gerade wie so oft geistesabwesend drehte, und Margret fragte ihn nach dessen Bedeutung. „Es ist ein magischer Ring“, gab er geheimnisvoll zur Antwort. „Ein magischer Ring?“ Margret sah ihn mit großen Augen an. „Du meinst, du kannst damit zaubern? Aber ich dachte, du bist Christ und glaubst nicht an solche Dinge!“ 84
Jonas lachte. „Sicher bin ich getaufter Christ und glaube weniger an Magie als an Vorsehung, aber“, er blickte sie nun sehr ernst an, „Magie muss nicht immer Zauberei bedeuten. Nein, der Ring gehörte einem meiner Lehrer, einem jüdischen Arzt – es sind hebräische Schriftzeichen, die du hier siehst, und sie geben in verschlüsselter Form eine Beschwörung des Herrn wieder, denn bei den Juden darf der Name Gottes nicht ausgesprochen werden. Einen solchen Ring zu tragen, soll Schutz in allen Lebenslagen bieten, auch wenn das nicht der Grund dafür ist, warum ich ihn behalten habe. Dieses Schmuckstück ist das Einzige, was ich noch von meinem Mentor habe. Er wurde vor einigen Jahren von fanatischen Kreuzfahrern umgebracht und mit seinem ganzen Haus, all seinen Büchern, medizinischen Geräten und Heilmitteln darin verbrannt. Als ich davon erfuhr, war alles schon zu spät, ich konnte ihm nicht mehr helfen. Diesen Ring fand ich unversehrt in der Asche des Hauses. Ich habe ihn zur Mahnung behalten – und zur Erinnerung.“ Er stockte. „Weißt du, solche Ereignisse lassen mich manchmal am christlichen Glauben zweifeln. Warum meinten ausgerechnet Christen, ihn trotz all seiner Menschlichkeit und seines medizinischen Wissens auslöschen zu müssen? Die Muslime können genauso fanatisch sein, aber in manchen Punkten sind sie eindeutig toleranter als wir Christen – und ich muss zugeben, das sagt mir sehr zu.“ Margret verstand, was er damit meinte, auch sie war in Jerusalem sehr vom Edelmut Saladins beeindruckt gewesen. „Er ist ein sehr ehrenhafter Mann“, nickte Jonas. „Ich habe vor einigen Jahren einen seiner kleinen Söhne behandelt. Als der Sultan mich um Hilfe bat, war es ihm gleich, ob ich Christ, Jude oder Muslim war. Er hatte von meinen Behandlungserfolgen gehört und mich rufen lassen.“ „Aber was wäre geschehen, wenn du seinem Sohn nicht hättest helfen können?“ „Das weiß ich nicht, denn ich konnte den Knaben retten. Zum Dank hat Saladin mir Buraq, meine Stute, geschenkt – unter anderem. Nein, ich glaube nicht, dass er anders reagiert hätte, wenn ich nur alles Menschenmögliche zur Rettung seines Sohnes getan hätte.“ Sie redeten noch lange in dieser Nacht, bis sie irgendwann so müde wurden, dass sie nebeneinander auf den Sitzkissen einschliefen – zusammengerollt wie zwei Katzen.
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I IV
Von Liebe, Wahn und Eifersucht Frühjahr/Sommer 1190 Als sich eine Schwadron von Tempelrittern dem Hügel nördlich von Akko näherte, tauchten auf einmal auf allen Seiten sarazenische Kämpfer auf. Beide Abteilungen bewegten sich langsam, aber stetig aufeinander zu, die Templer in fester Schlachtordnung, die Sarazenen in einer langen, lockeren Linie von leicht bewaffneten Reitern mit Rundschilden. Eine geschlossene Schlachtreihe von Templern war überaus eindrucksvoll anzusehen. Dicht an dicht ritten die weiß gekleideten Ritter im Schritt auf ihre Gegner zu, ein leuchtend rotes Templerkreuz neben dem anderen. Im Feindesterritorium ritten die Einheiten nur komplett ausgerüstet, jeder Ritter trug ein Kettenhemd und einen Gambeson unter seiner weißen Tunika, während die Halspartie durch eine Kettenhaube geschützt wurde und der Kopf selbst von einem einfachen Eisenhelm mit Nasenschutz bedeckt war. Der Kommandant beobachtete die gegnerischen Reihen genau und wartete auf den geeigneten Augenblick, den Angriff zu eröffnen. Die feindlichen Einheiten waren inzwischen weniger als einen Pfeilschuss weit voneinander entfernt, als plötzlich aus der Mitte der christlichen Reihen ein Ritter mit mörderischem Kampfschrei auf seine Gegner zupreschte und so vollendete Tatsachen schuf. Wie von Sinnen stürmte er auf seine Gegner ein, mit der linken Hand schlug er wild mit dem Schwert um sich, in der Rechten trug er das Banner der Templer, das er heute zum ersten Mal führen durfte – durch diese hohe Ehre hatten seine Vorgesetzten gehofft, den rebellischen Ritter wieder mehr auf die Ordensregeln einschwören zu können. Stattdessen klemmte sich dieser nun das Banner, das nichts anderes war als eine Lanze mit einem daran befestigten schwarz-weißem Bannertuch, nach Turnierart unter den Arm und benutzte es tatsächlich als Waffe. Er durchbohrte einen der Sarazenen durch den Lamellenpanzer hindurch, so dass dessen Blut sich in großen Strömen über das heilige Fahnentuch ergoss. Als er die Lanze wieder zurückziehen wollte, um erneut anzugreifen, bekam er sie jedoch nicht frei, da die Spitze sich zwi86
schen zwei Lamellen verkeilt hatte. Das hätte ihn fast selbst das Leben gekostet, denn einer der Kampfgefährten des getöteten Sarazenen nutzte die Gelegenheit sofort, um auf den Bannerträger einzuschlagen. Ohne überhaupt zu denken, erhob Victor sein Schwert und schlug dem Angreifer, der nur einen Helm, aber keine komplett geschlossene Kettenhaube trug, den Kopf ab, der unter ein Gebüsch rollte. Schließlich gelang es ihm doch noch, das Banner durch heftiges Zerren aus dem Leichnam zu befreien, dann sah er sich um – auf der Suche nach einem neuen Gegner. Was er nun erblickte, entsetzte sogar ihn, den abgebrühten Kämpfer. Nur wenige Templer hatten das kurze Scharmützel überlebt, die meisten von ihnen verwundet. Der Kommandant war tot, ebenso die meisten seiner unmittelbaren Untergebenen. Nur einige einfache Brüder und Sergenten irrten noch über das Schlachtfeld, hier und da noch einmal einen Schlag setzend. Viele hatten ihre Pferde verloren, denn ihre Gegner wussten genau, dass dies die einfachste Art war, einen christlichen Ritter zu besiegen. Tötete man sein Pferd, so warf man ihn am sichersten aus dem Sattel und konnte ihn leicht zu Fuß bekämpfen, denn voll gepanzerte Ritter waren nicht für den Bodenkampf ausgerüstet. Die Sarazenen hatten sich auf Befehl ihres Anführers hinter den Hügel zurückgezogen, während die wenigen überlebenden Templer sich um das blutige Banner sammelten und nicht wirklich begriffen, was geschehen war. Da tauchte aus einem Gestrüpp ihr verletzter Hauptmann auf und herrschte den Bannerträger an. „Bruder Victor, Ihr habt gegen alle Regeln gehandelt und unsere gesamte Truppe in tödliche Gefahr gebracht. Wisst Ihr nicht, dass es einem Templer strengstens verboten ist, eigenmächtig den Angriff zu eröffnen? Und das Banner! Ihr habt es als Waffe genutzt und mit ungläubigem Blut entweiht! Das Kapitel wird Euch dafür strengstens zu Rechenschaft ziehen, sobald wir wieder in Akko sind!“ Victor antwortete nicht und versuchte auch nicht, sich zu verteidigen. Jetzt wurde ihm selbst langsam klar, dass sein Verhalten einen gefährlichen Regelverstoß darstellte, doch in dem Moment, als er die Reihen der Gegner vor seinen Augen gesehen hatte, war dieses Wissen wie ausgelöscht gewesen. Der Hauptmann entriss ihm grob das Banner und nahm ihm auch sein Schwert ab; sein Pferd durfte er nur deshalb behalten, 87
damit die Überlebenden sich schneller aus der Reichweite ihrer Gegner bewegen konnten. Sie ritten zurück ins Templerlager vor Akko. Dort wurde sofort eine außerordentliche Kapitelsitzung einberufen und Victor offi fiziell angeklagt. Mehrere Zeugen schilderten, wie er, ohne dass der Befehl zum Angriff gegeben worden wäre, allein auf die gegnerischen Reihen eingestürmt war und so die feste Schlachtreihe der Templer aufgebrochen hatte. Die übrigen Templer hatten sich noch bemüht, die entstandene Lücke wieder zu schließen, doch die Sarazenen hatten sofort auf den Ausfall reagiert und einen Keil in die eben noch geschlossene Truppe getrieben, sodass es zum Nahkampf gekommen war. Somit war Bruder Victor verantwortlich für den Tod vieler seiner Mitbrüder und den Verlust fast aller Pferde und zahlreicher Waffen. Dazu kam die streng verbotene Nutzung des Banners als Waffe. „Bekennt Ihr Euch dieser Vergehen für schuldig, Bruder Victor?“, fragte der Seneschall, der in Abwesenheit des Großmeisters der höchste Offi fizier im Templerlager von Akko war. Victor antwortete nicht sofort und nickte schließlich zögernd. „Dann begebt Euch nun nach draußen und wartet ab, bis wir unser Urteil über Euch gefällt haben!“, befahl der Seneschall, und Victor verließ das als Kapitelsaal genutzte große Rundzelt, gefolgt von einem Templer, der ihn beaufsichtigen sollte. In Anbetracht dessen, dass er schon früher wegen seiner Regelbrüche aufgefallen war, waren viele Mitbrüder der Meinung, man müsse Victor sofort und endgültig aus dem Orden ausschließen. Nur wenige, meist besonnenere ältere Ordensmitglieder argumentierten dagegen und schlugen vor, ihm noch eine letzte Chance zu geben und ihm nur den Habit zu nehmen. Schließlich, so ihre Argumentation, war Victor ein hervorragender Kämpfer, und einen solchen verlor man nicht gerne in Zeiten, in denen mehr Mitbrüder den Tod fanden als neu aufgenommen werden konnten. Nach langem Hin und Her konnte man sich schließlich auf eine mildere Strafe als den Ausschluss einigen, und der Angeklagte wurde wieder hereingerufen. „Bruder Victor“, begann der Seneschall, „kniet nieder, um Euer Urteil zu hören.“ Victor tat wie betäubt, wie ihm befohlen war. 88
„Obwohl Ihr schon mehrfach und gravierend gegen die Regeln unseres Ordens verstoßen habt“, sagte der Seneschall mit lauter, klingender Stimme, „haben wir uns darauf geeinigt, dass Ihr trotzdem vorerst in unseren Reihen verbleiben könnt, denn Ihr seid ein guter Kämpfer. Und doch sollt Ihr ab heute für ein Jahr und einen Tag Euren Habit verlieren und somit alle damit verbundenen Ritterwürden. Ihr werdet die niedersten Dienste tun, die es in unserem Orden zu tun gibt, und Ihr sollt nicht zusammen mit Euren Mitbrüdern essen, sondern auf dem Boden mit den Hunden. Jeden Sonntag bei der Heiligen Messe sollt Ihr die übliche Körperstrafe in Empfang nehmen, die für solche Fälle vorgesehen ist. Mögen Euch diese Hiebe, die Ihr vor dem versammelten Konvent empfangen werdet, dabei helfen, Euer Verhalten zu überdenken und zu verbessern. Erst wenn wir Oberen eine tatsächliche Besserung und Reue in Euch wahrnehmen, wird der Großmeister Euch wieder in unsere Reihen aufnehmen. Bis dahin seid Ihr der niedrigste aller Diener. Und nun, wenn Ihr an Leib und Seele gesund seid, entkleidet Euch, um die ersten Hiebe zu erhalten!“ Victor erhob sich widerspruchslos, ging zurück in das Vorzelt und begann, seine Oberbekleidung abzulegen. Die Templertunika und der Rittergürtel wurden sofort von einem Mitbruder entgegengenommen und zum Seneschall gebracht. Victor zögerte, nun auch sein Unterhemd auszuziehen, tat es dann aber doch und kehrte, nur mit der Bruche bekleidet, zurück ins Hauptzelt. Dort ließ ihn der Seneschall erneut niederknien. „Werte Mitbrüder, seht hier Euren Bruder, der zu seiner Bestrafung kommt. Betet für ihn zu Unserem Herrn, damit er ihm seine Sünden vergibt.“ Alle Mitbrüder begannen sofort, halblaut Gebete zu murmeln, und beteten zuletzt alle gemeinsam ein Paternoster. Erst dann holte der Seneschall mit Victors Rittergürtel aus und schlug ihm damit viele Male hart auf den nackten Rücken. Alle anderen anwesenden Templerbrüder aber sahen stumm zu. Dabei setzten Victor nicht so sehr die Schmerzen der Hiebe zu, sondern vielmehr die Demütigung und der verstohlene Triumph, den er in den Augen einiger seiner Mitbrüder zu erkennen glaubte. „Gute Herren, betet zu Gott, dass er uns raten möge“, hatte er nach dem Ende der Bestrafung zu sagen, doch das kam so gepresst über seine Lippen, das es kaum der Seneschall selbst verstehen konnte. 89
Dieser wies Victor nun an, sich draußen wieder anzukleiden und dann zurückzukommen. Als Victor abermals vor den Seneschall trat, unterrichtete dieser ihn über die weiteren Konsequenzen seines mörderischen Fehltrittes. Das Ritual der Körperstrafe würde von nun an für die Dauer eines Jahres jeden Sonntag während des Gottesdienstes vollzogen werden, und man würde genauestens prüfen, ob der Schuldige irgendwelche Anzeichen von Reue zeigte. Erst wenn dies aufrichtig der Fall war, konnte Victor vom Obersten aus seiner Büßerrolle befreit und im wörtlichen Sinne vom Boden erhoben werden. Und erst dann würde er wieder ein Tempelritter sein, selbst wenn er nie wieder alle Vergünstigungen, die mit dieser Position einhergingen, würde genießen dürfen. So war es ihm auf ewig verwehrt, jemals ein Kommando über eine Abteilung Ritter zu übernehmen, ja, jede Möglichkeit einer Karriere im Orden hatte er sich mit seinem unbeherrschten Vorgehen verbaut. Am schlimmsten traf Victor der Verlust seines Habits, der weißen Templertunika mit dem roten Tatzenkreuz; darauf, diese tragen zu dürfen, hatte er, seit er denken konnte, hingearbeitet. Warum er sie nun so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte, konnte er selbst nicht mit Vernunft sagen. Es war, als hätte er im Angesicht der sarazenischen Gegner vollkommen seinen rationalen Verstand verloren. So kam es, dass er in den folgenden Monaten hin- und hergerissen war zwischen Schuldgefühlen und blankem Hass auf diejenigen, die ihn diesen fortwährenden Demütigungen aussetzten. Zwar bedauerte er den Tod seiner Mitbrüder durchaus, sah sie aber gleichzeitig durch den Tod der Sarazenen durch seine Hand gerächt und so sein eigenes Verhalten gerechtfertigt. Victor fühlte sich mehr als ungerecht behandelt und zutiefst in seiner Ehre gekränkt – er konnte keineswegs einsehen, womit er diese Strafe verdient hatte, der er sich Woche für Woche unterwerfen musste. Hatte nicht der Heilige Bernhard genau das von den Tempelrittern verlangt, als er sie zum Ideal des christlichen Rittertums hochstilisierte? Jeden Glaubensfeind zu ermorden, dessen er habhaft werden konnte? Dass es nichts Schöneres für einen Templer gäbe, als im Kampf gegen die Ungläubigen zum Märtyrer zu werden? Das war ihm zwar noch nicht gelungen, aber er war jederzeit bereit dazu, so wie er es beim Eintritt in den Orden feierlich geschworen hatte. Die Worte des Heiligen Bernhard hatten ihn sein 90
ganzes Leben über genährt und aufrechterhalten, seit sein Vater von dem zweiten Kreuzzug nicht zurückgekehrt war. Seine Mutter hatte ihn immer in seinem Ziel, Ritter zu werden, unterstützt, hatte ihm Kontakt verschafft zu einem Geistlichen, der den Heiligen Bernhard noch persönlich gekannt hatte und dessen Schriften seither sehr genau studierte. Dieser Bruder Anselm war Victors Lehrer geworden, und in dessen kindlich-naivem Gehirn hatten sich die frommen Worte im Laufe der Zeit zu einem festen persönlichen Ehrenkodex formiert – der allerdings mit der Templerregel nur entfernt zu tun hatte. So konnte keine wirkliche Reue aufkommen, was seine Mitbrüder und Vorgesetzten mit Sorge zur Kenntnis nahmen. *** Eines Morgens kamen zwei vermeintlich fremde Männer nach Casal Moulins geritten. Abo ging ihnen entgegen und erkannte erst dann Meister Adam, den ehemaligen Jerusalemer Steinmetzen. Demnach musste der hoch aufgeschossene, hübsche Jüngling neben ihm Roque sein, der inzwischen kein naseweiser Knabe mehr war, sondern auf dem besten Wege zu einem ansehnlichen jungen Mann. „Meister Adam, seid gegrüßt!“, rief Abo. „Ich habe Euch im Moment gar nicht erkannt. Wie ist es Euch und Eurem Helfer in den letzten Jahren ergangen?“ „Gut, gut“, antwortete Adam brummig und begrüßte den alten Kampfgefährten mit einem kräftigen Handschlag. Die Gäste waren von ihren Reittieren gestiegen, die erkennen ließen, dass sie sich einen gewissen Lebensstandard hatten erarbeiten können, wenn sie wohl auch nicht reich zu nennen waren. „Kommt herein, ich bitte Euch! Hamza wird Euch gleich einen Willkommenstrunk reichen!“, rief Abo geschäftig und voller Wiedersehensfreude. „Herr Abo, bitte – wo ist Marjam?“, brach es da aus dem Jüngling hervor, der nur noch entfernt Ähnlichkeit mit dem kleinen verhinderten Ritter in Jerusalem hatte. „Sie übt Bogenschießen, wie jeden Morgen, dort hinter dem Haus“, antwortete Abo leicht belustigt. „Wollt Ihr vielleicht gleich gehen und sie begrüßen?“ 91
„Der Junge hat mir seit Monaten keine Ruhe mehr gelassen, so versessen war er darauf, seine orientalische Schönheit wiederzusehen“, knurrte Meister Adam. „Aber ich greife den Dingen wie immer vor – pass auf, Roque, dass sie dich überhaupt noch erkennt und nicht als Räuber abschießt!“ „Das würde sie nie tun!“, rief Roque, doch inzwischen merkte er immerhin, wenn er etwas Dummes gesagt hatte, und machte sich augenblicklich auf die Suche nach seiner Angebeteten. In ein schlichtes, aber sehr vorteilhaftes mattrotes Kleid gehüllt, ihr Haar nur locker unter einem Schleiertuch verborgen, stand Marjam neben dem Zaun hinter dem Haus und schoss auf eine aus Stroh geflochtene fl Scheibe, die in etwa den Durchmesser eines Rundschildes hatte und ganz am hinteren Ende des Hofes stand. Sehr konzentriert schickte sie Pfeil um Pfeil los, von denen jeder sein Ziel erreichte, auch wenn sie nicht alle genau die Mitte trafen. Nun waren alle Pfeile abgeschossen, und die junge Schützin ging mit federndem Schritt zur Scheibe, um das Ergebnis zu überprüfen und die Pfeile wieder herauszuziehen. Roque stand wie gebannt noch an derselben Stelle, wo er, um die Ecke des Hauses kommend, den ersten Blick seit drei Jahren auf Marjam geworfen hatte. Noch schöner war sie geworden, eine richtige Dame, während er selbst sich seit Längerem als unglücklich in die Höhe geschossene, noch auf halbem Wege befindliche fi Zwischenstufe zwischen dem kleinen Jungen, der er gewesen war, und dem erwachsenen Mann, der er hoffte zu werden, wahrnahm. Doch etwas musste sich auch in ihm verändert haben, denn nachdem er die ersten Monate unterwegs mit Meister Adam nach Norden vor allem als spannend und abenteuerlich empfunden und nur selten an Marjam gedacht hatte, so fühlte er nun schon seit einer Weile den regelrecht schmerzhaften Wunsch in seinem Herzen, sie endlich wiederzusehen. Manche Tage glaubte er, sich überhaupt nicht mehr an ihr Aussehen erinnern zu können, so lange war ihr Abschied von Casal Moulins her, an anderen Tagen sah er sie so detailgenau vor sich, als stünden sie beide noch immer Seite an Seite auf den Mauern Jerusalems. Auch als Marjam jetzt zurückkam und den schlaksigen Jungen bemerkte, rührte der sich keinen Fingerbreit und blickte sie bloß mit großen Augen bewundernd an. Marjam blieb stehen, den Bo92
gen in der einen, die Pfeile in der anderen Hand, und starrte ihn nun ebenfalls an. Beide sagten kein Wort, bis Marjam schließlich die Haarsträhne erkannte, die dem Jungen wie ein Erkennungszeichen noch genauso in die Stirn hing wie damals in Jerusalem. „Roque?“, fragte sie ungläubig. „Roque? Bist du das?“ Der Junge brachte ein schüchternes Nicken zustande, schaffte es aber nicht, den Mund aufzumachen. Nun lief Marjam auf ihn zu und streckte die Hände aus, voll mit Pfeilen und Bogen, und musste lachen. Sie legte die Waffen vorsichtig nieder und fasste den lang vermissten Freund nun an den Händen. „Ich freue mich sehr, dass du wieder hier bist – wie ist es euch ergangen im Norden? Wart ihr bis Antiochia?“ Roque rang verzweifelt nach Worten und war sehr erleichtert, als auf einmal Abo um die Ecke kam, um die beiden jungen Leute an den Tisch zu holen, wo Hamza inzwischen ein Willkommensmahl hergerichtet hatte. Alle drei gingen zurück ins Haus, und Roque konnte fortan kein Auge mehr von Marjam nehmen. Während die Gäste sich stärkten, wurden sie von den Übrigen mit Fragen bestürmt. Kauend berichtete Meister Adam von ihren Wanderungen, die sie tatsächlich bis Antiochia und dann zurück nach Tripolis geführt hatten. Zwar war es anfangs schwer gewesen, doch inzwischen hatten sich die beiden Steinmetzen auch im Norden einen Namen gemacht und viele Kirchen mit Skulpturen und figürlichen Kapitellen ausgestattet. Sie hatten dadurch vergleichsweise gut verdient, so gut, dass Roque seinem Meister beständig in den Ohren lag, ob man jetzt nicht endlich eine kleine Auszeit nehmen und nach Casal Moulins reiten könne – man habe damals schließlich versprochen, sich wieder zu melden. Zunächst hatte Adam abgelehnt, aber da er sich selbst nach etwas Ruhe und Abwechslung sehnte, Roques Drängen schließlich nachgegeben. Vor allem als er endlich das seltsame Leuchten in den Augen seines Gesellen entdeckt hatte, das immer dann zu sehen war, wenn er von Marjam und Casal Moulins sprach. „Liebe Güte, du bist verliebt!“, hatte er gesagt, worauf Roque heftig errötet war, aber nicht widersprochen hatte, und nur wenige Tage später waren sie nach Süden aufgebrochen.
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Schon am nächsten Tag, als Marjam ihrer Mutter bei der Hausarbeit zur Hand ging, nahm Roque all seinen Mut zusammen und sprach Abo an. „Herr Abo“, begann er schüchtern, „bitte, ich möchte Euch etwas fragen.“ „Dann tu das, Junge“, antwortete Abo freundlich. „Fast ... fast jeden Tag, Herr Abo, habe ich an Marjam denken müssen, dort im Norden, wo wir waren, und auch bei unserer Arbeit habe ich immer ihr Bild vor Augen gesehen. Ihr müsst wissen“, fügte er mit Stolz in der Stimme hinzu, „ich bin jetzt Geselle von Meister Adam, und verdiene eigenes Geld ...“ „Das ist schön für dich, Roque!“, sagte Abo. „Ich ... ich darf jetzt auch an meine Zukunft denken, sagt Meister Adam, was ich vorhabe und all das. Wenn Ihr wisst, was ich meine, Herr Abo ...“ „Sicher darfst du an deine Zukunft denken, jeder Mensch darf das und sollte es auch von Zeit zu Zeit tun“, Abo unterdrückte ein Schmunzeln. „Aber – was bitte hat das mit mir zu tun?“ Roque wand sich unruhig auf seinem Sitz und suchte verzweifelt nach den passenden Worten. „Wie ich schon sagte ... ich muss ständig an Marjam denken und an die Zukunft, ja, ich meine, an die Zukunft mit Marjam … Herr Abo, ich bitte Euch inständig, sie mir zur Frau zu geben.“ Nun war es heraus, und Roque sah aus, als würde er im nächsten Augenblick ohnmächtig werden. Abo sah den Jungen jetzt prüfend an. „Bist du sicher, dass du ihr ein guter Mann sein kannst, Junge?“, fragte er mit gespielter Strenge, und Roque wäre am liebsten aufgesprungen und davongelaufen, zwang sich aber, sitzen zu bleiben. „Das denke ich sehr wohl, Herr Abo – wenn sie mich will.“ „Dann frag sie selbst und nicht mich“, meinte Abo belustigt, „schließlich willst du nicht mich alten Mann heiraten. Wenn sie zustimmt, habe ich sicher nichts gegen eure Verbindung einzuwenden.“ Roque fiel fi ein Stein vom Herzen. „Ich ... ich danke Euch, Herr Abo!“ Sofort sprang er auf, wobei er den Hocker umwarf, auf dem er gesessen hatte, und rannte nach draußen, um nach Marjam zu suchen, die inzwischen mit der alten Köchin im Garten Gemüse für das Mittagessen auswählte. 94
Als Roque angestürmt kam und wieder kein vernünftiges Wort herausbrachte, lachte sie laut und zog ihn in den Schatten auf eine Bank. „Marjam, bitte, ich möchte dich etwas fragen ...“, begann er. „Dann tu das, Roque!“, antwortete sie belustigt, genauso wie ihr Großvater nur wenige Augenblicke zuvor. Schließlich gelang es dem Jüngling, nach langem Gestammel und mit hochroten Ohren sein Anliegen erneut vorzubringen. Marjam sah ihn ernst an und antwortete nicht sofort. Auch sie hatte oft an Roque und die Zeit während der Belagerung denken müssen, aber ihr Streben konzentrierte sich seither allein auf Saladins Bogen und die Möglichkeit, Margret und Ida damit zu befreien. Sie hätte nicht einmal sicher sagen können, ob sie Roque wirklich mochte oder nach wie vor nur wie einen putzigen Schoßhund behandelte. „Darüber muss ich wirklich nachdenken. Bitte bleibt noch eine Weile bei uns, damit wir uns besser kennenlernen können. Dann werden wir weitersehen“, sagte sie, und Roque war einmal mehr erstaunt darüber, von wie klarem Verstand sie war. In den kommenden Tagen verbrachten die beiden viel Zeit miteinander. Marjam zeigte Roque das ganze Landgut, erklärte ihm alle Produktionsstätten und ritt mit ihm bis an die äußersten Grenzen ihres Landes. Casal Moulins war ein stattlicher Besitz, der Wein und alle Arten von Früchten anbaute, die bei Muslimen und Kreuzfahrern gleichermaßen beliebt waren: Datteln, Feigen, Zitrusfrüchte und die besten Trauben in der Gegend von Jerusalem. Marjam fühlte sich wohl in Roques Gesellschaft, auch wenn sie ihn erst noch etwas zum Reden würde bringen müssen. Und manchmal, wenn sie zusammen stumm in die Wüste oder den Nachthimmel blickten, spürte sie so etwas wie eine heftig aufkeimende Vertrautheit. Schließlich mussten die beiden Steinmetzen jedoch zurück nach Tripolis, und man kam überein, sich in genau einem Jahr wieder hier in Casal Moulins zu treffen. Würde es Roque dann immer noch ernst sein mit seinem Antrag – und Marjam ihn haben wollen –, so sollte im kommenden Sommer die Hochzeit groß gefeiert werden. *** 95
Margret war nun schon über ein Jahr bei Jonas in Tyrus. Er hatte Recht gehabt – ihr Haar war wieder gewachsen, es reichte jetzt bis über die Schultern hinunter und bedeckte auch die Narben auf ihrer Stirn. Ihre Wunden waren verheilt und die schrecklichen Erlebnisse fast vergessen. Auch die Alpträume waren seltener geworden, und nur noch ab und zu musste Jonas ihr dabei helfen, die höllischen Dämonen zu vertreiben. Beide waren sich langsam nähergekommen, und dennoch schreckte Margret davor zurück, sich ganz mit Jonas zu verbinden und seine Frau zu werden. Oder seine Buhle, denn da gab es nach wie vor das Gelübde, das Margret geleistet hatte – nach ihrer Rückkehr von der Pilgerreise in ein Kloster einzutreten und auch unterwegs keusch zu leben. Sollte sie beim Papst etwa um Dispens ersuchen, nur weil ihr ein Mann den Kopf verdreht hatte? Das wäre selbst ihr, die nicht viel auf Konventionen gab, peinlich gewesen. Und vor allem war da noch ihr Bruder, den sie mit einer solchen Entscheidung bitter enttäuschen würde, hatten beide sich doch nach dem Tod der Eltern ihr Wort gegeben, ihr Leben Gott zu weihen. Jonas drängte sie nicht, sich zu entscheiden, er glaubte fest an die Macht des richtigen Augenblicks. Alles würde sich weisen, wenn die Zeit dafür gekommen sei. Nichtsdestotrotz stahl er Margret ab und zu einen Kuss oder eine Umarmung, worauf sie stets abwehrend reagierte, obwohl sie insgeheim schon sehnsüchtig aufs nächste Mal wartete. In solchen Momenten fragte sie sich, ob der Weg ihres Bruders wirklich auch der ihre war. Auch ihre Gefährtinnen aus der Gefangenschaft hatten sich gut erholt und ein neues Leben begonnen. Idas Dasein hatte sich schlagartig an dem Tag geändert, als ein Matrose vom Niederrhein seinen verwundeten Freund zur Behandlung ins Spital gebracht hatte. Die Kölnerin war ganz außer sich gewesen, auf einmal wieder heimische Klänge zu vernehmen, und so hatte es nicht lange gedauert, bis die beiden ein Paar geworden waren. Der Schiffer mit dem schönen Namen Matthias und den langen blonden Haaren gewann auch Gereon auf Anhieb lieb und schließlich beschloss die neue kleine Familie, auf einem der nächsten Schiffe nach Europa und ins Rheinland zurückzukehren. Matthias war der ganze Orient sowieso suspekt, und nach den ersten Scharmützeln mit den Ungläubigen hatte er erkennen müssen, dass er nicht zum Kreuzritter geboren war. Im Heiligen Land eine Frau aus der Heimat zu finden, fi 96
in die er sich verliebte, war ihm sowieso wie ein göttliches Wunder vorgekommen. Natürlich waren alle traurig, Ida und dem schon nicht mehr so kleinen Gereon Lebewohl sagen zu müssen, und doch gönnten sie es der Kölnerin, dass ihr Leben so plötzlich eine glückliche Wendung genommen hatte. Fiamma dagegen hatte sich gar nicht weit umschauen müssen, denn ihre neue Liebe war einer der Krankenpfl fleger im Spital, der sie und Moses bei sich aufnahm. Während der Findeljunge sehr gute Fortschritte machte und sich zum Liebling des ganzen Hauses entwickelte, wurde Fiamma endlich auch selbst schwanger und alle freuten sich mit ihr, hatte sie sich doch schon so lange ein eigenes Kind gewünscht. Eines Tages, als Margret wie fast immer in der Kräuterkammer war, hörte sie ebenfalls Stimmen, die sich in ihrer Heimatsprache unterhielten. Nicht nur Englisch, sondern den speziellen nordenglischen Dialekt ihrer Heimat. Sie rannte hinaus in den Hof, wo eben eine Gruppe von erschöpften Flüchtlingen angekommen war. Eine der Frauen, die ein kleines Mädchen an der Hand hielt, hörte sie kommen und drehte sich in die Richtung der Schritte um. Beide blieben wie angewurzelt stehen und starrten sich an. Margret fasste sich als erste. „Hannah! Liebste Freundin, wie ist das möglich?“ Die Angesprochene stammelte fassungslos: „Margret – wie kommst du hier her?“ Zum großen Erstaunen aller fielen fi sie die beiden in die Arme und hielten sich lange fest. „Was macht ihr denn hier in Tyrus? Und wo sind Josce und Dolce?“, erkundigte sich Margret begeistert, doch das traurige Gesicht ihrer Freundin sagte auch ohne Worte, dass Schreckliches geschehen sein musste. Hannah setzte sich auf den Brunnenrand, zog das kleine Mädchen, das bei Margrets Fragen in Tränen ausgebrochen war, zu sich und begann zu erzählen. Am Shabbat-ha-Gadol, dem Sabbat vor dem Passah-Fest, dem 16. März, war es in York zu einem fürchterlichen Massaker an den dortigen Juden gekommen. Über 150 Menschen waren abgeschlachtet worden oder hatten aus Angst vor dem Mob Selbstmord begangen, die wenigen Menschen um Hannah, deren Eltern und Ehemann ebenfalls den Tod gefunden hatten, waren die einzigen Überlebenden. 97
Margret, die sich vor ihrer Freundin hingekniet hatte, hörte mit solchem Entsetzen zu, so dass sie zunächst nicht mitbekam, wie Jonas hinter sie trat, bis er eine Hand auf ihre Schulter legte. Instinktiv fasste sie die Hand des Freundes und hielt sie verzweifelt fest. „Kommt erst einmal herein und ruht euch aus“, sagte Jonas zu Hannah und ihren Leuten. „Erzählen können wir später noch genug – jetzt müsst ihr euch erst einmal stärken und schlafen.“ Er half Margret auf, und zusammen brachten sie die kleine Gruppe nach oben. Viel später saß Jonas in seinem Arbeitszimmer und studierte Schriften, als Margret voller Zorn hereingestürzt kam. „Kannst du dir das vorstellen?“, begann sie empört. „Da haben einige Landadelige, die bei den Juden hoch verschuldet waren, die ganze jüdische Gemeinde so geängstigt, dass die sich in die Motte von York geflüchtet fl haben!“ Jonas legte sein Schriftstück weg und zog Margret zu sich auf den Stuhl. „Richard von Malebisse, dessen Name passenderweise ‚das schreckliche Ungeheuer‘ bedeutet, hat mit seinen Kumpanen und dem christlichen Mob sogar den königlichen Konstabler und den Sheriff soweit gebracht, die Burg zu belagern – mit Belagerungsmaschinen! Saladin hat Belagerungsmaschinen gegen die starken Mauern von Jerusalem eingesetzt, und dort fahren sie welche gegen hundert unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder auf? Nur weil sie Juden sind? Jonas, ich verstehe die Welt nicht mehr – und ich will keine Christin mehr sein!“ „Versündige dich nicht mit diesem vorschnellen Urteil. Verbrecher gibt es in jeder Religion, das wissen wir beide am besten. Und ich hoffe doch, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen wurden?“, versuchte Jonas sie zu beschwichtigen. „Ja, ich glaube schon. Aber erst, nachdem fast alle Juden tot, die Motte in Brand gesetzt und vor allem auch die Schuldbücher verbrannt waren – mitten im Münster von York!“, erwiderte Margret aufgebracht. „Und das Schlimmste ist, manche sagen, all das geschah auf Betreiben des Bischofs von Durham, Hugo von Puiset. Ich kann es einfach nicht begreifen!“ „Leider kommen solche Pogrome gegen Juden immer wieder vor, gerade auch in Zeiten von Kreuzzügen. Viele schrecken offenbar 98
nicht davor zurück, menschliches Blut wie Wasser zu vergießen. Es ist eine Schande für alle Menschen.“ „Und einige der Täter sind zur Strafe auf Pilgerfahrt ins Heilige Land geschickt worden!“, ereiferte sich Margret, „Jonas, sie sind hier in Outremer, weil man sie als Mörder und Aufwiegler in England nicht mehr haben wollte!“ „Nun, wir haben hier im Spital ja häufi figer das Vergnügen, uns um die Opfer all dieser ach so frommen Pilger und Kreuzfahrer kümmern zu dürfen“, meinte Jonas sarkastisch und versuchte dann sie abzulenken. „Aber sag, woher kennst du Hannah überhaupt? Ich dachte immer, Juden und Christen lebten im Westen ohne viel Kontakt nebeneinanderher?“ „Ich kenne sie aus York“, gab sie mit Tränen in den Augen zurück. „Ich habe dir ja bereits erzählt, dass ich meinen Vater manchmal dorthin begleitet habe, wenn er Waren auf den Markt gebracht hat. Und dabei habe ich Hannah und ihren Vater kennengelernt, die mich zu sich eingeladen haben, und mein Vater hatte nichts dagegen. So bin ich mit Hannah mitgegangen und habe mir angesehen, ob Juden denn so viel anders leben als Christen.“ „Und? Tun sie das?“ „In gewisser Weise schon“, gab Margret zu. „Sie haben andere Tischsitten und Gebräuche und einen anderen Glauben, aber sonst sind sie wie wir – sie sind schließlich Menschen“, setzte sie zornig hinzu. „Du hast Glück, dass du das schon in so jungen Jahren lernen durftest, Margret. Ich kenne viele alte Männer und Frauen, denen eine solche Begegnung in der Jugendzeit sehr gut getan hätte.“ Am nächsten Tag ging es dem ältesten der Yorker Juden immer schlechter, und Jonas konnte schließlich trotz aller ärztlichen Kunst nichts mehr für ihn tun. Der Alte starb im Kreise seiner Angehörigen und Freunde, und der Medicus vermittelte den Kontakt zur tyrenischen Judengemeinde, die den Mann auf ihrem Friedhof nach ihren Riten feierlich begrub. Noch am selben Tag brachen die übrigen Juden nach Kairo auf, denn dort gab es eine große jüdische Gemeinde, in der Hannah und einige Weitere Verwandte hatten. Margret, die schon lange nicht mehr intensiv an den Tod gedacht hatte, wurde durch diesen Vorfall wieder schlagartig daran erinnert. In der nächsten Nacht träumte sie sehr lebhaft davon, wie 99
kurz nach ihrer Ankunft in Jerusalem ein mitreisender alter Pilger gestorben war und sie kurz vor seinem Tod flehentlich darum gebeten hatte, für seine Bestattung Sorge zu tragen. Einen ganzen Tag war Margret damals durch Jerusalem geirrt, bis sie schließlich jemanden gefunden hatte, der den Alten trotz der wie ein Damoklesschwert über allen schwebenden Bedrohung durch Saladins Truppen ins Beinhaus nach Akeldama brachte und ihn dort mit christlichen Riten hatte niederlegen lassen. Als „Bestatten“ konnte man es nicht bezeichnen, denn nachdem das ehemalige Töpferviertel, das schon lange als „Blutacker“ bezeichnet wurde, bereits seit Jahrhunderten für das Begräbnis von in Jerusalem zu Tode gekommenen Pilgern verwendet worden war, gab es dort in der Erde schlicht keinen Platz mehr für die immer neuen Leichname. Schon vier- oder fünfhundert Jahre zuvor hatten Pilger berichtet, dass oftmals Skelette und halbverweste Leichen unbestattet an der Oberfl fläche lagen und dort von Hunden und anderen Raubtieren angefressen wurden – sicherlich keine sehr christliche Weise, den Weg ins Jenseits anzutreten. Also hatte man ein tiefes unterirdisches Beinhaus eingerichtet, in das die Toten einfach durch mehrere im Dach befi findliche Luken in die Tiefe gelassen wurden und dort dann – für die Lebenden unsichtbar – den Würmern und Maden überlassen blieben. Margret konnte sich noch genau an den widerwärtigen Geruch erinnern, der auf dem Gelände und um das Gebäude herum geherrscht hatte – und daran, dass sie doch neugierig gewesen wäre, wie es in dessen Innerem aussah. Doch in dieser Nacht war es keine Neugier, die sie umtrieb und ihr so böse Träume verursachte, dass sie laut um Hilfe rief, sondern nackte Angst. Jonas, dessen Zimmer direkt neben dem ihren lag, kam ihr zu Hilfe, nahm sie in die Arme und versuchte, sie zu beruhigen – aber die Bilder vom Totenheer, das sie ins Jenseits verschleppen wollte, waren schon zu tief in ihrer Seele eingeprägt. *** Nur wenige Abende nach der Abreise der Yorker Juden aus Tyrus brachten Helfer eine junge Frau ins Spital, die von betrunkenen Kreuzfahrern brutal vergewaltigt und verprügelt worden war. Sie war fast nackt, denn die Männer hatten ihr die Kleider vom Leib gerissen. Jonas kümmerte sich sofort um sie und ließ sie nach oben in eines der 100
Zimmer bringen. Obwohl er mehrfach versuchte, sie anzusprechen und ihr zu sagen, dass sie jetzt in Sicherheit sei, reagierte sie nicht und rollte sich wie ein Fötus im Mutterleib ein, so als wollte sie der Welt möglichst wenig Angriffsfl fläche bieten. Sanft sprach Jonas weiter auf sie ein, bis sie sich tatsächlich etwas beruhigte. Margret, die ihm zunächst wie immer geholfen hatte, hatte sich an die Zimmertür zurückgezogen und wusste nicht, was mit ihr geschah. Jonas mit dieser Unglücklichen zu sehen, versetzte ihrem Herzen einen so heftigen Stich, dass sie sich intuitiv zusammenkrümmte. Genauso hatte er sie damals behandelt, als er sie aus dem Bergwerk gerettet hatte – genauso? War sie nicht mehr für ihn als dieses unbekannte Schankmädchen, das vielleicht sowieso eine Hure war? Warum konnte sich nicht einer der Helfer statt seiner um sie kümmern, so schwer war sie ja nicht verletzt? Kaum hatte sie dies zu Ende gedacht, wurde Margret auf sich selbst so wütend, wie sie es einen Augenblick zuvor noch auf Jonas gewesen war. Abrupt verließ sie das Zimmer und lief die Treppen hinunter in den Innenhof, zum Brunnen, ihrem Lieblingsplatz, und starrte verwirrt ins Wasser. Selbst die Fische schienen sie heute auszulachen ob ihrer Dummheit. Jonas folgte ihr erst später, nachdem er seine Behandlung beendet hatte. „Was war los mit dir?“, erkundigte er sich besorgt. „Es war auf einmal so stickig in dem Raum“, wich Margret aus. „Stickig?“, wiederholte er ungläubig. „In meinem Hospital ist es nirgends und niemals stickig. Das war sicher nicht der Grund.“ So sehr sie sein Gesicht, seine Augen liebte, diesmal brachte sie es nicht über sich, ihn anzusehen. Sie starrte zu Boden. Schließlich hob Jonas ihren Kopf sachte an. „Margret, was ist mit dir?“, insistierte er. Sie wusste nicht, was sie antworten sollte, riss sich stattdessen los und wollte weglaufen. Er hinderte sie mit sanfter Gewalt daran und legte die Arme um sie. „Soll ich es sagen? Du warst eifersüchtig, und nun willst du es nicht zugeben!“, meinte er leicht belustigt, und Margret wurde angesichts seines etwas spöttischen Tones so wütend, dass sie ihn wegstieß und zurück nach oben lief. „Du kannst nicht immerzu weglaufen“, rief Jonas ihr nach. „Entscheide dich endlich, was du willst!“ 101
Was sollte sie nun tun? Margret war so verwirrt, dass sie als einzigen Ausweg sah, das Spital zu verlassen und nach Antiochia zu pilgern, um ihre Schutzpatronin, die Heilige Margarethe, um Rat zu fragen. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, genauer zu überlegen, so froh war sie darüber, dass ihr wenigstens diese Lösung eingefallen war. Ihre Patronin würde ihr sagen, wie sie sich entscheiden sollte. Dienst für Gott oder weltliches Leben mit Jonas? Kloster oder Spital? Hastig kramte sie in ihren Truhen und zerrte den verknitterten Pilgermantel hervor, den sie so lange Zeit nicht getragen hatte. Sie schüttelte ihn aus und betrachtete dann das Stoffkreuz, das auf seiner Vorderseite festgenäht war. Vorsichtig strich sie darüber, um den verknitterten Stoff wenigstens etwas zu glätten. Was bedeutete ihr dieses Kreuz jetzt, und was hatte es ihr einmal bedeutet? War sie nach wie vor eine leidlich fromme Pilgerin, die den priesterlichen Segen aber durchaus als Verpfl flichtung empfand, oder doch eine sündige Frau, die, wenn auch noch platonisch, mit einem Mann zusammenlebte, nicht viel besser als die Hure einige Zimmer weiter? Was war geworden aus ihren Idealen? Wütend warf sie den Mantel auf ihr Bett und durchsuchte weiter geräuschvoll ihre Truhen. Dadurch hörte sie nicht, wie Jonas hereinkam. „Du packst? Wo willst du denn hin?“, fragte er, und sie zuckte erschrocken zusammen. „Sei vernünftig, Margret“, sagte er und legte ihr sanft die Hände auf die Schultern, um sie zu sich herumzudrehen. „Sei vernünftig, meine Perle!“, wiederholte er und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen, in denen sich das Licht der Kerzen in vielen Farbtönen spiegelte. Sein Blick war voller Wärme und Zärtlichkeit. Auf einmal war alles anders, so als wäre die wahre Bedeutung ihres Namens zu einem Zauberwort geworden. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie begann stotternd, sich für ihr kindisches Verhalten zu entschuldigen. Jonas wischte ihr die Tränen vorsichtig vom Gesicht. „Du musst dich für nichts entschuldigen. Ich habe mich sogar über deine Eifersucht gefreut, denn sie zeigt mir, dass du mehr für mich empfinfi dest als eine beliebige Patientin für ihren Medicus. Mir geht es doch genauso, hast du das denn nicht bemerkt?“ Sein leicht geöffneter Mund suchte ihre Lippen und küsste sie sanft, seine Hände strichen über ihr Gesicht und ihren Hals als wären es Feenfl flügel. Margret ließ es wie verzaubert geschehen, ohne dass sie auch nur eine Bewegung gemacht hätte. Andächtig 102
nahm er ihr nun den – wie immer – verrutschten Schleier vom Kopf, löste ihr zusammengebundenes Haar und ließ es in weichen Wellen durch seine Hände gleiten. Rot wie Feuer war es im Schein der wenigen Kerzen, und Margret fragte sich kurz, ob das die ersten Vorboten der Hölle wären. Langsam löste er ihren Gürtel, der mit metallischem Geräusch zu Boden fiel. Nun das Oberkleid, das er ihr abstreifte und dabei die ganze Länge ihrer Arme entlangstrich, sanft wie ein kostbarer Pelz. „Aber ...“, setzte Margret an, „... aber ist es denn nicht Sünde, was wir dabei sind zu tun?“ Jonas ließ sich nicht einen Augenblick in seinem Tun unterbrechen, flüsterte aber: „Hier ist glücklicherweise gerade kein Priester anwesend, den wir danach fragen könnten!“ Er nestelte mit geschickten Fingern ihr Leinenhemd auf, zog es etwas herunter und vergrub sich in ihrem Nacken. Dann presste er sie an sich, küsste ihre Schulter und beknabberte ihr Ohr. Margret stöhnte genüsslich auf und berührte nun selbst vorsichtig seine Brust und seine Arme, die durch den dünnen Stoff der Djellaba zu glühen schienen. Als hätte er auf dieses Zeichen gewartet, warf er nun sein Gewand ab und befreite dann auch Margret zur Gänze aus ihrem dünnen Stoffgefängnis. Nein, nichts in ihr wollte jetzt noch weglaufen, und die Gedanken an Thomas und das Kloster rückten in weite Ferne. Nicht einmal die Hölle war jetzt noch wichtig, denn in enger Umarmung ließen sie sich auf ihr Bett fallen, mitten auf ihren hastig hingeworfenen Pilgermantel. Seine Hände wanderten über ihren Körper, ohne Hast, vorsichtig tastend und gleichzeitig voller Entschlossenheit. Es war, als wolle er jedes Detail ihres Körpers genau erforschen, und seine Hände lehrten die ihren, bei ihm dasselbe zu tun. Seine Küsse nahmen ihr den Verstand, seine Berührungen riefen auf ihren Brüsten wahres Entzücken hervor, und als jetzt seine rechte Hand über ihren nackten Bauch nach unten strich, meinte Margret endgültig, das Paradies tue sich auf. Seine Finger glitten zwischen ihre Beine, spreizten sie etwas, und schnell hatten sie gefunden, was sie suchten. „Meine einzige, kostbare Perle!“, flüsterte fl Jonas, während er begann, ihre empfindlichste fi Stelle zu streicheln. Sie schrie auf vor Überraschung und ungeahnter Lust. Noch nie zuvor hatte sie etwas Ähnliches empfunden – und ihr oft im Scherz gebrauchter Kosename hatte schlagartig eine neue Bedeutung erhalten. 103
„Mein Engel“, wisperte Jonas, dessen Hände nun auf der Unterseite ihrer Schenkel entlangstrichen und sie auseinanderdrückten. Margret meinte plötzlich, das Gleichgewicht zu verlieren, sich irgendwo festhalten zu müssen, also krallte sie sich in seinen Rücken und ließ schon im nächsten Moment wieder los, als ihr Körper endgültig aufhörte, ihr zu gehorchen. Kurz flammte Angst auf vor dem, was nun kommen würde, doch Jonas tat ihr nicht weh, als er in sie eindrang und sich zunächst langsam, dann immer schneller in ihr bewegte. Sie ließ sich endgültig fallen, folgte bald wie selbstverständlich seinem Rhythmus und vergaß, warum sie sich überhaupt geängstigt hatte. Wie auf einer riesigen Welle fühlten sich die Liebenden hinweggerissen, die Pilgerin und der Mann, der schon lange so viel mehr für sie war als nur ihr Retter. Alles um sie herum wurde auf einmal unwichtig, denn es gab auf der weiten Welt nur zwei Menschen in dieser Nacht – zwei Menschen, die einander gehörten und die niemand je wieder würde trennen können. Das Universum stand still, als sie sich fanden. Als sie am nächsten Morgen aufwachten, war draußen schon heller Tag. Margret räkelte sich – und musste kichern. Wie damals Ida, so hatte auch sie keinen Gedanken daran verschwendet, ob ihre Vereinigung mit Jonas nun Folgen haben würde oder nicht. „Worüber lachst du?“, fragte Jonas neugierig und sie drehte sich zu ihm um, allerdings nicht, ohne vorher das Laken über ihrem Körper in Position zu ziehen. Er lachte ebenfalls und zog ihr das Tuch aus den Händen. „Du musst dich nicht mehr verstecken, vor nichts und niemandem. Und am wenigsten vor mir, meine Perle!“ Er küsste sie sanft und beide hätten nichts dagegen gehabt, auch den Rest dieses Tages im Bett zu verbringen, schließlich hatte die Heilige Margarethe auch aus der Ferne Margrets Hilferuf erhört und ihr die Entscheidung abgenommen.
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V
Ein feiger Plan Frühsommer 1191 Vor noch nicht ganz einem Jahr hatte Victor seinen Templerhabit verloren und damit das, was ihm auf der Welt von allem am Wichtigsten war. Inzwischen hatte er sich so in sich selbst zurückgezogen, dass der Meister, der Seneschall und seine Mitbrüder glaubten, endlich erste Anzeichen der Demut und Reue in seinem Verhalten erkennen zu können. Noch immer musste er sich, seiner Strafe entsprechend, jeden Sonntag spärlich bekleidet vor seine Mitbrüder hinknien, um die festgesetzte Zahl an Hieben zu erhalten. Doch genau genommen hatte nichts von alledem seine Ansichten verändert. Noch immer fühlte er sich ungerecht bestraft und gedemütigt, allerdings ließ er es nach außen nicht mehr so deutlich erkennen wie zu Beginn seiner Bußezeit. Neue Mitbrüder waren in den Orden aufgenommen worden, darunter einer, der ebenfalls aus Nordfrankreich kam und sich Victors besonders annahm. Dieser Bruder Jean erreichte es, dass ihm Victor als persönlicher Sergent zugeteilt und so zeitweise von seinen Sklavendiensten entbunden wurde, selbst wenn er nach wie vor sein Essen auf dem Fußboden zu sich nehmen musste. Bald darauf ritten Jean und Victor etwas entfernt von der Küstenstraße in Richtung Tripolis, um dem dortigen Kommandanten des Tempels eine dringende Botschaft zu überbringen. Schweigend, wie es die Ordensregel vorsah, trabten sie nebeneinander bis in die Nacht hinein und wechselten nur am Lagerfeuer einige wenige Worte. Jean wollte Victor helfen, das bemerkte dieser wohl, reagierte aber doch mit Unmut auf dessen Annäherungsversuche. Als es Zeit wurde, schlafen zu gehen, zog Jean seinen Habit aus, faltete ihn sorgsam zusammen und legte ihn auf einen Stein, vor dem er sich in der Nacht hinlegen wollte. Victor beobachtete ihn und einmal mehr wallte der Schmerz über den Verlust des eigenen Habits in ihm auf. Er legte sich etwas abseits zum Schlafen nieder, fand aber voller wilder Gedanken keine Ruhe. Er war auch noch wach, als leise Schritte sich anschleichender Menschen zu hören waren: Eine Gruppe Sarazenen hatte das kleine 105
Lagerfeuer erspäht und wollte nun die beiden Ritter im Schlaf überfallen. Victor erkannte, dass es nur fünf Gegner waren, und während sie das Lager umkreisten, bewegte er sich kriechend auf Jeans Schwert zu, denn er selbst durfte noch immer keine Waffe führen. Die Sarazenen griffen alle zugleich mit lautem Kampfgeschrei an, und Bruder Jean, aus dem Schlaf gerissen, wurde sofort verwundet. Anstatt ihm zu Hilfe zu kommen, metzelte Victor die Angreifer einen nach dem anderen mit gewaltigen Schwertschlägen nieder. Bis er auch den fünften erwischt hatte, war Bruder Jean schon lange tot. Erst als alles um ihn herum totenstill war, erkannte Victor, dass er wieder, wie damals auf der Patrouille, seinem Blutrausch nachgegeben hatte. Hätte er nicht in erster Linie Jean helfen müssen? Er wusste es nicht zu sagen, ließ das Schwert fallen und taumelte etwas benommen über den Lagerplatz, um seine Ausrüstungsteile aufzusammeln. Dabei fand er Jeans Habit, der im Kampfgetümmel zwar von dem Felsen gerutscht war, aber noch genauso akkurat gefaltet dahinter auf dem Boden lag. Victor starrte den Habit an, nahm ihn dann an sich und zog ihn über. Endlich! Nun war er wieder, was er sein Leben lang hatte von ganzem Herzen sein wollen – ein Templerbruder. Er sah sich weiter auf dem Platz um – die Pferde waren, vermutlich weil er sie nachlässig angebunden hatte, während des Kampfes durchgegangen, und so nahm er Jeans Schwert wieder auf, reinigte es am Gewand eines der Opfer und steckte noch einige andere lebenswichtige Dinge ein. Ohne Jean oder die toten Sarazenen noch eines Blickes zu würdigen, machte er sich zu Fuß auf den Weg zur Küste, in der Hoffnung, dort vielleicht irgendwo noch eines der geflohenen fl Pferde wieder einfangen zu können. Er würde sich als neu aus Frankreich angekommener Templer ausgeben, wenn er bei den Brüdern im nur wenig nördlich gelegenen Tyrus vorsprach; alles Weitere würde er sich unterwegs überlegen. Dass er und Bruder Jean einen Auftrag zu erfüllen hatten, schien ihm entfallen zu sein. War in der Morgendämmerung der Fußmarsch noch relativ angenehm gewesen, so dörrte jetzt die immer höher stehende Sonne Victor bis auf die Knochen aus. Der Wasserschlauch, den er vom Lagerplatz mitgenommen hatte, war schon lange leer, so dass er verzweifelt nach einer Quelle suchte. Schließlich erspähte er etwas 106
entfernt einige Palmen – und wo Palmen wuchsen, da war auch Wasser. Er beschleunigte seinen Schritt, doch als er näherkam, sah er, dass auch andere Reisende dort rasteten. Schweren Herzens zog er seinen neu errungenen Habit wieder aus und versteckte ihn in seinem Bündel, denn als ein Tempelritter zu Fuß würde er einiges Misstrauen erregen und zu Fragen Anlass geben. Die beiden Männer, die unter den Palmen saßen und rasteten, beobachteten ihn genau. Ein einsamer Wanderer zu Fuß? Was hatte das zu bedeuten? Schließlich erreichte Victor die Quelle, trank und füllte seinen Wasserschlauch, dann setzte er sich etwas entfernt von den beiden nieder – er war nicht erpicht auf Gesellschaft. Möglichst unauffällig prüfte er die Situation. Die beiden Männer waren zwar sicherlich Kämpfer, möglicherweise Söldner, aber bestimmt keine adeligen Kreuzritter. Ihre Ausrüstung war aus den unterschiedlichsten, teilweise sogar arabischen Beutestücken zusammengestellt und stammte schwerlich aus ein und derselben Waffenkammer. Sie sahen heruntergekommen und wettergegerbt aus, so dass Victor zu dem Urteil kam, es müsse sich wohl eher um „Glücksritter“ denn um ehrenvolle Ritter handeln. Was ihn aber am meisten interessierte: Sie hatten zu zweit vier Pferde. Unschwer konnte er erkennen, dass es ihnen gelungen war, die beiden Tiere, die Jean und ihm beim nächtlichen Kampf mit den Sarazenen entlaufen waren, wieder einzufangen. Nun konnte er schlecht zu ihnen gehen und sein Pferd zurückfordern. Er trug sich gerade mit dem Gedanken, die beiden umzubringen, da richtete einer der beiden das Wort an ihn. „Seid gegrüßt, Herr Ritter, wohin des Weges?“, sagte der massivere Mann, der offenbar das Wort führte. Da Victor nicht sofort antwortete, stellte sich der Fremde erst einmal vor. „Mein Name ist Hugo, und der Dünne neben mir ist Eirik. Wir sind ins Heilige Land gekommen, um hier unser Glück zu machen, auch wenn wir damit noch nicht wirklich weit gekommen sind. Immerhin haben wir schon ein paar Ungläubige ins Jenseits befördert, das ist doch auch schon was, oder?“ Victor ging nicht direkt darauf ein. „Ich bin Victor. Heute Nacht haben mir einige Sarazenen bei einem Kampf mein Pferd geraubt – deswegen bin ich zu Fuß unterwegs, was Euch sicher verwundert hat.“ 107
„Ihr braucht ein Pferd, Herr Ritter?“, erkundigte sich Hugo beflisfl sen. „Nun, dann könnte ich Euch ein Angebot machen, denn wir haben zufällig heute Nacht zwei eingefangen.“ Victor überlegte – sollte er wirklich Geld bezahlen für ein Tier, das rechtmäßig sowieso seinem Orden gehörte? Oder würde er zu viel über sich verraten, wenn er es einfach zurückforderte? Die Möglichkeit, die beiden Glücksritter zu töten, erschien ihm inzwischen abwegig, immerhin waren sie Christen – und an Glaubensbrüdern hatte er sich bislang noch nicht vergriffen. Zwar hatte er Jeans Reisebörse an sich genommen, die dieser zusammen mit ihren Befehlen vom Kommandanten erhalten hatte, besaß aber keinerlei Vorstellung, wie viel Geld sich darin befand. Er zog sie hervor und betastete sie vorsichtig – er erfühlte nur wenige Geldstücke, doch was deren Wert war, wusste er nicht. Da es einfachen Tempelrittern verboten war, selbst Geld zu besitzen oder Geschäfte zu betreiben, war er im Umgang mit Münzen nicht geübt. Er beschloss, es darauf ankommen zu lassen und warf Hugo Jeans Beutel ungeöffnet zu. „Reicht das für ein Pferd?“, fragte er betont beiläufi fig, so als wisse er sehr wohl, wie viel Geld sich in dem Beutel befand. Hugo öffnete den Lederbeutel, und das Leuchten in seinen Augen verriet Victor sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Auch Eirik geriet nun zum ersten Mal während ihres Gespräches in Bewegung und starrte andächtig und mit offenem Mund in den Beutel, der seinen Inhalt jedoch weiterhin vor Victor verbarg. „Selbstverständlich reicht das, edler Ritter!“, sagte Hugo nun mit einer leichten Verbeugung. „Und es wird uns eine Freude sein, Euch bis nach Akko Geleitschutz zu geben, solltet Ihr das wünschen. Ihr wollt doch auch sicher nach Akko oder etwa nicht?“, hakte er nach. Dessen war sich Victor nun, nachdem er so unvorsichtig das ganze Geld aus der Hand gegeben hatte, nicht ganz sicher. Hugo nahm sein Schweigen als Zeichen, dass Victor nicht darüber sprechen wollte oder durfte und zuckte mit den Schultern. „Wir jedenfalls sind auf dem Weg nach Akko. Geschäftlich, müsst Ihr wissen, wir werden uns dort mit einem sehr hochgestellten Auftraggeber treffen“, ergänzte er mit stolzgeschwellter Brust. Also doch dingbare Söldner, wie sich Victor schon gedacht hatte. „Ja, warum begleitet Ihr uns nicht?“, mischte sich jetzt auch Eirik ein. 108
Victor überlegte. Es war Unsinn, die beiden Männer mit der Börse und einem Templerpferd nach Akko reiten zu lassen und selbst nach Norden zu ziehen, ohne genau zu wissen, warum und wohin. Ritt er aber mit ihnen nach Akko, konnte sich gut eine Gelegenheit ergeben, den beiden das zu viel bezahlte Geld wieder abzunehmen. Schließlich konnte er auch in Akko überlegen, was er nun tun wollte, und ohne den auffälligen Habit sollte er in dem Chaos im Kreuzfahrerlager halbwegs sicher sein. Also schloss er sich den beiden an und wählte für den Rückweg wie zufällig sein eigenes Pferd. *** So ungeduldig wie diesmal hatte Roque noch nie darauf gewartet, dass die Zeit verging. Er musste feststellen, dass ein Jahr, das sonst oft so schnell um war, entsetzlich lang sein konnte, wenn man sehnsüchtig etwas erhoffte. Würde Marjam nach Ablauf dieses Jahres seinen Antrag annehmen? Er hatte sich noch niemals in seinem Leben etwas so sehr gewünscht. Um nicht ständig an Marjam denken zu müssen, hatte er sich so sehr in die Arbeit gestürzt, dass er so schnell wie sonst kaum ein Geselle seine Meisterstücke fertigstellte. Als die Kirche der Heiligen Jungfrau vom Turme in Tripolis neu errichtet werden sollte, hatten Adam und Roque den Auftrag für den figürlichen Schmuck erhalten, da sie aus Jerusalem gute Erfahrungen in der Reliefbildhauerei mitgebracht hatten. Besonders die Kapitelle, die mit Bibelszenen verziert werden sollten, hatten es Roque angetan, von denen er drei ganz allein gestalten durfte. Er wählte Szenen aus dem Marienleben als Themen: Die Unterweisung des Mädchens Maria durch ihre Mutter Anna, die Verkündigung an Maria und das Weihnachtswunder, denn alle drei ließen sich in Beziehung zu seiner Liebe zu Marjam setzen. In der Lehrszene erkannte er das Mädchen Marjam, so wie er sie zum ersten Mal in Jerusalem getroffen hatte, die Verkündigungsszene sah er als das Versprechen, das seine Angebetete und er sich gegeben hatten, sich nach Ablauf eines Jahres wiederzusehen, um über die gemeinsame Zukunft zu entscheiden. Und schließlich das Weihnachtswunder – es symbolisierte all das, was er sich von seiner eigenen Zukunft mit Marjam erhoffte. 109
Meister Adam beobachtete mit großer Faszination – und Rührung –, wie sich Roque in seine Arbeit vertiefte und in ihr aufging. Er war kaum überrascht, in den Gesichtern der Gottesmutter Maria deutliche Ähnlichkeiten zu Marjam zu erkennen. Als die Kapitelle schließlich fertig waren und von allen bewundert wurden, konnte Meister Adam seinen Gesellen mit gutem Gewissen ebenfalls zum Meister ernennen, und der junge Mann hatte sofort mehrere größere Aufträge in Aussicht. Bevor sie sich in neue Arbeiten stürzten, gab es allerdings Wichtigeres zu erledigen – Roque und Adam reisten erneut nach Casal Moulins, wo sie herzlich aufgenommen wurden. Den ganzen Weg über hatte sich Roque den Kopf zerbrochen, wie er am besten seinen etwas linkischen Antrag vom Vorjahr wiederholen und noch eindringlicher gestalten konnte. Dabei war das überhaupt nicht nötig – gleich, als sie in den Hof ritten, rannte Marjam ihnen entgegen und umarmte Roque. Mit großer Freude stellte sie fest, dass er sich zu einem stattlichen jungen Mann entwickelt hatte, der sich durchaus ernsthaft auszudrücken und zu verhalten verstand. Er hatte viel gelernt in diesem einen Jahr, nicht nur durch die konzentrierte Arbeit an seinen Meisterstücken, sondern auch dadurch, dass er sich ständig in Gedanken mit Marjams und seiner Zukunft beschäftigt hatte. In den folgenden Tagen wurden tausend Pläne geschmiedet, das Fest geplant und mögliche Gäste in Erwägung gezogen. „Jonas aus Tyrus muss dabei sein!“, bestimmte Marjam. „Er hat mir auf die Welt geholfen, und nun soll er sehen, wie ich Ehefrau werde. Ja, Roque, ohne den Medicus wäre ich heute nicht hier, denn ich hätte schon meine eigene Geburt nicht überlebt – und meine geliebte Mutter auch nicht.“ „Wie hat er das denn gemacht?“, wunderte sich Roque. „Nun, während alle anderen nur verzweifelt zu diesem und jenem Gott gebetet haben und auch die Hebammen in diesem Fall nicht mehr weiterwussten, hat er einfach in Mutters Bauch gegriffen und mich herumgedreht“, erklärte Marjam lachend. „So hat man mir jedenfalls erzählt – nicht, dass ich mich noch daran erinnern könnte! Aber Jonas hat schon sehr viele Menschen gerettet, außer mir damals.“ Sofort setzte sie sich an den Tisch und schrieb einen Brief an Jonas, den sie einem Boten nach Tyrus mitgab. 110
Natürlich überlegten Marjam und Roque auch, wo sie ihr zukünftiges Leben verbringen wollten. Da Roque ein Steinmetz war und kein Bauer oder Gutsbesitzer, wäre es naheliegend, in Tripolis ein Haus zu erwerben. Doch Marjam wollte nur ungern weg aus Casal Moulins, wo sie fast ihr ganzes bisheriges Leben verbracht hatte, und vor allem nicht weg von Mutter und Großvater. „Sucht euch erst einmal eine hübsche Bleibe in Tripolis“, meinte Abo bedächtig, „und wer weiß, vielleicht entschließen Hamza und ich uns ja auch dazu, zu euch in den Norden zu ziehen. In Casal Moulins ist es schon etwas einsam geworden, seit alle anderen Lateiner weg sind – obwohl ich dem Sultan ewig dankbar sein werde für seine Erlaubnis, dass wir hierher zurückkehren durften.“ „Und das Gut? Was soll dann damit werden?“, schreckte Marjam auf. „Entweder ich führe es mit einigen guten Leuten weiter oder aber wir bieten es Saladin zum Kauf an. Ich bin mir sicher, er würde so gut dafür bezahlen, dass wir in Tripolis ein ganzes palacium dafür kaufen könnten. Ich bin schließlich auch nicht mehr der Jüngste, und es würde mir nichts ausmachen, in die Stadt zu ziehen.“ „Und dein Lebenswerk aufgeben? Nein, Großvater, das kann ich mir nicht vorstellen, das klingt so gar nicht nach dir“, entgegnete Marjam ungläubig. „Trotzdem – ich weiß auch nicht, wieso, aber seit einiger Zeit habe ich das deutliche Gefühl, dass ich nicht mehr lange hier auf Casal Moulins sein werde. Und da wäre die Lösung mit Tripolis sicher die angenehmste Variante.“ „Du meinst, du hast üble Vorahnungen?“, fragte Marjam alarmiert. „Ich hätte das überhaupt nicht erwähnen sollen, nun machst du dir wieder Sorgen“, wiegelte Abo ab. „Du weißt doch, was alte Leute manchmal so zusammenfantasieren.“ „So alt bist du noch gar nicht, Großvater! Aber, so wie das klingt, sollten wir uns am besten bald in Tripolis ein Haus suchen!“, entschied sie, nun an Roque gewandt. Dieser schien sichtlich erleichtert. „Ja, das wäre schön, ihr alle mit uns dort. Weißt du, Marjam, dann kann ich dir auch die Kapitelle zeigen, die dein Bild tragen.“ „Mein Bild? Wieso das?“
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„Nun, ich musste ständig an dich denken, als ich sie geschaffen habe“, er lächelte verschmitzt, „da ist es einfach so passiert, dass die Jungfrau Maria wie zufällig dein Gesicht bekam ...“ Marjam küsste ihn voller Rührung auf die Wange und freute sich insgeheim schon darauf, mit Roque zusammen die Kirche und deren Bilderschmuck zu bewundern. *** Drei Männer, die ein viertes, reiterloses Pferd am Zügel führten, ritten am frühe Nachmittag von Südosten her auf Akko zu. Sie wendeten sich erst nach Überqueren des Belus nach Norden, durch diesen Umweg umgingen sie einerseits Saladins Truppen und näherten sich andererseits so von derjenigen Seite, auf der am wenigsten mit Störungen durch übereifrige Templer oder königliche Ritter zu rechnen war. Die Lager der Ritterorden und der Könige lagen viel weiter im Norden nahe beim Hügel Toron, auf dem König Guy als erster sein Zelt aufgeschlagen hatte. Während dieser Kern des christlichen Lagers dicht vollgepackt war mit Kreuzrittern, Lakaien und Klerikern aller Art, glichen die Randbereiche besonders im Süden der belagerten Stadt eher einem Lager von Vaganten, Söldnern und Spielleuten. Auch viele fliegende Händler und Dienstleister hatten sich dort angesammelt, unter denen die zahllosen Huren nicht einmal die geringste Zahl ausmachten. Hier also fühlten Victors Reisebegleiter sich wohl, und auch er zog im Moment das bunte Volk des Trosses der Gesellschaft seiner Ordensbrüder vor. Dass sie ihn hier in Zivilkleidung entdecken würden, war mehr als unwahrscheinlich, und so verbarg er den gestohlenen Habit weiterhin sorgfältig in seinem Gepäck. Hugo und Eirik gesellten sich zu einer Gruppe ruppig aussehender fränkischer Söldner, die rund um einen großen Kochkessel an einem Lagerfeuer saßen. Die beiden waren hier offenbar gut bekannt, und dass sie heute noch einen Fremden mitgebracht hatten, schien niemanden zu stören. Victor ließ sich etwas abseits nieder und beobachtete das Treiben. Er war sehr überrascht, als eine der Huren auch ihm eine Schüssel Suppe und einen Becher Wein brachte. Er bedankte sich und aß schweigend, verzweifelt bemüht, nicht an den riesigen Ausschnitt der Frau denken zu müssen, in den er direkt hineinge112
blickt hatte, als sie ihm die Suppe gereicht hatte. Diese Art Abenteuer hatte es in seinem Leben schon so lange nicht mehr gegeben, dass er sich manchmal fragte, ob er sie tatsächlich irgendwann selbst erlebt oder nur geträumt hatte. Hugo und Eirik erhoben sich bald, nachdem sie gegessen hatten, und erklärten Victor, dass sie jetzt ihren Auftraggeber aufsuchen würden. Sie geheimsten ziemlich herum, als es um dessen Rang und Stellung ging, doch Victor reagierte nicht darauf. Wenn sie ihn nicht ins Vertrauen ziehen wollten, er würde nicht nachfragen. Sie machten sich zu Pferde auf nach Norden, woraus Victor schloss, dass sie wohl bis ins Hauptlager zu all den Königen und Würdenträgern hinaufreiten würden. Als sie nach Einbruch der Dämmerung zurückkehrten, fragten sie ihn, ob er Interesse daran hätte, mit ihnen zusammen einen Auftrag auszuführen. Also sahen sie ihn mehr oder weniger als einen der ihren, einen Glücksritter ohne Ziel und nun auch ohne Geld. Aber ein Auftrag bedeutete auch Entlohnung in barer Münze, und dagegen hatte Victor nichts einzuwenden, selbst wenn er den Gedanken, Hugo Jeans Beutel bei passender Gelegenheit wieder abzunehmen, noch nicht völlig verworfen hatte. So fragte er die beiden, worum es denn genau bei diesem geheimnisvollen Auftrag ginge. Hugo setzte sich in Positur und holte weitschweifi fig aus. „Unser Auftraggeber, der, wie ich schon sagte, eine überaus hochgestellte Persönlichkeit im Königreich Jerusalem ist, hat einen alten persönlichen Feind aus der Zeit, als die Stadt noch in christlicher Hand war. Dieser Mann ist seit Langem als Kollaborateur mit den Sarazenen bekannt, und er durfte als einziger Franke nach dem Fall Jerusalems in dessen Umland wohnen bleiben und seine Güter behalten. Saladin nennt ihn sogar seinen persönlichen Freund, das muss man sich einmal vorstellen, schließlich ist dieser Verräter ein Mann aus Frankreich. Sein Name ist Abo des Moulins, er wohnt bei Ibelin, und wir haben den Auftrag, ihn aus dem Weg zu räumen.“ Victors Gehirn begann plötzlich, ganz strategisch zu arbeiten. „Wie viele sind noch mit ihm dort? Ist mit Gegenwehr zu rechnen?“ „Uns wurde gesagt, dass er nur einige alte Dienstboten bei sich hat, sowie zwei sarazenische Weiber, die er als seine Schwiegertochter und Enkelin bezeichnet. Bastarde also, denn der ebenso verräterische Sohn des Alten, der gerechterweise als Strafe für 113
seine Sünden bei Hattin gefallen ist, hatte sich mit einer der Ungläubigen zusammengelegt und mit ihr das andere Mädchen in die Welt gesetzt.“ „Und was soll mit denen geschehen? Sollen wir die auch umbringen?“, wollte Victor ungerührt wissen. „Darüber haben wir keine Anweisungen erhalten – ich denke mal, dass es uns überlassen bleibt, ob wir uns erst noch etwas mit ihnen vergnügen und sie dann auch umbringen oder nicht. Aber Geld gibt’s nur für den Alten, alle anderen sind Dreingabe.“ Victor überlegte einen Augenblick. Sicher hätte er kein Problem damit, beim Mord an einem Kollaborateur mitzuhelfen, denn ausnahmslos jeder, der sich mit den Sarazenen gut stellte, verriet schließlich die christliche Sache. Ob Hugo und Eirik ihn wirklich am Honorar beteiligen würden, hielt er zwar keineswegs für sicher, aber vielleicht würde sich ja unterwegs oder in Ibelin selbst noch irgendeine Gelegenheit für ihn ergeben, seinen leeren Beutel wieder etwas zu füllen. Die Aussicht auf die beiden quasi als „Zugabe“ mitgelieferten Sarazeninnen verlockte ihn dagegen nicht sonderlich – so lange war er noch nicht wieder aus der keuschen Klosterwelt in die lasterhafte Realität zurückgekehrt. Am nächsten Morgen machten sich die drei auf den Weg nach Süden, Richtung Ibelin. *** Es war der Morgen eines schönen Sommertages, noch bevor die Hitze wieder wie jeden Tag ins Unerträgliche stieg, als Margret aus dem Garten des Spitals zurück in die Kräuterkammer kam. Sie hatte einige Kräuter geerntet, die sie jetzt weiterverarbeiten wollte. Da hörte sie die inneren Tore aufgehen und kurz darauf Jonas ihren Namen rufen. „Margret, sieh’ mal, was ein Bote gerade gebracht hat – einen Brief aus Casal Moulins, geschrieben von Marjam!“ Sofort ließ Margret die Kräuter Kräuter sein. Sie lief zu Jonas, der das Siegel brach und den Brief entfaltete, und beugte sich mit ihm über das Schreiben. Beide lasen mit Spannung, und blickten sich dann voller Überraschung an. Marjam wollte heiraten und Jonas war zur Feier eingeladen? Und der Bräutigam war Roque? Das waren ja ausnahmsweise einmal freudige Nachrichten in dieser immer trüber werdenden Zeit! 114
Sofort begannen sie mit den Vorbereitungen für die Reise, denn selbstverständlich würde Margret Jonas begleiten. Was für eine Überraschung würde das für ihre Mitstreiter bei der Verteidigung Jerusalems sein, Margret nun so unverhofft und vor allem gesund wiederzusehen. Said würde ebenfalls mitkommen, um sich um die Pferde und das Gepäck zu kümmern. Um das Wiedersehen ein wenig länger auskosten zu können, würden sie etwas früher als nötig losreiten. Zwar war es nach wie vor nicht ungefährlich, durch muslimisches Gebiet zu reisen, doch Jonas war bei den Muslimen gut bekannt und hatte notfalls immer ein Empfehlungsschreiben Saladins bei sich. Und nicht wenige von dessen Soldaten kannten Buraq, die Stute aus des Sultans eigener Zucht, die der dem Medicus vor einigen Jahren zum Geschenk gemacht hatte. Auf seiner Satteldecke hatte Jonas zudem seine Hausmarke anbringen lassen – ein weiteres eindeutiges Identifiziefi rungszeichen. Während Jonas wie üblich seine bequeme arabische Reitkleidung dem westlichen Surcot vorzog, nahm Margret nur ihr dunkelgrünes Oberkleid mit einigen arabischen Kleidungsstücken – zum Reiten trug sie gerne weite Hosen und Stiefel, über allem aber ihren geliebten Pilgermantel. Auf diesem war noch immer das Kreuz befestigt, obwohl sie schon lange nicht mehr daran gedacht hatte, ihre Pilgerfahrt irgendwann mit einer Heimkehr nach England zu vollenden. Jonas nahm vorsichtshalber neben seinem Dolch auch ein Schwert mit, das er an Buraqs Sattel befestigte. Als Margret dieses Schwert genauer betrachtete, fiel fi ihr auf, dass es ein Kreuzfahrerschwert war. „Woher hast du denn dieses Schwert? Ich dachte, du bist kein großer Freund der fränkischen Ritter und des Kämpfens?“ „Dieses Schwert gehörte einmal einem ehemaligen Patienten, einem burgundischen Ritter, der in einer Schlacht schwer verwundet wurde. Über viele Wochen habe ich ihn behandelt, und als er wieder gesund war, wollte er nicht weiter kämpfen und ist nach Frankreich zurückgekehrt. Dieses Schwert hat er mir aus Dank zum Abschied geschenkt“, er sah sie nachdenklich an. „Um das Kämpfen kommt man in einem Land wie diesem leider nicht herum. Ich hatte schon als Junge in Island erste Erfahrungen mit dem Schwert gemacht, es aber nach Sigurds Tod auf Jahre nicht mehr angerührt. 115
Erst als ich hier im Orient einige Male nur knapp meine Leben retten konnte, habe ich wieder angefangen zu üben. Wie meine medizinischen Lehrer, so waren meine Schwertmeister ebenfalls ganz unterschiedlicher Herkunft. Der erste war ein reisender Kämpe aus dem Frankenreich, der zweite ein Mann, der über die Seidenstraße aus dem Sererland gekommen war. Und dann war da noch ein muslimischer Edler, der mir das Leben gerettet und beschlossen hatte, dass ich meine Haut nicht mehr so billig zu Markte tragen sollte.“ „Und doch ist es ein Widerspruch – ein Heiler mit einem Schwert!“, bemerkte Margret. „Ja, sicher, das macht mir auch immer wieder zu schaffen. Doch wenn ich das Schwert nicht zu gebrauchen wüsste, gäbe es im Heiligen Land schnell einen Medicus weniger!“ *** Bald war alles soweit vorbereitet, dass die drei Reiter sich aus dem vorderen Tor des Spitals auf die geschäftigen Straßen von Tyrus hinausbegeben konnten, um sich durch die Menschenmassen zu kämpfen, weiter durch die dreifachen Tore über die Landzunge aufs Festland und von da aus in Richtung Süden. Jonas schätzte, dass sie jetzt im Sommer etwa vier Tage bis Ibelin brauchen würden. Margret, die so lange Zeit im friedlichen Paradies des Spitals verbracht und das Gewühle auf den Straßen nur ab und zu aus dem Fenster betrachtet hatte, war entsetzt, wie viel anders sich alles anfühlte, wenn man sich mittendrin befand. Sofort wurden die Reiter von unzähligen Bettlern umringt, von denen einige besonders freche sogar versuchten, das Zaumzeug der Pferde oder die Kleider der Reisenden zu fassen zu bekommen, worüber Margret sich so sehr erschrak, dass ihr Pferd scheute. Jonas griff ihr sofort mit der einen Hand in die Zügel, um ihr Pferd zu bändigen, mit der anderen aber schlug er mit seiner Gerte nach den Bettlern, die laut fluchend einige Schritte zurück machten, wobei er von Said unterstützt wurde, der mit dem losen Ende seiner Zügel auf die Menge einschlug. Die Menschentraube lichtete sich nun etwas, doch Jonas konnte seiner Gefährtin ansehen, dass sofort wieder die Schreckensbilder des angreifenden Totenheeres vor ihren Augen aufgetaucht sein mussten. Beruhigend ergriff er ihre Hand. 116
„Du wirst Dich schnell wieder daran gewöhnen, glaub mir“, versicherte er, „und schließlich bist Du diesmal nicht vollkommen allein unterwegs.“ Schon bald nachdem sie die Stadt verlassen hatten, wurde es ruhiger und die drei Reiter konnten ihren Weg in zügigem Trab fortsetzen. Sie rasteten mehrmals, und tatsächlich entspannte Margret sich etwas. Erst als es Abend wurde, verdichteten sich die Menschenmengen, die auf der Küstenstraße unterwegs waren, wieder – schließlich näherte man sich dem belagerten Arcsborg, wie Jonas es in seinem nordischen Dialekt nannte, gemeinhin in der Sprache des Landes Akko genannt. Genau genommen war es eine doppelte Belagerung, die sich um die bedeutende Hafenstadt legte – die muslimische Garnison, welche die Stadt seit fast zwei Jahren besetzte, wurde von einer bunt gemischten Armee von Kreuzfahrern aller europäischen Nationen belagert, die sich im Osten halbkreisförmig um die Stadt herum eingegraben hatte. Diese wiederum wurde vom Heer Saladins bedrängt, das sich auf den Akko umgebenden Hügeln festgesetzt hatte. Diese eigenwillige Situation dauerte nun schon längere Zeit an, und kaum jemand wusste noch genau zu sagen, wer wann wen belagerte oder umgekehrt. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen – neue Ritterkontingente kamen voller Kampfbegeisterung aus Europa an, während andere alle Hoffnung verloren hatten und desillusioniert in ihr Heimatland zurückkehrten. Besonders das vergangene Jahr 1190 war grauenhaft gewesen, hatten doch immer wieder Seuchen und Epidemien zahllose Tote gefordert. Selbst Königin Sibylla und ihre beiden Töchter waren im Herbst einer Seuche zum Opfer gefallen, obwohl sie sicher von allen vor Akko Lagernden die besten Lebensverhältnisse hatten. Schließlich hatte der immer größer werdende Mangel an Nahrungsmitteln sogar dazu geführt, dass Menschen aus Not Menschenfl fleisch aßen – und angeblich sogar Eltern ihre eigenen Kinder verspeisten. Nur ab und zu gelangten Schiffe mit Esswaren durch die sarazenische Seeblockade, und das Wenige, was sie an Bord hatten, wurde für Wucherpreise an die Hungernden und Kranken verkauft – nicht etwa nach Gewicht, wie in Europa üblich, sondern im Falle von Bohnen sogar stückweise und genau abgezählt. Der 117
Tod hielt tagein, tagaus reiche Ernte vor Akko, und das völlig anders als es sich die aus dem Westen ankommenden Kreuzritter ursprünglich vorgestellt hatten. Die verschiedenen christlichen Nationalitäten besetzten meist eigene Lagerteile, ebenso die Templer und Johanniter, die sich eng um den Lagerkern, den Hügel Toron mit den Zelten des Königs Guy, drängten. Seit April war auch der französische König Philipp August mit seinem Heer vor Ort, und zuletzt war der englische Herrscher Richard Löwenherz mit einem Gefolge von über zwanzig Schiffen angekommen. So herrschte derzeit im christlichen Lager trotz aller katastrophalen und chaotischen Zustände Hochstimmung, denn man erhoffte sich vom Kommen der Könige endlich eine schnelle Entscheidung. Die drei aus Tyrus kommenden Reisenden suchten sich einen Lagerplatz am äußersten Rand des Kreuzfahrerlagers, etwas entfernt von den königlichen Heeren, wo sie relativ ungestört bleiben konnten. Zu Margrets Erstaunen waren auch einige Muslime unter den Lagernden auszumachen, und Jonas erklärte ihr, dass diese freundschaftlichen Begegnungen häufi fig vorkamen – jedoch am nächsten Morgen vergessen waren, wenn die Kämpfe wieder aufgenommen wurden. Die an den Lagerfeuern sitzenden Ritter schilderten lautstark und unter dem Eindruck von einigem Rebensaft ihre Erlebnisse, dabei wussten sie häufi fig von ungeheuerlichen Begebenheiten zu erzählen. Es wurde berichtet von Rittern, die wie die Igel mit sarazenischen Pfeilen gespickt aus dem Kampf zurückkamen, von gesegneten Reliquien, die auf wundersame Weise feindliche Pfeile abprallen ließen und von der übermenschlichen Tapferkeit mancher der Belagerer. Gelegentlich kam es zu Mutproben und zum Kräftemessen zwischen Christen und Muslimen, die nicht immer unter Beachtung aller ritterlichen Tugenden ausgetragen wurden. Doch selbst wenn bei solchen Kämpfen jemand – egal, welcher Seite er angehörte – zu Tode kam, hatte das kaum Auswirkungen auf die allgemeine Situation der Belagerung: Das Töten war für viele zu einem belanglosen Zeitvertreib geworden. Über all dem lag der Klang von Pfeifen und Trommeln, manche Männer tanzten, und nicht selten waren auch Frauen auszumachen, die den müden Kämpfern zu etwas Entspannung verhelfen wollten. Jonas und Margret beobachteten das Treiben mit gemischten Gefühlen, einmal mehr fragten sie sich nach dem Sinn dieses ganzen 118
Glaubenskrieges. Warum konnten Christen und Muslime sich nicht auch im Großen vertragen, wenn sie es im Kleinen offenbar ganz gut schafften? Am folgenden Tag brachen Margret, Jonas und Said nach Süden auf und ritten zwischen der belagerten Stadt und den Hügeln hindurch. Nur wenig südwärts von Akko lag ein langer, auch jetzt fast menschenleerer Sandstrand, der bei Muslimen wie Franken gleichermaßen als Rennstrecke für ihre Pferde berühmt und beliebt war. Auch die drei Reiter genossen dieses Stückchen Freiheit und ließen ihren Pferden freien Lauf. Sie sogen die frische Mittelmeerluft tief in ihre Lungen und ließen die bedrückende Stimmung des doppelt belagerten Akko im wahrsten Sinne des Wortes hinter sich. Als die Pferde schließlich in die ankommenden Wellen hineinliefen und das Wasser weit nach oben spritzte, jauchzten ihre Reiter vor Vergnügen über die willkommene Erfrischung. Jonas und Margret zügelten ihre Pferde und blickten aufs Meer hinaus, während Said langsam am Ufer entlangritt. „So habe ich oft in Yorkshire aufs Meer geblickt und mich gefragt, wo wohl das Heilige Land liegen mochte“, sagte Margret, völlig versunken in ihren Erinnerungen. „Ja, und wenn ich das auf Island täte, was bekäme ich da als erstes zu sehen? England!“, neckte Jonas sie. „Und was bitte wäre daran so schlimm?“, fragte sie in gespielter Wut zurück. „Nichts weiter, außer – nun ja, dass es eben England ist und nicht Norwegen oder Friesland“, er schüttelte sich voller Widerwillen. „Warst du überhaupt schon einmal in England? Sonst kannst du doch gar nicht wissen, wie schön es dort sein kann, trotz aller Kälte und Nässe – und des Nebels.“ Er lachte. „Ja, das klingt wahrlich verlockend! Das müssen wir unbedingt nachholen!“, rief er, gab Margrets Pferd einen Klaps und preschte auf Buraq mit atemberaubender Geschwindigkeit davon, so dass sich Margrets Tier sofort an deren Fersen heftete und die Stute einzuholen versuchte. Auch Said ließ sich das Wettrennen nicht entgehen. Über lange Strecken jagten alle drei dahin, bis schließlich die Pferde langsamer wurden und von sich aus nach einer Rast verlangten. *** 119
Die folgende Nacht verbrachten sie unter den Bögen des alten römischen Aquäduktes kurz vor Caesarea, dieser ehemals bedeutenden Hafenstadt, die von Herodes dem Großen zur Zeit Jesu als Hauptstadt seines Reiches gegründet worden war und deren christliche Kirchen weithin berühmt waren. Auch Heraclius, der ehemalige Patriarch von Jerusalem, war hier früher Erzbischof gewesen. Die Stadt hatte über Jahrhunderte hinweg als blühende Metropole existiert, doch seit sie im Juli 1187 von den Amiren Saladins erobert und gebrandschatzt worden war, lag sie als verlassene Geisterstadt in den Dünen. Die meisten Einwohner hatten die Eroberung nicht überlebt, und die wenigen, die übrig geblieben waren, hatten nicht weiter dort wohnen wollen, wo ihre Freunde und Nachbarn den Tod gefunden hatten und waren weggezogen. Der Fürst von Caesarea, Walter, hatte nach Tyrus entkommen können und sich Konrad von Montferrat angeschlossen, der inzwischen ebenfalls an der Belagerung von Akko beteiligt war. Trotzdem waren hier und da noch Lagerfeuer in den Ruinen der zerstörten Stadt zu sehen, die von allerlei zwielichtigem Gesindel herrührten, das sich dort versteckte. Jonas kannte die dortigen Zustände gut genug und zog es daher vor, sich ihnen nicht zu nähern und auch kein eigenes Feuer anzuzünden. So lagerten sie dicht nebeneinander so weit unter den Bögen verborgen, dass ein zufällig vorbeikommender Reiter sie nicht würde entdecken können. Die Stimmung war seltsam gespenstisch, so als spukten allerorten noch die Geister der ehemaligen Bewohner herum und Margret fühlte sich zunehmend unbehaglich. „Soll in Caesarea nicht auch der Heilige Gral verborgen sein?“, fragte sie leise, nur um ein Gespräch zu beginnen. „Wenn es ihn überhaupt gibt – warum nicht?“, erwiderte Jonas abwesend, der die Umgebung inspizierte. „Aber ich glaube nicht daran, dass irgendwer diese legendäre Reliquie hier oder anderswo je wird entdecken können. Das ist etwas für Legendengeschichten, nicht für den Alltag.“ „Was hast du gegen Legendengeschichten?“, wandte Margret ein. „Die sind doch gemeinhin sehr spannend und geheimnisvoll. Stell es dir doch vor, der Kelch, in dem das Blut des Herrn gesammelt wurde, während er am Kreuz hing!“ „Sicher sind Legenden gut – als Legenden. Aber niemand könnte heute noch mit Sicherheit sagen, ob er den Heiligen Gral in seinen 120
Händen hielte, selbst wenn es denn so wäre. Wie sollte man ihn wohl eindeutig erkennen? Also ist das alles nur Zeitverschwendung – oder Unterhaltung für Nächte wie diese! Doch nun solltest du schlafen, Margret, wir haben morgen noch einen anstrengenden Tag vor uns.“ Er zog seinen Mantel fester um sich, die Nähe der dicken kalten Römermauern ließen die Reisenden ebenso erschauern wie die Gespenstergeschichten. Jonas und Said hielten die Nacht über abwechselnd Wache, während Margret in einen unruhigen Schlaf fiel. Die Anstrengungen der Reise und die eigenwillige Atmosphäre des Ortes hatten ihre alten Geister wieder aufgeweckt, und irgendwann träumte sie sogar vom König des Totenheeres, der den Heiligen Gral mit knochigem Grinsen neben ihr aus dem Sand zog. Empört drehte Margret sich auf die andere Seite. *** Auch der nächste Tag verlief ohne Zwischenfälle, sodass Margret und die beiden Männer nur vom Reiten erschöpft waren, als sie gegen Abend eine Karawanserei in der Nähe von Jaffa als Nachtlager aufsuchten. Die Herberge war voller Menschen, fast ausschließlich Muslime, aber auch Juden und orientalische Christen, und auf dem Hof herrschte ein buntes Treiben: Ankommende Reiter versorgten ihre Pferde, fliegende Händler priesen ihre Waren an, Menschen stritten und versöhnten sich, aßen miteinander oder machten Musik. Betten oder Zimmer gab es keine mehr, und so suchten sich Margret und Jonas ein freies Eckchen an einem Lehmhaus, von wo aus sie einen guten Überblick über das geschäftige Getümmel vor ihnen hatten. Said hatte sich mit den Pferden in die Nähe des Stalles zurückgezogen – er mochte keine Menschenansammlungen und blieb in Situationen wie dieser gerne für sich. Jonas blickte zu Margret hinüber, die geistesabwesend ihren Teil am zähen, geschmacklosen Getreidebrei aus einer Schüssel löffelte, den sie der Betreiberin der Herberge abgekauft hatten, und dabei die Menschen auf dem großen Hof der Karawanserei beobachtete. Inzwischen wirkte sie nicht mehr erschreckt, wie beim Beginn ihrer Reise, sondern wieder überaus neugierig. „Was ist? Warum siehst du mich so an?“, wollte sie wissen. „Weißt du, es ist das erste Mal, 121
dass ich in Ruhe dem Alltagstreiben außerhalb von Tyrus zuschauen kann – und ich war lange nicht mehr unter Menschen.“ „Sicher, das weiß ich. Aber vor allem sehe ich, dass du alle mit derselben Neugier und Offenheit beobachtest, egal ob es Muslime, Christen oder Juden sind. Glaub mir, das ist selten in diesem Land. Was meinst du“, fuhr Jonas fort, „kann man durch simples Beobachten überhaupt feststellen, wer welcher Religion angehört?“ „Manchmal schon“, meinte Margret, „da ist der Pilger mit dem christlichen Kreuz auf dem Mantel, so wie ich eines trage, und der Händler da drüben ist sicher Jude.“ „Und die anderen?“, ließ er nicht locker. „Nein, bei den meisten würde man es ohne Nachfragen nicht herausbekommen.“ „Genau. Und wer tut das schon? Welcher Kreuzfahrer fragt, bevor er zuschlägt, bevor er einem vermeintlich Ungläubigen das Schwert in die Eingeweide treibt? Dabei sind dies alles Menschen – Menschen, die viel mehr Dinge gemeinsam haben als sie trennen. Erkennst du den Wahnsinn, der in diesem Krieg liegt?“ Margret setzte ihre Schüssel ab und rückte näher zu Jonas an die Wand. „Wahnsinn, ja, schon. Aber haben nicht die Sarazenen uns angegriffen, uns Jerusalem weggenommen?“ „Das ist doch gar nicht die Frage, wer wem etwas weggenommen hat. Die eigentliche Frage ist, warum die Menschen darauf immer nur einen Antwort kennen – Gewalt. Warum können sie sich nicht friedlich einigen, warum kann Jerusalem nicht allen gehören? Das tut es sowieso seit jeher, alle Religionen haben dort ihre heiligen Stätten – nicht nur die Christen.“ „Das ist wahr. Nein, ich verstehe es auch nicht. Ich glaube, dass vielen Reichtum und Beute viel wichtiger sind als die Religion, die sie nur als Beweggrund vorschieben – warum sonst immer wieder diese Überfälle auf Karawanen oder Bauernhöfe? In Jerusalem erzählte jemand sogar, die Schlacht von Hattin habe nur deshalb stattgefunden, weil Reynald von Châtillon eine muslimische Karawane überfallen hat!“ „Nun, nicht nur eine“, meinte Jonas düster, „sag besser eine zu viel. Und das war auch nur ein Grund für Hattin, aber ein sehr wichtiger.“ „Ist es wahr, dass Saladin ihn aus Rache mit eigener Hand getötet hat?“ 122
„Das weiß ich nicht sicher, denn ich war glücklicherweise nicht dabei, aber ich habe von einem Gelübde des Sultans gehört, ihn zu töten, wann immer er in seine Gewalt fiele.“ fi Margret seufzte und legte müde ihren Kopf an seine Schulter, ein deutliches Zeichen, dass sie nicht mehr weiterdiskutieren wollte. Die Abendsonne hüllte den Hof wie eine riesige, flauschige, rosenfarbene Decke ein, und langsam wurde es ruhiger. Jonas wickelte Margret mit in seinen Mantel, und bald darauf war sie eingeschlafen. Er selbst blickte noch eine Weile zum Nachthimmel auf, er genoss diesen Anblick sehr, von dem er nie genug bekommen konnte. Das war schon zu Hause auf Island so gewesen, wenn er als Junge hinter dem Haus auf dem Gras gelegen und solange die Sterne beobachtet hatte, bis seine Mutter ihn schließlich gefunden und scheltend ins Bett geschickt hatte. Eine Gedichtzeile Abu Tammâns kam ihm in den Sinn: Mein Reisegefährte schlief für mich, indes für ihn ich wachte Er sieht im Traume Weib und Kind, da ich die Sterne betrachte. Doch trotz dieses Frieden hatte er unangenehme, bedrohliche Vorahnungen – er war sich sicher, dass etwas Schlimmes geschehen würde, und als Margret nur wenig später mit einem leisen Schrei aus einem Alptraum erwachte, fühlte Jonas sich in seiner Ahnung bestätigt. „Ich war auf einmal wieder in Jerusalem, auf der Mauer, und die Muslime haben uns alle besiegt und niedergemacht – auch Marjam und Abo! Abo hat mich verzweifelt um Hilfe gebeten, so wie schon so viele andere in meinen früheren Träumen! Jonas, ich habe Angst um die beiden!“, erzählte Margret unter Tränen. Jonas küsste sie beruhigend auf die Stirn und zog seinen Mantel noch fester um sie, denn er wollte ihr auf keinen Fall sagen, dass auch er ein sehr schlechtes Gefühl hatte – und, was sehr selten bei ihm vorkam, Angst vor dem nächsten Tag. ***
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Die Hochzeitsvorbereitungen in Casal Moulins waren nun in vollem Gange, der Termin war verkündet und die Gäste geladen. Trotzdem mussten auch die Alltagsgeschäfte auf dem Landgut weitergehen, und so war Abo mit seinem Vorarbeiter Gautier zu einigen entfernteren Plantagen aufgebrochen. Da aufgrund der unruhigen Zeiten derzeit alles etwas länger dauerte, ritten die beiden erst nach Einbruch der Dämmerung zurück zum Hof. „Was war das?“, merkte Abo plötzlich auf. „Hast du das auch gehört, Gautier?“ Der hatte jedoch nichts vernommen. „Vielleicht ein Vogel, Herr ...“ „Das wäre dann aber ein großer Vogel mit riesigen Füßen!“, entgegnete Abo zweifelnd. Und er sollte recht behalten – schon im nächsten Moment stürzten sich drei vermummte Reiter in arabischer Kleidung auf die überraschten Männer. Sie knüppelten auf die beiden ein, noch ehe sie zur Gegenwehr kamen und schließlich verwundet von den Pferden fielen. Abo versuchte noch, die Männer auf Arabisch anzusprechen, doch es war zu spät. Er bekam mehrere Hiebe auf den Kopf und sank blutüberströmt zu Boden. Die drei Angreifer raubten ihre Opfer aus, nahmen ihnen Geld, Waffen und Pferde und verschwanden ungesehen in der hereinbrechenden Nacht. *** Aufgrund ihrer Vorahnungen war es Margret und Jonas nicht vergönnt gewesen, eine ruhige Nacht zu verbringen, und schon bei Morgengrauen drängte der Medicus zum Aufbruch aus der Karawanserei. Auch Said wurde unruhig, wie immer, wenn er bei seinem Meister außergewöhnliche Anspannung wahrnahm. So trieben die drei ihre Pferde an, um das restliche Stück ihres Weges nach Casal Moulins möglichst schnell hinter sich zu bringen. Als sie noch am Vormittag in den Hof des Landgutes ritten, fiel fi ihnen sofort die auf eigenwillige Weise aufgeregte und zugleich bedrückte Stimmung auf, die dort herrschte. Dienstboten eilten von hier nach da, man hörte laut diskutierende Stimmen aus manchen Häusern und, etwas weiter entfernt, das Jammern von Klageweibern. Sofort war klar, dass etwas geschehen sein musste. Die alte Köchin, die schon bei Marjams Geburt hier in Diensten gewesen war, erkannte Jonas schließlich. Sie überschüttete ihn mit 124
einem arabischen Redeschwall, aus dem Margret nur wenige Fetzen isolieren konnte, hatte sie doch erst vor einiger Zeit begonnen, Arabisch zu lernen. Jemand war tot und es musste etwas mit Abo passiert sein. Margret sah, wie sich Jonas’ Gesichtsausdruck schlagartig veränderte und sein Mund einen harten Zug annahm. Die alte Dienerin lief eilig davon, um die Ankömmlinge anzukündigen, doch Jonas blieb noch einen Augenblick mit dem Rücken zu Margret unbewegt stehen. Sie bemerkte, wie sich sein ganzer Körper anspannte. Said war abgestiegen, nahm seinem Herrn nun die Zügel von Buraq aus der Hand, um das Pferd anzubinden und sah ihm sorgenvoll in die Augen. Dann endlich drehte Jonas sich langsam zu Margret herum. „Abo ist tot“, sagte er. „Unbekannte haben ihn gestern Abend erschlagen. Es sollen Muslime gewesen sein.“ Margrets Augen füllten sich mit Tränen, und sie war dankbar dafür, dass Jonas ihr vom Pferd half und Said es ebenfalls anband. Ihr schwirrte der Kopf, sie fand keine Antwort. Abo war tot! Erschlagen? Warum? Sie hatte es gesehen, letzte Nacht, im Traum. Demnach genau zu der Zeit, als er getötet wurde. Und was war mit Marjam geschehen, die ihr ebenfalls im Traum erschienen war? Während sie noch ihren Gedanken nachhing und sich ohne es zu merken an Jonas’ Arm festkrallte, kam die Alte zurück und bedeutete ihnen, ihr zu folgen. Said blieb wie immer bei den Pferden. In der Stube des Haupthauses war es, verglichen mit dem Trubel auf dem Hof, erstaunlich still. Hamza saß mit in die Hände gestütztem Kopf am Tisch, neben sich eine der Klagefrauen. An ihrem Zittern war zu erkennen, dass sie weinte, ohne wirklich Tränen vergießen zu können. Marjam und Roque hockten eng nebeneinander auf einer Bank und starrten auf den Boden. Meister Adam war der erste, der die Neuankömmlinge bemerkte und ihnen zögernd entgegentrat. Auf einer Pritsche lag ein weiterer Mann, dessen Kopf und Schulter dick verbunden waren. Marjam sah auf und erkannte Jonas, der als erster in die Stube getreten war. Sie erhob sich und lief ihm entgegen, und er schloss sie sofort in die Arme. Als hätte es nur dieser mitfühlenden Geste gebraucht, begann Marjam nun hemmungslos zu weinen und ließ sich kaum wieder beruhigen. 125
Roque war ebenfalls aufgestanden und erkannte nun Margret, die hinter Jonas ins Zimmer getreten war. Der junge Mann staunte sie ungläubig an. „Margret? Kann das wahr sein? Wir glaubten schon, dich nie wiederzusehen!“ Er lief ihr entgegen und ergriff ihre Hände. Nach einer Weile zog Jonas, der Marjam noch immer festhielt, auch Margret zu sich heran. „Marjam, sieh wer hier ist!“, sagte er leise. Marjam wischte sich die Tränen aus den Augen, konnte sie doch kaum glauben, was sie sah. Die beiden Frauen umarmten sich und hielten sich lange Zeit stumm fest, während sich die Männer bekannt machten. „Seid gegrüßt, Herr. Ihr müsst der Medicus Jonas aus Tyrus sein!“, bemerkte der Junge. „Und ich bin Roque, der Steinmetz und nun nicht mehr ganz so glückliche Bräutigam.“ „Es freut mich, Euch kennenzulernen“, erwiderte Jonas, „auch wenn ich mir wahrlich gewünscht hätte, es wäre unter günstigeren Umständen geschehen.“ Nun ging Jonas hinüber zum Tisch, wo Hamza saß und noch immer nicht den Kopf gehoben hatte. Leise sprach er sie auf Arabisch an und legte seinen Arm um sie. Sie reagierte zunächst nicht, ergriff dann aber wie zum Dank die Hand des Medicus. Nur wenig später nahm Adam Jonas am Arm und ging mit ihm nach draußen, um ihm langsam und stockend zu berichten, was während der letzten Nacht geschehen war. Als Abo und Gautier, der Vorarbeiter, der verletzt auf der Pritsche lag, von einem Ausritt zu einer weiter entfernteren Plantage nicht wie erwartet zurückgekehrt waren, hatten sich Adam und die Knechte auf die Suche nach den Vermissten gemacht. Da es schon dunkel gewesen war, hatten sie Fackeln mitgenommen und waren etwas entfernt vom Hof zunächst auf Gautier getroffen, der aus einer tiefen Ohnmacht erwacht war und nun, selbst schwer verletzt und kaum bei Sinnen, Hilfe für seinen Herrn holen wollte. Stammelnd hatte er ihnen die Richtung gewiesen, in der sie den ebenfalls schwer verletzten Abo finden würden. Adam hatte zwei der Knechte angewiesen, den Vorarbeiter zurückzubringen und war dann gemeinsam mit den anderen in die von Gautier angegebene Richtung gegangen. Zu ihrer aller Entsetzen hatten sie für Abo nichts mehr tun können – er 126
hatte mit eingeschlagenem Schädel auf dem Weg gelegen. So hatten sie auch ihn zurückgebracht, und Adam war schließlich auf die Idee gekommen, den Leichnam im Eiskeller aufzubahren, anstatt ihn in die wärmere Stube zu bringen. Vielleicht, so seine Überlegung, ließe sich am hellen Tag besser erkennen, was genau vorgefallen war. Während Hamza am Tisch zusammengebrochen war, als sie die Nachricht erfahren hatte, war Marjam erstaunlich gefasst geblieben, fast wie versteinert. Sie hatte darauf bestanden, ihren Großvater zu sehen, obwohl ihr alle Männer und insbesondere Roque davon abgeraten hatten. Schließlich war Adam doch mit ihr hinunter in den Keller gegangen, wo einige der Knechte an Abos Bahre Totenwache hielten. Hier war er Zeuge geworden, wie Marjam an dessen Leichnam bei allem, was ihr heilig war, geschworen hatte, seinen Tod zu rächen. „Seine Mörder werden nicht ungestraft bleiben, wer immer sie auch waren“, hatte sie laut gesagt, „denn noch habe ich den Bogen Saladins.“ *** Jonas bot sofort an, gründliche Nachforschungen anzustellen und den tragischen Tod des Abo des Moulins näher zu untersuchen. Darum hatten ihn Marjam und die ihren sowieso schon bitten wollen. Zunächst ließ er sich jedoch Gautiers Verletzungen zeigen. Der Vormann lag regungslos auf seiner Pritsche, war aber ansprechbar. Er hatte eine tiefe, aber zum Glück nicht lebensbedrohliche Kopfwunde davongetragen, die wohl von einem Streitkolben stammte. Dieser war abgeglitten, wahrscheinlich als Gautier dem Schlag ausweichen wollte, und hatte statt seinem Schädel die Schulter zerschmettert. Jonas sah auf den ersten Blick, dass er hier im Moment nur wenig ausrichten konnte, denn die Schulter würde operiert werden müssen, um die Knochenfragmente wieder an ihren angestammten Ort zu bringen. Anschließend bat er den Vormann, noch einmal aus seiner Sicht die Ereignisse des vergangenen Abends zu erzählen. Gautier sprach stockend und war kaum zu verstehen. Er war sehr müde gewesen und hatte kaum noch Aufmerksamkeit auf den 127
Rückweg verwendet, so dass er die Angreifer nicht hatte kommen hören. Alles, was er wusste war, dass es drei Männer in arabischer Kleidung gewesen waren, die sofort und ohne jede Vorwarnung auf die beiden Reiter eingeschlagen hatten. Die Nachfrage Jonas’, ob es Soldaten gewesen seien, konnte er aufgrund der Kleidung der Männer verneinen, sie hatten Zivilgewänder getragen. Die Gesichter hatte er nicht erkennen können, da sie ihre Köpfe bis auf die Augen in Turbane gewickelt hatten. „Habt Ihr irgendwelche Stimmen unterscheiden können? Arabisch sprechende Stimmen? Kampfschreie? Rufe zu Allah?“ „Nein, Herr, sie haben einfach ohne einen Laut zugeschlagen, mit etwas, das aussah wie Knüppel oder Streitkolben. Mehr weiß ich wirklich nicht.“ „Ich danke Euch sehr“, sagte Jonas und erhob sich von Gautiers Lager. Marjam und Margret, die die Befragung stumm verfolgt hatten, sahen ihn gespannt an. „Ich glaube nicht, dass es Araber waren. Ich habe noch nie von einem muslimischen Angriff gehört, der völlig still vor sich gegangen wäre. Und Djellaba und Turban kann man sich überall stehlen, um sich damit zu tarnen. Es sollte wohl nur so aussehen, als seien die Täter Muslime, vielleicht um die Stimmung hier im Land noch weiter zu vergiften. Abo war schließlich ein angesehener Mann im Königreich Jerusalem.“ „Meinst du, es waren Franken? Das ist doch nicht möglich, es gibt hier außer uns keine mehr!“, rief Marjam aufgeregt. „Und warum hätten sie das tun sollen? Großvater war bei allen beliebt!“ „Das kann ich im Moment auch nicht sicher sagen, möglicherweise gibt es eine Verschwörung?“, meinte Jonas. „Aber ich werde es herausfi finden, das verspreche ich dir. Jetzt möchte ich aber den Leichnam bei Licht untersuchen, bevor die Verwesung voll einsetzt.“ Alle gingen hinaus in den Hof, wo vor der Treppe zum Eiskeller bereits ein Tisch hergerichtet worden war. Die Knechte holten den steifen Leichnam ihres Herrn herauf und legten ihn vorsichtig und respektvoll auf den Tisch. Jonas bedeutete Said, seinen Instrumentenkoffer zu bringen, und bat Marjam um eine Schüssel mit Wasser. Nun sah Margret zum ersten Mal seit fast vier Jahren Abo wieder, der jetzt blass und fahl vollkommen starr vor ihr lag. Sein Haar war noch etwas grauer geworden, doch sein Gesichtsausdruck 128
war erstaunlich friedlich, bedachte man sein fürchterliches Ende. Dass er einen so grausamen Tod gestorben war, konnte man ihm jedenfalls nicht ansehen. Margret kamen die Tränen, doch dafür war jetzt keine Zeit, denn Jonas bat sie, ihm dabei zu helfen, den Toten umzudrehen. Es war ein überaus seltsames Gefühl, einen völlig steifen und kalten Menschen zu berühren, so ganz anders als bei den noch lebenden Patienten in Tyrus, bei denen sie bisher mitgeholfen hatte. Auch war der Alte erstaunlich schwer und ließ sich nur mit Mühe bewegen. Während sein Gesicht keinerlei Verletzungen abbekommen hatte, war sein gesamter Hinterkopf von den Hieben zerschmettert worden. Vertrocknetes Blut mischte sich mit Haaren und Gehirnmasse zu einer hässlichen Kruste, die Margret nur widerwillig betrachtete. Sehr vorsichtig legte Jonas die Wunden frei, um festzustellen, welcher Art genau die Waffe gewesen war, die Abo so plötzlich den Tod gebracht hatte. Marjam brachte das Wasser und sah nun stumm jedem Handgriff des Medicus zu. Jonas wusch die Wunden und entfernte dann mit einem Skalpell die Haare, die unmittelbar die Sicht auf die Wundränder nahmen. Margret bemerkte, dass er auch diesen Körper mit der gleichen Vorsicht und Achtung berührte wie die seiner lebenden Patienten. Sie musste an ihre Eifersucht ein Jahr zuvor denken, als sie Jonas mit der jungen Frau, die möglicherweise eine Hure war, beobachtet hatte. Nein, er behandelte alle Menschen mit der gleichen – man musste fast sagen: Zärtlichkeit. Er hatte einen ungeheuren Respekt vor dem menschlichen Leben, selbst nachdem es aus dem Körper gewichen war. „Sie haben Abo den Kopf mit einem Streitkolben zertrümmert“, stellte Jonas nun fest. „Und hier sind die Spuren eines zweiten, nicht mit voller Wucht geführten Hiebes zu sehen – wahrscheinlich hat Abo sich in diesem Moment bewegt, so dass der Schlag knapp sein Ziel verfehlt hat. Seht ihr, hier erkennt man den Abdruck der geteilten Eisenspitze des Kolbens.“ Tatsächlich waren auf der freigelegten Kopfhaut drei vollkommen gerade blutige Abdrücke zu sehen, die nach unten hin schwächer wurden – ein abgeglittener Schlag. „Solche Streitkolben werden sowohl von Franken als auch von Muslimen benutzt“, fuhr Jonas fort. „Sogar die Templer haben sie. Daraus kann man gar nichts schließen.“ 129
Weitere Verletzungen waren an Abos Körper nicht zu erkennen, so dass Jonas einen gezielten Mordanschlag für wahrscheinlicher als einen zufälligen Überfall durch Wegelagerer hielt. „Ich muss den Ort sehen, wo es passiert ist. Vielleicht gibt uns das näheren Aufschluss“, schloss er, und während einige der Knechte den Toten nun zur Bestattung vorbereiteten, ritten Adam und Marjam mit Jonas und Margret an den Ort des Verbrechens. „Dort vorne haben wir Abo gestern Nacht gefunden“, sagte Adam nach einer Weile und deutete auf eine flache Senke, durch die der Weg vor ihnen verlief. Jonas ließ sie ihre Pferde schon ein Stück vorher anhalten und bat die anderen, im Sattel zu bleiben, solange er den Tatort untersuchte. Natürlich hatten die Fußspuren der Männer, die Abo heimgeholt hatten, vieles verwischt, doch waren noch einige deutliche Spuren zu erkennen. Vor allem fiel fi die riesige Blutlache an der Stelle auf, an der Abo zu Boden gegangen war. Zahllose Schmeißfl fliegen labten sich an dem bereits getrockneten Blut und schwirrten empört in die Höhe, als Jonas sie verscheuchte, um die Lache genauer betrachten zu können. In deren unmittelbarem Umkreis war nur ein einziges Chaos von einander sich überlagernden Schuh- und Hufabdrücken zu erkennen, aber nichts Brauchbares, denn der sandige Pfad war inzwischen durch die direkte Sonneneinstrahlung ausgetrocknet. Doch unmittelbar neben dem Weg, den Abo und Gautier genommen hatten, befand sich auf einer Seite ein Gebüsch, und Jonas vermutete, dass die drei Attentäter ihren Opfern dort aufgelauert hatten. Er wurde tatsächlich fündig: Hier waren die Hufabdrücke an einigen Stellen noch sehr deutlich zu erkennen – die Angreifer waren nicht einmal abgestiegen, sondern hatten zu Pferde auf die beiden Reiter gewartet. Jonas unterschied die Abdrücke von drei Pferden – zwei trugen schon recht abgenutzte Hufeisen, das dritte war frisch beschlagen. Die Hufeisen aller drei Pferde waren eindeutig von fränkischer Machart, die sich auf typische Weise von der der Muslime unterschied. „Franken!“, konstatierte er, als er sich aus dem Gebüsch erhob und wieder zu den anderen ging. „Jetzt bin ich mir sicher. Die Pferde trugen fränkische Hufeisen.“ Vorsichtig brachte er Buraq dazu, einen Vorderlauf zu heben. „Seht ihr, hier, der Rand dieses arabischen Hufeisens ist glatt, und die Nägel liegen in zwei Dreiergruppen entlang der Kanten. 130
Bei den fränkischen ist die Kante wellig und man kann die Nägel deutlicher erkennen – sie liegen in gleichmäßiger Reihe wie eine Perlenschnur rund um den Huf verteilt. Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass es fränkische Angreifer gewesen sein müssen. Fragt sich nur, wer und warum. Aber das finden fi wir auch noch heraus.“ Er setzte Buraqs Huf wieder auf den Boden und streichelte der Stute den Hals zum Dank für ihre Geduld. Zusammen ritten sie nach Casal Moulins zurück, Marjam ein Stück hinter den anderen, tief in Gedanken versunken. *** Inzwischen war alles zur Bestattung vorbereitet worden, und man brachte Abo, eingehüllt in ein weißes Leichentuch, auf eine kleine Anhöhe hinter dem Haus. Dort befanden sich auch das Grab seiner vor langer Zeit verstorbenen Gemahlin sowie ein Kreuz für ihren gemeinsamen Sohn, der in Hattin gefallen war und dessen Leichnam niemand hatte bergen können. Da es weit und breit keinen christlichen Priester gab, der die Begräbnisfeierlichkeiten hätte durchführen können, hatten die Hinterbliebenen, Freunde und auch die Angestellten, die Abo seit Jahren als gerechten Herrn kannten und liebten, sich darauf geeinigt, einfach miteinander und jeder nach seinem Glauben für den Toten zu beten. Roque versprach, einen würdigen Grabstein anzufertigen, sobald er einen geeigneten Steinblock dafür finden fi würde. Still und andächtig wurde der Herr von Casal Moulins in eine bereits ausgehobene Grube gesenkt, und Jonas sprach feierlich den Beginn des 89. Psalms: „Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Der du die Menschen lässest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Denn tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie die Nachtwache. Du lässest sie dahinfahren wie einen Strom; sie sind wie ein Schlaf, gleichwie ein Gras, das doch bald welk wird, Das da frühe blüht und bald welk wird und des Abends abgehauen wird und verdorrt.“ 131
Insgeheim aber wiederholte er für sich Marjams Schwur, die Mörder Abos zu finden und der Gerechtigkeit zu überantworten. Anschließend gingen alle auf den Hof zurück und saßen schweigend in der Stube beieinander, wo sie ein einfaches Mahl verzehrten, dass Hamza zusammen mit ihren Dienerinnen zubereitet hatte. Sie tischte selbst auf, und es war das erste Mal seit Ankunft der Gäste, dass sie wieder Anteil am Leben nahm. Sie sah sehr schön und sehr ernst aus in ihrem schwarzblauen Trauerkleid. Ihr Haar, das schon erste silbrige Strähnchen zeigte, war von einem Schleiertuch verhüllt. Sie wirkte wie versteinert und lächelte kein einziges Mal – so als erwarte sie voller Ergebenheit in Allahs Weisheit die kommenden Stunden und Tage. Marjam aber trauerte sehr und fühlte sich von Gott und der Welt verraten – was konnte ihr geliebter Großvater, der allen Menschen gegenüber gerecht und freundlich gewesen war, getan haben, das diese Tat rechtfertigte? Was konnte er für Sünden auf sich geladen haben, dass Gott ihn und die Seinen so strafte? Jonas versuchte, sie zu trösten, doch in diesen Augenblicken tiefster Verzweifl flung, in denen selbst ein Mensch wie Marjam nur Hass und Verrat fühlen konnte, gab es keinen Trost. „Saladin wird es bereuen, mir den Bogen geschenkt zu haben!“, stieß sie unter Tränen hervor. Jonas versuchte geduldig, ihr noch einmal begreiflich fl zu machen, dass es überhaupt nicht erwiesen sei, wer die Täter waren – schließlich könne jeder, ob Franke, Araber oder Afrikaner, einen arabischen Umhang anlegen. Davon jedoch wollte sie in diesem Moment nichts wissen. Sie riss sich los und verschwand in der Nacht. Jonas blickte ihr voller Sorge nach und meinte dann zu Margret: „Sie ist völlig durcheinander, was ja kein Wunder ist. Ich hoffe sehr, dass sie morgen schon wieder etwas klarer denken kann und nicht weiter auf ihrem Rachefeldzug besteht. Saladin ist sicherlich nicht schuld an Abos Tod. Wenn ich nur herausfi finden könnte, wer diese abscheuliche Tat begangen hat!“ Margret nickte und legte müde ihren Kopf an seine Schulter.
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VI
Der Adler, der in die Sonne blickt
Die drei gedungenen Mörder hatten sich nicht weit vom Ort ihrer Untat entfernt und sich hinter einigen der Küste unmittelbar vorgelagerten Hügeln versteckt. Dass irgendwer aus Casal Moulins sie verfolgen würde, hielten sie für ausgeschlossen, denn sicher wusste man dort noch nicht einmal von der Tat. Am nächsten Morgen wollten die Männer dann bei Hellem überlegen, was sie weiter tun wollten. Victor plädierte zunächst dafür, sofort nach Akko zurückzureiten und das Honorar für den Mord zu kassieren, aber Hugo und Eirik bestanden darauf, das Landgut des Alten noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen. „Es besteht dort keine Gefahr für uns, und alle werden denken, dass es Sarazenen waren, die die beiden erschlagen haben“, sagte Hugo. „Und selbst wenn der Knecht wider Erwarten überlebt hat, er kann in der Dunkelheit auch nichts anderes gesehen haben. Nein, ich möchte auf jeden Fall mal sehen, was das Gut zu bieten hat – einschließlich der beiden Weiber!“ Eirik nickte heftig vor lauter Aufregung, eine hübsche junge Sarazenin käme ihm jetzt gerade recht. Trotzdem beschlossen sie, erst einmal zu schlafen und schon bald darauf schnarchten die beiden Söldner friedlich vor sich hin. Victor hingegen lag noch lange Zeit wach. Es war nicht so, dass ihn der Mord an dem Alten direkt aufs Gewissen geschlagen hätte, dennoch fühlte er sich nicht wohl und er versuchte verzweifelt, herauszufi finden, was die Ursache für dieses Unbehagen war. Er war fest davon überzeugt, dass auch der Heilige Bernhard von Clairvaux, dessen Lehren er als Knabe so begierig in sich aufgesogen hatte, seine Tat gutgeheißen hätte, auch wenn er sich nicht mehr so recht an den genauen Wortlaut von dessen Aufruf zum Kreuzzug erinnern konnte. Was den Templerorden anging, war er sich hingegen nicht ganz so sicher, denn wenn es stimmte, was Eirik und Hugo ihm erzählt hatten, war ihr Opfer nie zum Islam übergetreten – damit wäre Abo des Moulins offi fiziell Christ und Victors Tat somit verdammenswert. 133
Victor wälzte sich unruhig auf die andere Seite, er fühlte sich überfordert und nicht dazu in der Lage, die Situation richtig einschätzen zu können – das hatte er nie gelernt. In den Wunsch, Kreuzritter und Templer zu werden, war er von klein auf hineingewachsen, gefördert durch seine Mutter Yolande, die ihm an den Abenden, die sie gemeinsam vor dem Kamin der Burg verbracht hatten, und auch sonst immer wieder von seinem verschollenen Vater und dessen glorreichen Kämpfen im Heiligen Land berichtet hatte. Sie hatte ihn darin bestärkt, ebenfalls ein Glaubenskämpfer zu werden, und schließlich in die Obhut Bruder Anselms gegeben, der es ihm ermöglicht hatte, sich mit den Lehren des Heiligen Bernhard zu beschäftigen. Nachdem seine Lehrzeit beendet gewesen war, hatte es eine kurze Phase in seinem Leben gegeben, in der er das weltliche Leben gekostet hatte, doch hatte er sich in der höfischen fi Gesellschaft nicht zurechtfi finden können und war noch als ganz junger Mann in den Orden der Templer eingetreten und bald darauf ins Heilige Land versetzt worden – um auch dort nichts zu hinterfragen, sondern auf Befehl die Feinde Christi zu töten. Allerdings hatten ihm die Bilder der grausamen Schlachten, an denen er teilgenommen hatte, keine Ruhe gelassen und ihn immer häufi figer des Nachts heimgesucht. Es hatte ihm nicht gelingen wollen, sie wie seine Mitbrüder mit beständigen Gebeten und dem Singen von Chorälen zu bekämpfen. Schließlich hatte er sich schlicht geweigert, ihnen nachzugeben, sie tief in seiner Seele verschlossen und sich auf diese Weise immer mehr in sich zurückgezogen. In dieser Zeit hatten auch die Worte des Heiligen Bernhard eine andere Form in seinem Kopf angenommen, und Victor war immer öfter negativ durch sein Verhalten aufgefallen, bis es schließlich zu seinem verhängnisvollen Ausfall während der Patrouille gekommen war. Abermals wälzte Victor sich um und griff, fast ohne sich dessen bewusst zu sein, nach dem Streitkolben, um mit einem Lappen das Blut des Opfers abzuwischen – obwohl er immer manischer rieb, wollte es ihm nicht gelingen, und er verfluchte dessen eigenwillige Konstruktion mit den zu engen Spalten, die innen am Griff den Kolbenkopf bildeten. Das Blut, das sich dort gesammelt hatte, ließ sich einfach nicht entfernen. Irgendwann legte er die Waffe resigniert neben sich und fiel in einen unruhigen Schlaf. ***
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Als Victor mit Hugo und Eirik am nächsten Mittag aus einiger Entfernung das Landgut von Casal Moulins beobachtete, waren sie alle erstaunt über die vielen Menschen, die dort zugange waren: Knechte und Mägde, ein älterer und ein jüngerer Mann sowie mehrere Frauen, von denen nicht alle bezahlte Klageweiber waren. Ein weiterer Mann, der arabische Kleidung trug, untersuchte sogar den Leichnam des Alten, den man offenbar heimgeholt und nun auf einen Tisch in die Sonne gelegt hatte. Hier konnten sie jetzt nur verlieren, wenn sie sich zeigten, und so ritten sie zu ihrem Lager zurück, um zu beratschlagen. „Da ist zu viel Volk“, murrte Hugo, „keine Ahnung, was uns unser Auftraggeber da erzählt hat. Und die Weiber waren alle alt und unansehnlich, bis auf die beiden, die neben dem Tisch standen. Schätze aber, die sind gut bewacht von den vielen Mannsbildern.“ „Schade, ich hatte mich schon so drauf gefreut!“, greinte Eirik. „Hilft nichts, spätestens in Akko gibt es wieder genug Weiber für uns – und vor allem ohne Lebensgefahr“, meinte Hugo verdrossen. „Ihr habt gesagt, der Alte kam aus Frankreich?“, mischte sich da Victor ein. „Daher komme ich auch. Dann könnte ich versuchen, mich als Verwandter auszugeben, der zufällig im Heiligen Land ist und nun dem Alten seine Aufwartung machen will. Dass der gerade verstorben ist, ist ein unglücklicher Zufall – oder auch ein glücklicher, denn vielleicht kann ich sie in ihrer Trauer überrumpeln und erreichen, dass sie mich als seinen Erben anerkennen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die beiden Sarazeninnen sich gut in fränkischem Erbrecht auskennen. Einen Versuch ist’s immerhin wert.“ „Als seinen Erben? Einer seiner Mörder will ihn beerben? Was habt Ihr nur für irrwitzige Ideen, Herr Ritter! Ganz so, als würdet Ihr Euch selbst mit dem Erbrecht auskennen!“, amüsierte sich Hugo, und Eirik lachte debil. „Nein, das ist mir zu unsicher – wir reiten zurück nach Akko und zwar auf dem schnellsten Wege. Ihr könnt uns ja nachkommen, wenn Ihr hier fertig seid. Vielleicht gelangt Ihr ja hier an Euren Anteil, dann bleibt mehr für uns übrig.“ Die beiden Söldner packten hastig ihre wenigen Habseligkeiten zusammen, schwangen sich in den Sattel, wünschten Victor noch einmal unter hämischem Gelächter viel Erfolg bei seinem Unterfangen und brachen endlich nach Norden auf. 135
Victor ließ sich erneut an dem kleinen Lagerfeuer nieder, um seinen Vorstoß genauer zu planen. Auf jeden Fall wollte er noch ein, zwei Tage abwarten, denn er hoffte, dass dann schon einige Menschen weniger auf dem Hof waren. Er beschloss dort als Tempelritter aufzutreten, machte die weiße Tunika mit dem leuchtend roten Tatzenkreuz schließlich immer Eindruck – vor allem auf Frauen. Er würde aus der entgegengesetzten Richtung eintreffen, ganz so, als käme er direkt von einem der wenigen Häfen, die noch in fränkischer Hand waren, und nicht aus Süden, wo er am Abend zuvor dabei geholfen hatte, den Gutsherrn zu ermorden. Und mit seinem wertvollen Erbe würde er sich wieder die Gunst seines Ordens erkaufen – so jedenfalls hoffte er. *** Zwei Tage waren vergangen und niemand wusste, ob Marjam sich in den vergangenen Nächten überhaupt schlafen gelegt hatte, denn jedes Mal, wenn die ersten am Morgen nach draußen traten, fanden sie sie bereits beim Bogenschießen hinter dem Haus. So war es auch an diesem Morgen gewesen. Roque hatte versucht, sie anzusprechen, doch sie war darauf nicht eingegangen, und so hatte er sich ein Stück entfernt niedergesetzt und beobachtete sie besorgt. Während die restlichen Männer die Pferde versorgten, trat auch Margret mit brennenden Augen aus dem Haus und streckte sich. Es herrschte eine wundervolle Stille, fast so wie im Spitalhof in Tyrus, und die Strahlen der Sonne, die erst einen kurzen Weg am Himmel zurückgelegt hatte, waren noch wunderbar wärmend, anstatt wie später am Tag alles versengend. Ein richtiges Wohlgefühl wollte sich bei Margret allerdings nicht einstellen. Sie sah traurig hinauf zu dem Hügel, auf dem sie Abo begraben hatten und sprach für sich ein stilles Gebet. Auch in dieser Nacht hatten sich „ihre“ Geister wieder bemerkbar gemacht und schienen sie vor noch schlimmeren Dingen warnen zu wollen. Als sie sich noch einmal reckte und dabei den Kopf ein wenig drehte, konnte sie auf der Straße, die von Norden her auf den Hof zuführte, ganz winzig einen einzelnen Reiter erkennen, der die weiße Tunika der Tempelritter zu tragen schien. Ein einzelner Templer, hier in muslimischem Territorium, so früh am Morgen? Das konnte nichts Gutes bedeuten! 136
Auf ihren Zuruf unterbrachen Jonas und Adam, was sie gerade taten, und gemeinsam beobachteten sie, wie der Ritter langsam auf den Hof zuritt. Auch Victor war vorsichtig, er hatte einen großen Umweg gemacht, um aus der richtigen Richtung auf den Hof zureiten zu können, und deshalb die Lage vor Ort nicht noch einmal prüfen können. Nun sah er, dass noch immer einige Männer zugange waren, auch wenn sich der große Trubel direkt nach dem Mord bereits gelegt zu haben schien und die Klageweiber Casal Moulins nach der Beerdigung wieder verlassen hatten. Also nach wie vor nicht nur die beiden Frauen und einige alte Diener, die sich leicht einschüchtern lassen würden? So sah es bei Gott nicht aus, doch war es zu spät zum Umkehren. Er entschloss sich, seine vorbereitete Rolle wie geplant zu spielen und darauf zu achten, wie er die Situation zu seinem Vorteil nutzen könnte. In der Mitte des Hofes zügelte er sein Pferd. „Ich bin Victor von Pontailler, Ritter des Tempels. Ich bin in geheimem Auftrag meines Ordens unterwegs und gerade wieder aus Frankreich im Heiligen Land angekommen. Abo des Moulins ist mein Oheim, dem ich gerne meine Aufwartung machen möchte. Sagt mir, ihr Knechte, wo ich ihn finden kann!“, forderte er in herablassendem Ton. Jonas trat einen Schritt näher auf den Ankömmling zu. „Den Herrn Abo könnt Ihr nicht mehr sprechen, Herr Ritter, denn er ist plötzlich verstorben. Dass er in Frankreich noch Verwandte hatte, wissen wir nicht – davon hat er nie erzählt“, antwortete er ausweichend. „Aber warum leistet Ihr uns nicht eine Weile Gesellschaft, um Weiteres zu besprechen und die Herrin des Hauses kennenzulernen?“, fügte er hinzu, wie es die orientalische Gastfreundschaft verlangte, und ließ den Ritter dabei keine Sekunde aus den Augen. Dessen Augen flackerten unruhig, doch er willigte ein, schwang sich aus seinem Sattel und warf die Zügel achtlos Said zu, der sie geschickt fing und das Pferd zu den Ställen führte. Während sich die Männer im Haus locker verteilt um den Tisch gesetzt hatten, hielt Margret etwas Abstand und nahm auf der kleinen Bank unter dem Fenster Platz, von wo aus sie sowohl den Fremden als auch Jonas gut im Blick hatte. Beiläufi fig nahm sie eine herumliegende Näharbeit zur Hand und gab vor, zu flicken. fl „Aus welchem Teil Frankreichs kommt Ihr denn, Herr Ritter?“, eröffnete Jonas das Gespräch. 137
„Aus Amiens in der Picardie“, antwortete Victor knapp. „Oh, aus dem Ort wo der Heilige Martin seinen Mantel teilte! Welch ein Vorbild für einen nachgeborenen Sohn dieser Stadt!“, bemerkte Jonas bewundernd. „Martin ist sicher kein Vorbild für mich – dieser versponnene Träumer!“, wies Victor ihn barsch ab, der wie viele Templer keine besondere Bewunderung für den menschenfreundlichen Heiligen aufbringen konnte. „Nun, ich würde eher sagen, er war ein Visionär“, hielt Jonas mit hochgezogenen Augenbrauen dagegen. „Wie kommt es, dass ein arabischer Knecht den Heiligen Martin kennt?“, merkte Victor nun misstrauisch auf. „Das kommt daher, dass ich kein arabischer Knecht bin, sondern ebenfalls aus Europa stamme und hier als Medicus wirke“, erläuterte Jonas mit freundlichem Lächeln. Victor zuckte innerlich zusammen – deshalb also hatte dieser Mann den Toten so genau untersucht. Er musste sich vorsehen. Jonas musterte den Neuankömmling nun genauer. Er war eine widersprüchliche Erscheinung – einerseits ein Ehrfurcht gebietender Ritter, groß und von kräftiger Statur, der mit Stolz seinen Habit trug, andererseits stellte dieser ebenso wie der Mann selbst kein Vorbild an Reinlichkeit dar. Außerdem wirkte der Templer merkwürdig gehetzt und schien sich seiner Sache selbst nicht völlig sicher zu sein. Er mochte etwas älter als dreißig Jahre sein, war also keineswegs mehr ein jugendlicher Heißsporn, dem man es nachsehen konnte, wenn er seine Gefühle noch nicht im Griff hatte. Vor allem aber irritierten Jonas die Augen des Fremden. Sie waren von einem stechenden Blau und schienen Löcher in alles brennen zu wollen, das sie streiften. Im nächsten Augenblick jedoch konnte sein Blick glasig werden, wie auf ein andersweltliches Ziel gerichtet – nahe am Wahnsinn. Jonas hatte gerade beschlossen, dem auf den Grund zu gehen, und war dabei, den Templer über seine Jugend zu befragen, als Said in der Tür erschien und ihm bedeutete, ihm nach draußen zu folgen. Jonas warf Adam einen bezeichnenden Blick zu, worauf dieser die Fragen weiterführte, und verließ den Raum. Als Said das Pferd des Ritters in den Stall geführt hatte, war ihm aufgefallen, dass sich erstaunlich viele Fliegen um dessen Streitkolben, der am Sattel hing, balgten. 138
Jonas untersuchte die Waffe genauer und entdeckte, dass der sechsfl flüglige Kolbenkopf zwar abgewischt worden war, sich in den tiefsten Zwischenräumen der Rippen aber noch Blutreste befanden, die wiederum die Fliegen angezogen hatten. Seine Nackenhaare stellten sich auf und er hob mit klopfendem Herzen einen Huf des Pferdes an – seine schlimmsten Befürchtungen schienen bestätigt: Es trug ein fast neues fränkisches Hufeisen. Zwar hatte der Ritter behauptet, gerade erst in Outremer angekommen zu sein, und hatte sicher sein Pferd nicht mit übers Meer gebracht – aber das würde er noch genauer untersuchen. Er dankte Said mit einem anerkennenden Schulterklopfen und ging wieder ins Haus, um dort sein „Verhör“ fortzusetzen. Den anderen aber wollte er für den Moment noch seine Beobachtungen verschweigen – erst wollte er sich seiner Sache vollkommen sicher sein. Hamza trug jetzt Erfrischungen auf, stumm, aber mit der ihr zukommenden Würde der Hausherrin. Victor nahm sie nicht einmal wahr und versäumte es auch, ihr zu danken, denn einer sarazenischen Dienstbotin dankte ein Templer nicht. „Nun, Herr Ritter“, bemerkte Jonas scheinbar leichthin, „wollt Ihr nicht der Herrin dieses Hauses für die Euch erwiesene Gastfreundschaft danken? Oder ist das bei Euch in Frankreich nicht mehr Sitte?“ „Ich hatte keine Ahnung, dass diese Dame die Hausherrin ist. Selbstverständlich gebührt ihr mein Dank“, erwiderte dieser abweisend und verbeugte sich mit einem kaum wahrnehmbar angedeuteten Kopfnicken in Richtung des hinteren Teiles der Stube, wo er Hamza vermutete. „Allerdings ist sie die Hausherrin“, erläuterte Jonas ihm jetzt, „denn sie ist Hamza des Moulins, die Schwiegertochter Eures geschätzten Oheims. Ihr Gatte, dessen einziger Sohn, ist bei Hattin gefallen. Erweist doch bitte auch ihm das ehrende Andenken, das ihm gebührt!“ Victor wand sich innerlich bei dem Gedanken, einem Sarazenenfreund seine Ehrerbietung erweisen zu müssen, erhob aber dennoch seinen Becher und trank wie alle Anwesenden auf den vor der Zeit verstorbenen Erben von Casal Moulins. 139
„Ich hatte keine Ahnung, dass mein Vetter eine Tochter dieses Landes geehelicht hatte“, bemerkte er anschließend wie beiläufi fig. Es kostete ihn große Überwindung, diese Worte hervorzupressen – selbst wenn er tatsächlich ein Verwandter dieser Leute gewesen wäre, so wären sie auch dann in seinen Augen Verräter an der christlichen Sache gewesen. Und die Sarazenin hätte er allenfalls als die Buhle seines vermeintlichen Vetters bezeichnet – und war der nicht umgehend für seine Sünden bestraft worden? Er hatte schließlich beigebracht bekommen, dass alle Frauen, deren verfluchtes Geschlecht schließlich für den Sündenfall verantwortlich zeichnete, von Hause aus boshaft und betrügerisch waren – mit Ausnahme höchstens der Gottesmutter Maria, einiger weiblicher Heiliger … und selbstverständlich seiner eigenen Mutter, Yolande von Pontailler, Gott gebe ihrer Seele Frieden. In diesem Moment kamen Marjam und Roque herein, die auf dem Schießplatz nichts von der unmittelbaren Ankunft des Ritters mitbekommen hatten. Sofort fiel ihnen die angespannte Stimmung im Raum auf und sie betrachteten den Fremden misstrauisch. Dieser streifte die jungen Neuankömmlinge nur mit einem kurzen Blick, machte aber keine Anstalten, sich vorzustellen, was an seiner Stelle Jonas übernahm. „Als Verwandter der Familie wird es Euch interessieren, die Erbin des Gutes, Marjam des Moulins, und ihren Verlobten, den Steinmetzen Roque, kennenzulernen“, dann wandte er sich an Marjam. „Dies ist Victor von Pontailler, seines Zeichens Ritter vom Tempel. Er sagt, er sei ein Verwandter eurer Familie aus Frankreich.“ „Wir haben keine Verwandten mehr in Frankreich“, war Marjams prompte Antwort. „Abos Großvater war bereits der Letzte seines Geschlechtes, als er sich vor fast 90 Jahren hier im Heiligen Land ansiedelte.“ Erst jetzt warf Victor einen genaueren Blick auf Marjam und musste sich widerwillig eingestehen, dass sie eine überaus faszinierende und attraktive Persönlichkeit war. Sie stand völlig gerade und aufrecht da, den Bogen und die Pfeile locker in der Hand, und sah ihn herausfordernd an. Nein, dieses Mädchen würde sich sicher nicht so einfach einschüchtern lassen, wie er ursprünglich gedacht hatte. „Wie kommt es, dass ein so junges, hübsches Mädchen wie Ihr so gut über solch staubtrockene Dinge Bescheid weiß?“, wollte er wissen. 140
„Das kommt daher“, konterte Marjam schnippisch, „dass mein Großvater mir alles über unsere Familie erzählt hat. Schließlich bin ich nach seinem Tod die Erbin von Casal Moulins, und er hat mich seit Langem auf diese Rolle vorbereitet!“, fügte sie empört hinzu. „Und Ihr seid Christin?“, erkundigte sich Victor scheinheilig. „Oder vielleicht nur eine Ungläubige wie Eure Mutter?“ „Hütet Eure Zunge, Ritter, wenn Ihr nicht den Rest Eures Aufenthaltes eingesperrt im Keller verbringen wollt!“, fauchte Marjam. „Und nun sagt, was Euch herführt – ein einsamer Templer wird nämlich in diesem Gebiet schnell zur Beute der Sarazenen.“ Victor setzte sich auf seinem Stuhl in Positur. „Als einziger männlicher Erbe des Abo des Moulins erhebe ich hiermit Anspruch auf dessen gesamten Besitz!“ Er hoffte dabei, zumindest ein wenig würdevoll und überzeugend zu klingen. Im ersten Moment herrschte Totenstille im Raum, doch Marjam und Jonas hatten sich schnell wieder gefasst. „Ihr seid nicht bei Sinnen, Herr Ritter!“, lachte Marjam. „Niemand hat hier je von Euch gehört und wird Euren Anspruch anerkennen. Habt Ihr denn schriftliche Dokumente, die Eure Forderung untermauern? Nein? Dann könnt Ihr Euch gleich wieder auf den Weg zur Küste machen und müsst hier keine weitere Zeit vergeuden.“ Jonas ergänzte: „Ich bin mir sicher, Saladin wird sehr interessiert sein, Euer Anliegen zu prüfen, wenn wir es ihm unterbreiten.“ „Saladin?“, rief Victor erbost. „Was sollte dieser heidnische Hund über mein Anliegen zu befinden fi haben?“ „Nun, immerhin ist Saladin seit inzwischen fast vier Jahren Herr dieses Landes – und seine Untergebenen sitzen gleich dort drüben auf Burg Ibelin. Ich bin überzeugt, wenn wir sie benachrichtigen, wird man unsere Nachricht umgehend an den Sultan weiterleiten“, erläuterte Jonas. „Saladin, der größte Mörder von allen – dieser Feind der Christenheit! Er ist der Antichrist, er ist ein leibhaftiger Sohn des Teufels!“, rief Victor. „Ich glaube kaum, dass dieser sarazenische Verräter über das Erbe eines Templers zu entscheiden hat!“ „Saladin ist kein Mörder“, gab Marjam automatisch zurück, so als wäre nichts geschehen, „sondern ein gerechter und großmütiger Herrscher!“, und Jonas warnte: „Ihr solltet nicht alles glauben, was Euch die christliche Propaganda erzählt, Herr Ritter!“ 141
„Saladin metzelt alle gefangenen Christen ohne Unterschied hin, und nur diejenigen, für die sich genügend Lösegeld verlangen lässt, haben eine Chance zu überleben. Er ist hemmungslos aufbrausend und unberechenbar, überaus brutal und gnadenlos. Selbst seine eigenen Leute fürchten sich an manchen Tagen vor ihm, obwohl sie keine Fehler gemacht haben! Bevor er begann, mit den Franken Krieg zu führen, hat er erst unter seinen Glaubensbrüdern aufgeräumt und nicht wenige von ihnen abgeschlachtet.“ „Das kann ich nicht glauben“, erwiderte Marjam entsetzt. „Sag, ist das wahr, Jonas?“ Der Medicus überlegte einen Augenblick, entschloss sich dann aber, die Wahrheit zu sagen. „Ja, durchaus, es hat Momente gegeben, in denen er so reagiert hat. Aber das ist kein besonderes Charakteristikum des Sultans, sondern eine natürliche menschliche Reaktion, die alle von uns begehen würden, wenn wir in einer entsprechenden Situation wären.“ „Das kann ich nicht glauben!“, wiederholte Marjam entgeistert. „Nein, Jonas, du musst dich irren. Saladin ist ein großherziger, nachsichtiger Herrscher. Warum hat er uns denn sonst alle aus Jerusalem wegziehen lassen?“ „Weil er gutes Geld dafür verlangen konnte“, provozierte Victor weiter. „Und was ist mit Eurem Großvater? Ist er nicht von den Männern Saladins umgebracht worden?“ „Woher wollt Ihr das wissen? Wart Ihr etwa dabei?“, schleuderte Marjam Victor wütend ins Gesicht. „Dann hütet Euch – ich habe seinen Mördern den Tod geschworen, wer immer sie auch seien!“ „Das sind große Worte für so ein hübsches junges Mädchen!“, entgegnete Victor abfällig. Jonas aber fiel ihr bedächtig ins Wort. „Das ist keineswegs bewiesen – ich glaube eher, dass es fränkische Wegelagerer waren, die Abo und Gautier überfallen haben.“ Dabei sah er Victor durchdringend an. Dieser wich seinem Blick aus und wandte sich stattdessen wieder an Marjam. „Seht die Wahrheit, Marjam – Ihr seid einem falschen Ideal aufgesessen und habt einem Märchen Glauben geschenkt. Wenn Ihr Euch an den Mördern Eures Großvaters rächen wollt, müsst Ihr nach Akko reisen!“ Jonas sah ihn weiterhin scharf an, als er meinte: „Wie kann etwas, das zum Frieden beiträgt, ein falsches Ideal sein? Ihr solltet besser Eure eigenen Ideale überprüfen, Herr Ritter.“ 142
„Dann seid Ihr also genauso ein feiger, verweichlichter Kollaborateur wie alle in diesem Haus“, ereiferte sich der Templer, „ja, Ihr alle seid Verräter an der Sache Christi, weil Ihr mit den Muslimen paktiert!“ „Ihr nennt Besonnenheit und Friedenswillen also feige?“, entgegnete Jonas bemerkenswert ruhig. „Ihr habt leicht reden – Ihr kommt hierher, stellt ungerechtfertigte Ansprüche und kritisiert alles und jeden, aber wir, die wir über Jahre hier unser Leben verbringen, müssen uns in erster Linie sorgen, einen alltäglichen Umgang zwischen Christen und Muslimen zu ermöglichen. Dazu sind einfach Kompromisse notwendig, ganz abgesehen davon, dass sie der gesunde Menschenverstand gebietet. Wie viele Kämpfe wurden nicht von jungen, fanatischen Kreuzrittern ausgelöst, die gerade erst einige Stunden im Heiligen Land waren und sich nicht auskannten? Wenn ihr Ordensleute bereit wäret, den Ausgleich zu suchen, könnten wir schon dauerhaften Frieden haben!“ „Ihr habt die Heilige Sache verraten und den Heiligen Krieg gefährdet! Durch Menschen wie Euch ging das Wahre Kreuz verloren, Menschen wie Ihr sind schuldig am Tod so vieler gefallener Kreuzritter!“, rief Victor. „Ihr seid der heiligen Aufgabe nicht würdig, gebt Ihr Euch doch lieber der fleischlichen Sünde und dem feigen Verrat hin – Gott wird Euch dafür strafen, so wie er Abo und seinen Sohn gestraft hat!“ „Aber Ihr seid der Aufgabe würdig?“, fragte Jonas mit spöttischem Unterton. „Mein Vater ist bei Hattin gefallen“, rief Marjam fast gleichzeitig. „Er war ein guter, christlicher Ritter, der für sein Land gekämpft hat. Ihr seid ein Lügner, Herr Ritter. Und Lügen ist eine Sünde!“ „Und was ist mit seiner Verbindung mit dieser Sarazenin da? Und mit Euch? Ist das keine Sünde?“ Nun schwoll große Empörung im Raum hoch, und auch diejenigen, die zuvor nur zugehört hatten, mischten sich ein, so dass kurze Zeit nur ein undurchdringliches Stimmengewirr zu vernehmen war. Roque war aufgesprungen und wollte auf Victor losgehen, wurde aber von Adam zurückgehalten. Schließlich erhob Jonas die Stimme und brachte die anderen dadurch zum Schweigen. „Ich denke vielmehr, die wahre Sünde ist der Hass und die Habgier der Neuankömmlinge aus dem Westen, 143
mögen sie nun Kreuzritter sein, Geistliche oder Laien. Diese Männer gefährden alles, was die Lateiner in ihrem Leben hier aufgebaut haben – dabei wären diese eher geneigt, zusammen mit den Muslimen für ihre Heimat zu kämpfen, als für das Hirngespinst der vermeintlich so frommen europäischen Kreuzfahrer!“ „Nun, die weltlichen Ritter im Westen sind ja auch nicht einen Deut besser als die Lateiner. Sie putzen sich heraus, tragen seidene Kleider, orientalischen Putz und Schmuck wie die Huren, taugen eher für Gelage und Bäder als für Schlachten und werden beherrscht von Ruhmsucht, Stolz und Habgier“, erwiderte Victor abfällig. „Wir Templer dagegen stellen das neue Rittertum dar, das der Heilige Bernhard so hoch gelobt hat. Wir geben nichts auf Äußerlichkeiten, dienen treu unserem Herrn Jesus Christus und sind dazu ausersehen, als neue Miliz Gottes das Übel der Bosheit, der malitia, zu bekämpfen und auszurotten. Wir verfolgen alle, die Böses tun und führen sie ihrer gerechten Strafe zu!“ „Es könnte aber keineswegs schaden, wenn Ihr auch einmal ein Bad nehmen würdet!“, murrte Marjam und verzog das Gesicht. Jonas aber entgegnete: „Und was genau führt Euch dann hierher? Ist es nicht vielmehr so, dass Ihr selbst die Verkörperung des Bösen im Menschen seid? Dass Ihr schon lange die Ideale des Bernhard von Clairvaux verraten habt und Euch nur noch den tödlichen Schwestern Habgier und Stolz hingebt? Dass Eure größte Sünde der unbändige Hass auf alle Muslime und deren Freunde ist?“, Jonas sah ihn herausfordernd an. „Sprecht endlich – warum taucht Ihr ausgerechnet heute hier auf und was ist Euer wahres Begehr?“ „Redet nicht schlecht über den Heiligen Bernhard“, wich Victor ihm aus, „denn er ist der kühne Adler, der sich nicht fürchtet, in die Sonne zu blicken!“ „Und wisst Ihr auch, was mit jemandem geschieht, der zu lange in die Sonne blickt?“, Jonas lächelte ihn provozierend an. „Er wird blind, denn die Sonne verbrennt seine Augen. So blind, wie Ihr in Bernhards Andenken geworden seid!“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Ritter, falls Ihr das gedacht haben solltet, hier werdet Ihr keine neuen Mitglieder für Euren Orden fi finden, dessen könnt Ihr sicher sein! Und auch keine weiteren Opfer Eures privaten Feldzuges. Übrigens – wie kommt es überhaupt, dass Ihr so gut über die Lehren des Heiligen Bernhard Bescheid zu wissen glaubt? Ich 144
dachte, ihr Templer macht Euch nicht viel aus gelehrten Schriften, weil sie Euch vom Kämpfen und Morden abhalten?“ „Wir sind gläubige Mönche Christi, die sicher öfter Predigten nach der Heiligen Schrift anhören als Ihr verräterischer Bastard und Eure Sarazenenfreunde!“ „Nehmt es mir nicht übel“, gab Jonas zurück, „doch irgendwie glaube ich, dass Ihr selbst nie die Schriften des Heiligen Bernhard studiert habt. Sonst müsstet Ihr nämlich wissen, das darin nirgends von solch unmenschlichem Hass die Rede ist, wie Ihr ihn an den Tag legt.“ „Ihr fantasiert, Medicus. Wir Templer haben beim Eintritt in den Orden geschworen, dass wir allzeit bereit sind, unser Leben als Märtyrer für den christlichen Glauben zu opfern. Unser Tod wird eine Freude sein, denn wir haben bis dahin Hunderte oder gar Tausende unserer Feinde vor uns ins Jenseits geschickt! Und das rote Kreuz auf unserem Habit ist das Symbol dieses Märtyrertodes!“ Victor war bei seinen letzten Worten keineswegs wohl, schien doch eben dieses Kreuz, das er ohne Erlaubnis trug, augenblicklich seine Brust verbrennen zu wollen. „Seltsam“, meinte Jonas bedächtig, „und warum gibt es dann keinen einzigen heiligen Templer? Keinen einzigen Märtyrer aus Euren Reihen, der von der Kirche anerkannt wäre? Warum ist keiner Eurer Gefallenen von Hattin heiliggesprochen worden? Nein“, wieder schüttelte er den Kopf, „ich muss gestehen, ich halte nichts vom freiwilligen Märtyrertod. Ich möchte nicht vor der Zeit getötet werden, denn ich habe im Leben noch viel zu tun und lasse mich deswegen gerne einen Feigling nennen. Lieber bleibe ich am Leben, als den glorreichsten Heldentod von allen zu sterben. Was hat den Kämpfern bei Cresson denn ihre übertriebene Tapferkeit gebracht? Die meisten wurden getötet, nur Euer überaus tapferer Großmeister Gerhard von Ridefort entkam auf wundersame Weise.“ Jonas’ Spott war unverhohlen, denn dass ausgerechnet der umstrittenste Großmeister in der Geschichte des Templerordens sich durch außergewöhnliche Tapferkeit ausgezeichnet hätte, hielt er für äußerst unwahrscheinlich. Darauf wusste Victor keine Antwort, so dass Jonas betont jovial fortfuhr: „Nun aber genug mit der hohen Politik. Wollen wir zur Abwechslung eine Partie scacchis spielen und dabei unsere Strategien erproben? Oder sollen wir lieber marelles spielen?“, fügte er 145
mit ironischem Unterton hinzu, wusste er doch genau, dass der Templer nur dieses Brettspiel spielen durfte. Victor sah ihn bloß böse an, murmelte unwirsch, dass es Zeit wäre, nach seinem Pferd zu sehen, und verließ hastig den Raum. Die anderen schwiegen, bis sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, und beratschlagten dann, was nun zu tun sei, denn das mit diesem Templer etwas nicht stimmte, war ihnen allen klar – auch wenn Jonas seine schlimmsten Befürchtungen weiterhin für sich behielt. *** Die hereinbrechende Nacht war sternenklar und wunderbar lau – nur während dieser Stunden verströmte die Wüste ihren betörenden, verzaubernden Duft, der tagsüber von der sengenden Hitze, des Nachts aber von der unerbittlichen Kälte gedämpft wurde. Man konnte die Wüstengewächse riechen, überzogen von einem schwachen Geruch nach Meer und Weite. Die größeren Tiere und viele Vögel hatten sich schon zur Ruhe begeben, nur die Käuzchen machten sich gelegentlich bemerkbar. Zikaden zirpten ihr Lied, und hier und da raschelte ein Nager durchs Gestrüpp. Jonas und Margret wanderten Arm in Arm vom Haus aus an der Gartenmauer entlang bis hin zum unteren Brunnen. Beide waren über die Entwicklungen des heutigen Tages äußerst beunruhigt und wollten dringend ungestört miteinander reden. „Das Ganze gefällt mir überhaupt nicht“, begann Jonas. „Margret, ich glaube, dass dieser Ritter etwas mit Abos Tod zu tun hat – sein Streitkolben ist vom selben Typ wie der beim Überfall verwendete, und es befi finden sich Blutspuren darauf.“ „Was?“, schreckte Margret auf. „Warum hast Du das nicht allen erzählt? Und vor allem Marjam – sie muss das unbedingt erfahren!“ „Ich weiß, ich werde es ihr sobald wie möglich sagen, wollte es aber noch nicht im Beisein des Ritters tun. Morgen aber werde ich diesen Victor dingfest machen. Heute hat er sich immer wieder herauswinden können. Aber keine Angst, Adam und die Knechte lassen ihn nicht aus den Augen – und Said auch nicht, schließlich hat der die schärfsten Augen von uns allen. Er hat mich erst auf den Streitkolben aufmerksam gemacht.“ 146
Sie ließen sich auf einer Maurer am Ende des Hofes nieder, von der aus man einen guten Blick über die davorliegende, ins Sternenlicht getauchte Ebene und die auf dem nächsten Hügel errichtete Burg Ibelin hatte. „Was denkst Du über diesen Victor? Kann er tatsächlich Tempelritter sein?“, fragte Margret. „Ich bezweifl fle, dass er ein Vollmitglied des Ordens ist – vielleicht war er es einmal, aber im Moment ist er es sicher nicht. Er dürfte überhaupt nicht allein hier auftauchen, denn Templer müssen immer zu mehreren unterwegs sein – und sie dürfen den Tempel nur mit besonderer Erlaubnis verlassen“, Jonas dachte kurz nach. „Er tut zwar so, als wäre er ein hoher Würdenträger, doch meiner Meinung nach kann er nicht einmal vernünftig lesen und schreiben. So, wie er die Lehren des Heiligen Bernhard wiedergegeben hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass er sie selbst studiert oder gar verstanden hat. Er wiederholt lediglich einige auswendig gelernte Lehrsätze, die ihm irgendwer einmal beigebracht hat – nein, irgendetwas stimmt nicht mit diesem Mann. Am meisten beunruhigen mich seine Augen – hast du sie dir einmal genau angesehen?“, fragte er Margret. Sie schüttelte den Kopf, sie hatte nur ein allgemeines Unbehagen in der Gegenwart des Ritters empfunden, ohne dass sie wirklich zu sagen gewusst hätte, warum. „Sein Blick kippt manchmal, wie bei einem Wahnsinnigen. Ich habe schon solche Patienten gehabt.“ „Du meinst, er ist geisteskrank?“ „Ja, das denke ich. Sicher nicht von Geburt an, denn sonst hätten ihn die Templer nie aufgenommen, aber vielleicht als Folge einer traumatischen Erfahrung, etwa in einer Schlacht. Das könnte auch seinen unbändigen Hass auf alle Muslime erklären.“ „Woher weißt du so viel über Templer?“, wollte Margret wissen und lehnte sich an seine Schulter. „Sie sind unsere Nachbarn in Tyrus. Direkt neben der Kathedrale haben sie ihr Hauptquartier. Ich habe ab und zu mit ihnen zu tun, auch wenn ich nicht gerade behaupten kann, dass mich das sehr freut.“ Nun schwiegen beide und sahen zum Nachthimmel hinauf, der mit all seinen leuchtenden Sternen wie ein perlenbestickter Krönungsmantel aussah. 147
„Warum erkennen die Menschen nur nicht, was wirklich wichtig ist?“, meinte Margret nachdenklich und legte den Kopf weit in den Nacken, um die Sterne besser sehen zu können. „Manche erkennen es durchaus, und haben es zu allen Zeiten getan. Gerade die Beobachtung des Himmels ist sehr alt. Einer unserer isländischen Schöpfungsmythen beginnt folgendermaßen: ‚Die Sonne von Süden, des Mondes Gesellin, Hielt mit der rechten Hand die Himmelrosse. Sonne wusste nicht, wo sie Sitz hätte, Mond wusste nicht, wo er Macht hätte, Die Sterne wussten nicht, wo sie Stätte hatten.‘“ „Das ist sehr schön!“, erwiderte Margret. „Schöner als aller von Menschen gemachter Schmuck.“ Sie schmiegte sich nun eng an Jonas’ Schulter, gemeinsam saßen sie noch eine Weile auf der Mauer und ließen die Ereignisse des Tages an ihrem geistigen Auge vorüberziehen. *** Victor war froh, den penetranten Fragen des Medicus endlich entkommen zu sein, und streckte sich neben seinem Pferd im hinteren Bereich des Stalles aus, von wo aus er zwar die Vorgänge im Hof beobachten konnte, aber von dort aufgrund der Dunkelheit nicht zu sehen war. Was für eine Frechheit von diesem Jonas, ihn zum Schachspielen herauszufordern – er musste gewusst haben, dass der Orden dieses Spiel verbot. Er wusste überhaupt verdammt viel über die Templer und konnte ihm noch gefährlich werden. Vielleicht sollte er ihn einfach umbringen … doch er würde sie nicht alle umbringen können, es waren eindeutig zu viele. Auch diese Steinmetzen und die Knechte sahen gut bei Kräften aus ... Nein, hier hatte Victor nichts mehr zu erwarten, und zudem hatte dieser Jonas angedeutet, dass er etwas über den Mord an dem Alten herausgefunden hatte – ganz so als würde er ihn, Victor, verdächtigten. Damit hatte er auf keinen Fall gerechnet. Er musste sich bei Morgengrauen möglichst unauffällig aus dem Staube machen und seinen Kumpanen nach Akko folgen. Allerdings war da noch dieses junge Mädchen, diese Marjam, die ihn zutiefst verun148
sicherte. Was wäre es für ein persönlicher Triumph, wenn er sie dazu bringen könnte, mit ihm zu gehen und in Akko gegen Saladin und die Sarazenen zu kämpfen! Er hatte sie schließlich schon mit wenigen Worten, durch seine Schilderung der den Sarazenen angeborenen Brutalität, in ihrem Glauben erschüttern können. Das müsste sich doch weiter fortsetzen lassen? Sein krankhafter Geist begann, Purzelbäume zu schlagen. Wie nur konnte er sie dazu bringen, ihm zu glauben und nicht diesem albernen Medicus? Sicher nicht im Beisein der anderen, denn dieser Jonas würde ihm schnell einen Strich durch die Rechnung machen. Wenn er es aber schaffen würde, sie zu überzeugen, wäre das ein schlagender Beweis für die Rechtmäßigkeit seiner gottgewollten Mission. Und da war auch noch etwas anderes. Genau genommen irritierte dieses Mädchen ihn mehr als ihm lieb war, wie er an der prompten Reaktion seiner Männlichkeit feststellen konnte. Er dachte daran, wie es wohl wäre, sie zu besitzen, wenn sie nur ihm gehören würde und nicht diesem farblosen Steinmetzburschen ... Er war gerade dabei, sich in diesen Gedanken zu verlieren, und seine Hand wollte schon wie beiläufi fig unter seine Tunika wandern, als das Subjekt seiner Begierde, gehüllt in einen blauen, mit goldenen Sternen bestickten Mantel, aus dem Haus trat. Der Junge war bei ihr, und gemeinsam gingen sie am Garten vorbei, bis Victor sie in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte. Bald darauf kam Marjam allein denselben Weg zurück und schickte sich an, ins Haus zu gehen. Wie rührend, dachte Victor voller Bosheit, die jungen Liebenden wollten wohl bis nach der Hochzeit warten, bis sie sich zusammenlegen! Nicht, wenn er vorher Gelegenheit haben würde ... Da zögerte das Mädchen und blickte zum Stall, so als spürte sie, dass Victor jede ihrer Bewegungen genau beobachtete. Tatsächlich lenkte sie jetzt ihre Schritte in seine Richtung, und der Ritter beeilte sich, seine unkeuschen Gedanken von eben möglichst vollständig von seinem Gesichtsausdruck zu wischen. Er stand auf und zog eilig seine Tunika zurecht. Marjam näherte sich ihm bis auf zwei Schritte und sprach ihn an. „Guten Abend, Herr Ritter, dürfte ich Euch eine Frage stellen? Ihr habt vorhin von der Unmenschlichkeit Saladins berichtet. Ich kann wirklich nicht glauben, dass das wahr sein soll. Sagt, wart Ihr schon einmal selbst Zeuge dieser unfassbaren Brutalität, derer Ihr den Sultan vorhin bezichtigt habt?“ 149
Victor rang nach Worten, musste schließlich lügen und beschrieb stattdessen einige seiner eigenen Morde, und zwar bis ins letzte Detail – was den gewünschten Effekt bei seiner Zuhörerin zunächst nicht verfehlte. Doch nach kurzem Nachdenken fragte sie misstrauisch: „Und warum seid Ihr dann noch am Leben, wenn Ihr Zeuge dieser Taten wart? Saladin hasst die Tempelritter mehr als alle anderen Franken, das weiß sogar ich. Bei Hattin hat er allen den Kopf abschlagen lassen!“ „Ich war etwas entfernt, versteckt in einem Gebüsch und für die Sarazenen nicht zu entdecken“, log er. „Aber ich schwöre, ich habe es mit eigenen Augen gesehen, so wahr ich hier stehe!“ Voller Zweifel sah Marjam ihn an, wollte ihrem Impuls folgen und zum Haus zurückgehen – aber irgendetwas an diesem Ritter zog sie auf magische Weise an. Solche Gefühle kannte sie nicht – weder bei Roque, ihrem sanften Verlobten, noch bei Jonas, ihrem Retter und langjährigen Freund, hatte sie je etwas Ähnliches empfunden. Stockend begann sie, ihn weiter auszufragen. „Sagt nicht der Heilige Bernhard, man solle die eigene Mutter mit Füßen treten und grausam zu Christus sein? Kann denn das christliche Lehre sein? Was ist Eure Meinung dazu, Herr Ritter?“ Victor wusste darauf keine Antwort, starrte sie bloß weiterhin an und wünschte sich, sie würde nur ein wenig näher kommen, so dass er sie erreichen konnte. „Der Heilige Bernhard“, drängte sie weiter, „warum glaubt Ihr so getreu an diesen Mann? Nur weil er das ‚Lob der neuen Miliz‘ geschrieben hat? Ich bin mir sicher, er war auch nur einer dieser Wortgelehrten, in deren Kopf man beim Sezieren keinen einzigen Buchstaben finden würde!“ „Hat Euch das Euer feiner Freund Jonas beigebracht?“, fuhr Victor auf. „Warum hört Ihr auf Menschen wie ihn und nicht auf die Stimme des Glaubens? Hört auf mich, Marjam, und vollendet Eure Rache!“, beschwor er sie. „Seid wie die Gottesmutter Maria, die der Heilige Bernhard einmal die Besiegerin der Drachen genannt hat. Bekämpft Eure eigenen Drachen, Marjam, und besiegt sie, allesamt! Die Sarazenen und ihre Freunde, das sind die Drachen, und Ihr seid die Heilige Maria!“ „Ihr vergleicht mich mit der Heiligen Jungfrau? Ist das nicht gotteslästerlich, wenn ich doch zugleich ein Kind der Sünde sein 150
soll?“, konterte Marjam. „Warum verehrt Ihr überhaupt die Gottesmutter, wenn Ihr alle Frauen so sehr hasst und selbst eure Mütter und Schwestern verteufelt?“, stutzte Marjam. „Warum verehrt der Templerorden ausgerechnet heilige Frauen und nicht Kriegerheilige wie Sankt Georg? Etwa, weil Ihr Euch bei denen sicher sein könnt, dass sie schon lange tot und heiliggesprochen sind und so keine reale Gefahr für Eure Keuschheit bedeuten?“, wollte sie wissen, nicht ahnend, welche große Gefahr sie selbst für die seine darstellte. Victor ging nicht darauf ein. „Ihr sagtet, ihr wollt euren Großvater rächen? Dann tut das und kommt mit mir nach Akko, denn dort warten viele Sarazenen darauf, von uns Christen getötet zu werden! Macht nicht immer nur leere Versprechungen, löst sie auch ein – vor Akko, in der Schlacht!“ Nachdenklich sah Marjam ihn an. „Ihr heißt Victor, Sieger, dennoch glaube ich nicht, dass Ihr siegreich sein werdet.“ Damit drehte sie sich abrupt um und ließ ihn stehen. Said aber, der die ganze Zeit über Marjam gewacht hatte, zog sich unbemerkt von Victor in einen anderen Teil des Stalles zurück. Victor ließ sich nun wieder in seiner Ecke nieder und augenblicklich kehrte sein Verlangen, das Mädchen zu besitzen, schier übermächtig zurück. Nach allem, was er bereits getan hatte, würde diese eine Sünde auch nichts mehr an seinem jenseitigen Schicksal ändern. Wie schön sie war – wie eine Gazelle, wie eine Schwertlilie, wie die Geliebte aus dem Hohelied, über das es eine Schrift Bernhards gab, von der ihm sein Lehrer einmal unvorsichtigerweise berichtet hatte. Was wäre, wenn er sich das Mädchen einfach nähme und dann sofort verschwinden würde? Doch überall auf dem Hof liefen wie zufällig noch Knechte herum, und er konnte sich leicht ausrechnen, dass sie den Auftrag hatten, ihn zu bewachen. Vielleicht könnte er Marjam doch noch dazu bringen, mit ihm nach Akko zu reiten, und dann – schließlich musste man unterwegs rasten ... Nachts würde ihr Bogen ihr nicht viel helfen ... Wie schön sie war ... viel zu schön für diesen kleinen Steinmetz! Nein sie sollte ihm gehören, einem Ritter, der ihr zeigen würde, was ein richtiger Mann war – und sie zu einer richtigen Frau machen würde. Und doch musste er in ihr gleichzeitig eine Botin des Teufels sehen, denn sie war zugleich eine Ungläubige. War es nicht 151
seine Christenpflicht, fl sie zu bekehren und dadurch davor zu bewahren, im brennenden schwefelgelben See der Verdammnis zu enden, der allen Sarazenen bestimmt war? Ohne dass er sich dessen bewusst war, wanderte seine Hand während dieser Gedanken wieder unter seine Tunika, und endlich, nach einer kurzen Weile, konnte er friedlich einschlafen. *** Als Victor am Morgen aus dem Stall trat, um die Lage zu erkunden, sah er Marjam einsam hinter dem Haus stehen und Bogenschießen üben. Sofort stieg sein Begehren wieder in ihm auf, und ohne es bewusst zu wollen, ging er auf sie zu. Sein Rest gesunder Menschenverstand warnte ihn, er wusste, dass es besser wäre, schnellstens zu verschwinden, doch Marjams Anblick ließ ihn nicht los. Fast wie von selbst trugen ihn seine Beine hinter das Haus. Dort saß schon Roque mit angezogenen Knien auf einer Mauer, der Marjam wie jeden Morgen Gesellschaft leistete – und ihn sofort entdeckte. Dann traten auch Jonas, Adam und die anderen zu den Zuschauern, und Victor wusste, dass er seine Gelegenheit – in jeder Hinsicht – endgültig verpasst hatte. Als Marjam ihr Publikum bemerkte, unterbrach sie ihre Übungen und wendete sich ihnen zu. Victor suchte sein Heil im Angriff. „Auf ein stehendes Ziel zu schießen, ist keine große Kunst!“, meinte er spöttisch. Er blickte sich um, sah in der Nähe eine Taube sitzen und nahm einen Stein, den er in deren Richtung schleuderte. Panisch flog die Taube hoch, und Victor forderte Marjam auf, sie im Fluge zu erlegen. „Hier habt Ihr ein richtiges Ziel, nun schießt schon!“ „Ich schieße nicht auf Lebewesen, die mir nichts getan haben!“, entgegnete Marjam kühl. „Wie wollt Ihr dann auf Sarazenen schießen, wenn Ihr zu feige seid, eine Taube zu töten?“, fragte Victor überheblich. „Habe ich je behauptet, dass ich das will?“, erwiderte Marjam spitz. „Ich will die Mörder meines Großvaters richten, wer immer sie auch seien, das habe ich gesagt!“ Jonas aber warf seinen Turban in die Höhe, auf den Marjam sofort zielte. Ihr Pfeil durchbohrte ihn, ehe das Tuch den Boden wieder berührte. 152
„Besser, du triffst mich so als in Gestalt der Taube“, meinte er, und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht – schon vor langer Zeit hatte er ihr erklärt, dass eine der Bedeutungen seines Namens „Taube“ war, eine andere „der Friedfertige“. Jonas hob seinen Turban auf, zog den Pfeil heraus und gab ihn Marjam zurück. Diese hatte allerdings keine Lust mehr, zu üben, und wollte sich ins Haus zurückziehen. Victor folgte ihr und griff sie am Arm. „Hat nicht der Heilige Bernhard gesagt, wer kein Schwert hat, der kaufe sich eins? Es ist Eure heilige Pfl flicht, zu kämpfen!“, bedrängte er sie. „Bleibt mir vom Leib mit Eurem Heiligen Bernhard!“, rief Marjam, schüttelte seine Hand ab und wollte schon weitergehen – da sprach Jonas den Ritter auf den Mord an Abo an. „Und demnach war es Eure heilige Pfl flicht, hier vorgestern Abend zwei ahnungslose Männer niederzuknüppeln? Hat Euch das auch der Heilige Bernhard befohlen?“, fragte er provozierend. „Damit habe ich nichts zu tun, wie kommt Ihr darauf?“, entgegnete Victor abweisend. „Und was ist mit dem kaum getrocknetem Blut auf Eurem Streitkolben? Woher stammt das, wenn nicht vom Mordanschlag? Mit genau so einer Waffe wurde Abo umgebracht!“ „Ich … ich habe, kurz bevor ich hier ankam, damit einen Hasen erschlagen – daher stammt das Blut!“ „… einen Hasen, so, so. Da wart Ihr aber sehr schnell. Nein, Victor von Pontailler, ich klage Euch hiermit vor Zeugen an, zusammen mit zwei Kumpanen den Tod des Abo des Moulins herbeigeführt zu haben!“, beschuldigte ihn Jonas sachlich. Victor sah sich in die Enge getrieben, zog sein Schwert und umfasste den Schwertgriff und -knauf locker mit beiden Händen. Jonas, der sein Schwert an diesem Morgen in den Falten seines arabischen Gewandes verborgen hatte, zog ebenfalls. Die beiden Kontrahenten umkreisten sich eine Weile lauernd, während die übrigen in sicherem Abstand einen Kreis um die Männer bildeten. Im Gegensatz zu Victor, der ein sehr langes und breites Schwert führte, hatte Jonas ein kürzeres mit schmalerer Klinge, das schneller zu handhaben war, es aber nahezu unmöglich machte, das gegnerische Schwert zu entwinden. Der Templer schlug mit schnellen Hieben nach Jonas, deckte ihn ein mit Hauen und Stichen und bot 153
selbst keine Möglichkeit zum Gegenangriff. Auch wurde der Ritter einfach nicht müde und drängte Jonas immer weiter zurück mit seinen Schlägen, die beinahe an einen Ritus erinnerten. Jonas konnte seine Angriffe zeitweise kaum parieren und blutete schon an den Armen. Ihm war klar, dass er diesen Ritus unterbrechen musste, wollte er Victor noch besiegen. Als der nächste Hieb kam, ging er weder zurück noch wich er aus, stattdessen sprang er mit dem Mut der Verzweifl flung nach vorne, genau in den Oberhau seines Kontrahenten hinein und hielt sein Schwert zum Schutz über seinen Kopf. Während Victors mächtiges Breitschwert auf Jonas’ Klinge traf und von dieser abglitt, umfasste der Medicus mit dem linken Arm beide Arme des Templers, setzte einen schmerzhaften Hebelgriff ein, um dann mit seinem Unterarm weiter an Victors Handgelenk zu rutschen. So entwand er dem Ritter seine Waffe und stieß hart mit seinem Schwertknauf zu, der auf die Brust des verblüfften Gegners prallte. Victor war so perplex, dass er einen Augenblick zögerte – einen Augenblick zu lange, denn nun setzte ihm Jonas seinen Schwertort an die Kehle. Bevor der Ritter auch nur überlegen konnte, was er tun wollte, wurde er von mehreren Knechten gepackt und festgehalten. Noch immer hielt Jonas seine Waffe hoch. „Ich dachte, das immerhin hättet Ihr gelernt bei Eurer Ritterausbildung – unterschätze niemals einen Gegner, selbst wenn er ein verweichlichter Sarazenenfreund und Pillendreher ist!“, sagte er, außer Atem von dem schweren Kampf. Dann befahl er den Knechten, Victor im Stall gut festzubinden und ihn keine Sekunde mehr aus den Augen zu lassen, und ordnete an, ihm dessen Streitkolben zu bringen. Anschließend begab er sich mit den beiden Frauen ins Haus, wo Jonas sofort einen Brief an die Tempelritter aufsetzen wollte, um ihnen mitzuteilen, dass in Ibelin ein zwielichtiger Mann in weißem Habit aufgetaucht sei, der vorgebe, Templer zu sein und der des Mordes an einem Christen so gut wie überführt sei. Doch zuvor bestand Margret darauf, die Schnitte an seinen Armen zu verarzten – die Wunden waren zum Glück weniger schwer, als es das sofort hervorschießende Blut glauben gemacht hatte. Während sie ihren Gefährten mit zitternden Händen verband, dankte sie insgeheim Gott einmal mehr für sein Leben. 154
Inzwischen redete Jonas eindringlich auf Marjam ein, denn Said und die anderen hatten ihn über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht unterrichtet. „Es spricht alles gegen Victor, Marjam, das musst du mir bitte glauben. Dieser Ritter ist eine Gefahr, und ich bin sehr froh darüber, ihn jetzt gefesselt und unter schärfster Bewachung im Stall zu wissen.“ „Aber – wenn er doch sagt, nichts mit Abos Tod zu tun zu haben? Wenn du dich doch irrst? Bei allen Heiligen, ich weiß nicht mehr was und wem ich glauben soll!“, stieß sie verzweifelt hervor. „Marjam, wir kennen uns, seitdem du nicht aus dem Bauch deiner Mutter hervorkommen wolltest. Ich würde dich nie belügen oder dir etwas verschweigen. Bitte glaub mir und nimm dich vor Victor in Acht. Er ist ein kranker Mann – einer, den die andauernden Kämpfe in diesem Land krank gemacht haben. Du darfst ihm nicht trauen!“ „Aber er ist so überzeugt von seiner Sache, von den Lehren des Heiligen Bernhard. Ich habe noch selten jemand gesehen, der so sehr von etwas überzeugt ist.“ „Das ist so nicht richtig. Er hat die Lehren irgendwann in seinem Leben auswendig gelernt – oder unter Zwang lernen müssen – und gibt sie nun Wort für Wort so wieder, wie er es sich eingeprägt hat. Ich glaube einfach nicht an seine persönliche Überzeugung – dafür aber daran, dass er einer der drei Attentäter war –, es sprechen alle Beweise dafür, Marjam!“ „Irgendwie möchte ich euch beiden glauben ... oder keinem“, sagte Marjam leise und verließ mit gesenktem Kopf das Haus. Wenig später trat Margret nach draußen und sah Marjam am Hofende stehen, wie sie hinüber zur Burg Ibelin blickte. Sie ging zu ihr und einen Augenblick lang standen die beiden stumm nebeneinander. „Es ist schön, dich so gesund und glücklich wiederzusehen, Margret!“, sagte Marjam dann. „Weißt du, ich habe die ganze Zeit nur für dich und Ida Bogenschießen geübt. Ich wollte euch beide befreien – wie immer ich mir das auch vorgestellt habe.“ Sie lächelte traurig. „Aber nun bist du frei und alles ist sowieso anders gekommen.“ „Ja, es war ein großes Glück, dass Jonas uns von den Ägyptern freigekauft hat“, erwiderte Margret gedankenverloren. „Seit er mir 155
erzählt hatte, dass er dich ebenfalls kennt, wollten wir euch einen Besuch abstatten. Aber es hat sich einfach nie ergeben. Marjam, hör mir bitte zu: Jonas ist schon viele Jahre in Palästina unterwegs und kennt die Verhältnisse ganz genau – so wie er auch Saladin genau kennt. Das weißt du doch, Marjam, ihr habt schon oft darüber gesprochen. Warum können die auswendig gelernten Hasspredigten dieses seltsamen Ritters so plötzlich etwas daran ändern?“ „Das weiß ich auch nicht zu sagen, liebste Freundin. Irgendetwas an Victors Art fasziniert mich. Ich habe noch nie einen Menschen wie ihn getroffen – und doch sagt Jonas, er sei krank. Aber wer krank ist, dem kann man doch helfen. Warum versucht Jonas das nicht, anstatt ihn den Templern auszuliefern?“ „Ich bin mir nicht sicher, ob sich Victor überhaupt helfen lassen würde – dazu müsste er erst einsehen, dass er krank ist, und ich bezweifl fle, dass er dazu bereit ist“, wandte Margret ein. „Warum willst du nicht glauben, dass er einer der drei Attentäter ist? Das ist doch um so vieles wahrscheinlicher als die Idee, dass sich auf einmal Saladin und seine Leute ohne Grund gegen Abo – ihren langjährigen Freund – gewandt haben sollen. Und die Hufeisen – dass ist doch ein eindeutiger Beweis. Marjam, was willst du noch? Denke doch nach!“ „Ich habe aber das Gefühl, ich kann überhaupt nicht mehr denken, seit Großvater tot ist. So ging es mir nicht einmal, als wir von Jerusalem zurückkamen und ich den muslimischen Soldaten getötet hatte. Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Ich möchte Victor so gerne helfen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich etwas ausrichten kann – nicht einmal die Rache für Großvaters Tod erscheint mir im Moment so wichtig wie das!“ „Dann räche ihn an den Schuldigen, Marjam. Und wenn du Jonas nicht glaubst, dann halte dich wenigstens von Victor fern. In einigen Tagen werden ihn die Templer abholen und alles ist vorbei. Dann kannst du auch wieder klarer denken!“ „Ich möchte aber nicht, dass ihn die Templer abholen, ich weiß nicht, wieso. Warum sorge ich mich um einen Fremden, den ich erst seit einem Tag kenne? Was hat dieser Mann an sich?“ Marjam wirkte äußerst verzweifelt. „Das verstehe ich auch nicht – ich reagiere auf ihn nur mit Abscheu, ich kann deine Gedanken wirklich nicht nachvollziehen. Bitte, Marjam, nimm dich in Acht, damit wenigstens dein weiteres 156
Leben wieder halbwegs so ablaufen kann, wie du und Roque es euch vorgestellt habt.“ „Weißt du, Margret, auf einmal ist alles so unwirklich geworden. Ich mag Roque wirklich sehr, aber ich kann es mir einfach nicht mehr vorstellen, mit ihm zusammen in Tripolis zu wohnen – als seine Frau, als sei all dies nie geschehen. Dieser Ritter sagt, ich bin ein Kind der Sünde – und im nächsten Moment vergleicht er mich mit der Jungfrau Maria, deren Namen ich trage! Weder so noch so habe ich mich selbst je gesehen, und es macht mir große Angst.“ Marjam war jetzt sehr aufgewühlt und stand mit fl flehentlich erhobenen Händen vor ihrer Freundin. „Was ist, wenn er doch Recht hat, und ich mein Leben lang ohne es zu wissen in Sünde gelebt habe?“ „Das ist doch Unsinn! Kind der Sünde! Das sagt dieser Ritter nur, um dich aus der Fassung zu bringen – und um seine verquere Weltsicht als die alleinig gültige darzustellen. Deine Eltern haben sich geliebt und waren einander treu – was bitte soll daran Sünde sein? Wenn das Sünde ist, dann leben auch Jonas und ich in Sünde.“ „Und wenn ihr das tut, ohne es zu wissen oder zu wollen, so wie ich? Was dann?“ „Dann werden wir es nach unserem Tod im Jenseits büßen. Aber nicht schon vorher hier im Leben. Es gibt kein Gebot, das sagt: ‚Du sollst nicht lieben.‘ Aber eines, das sagt: ‚Du sollst nicht töten und nicht falsch Zeugnis reden.‘ Und genau das tut dieser Victor meiner Meinung nach.“ Marjams Augen füllten sich mit Tränen, sie wandte sich von der Freundin ab, stieg über die niedrige Mauer und ging langsam den Hügel hinunter ins Tal. Margret sah ihr lange nach und überlegte, wie sie ihr helfen konnte. Für sie war klar, dass Jonas recht hatte und Victor einer der Mörder war. Warum nur konnte Marjam das nicht ebenfalls so sehen? Der Rest dieses Tages verlief ruhig, und alle waren froh, die Gefahr, die von dem fremden Templer ausging, gebannt zu haben. Die Knechte hielten reihum jeweils zu zweit Wache bei dem Gefangenen, während Jonas noch am Nachmittag einen von ihnen mit der dringenden Nachricht an die Templer nach Akko geschickt hatte. Abends schauten Jonas und Adam noch einmal im Stall vorbei und schärften den Knechten zum wiederholten Male ein, Victor gut zu bewachen. Es würde einige Tage dauern, bis ihr Bote in Akko seine 157
Nachricht überbracht und die Templer ihn mit genaueren Anweisungen zurückgeschickt haben würden – vielleicht, so Jonas’ Hoffnung, würden sie sogar eine Abordnung schicken, die den Angeklagten abholen würde. Hoffentlich standen die Dinge vor Akko so, dass dazu Gelegenheit war. Margret war vor allem froh, dass dieser wahnsinnige Ritter Jonas nicht schwerer verletzt hatte. „Ich verstehe nicht, wie ein Mensch solchen Hass und solche Wut empfi finden kann“, meinte sie kopfschüttelnd, als sie sich anschickten, zu Bett zu gehen, und sie vorsichtig seine verbundenen Arme berührte, wie um sich zu vergewissern, dass wirklich nichts Schlimmes passiert war. „Nun, auch der Hass ist eine Form von Leidenschaft, und diese zu empfinden, fi ist eines der natürlichen Vorrechte der Menschen. Die Frage ist allein, wie man diese Leidenschaft nutzt – im Guten oder im Schlechten. Wut dagegen kann allenfalls ein Mittel zur Reinigung sein. Wie ich schon zu Marjam sagte, ich denke, erst der Krieg hat Victor zu dem gemacht, was er ist. Und ich glaube, er ist selbst nicht glücklich darüber, was aus ihm geworden ist. Er ist sicher kein geborener Strauchdieb und Halsabschneider und bestimmt mit den besten Absichten ins Heilige Land gekommen. Aber wirklich beruhigt werde ich trotzdem erst sein, wenn er im Gewahrsam der Templer ist, nicht vorher.“ „Marjam fragte vorhin, warum du ihm nicht helfen kannst, wenn er wirklich krank ist?“ „Das könnte ich vielleicht sogar tun, wenn er mich ließe. Aber ich widme meine Zeit lieber denen, die sie dringender brauchen und nicht einem kaltblütigen Mörder und Lügner. Wenn er wieder im Gewahrsam der Templer ist, kann ihm sowieso kein Arzt mehr helfen. Ich habe die Ahnung, dass der Mord an Abo nur eine Untat in einer ganzen Reihe von Verfehlungen ist. Wahrscheinlich suchen die Templer sogar schon nach ihm, so gehetzt wie er wirkt.“ Er hielt kurz inne und ging auf sie zu. „Aber lass uns nicht weiter von Victor reden – wir sollten uns lieber nur auf uns zwei konzentrieren.“ Er stand nun, nur noch mit der Bruche bekleidet, hinter Margret und versuchte wie beiläufi fig, ihr Hemd nach unten zu schieben und ihre Schulter zu küssen. „Bitte, Jonas, das ist jetzt nicht der Moment!“, wehrte Margret ihn sanft ab und drehte sich zu ihrem Liebsten um. Zärtlich legte sie die Hände auf seinen behaarten Oberkörper und lehnte sich an 158
ihn. „Heute können wir nicht für uns sein, nach allem was war – meinst du nicht?“, sagte sie. Er nickte und zog sie zum Lager, wo sie sich in lockerer Umarmung niederlegten. Schlafen konnten sie aber noch lange nicht. *** Als Margret beim ersten Licht des Morgens die Augen öffnete, war alles um sie herum so ruhig und friedlich, dass sie überhaupt nicht wach werden wollte. Sie lauschte dem Gesang der ersten frühen Vögel, der ihr vorkam, wie das schönste Morgenlob in einem Kloster – konnte nicht ein Leben, geführt im Einklang mit Gottes Schöpfung, genauso wertvoll sein wie ein asketisches Klosterleben? Warum nur sollte ein weltliches Leben im Vertrauen auf Gott Sünde sein und nur ein Leben in einem Konvent gottgefällig? Sie würde sich um eine Dispens von ihrem Gelübde bemühen und Jonas heiraten, sobald sie wieder in Tyrus waren. Diesmal durfte sie das Glück nicht wieder aus ihren Fingern lassen. Sie betrachtete noch eine Weile die ersten Sonnenstrahlen, hörte das Jubilieren der Vögel und schlief voller Glück wieder ein. Sie wurden von einem lauten Klopfen an der Zimmertür geweckt. Jonas sprang augenblicklich auf – fast so, als hätte er das Klopfen erwartet –, warf sein Gewand über und öffnete. Hamza redete panisch auf ihn ein – Marjam war verschwunden! Die Knechte und Mägde hatten schon alles abgesucht, das Mädchen war nirgends zu finden. fi Jonas rannte sofort in den Stall, und wie erwartet, war auch Victor fort. Seine Fesseln lagen am Boden – jemand musste ihn losgebunden haben, denn sich selbst zu befreien, wäre ihm unmöglich gewesen. Die eilig herbeigerufenen Knechte wirkten sehr ängstlich und sagten aus, dass Marjam am frühen Morgen in den Stall gekommen sei und den Gefangenen allein hätte sprechen wollen. Sie habe ihnen befohlen, ihre Posten zu verlassen, und sie sei schließlich jetzt, nach Abos Tod, die Herrin hier auf dem Hof. Jonas war außer sich vor Zorn – auf die Knechte, aber vor allem auf sich selbst. „Ich hätte den Kerl gestern umbringen sollen, als ich die Gelegenheit hatte!“, rief er. „Eine winzige Handbewegung und die Sache wäre ein für allemal erledigt gewesen!“ 159
„Was ist passiert, wo ist Victor?“, fragte Margret atemlos, die gerade in den Stall gerannt kam. Da sah sie die gelösten Fesseln und die am Boden zerstörten Knechte und ahnte das Schlimmste. Jonas bemerkte sie kaum, er war tief in Gedanken versunken. „Ich möchte nur wissen, wie er sie dazu gebracht hat, seine Fesseln zu lösen. Marjam ist nicht dumm und von ‚mit ihm reden‘ bis zu ‚ihn freilassen‘ ist es noch ein Stück weit hin.“ „Der Mann war der Teufel in Gestalt eines Ritters!“, rief einer der Knechte. „Lasst den Teufel hier aus dem Spiel, wir haben schon genug Ärger mit dem Menschen Victor!“, erwiderte Jonas unwirsch. „Vielleicht hat er sie entführt!“ Roque wurde ganz blass, als er diesen Gedanken zu Ende dachte. „Selbst dafür muss sie ihn erst einmal losgebunden haben – nein, er hat es irgendwie geschafft, sie mit schönen Worten zu überzeugen“, sagte Jonas bitter, während Margret fassungslos ergänzte: „Mit teuflisch fl schönen Worten!“ Nun kam Hamza über den Hof geeilt und berichtete, dass Marjam auch Bogen und Köcher sowie ihren Mantel und Proviant in einem Bündel mitgenommen hatte – nein, das alles sah immer weniger nach einer gewaltsamen Entführung aus. „Vielleicht werden wir nie erfahren, wie Victor sie dazu gebracht hat – wahrlich, ich wünschte bei Gott, ich hätte ihn persönlich bewacht: mit meinem Messer an seinem Hals!“, grollte Jonas. Sie berieten nur kurz, was zu tun sei. Da Victor ständig von der Belagerung von Akko gesprochen hatte, war Jonas sich sicher, dass die beiden dorthin reiten würden. Bald darauf machten sich zahlreiche Reiter über die Küstenstraße auf den Weg zur belagerten Stadt: Jonas, Margret und Said, Hamza, Roque und Meister Adam sowie einige Knechte. Der verletzte Gautier blieb auf eigenen Wunsch und gegen Jonas’ eindringlichen Rat auf dem Gut zurück, da es eine deutliche Verlangsamung des Reisetempos bedeutet hätte, ihn mitzunehmen. Jonas würde von Akko aus seine Abholung veranlassen.
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VII
Auf nach Akko!
Victor hatte seinen Augen nicht getraut, als Marjam plötzlich im Morgengrauen im Stall aufgetaucht war. „Schwört Ihr mir bei allen Heiligen, dass Ihr nichts mit dem Tod meines Großvaters zu tun habt?“, hatte sie ihn gefragt. „Ich schwöre es“, war seine Antwort gewesen, auch wenn ihm nicht wohl dabei gewesen war. Marjam hatte noch einen Augenblick gezögert, dann jedoch gesagt: „Ich will nicht, dass Ihr den Rest Eures Lebens im Kerker verbringen müsst, sondern dass Ihr geheilt werdet von den Dämonen, die Euch quälen. Lasst uns nach Akko aufbrechen, bevor ich es mir wieder anders überlege oder die anderen aufwachen!“ Somit hatte Victor nicht einmal besondere Überredungskünste dazu gebraucht, um seine Freiheit wiederzuerlangen. Nachdem Marjam die wachhabenden Knechte angewiesen hatte, sie ziehen zu lassen, hatten sie schnell ihre Pferde reisefertig gemacht und waren vom Hof geritten. Seinen Streitkolben hatte Victor widerwillig zurückgelassen. Zu leicht hätte jemand wach werden und Marjams Anordnung widerrufen können. Victor war die Idee gekommen, Marjam durch einen Abstecher zum Schlachtfeld von Hattin in ihren Rachegelüsten weiter zu bestärken. Sie hatten also die etwas weiter östlich gelegene Straße genommen, die auf den See von Tiberias zuführte, und waren nicht zur Küstenstraße geritten. So konnte sich Victor, der zu Recht vermutete, dass Jonas und die anderen den direkten Weg nach Akko nehmen würden, einerseits sicher sein, dass ihnen niemand aus Ibelin folgen würde. Andererseits gab es ihm Zeit, Marjam weitere Schauergeschichten über die Brutalität der Sarazenen zu erzählen. Hattin sollte schließlich den krönenden Abschluss seiner Belehrung darstellen. Das Risiko, dass es mit sich brachte, als einzelner, an seinem Habit weithin erkennbarer Templer durchs Sarazenenland zu reiten, nahm er in Kauf, schob aber den Gedanken, sich an dem Mädchen zu vergehen, weit von sich – schließlich hatte er es allein ihr 161
zu verdanken, dass er hier an ihrer Seite wieder nach Norden reiten konnte, anstatt im Stall von Casal Moulins auf seine ehemaligen Ordensbrüder und seinen Prozess wegen Mordes zu warten. Er beherrschte sich drei Tage und Nächte lang; dies gelang ihm, indem er möglichst wenig mit Marjam redete und sich abends entfernt von ihr niederlegte. Dabei ermordete er in seiner Vorstellung immer wieder auf jede nur erdenkliche Weise Sarazenen – diese Gewaltfantasien halfen ihm, seine übrigen sündigen Gedanken zumindest soweit im Zaum zu halten, dass er Marjam nicht anrührte. Ab und zu sprachen sie über die Situation im Königreich Jerusalem, nachdem Saladin wieder die Oberhand gewonnen hatte – doch eigentlich wollte Marjam davon überhaupt nichts mehr hören; ihre Gedanken kreisten allein darum, Victor helfen zu wollen. Daher versuchte sie, Näheres über sein Leben im Templerorden herauszufinden, und wie er zu dem geworden war, der er heute zu sein schien. Doch Victors Antworten waren verwirrend und manchmal so konfus, dass Marjam sich fragte, ob er sich überhaupt noch genau erinnern konnte, was bei dieser oder jener Schlacht vorgefallen war. Nicht einmal an die Namen seiner Mitbrüder, mit denen er zusammen gekämpft hatte und die an seiner Seite gestorben waren, konnte er sich erinnern. Wann immer er sich bei einer ihrer Fragen in Bedrängnis sah, reagierte er aufbrausend und wütend, worauf Marjam ihn wieder eine ganze Zeit lang in Ruhe ließ, bevor sie die nächste Frage stellte. Während dieser schweigend verbrachten Phasen versuchte sie, all die Informationsschnipsel, die sie dem Templer hatte entlocken können, in eine halbwegs sinnvolle Reihenfolge zu bringen – doch ein wirkliches Mosaik mit schlüssigen Bildern wollte nicht daraus entstehen. Marjam war darüber zugleich enttäuscht als auch umso faszinierter von Victor – sie hatte sich in den Kopf gesetzt, diesen gequälten Ritter vor der Kerkerhaft zu bewahren und vielleicht sogar durch ihre Aufmerksamkeit heilen zu können. Schließlich war auch die vor Hattin letzte Übernachtung in Tiberias vorüber, und die beiden ritten langsam von Magdala nördlich des Bergs Arbel den steilen, westwärts führenden Pfad hinauf zum Schlachtfeld. Als sie auf das Plateau ritten, bemerkte Victor eine für ihn hilfreiche Überraschung. Hatte er ursprünglich geglaubt, 162
allein der Anblick des Ortes, an dem ihr Vater gefallen war, würde Marjams Rachegefühle nähren, so sah er, dass die Zeitläufte ihm eine noch viel eindrücklichere Inszenierung schenkten: Das gesamte Schlachtfeld war noch voller Knochen und verstreuter Waffen, die teils in Haufen beieinanderlagen, teils wie wahllos hingeworfen wirkten. Obwohl inzwischen vier Jahre seit der mörderischen Schlacht vergangen waren, und sich sämtliche Raubtiere und Aasfresser der weiteren Umgebung an den gefallenen Menschen und Pferden gütlich getan hatten – war noch niemand auf den Gedanken gekommen, die Gefallenen zu begraben. Marjam war tatsächlich sehr erschrocken, als sie die Gebeine sah, vermittelte dieser Anblick doch einen viel gewaltigeren Eindruck von den grausamen Geschehnissen, als es das reine, inzwischen wieder bewachsene Schlachtfeld gekonnt hätte. Beide stiegen vom Pferd, und Marjam machte vorsichtig ein paar Schritte, immer bemüht, nicht auf einen der Knochen zu treten. Victor hob einen der herumliegenden Schädel auf, der deutliche Kerben von einem Schwert auf der Stirn trug, und hielt ihn ihr entgegen. Marjam zuckte refl flexartig zurück. „Woher wollt Ihr wissen, dass dies nicht Euer Vater ist?“, fragte Victor gehässig. „Er und die vielen anderen sind hier vor vier Jahren gestorben, abgeschlachtet durch diese dreckigen sarazenischen Hunde! Dies ist ihr Werk, so wie der Tod Eures Abo ihr Werk ist, egal was dieser Medicus sagt. Die Ungläubigen müssen vernichtet werden!“ Abgrundtiefer Hass sprach aus seinen Augen, als er ihr den Schädel jetzt so nahe ans Gesicht hielt, dass sie sich abwenden musste. Grob fasste er sie am Arm, zwang sie, wieder zu ihm und seiner grausigen Trophäe zu sehen. „Dies ist Euer Vater, Marjam!“, insistierte er. „Er ist auch für Euch gestorben, für Euch, für Jesus Christus und dieses Königreich. Hier, nehmt seinen Schädel, und sagt ihm in die Augen, dass Ihr die sarazenischen Schweine mehr liebt als ihn! Sagt es!“ Er schüttelte sie nun und hielt ihr den Schädel immer wieder vor die Augen. Erst als Marjam in panischer Angst aufschrie, ließ er sie los und warf den Schädel achtlos zurück in die Haufen verstreuter Knochen, wo er mit einem hohlen Scheppern liegen blieb. Stattdessen hob er mit der einen Hand einen Beinknochen auf, an dem 163
noch einige Textilfetzen baumelten, mit der anderen einen verbeulten Kreuzfahrerhelm. „Seht her, Tochter einer der Mörderinnen! Seht her und vergeht vor Entsetzen und Reue über dieses ungeheure Unrecht! Ihr selbst seid nicht besser als alle Schergen Saladins!“ „Ich bin die Tochter eines Gutsbesitzers – und eine sehr gute Bogenschützin!“, erwiderte Marjam trotzig, fast so, als wolle sie nur überhaupt etwas sagen. „Eine Bogenschützin seid Ihr?“, wiederholte Victor höhnisch. „Dann setzt Euer Können im Heiligen Krieg gegen die Sarazenen ein! Holt sie einen nach dem anderen von der Mauer in Akko, schießt ihnen Pfeile zwischen die Augen und zwischen die Beine – dorthin, wo ihr verfl fluchtes Geschlecht sitzt, das dieses Heilige Land mit immer mehr ungläubigen Nachkommen überschwemmt wie mit giftigen Ameisen. Schießt! Tötet sie alle! Lasst keinen Einzigen übrig!“ Er geriet immer mehr in Rage, stampfte über das Schlachtfeld, hob einmal hier einen Knochen auf, dort ein Rüstungsteil, und warf alles wieder von sich, bis er schließlich nur noch wie manisch unter den Überresten der Gefallenen herumwühlte und sie nach allen Richtungen davonschleuderte. Marjam sah dem voller Abscheu zu. „Hört doch endlich auf damit, Ihr seid ja nicht mehr Ihr selbst!“, rief sie ihm schließlich zu. „Was bin ich nicht? Ich selbst?“, gab er zurück. „Das hier, Marjam, ist meine wahre Natur, der Blutrausch und der unendliche Hass auf alle Ungläubigen!“ Er war wieder sehr nahe an sie herangekommen, sein wutverzerrtes Gesicht war direkt über ihrem und sie konnte seinen schnellen, schweren Atem spüren. Sie ekelte sich nun vor dem Mann, den sie noch bis vor Kurzem hatte vor dem Kerker retten wollen. Abwenden konnte sie sich nicht, denn er hielt sie an den Haaren gepackt und starrte ihr in die Augen. Dann ließ er sie los, wandte sich abrupt um und stieg aufs Pferd. „Kommt“, sagte er, ohne sie noch einmal anzusehen. „Wir müssen uns auf den Weg machen.“ Zitternd folgte ihm Marjam, obwohl etwas in ihr die nicht eben leise Frage stellte – warum eigentlich? Noch hätte sie Gelegenheit umzukehren, den Weg zum See wieder hinunterzureiten und nach Casal Moulins zurückzukehren. Warum nur fühlte sie den Zwang, 164
Victor unter allen Umständen folgen zu müssen? Er war ein erwachsener Mann, selbst für sich und seine Taten verantwortlich, was sich spätestens dann zeigen würde, wenn er wieder im Gewahrsam seines Ordens war. Warum meinte sie, ihm unbedingt helfen zu müssen? Oder überhaupt dazu in der Lage zu sein? Jonas war der Medicus, nicht sie. Ihr Kopf schwirrte, und ohne es wirklich zu wollen, verwarf sie schließlich den Gedanken an eine Flucht und folgte dem Templer weiter nach Westen. *** Sie ritten von Hattin aus auf der sogenannten „Straße der Leute von Hauran“ in Richtung Akko, als plötzlich eine kleine Gruppe Sarazenen hinter einem Hügel auftauchte und sofort auf sie zustürmte. Victor riss augenblicklich sein Schwert aus der Scheide und galoppierte auf die Kämpfer zu. Marjam aber zügelte ihr Pferd und hielt Abstand. Einen nach dem anderen holte Victor die Sarazenen durch gewaltige Schwerthiebe vom Pferd, die wie nichts Köpfe spalteten oder sie wie Bälle von ihren Körpern trennten. Schließlich war nur noch ein einziger Sarazene übrig, ein junger Mann, der mit schreckgeweiteten Augen sein Pferd wendete und zu fliehen versuchte. Victor holte ihn schnell ein und riss ihn aus dem Sattel, wobei beide zu Boden gingen und der junge Krieger Waffen, Helm und Schild verlor. Brutal zerrte Victor den Jungen in die Richtung, in der Marjam noch immer auf ihrem Pferd saß. Als er glaubte, nah genug zu sein, packte er den Kopf des Jungen an den Haaren und zwang ihn so nach oben, dass sein Hals freilag. „Seht gut zu, Marjam, damit Ihr endlich lernt, was man mit Sarazenen macht!“, rief ihr Victor zu. „Sie suchen den Märtyrertod und ich bin gern bereit, ihnen einen solchen zu bereiten!“ Mit diesen Worten zog er sein Messer, schnitt dem jungen Sarazenen damit langsam die Kehle durch und sah dabei aus, als bereite ihm diese Tat ungeheures Vergnügen. Marjam schrie entsetzt auf, gab ihrem Pferd die Sporen und preschte so schnell sie konnte an Victor und seinem Opfer vorbei, zurück auf den Weg. Im selben Moment stieß der Templer den Sterbenden von sich, sprang auf sein Pferd und nahm die Verfolgung auf. Er holte sie 165
rasch ein und griff ihr so brutal in die Zügel, dass sie fast vom Pferd gefallen wäre. Marjam hatte inzwischen panische Angst vor Victor, der sich jedoch erstaunlich schnell wieder beruhigte und sich so gab, als wäre nichts weiter geschehen. Er half Marjam vom Pferd und erklärte ihr, dass sie jetzt und hier bei den Quellen von Saforie lagern würden, denn nach Akko wäre es noch zu weit. Marjam war wie betäubt und gehorchte ohne ein Wort. Viel später versuchte sie, Victor dazu zu bringen, seine letzten Opfer zumindest ehrenvoll zu begraben. Der Templer lachte sie höhnisch aus, und dieses Lachen klang noch bis weit in die Nacht in ihren Ohren. *** Nach drei Tagen schnellen Rittes erreichten die Verfolger aus Ibelin schließlich bei Einbruch der Dunkelheit Akko. Müde suchten sie sich einen Platz am Rande des christlichen Heerlagers und errichteten dort inmitten anderer Neuankömmlinge ihre Zelte. Verglichen mit der Situation nur gut eine Woche zuvor, waren jetzt viel mehr Menschen vor Akko anzutreffen, denn die Ankunft der beiden Könige hatte viele weitere Kampfbegeisterte aus aller Herren Länder nachfolgen lassen. Diese wurden von den seit fast drei Jahren hier Lagernden argwöhnisch beäugt – schließlich kamen sie jetzt, kurz vor dem endlich absehbaren Ende der Belagerung, voller Elan an, um allen Ruhm einzuheimsen, der vielmehr denen gebührt hätte, die Jahre voller Hunger, Seuchen und Wetterunbill für die christliche Sache erlitten hatten. Immer wieder kam es darüber in den Lagern zu Streitigkeiten zwischen den einzelnen Parteien, obwohl sie alle sich auf ihren gemeinsamen Kampf gegen die Sarazenen hätten konzentrieren sollen. Doch auch die Könige waren diesbezüglich kein gutes Vorbild – Richard Löwenherz von England und Philipp August von Frankreich stritten untereinander über völlig unwichtige Dinge und stellten ihren persönlichen Ruhm mehr als einmal über die Sache der Christen. Roque wollte sich sofort nach ihrer Ankunft auf die Suche nach Marjam machen, doch Jonas überredete ihn, bis zum nächsten Tag zu warten. Schließlich war die Wahrscheinlichkeit, das Mädchen bei Nacht in dem überfüllten Lager zu finden, äußerst gering, und 166
es versprach besseren Erfolg, sich am kommenden Morgen ausgeruht aufzumachen. Daher zogen sich schon alle früh in ihre Zelte zurück und versuchten, etwas Schlaf zu finden, was angesichts der Sorgen um Marjam und des Lärms im Feldlager gar nicht so einfach war – glich doch das Lager von Akko inzwischen einem riesigen Hornissennest, das mit wütendem Gesurre die kommenden Tage erwartete. *** Während Roque, Said, Margret und Hamza am nächsten Morgen mit der Suche nach der Vermissten begannen, machten sich Jonas und Adam zur Zeltstadt der Templer auf. Das christliche Lager nahe beim Mont Toron wurde hoch von den schwarz-weißen Bannern überragt, so dass das einzige Problem, dorthin zu gelangen, darin bestand, sich durch die Vielzahl an Menschen zu kämpfen. Dicht an dicht standen die gleichartigen Rundzelte rund um das Kommandozelt, das im Feld so etwas wie der transportable Ersatz des Kapitelsaales im Tempel war. In jedem der Zelte wohnte ein Tempelritter zusammen mit seinen Knappen und Pferden, je nach Rang des Einzelnen im Orden eine Gruppe von zwei bis zu zehn Mann. Jonas und Adam durchschritten diese endlos langen Zeltreihen voller Verwunderung, denn ihnen war nicht klar, wie selbst jemand, der mit der Ordensstruktur gut vertraut war, sich dort zurechtfi finden konnte. Aber schließlich erreichten sie doch das Kommandozelt, das gleichzeitig als Kapelle für die Gottesdienste genutzt wurde, und baten, zum Großmeister Robert von Sablé vorgelassen zu werden. Dieser hatte die Nachricht aus Ibelin bereits am Tag zuvor bekommen und war somit mit den groben Fakten vertraut. Jonas berichtete ihm nun genau davon, wie ein einzelner Ritter, der den weißen Habit der Templer trug, am zweiten Morgen nach dem feigen Mord an Abo des Moulins wie aus dem Nichts auf Casal Moulins aufgetaucht war und sofort ihr Misstrauen erregt hatte. Er erzählte weiter, wie der Mann, der sich Victor von Pontailler nannte, als angeblich einzig überlebender männlicher Verwandter Abos Ansprüche auf dessen Erbe erhoben hatte – doch wieso tauchte er so kurze Zeit nach dessen Tod auf, wenn er nicht in irgendeiner Weise selbst an dem Überfall beteiligt gewesen war? Und war er 167
überhaupt ein Blutsverwandter des Opfers, was alle auf Casal Moulins bezweifelten? Der Großmeister hatte erstaunt aufgeblickt, als Jonas den Namen Victor von Pontailler nannte, und stimmte dem Verdacht des Medicus ohne zu zögern zu. Er schilderte seinerseits in knappen Worten, wie eben dieser Victor nach seinem Eintritt in den Orden immer wieder negativ aufgefallen war, am schlimmsten durch seinen groben Regelverstoß bei der Patrouille gegen die Muslime. Auch über die harte Strafe, der sich Victor danach hatte unterwerfen müssen, informierte er sie, sowie darüber, dass der degradierte Ritter seit nunmehr gut drei Wochen verschwunden war, nachdem sein Begleiter, Bruder Jean, nur in Unterwäsche, ermordet in der Wüste aufgefunden worden war. Der Großmeister wollte zwar nicht behaupten, dass Victor auch ihn ermordet hatte, doch suchten die Templer seither nach ihm, um ihn zu befragen und anzuklagen: Neben Fahnenflucht fl warfen sie ihm den Diebstahl von Bruder Jeans Habit vor, denn dieser war am Tatort nicht zu fi finden gewesen. Und nun also die Beteiligung an einem Mord. Den weiteren Weg Victors, der offenbar unterwegs Gefährten gefunden und mit ihnen gemeinsam in Ibelin den Mordanschlag begangen hatte, konnten die beiden Männer und Robert von Sablé wie ein Mosaik zusammensetzen. Was den Überfall auf Abo und Gautier anging, so vermutete der Großmeister, dass es sich um eine gezielt in Auftrag gegebene Attacke gehandelt haben müsse, denn warum sonst hätten die Männer erst drei Tagesreisen nach Süden unternehmen sollen? Wäre es nur um die Beute gegangen, hätte es genügend näher gelegene Ziele für einen feigen Raubmord gegeben. Als Jonas seine Bedenken preisgab, was Victors Geisteszustand betraf, musste der Großmeister ihm beipfl flichten. Ja, die Templer hatten schon lange befürchtet, dass sich Bruder Victor auf dem Weg dazu befand, den Verstand zu verlieren, und dass der Medicus ihm dies nun bestätigte, vergrößerte seine Bedenken. Zu guter Letzt erzählte Jonas von Marjam, die aus nicht nachvollziehbaren Gründen mit dem Templer gegangen war und seitdem vermisst wurde. Jonas vermutete beide in Akko und schätzte, dass sie mindestens einen halben Tag Vorsprung vor ihren Verfolgern gehabt haben könnten. Der Großmeister versprach, von jetzt an regelmäßig Suchtrupps durch das gesamte christliche Lager zu schicken, denn auch ihm 168
war daran gelegen, Victors wieder habhaft zu werden. Sollte dabei auch gleich noch das verschwundene Mädchen gefunden werden können, umso besser. Als Jonas und Adam nach dieser Unterredung wieder aus dem abgeschlossenen Templerlager heraustraten, fiel ihnen die aufgeregte und lärmende Stimmung auf, die im restlichen Lager herrschte. Sie hörten Rufe wie „Lang lebe König Richard!“ oder „Der König, der König“, und bald darauf sahen sie, dass der Grund des Aufruhrs ein Umritt des englischen Königs durch das Kreuzfahrerlager war. Dieser ritt mit seinem unmittelbaren Gefolge unter riesigem Pomp und Prunk, um die Kampfmoral unter den resignierten, seit zu langer Zeit vor Akko lagernden Kreuzfahrern zu heben. Dazu kam, dass König Richard, kurz nachdem er Anfang Juni in Akko angekommen war, für mehrere Wochen erkrankt war, so dass er jetzt seinem Heervolk demonstrieren musste, am Leben und bei guten Kräften zu sein. Löwenherz hatte sich gleich nach seiner Ankunft darum bemüht, Kontakte zur gegnerischen Seite herzustellen, was in einer seltsamen Situation zwischen gegenseitigem Belauern, abschätzendem Herausfordern des Anderen und einander großzügig erwiesenen diplomatischen Gunstbeweisen geendet war. Und so war auch die schnelle Genesung des Königs unter anderem auf die Lieferung von Hühnchen, Früchten und Eis aus dem Lager Saladins zurückzuführen. Zufällig trafen Jonas und Adam auf Margret und Hamza, und gemeinsam beobachteten sie aus geringer Entfernung, wie König Richard Löwenherz mit martialisch gezogenem Schwert langsam an ihnen vorüberritt. Begleitet von einer Leibgarde, inmitten zahlloser feuerroter Banner und Standarten, die sein Wappenzeichen, einen goldenen Löwen, zeigten, ritt der König in einer Tunika aus rosenfarbenem Samit an seinen Untergebenen vorüber. Darüber trug er einen Mantel, der über und über mit silbernen Halbmonden und goldenen Sonnenscheiben bestickt war. Auf seinem Kopf saßen weder Krone noch Helm, sondern eine kostbare Kappe aus flandrischem rotem Tuch, auf der in Goldstickerei die unterschiedlichsten Vögel und andere Tiere zu sehen waren. Sein Schwertgehänge war aus Seide und die reich verzierte Schwertscheide mit Silber eingelegt, während die Waffe selbst einen massiv goldenen Knauf besaß. Vervollständigt wurde diese Ausrüstung durch gol169
dene Sporen, und auch der Sattel des Königs war mit Edelmetallen und Email verziert. Auf dem erhöhtem Hinterzwiesel, der Rückenlehne des Sattels, standen sich zwei goldene reliefierte fi Löwen mit hoch erhobenen Pranken brüllend gegenüber, so dass es aussah, als wollten sie einander zerfl fleischen. „So viel Prunk und Luxus, und hier hungern die Menschen!“, murrte Margret, die zudem mit Schrecken erkannte, dass Richard dem König ihres Totenheeres überaus ähnlich war. So könnte er durchaus aussehen, nach einigen Wochen im Grab, dachte sie schaudernd, doch da riss sie etwas anderes aus ihren Gedanken und ließ sie einen halblauten Schrei ausstoßen: Ein Stück hinter dem König ritt, huldvoll lächelnd und die Menge segnend, ein Mann, der ihr seit ihren letzten Monaten in Yorkshire nur zu gut bekannt war – der wohlbeleibte Pastor Roger von Howden, seines Zeichens mittlerweile Chronist und Schreiber König Richards. Er war es gewesen, der sich damals vehement dagegen ausgesprochen hatte, Frauen – und somit auch Margret – überhaupt die Erlaubnis zur Pilgerfahrt zu erteilen, so dass sie große Überredungskünste hatte aufbringen müssen, bis der Pfarrer von Beverley sie endlich mit Gottes Segen hatte ziehen lassen. Mochten sich die meisten Schäfchen der Gemeinde nicht daran stören, dass diese selbstgerechten Priester allen Menschen ihrer Pfarrei vorschreiben wollten, was sie zu tun hätten und was nicht, so war es Margret von vornherein einer Anmaßung gleichgekommen. Nachdem der König unter lautem Jubel vorübergeritten war, zog Jonas Margret etwas weiter nach hinten zwischen die Zelte. „Was war denn los? Warum hast du auf einmal aufgeschrien?“, erkundigte er sich besorgt. „Hast du den dicken Kleriker gesehen, der hinter dem König ritt?“, gab sie erbost zurück. „Das war Roger von Howden, er war vor vier Jahren der Priester unserer Nachbargemeinde und ernsthaft der Meinung, dass Frauen nicht pilgern dürften! Damit hat er mir viel Ärger bereitet, bevor ich endlich die Erlaubnis unseres Pfarrers in Beverley hatte!“ Sie bebte vor Zorn bei der Erinnerung daran. „Offenbar hat er es mit seinem Opportunismus direkt bis in die Entourage des Königs geschafft, dieser kleine Heraclius!“ „Der kleine Heraclius? Was hat er mit dem Patriarchen von Jerusalem zu tun?“ „Roger hat sich genauso der Simonie schuldig gemacht wie Heraclius – auch wenn möglicherweise die Mittel dazu verschieden 170
waren.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Abo hat uns damals in Jerusalem erzählt, Heraclius sei nur deshalb Patriarch geworden, weil er der Königinmutter Agnes einige, nun ja, sagen wir, ‚Liebesdienste‘ erbracht hat.“ Jonas musste lachen. „Und welche Mittel verwendete Roger? Oder denkst Du an vergleichbare Liebesdienste für Löwenherz?“ „Gott bewahre, nein!“ Sie hielt kurz inne. „Nicht, dass ich es sicher sagen könnte, aber damals in Yorkshire war er bekannt für seine Anhäufung von Pfründen und Zehnten. Ich muss ihn unbedingt nach dem Pogrom an den Yorker Juden fragen – er wird bestimmt sehr erfreut sein, mich hier zu sehen!“, sagte sie mit hinterlistigem Lächeln. Während Jonas noch immer lachte und Margret weiterhin vor sich hin schimpfte, gingen sie gemeinsam zu ihrem Zelt zurück. Den ganzen Abend wollte Margret sich nicht beruhigen, so dass Jonas beschloss, sich einmal etwas über Roger von Howden umzuhören; allerdings nicht nur, um die – etwaige – andere Seite der Medaille zu sehen zu bekommen, sondern auch um möglicherweise über ihn Zugang zum englischen König zu erlangen. Lange konnte Margret an diesem Abend nicht einschlafen, und als es ihr schließlich trotz eines aufkommenden Sturmes und des Lagerlärmes gelang, in einen unruhigen Schlummer zu fallen, wurde sie sofort wieder von ihren Dämonen überfallen. Doch während der König des Totenheeres versuchte, sie zu ergreifen und in den Abgrund zu ziehen – sah sie plötzlich Marjam, die sich ihr in blutbefl fleckter Kleidung hilfesuchend zuwendete. Das Mädchen sagte etwas, doch Margret konnte nichts verstehen. Im nächsten Augenblick wurde Margret aus nächster Nähe Zeugin, wie ein brüllender Löwe eine Gazelle riss, die sich noch in seinen Fängen und Klauen in das Mädchen Marjam verwandelte. So schnell, wie er gekommen war, war der Löwe wieder verschwunden, und Margret, die sich die ganze Zeit über nicht hatte rühren können, blickte entsetzt auf die zerfl fleischt vor ihr liegende tote Marjam, dann begann sie zu schreien. Jonas war sofort bei ihr, doch es gelang ihm kaum, sie zu beruhigen. „Marjam, Marjam!“, stammelte Margret immer wieder. „Ein Löwe ... sie ist tot, die Bestie hat sie umgebracht! ... hat sie gerissen wie ein Stück Wild ...“, brachte sie unter Tränen hervor, und nicht 171
nur Jonas hatte die Befürchtung, dass dieser Löwe die Tunika eines Templers trug. Der Sturm wurde währenddessen immer heftiger, und schließlich schien der gesamte Erdboden zu erzittern und aus dem Innersten heraus zu grollen. Jonas hielt die verzweifelte Margret eng umschlungen und fragte sich, welche Schrecken jetzt noch fehlten zum Ende der Welt. *** Nach einem kargen Mahl saßen Marjam und Victor am Lagerfeuer, und der Templer tat weiterhin so, als wäre nichts geschehen. Er versuchte sogar, ein Gespräch in Gang zu bringen. „Wisst Ihr, wo wir hier sind, Marjam?“, fragte er, und als sie nicht antwortete, fuhr er fort: „Hier in der Nähe liegt die Stadt Saforie – und dort hat unsere heilige Herrin, die edle Dame Maria, gelebt, als sie ein kleines Mädchen war! Ihr seid ihr sehr ähnlich, Marjam, nach allem was ich über die Gottesmutter weiß.“ Marjam reagierte noch immer nicht. Victor aber redete weiter. „Wirklich, es stimmt! Ich kann mich nicht mehr erinnern wer, aber jemand hat gesagt, die Himmelskönigin sei schön wie ein Rosenfeld in Jericho – genau so wie Ihr!“ Marjam wandte sich ab. Auf einmal begann Victor, Gebetszeilen zu rezitieren, die der Gottesmutter gewidmet waren. „Gegrüßt seiest Du Maria, voll der Gnade ... Oh gütige, oh milde, oh süße Jungfrau Maria ...“ Er wiederholte diese wenigen Sätze, die er offenbar ebenso auswendig gelernt hatte wie die Zitate aus den bernhardinischen Schriften, immer und immer wieder, und seine Stimme wurde mit jedem Mal sanfter und andächtiger. Ohne es bewusst zu wollen, wurde Marjam von dieser Stimme angezogen, und obwohl sie sehr genau wusste, wem sie gehörte, schien sie es doch mit jedem Wort etwas mehr zu vergessen. Nun sah sie Victor nach langer Zeit zum ersten Mal wieder an, und er kam ihr völlig verwandelt vor. „Gegrüßt seiest Du Maria, niedrigste Magd der Dreifaltigkeit.“ Er berührte wie beiläufi fig den Stoff ihres blauen Mantels. „Genauso einen Mantel hat die Gottesmutter getragen ...“, sagte er bewundernd. „Ihr tragt ihren Mantel, habt ihr Antlitz ... Ihr seid ihr wundersames Ebenbild!“ 172
„Den Mantel hat mir Abo zu meinem letzten Geburtstag anfertigen lassen. Der Stoff kommt aus Persien!“, sagte Marjam abweisend. „Weibergeschwätz!“, fuhr er auf, um etwas ruhiger fortzufahren. „Nein, was denkt Ihr dummes Mädchen nur? Dass ausgerechnet Ihr einen blauen Mantel besitzt und Marjam heißt, ist göttliche Vorsehung! Unser Herr will Euch damit zu verstehen geben, dass Ihr, nur Ihr das Ebenbild der Gottesmutter, der Jungfrau Maria auf Erden seid! Dass er Euch sogar Eure ungläubige Mutter vergibt, damit Ihr seinen Spuren folgt! Wisst Ihr nicht, dass die unbefleckte fl Maria immer mit einem blauen Mantel dargestellt wird?“ „Nein, das weiß ich nicht! Das mag bei Euch in Frankreich so sein, nicht aber hier im Heiligen Land“, erwiderte Marjam trotzig. „Ich bin Marjam des Moulins, die Tochter eines Gutsbesitzers bei Ibelin. Niemand sonst, was immer Ihr mir auch erzählen wollt. Und den Mantel habe ich von meinem Großvater Abo bekommen – er sagte, er hätte diese Farbe ausgewählt, weil sie ihn an den Nachthimmel über Ibelin erinnere. Deswegen hat er auch die Borte aus goldenen Sternen sticken lassen.“ „Nein, Ihr täuscht Euch“, erklärte er, ganz sanft und einfühlsam. „Auch Euer Großvater war selbstverständlich ein Teil in Gottes Vorsehung, und der Mantel hat die Farbe des Nachthimmels, weil Gott es so will. Er allein hat die Macht über alles, über uns und dieses Land!“ „Gegrüßt seiest Du, Königin, Mutter der Barmherzigkeit ... Gegrüßt seiest Du, niedrigste Magd der Dreifaltigkeit … Oh gütige, oh milde, oh süße Jungfrau Maria ...“ Wieder rückte er dichter an sie heran, diesmal näher als je zuvor. Seine Stimme war einschmeichelnd und lockend, und die Hand, die nun Marjams Kopf fasste und zu seinem zog, war behutsam und zärtlich. Seine Lippen waren weich, als sie die ihren berührten, und Marjam meinte zu träumen. Victor umarmte sie, zog sie hinunter auf die Decke und hörte nicht auf, sie mit Küssen zu bedecken. So schnell wie der Zauber gekommen war, verschwand er jedoch wieder, und Marjam wurde schlagartig klar, was er wollte. Sie versuchte sich aufzurichten, ihn wegzustoßen, doch es war zu spät. Sofort war das Raubtier wieder da, gegen das sie als halbwüchsiges Mädchen keine Möglichkeiten hatte. Er riss ihr die Kleider vom Leib, schien auf einmal ein Dutzend Hände zu haben, und diese Hände waren nicht im Entferntesten mehr so liebevoll wie noch 173
kurz zuvor. Sie schrie, schlug nach ihm, weinte, spuckte – es half nichts. Schwer warf er sich auf sie, heftig atmend, und als er schließlich in sie eindrang, war es als durchbohrte er ihren Leib mit einem Dolch. Weiter und weiter kämpfte er sich auf ihr ab, und sie gab es schließlich auf, sich zu wehren; irgendwann fragte sie sich nur noch, wie lange es wohl dauern würde. Er schlug Marjam immer wieder hart auf den Boden und schließlich wurde sie ohnmächtig vor Schmerz und Abscheu. Doch kurz bevor ihre Gedanken sie verließen, sah sie die Jungfrau Maria vor sich und fragte sich, ob Victor mit ihr genauso umgehen würde. Alles Lüge, alles Lüge – Lüge und der schwarze Abgrund der Hölle. *** Als Marjam die Augen wieder aufschlug, erhellten nur mehr wenige Sterne die Nacht. Vorsichtig bewegte sie ihren Körper, was zwar wehtat, aber doch möglich war. Sie setzte sich auf und blickte an sich herunter. Sie erkannte die Fetzen, die einmal ihr Gewand gewesen waren, und das Blut an ihren Beinen, schon lange angetrocknet in hässlichen, dunklen Flecken. Trotzdem versuchte sie, ohne nachzudenken, diese Flecken abzuwischen, was aber nicht gelang. Etwas entfernt von ihr sah sie schemenhaft etwas wie einen hellen, sich schwach bewegenden Stoffhaufen: Victor, der sich nach vollbrachter Tat in seinen Mantel gewickelt hatte, um zu schlafen. Doch – er schlief keineswegs ruhig und befriedigt, sondern wälzte sich, so als kämpfe er mit Dämonen. Mit mir hat er anders gekämpft, dachte Marjam voller Zorn und Abscheu. Sie wollte nur noch weg, möglichst ohne dass er etwas davon bemerkte. Vorsichtig erhob sie sich, richtete sich auf, legte den Kopf weit in den Nacken und streckte ihre Arme hilfesuchend zum Nachthimmel. Was soll ich tun?, schien sie zu fragen. Was willst Du, dass ich tue? Hilf mir, Freundin Nacht, geliebte Gefährtin! Sie sah sich auf dem zerwühlten Lagerplatz um, erkannte den einen oder anderen Gegenstand, fand schließlich den Wasserschlauch. Durstig trank sie, bis nicht mehr viel darin war, setzte kurz ab und leerte ihn dann zur Gänze. Sollte Victor doch sehen, woher er Wasser bekam. Er ging sie nichts mehr an. Aus ihren Beutel holte sie ein anderes Gewand und warf es über. Ihr Bogen und der Köcher, ihr wichtigster Besitz auf Erden, lagen etwas entfernt, glücklicher174
weise waren sie bei ihrem Kampf nicht beschädigt worden. Auch ihren nachtblauen Mantel hob sie auf – das Ordal mit Victor hatte mehrere Löcher in den Stoff gerissen und an anderen Stellen hatten sich Disteln und dornige Äste darin verfangen. Trotzdem warf Marjam ihn wieder über – sie hatte nichts anderes, und nach den Erlebnissen der letzten Stunden waren die Dornen nicht mehr wichtig. Sie holte ihr Pferd und führte es im Schritt, lange wagte sie es nicht, aufzusitzen und wegzureiten. Erst als sie den Lagerplatz weit hinter sich gelassen hatte, stieg sie auf. Sie musste plötzlich an den ermordeten Jungen denken und hielt noch einen Augenblick inne. Sie versuchte, sich an ein islamisches Totengebet zu erinnern, doch es fiel fi ihr nur ein Teil des Psalms ein, den Jonas an Abos Grab gesprochen hatte: Der du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder, Menschenkinder! Nein, nicht dem muslimischen Volk galt mehr ihr Hass und ihr Rachdurst, sondern vor allem Victor und seinem Vergewaltigergott. Ihr war instinktiv bewusst, dass es nach dieser Nacht keinen Weg für sie zurück gab – sie konnte nicht nach Hause zurückkehren, so als sei nichts geschehen, konnte Roque nicht einfach so heiraten und ein neues Leben beginnen. Ein normales Leben mit dem Geliebten, wie sie es sich so gewünscht hatte, mit ihm alt zu werden und Kinder zu haben – nun würde möglicherweise ihr erstes Kind nicht Roque, sondern ihren Vergewaltiger Victor zum Vater haben. Aus Maria war ohne ihr Zutun Maria Magdalena geworden – oder vielmehr durch ihren eigenen Fehler, dem falschen Mann vertraut zu haben. Dieser Mann hatte sie befl fleckt und geschändet, so dass nur noch der Tod blieb – ihrer und seiner. In ihrem Kopf herrschte auf einmal vollkommene Klarheit. Sie würde allein nach Akko gehen und die Sache zu Ende bringen, wenn auch anders als bisher gedacht. *** Lange nach ihrem Alptraum, als der Sturm sich beruhigt und die Erde aufgehört hatte, zu beben, war Margret schließlich in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass sie nicht einmal der Trubel am folgenden Morgen wecken konnte. Als sie endlich doch die Augen aufschlug, waren alle um sie herum damit beschäftigt, die Spuren der vergangenen Nacht zu beseitigen. Der für diese Jahreszeit voll175
kommen außergewöhnliche Sturm hatte Zelte und Banner umgerissen oder zumindest gelockert sowie Ausrüstungsteile und Kleidung wie trockene Herbstblätter davongetragen. Jeder suchte etwas oder brachte ein nicht ihm gehörendes Teil zurück, das unvermittelt vor seinem Zelt aufgetaucht war. Manch einer war durch herumfl fliegende Trümmer verletzt worden und viele hatten wie Jonas und Margret geglaubt, das Ende der Welt sei nun tatsächlich gekommen. Alle sprachen sie andächtig von dem schrecklichen Grollen und Zittern der Erde, das beinahe jeden aus dem Schlaf gerissen und über alle Maßen geängstigt hatte. Bald trafen auch Nachrichten aus dem muslimischen Lager ein, die dieses Naturereignis als ein in dieser Region nicht einmal seltenes Erdbeben identifi fizierten. Der Sturm hatte dort sogar das Zelt des Sultans niedergerissen, und wäre dieser darin gewesen, hätte es ihn bestimmt erschlagen. Saladin aber hatte bei seinen Pferden gewacht, um sie zu beruhigen, denn die Tiere waren beinahe wahnsinnig vor Angst angesichts dieser Naturgewalten. Zur gleichen Zeit hatten die Sarazenen auf den Mauern jedoch eine weitere, mystische Erscheinung gehabt: Ihnen war es vorgekommen, als wäre plötzlich ein muslimisches Geisterheer vor ihnen erschienen, das mit einer Unzahl grüner Banner vorgerückt war, um den Verteidigern Akkos zu Hilfe zu kommen. Die grünen Banner der Sippe Mohammeds, die zum Wohle der Ihren in die Schlacht eingreifen wollte! Dies sprach sich sehr schnell auch unter den Christen herum – die sarazenischen Märtyrer waren in der Nacht gekommen, um dem Heer Saladins den Sieg zu bringen! Die christlichen Belagerer waren darüber sehr erschrocken, verstanden sie dies doch als übles Vorzeichen. Jonas bemerkte die verschlafene Margret erst, als sie aus dem Zelt trat, und nahm sie sofort in die Arme. „Meinst du auch, der Löwe war Victor?“, fragte Margret matt. „So sehr ich mir wünschen würde, dir etwas anderes sagen zu können – ja, ich befürchte es.“ Er runzelte unwillig die Stirn. „Ich könnte mich peitschen für meinen Fehler! Ich hätte Victor keinen Moment aus den Augen lassen dürfen!“ „Das konnte niemand voraussehen“, tröstete Margret ihn. „Mir will immer noch nicht in den Kopf, dass sie ihn freigelassen und mit ihm weggeritten sein soll, so sehr ich es auch versuche zu begreifen.“ 176
Nachdem das gröbste Sturmchaos beseitigt war, machten sich die Freunde wieder auf die Suche nach den Vermissten. Marjam war gerade erst in Akko angekommen, denn als der Sturm in der Nacht seinen Höhepunkt erreicht hatte, war es unmöglich geworden, weiterzureiten. Sie hatte sich mit ihrem Pferd versteckt, um das Ende des Unwetters abzuwarten, irgendwann war es dem verschreckten Tier jedoch gelungen, sich loszureißen und wegzulaufen – sie mochte gar nicht daran denken, wo es jetzt war. Glücklicherweise war es bis zur Küste nur noch ein kurzer Fußmarsch gewesen, und so hatte sie Akko, dessen Lager nach dem Sturm noch mehr als vorher einem chaotischen Ameisenhaufen glich, kurz nach Sonnenaufgang erreicht. Da sie ihren Beutel, Bogen und Köcher vom Sattel genommen hatte, bevor das Pferd durchgegangen war, hatte sie jetzt immerhin einige Münzen zur Verfügung, um sich ein wenig Brot und Wasser zu kaufen. Sie war überrascht von der Vielfalt der angebotenen Waren, hatte sie doch nicht damit gerechnet, im Feldlager vor Akko einen regelrechten Markt mit allen Dingen des täglichen Bedarfs vorzufi finden. Es gab Stände mit Nahrungsmitteln aller Art, in ihrer Auswahl vielleicht nicht so reichhaltig, wie sie es aus Jerusalem gewohnt war, aber dennoch vielfältig genug, um die Scharen von Kämpfern zu ernähren – so diese denn in der Lage waren, die geforderten Wucherpreise zu bezahlen. Daneben boten Schmiede ihre Dienste und Waren an, doch mussten sie meist nur zerbrochene oder sonstwie beschädigte Waffen und Helme wieder gebrauchsfähig machen. Auch Stoffe wurden feilgeboten, Brennmaterialien und sogar Teppiche, um die kargen Zelte damit auszulegen. Sogar einige muslimische Händler hatten sich unter die Christen gemischt, was angesichts der Ursache, die sie alle hier vor Akko zusammengeführt hatte, schon fast etwas Makaberes hatte. Dann entdeckte Marjam eine Altkleiderhändlerin, die lautstark ihre Waren anpries, und auf einmal brannten die von Victor gerissenen Löcher in ihrem blauen Mantel wie Feuer auf ihrer Haut. Sie durchsuchte das Warenangebot der Händlerin und fand einen etwas abgetragenen, aber dafür unversehrten Mantel in einem matten Grün. Die passende Farbe für meine Zwecke, dachte sie und verhandelte mit der Händlerin über den Preis. Der war gar nicht so hoch in Anbetracht der Tatsache, dass sie ihr ihren blauen, goldbestickten Mantel überließ. So, wie sie nie wieder nach Casal Moulins 177
zurückkehren konnte, hatte auch das Geschenk Abos seinen Wert für sie verloren – ihr bisheriges Leben war letzte Nacht ebenso zerfetzt worden wie ihr wunderbarer Mantel. Sie wanderte weiter durch die dichten Reihen an Kreuzfahrern, immer auf der Hut vor Entdeckung, und erkundete die Lage. *** Fast gleichzeitig kam auch Victor ins Lager geritten. Vor seiner Ankunft hatte er den auffälligen Templerhabit vorsichtshalber wieder in seinem Bündel verborgen – auch wenn es ihm schwerfiel. fi Da er kein Geld hatte und im Lager selbst der kleinste Kanten Brot etwas kostete – Mildtätigkeit war schließlich etwas für Mönche –, verkaufte er als Erstes sein Pferd, das gar nicht das seine war, sondern dem Orden gehörte. Doch das war jetzt wahrlich auch egal, selbst wenn die Liste seiner Sünden dadurch noch um einen Posten länger wurde. Während er noch überlegte, was er tun und wo er nach Marjam suchen sollte, bemerkte er nicht, dass Jonas ihn aus einiger Entfernung entdeckt hatte. An seine Verfolger hatte er gar nicht mehr gedacht, so sehr waren seine Gedanken mit Marjam und dem, was er ihr angetan hatte, beschäftigt. Allerdings war Jonas allein – wären Said oder Adam bei ihm gewesen, wäre es ihm sicher ein Leichtes gewesen, Victor wieder in Gewahrsam zu nehmen und bei den Templern abzuliefern. Victor zuckte erschrocken zusammen, als er plötzlich Jonas’ schneidende Stimme hinter sich vernahm, der sich nach Marjams Verbleib erkundigte. „Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, ich suche selbst nach ihr!“, antwortete Victor ausweichend auf Jonas’ Frage. „Sie ist mir davongelaufen!“ „Davongelaufen? Etwa nachdem Ihr Euch an Ihr vergangen habt?“, fragte der mit hochgezogenen Augenbrauen zurück. Victor war so überrumpelt, dass ihm zunächst keine Antwort einfiel. Woher nur konnte der Medicus das wissen? Oder hatte er einfach nur geraten? Als Jonas ihn jetzt hart am Arm packte, seinen Dolch auf den Templer richtete und ihn mit sich ziehen wollte, reagierte er instinktiv. Er schlug Jonas’ Arm ohne Rücksicht auf die auf ihn gerichtete Waffe weg, nahm die dabei entstehenden Schnittwunden nicht einmal wahr und stieß seinen Gegner heftig zu Boden. 178
Dieser rief zwar sofort um Verstärkung – „Haltet den Mann fest, er ist ein gesuchter Mörder!“, doch bevor irgendjemand reagieren konnte oder wollte, war Victor in der Menge verschwunden. *** Inzwischen hatte sich herumgesprochen, dass der Mann aus Tyrus der berühmte Medicus Jonas Thorgilsson war, und so fanden sich immer wieder Verletzte oder Kranke ein, die ihn aufsuchten, um ihn um Hilfe zu bitten. Auch jetzt, als Jonas verärgert über seine missglückte Begegnung mit Victor zurück zu seinem Zelt kam, warteten dort bereits Boten vom Feldspital des englischen Bruders William, der im Namen des Ordens vom Heiligen Thomas Becket Opfer der Belagerung von Akko versorgte. Ein englischer Kreuzfahrer hatte bei einem Scharmützel wenige Tage zuvor einen Pfeil so unglücklich in die Schulter bekommen, dass die Helfer des Spitals sich nicht an die Verletzung heranwagten. Obwohl er lieber über seine Begegnung mit dem Templer beratschlagt hätte, konnte Jonas nicht ablehnen, und so folgte er den Boten zusammen mit Margret und Said, die ihm assistieren sollten, zum Feldspital. Als sie das Zelt betraten und Margret einen ersten Blick auf den Verletzten werfen konnte, schrie sie erschrocken auf und klammerte sich an Jonas’ Arm fest. „Was ist denn?“, fragte dieser überrascht. „Was hast du?“ Margret war schreckensbleich geworden. „Henry!“, flüsterte fl sie. „Dieser Kreuzritter ist Henry, mein Jugendfreund, mit dem ich zusammen unterrichtet wurde! Und er sieht genauso schrecklich aus wie in meiner Vision!“ Sie musste sich zwingen, ihre Fassung wiederzugewinnen, denn angesichts der Schwere der Verletzung war Eile geboten. Henrys Schulter sah fürchterlich aus, hatte sie sich doch in den letzten Tagen heftig entzündet, und er lag in tiefer Ohnmacht, so dass er nicht einmal erkannte, wer sich um ihn kümmerte. Bruder William erklärte, dass man diese Entzündung bewusst in Kauf genommen habe, in der Hoffnung, den Pfeil dann leichter herausziehen zu können. „Ich kenne diese Theorie, dass angeblich das Wundgewebe um einen Pfeil herum durch den Eiter weicher wird und man ihn dann 179
leichter entfernen kann“, gab Jonas finster fi zurück, „doch leider stirbt der Patient oftmals vorher. Bruder William, ich rate Euch eindringlich davon ab, dies in Zukunft wieder zu versuchen. Ein Pfeil muss sobald als möglich entfernt werden, sonst sieht es schlecht aus für den Getroffenen.“ Jonas versuchte, zu retten, was noch zu retten war, doch der Pfeil war mit Widerhaken versehen, und einer davon hatte sich unter Henrys Schlüsselbein verhakt. Mit Saids und Margrets tatkräftiger Hilfe wagte Jonas eine Notoperation, die zwar den Pfeil endlich herausbeförderte, den Verletzten aber dem Tod noch ein Stück näherbrachte. „Diese seltsamen Theorien verbreiten sich immer weiter, dabei sind sie gefährlich!“, ärgerte sich Jonas. „Sobald sich eine Wunde so entzündet wie diese hier, vergiftet sie den Patienten von innen heraus. Wir können nichts weiter für den Mann tun. Alles Weitere liegt an ihm selbst. Und daran, wie er sich mit Gott einig wird“, fügte er hinzu. „Glaubst Du, dass Henry es schafft?“, wollte Margret wissen, während Said die Instrumente reinigte und zurück in ihren Kasten legte. Jonas schwieg lange Zeit, bevor er kaum hörbar sagte: „Nein, das glaube ich nicht.“ Stumm nahm Margret Abschied von dem Mann, der vor vielen Jahren der Gefährte ihrer Schulzeit gewesen war. Jonas wartete draußen mit Said auf sie, und gemeinsam gingen sie zurück zu ihrem Zelt. Dort setzten sie sich zu den anderen ans Lagerfeuer, es war inzwischen Abend geworden. Viel später kam einer der Boten des Spitals und sprach leise mit Jonas. Wieder schwieg Jonas lange. „Henry hat es nicht geschafft“, sagte er schließlich. Müde stützte er seinen Kopf in die Hände, und Margret wusste, dass er innerlich genauso um ihn weinte wie sie selbst – so wie um jeden, den er nicht retten konnte. Sie rückte näher zu ihm heran und legte den Kopf auf seine Schulter. Ohne aufzusehen, umarmte Jonas sie und zog sie weiter zu sich. Die Welt um sie herum schien nach und nach an Realität und Bedeutung zu verlieren, bis sie schließlich ganz verschwand. Der Lärm des Heerlagers wurde unvernehmbar für die beiden, denn nicht mehr Akko war im Moment wichtig oder das Heilige Land, 180
sondern nur ihre beiden trauernden Seelen, so nahe beieinander als wären sie eine. Lange Zeit saßen sie so, ohne zu sprechen. Dann stand Jonas plötzlich auf und ging in die Nacht. Margret aber war so erschöpft, dass sie sich im Zelt auf ihrer Matte einrollte und ohne überhaupt zu versuchen, einen klaren Gedanken zu fassen, einschlief. Selbst für ihre Dämonen war sie heute zu müde. *** Jonas war in einer seltsamen Stimmung, als er sich auf den Weg zum Lager des englischen Königs Richard Löwenherz machte. Zum einen war er durch die Anstrengungen, Henrys Leben zu retten, fürchterlich erschöpft, andererseits von einer ungeheuren Wut auf die Kriegsherren erfüllt, die es immer wieder ungerührt zuließen, dass Menschen der eigenen wie der gegnerischen Seite so sinnlos zu Tode kamen. Er hatte nicht einmal daran gedacht, Buraq mitzunehmen, um sich den Weg zu erleichtern – genau genommen war er jetzt sowieso lieber zu Fuß unterwegs, denn so konnte er nebenher die Stimmung im Feldlager in sich aufnehmen und sich genau zurechtlegen, was er dem König sagen wollte. Ihm war klar, dass ein einfacher Medicus dem englischen König nicht so ohne Weiteres seine Meinung sagen und ihn zum Umdenken auffordern konnte, doch Henrys tragischer Tod heute Abend war einer zu viel gewesen – zumindest für ihn. Schließlich kam er bei dem prachtvollen Zelt des Königs an und wurde sofort von den Wächtern aufgehalten, die ihm versicherten, dass der König bereits schlafe und nicht gestört werden dürfe. Da Jonas aus dem Inneren des Zeltes jedoch aufgeregte Stimmen hörte, ließ er nicht locker. „Ich glaube kaum, dass der König bei diesen Wortgefechten gut schlafen wird. Da stört ihn ein Unterhändler mehr sicher auch nicht weiter.“ Unter den Planen des Zeltes hervor war jetzt eine salbadernde Stimme zu vernehmen. „Was für ein Unterhändler wollt Ihr denn sein? Ihr tragt arabische Kleidung, sprecht aber wie ein halbwegs gebildeter Franke – darf ich erfahren, wer Ihr seid?“ Der Medicus drehte sich zum Ursprung der Stimme um und erblickte den demütig wirkenden Roger von Howden, der offenbar 181
tatsächlich, wie Margret vermutet hatte, zum engsten Kreis um den König gehörte und derzeit demnach den Türhüter spielte. Zugleich nahm er einen füchsischen Ausdruck in den Augen des Klerikers wahr. Er verbeugte sich, wenn auch nicht sonderlich ehrerbietig, vor dem Geistlichen. „Mein Name ist Jonas Thorgilsson. Ich bin seit vielen Jahren Medicus in Tyrus, wo ich ein großes Spital betreibe. Möglicherweise habt Ihr schon einmal von mir gehört?“, fragte er bewusst hochmütig. „Nicht, dass ich mich daran erinnern könnte, Meister Thor ... Meister Medicus. Was habt Ihr denn so dringendes auf dem Herzen, dass ihr den König mitten in der Nacht in seinem Schlaf stören wollt?“ „Doch eher in seiner Unterredung!“, korrigierte Jonas, denn Richards volltönende Stimme war jetzt noch deutlicher als zuvor bis nach draußen zu vernehmen. „Ich werde mein Anliegen nur dem König selbst vortragen, denn ich habe nicht vor, alles zweimal zu erzählen. Ich gehe doch wohl zu Recht davon aus, dass Ihr unter seinen Beratern anwesend sein werdet? Oder habt Ihr heute nur Türdienst?“, konterte Jonas frecher, als er vorgehabt hatte. Roger von Howden jedoch gab sich geschlagen und verschwand mit einem skeptischen Blick auf den Fremden nach drinnen zum König. „Ich werde sehen, was ich tun kann“, murmelte er kaum hörbar dabei. Kurz darauf erschien er wieder und hielt den Vorhang beiseite, der das Innere von Richards Zelt begrenzte. Der König saß betont lässig auf einem mit kostbaren Stoffen drapierten Scherenstuhl und sah den Ankömmling herausfordernd an. Um ihn herum standen seine Berater – außer dem König hatte keiner der Herren eine Sitzgelegenheit zur Verfügung. „Was führt Euch zu mir, werter Meister Medicus?“, fragte Richard nun jovial und mit einem deutlich spöttischen Unterton in der Stimme, der Jonas noch stärker verärgerte. „Und bitte verratet mir doch, mit wem genau ich es zu tun habe.“ „Mein Name ist Jonas Thorgilsson, ich praktiziere seit vielen Jahren hier im Heiligen Land.“ „Oh ja, ich habe schon von Euch gehört – Ihr habt einen sehr guten Ruf als Arzt!“, sagte Richard nun etwas beeindruckter. „Ich komme direkt vom Totenbett eines Eurer Soldaten, edler König“, fuhr Jonas fort und verbeugte sich vor diesem nur wenig weiter als vor dessen Schreiber. „Der Mann starb qualvoll an einem 182
böse entzündeten Pfeilschuss, den er sich vor einigen Tagen bei einem Scharmützel zugezogen hatte.“ Der König hob eine Augenbraue und sah Jonas direkt in die Augen. „Und warum sollte mich das interessieren, Herr Medicus?“, gab Richard gereizt zurück. „Nun, ich dachte, ein Landesherr interessiert sich dafür, wenn seine Untertanen in seinen Diensten leiden und ihr Leben hingeben – sollte ich mich in diesem Punkt allerdings getäuscht haben, bitte ich natürlich um Eure Vergebung.“ Richard sah Jonas lange an, bevor er antwortete, seinen bohrenden Blick behielt er bei. „Sicher betrifft mich das Schicksal meiner Leute – aber nicht mehr und nicht weniger als das meinige. Wir alle haben dasselbe Anliegen, hier vor Akko, egal ob hochgestellt oder niedrig“, er blickte Jonas kopfschüttelnd an. „Warum also sollte mich da ein Soldat mehr oder weniger erschüttern? Wenn ich morgen fallen sollte, kommen andere nach mir und nehmen den Kampf gegen die Ungläubigen wieder auf. Und jeder, der mir hier als Soldat dient, wird gut dafür bezahlt. Niemand ist hier gegen seinen Willen, also warum die Aufregung?“ „Es mag sein, dass hier niemand gegen seinen Willen ist“, hielt Jonas dagegen, „aber viele der Männer wussten nicht, worauf sie sich einließen, als sie Eurem Beispiel folgten und das Kreuz nahmen.“ „Das ist weiß Gott nicht mein Problem, wenn das Leben sich als komplizierter herausstellt, als es sich manch kleiner Junge in England oder Frankreich erträumt!“, polterte der König, nun deutlich erregter. „Wir haben eine Aufgabe, die wir von Gott erhalten haben und die wir versuchen, mit allen Mitteln zu erfüllen. Wollt Ihr etwa daran zweifeln, Medicus?“ „Warum aber könnt Ihr dann nicht Mitleid haben mit denen, die hier für Euch und Euer ‚Anliegen‘ sterben?“ Auch Jonas redete sich immer mehr in seinen Unmut hinein. „Wie viele Männer müssen noch ihr Leben lassen, bevor Ihr bestimmt, dass es genug ist? Ist euch das Leben eines Menschen denn überhaupt nichts wert, selbst wenn es ‚nur‘ einer Eurer Bogenschützen ist?“ Nun mischte sich Roger von Howden ein. „Wie könnt Ihr so mit dem König reden, Medicus?“, fragte er entsetzt. „Er allein ist das Maß aller Dinge, und er allein entscheidet über unser aller Schicksal – auch sehr bald über Eures, wenn Ihr Eure Zunge nicht besser hütet!“ 183
„Der König ist das Maß aller Dinge?“, fragte Jonas erbost zurück, und Richard wäre fast von seinem Stuhl aufgesprungen. Die Umstehenden hörten in atemloser Spannung zu und erwarteten gebannt die Reaktion des Königs. Doch bevor dieser etwas erwidern konnte, setzte Jonas resigniert nach. „Nein, edler König, der Mensch ist dieses Maß – jeder einzelne Mensch auf Gottes Erdboden, egal, ob er König oder Bogenschütze ist. Edler Richard, ich wollte Euch nicht zu nahe treten, nur inständig darum bitten, das sinnlose Sterben und Morden möglichst schnell zu beenden – Eure Untertanen und alle Menschen im Heiligen Land werden es Euch danken.“ Wie zur Untermauerung seiner Worte war Jonas vor dem König niedergekniet, erschöpft und verzweifelt blickte er zu Löwenherz auf. Richard sah ihn lange nachdenklich an und sagte dann: „Erhebt Euch, Herr Medicus. Ihr seid nicht der, den ich vor mir auf Knien zu sehen wünsche, sondern Saladin ist es. Ich kann durchaus verstehen, dass Ihr als Arzt andere Maßstäbe an das Leben anlegt, als ich es als König tun kann. Ich darf keinesfalls zu weich sein, wenn ich meine Ziele erreichen will – sonst wäre ich ein schlechter König. Ihr dagegen seid ein hoffnungsloser Träumer, Medicus. Der Glaubenskampf wird nicht dadurch beendet, dass Ihr es wollt!“ „Nein, sicher nicht. Aber dadurch, dass wir alle vernünftig miteinander reden – redet auch mit Saladin und sucht einen Ausweg!“ „Das habe ich versucht, ich habe ihm schon ein Treffen vorgeschlagen, kurz nachdem ich hier angekommen war – er hat es abgelehnt!“ „Ja, ich weiß, und das aus einem bestimmten Grund – Ihr habt einem Waffenstillstand widersprochen, der Bedingung Saladins für dieses Treffen gewesen wäre.“ Jonas blickte Löwenherz müde an. „Doch versucht es noch einmal – Edler König, ich biete mich Euch als Vermittler an, denn ich kenne Saladin seit Langem persönlich. Ich durfte einmal einem seiner Söhne das Leben retten, und seitdem ist mir der Sultan gewogen. Lasst es mich versuchen, bitte. Was habt Ihr zu verlieren bei einem weiteren Verhandlungsversuch?“ „Nichts, das ist wahr. Aber warum sollen wir den ungerechtfertigten Ansprüchen der Sarazenen ohne Gegenwehr nachgeben? Sagt mir das, Herr Medicus!“ 184
„Die Ansprüche der Muslime auf dieses Land sind nicht ungerechtfertigter als unsere eigenen!“, entgegnete Jonas heftiger als gewollt. „Nein, König Richard, dieses Land gehört nicht einem Volk oder einer Religion allein. Es gehört allen Menschen gleichermaßen, und wirklicher Frieden kann nur erreicht werden, wenn alle Beteiligten sich verständigen.“ Richard sah ihn mit Erstaunen an und kam für sich zu dem Schluss, dass dieser Medicus entweder tollkühn oder vollkommen verzweifelt sein musste – wahrscheinlich eine Kombination aus beidem. „Nun gut, versucht Euer Glück!“, antwortete er mit einer abweisenden Handbewegung. „Aber von meinen einmal gestellten Bedingungen weiche ich nicht ab. Die Sarazenen müssen aus Akko abziehen und die Stadt wieder an uns übergeben, ebenso wie alle seit 1187 besetzten Gebiete. Vor allem aber müssen sie uns das Wahre Kreuz zurückgeben, das sie so schamlos an sich gerissen haben, und alle christlichen Gefangenen aus ihren Kerkern freilassen.“ Er selbst glaubte keineswegs an den Erfolg einer solchen Mission, die Belagerung vor Akko würde in einer Entscheidungsschlacht enden – so, wie sich alle wichtigen politischen Krisen in einer Schlacht entschieden und nicht im Palaver friedliebender Träumer. Auch Jonas war längst nicht so naiv, zu glauben, dass Saladin die vom König gestellten Bedingungen annehmen würde – und doch würde er sich nach Kräften bemühen, den Konflikt fl einer friedlichen Lösung näherzubringen und sei es nur ein winziges Stück. „Ich werde Saladin alles genau so mitteilen, wie Ihr es mir aufgetragen habt, Edler König!“, sagte Jonas förmlich und verbeugte sich knapp. Dann verließ er ohne weitere Zeit zu verlieren das königliche Zelt und das englische Lager. Doch kaum hatte er diese Lokalitäten hinter sich gelassen, überkam ihn eine so bleierne Müdigkeit, dass er glaubte, keinen Schritt mehr weitergehen, geschweige denn bis zu seinem eigenen Zelt zurücklaufen zu können. Erschöpft suchte er sich einen halbwegs geschützten Platz zwischen zwei Zelten und rollte sich zum Schlafen in seinen Mantel ein. ***
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Als Margret am nächsten Morgen aufwachte, war Jonas noch immer nicht wieder zurück und sie begann, sich zu sorgen. Kurz darauf jedoch kam er und begann ohne ein Wort, einige Gegenstände in seinen Beutel zu packen, während Margret ihn zunächst nur eine Weile beobachtete. Jonas wirkte angespannt, noch müder als am Abend zuvor, durch die Ereignisse der letzten Tage wie um Jahre gealtert, und doch glaubte sie, das bekannte, geliebte Feuer nach wie vor in seinen Augen zu entdecken. „Wo willst Du hin?“, fragte sie schließlich voll aufkeimender Unruhe. „Ins Lager Saladins. Ich habe heute Nacht mit deinem Roger von Howden und mit König Richard über einen Waffenstillstand gesprochen und mich als Vermittler angeboten. Sie haben mir erlaubt, es zu versuchen, und nun gehe ich zu Saladin, um genau das zu tun.“ Schließlich tauschte er noch seinen inzwischen nicht mehr ganz sauberen Kaftan gegen eines der Ehrengewänder, die er vor Jahren von Saladin erhalten hatte, damit ihn die Soldaten des Sultans schon von Weitem erkennen konnten. Dann fasste er Margrets Hände und sah sie wie zum Abschied an, doch dann fiel fi ihm noch etwas ein. „Du hast mir hervorragend assistiert, gestern, dafür danke ich dir. Nein, du bist wahrlich keine keusche Margarethe, du bist eine Martha, die praktisch denkt und zupackt, wenn es nötig ist. Ich bin sehr froh, dass Gott dich zu mir geführt hat – und das sage ich nicht nur aus diesem Grund, meine Perle.“ Er küsste sie auf die Wange und verließ das Zelt, vor dem Said schon mit der reisefertigen Buraq wartete, bevor auch er sich Roque auf der Suche nach Marjam anschloss. Margret blieb allein im Zelt zurück, denn sie fühlte sich sehr mitgenommen und wollte ihre Gedanken erst einmal wieder in eine halbwegs vernünftige Ordnung bringen. Die anderen waren paarweise unterwegs: Adam war zusammen mit Hamza in nördliche Richtung gegangen, während Roque und Said wie schon so oft das südliche Lager durchstreiften, als Roque auf einmal freudig aufschrie und den Freund am Arm ergriff. „Da vorne, da ist sie! Siehst du den Mantel, Said? Mit den goldenen Sternen? Da ist sie, ganz sicher!“ Freudig kämpften sich die beiden jungen Männer durch die Menschenmenge – um bitter enttäuscht zu werden: Nicht die gesuchte 186
Marjam trug den blauen Sternenmantel, sondern ein fremder Jüngling. Roque hielt den Träger auf und fragte ihn verzweifelt, woher er diesen Mantel habe. „Den habe ich für nicht wenig Geld erworben“, erwiderte dieser mürrisch, „bei einer Altkleiderhändlerin auf dem Markt – die Alte war ganz schön unverschämt wegen des bisschens Goldstickerei! Und seht Euch die Löcher an – die hat sie überhaupt nicht in Rechnung gezogen, diese Vettel! Aber was interessiert Ihr Euch überhaupt dafür, Junge? Lasst mich doch einfach in Ruhe und verschwindet!“ Roque war sich sicher, dass es nichts bringen würde, den mundfaulen Jüngling nach der Vorbesitzerin des Mantels zu fragen, denn sicher war Marjam schon nicht mehr am Stand der Kleiderhändlerin gewesen, als dieser den Mantel gekauft hatte. Aber was hatte Marjam an dessen Stelle erworben? Wonach mussten sie jetzt Ausschau halten? Er wollte den Jüngling noch danach fragen, wo bitte der Stand dieser Händlerin zu finden sei, um zumindest ihr noch einige Fragen zu stellen – doch der war schon wieder ohne Gruß in der Menge verschwunden. Traurig und entmutigt stapften die beiden Jungen weiter. *** Victor hatte sich nach seiner unverhofften Begegnung mit Jonas erst einmal ein sicheres Versteck gesucht und überlegt, was er jetzt tun sollte. Der Schnitt, den das Messer des Medicus auf seinem Arm hinterlassen hatte, war nicht besonders tief, und Victor verband ihn flüchtig mit einem Stück Leinen. Mehr als das beunruhigten ihn seine zurzeit sehr wirren Ideen. Warum wollte er Marjam überhaupt finden? Um sich bei ihr zu entschuldigen, um sie um Vergebung dafür zu bitten, dass er sich keinen Augenblick länger hatte beherrschen können? Das erschien ihm auf einmal ebenso widersinnig wie die Tatsache, dass er überhaupt nach Akko zurückgekommen war, wo ihn nicht nur Jonas und die Leute aus Ibelin verfolgten, sondern auch sein eigener – ehemaliger? – Orden. Er war sich inzwischen sicher, dass der Großmeister schon längst über alles informiert war und ihn suchen ließ. Vielleicht hatten sie auch den ermordeten Jean in der Wüste gefunden, sie hatten sie doch sicher suchen lassen, spätestens als sie keine Nach187
richt aus Tripolis erhalten hatten? Wieder aus dem Feldlager zu verschwinden, würde auch nicht so einfach sein, schließlich hatte er sein Pferd verkauft und ein neues war nicht so leicht zu bekommen – vor allem nicht für den Preis, den er jetzt noch hätte bezahlen können. Er war müde und verwirrt und so legte er sich erst einmal schlafen – nachdenken konnte er auch später noch und sicher besser als jetzt im Augenblick. Erst am nächsten Tag wagte Victor sich wieder ins Gewühle, denn er hatte Hunger und musste sich etwas zu essen kaufen. Plötzlich erspähte er nur wenig vor sich seine beiden Mordkumpane Hugo und Eirik, die keineswegs erfreut zu sein schienen, ihn hier zu sehen. „Na, hat es nicht geklappt mit der Erbschaft?“, fragte Hugo Victor höhnisch und musterte abfällig dessen Äußeres. Der Templer ging nicht darauf ein und wollte stattdessen von den beiden anderen erfahren, wie es ihnen ergangen war. Und vor allem – ob sie das Honorar schon abgeholt hätten. Hugo wand sich etwas, bevor er sagte: „Leider nein. Stellt Euch vor – unser Auftraggeber ist inzwischen verstorben! So eine Frechheit, wir hätten das Geld im Voraus verlangen sollen!“ „Wer war denn der Auftraggeber?“, wollte Victor wissen. „Nun könnt ihr es mir doch sagen, oder?“ Hugo überlegte eine Weile, ob er Victor soweit ins Vertrauen ziehen wollte oder nicht, doch Eirik nahm ihm diese Entscheidung ab. „Der Patriarch Heraclius war es! Und der ist jetzt tot und seine Untergebenen wissen von überhaupt nichts!“, platzte er heraus, sodass Hugo ihm einen heftigen Stoß in die Seite versetzte. „Idiot! Sonst bringst du das Maul nicht auf, aber wenn du’s halten sollst, verplapperst du dich!“ An Victor gewandt erklärte Hugo verärgert: „Ja, dummerweise ist Heraclius an einem plötzlichen Fieberschub verstorben, während wir in Ibelin die Drecksarbeit für ihn erledigt haben. Sieht mir doch sehr nach sofortiger himmlischer Gerechtigkeit aus!“ Allerdings, schoss es Victor durch den Kopf. Doch erklärte das nicht, warum die drei dann dieser Gerechtigkeit entgangen sein sollten – es sei denn, Gott hätte für sie noch etwas ganz Spezielles vorgesehen. Hugo maulte weiter. „Und diese dreckigen Pfaffen, die im Dienst des Hurensohnes standen, wissen natürlich von nichts – oder wollen zumindest von nichts wissen.“ 188
„Vielleicht stimmt das sogar – ich kann mir nicht vorstellen, dass Heraclius seine privaten Rachepläne in seinem ganzen Stab herumerzählt hat. Warum sonst hätte er euch damals höchstpersönlich und nur unter sechs Augen damit beauftragt?“ Victor überlegte. „Vor Gericht werden wir das Geld wohl auch nicht einklagen können.“ „Ist doch jetzt auch egal, die Bezahlung können wir abschreiben. Hattet Ihr in Ibelin mehr Erfolg?“, fragte Hugo. „Nein, dazu kam es nicht mehr. Da war ein fränkischer Medicus, der die Leiche des Alten untersucht und mich schließlich sogar beschuldigt hat, etwas mit dem Mord zu tun zu haben!“, berichtete Victor. „Und das Schlimmste ist: Er ist mit seinen Leuten hier in Akko, denn sie sind uns gefolgt. Gestern hätte er mich fast erwischt“, ergänzte er, verschwieg aber vorsichtshalber die Sache mit dem sichergestellten Streitkolben. „Uns?“, hakte Hugo sofort ein. „Also hattet Ihr einen Begleiter auf dem Weg hierher? Oder gar eine Begleiterin?“ Eirik schüttete sich ob dieser Bemerkung aus vor Lachen, Victor ging nicht darauf ein. Nein, seine Begegnung mit Marjam und deren Ausgang würde er diesen beiden Lumpen ganz bestimmt nicht erzählen. „Habt ihr nicht verstanden? Dieser Medicus ist uns auf der Spur – er weiß, dass es drei Männer sind, die er sucht, und er vermutet sie hier in Akko.“ „Hmm.“ Hugo legte den Kopf schief und überlegte. „Klingt als müssten wir mal wieder jemanden zum Schweigen bringen, bevor der Kerl herausfi findet, mit wem Ihr Euch so trefft. Ein Medicus? Kein Wunder, dass der aus den Wunden des Alten die richtigen Schlüsse gezogen hat. Davon hatte Heraclius nichts erwähnt, so ein Mist.“ Da Victor nicht auf seinen Vorschlag einging, setzte Hugo nach. „Der Kerl ist eine ernste Gefahr für uns, er muss einfach weg. Wer garantiert uns denn, dass Ihr, wenn Ihr gefasst werdet, nicht doch ausplaudert, wer mit Euch in Ibelin war? Die Templer sollen ganz gute Verhörmethoden haben, von den Schergen des englischen Königs ganz zu schweigen. Nein, zeigt uns, wo wir den Kerl finden, und wir erledigen das für Euch – schließlich haben wir ja auch was davon.“ „Ja, lasst uns ihn abstechen, kaltmachen ...“, warf Eirik begeistert ein. „Ist schon gut, Eirik, du darfst ihn ja abstechen“, beruhigte ihn Hugo, dann sah er Victor auffordernd an. „Aber erst müssen wir 189
ihn finden. Also was ist, Herr Ritter? Worauf wartet Ihr? Oder habt Ihr inzwischen Skrupel bekommen?“ „Nein, das habe ich nicht!“, sagte Victor, obwohl es eigentlich nicht stimmte. Seit der Sache mit Marjam hatte sich vieles verändert, und er war sich weniger denn je sicher in dem, was er tat oder sein ließ. Trotzdem führte er die beiden anderen zum Zelt des berühmten Medicus, das nach nur wenigen Nachfragen leicht zu finden fi war. Doch Jonas war nicht da, nur seine Gefährtin war noch im Zelt und lag auf einem der Lager. Sie schrak auf, als die drei Männer hereinplatzten und nach Jonas fragten, doch dann erkannte sie Victor, obwohl er seine Tunika abgelegt hatte, und bestürmte ihn sofort ihrerseits mit Fragen. „Wo ist Marjam? Was habt Ihr mit Ihr gemacht, Ihr falscher Ritter? Sie muss auch in Akko sein, also sprecht – habt Ihr sie gesehen?“ Bevor Victor antwortete konnte, hakte Eirik sich eifrig ein. „Marjam? MARJAM! Oh, Herr Ritter, habt Ihr uns da ein amouröses Abenteuer verschwiegen? Erzählt, erzählt, wir wollen alles genau wissen!“ „Halt die Klappe, Eirik!“, blaffte Hugo ihn an und fragte dann in gemäßigterem Ton. „Und wer ist diese werte Dame, Herr Ritter? Sie scheint Euch zu kennen, aber nicht sonderlich zu schätzen, wenn ich das richtig verstehe!“ Victor sah noch immer die wütende Margret an, die mit geballten Fäusten vor ihm stand, so als wollte sie im nächsten Moment auf ihn einprügeln. „Sie ist die Gefährtin des Medicus, soweit ich weiß!“ „Seine Gefährtin? Auch gut, dann nehmen wir eben sie als Geisel, dann kommt der feine Herr Medicus von selbst, wenn er sie wiederhaben will!“, sagte Hugo pragmatisch. Er machte einen Schritt auf Margret zu und packte sie grob am Arm, um sie mit sich zu ziehen, doch Margret hatte nicht die Absicht, ihnen so einfach zu folgen. Also wollte Hugo mit seinem Dolch nachhelfen, den er drohend auf Margret richtete, und Eirik folgte seinem Beispiel. „Kommt besser schön ruhig mit, sonst müssen wir Euch leider wehtun!“, sagte Hugo. „Und das wollt Ihr doch sicher nicht, oder?“ Margret versuchte trotzdem, sich aus seinem harten Griff zu befreien und rief um Hilfe. Zwar war aus ihrem Lager sonst niemand 190
anwesend, aber vielleicht würde ihr ja jemand aus einem der nahe gelegenen Zelte zu Hilfe kommen? Doch bevor jemand ihr Rufen beantworten konnte, schlug Hugo sie nieder, wobei er sie mit dem Messer, das er noch immer in der Rechten hielt, an der Stirn verletzte. Mit Eiriks Hilfe fesselte und knebelte er sie und wickelte sie in ihren Pilgermantel, den sie mit einer Schnur wie ein Paket verschnürten. Victor sah nur stumm zu, unternahm aber auch nichts dazu, Margret zu helfen. Niemand störte sie dabei, als die drei Männer ihre Geisel wie einen Sack Getreide aus dem Zelt des Medicus durch das halbe Lager bis hin zum Versteck Victors wegschleppten.
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VIII
Zwei Fürsten
In fl flottem Trab näherte sich Jonas dem Lager Saladins, das südöstlich des christlichen Lagers halbkreisförmig um die Stadt Akko gezogen war, wobei der Fluss Belus die südlichste Grenze bildete. Person und Ankunft des Vermittlers waren im muslimischen Lager durch Boten angekündigt worden, so dass die Posten und Soldaten, an denen Jonas vorbeiritt, ihn ehrenvoll begrüßten. Das Lager selbst war riesig, voll verzierter, kegelförmiger Zelte und einer Unzahl flatternder Fahnen, von denen die gelben Banner des Sultans die Mehrzahl ausmachten. Es herrschte reger Betrieb, denn selbst wenn die Kämpfe gerade ausgesetzt waren, so waren doch ständige Reparatur- und Versorgungsarbeiten nötig. Im Gegensatz zum christlichen Lager verfügte das muslimische über zahlreiche provisorisch angelegte Badehäuser, damit die Offiziere fi und Soldaten Saladins nicht auf das ihnen gewohnte Mindestmaß an Reinlichkeit verzichten mussten. Dass die christlichen Kämpfer ohne solche hygienische Grundversorgung auskamen, ließ sie in den Augen der Sarazenen nur noch barbarischer erscheinen. Das Zelt des Sultans befand sich in der Mitte des Halbkreises, ein Platz der mit seiner scheinbar leichten Zugänglichkeit Gegner zu außerplanmäßigen Beutezügen verleiten sollte. Erst direkt vor diesem Zelt zügelte Jonas Buraq und stieg ab, wobei er es nicht versäumte, der Stute zum Dank den Hals zu tätscheln. Ein Diener nahm das Tier mit bewunderndem Blick in seine Obhut, denn nicht nur der Tabib Jonas Thorgilsson, auch seine ihm von Saladin verehrte Stute waren weithin berühmt. Jonas hielt sich nicht weiter auf und betrat nach kurzer Ankündigung durch einen Diener das Zelt Saladins. Dieser saß, angetan mit schlichten Gewändern, im Schneidersitz auf einem dicken Stapel Sitzkissen und bedeutete Jonas mit einer würdevollen Geste, es ihm gleichzutun. Jonas begrüßte den Sultan und setzte sich ebenfalls mit untergeschlagenen Beinen auf einen Kissenstapel neben ihm hin. 192
Auf einem niedrigen runden Tisch standen Wein und Obst für den Gast bereit und daneben auf einem speziellen Gestell ein Schachbrett mit kostbar geschnitzten Figuren aus Bergkristall und schwarzem Onyx – den ersten Zug hatte Saladin bereits getan, bevor der Medicus eingetreten war. Jonas lächelte, als er diese Anordnung sah, wusste er doch genau, was Saladin wollte – eine Revanche für ihre letzte Schachpartie. Doch zunächst bot der Sultan dem Freund etwas Wein und einige Trauben an, während er sich selbst nur Wasser einschenkte – ihm war als strenggläubigem Muslim Alkohol verboten, auch wenn er erst im Alter von 30 Jahren soweit bekehrt worden war, diesem Genuss zu entsagen. „Ich hätte Euch gerne etwas Gehaltvolleres angeboten, werter Tabib, aber seit einiger Zeit kann ich nur träumen von den Wohltaten der damaszenischen Küche“, meinte er dann mit betrübter Miene. Doch als Jonas, dem schon beim Betreten des Zeltes aufgefallen war, dass der Sultan nicht bei bester Gesundheit zu sein schien, ihn näher nach seinen Beschwerden befragen wollte, winkte Saladin ab. „Wie bemerkte Abu Tammân doch so treffend?“, meinte er nur, „Du, klage vor den Leuten nicht! Du wirst damit sie laben, als klagte ein verwundet Reh den Geiern und den Raben“ „Oho, ich hoffe doch sehr, ich erinnere Euch nicht an einen Geier!“, erwiderte Jonas amüsiert. „Dann doch lieber an einen Raben; diese klugen Vögel werden auch in meiner nordischen Heimat hoch geschätzt – sie begleiten dort Odin, einen unserer höchsten Götter, als Symbole des Denkens und der Erinnerung!“ Ernster fuhr er fort. „Aber da Ihr gerade Abu Tammân zitiert – ich danke Euch sehr, dass Ihr bei unserem letzten Treffen so freundlich wart, mir dessen Schriften ans Herz zu legen. Ich habe inzwischen einen Teil seiner Gedichte gelesen und fand sie sehr anregend und vor allem aufschlussreich was Eure Kultur angeht – schließlich versuche ich jede Möglichkeit zu nutzen, sie besser kennenzulernen.“ „Da seid Ihr aber nur einer von 1000 Franken – die anderen 999 kommen hierher und glauben vielmehr, uns etwas beibringen zu können!“, knurrte Saladin. „Ja, ich weiß“, bedauerte Jonas und schob sich genüsslich eine Weintraube in den Mund, „meine Glaubensbrüder sind mehr dem 193
Waffenhandwerk verfallen denn der schönen Literatur – eine Tatsache, die ich selbst ebenso bedauere wie Ihr.“ „Das ist ja auch kein Wunder bei Menschen, die vorgeben, an einen Gott zu glauben und zur gleichen Zeit drei Wesen anbeten, ohne es überhaupt zu merken!“, spottete Saladin. Jonas schmunzelte, war der Herrscher doch sehr schnell bei seinem liebsten Diskussionsthema, der Religion, angekommen. Doch anstatt ihm sofort zu antworten, machte Jonas auf dem Schachbrett seinen ersten Zug mit den schwarzen Steinen. Der Sultan schielte jedoch nur kurz auf den neuen Stand der Figuren, ließ aber keine Reaktion erkennen. „Wisst Ihr“, sagte Jonas nun, „im Prinzip ist die ganze Diskussion über die Verehrung von einem oder mehreren Göttern nur ein Missverständnis – oder sagen wir besser, eine Frage der Definition. fi Was ihr Muslime als drei unterschiedliche Gottheiten versteht, gilt unter den Christen als drei Facetten ein und desselben Gottes, als Heilige Dreifaltigkeit. Doch wie Ihr wisst, herrscht auch bei uns in diesem Punkt keine Einstimmigkeit – seit mindestens 1000 Jahren reden sich zu diesem Thema Gelehrte und weniger Gelehrte die Köpfe heiß!“ „Ja, der ewige Streit, ob der Prophet Jesus nun der Sohn Gottes gewesen sein kann und ob er trotzdem oder gerade deshalb Mensch gewesen ist“, winkte Saladin ab. „Diese Frage ist für uns Muslime jedoch unerheblich, denn wir glauben einzig und allein an das, was im Koran steht. Was dort nicht steht, hat auch nicht stattgefunden, denn sonst würde man ja den Propheten Mohammed der Lüge beschuldigen!“ Jonas sah seine Gelegenheit gekommen. „Und genau deshalb bestreitet Ihr auch die Kreuzigung Christi – aber die Reliquie des Kreuzes, an dem er angeblich starb, habt Ihr doch an Euch genommen, damals bei Hattin!“ „Ich habe das Kreuz vor allem deshalb in meinen Besitz gebracht, weil ihr Christen geradezu fanatisch danach seid“, er lächelte verschmitzt. „Vielleicht bringt es mir ja ein gutes Lösegeld?“ Statt zu antworten, angelte Jonas sich eine Dattel von der Platte und sah Saladin genau zu, als der jetzt den nächsten Schachzug unternahm. „Die einzige Möglichkeit für euch Christen, eurem Irrglauben zu entfl fliehen, ist die Konversion zum Islam.“ Saladin blickte ihn an. 194
„Ich weiß, ich habe Euch schon mehrfach danach gefragt, aber – seid Ihr diesbezüglich inzwischen einer Entscheidung nähergekommen?“ „Nun“, antwortete Jonas bedächtig, „ich halte es in dieser Hinsicht eher mit Abu l’Ala, der gesagt hat, ob ein Mann nun Christ oder Muslim sei, hinge allein vom Zufall ab – etwa davon in welche Familie er hineingeboren wird. Nein, ich bin ganz zufrieden in der Mitte zwischen den beiden Welten und Religionen, denn ich kann Euch versichern, dass ich mich keinesfalls als Christ im Sinne der fanatischen Kreuzfahrer verstehe – dazu trage ich zu viel nordisches Erbteil in mir!“ Als Saladin nicht darauf antwortete, machte Jonas seinerseits einen Zug auf dem Schachbrett und ergänzte bedauernd: „Wisst Ihr, ich habe so viele Grausamkeiten auf beiden Seiten gesehen – nicht nur bei meiner Arbeit als Tabib –, dass ich mich keiner Seite mehr wirklich zugehörig fühlen kann.“ Saladin antwortete immer noch nicht, nickte aber als deutliches Zeichen der Zustimmung. Er betrachtete nun das Gewand des Medicus, das er ihm vor einigen Jahren geschenkt hatte, genauer. „Euer Gewand hat etwas gelitten, seit wir uns das letzte Mal getroffen haben – Ihr braucht dringend ein neues!“ Sofort klatschte er in die Hände, worauf ein Diener mit einem ganzen Arm voller eigens vorbereiteter Ehrengewänder erschien und sie Jonas präsentierte. Dieser wählte eines aus und dankte dem Diener, der nun ratlos vor ihm stand, war er von Franken doch weniger Bescheidenheit gewohnt. Jonas aber wandte sich an Saladin. „Werter Sultan, Eure Freigebigkeit kennt keine Grenzen unter der Sonne, denn sie ist Eure ureigenste Natur. Sie jedoch auszunutzen, wäre unhöflich fl und vor allem ehrlos. Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit und zitiere einmal mehr aus Abu Tammân: ‚Mit meiner Hand berührt’ ich seine, als ich um Gabe bat; Dass seiner Hände Großmut ansteckt, wusst’ ich nicht in der Tat. Wenn andre Gut von ihm erlangten, erlangt’ ich dies allein, Dass, von ihm angesteckt, ich selber verschwende nun, was mein.‘“ 195
Der Sultan nickte voller Wohlwollen und Zufriedenheit, der Diener verschwand, und Saladin machte einen weiteren Schachzug. „Wisst Ihr“, sagte Jonas nun nachdenklich, „Edler Sultan, dass die von Euch so großzügig praktizierte Sitte, Eure Gastfreunde mit Ehrengewändern zu beschenken, auch in meiner Heimat bekannt ist, wie Ihr folgendem Zitat entnehmen könnt: ‚Freunde sollen mit Waffen und Gewändern sich erfreun, Den schönsten, die sie besitzen: Gab’ und Gegengabe begründet Freundschaft, Wenn sonst nichts entgegensteht.‘ Denkt Ihr nicht auch, dass sich unser beider Kulturen, so weit sie auch räumlich voneinander entfernt liegen mögen, so unähnlich überhaupt nicht sein können?“ „Durchaus, durchaus“, antwortete Saladin mit einem Lächeln. „Doch sagt, wie weit genau ist Eure Heimat denn von hier entfernt? Wie lange würde es wohl dauern, dorthin zu gelangen?“ „Etwa drei bis vier Monate“, antwortete Jonas, „das hängt ab von der Jahreszeit, zu der Ihr die Reise unternehmt, im Winter dauert es länger.“ „Ja, jetzt erinnere ich mich wieder, Ihr kommt von weit her über das Meer“, sinnierte nun Saladin, „Ihr seid wie Yunus, der Jonas des Koran, ‚der heil aus dem dunklen Bauch des Fisches kam‘. Ich aber traue dem Meer nicht – und doch, ich würde es auf jeden Fall überqueren, um die Christen zu besiegen. Ich würde bis zu ihren letzten Inseln segeln und sie alle umbringen, bis es schließlich keinen einzigen Ungläubigen mehr auf Allahs Erde gäbe. Doch weiß ich nicht, ob ich noch so viel Zeit haben werde.“ „Sagt so etwas nicht voreilig, werter Yusuf, und lasst mich Euch nach Island einladen“, entgegnete Jonas, wohl wissend, dass er dem Sultan damit schmeichelte. „Es würde mich schon interessieren, das Land Eurer Väter kennenzulernen, schließlich haltet Ihr Euch schon so viele Jahre in dem meiner Vorfahren auf, und – wie habt Ihr vorhin so weise gesagt – man sollte alles über die Kultur eines Freundes in Erfahrung zu bringen versuchen, was möglich ist.“ Jonas machte einen weiteren Schachzug, jetzt hatte er seine Bauern ins Zentrum gebracht, die von den Läufern zusammen mit den 196
Springern unterstützt wurden. „Und wo ist Eure Heimat, edler Sultan und siegreicher Herrscher? In Damaskus? Oder noch immer in Ägypten?“ „Zurzeit nenne ich Damaskus meine Heimat“, sagte Saladin, auf einmal traurig. „Und obwohl es dorthin nur vier Tagesritte sind und nicht mehrere Monate Seereise, war ich schon lange nicht mehr dort und habe nur Verse wie diese als meine Erinnerung: ‚Die Abendwolken ruhen auf den Bergen sanft, und dicht von Grün bewachsen ist seiner Hügel Ranft. Du siehest aller Orten nur Quellendes das springt, und Wachsendes das blühet, nur Fliegendes, das singt. Die Glut des Sommers wendet schnell wieder wie sie kam, und wieder kehrt der Frühling sobald er Abschied nahm.‘ Wisst Ihr, Yunus, ich vermisse meine kleinen Söhne. Wie sehr habe ich es genossen, sie jeden Morgen im Koran zu unterweisen, wenn sie mich dabei fasziniert mit ihren riesigen Kinderaugen anschauten! Nein, irgendwie fühle ich mich nirgends mehr heimisch.“ Versonnen blickte er auf das Schachbrett. Er hatte die weitreichenden Türme in der Mitte der Grundlinie postiert und belagerte zusammen mit den anderen Figuren Jonas’ vorgezogene Bauern. Die Dame hatte er zum Schutz des Königs in dessen Nähe postiert. Bedächtig bewegte er die nächste Figur. Jonas hatte schon davon gehört, dass die letzten Kriegsjahre dem Sultan mehr als gewöhnlich zugesetzt hatten und er immer schneller die Nerven verlor – selbst bei seinen eigenen Untergebenen. Da fiel sein Blick auf den weißen Jagdfalken, der neben dem Sultan auf einer Vogelstange saß, und er sah eine Möglichkeit, die gedrückte Stimmung etwas aufzuheitern. „Ist dies zufällig der Falke, den der König der Franzosen seit einiger Zeit vermisst?“, fragte er mit einem schelmischen, wissenden Lächeln, denn er hatte am Fuß des Falken ein Lederband mit dem französischen Wappen entdeckt. „Nun, dann kann ich dem König ja ausrichten, dass sich sein Vogel bei Euch sehr wohlfühlt – wenn es Euch recht ist!“ 197
Saladin musste tatsächlich lachen, plötzlich hellte sich seine Miene zusätzlich auf. „Da wir gerade bei Tieren sind – wie geht es Buraq?“ „Oh, danke der Nachfrage, ausgezeichnet! Wenn Ihr mir erlaubt, sie hereinzurufen, könnt Ihr Euch selbst davon überzeugen.“ Saladin machte eine einladende Handbewegung, und Jonas stieß daraufhin einen bestimmten Pfi fiff aus, den die Stute vor dem Zelt mit freudigem Wiehern beantwortete und, den verdatterten Diener im Schlepptau, wenig später mit ihrem Erscheinen vor den beiden Männer befolgte. „Begrüße unseren Freund Saladin!“, sagte Jonas nun, und Buraq machte mit einem Vorderhuf einen eleganten Kratzfuß und warf den Kopf auf und nieder. Die beiden Männer lachten noch immer, als der verunsicherte Diener sich mühte, die Stute wieder nach draußen zu bugsieren. Nun betrachtete Jonas das Schachbrett genauer. Es schien, als würde es kein Weiterkommen im Spiel geben. Zwar war er mit seinen Figuren weit vorgedrungen, doch wurde er streng von Saladin belagert. Nach einigem Überlegen entschied er sich, einige Opfer zu bringen, und zog zunächst mit einem seiner Bauern, der sich auf dem Königsfl flügel mittlerweile neben einen Zentrumsbauern gesellt hatte, ein Feld nach vorn. Der Sultan reagierte unmittelbar und schlug kaltlächelnd zu. Jonas verzog keine Miene, sondern schob einen seiner Läufer tief in die Verteidigung des Sultans. Da dieser die Dame bedrohte, nahm der Sultan auch dieses „Geschenk“, wenn auch schon weniger siegessicher, an. Durch die entstandene Lücke strömten nun Jonas’ restliche Figuren in Richtung des weißen Königs – an dieser Bresche konnten die Türme Saladins, seine stärksten Figuren, nichts ausrichten. Jonas eroberte die Dame, dazu noch einen Springer und opferte einen weiteren Bauern, um die Verteidigung des weißen Königs aufzureißen. Noch vier Züge, und der Sultan wäre schachmatt! Sofort schien auch Saladin mit verärgertem Gesichtsausdruck genau das festzustellen, doch Jonas kannte seinen Freund gut genug, um ohne zu zögern den entscheidenden Zug zu machen. Saladin lachte laut auf. „Sehr gut, Yunus, sehr gut! Dies ist nur ein Spiel, bei dem man mich ohne Gefahr besiegen kann, doch die Belagerung Akkos ist es nicht. Womit wir beim eigentlichen Anliegen Eures Besuches wären ...“ 198
Fast wehmütig wandte Jonas nun seinen Blick von den wunderbaren Schachfi figuren und kehrte zu dem zurück, was er nur eine „traurige Zeitverschwendung“ nennen konnte, denn schließlich waren zivilisierte Männer durchaus in der Lage, ihre Tage sehr gut mit anderen Dingen zu verbringen. „Ich weiß wohl“, begann er, „dass dies nicht in Eurem Sinne ist, und ich bitte, mich nicht misszuverstehen, denn ich bin nur der Überbringer der folgenden Botschaft von Richard Löwenherz. Wie er mir letzte Nacht sagte, möchte auch er sehr wohl Frieden, stellt aber die folgenden Bedingungen an Euch und Eure Leute: Zunächst den sofortigen Abzug der Garnison aus Akko sowie die Rückgabe aller seit 1187 von den Muslimen besetzten Gebiete ...“ Saladin lachte höhnisch auf. „Der König ist nicht bei Sinnen! Vielleicht sollte ich ihm noch ein paar Hühnchen schicken, denn offenbar ist er noch immer ernsthaft erkrankt!“ Jonas beobachtete seine Reaktionen genau, bevor er auch die restlichen Forderungen des englischen Königs vorbrachte. „Des Weiteren fordert er natürlich die Freilassung aller christlichen Gefangenen, die sich in Eurer Obhut befi finden – und die Rückgabe der heiligsten Reliquie, des Wahren Kreuzes.“ Nun schüttelte Saladin betrübt den Kopf. „Wenn das so einfach wäre, werter Yunus“, seufzte er, „wenn das so einfach wäre. Euer Kreuz kann ich überhaupt nicht zurückgeben, denn es befindet fi sich nicht in meinem Besitz.“ Jonas starrte den Sultan ungläubig an. „Natürlich habe ich den Franken gegenüber immer so getan, als hätte ich es“, erläuterte Saladin bedächtig, „und sie haben ganz zwangsläufi fig gedacht, ich hätte es an mich genommen, als sie es nach der Schlacht von Hattin nicht fanden. Doch meine Truppen konnten es auf dem gesamten Schlachtfeld ebenso wenig fi finden wie die Christen. Ich weiß nicht, ob irgendein frommer Kirchenmann sich damit aus dem Staube gemacht hat – was ich mir nicht vorstellen kann, denn unsere Reihen waren so dicht, dass keine Katze ein Schlupfl floch hindurch gefunden hätte –, aber jedenfalls ist es seither verschwunden. Vielleicht hat auch Euer Gott es zu sich in seinen Himmel geholt, um es vor uns üblen Barbaren zu schützen?“, scherzte er. „Ist das wirklich wahr?“, fragte Jonas ungläubig. „Aber warum habt Ihr dann bestätigt, das Kreuz zu besitzen?“ 199
„Das liegt doch auf der Hand, mein lieber Medicus, um die Franken zu provozieren – es war eine Finte, Yunus, wie ich nun zugeben muss.“ Er schüttelte den Kopf. „Im Augenblick wünschte ich mir selbst, ich wüsste, wo diese Reliquie abgeblieben ist, denn auf sie wird Richard am allerwenigsten verzichten. Leichter lässt er die christlichen Gefangenen in unseren Kerkern verschimmeln, als seinen Anspruch auf das Wahre Kreuz aufzugeben. Yunus, ich weiß selbst nicht, was ich in diesem Falle tun soll“, gab Saladin zu. „Ich habe sogar schon daran gedacht, eine Replik anfertigen zu lassen – doch das würde nur solange gut gehen, wie die Franken diese aus der Ferne sehen. Wenn sie sie aber in Händen hielten, würden sie unweigerlich bemerken, dass das nicht das echte Kreuz ist.“ Wieder schüttelte er traurig den Kopf. „Nein, über alles andere lässt sich schon reden, aber darüber leider nicht!“ „Und die Geschichte, dass es Euch mehrfach aus dem Feuer gesprungen ist, als Ihr es verbrennen wolltet, ist demnach auch eine Legende?“ „Allerdings – Ihr haltet mich doch nicht für so töricht, etwas den Flammen auszuliefern, wofür ich im Zweifelsfall gutes Lösegeld einfordern kann?“, meinte der Sultan, wieder etwas besser gelaunt. „Nein, das ist auf jeden Fall eine Legende – aber eine, die mir gefällt! Solch eine Tat würde gut zu mir passen, meint Ihr nicht, Yunus?“ „Zumindest in den Augen der Franken, Edler Sultan!“, schmunzelte Jonas. „Wie auch immer, Ihr könnt dem König der Engländer gerne vorschlagen, eine aus Christen und Muslimen gemischte Suchmannschaft nach Hattin zu schicken und dort nach Überresten des Kreuzes zu suchen – auch wenn ich es für ausgeschlossen halte, dass sie noch etwas finden werden.“ „Aber das hat König Guy doch im letzten Jahr schon getan“, wandte Jonas ein, „drei Nächte lang hat Henri von Troyes vergeblich alles abgesucht!“ „Bei Nacht? Nun, vielleicht sollten wir es tatsächlich noch einmal bei Tag versuchen, denn dass er bei Fackelschein und Mondlicht nichts findet, wundert mich nicht!“, der Sultan lachte über seinen gelungenen Scherz und schüttelte den Kopf ob so viel Dummheit der fränkischen Ritter. Dann sprach er langsam weiter. „Und, ja, Ihr könnt dem König auch noch einmal ein persönliches 200
Treffen vorschlagen – ich habe es ihm bisher nicht gewährt, weil er mir keine Garantie geben wollte, dass hinterher nicht doch die Kämpfe wieder aufgenommen werden. Ich pfl flege erst in dem Moment mit einem gegnerischen Feldherrn zu verhandeln, wenn der mir unbedingte Waffenruhe verspricht. Das hat Löwenherz bisher nicht getan, und ich erwarte auch jetzt nicht, dass er es tun wird.“ „Ich werde ihm Eure Antwort genauestens ausrichten, so als hättet Ihr ihm selbst gegenüber gesessen, werter Saladin“, sagte Jonas und setzte an, sich zu verabschieden. Doch Saladin hielt ihn zurück. „Bitte erinnert Euren König auch noch einmal daran, dass sowohl der Jihad der Muslime als auch der Kreuzzug der Christen in erster Linie gegen das Böse in einem jedem Krieger selbst gerichtet sein sollte, nicht gegen äußere Feinde. Das soll er sich noch einmal genau durch den Kopf gehen lassen!“ „Ja, genau das hat der Heilige Bernhard auch in seinem ‚Lob der neuen Miliz‘ gesagt, dass nämlich ein Miles Christi vor allem gegen die dunklen Mächte des Bösen in seiner eigenen Seele kämpfen solle. Ihr müsst wissen, werter Sultan, ich hatte des Öfteren ausgiebig Gelegenheit, mich mit den Lehren dieses Vordenkers der Christenheit zu beschäftigen. Die Templer, deren großes Vorbild Bernhard ist, sind in Tyrus meine unmittelbaren Nachbarn, und das gibt mir öfter als mir lieb ist Gelegenheit, mich mit ihren Leitsätzen zu beschäftigen. Irgendwann habe ich schließlich selbst einige der bernhardinischen Schriften gelesen, um zu wissen, worum es ihm und seinem bevorzugten Orden genau geht. Und – ich möchte eindringlich betonen, Löwenherz ist nicht mein König.“ Saladin lachte auf, und nun verabschiedete sich Jonas endgültig und verließ das Zelt. Draußen erwartete Buraq schon ungeduldig seine Rückkehr, war sie doch mit der Gesellschaft des mürrischen Dieners nicht unbedingt glücklich gewesen. Jonas bedankte sich höfl flich bei dem noch immer zutiefst irritierten Mann und ritt zurück ins christliche Lager. *** Als Jonas von Saladin zurückkam, wurden er und Buraq wie immer von Said empfangen. Doch nicht alles war wie immer – Said beeilte sich, gestenreich zu berichten, dass jemand das Zelt ver201
wüstet und Margret entführt habe. Tatsächlich sah das Zelt wie von mehreren Personen durchwühlt aus: Gegenstände waren wahllos umgestoßen und Teppiche verschoben worden. An Margrets Lager war das Durcheinander am größten, und Blutfl flecken auf dem Teppich deuteten auf einen Kampf. Sofort kam Jonas Victor in den Sinn – hatte er sich Margrets bemächtigt, um ihn unter Druck zu setzen? Und wo konnte er sich mit seiner Geisel verstecken, hier, im übervölkerten Feldlager von Akko? Er beschloss, umgehend die Templer von der Entführung in Kenntnis zu setzen und eilte zusammen mit Said zu deren Lager. Kurz bevor sie jedoch das Templerlager erreichten, wurden sie in ein Handgemenge verwickelt: Zwei ihnen unbekannte Männer drangen von hinten auf sie ein und versuchten, Jonas mit ihren Dolchen zu erstechen. Doch Saids sechster Sinn, voll ausgeprägt durch ein Leben ohne Hören und Sprechen, rettete sie. Der Junge drehte sich noch kurz vor dem Angriff um und stieß seinen Meister sofort heftig zur Seite, wodurch der erste Angreifer, es war Eirik, ins Leere stach, und nur der zweite, Hugo, sein Ziel überhaupt mit Mühe erreichte. Jonas wurde an der Schulter verwundet, strauchelte und drehte sich noch im Fallen zu den Angreifern herum. Eirik war inzwischen im Ringkampf mit Said, der erstaunliche Kräfte für sein jugendliches Alter entwickelt hatte und dem schmächtigen Narren gut standhalten konnte. Hugo wollte sich erneut auf Jonas stürzen, doch der Medicus war wieder auf die Beine gekommen und schlug ihn nieder. Dann kam er Said zu Hilfe und während nun beide mit Eirik rangen und ihn durch einen Armhebel entwaffnen konnten – inzwischen hatte sich eine in höchstem Maße interessierte Menge an Zuschauern um sie herum versammelt –, stand Hugo nach kurzer Benommenheit wieder auf und griff seinerseits mit schnellen geraden Stichen an. In diesem Augenblick kam eine Abordnung Tempelritter unter ihrem Kommandanten aus dem Templerlager und griff sofort ein. In Kürze wurde das Gerangel beendet, Hugo entwaffnet und beide Attentäter ergriffen. Die neugierig gaffende Menge hatte sich im Angesicht der Tempelritter schnell von selbst aufgelöst, um nicht aus Versehen selbst verhaftet zu werden. Alle zusammen gingen ins Lager der Templer, wo deren Infirmarius fi die schlimmsten Wunden des Medicus und seines Lehrlings versorgte. Said hatte einen schräg geführten Schnitt über den Bauch erlitten, der glücklicher202
weise nicht sehr tief ging, und Jonas einen tieferen Stich in die Schulter und einige oberflächliche fl Schnittwunden abbekommen. Während die beiden versorgt wurden, konnten sie aus dem nur durch eine Plane abgetrennten vorderen Bereich des Zeltes verfolgen, wie die beiden Angreifer zum Reden gebracht werden sollten. „Wer hat Euch beauftragt, den Medicus zu überfallen?“, donnerte eine laute Stimme, die, wie Jonas bald herausfand, dem Kommandanten der Templer in Akko gehörte. Die beiden Angreifer wurden von je zwei Rittern in eisernem Griff festgehalten, während der Kommandant von Zeit zu Zeit seine Fragen mit wohlgezielten Faustschlägen unterstützte. „Wer seid Ihr, Lumpenpack, sprecht endlich, bevor ich Euch die Zähne ausschlage!“, schrie dieser nun, und Eirik wand sich angesichts der drohend erhobenen Faust wie ein Wiesel im Griff seiner Häscher. Hugo dagegen schien von dem ganzen Verhör ungerührt zu sein, doch schon nach ein paar weiteren Schlägen wirkte er kooperativer. Nachdem sie fertig versorgt waren, betraten auch Jonas und Said den Ort des Verhöres. Jonas ging näher an die Gruppe heran und sagte zum Kommandanten: „Ich habe da eine Vermutung, wer die beiden Herren sein könnten!“ „Dann lasst sie uns hören, werter Medicus!“, forderte der ihn interessiert auf. „Ich denke, wir haben hier den Rest des Mordtrios vor uns, das bei Ibelin den Herrn Abo des Moulins erschlagen hat. Ich weiß sicher aus meinen Beobachtungen der Spuren am Tatort, dass es drei Männer zu Pferde waren, die Abo und dessen Vorarbeiter überfallen haben“, erläuterte Jonas. „Einer ist meiner Meinung nach Euer ehemaliger Mitbruder Victor, denn an seinem Streitkolben habe ich Blutreste gefunden und sein Pferd trägt Hufeisen, die genau zu den Spuren am Tatort passen. Daher vermute ich, dass dies die Reiter der beiden anderen Pferde sind.“ „Stimmt das?“, herrschte der Kommandant augenblicklich die beiden Gefangenen an, und Eirik schien sofort ein Stück kleiner zu werden. Hugo dagegen schwieg – bis ihm einige weitere Schläge die Zunge endgültig lösten. „Ja, wir waren zusammen mit diesem teufl flischen Bruder Victor“, heulte er, „doch er hat uns gezwungen, ihm bei den Anschlägen zu helfen! Wir wollten es nicht tun!“ 203
„Sicher, wir wissen alle, was ihr beide für unschuldige, verführte Seelen seid!“, antwortete der Kommandant abfällig. „Was uns jetzt aber viel mehr interessiert – wo ist Bruder Victor?“ „Ich vermute, er vergnügt sich gerade aufs Beste mit der Buhle des Medicus!“, sagte Eirik höhnisch, worauf er sofort die nächsten Hiebe einsteckte. „Deswegen sind wir hier“, sagte nun Jonas voller Aufregung, „meine Gefährtin ist aus unserem Zelt entführt worden, und ich hatte von Anfang an Victor in Verdacht!“ Er wandte sich jetzt direkt an Hugo. „Wohin habt ihr Margret gebracht? Ich weiß, dass ihr beide an der Entführung beteiligt wart. Wo sind sie? Wo ist Margret?“ Hugo grinste Jonas nur frech und anzüglich an, worauf dieser die Beherrschung verlor und dem Gauner mit voller Wucht in die Magengrube boxte. Dieser krümmte sich voller Schmerz im Griff der Templer, und als Jonas sich jetzt wütend an Eirik wandte, zuckte der zusammen. „Bei Victor im Versteck – in einem Verschlag auf der Rückseite des Thomas-Spitals! Ihr müsst uns glauben, Victor hat uns gezwungen – nicht weiter schlagen, bitte nicht weiter schlagen!“, winselte er. Angewidert wandte Jonas sich ab und die Templer schleppten ihre Gefangenen aus dem Zelt. Der Kommandant versicherte Jonas, dass sie in scharfem Gewahrsam bleiben würden, bis man auch Victor gefasst habe und allen dreien den Prozess machen würde. Er stellte einen Trupp Templer auf, die sich zusammen mit Jonas und Said sofort zum genannten Versteck aufmachten – doch der Verschlag war leer. Keine Spur von Victor und seiner Geisel … *** Wie einen Warenballen hatten die Entführer Margret zum Versteck hinter dem Thomas-Spital geschleppt, und gerade deshalb fiel fi die Tat nicht weiter auf, denn das Spital erhielt immer wieder Lieferungen von Waren aller Art, während verstorbene Patienten in Tücher gehüllt herausgetragen wurden. In dem kleinen Verschlag, der notdürftig an der Rückseite des Spitals an einen Bretterzaun genagelt war, hatte sich wahrscheinlich irgendwann ein Schnorrer, der die Wohltaten des Spitals ausnutzen wollte, verborgen, Victor hatte ihn jedoch leer vorgefunden und besetzt. Dort legten sie Margret 204
unsanft ab, und die beiden Raubritter begannen, zotige Witze zu reißen. „Haltet das Maul!“, befahl Victor grob und befreite Margrets Kopf aus der Umwicklung durch den Mantel. Nun konnte sie wenigstens wieder halbwegs atmen, auch wenn der Knebel an seinem Platz belassen wurde. Gekrümmt wie ein Haken lag sie auf dem schmutzigen Boden des Verschlages, den blutigen Schnitt an ihrer Stirn im Dreck. „Hier ist kein Platz für alle“, stellte Victor nun fest, „verzieht Euch und sucht lieber nach dem Medicus!“ „Oho, der Herr Ritter will die Dame für sich allein – dabei dachten wir, wir könnten alle etwas Spaß mit ihr haben!“, gab Hugo höhnisch zurück. „Sicher, hier, in unmittelbarer Nähe des Spitals, wo uns jeder hören kann. Ihr träumt wohl!“, fuhr Victor ihn an. „Warum? Sie ist doch geknebelt, und ich muss nicht unbedingt Lärm dabei machen, wenn’s nicht sein soll. Lass uns doch mal nachschauen, was der Medicus für einen Geschmack hat!“ „Ja!“, rief Eirik voller Begeisterung, „das will ich auch sehen – runter mit den Kleidern!“ Margret wand sich in ihrer Fesselung und überlegte fieberhaft, fi was sie tun würde, sollten die Männer ihr tatsächlich zu nahe kommen. Hatte sie gegen drei Kerle überhaupt eine Chance, insbesondere solange sie ihrer schärfsten Waffe, der Sprache, durch den Knebel beraubt war? Sie trat nach den beiden Kumpanen, so gut sie es in ihrer Fesselung und ihrem eng gewickelten Mantel überhaupt konnte und die Männer amüsierten sich köstlich. „Schau an, eine wahre Wildkatze!“, meinte Hugo, und Eirik ergänzte: „Ja, eine Katze mit roten Haaren! Lasst uns doch mal sehen, ob an ihr alles rot ist – und was sie für Krallen hat!“ „Kann man Katzen durch Prügel dressieren wie Hunde?“, fragte Hugo nun scheinheilig und machte einen Schritt auf Margret zu, die sofort mit ihren gefesselten Beinen nach ihm trat und ihn tatsächlich am Schienbein erwischte. Der Getroffene jaulte auf und revanchierte sich augenblicklich mit einigen harten Tritten gegen die Liegende. „Lass das, Idiot, du bist selbst schuld, wenn du dich treffen lässt! Und nun haut endlich ab!“, schrie Victor erbost und vertrieb die beiden nun endgültig aus dem kleinen Verschlag, wobei er Eirik 205
durch die halbe Gasse davonschleuderte und Hugo ein blaues Auge verpasste. „Dafür bezahlst du mir, du falscher Ritter!“, giftete der und setzte dann, zu Eirik gewandt, hinzu: „Komm, suchen wir uns halt woanders was zum Vögeln!“ Er hakte seinen Kumpanen unter und zog ihn hinaus auf die Lagergasse. Victor aber hockte sich neben Margret hin, atmete schwer und stützte den Kopf in die Hände. Lange Zeit verharrte er in dieser Stellung, und Margret beobachtete ihn von ihrem Platz am Boden aus – im Moment schien Victor jedenfalls nicht der reißende Löwe zu sein. Schließlich nahm er Margret den Knebel aus dem Mund, so als hätte er überhaupt keine Angst davor, dass sie schreien würde. Margret rang nach Luft, und es dauerte noch einen Augenblick, bis sie genau an der Stelle weitermachte, an der sie so grob unterbrochen worden war. „Wo ist Marjam? Was habt Ihr mit ihr gemacht?“ Victor sah sie ungläubig an – da wurde diese Frau verschleppt und von drei Kerlen mit Vergewaltigung bedroht, und ihre erste Frage galt ihrer Freundin? Kein „Was habt ihr mit mir vor?“ oder wenigstens ein „Wo bin ich hier?“, sondern ein „Wo ist Marjam?“ Victor wusste nicht, was er antworten sollte – mit einer solchen Reaktion hatte er am allerwenigsten gerechnet, so seufzte er nur und hielt sich den schmerzenden Kopf. „Victor – ich flehe Euch an – wo ist Marjam?“, insistierte Margret. „Ich weiß es nicht“, gab dieser verzweifelt, fast flüsternd fl zurück. „Ich habe sie seit zwei Tagen nicht gesehen. Sie ... sie ist mir weggelaufen.“ Margret robbte etwas näher an den Templer heran, um ihn besser verstehen zu können, und wiederholte dann ihre zweite Frage. „Was habt Ihr ihr angetan? Ich weiß, dass etwas Schreckliches passiert sein muss, denn ich habe es in meinem Traum gesehen! Habt Ihr Euch an ihr vergangen? Oder sie gar umgebracht?“ „Ihr habt Wahrträume?“, schreckte der Ritter zurück, dem so etwas schon sein ganzes Leben lang unheimlich gewesen war. „Ihr konntet wirklich sehen, was ich getan habe?“ Tausende Gedanken schossen ihm durch den Kopf und er wurde von einer lähmenden 206
Angst erfasst. Was, wenn diese Frau übersinnliche Kräfte besaß, und der Medicus sich nur aus diesem Grunde mit ihr zusammengetan hatte? Wenn seine Mitbrüder dadurch schon alles wüssten, und es nur noch eine Frage der Zeit war, bis er in deren Kerker landen würde? Würde es seiner Seele vielleicht helfen, wenn er sich ihr gegenüber wohltätig verhalten würde? Misstrauisch sah er sie an. „Ihr versprecht mir, nicht wegzulaufen oder um Hilfe zu rufen?“ Margret nickte heftig, und Victor befreite sie aus der engen Umwicklung des Mantels und löste auch ihre Fesseln. Erst dann sprach er weiter, war noch immer schwer zu verstehen. „Oh Gott, nein, ich habe Marjam nicht getötet! Ihr habt recht, ich habe mich an ihr vergangen, habe sie mir genommen. Ich musste immer nur daran denken, seit ich sie in Casal Moulins zum ersten Mal gesehen hatte.“ Margret streckt sich vorsichtig und rieb ihre schmerzenden Gelenke, ließ Victor aber dabei keinen Moment aus den Augen. Der fuhr fort. „Doch dann hat sie mich freigelassen, und ich habe lange versucht, standhaft zu bleiben.“ „Ihr habt sie nicht gezwungen, mit Euch zu kommen? Das kann ich nicht glauben!“, rief Margret. „Ich konnte es ja selbst nicht glauben“, erwiderte Victor verzweifelt, „aber sie wollte mit mir zusammen nach Akko reiten. Sie hat gesagt: ‚Brechen wir auf, bevor ich es mir anders überlege – oder jemand aufwacht.‘ Und weil sie mir die Freiheit zurückgegeben hat, wollte ich sie nicht anrühren. Ich habe es wirklich versucht, das müsst Ihr mir glauben!“, er sah sie mit Tränen in den Augen an. „Doch ich konnte es irgendwann nicht mehr aushalten. Da habe ich sie mir genommen.“ „Und Marjam? Habt Ihr denn keinen Gedanken daran verschwendet, was sie durch Euch aushalten musste?“, bedrängte in Margret. „Was Ihr ihr damit antut?“ „Doch, aber erst hinterher. Erst war das Raubtier in mir einfach stärker. Bitte glaubt mir, ich habe mit ihm gekämpft, tage- und nächtelang!“ „Und doch habt Ihr ihr Leben zerstört! Wisst Ihr nicht, dass eine solche Tat die Seele einer Frau zerbricht, der so etwas widerfährt?“ „Daran habe ich zuerst nicht gedacht, nein – aber dann habe ich ihre Augen brechen gesehen. Und was hat das Tier in mir da gebrüllt, so laut, dass ich überhaupt nicht mehr denken konnte? Jetzt 207
ist es sowieso egal, hat es gebrüllt, mach weiter, mach weiter und befriedige dich endlich! Hol dir, was du dir schon so lange wünschst! Das Tier hat nicht damit aufgehört ... und so habe ich die Heilige Jungfrau geschändet! Marjam ...“ Er weinte nun beinahe, raufte sich die struppigen Haare und rezitierte immer wieder halblaut Zeilen aus Gebeten an die Gottesmutter. „Gegrüßt seiest Du, Mutter der Barmherzigkeit ... Oh gütige, oh milde, oh süße Jungfrau Maria ...“ Victor konnte nicht mehr weitersprechen und schluchzte mit in den Händen verborgenem Gesicht. Margret sah ihn unverwandt an und musste sich beherrschen, kein Mitleid mit ihm zu bekommen. Dieser Mann musste tatsächlich von einem Dämon besessen sein, von einem Raubtier, wie er es nannte – von einem Löwen. „Gegrüßt seist Du, Maria, voll der Gnade ...“ Plötzlich schien Victor aus seiner Trance zu erwachen und sich bewusst werden, wo er sich befand und wer neben ihm saß. „Nein, Dame Margret“, sagte er nun mit erstickter Stimme, „ich kann so nicht mehr weiterleben. Ich kann nicht noch mehr Schuld auf mich laden. Lange habe ich gedacht, diese und jene zusätzliche Sünde, das macht jetzt auch nichts mehr aus. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich bete jeden Tag fl flehentlich, dass Gott die Erde sich vor mir auftun lässt und sie mich verschluckt. Aber das passiert nicht.“ „Natürlich passiert das nicht! Das wäre viel zu einfach. Ihr habt schwere Sünden begangen und wollt nun einfach vom Erdboden verschwinden, als wäre weiter nichts gewesen?“, entgegnete Margret, die zu ihrer eigenen Verwunderung wie ein Priester klang. „Nein, es wundert mich nicht, dass Gott Euch diese Gnade nicht gewährt. Ich hoffe vielmehr, dass er Euch noch lange am Leben lässt, um über die Abscheulichkeit Eurer Taten nachzudenken!“ „Aber ich habe es doch nicht absichtlich getan, nicht aus freiem Willen!“, flehte Victor. „Das Tier hat es mir immer wieder eingeflüstert, schließlich sogar laut brüllend befohlen! Ich wollte doch nur, dass das Tier damit aufhört!“ „Nein, Bruder Victor, da war kein fremdes Tier, das Euch zu etwas gezwungen hat. Das Tier ist Teil Eurer selbst und damit müsst Ihr von jetzt an leben“, erwiderte sie streng. „Aber denkt doch bitte einmal an Marjam und nicht immer nur an Euch selbst. Ist sie hier in Akko? Hat sie Andeutungen gemacht, was sie vorhat?“ 208
Victor schüttelte nur schluchzend den Kopf. „Ich weiß es wirklich nicht. Ich vermute auch, dass sie hier in Akko ist, aber ich habe sie noch nicht finden können. Und ich weiß auch gar nicht, warum ich sie suche – was sollte ich ihr denn sagen, wenn ich sie finde? fi Nein, ich will kein weiteres Unrecht auf mich laden.“ Er blickte sie auf einmal entschlossen an. „Geht nun, Dame Margret, Ihr seid frei. Geht zurück zu Eurem Zelt und hofft bei Gott, dass die beiden anderen Euren Medicus noch nicht gefunden haben.“ Margret sah ihn entsetzt an und vermutete einmal mehr die Wahrheit. „Was habt ihr drei vor? Was soll mit Jonas geschehen?“, flüsterte sie, doch Victor ging nicht darauf ein. „Geht schon!“, schrie er sie jetzt an. „Geht, bevor ich es mir anders überlege oder das wilde Tier in mir wieder aufwacht!“ Er hat wirklich die Augen eines Wahnsinnigen ..., dachte Margret, während sie hastig aufstand und etwas mühsam ihr Gleichgewicht suchte. Doch dann verschwand sie schnell und ohne ein weiteres Wort aus dem Verschlag und rannte zurück zum eigenen Lager. *** Margret und Jonas kamen beinahe gleichzeitig an ihrem Zelt an und fielen einander erleichtert in die Arme. Lange hielten sie sich so, ohne einen Laut, ohne eine Bewegung. Dann schließlich löste Jonas die Umarmung etwas und betastete vorsichtig den schmutzigen Schnitt an Margrets Stirn. „Was haben die Kerle mit dir angestellt?“, sagte er leise und ließ sie nun völlig los, um in seinem Medizinkoffer nach Essig und Verbandmaterial zu suchen. Er zog Margret auf ihr Lager und reinigte vorsichtig ihre Wunde, die dadurch schon nicht mehr so entsetzlich aussah, und verband sie. Margret ließ alles schweigend geschehen und sagte dann matt: „Mir ist nichts weiter passiert, Jonas, bitte sorge dich nicht. Victor und seine Kumpane sind auf einmal hier aufgetaucht und haben dich gesucht, doch du warst gerade zu Saladin weggeritten. Da haben sie eben mich entführt und in einen Verschlag hinter dem Thomas-Spital verschleppt.“ „Das weiß ich bereits – doch als wir in dem Verschlag ankamen, um dich zu suchen, war dort niemand mehr!“ 209
„Ja, Victor hat mich gehen lassen. Er hat Marjam tatsächlich vergewaltigt, und er bereut es sehr! Ich hätte mir nie vorstellen können, diesen stolzen, überheblichen Mann einmal so am Boden zerstört zu sehen wie gerade eben. Aber – was ist euch geschehen, ihr seid auch beide verletzt!“, sagte sie mit einem Seitenblick auf Said, der gerade dabei war, das Zelt wieder in Ordnung zu bringen. „Schätze, wir hatten währenddessen das Vergnügen, mit dem Rest dieses Mordtrios zusammenzutreffen – keine Angst, es ist nichts wirklich Schlimmes passiert, und die beiden sind jetzt im sicheren Gewahrsam der Templer. Aber – wo ist Victor?“ „Er wird irgendwo herumirren und nach Marjam suchen – er ist nicht mehr derselbe wie in Ibelin, Jonas, doch ich wünschte mir so, diese Veränderung wäre möglich gewesen, ohne dass er sich an Marjam vergangen hätte.“ „Hätte ich ihn doch selbst bewacht in jener Nacht in Casal Moulins!“ Einmal mehr machte sich Jonas heftige Vorwürfe, weil er auf die Bewachung des Gefangenen durch die Knechte vertraut hatte – doch es stimmte schon, damit, dass Marjam selbst ihn freilassen und den Knechten befehlen würde, sie ziehen zu lassen, hatte selbst er nicht rechnen können. Es hatte keinen Sinn, sich diesbezüglich den Kopf noch weiter zu zermartern. Es war eben das geschehen, was nach irgendeinem für die Menschen nicht nachvollziehbaren Ratschluss Gottes hatte geschehen müssen. Wenig später erschien eine Abordnung des englischen Königs unter Roger von Howden vor dem Zelt, um von Jonas den Bericht seiner diplomatischen Mission einzufordern. Mit ungläubigem Blick streifte der Chronist dabei auch Margret, doch wandte er sich schnell wieder ab, ohne etwas zu sagen. Stattdessen richtete er das Wort an Jonas: „Wo bleibt Euer Bericht, Medicus? Der König erwartet schon ungeduldig die Antwort Saladins. Wie wir hörten, seid Ihr schon seit Stunden wieder zurück im Lager!“, ergänzte er mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme. „Ich wurde aufgehalten“, sagte Jonas trocken und suchte seine Sachen zusammen. „Aufgehalten?“, war die ungläubige Antwort. „Aufgehalten? Was kann wichtiger sein, als dem König augenblicklich Bericht zu erstatten?“ 210
„Mich umbringen zu lassen?“, erwiderte Jonas gereizt. „Meine Frau aus der Hand ihrer Entführer zu befreien? Glaubt mir, Herr Schreiber, ich habe meine Zeit nicht vertändelt, sondern war damit beschäftigt, mein Leben vor zwei Messerstechern zu retten.“ „Oh!“, sagte Roger, dem wiederum keine passenden Worte einfielen. fi Jonas hatte auch keine Antwort von ihm erwartet und wandte sich nun zum Gehen. „Was ist? Oder wollt Ihr nun den König noch länger warten lassen?“, fragte er herausfordernd. Roger beeilte sich, an ihm vorbei an die Spitze der Abordnung zu gelangen, so schnell es ihm seine fast bodenlangen Klerikergewänder erlaubten. Diesmal ritten sie zum Zelt des Richard Löwenherz, denn obwohl es Jonas selbst nicht viel ausgemacht hätte, auch ein zweites Mal zu Fuß zu erscheinen, so war das doch unter der Würde des königlichen Sekretärs Roger. Umständlich stieg dieser von seinem Zelter, verwickelte sich dabei beinahe erneut in seine Gewänder und eilte schließlich nach drinnen, um dem König das Kommen des Jonas Thorgilsson anzukündigen. Als dieser in dessen Zelt eintrat, wurde er vom König sofort ins Verhör genommen. „Was hat Euch so lange aufgehalten, Medicus?“, wollte der mit erkennbarer Anspannung wissen. „Das, Edler König, wird Euch gerne später Euer Sekretär erklären – aber Ihr könnt auch die Templer danach fragen, denn dort befinfi den sich die beiden Kerle, die meinten, mich mit ihren Dolchen ins Jenseits befördern zu müssen!“, erwiderte Jonas. Der König blickte etwas irritiert und fragte dann ruhiger: „Wie lautet die Antwort des Sultans? Wird er unsere Bedingungen annehmen?“ „Ich fürchte nein, Edler König. Und vor allem hat er ein Problem: Ihr fordert wie schon so viele vor Euch das Wahre Kreuz zurück – doch Saladin beschwört, dass er es überhaupt nicht besitzt.“ „Nicht besitzt? Das ist doch unglaublich! Und Ihr Narr glaubt diesem Verräter auch noch!“ „Warum sonst sollte Saladin dann anbieten, Suchmannschaften nach Hattin zu schicken, um nach der Reliquie zu suchen?“, gab Jonas zurück. „Das ist mehr als lächerlich – König Guy hat schon mehrfach suchen lassen und nichts gefunden – weil da eben nichts zu finfi 211
den ist, weil Saladin das Kreuz gestohlen hat und sich jetzt im Stillen amüsiert über unsere Dummheit! Nein, friedliebender Herr Medicus, das alles ergibt keinen Sinn. Mir war von vorneherein klar, dass dieser Sohn einer kurdischen Natter nicht im Entferntesten daran denkt, mit uns Frieden zu schließen! Er hat seine Gelegenheit vertan, und nun müssen endgültig die Waffen sprechen!“ „Beruhigt Euch, Edler König – ich glaube nicht, dass Saladin so denkt. Er bat mich nämlich außerdem, Euch entgegen seiner sonst üblichen Praxis noch einmal zu einem persönlichen Treffen zu laden – auch ohne die Zusicherung einer Waffenruhe. Ihr könnt mir glauben, dieses Zugeständnis hat er vor Euch noch keinem anderen seiner Gegner gemacht!“ „Das ist bestimmt die nächste Finte dieses ungläubigen Hundes!“, wies Richard ihn unwillig ab. „Nein, vergesst es, Meister Thorgilsson, vergesst es. Morgen werden wir Akko erstürmen und so Fakten schaffen. Danach können wir gegebenenfalls weiterreden – falls der Sultan dann noch will.“ Er wandte sich an seinen Sekretär. „Roger, lasst im ganzen Lager sofort meinen Entschluss verkünden: Morgen werden wir Akko erstürmen und bis zu einer endgültigen Entscheidung kämpfen – und wenn es das Letzte ist, was wir alle tun. Na los, worauf wartet Ihr? Geht schon! Und Ihr werdet hier auch nicht mehr gebraucht, Meister Medicus“, wandte Richard sich schließlich unwirsch an seinen Besucher. Jonas schluckte seine hochkochende Wut hinunter, wusste er doch genau, dass es keinen Zweck hatte, den König noch weiter zu bedrängen. Kurz überlegte er noch, ob er nicht doch, wie von Saladin gewünscht, die für beide Seiten verbindliche Ritterehre ansprechen sollte, verzichtete dann aber darauf, denn sicherlich war Richard gerade nicht in der Stimmung, um mit ihm über das Böse in seiner eigenen Person zu diskutieren. So verbeugte er sich nur knapp zur Verabschiedung, ging zu Buraq und ritt stracks zurück zu seinem Zelt, während im ganzen Feldlager Herolde mit lauter Stimme und Trompetenschall verkündeten, dass am morgigen Tag bis zur Entscheidung gekämpft werden würde. ***
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Später am Abend, als alle in gedrückter Stimmung um das Lagerfeuer saßen, hing jeder seinen eigenen Gedanken nach und es wollte kein Gespräch aufkommen. Auch sonst war im Lager kaum etwas von dem üblichen Trubel zu vernehmen, keine Musik, keine Pfeifen und Trommeln, keine Gaukler. Nur die Huren konnten sich über mangelnde Nachfrage nicht beklagen und wanderten einladend von Zelt zu Zelt. Die Nachricht, dass am folgenden Tag bis zum Sieg gekämpft werden sollte, erfüllte alle mit seltsamer Anspannung. Einerseits war jeder froh, würden dadurch doch die langwierigen Kämpfe um die Stadt Akko endlich beendet werden können, andererseits hatten solche „entscheidenden“ Schlachten schon so oft allein zu unendlichem Tod und Leid geführt, nicht aber zum erhofften Sieg. Manch einer fürchtete sich davor, was der morgige Tag ihm bringen würde, konnte doch niemand, nicht einmal die Könige selbst, mit Gewissheit sagen, dass sie den nächsten Abend überhaupt noch erleben würden. Marjam aber wanderte durch das Lager und sog diese seltsam verzweifelte Stimmung in sich auf. Also morgen, der Tag der Entscheidung. Auch für sie würde sich vor dem morgigen Abend alles entscheiden, selbst wenn sie im Moment noch nicht wusste, was genau sie tun wollte. Sie streifte durch die Zeltreihen, blieb mal an diesem, mal an jenem Feuer stehen, verschwand aber sofort wieder, wenn jemand auf sie aufmerksam wurde oder sie ansprach. Sie wollte keine Gesellschaft in dieser Nacht – von niemandem –, sie wusste nicht einmal, ob sie jemals wieder menschliche Gesellschaft würde haben wollen. Plötzlich sah sie in einiger Entfernung ihre Freunde an einem Lagerfeuer sitzen. Sie blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete sie – ihre Mutter Hamza, Roque und Adam, die Knechte aus Ibelin und natürlich Margret, Jonas und Said, die gerade schweigend ihr Nachtmahl zu sich nahmen. Sie sah ihre Mutter, die Frau, die sie vor sechzehn Jahren unter Qualen geboren hatte, sah Jonas, der sie schließlich heraus auf die Welt gelockt hatte, sah Roque, mit dem zusammen sie in Tripolis ein neues Leben hatte beginnen wollen. Sah die Knechte, die sie und Victor hatten ziehen lassen und die sich sicherlich deswegen von Jonas heftige Vorwürfe hatten anhören müssen. Und da war Margret, ihre Freundin von den Mauern Jerusalems, die mit verbundenem Kopf erschöpft an Jonas’ Seite saß und stumm ins Feuer starrte. 213
Lange stand Marjam da, ohne überhaupt nachdenken zu können – zu ihnen zu gehen, als sei nichts geschehen, kam ihr mit jedem Augenblick unwirklicher vor. Das nur wenige Schritte entfernte Lagerfeuer wirkte für sie wie eine Vision aus einer anderen Welt – geschaffen vom Teufel, um arme Seelen wie sie in den Abgrund der Hölle zu locken. Sie erwartete fast, dass sich ihre Angehörigen und Freunde vor ihren Augen in höllische Dämonen verwandeln würden, die sie als die größte Sünderin von allen zu sich riefen. Komm her, Marjam, du Hure, du Buhle eines falschen Ritters, du Königin der falschen Entscheidungen! Komm her, damit wir dich mit in die Hölle nehmen können, wohin du als Kind der Sünde gehörst! Es gelang ihr schließlich, die Stimmen abzuschütteln, und ihre Augen ruhten nun lange Zeit auf Roque, der mit gesenktem Kopf neben Meister Adam saß. Zu gern hätte sie ihren Verlobten in die Arme genommen und ihm die Sache mit Victor erklärt – doch wie sollte sie erklären, warum sie ihren späteren Vergewaltiger losgebunden hatte? Warum sie mit ihm zusammen nach Norden geritten war? Warum sie nicht umgekehrt war, als dazu noch Zeit gewesen wäre? Was sie in Hattin und Saforie erlebt hatte? Dafür, das zu erklären, gab es keine Worte, zumindest in keiner ihr bekannten Sprache. Sie hatte Schande auf sich und ihre Familie geladen – eine Schande, die nur durch Blut wieder wegzuwaschen war. Selbst alle Schrecken der Hölle würde sie dafür in Kauf nehmen, denn nichts anderes verdiente sie. Hatte sie ursprünglich vorgehabt, aus Rache Victors Blut zu vergießen, so dachte sie jetzt nicht mehr daran. Er war auch nur ein Werkzeug, das Werkzeug eines Teufels, der ihn zuvor in den Wahnsinn getrieben hatte. Saladins Bogen aber würde nicht zum Werkzeug ihrer Rache werden, die ihr inzwischen vollkommen sinnlos vorkam, sondern zum Werkzeug ihres eigenen Todes. Nein, sie allein war schuldig, denn sie hatte sich wissentlich in diese Gefahr begeben und war darin zu Schaden gekommen – nun musste sie dafür mit ihrem eigenen Blut büßen. Ihr geschundener Körper war wie versteinert, und ihre Füße wollten sie nicht vorwärts tragen in den rettenden Feuerschein. Es war ihr unmöglich, ins Leben zurückzukehren, und so drehte Marjam sich schließlich um und verschwand in der Dunkelheit.
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Einzig Said hatte mitbekommen, dass eine junge Frau, die Marjam ähnelte, in einem grünen Mantel an einem anderen Zelt gestanden hatte, doch bis er Jonas davon in Kenntnis setzen konnte, war sie schon lange wieder fort, in Luft aufgelöst wie eine Geistererscheinung, sodass Jonas ihn beruhigte und beschloss, den anderen vorerst nichts von Saids Entdeckung zu sagen. „Wir sind alle übermüdet, gehen wir schlafen. Keiner von uns weiß, was der morgige Tag bringen wird“, wandte er sich an die anderen, und alle zogen sich zurück. Im Zelt erzählte Jonas Margret doch noch von Saids Beobachtung. „Er meinte, Marjam gesehen zu haben – sie trug einen grünen Mantel, nicht mehr den blauen mit den goldenen Sternen, den sie in Ibelin anhatte.“ „Wenn sie es denn war“, sagte Margret müde und hoffnungslos. „Oh doch, das glaube ich schon. Said hat die schärfsten Augen von uns allen, wohl weil sie der einzige Sinn sind, der ihm noch bleibt. Er ist sich seiner Sache sicher.“ „Aber – warum wäre sie dann wieder verschwunden? Warum ist sie nicht hergekommen, nachdem sie uns endlich gefunden hatte?“ „Margret, sie hat uns nicht gesucht!“ Er schüttelte seinen Kopf. „So groß ist das Lager schließlich auch nicht, dass man zwei Tage lang jemanden nicht finden kann – außer derjenige hält sich versteckt. Du hast gesagt, Victor sei nicht mehr derselbe – Marjam ist es ebenso wenig. Die Marjam, die wir alle gekannt und geliebt haben, ist tot – Victor hat sie getötet in jener Nacht in Saforie. Was Said gesehen hat, war nur noch ihre Hülle, ihr Schatten im Schein des Feuers.“ „Oder ihr Geist, und Geister meiden die Gesellschaft von Menschen – wenn sie nichts von ihnen fordern, und Marjam fordert nichts von uns“, grübelte Margret. „Wie auch immer, morgen wird auch da die Entscheidung fallen“, sagte Jonas, und man hörte ihm an, wie viel Mühe es ihn kostete, diese Worte auszusprechen. „Denkst du, sie will sich umbringen?“, fragte Margret alarmiert, doch Jonas antwortete nicht, sondern zog sie neben sich aufs Lager. „Ich habe Angst vor dem, was morgen passieren wird“, sagte Margret leise. 215
„Ich auch“, antwortete Jonas, und beide schwiegen lange, ohne einschlafen zu können. Marjam aber wanderte weiter ziellos durch das Lager, betete einmal zu Jesus Christus, dann zu Allah, dann wieder zu keinem bestimmten Gott. Noch immer versuchte sie, im Geiste Roque zu erklären, was geschehen war, doch es gelang ihr immer weniger. Ihre Hand schloss sich währenddessen immer fester um ihren Bogen, so als wäre die ihr von Saladin geschenkte Waffe das Einzige, was ihr jetzt noch ein wenig Halt geben konnte.
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IX
Das Ende aller Hoffnungen 12. Juli 1191 Schon früh am nächsten Morgen begannen die Christen mit ihrem Sturmangriff auf die Mauern von Akko. Da sie sich große Sorgen machten, dass Marjam ihre Drohung in dieser Schlacht wahrmachen würde, versuchten die Freunde aus größerem Abstand, sie irgendwo in dem Gewimmel kämpfender menschlicher Leiber zu erspähen. Jonas hatte ihnen allen am Morgen Saids Beobachtung mitgeteilt, dass das Mädchen jetzt einen grünen Mantel trug. Auf einmal stand Marjam wie die Göttin Diana für alle sichtbar ganz vorne auf einem der vordersten Wälle, den grünen Mantel gebläht vom Wind, und schickte Pfeil um Pfeil auf die Mauern der belagerten Stadt. Zunächst standen die Freunde wie erstarrt, konnten nicht glauben, was sie da sahen. Doch dann rannten sie los, umso schnell wie möglich zu ihr zu gelangen, und mussten dabei immer wieder feindlichen Geschossen und eigenen Kämpfern ausweichen, um nicht selbst getötet zu werden. Rasend schnell folgte ein Pfeil dem anderen, fand sein Ziel unter den Verteidigern Akkos, und bevor überhaupt einer der Sarazenen wahrnahm, woher diese Salve kam, hatte Marjam fast all ihre buntgefiederten fi Pfeile verschossen. Dann erscholl ein arabisches Kommando, und einer der Kämpfer ließ sich an einem Seil auf der Höhe der Schützin von der Mauer herab. „Allah ist groß!“, rief er laut und stach Marjam, die gerade ihren letzten Pfeil verschickt hatte, mit voller Wucht mehrmals seinen Dolch in die Brust. Sie ging in die Knie, antwortete automatisch: „Allah ist groß!“, und fiel vom Wall, ihren Bogen noch immer fest umklammert. Der Angreifer entriss der Sterbenden brutal die Waffe und schwenkte sie triumphierend, für seine Gefährten auf der Mauer gut sichtbar. Dann machte er sich, seine Trophäe in der Hand, katzengleich auf den Rückweg. Jubelndes Siegesgeheul erscholl. Victor, inzwischen wieder angetan mit der Templertunika, kämpfte seinen ganz eigenen Kampf vor den Mauern. Dass er als einzelner Templer leicht Gefahr lief, den Muslimen aufzufallen, war ihm 217
gleichgültig. Er hatte bewusst einen anderen Abschnitt als seine Kameraden gewählt, die als geschlossener Block an anderer Stelle der Kampfl flinie antraten und von denen nie einer freiwillig die Schlachtreihe verlassen würde. Das Schicksal wollte es, dass er so aus einiger Entfernung Zeuge der Geschehnisse um Marjam wurde. Tagelang hatte niemand sie fi finden können, und nun ereilte sie ihr Los fast an der gleichen Stelle wie Victor das seine! Er kämpfte sich zu ihr durch und war schließlich der erste, der sie erreichte. Als er ihre tödliche Verwundung erkannte, hielt er nur zwei Schritte von ihr inne und sank auf die Knie – er wagte es nicht, sie noch einmal zu berühren, so sehr er sich auch danach sehnte. Marjam, die zufällig in seine Richtung geblickt hatte, wandte sich ab. Selbst wenn sie einen Pfeil für ihn aufgehoben hätte, wäre sie nun nicht mehr in der Lage gewesen, ihn auf sein Ziel abzuschießen. Jetzt erreichten auch Margret, Jonas, Adam und Roque das Mädchen, und ein Blick auf die Wunden, die der sarazenische Dolch gerissen hatte, überzeugte den Medicus vom Schlimmsten – hier war seine ganze medizinische Kunst vergeblich. Margret hob vorsichtig Marjams Kopf an – ihr war schon jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Das Mädchen versuchte zu sprechen, was ihr aber kaum gelang. Ein dünnes Rinnsal Blut lief ihr aus dem Mund. „Nicht – nicht sprechen, Marjam. Es ist gleich vorbei“, sagte Jonas mit erstickter Stimme und streichelte hilfl flos ihre Wange. Fast unhörbar dankte Marjam ihren Freunden und sah Roque noch einmal in die Augen. Alle wurden Zeugen, wie sich ihre beiden Existenzen wieder vereinten – als sie ihren Verlobten zum letzten Mal anlächelte, war sie wieder seine unschuldige Braut, die Victor ihm gewaltsam genommen hatte. Im Sterben fanden ihre immerwährende Seele und ihre tödlich verwundete Hülle noch einmal kurz zusammen, nur um sich sofort wieder auf ewig zu trennen. Ihr Blick brach endgültig, und sie war tot. Sanft schloss Jonas ihre Augen, und erst jetzt bemerkte Margret, dass sich das Kampfgetümmel um sie herum auf wundersame Weise zurückgezogen hatte. Obwohl weiterhin Myriaden von Pfeilen den Himmel verdunkelten war keiner von ihnen verletzt worden, während sie um das Mädchen herumknieten. Anstelle der fanatischen Kreuzritter schienen rund um die Tote und ihre Freunde 218
jetzt die himmlischen Heerscharen zu stehen, hell gekleidete überirdische Bogenschützinnen unter Führung der Heiligen Christina. Margret meinte, eine riesige bläulich-lichte Kuppel wahrnehmen zu können, die die Schützinnen mit ihren erhobenen Bögen und Pfeilen im Anschlag über den Freunden formten. Auch Victor, der nach wie vor wie erstarrt etwas entfernt hockte, war in dieser Lichtkuppel geborgen, so, als hätte auch er sich durch seine ehrliche Reue einen Platz darin verdient. Margret glaubte über allem ein unwirkliches Summen und Vibrieren zu vernehmen, das den Schlachtenlärm abdämpfte und schließlich ganz zum Verschwinden brachte. Zugleich schien es jede Faser ihres Körpers zu durchdringen. Als sich jedoch die Trauernden schließlich anschickten, den Kampfplatz zu verlassen und Marjams Leichnam zu bergen, verschwanden Christinas Armeen und lösten sich langsam in saphirblauen Nebelschwaden auf. Nun, da der Bann gebrochen war, erwachte auch Victor aus seiner Trance und stürzte sich, nur mit seinem Dolch bewaffnet, in die Schlacht. Ihm war es egal, was mit ihm geschah, und keiner der Trauernden bemerkte auch nur, dass er sich entfernt hatte. *** Victor kämpfte jetzt mit dem Wahnsinn der Verzweifl flung und hatte sich schon bald ein Schwert von einem seiner Opfer erobert. Er nahm auf nichts und niemanden Rücksicht, am allerwenigsten auf sich selbst. Den Sarazenen auf der Mauer kamen Einheiten von Saladins Armee zu Hilfe, die die Kreuzritter von hinten angriffen und sie von den Kämpfen vor sich ablenkten. Besonders die Wurfmaschinen waren heiß umkämpft, denn die „Böse Nachbarin“ und die „Üble Cousine“, wie man sie bezeichnete, konnten sehr schnell die Schlacht entscheiden. Ein besonders großes Geschütz hieß „Gottes eigene Schleuder“, ganz so, als würde Gott der Herr selbst in den Verlauf der Schlacht eingreifen. Victor aber metzelte jeden Sarazenen nieder, der vor seine Waffe kam, so wie er es gelernt und schon dutzende Male ausgeführt hatte. Doch bald wurde er von den Soldaten Saladins überwältigt und weggeschleppt. Sie töteten ihn nicht, sondern zerrten ihn grob vom Schlachtfeld, und bald wurde ihm klar, dass sie ihn von Akko 219
weg ins Lager des Sultans brachten. Ihm war es gleich, sollte Saladin ihm doch den Kopf abschneiden, so wie er es mit Reynald von Châtillon gemacht hatte! Tatsächlich schleppten seine Häscher ihn ins Zelt des Sultans und zwangen ihn dort, vor Saladin auf die Knie zu fallen. Es folgte ein hitziger arabischer Wortwechsel, und es schien Ewigkeiten zu dauern, bis sich der Herrscher seinem Gefangenen zuwendete. Saladins Augen waren zu Schlitzen verengt, seine Wut ließ sich förmlich greifen. „Ein einzelner Templer? Warum habt ihr nicht gemeinsam mit Euren Brüdern gekämpft? Was ist Euer Auftrag? Sprecht, bevor Ihr mein Schwert kostet!“, herrschte Saladin ihn an, und einer der Soldaten übersetzte. „Ich ... ich habe keinen Auftrag“, stammelte Victor und erhielt sofort von einem der hinter ihm stehenden Sarazenen einen harten Schlag gegen den Kopf, sodass er nach vorn taumelte. Noch bevor er sich wieder gesammelt hatte, folgten weitere Schläge, dann wurde er wieder nach oben gerissen. Ein heftig in seinen Rücken gestoßenes Knie und eine Faust in seinen Haaren machten ihn darauf aufmerksam, dass er den Sultan gefälligst anzusehen habe, während der ihn verhörte. „Lügt mich nicht an, Templer!“, sagte Saladin in bedrohlichem Tonfall. „Oder Ihr werdet Euch bald wünschen, es nicht getan zu haben!“ „Ich lüge nicht!“, wiederholte Victor und war bei Weitem schon nicht mehr so todesmutig wie noch kurz zuvor. „Nein, ich ... ich war nicht im Auftrag meines Ordens vor Akko. Ich wurde ... degradiert und wollte mit meinem Tod in der Schlacht eine ganz persönliche Schuld abbüßen.“ „Ich verstehe“, sagte Saladin spöttisch und kam näher an ihn heran. „Euch Christen ist – ebenso wie uns Muslimen – die Selbsttötung nicht erlaubt, und da meintet Ihr, einfach den Märtyrertod zu wählen, wäre ein guter Ausweg. Doch auch Euer Gott sieht alles und wird Euch dafür bestrafen. Welche Sünde genau wolltet Ihr denn mit Eurem Leben sühnen?“, fuhr der Sultan fort. „Was bedeutet einem Templer so viel, dass er dafür seine eigene Existenz aufs Spiel setzt?“ Victor antwortete nicht und wieder hagelte es Schläge auf Hinterkopf und Rücken, die ihm fast das Bewusstsein nahmen. 220
„Antwortet dem Sultan, christlicher Hund!“, brüllte der Anführer der Soldaten ihn auf Fränkisch an. In diesem Augenblick erhob sich vor dem Zelt Saladins ein heftiger Tumult, und der Sultan befahl, nachzusehen, was dort vor sich ging. Nach einer kurzen Weile trat ein abgekämpfter, verschwitzter Soldat mit einem Bogen in der Hand herein und verbeugte sich unterwürfi fig vor seinem Herrn. Er erzählte in wort- und gestenreichem Arabisch davon, dass sich inzwischen sogar junge Frauen an den Kämpfen auf den Wällen vor Akko beteiligten, denn eine habe mit diesem Bogen vielen seiner Kameraden den Tod gebracht, bevor es ihm gelungen sei, sie zu töten und ihren Bogen an sich zu bringen. Er überreichte Saladin mit ergebener Geste die Waffe – und der erschrak, als er sein Geschenk an das Mädchen Marjam wiedererkannte. „Das Mädchen, das diesen Bogen führte – Ihr sagt, Ihr habt sie getötet ...?“ „Ja Herr, bevor sie noch mehr von uns umbringen konnte“, erwiderte der Soldat verunsichert. „Wo ist ihr Leichnam?“, wollte Saladin wissen. „Die Ihren haben ihn geborgen, wir wussten ja nicht, dass Euch der Leichnam dieser Ungläubigen überhaupt interessiert, Herr, sonst hätten wir ihn Euch selbstverständlich hergebracht.“ „Sie war keine Ungläubige!“, gab Saladin scharf zurück und wandte sich ab, noch immer den Bogen genau betrachtend. Schließlich fing er sich wieder und kam abrupt auf Victor zu, hielt ihm den Bogen vor Augen und rief: „Seht her, Templer! Dies bleibt von der Hoffnung des Heiligen Landes!“ Voller Entsetzen erkannte der nun die reich verzierte Waffe als diejenige Marjams – er musste die Übersetzung der Worte nicht abwarten. Saladin bemerkte, dass Victor ebenso betroffen war wie er selbst, und, getragen von einer Vorahnung, fragte er: „Kanntet Ihr die Besitzerin dieser Waffe?“ Victor konnte nur nicken und erwartete schon den nächsten Hieb von dem Soldaten, doch nichts geschah. „Ich frage Euch noch einmal – kanntet Ihr Marjam des Moulins?“ „Ja, ich habe sie auf meinem Weg nach Akko getroffen“, antwortete Victor ausweichend. Obwohl er für seine Verbrechen büßen wollte, musste er doch voller Abscheu vor sich selbst erkennen, 221
dass ihm der Mut fehlte, dem Sultan seine Tat zu gestehen, fürchtete er doch, Saladin würde ihn sofort und eigenhändig umbringen. Die ganze Zeit hatte er versucht, dessen flammendem fl Blick standzuhalten, doch vermochte er auch das nicht. Nun wandte sich Saladin erneut von ihm ab und wollte Victor gerade seinem Schicksal überantworten, als ein Diener den Tabib Yunus ankündigte, der eine Bitte an den Sultan richten wolle. Saladin ließ ihn unverzüglich hereinbitten. Jonas, dem keineswegs entging, wer da zerschlagen vor dem Feldherrn kniete, würdigte Victor kaum eines Blickes. „Was führt Euch zu mir, werter Yunus?“, fragte Saladin so jovial, wie es ihm in diesem Augenblick möglich war. Jonas sah den Bogen in Saladins Händen und antwortete ohne Umschweife auf Arabisch. „Die Waffe, die ihr in Händen haltet, führt mich her. Ihre Besitzerin, eine gemeinsame Freundin von uns, wurde heute vor Akko getötet, und nun erbitte ich ergebenst ihren Bogen zurück, damit wir ihn mit ihr begraben können.“ „Kann es sein, werter Freund“, begann Saladin langsam, seinen Blick wieder auf Victor gerichtet, „kann es sein, dass diese Kreatur dort, die vorgibt ein christlicher Ritter zu sein, etwas mit dem Tod unserer gemeinsamen Freundin zu tun hat?“ „Das habt Ihr richtig geschlossen, Herr“, gab Jonas zurück, der Victor ebenfalls einen kalten Blick zuwarf. „Er hat durch seinen Hass und seine Unbeherrschtheit verschuldet, dass Marjam keinen anderen Ausweg mehr sah, als vor Akko den Tod zu suchen. Wir alle haben tagelang alles darangesetzt, sie zu finden, fi doch sie wollte sich nicht finden lassen. Heute Morgen haben dann Eure Mannen Marjams Plan vollendet und sie zur Märtyrerin werden lassen“, berichtete Jonas voller Trauer und sah Saladin direkt in die Augen, die bei den letzten Worten einen mörderischen Glanz angenommen hatten. „Ich werde diesen christlichen Hund von meinen Leuten langsam – ganz langsam! – in Stücke schneiden lassen, damit er ausgiebig Zeit hat, seine Untaten noch etwas mehr zu bereuen. Was haltet ihr davon, Yunus?“ Victor erstarrte ob des Tonfalles und wagte nicht mehr, sich zu rühren. „Mit Verlaub, nicht viel, Herr“, entgegnete Jonas ruhig. „Ich finde, der Tod ist viel zu gut für ihn, zumindest ein schneller oder 222
halbwegs schneller Tod. Nein, lasst ihn am Leben, lasst ihn für den Rest seiner irdischen Tage Marjams Gesicht vor sich sehen, Marjams brechende Augen, Marjams Sternenmantel. Sie wird nicht wieder lebendig, wie sehr ihr ihn auch quälen lasst.“ „Ihr habt recht, wie so oft, Tabib Yunus“, stimmte der Sultan nach einer Weile zu. „Lasst uns ihn zwingen, mit seiner Schuld zu leben, was auch immer sie gewesen sein mag“, dabei sah er den Freund auffordernd an. Doch irgendetwas ließ Jonas zögern, Saladin zu berichten, dass Victor sich an dem Mädchen vergangen hatte, und so sagte er bloß ausweichend: „Das tut nichts zur Sache, denn es ändert nichts an Marjams Entschluss, vor Akko den Tod zu suchen. Sie hat nicht einmal mehr erfahren können, wer ihren Großvater tatsächlich getötet hat.“ „Ja, ich habe davon gehört, dass Abo ermordet wurde und dass Ihr seine Mörder überführt habt. Ich hoffe, sie befinden fi sich inzwischen in den Händen der Gerechtigkeit?“ „Ja, dieser Templer ist der letzte. Wie gesagt, vielleicht schafft er es sogar irgendwann, seine Schuld wiedergutzumachen, so wie ich versucht habe, die meine wiedergutzumachen. Gebt ihn mir mit, edler Sultan, und er wird den Rest seines Lebens in den Kerkern der Templer verbringen“, bat Jonas und konnte Saladin ansehen, wie der seine Schlüsse zog. Doch der Sultan fragte nicht weiter nach. „Gut, nehmt ihn und schafft ihn mir aus den Augen – zum Andenken an unsere gemeinsame Freundin“, sagte Saladin barsch, um dann um einiges sanfter fortzufahren, „und hier habt ihr Marjams Bogen – er war ein Geschenk an das tapferste Mädchen auf den Mauern Jerusalems, und Geschenke nehme ich nicht zurück. Möge der Herr ihrer Seele gnädig sein und sie nach diesem Ordal Frieden finden lassen.“ Jonas nahm die Waffe behutsam an sich, verbeugte sich ehrerbietig vor dem Sultan und wandte sich zum Gehen. Die Soldaten aber zerrten Victor brutal in die Höhe, zogen seine Fesseln fester und übergaben ihn dem Medicus, der ihn wortlos nach draußen führte und mit einem Seil so an Buraqs Sattel festschnürte, dass er dem Pferd hinterherlaufen musste. Er selbst stieg auf und zusammen verließen sie das Lager. Victor wollte etwas sagen, sich bei Jonas für die Rettung bedanken, sich für alles entschuldigen, doch wann immer er den Mund 223
aufmachte und anfi fing zu sprechen, beschleunigte Jonas sein Pferd soweit, dass Victor kaum hinterherkam oder strauchelte. Die Templer erwarteten ihren verlorenen Sohn schon, und als Jonas Buraq vor seinem Zelt zügelte und den Gefangenen losband, sah ihn Victor mit verzweifeltem Blick an. So vieles hätte er zu sagen gehabt, zu erklären ... Doch Jonas übergab den Templer ohne ein weiteres Wort seinen Mitbrüdern, die ihn in Gewahrsam nahmen. Die Justiz des Hauses würde sich in Bälde mit ihm befassen, und er würde seine gerechte Strafe für den Tod Marjams, Abos und Jeans erhalten. Diese würde jedoch nicht sein eigener Tod sein, denn die Tempelritter vergossen in der Regel nicht das Blut ihrer Mitbrüder. Er würde in Eisen gelegt werden und von da ab im Kerker ausreichend Zeit haben, über seine Sünden nachzudenken – es sei denn, die Templer würden ihn dem obersten Gericht des Königsreiches Jerusalem zu einem offizifi ellen Prozess überantworten. Der Kommandant der Templer aber versicherte Jonas, dass man in Zukunft und besonders nach der Erfahrung mit Victor von Pontailler, im Orden der Armen Ritter Christi wieder genauer darauf achten werde, wie sich der Charakter eines Postulanten entwickelte, bevor man ihn endgültig aufnahm – gleichgültig, ob gerade dringend neue Ritter gebraucht würden oder nicht. Der Orden dürfe nicht weiterhin zum Hort von Strauchdieben und zwielichtigen Gestalten dienen, die nirgendwo sonst denn in der Hölle mehr Aufnahme fänden. *** Als sich der Abend dieses schicksalhaften Tages näherte, hatten die Christen Akko zurückerobert und viele muslimische Gefangene gemacht, für deren Freilassung sie an Saladin weitere Bedingungen und eine Frist von einem Monat stellten. Während im Zelt des Medicus – und nicht wenigen anderen – tiefste Trauer herrschte, war von überall her zugleich unbändiges Feiern der Kreuzfahrer zu hören. In deren Siegesgesänge mischten sich Gebete, Klagerufe und das Gegröle bereits Betrunkener. Saladin hatte Vorkehrungen getroffen, um für Marjam ein muslimisches Begräbnis auszurichten zu lassen – eine Ehre, die von ihrem Freundeskreis und vor allem Hamza mit großer Rührung 224
angenommen wurde. Auf diese Weise gab er zu verstehen, dass er ihr erneut, wie schon in Jerusalem, das Töten seiner Landsleute verzieh. Er hatte eine Ghasila geschickt, eine Totenwäscherin, denn nur Personen desselben Geschlechtes war es im Islam erlaubt, die Toten zu waschen. Nun endlich wurden auch die tagealten Blutkrusten aus Saforie vollständig entfernt. Die Alte besprengte Marjams Leichnam mit Rosenwasser, doch erhielt sie nicht das sonst für Muslime übliche weiße Totengewand, das so schnell in Akko nicht zu bekommen war, sondern wurde wieder in die Kleider gehüllt, die sie bei ihrem Tod getragen hatte – wie eine muslimische Märtyrerin, die sie ja in gewissem Sinne auch war. Zuletzt wickelten ihre Freunde sie in den grünen Mantel und bahrten sie auf einer Bettstatt auf. Marjam war auch im Tode noch wunderschön, doch unglaublich blass, wie eine Statue aus feinstem Marmor. Jonas legte ihr ihren Bogen in die erkalteten Hände und den leeren Köcher an die Seite. Roque aber kniete neben ihrem Lager nieder und betete lautlos. Tränen liefen über seine Wangen, doch das schien ihm nicht einmal aufzufallen. Margret und Jonas standen etwas abseits und hielten sich in den Armen. „Jetzt hat sie endlich ihren Frieden – zumindest hoffe ich das“, sagte Margret unter Tränen. Und sie muss nicht mehr immerzu an Victor denken.“ Jonas nickte stumm. „Ja, das hoffe ich auch. Und ich bitte sie einmal mehr um Vergebung für meinen Fehler.“ Sie weinten nun beide. In der Nacht begruben die Freunde die Erbin von Casal Moulins unter Fackelschein auf einem der Hügel östlich von Akko – in Sichtweite von Saladins Lager. Jonas glaubte genau zu spüren, dass auch der Sultan in Gedanken bei ihnen war und vielleicht sogar von seinem Zelt aus den langsamen Zug der wenigen Fackeln beobachtete. Marjams Bogen und Köcher folgten ihr ins Grab, das von den Knechten aus Ibelin verschlossen und mit einem kleinen Hügel aus Bruchsteinen markiert wurde.
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X
Neue Herren und milde Richter
Bald schon war das Kreuzfahrerlager in Aufl flösung begriffen, und als die Christen eines Morgens nach Osten blickten, war auch das muslimische Lager zur Hälfte verschwunden. Nur der Sultan selbst und wenige Truppen blieben vor Ort, während die übrigen weiter zurück ins Hinterland Richtung Saforie verlegt wurden. Saladin wollte in Akko bleiben, bis Richard entschieden hätte, was er mit der gefangenen muslimischen Garnison zu tun gedachte. Dessen Entschluss ließ jedoch auf sich warten. Zwar wurde immer wieder mit den Gefangenen herumgeschachert, mal so und so viele dem französischen König als Beuteanteil zugesprochen, dann wieder dem Markgrafen Konrad von Montferrat – doch am Schicksal der Menschen, die in Akko unter strengster Bewachung gehalten wurden, änderte all das nichts. *** Die Freunde bezogen ein leer stehendes Hofhaus im Zentrum der eroberten Stadt, das ihnen in den nächsten Wochen als Unterkunft dienen sollte. Sie hatten sich entschlossen, das Ende der 40-tägigen Trauerzeit für Marjam sowie den weiteren Fortgang der Ereignisse in Akko selbst abzuwarten. Auch Adam und Roque schoben ihre Rückkehr nach Tripolis noch auf und blieben. Hier in Akko sollte baldmöglichst auch der verletzte Gautier operiert werden. Während ihn einige Knechte von Casal Moulins abholten, ließ der Medicus seine Helfer aus Tyrus mit den nötigen Handbüchern und Medikamenten kommen. Hamza hatte sich entschlossen, bei Jonas zu bleiben, hoffte sie doch, durch ihre tatkräftige Anteilnahme am Alltag des Spitals in Tyrus ihr Leid zumindest zeitweise verdrängen zu können. Said kümmerte sich rührend um sie, so dass sie schon bald den Eindruck hatte, anstelle ihrer ermordeten Tochter einen Sohn geschenkt bekommen zu haben. Casal Moulins aber wurde Saladin angeboten, der es sich nicht nehmen ließ, einen sehr guten Preis dafür zu bezahlen. Somit verschwanden vier Jahre nach der 226
Rückeroberung Jerusalems auch die letzten fränkischen Siedler aus dessen Umland. Als Gautier schließlich in einem Wagen ankam, unterzog Jonas ihn einer genauen Untersuchung – und war über deren Ergebnis nicht sonderlich glücklich. Der Knecht hatte hohes Fieber, das nur mit Mühe zu senken war, und während die Kopfwunde in den vergangenen zehn Tagen gut verheilt war, hatte sich die zertrümmerte Schulter ganz und gar nicht zu ihrem Vorteil entwickelt. Die Knochen hatten, wie Jonas vorsichtig ertasten konnte, bereits begonnen, sich in ihrer unnatürlichen Lage zu versteifen, so dass er die Knochensplitter noch einmal in einer äußerst komplizierten Operation würde loslösen müssen, um sie wieder in ihre ursprüngliche Position bringen zu können. Doch wollte man das Leben und die Mobilität des Knechtes retten, gab es keine andere Lösung. Da die Schmerzen für Gautier ohne vernünftige Narkose nicht auszuhalten wären, unterrichtete sich Jonas im Laufe der folgenden Stunden durch das Studium verschiedener Schriften genau über mögliche Narkosestoffe und deren Dosierung, bevor er sich zusammen mit seinen Assistenten ans Werk wagte. Schließlich entschied er sich für Opium aus der Thebais, gemischt mit Mandragorawurzel und Wein. Auf den Einsatz eines Betäubungsschwammes verzichtete er dagegen, da dessen Anwendung zu viele Risiken barg. Der Medicus gab dem Knecht so viel Betäubungsmittel, wie er sich zutraute. Jetzt kam es darauf an, mit der Operation möglichst weit voranzukommen, solange der Mann sich noch im Reich der Träume befand. Jonas öffnete die bereits heilende Wunde und legte die Fragmente des Schlüsselbeines frei, um sie neu ausrichten zu können. Als er damit fertig war und der Patient keinerlei Anzeichen zeigte, aufwachen zu wollen, befürchtete Jonas schon, er würde es möglicherweise nie wieder tun. Doch als er noch die Lage einiger kleinerer Knochensplitter korrigierte und anschließend den darüberliegenden großen Muskel vernähte, meldete sich der Vorarbeiter durch immer lauter werdendes Stöhnen ins Leben zurück. Jonas verschloss nun zügig die Wunde und verband sie, bevor seine Assistenten Gautier in ein Bett legten. „Ich hoffe nur, dass es Gautier mehr Nutzen als Schaden bringt, was ich gerade mit ihm angestellt habe“, sagte Jonas müde zu Margret, die sich nach Abschluss der Operation mit ihm zurückge227
zogen hatte, bevor er sich auf seinem Lager ausstreckte und kurz darauf einschlief. Margret legte sich neben ihn und betrachtete noch lange tief in Gedanken versunken den Mann, der ihr zum Schicksal geworden war. *** Eine Woche nach der Eroberung Akkos, am Festtag der Heiligen Margarethe, bezog Richard Löwenherz mit seinem Gefolge die Burg in Akko und richtete sich dort häuslich ein. Auch die Gattin des Königs, Berengaria von Navarra, und seine Schwester Johanna von Sizilien, die weit draußen auf dem Meer auf einem Schiff das Ende der Belagerung abgewartet hatten, hielten nun dort Einzug. In ihrem Gefolge befand sich außerdem die halbwüchsige Tochter des selbst ernannten Kaisers von Zypern, dessen Reich Richard Löwenherz auf dem Weg ins Heilige Land kurzerhand erobert und das Mädchen als Geisel mitgenommen hatte. Die Belagerer freuten sich darauf, nun nach dem Ende der unmittelbaren Kampfhandlungen zumindest einen Abglanz höfischen fi Lebens in Akko einzuführen, auch wenn nicht nur der König selbst ahnte, dass dies möglicherweise nur von kurzer Dauer sein würde. Die Kreuzritter aber besetzten nach Lust, Laune und persönlichem Gefallen all die Häuser, die die Muslime eine Woche zuvor hatten räumen müssen. Viele von ihnen zeigten sich überrascht und empört, als schon kurze Zeit später die ehemaligen fränkischen Besitzer der Anwesen nach Akko zurückkehrten und Anspruch auf ihr Eigentum erhoben. Oft endete diese unverhoffte Rückkehr im Streit, doch ließ sich in den meisten Fällen ein Kompromiss finden, fi nach dem mancher Kreuzritter der Untermieter eines der Einwohner von Akko wurde. Auch die Händler waren schnell wieder da und breiteten ein so reiches Spektrum an Waren vor ihren Kunden aus, das sich manch einer fragte, woher diese Pracht so kurz nach der blutigen Eroberung überhaupt hatte kommen können. Diejenigen, die die lange und gefährliche Belagerung Akkos glücklich überlebt hatten und weder sarazenischen Pfeilen noch heimtückischen Seuchen zum Opfer gefallen waren, ließen es sich nun in jeder Hinsicht gut gehen, was sich vor allem an den hervorragenden Geschäften der zahlreichen Hurenhäuser bemerkbar machte. 228
Die Templer bezogen nach dem Verlust ihres Jerusalemer Hauptquartiers nach vier Jahren nun endlich ein neues gleich am Hafen, und die drei Gefangenen erhielten die hohe Ehre, als erste den neuen Kerker beziehen zu dürfen. Man ging sofort daran, das Gerichtsverfahren gegen Victor und seine Kumpane durch schriftliche Niederlegung aller Aussagen vorzubereiten. Da ersterer selbst sowie zwei seiner Opfer Angehörige des niederen Adels waren und die Templer keine Einwände dagegen hatten, sollte der ganze Prozess vor dem Haute Cour, dem königlichen Gericht, verhandelt werden. Dem Gremium, das aus gewählten Vertretern der Könige, Barone, Ritterorden und der Kirche bestand, würde Graf Balian von Ibelin vorsitzen, war er doch als Lehnsherr und persönlicher Freund der Familie des Moulins unmittelbar von den Morden betroffen. König Guy bestimmte den Konstabler, Amalrich von Lusignan, und den Seneschall Obertus Nepos von Jerusalem zu seinen Vertretern, während König Richard von England den bewährten Roger von Howden sowie Humfrey von Toron entsandte. Des Weiteren gehörten die Obersten des Templerordens, Großmeister Robert von Sablé und sein Seneschall dazu, da diese beiden den Angeklagten Victor von Pontailler am besten kannten. Die Kirche war nach dem Tod des Patriarchen Heraclius durch Erzbischof Joscius von Tyrus und einen seiner Vikare vertreten. Insgesamt sollten also neun hochgestellte Persönlichkeiten den Fall der drei Mörder anhören und beurteilen, dazu waren noch der Medicus Jonas Thorgilsson und seine Gefährtin Margret sowie der Schmied der Templer als Zeugen geladen. Die Verhandlung, zu der die Angeklagten in Ketten überstellt wurden, fand in einem großen Saal im königlichen Palast zu Akko statt. Nachdem sie unter Schlägen durch die halbe Stadt getrieben worden waren und sich dabei dem Spott der Kreuzfahrer und Einwohner hatten aussetzen müssen, wurden sie in den Saal hereingeführt und angewiesen, sich nebeneinander auf einer Steinbank niederzusetzen. Rund um sie herum standen zahlreiche bewaffnete Templer als Bewachung. Ihnen gegenüber saßen hinter einer langen Tafel die neun zu Richtern bestimmten Abgesandten der verschiedenen Institutionen, schräg zwischen beiden Reihen die geladenen Zeugen. An der Wand hinter dem Richtertisch hingen die riesigen bunten Banner 229
der einzelnen Gerichtsherren – die weiße Fahne des Königreiches mit dem goldenen Jerusalemkreuz, der steigende goldene Löwe auf rotem Grund des Richard Löwenherz, das schwarz-weiße Banner der Templer mit einem kleinen roten Tatzenkreuz in einer Ecke, das Banner der Familie Ibelin, das ebenfalls ein rotes Tatzenkreuz, allerdings auf goldenem Grund, trug, sowie das blau-silbern gestreifte Banner der Familie Lusignan. In der Mitte der Tafel hatte der Vorsitzende des Gerichtes, Graf Balian von Ibelin, Platz genommen, welcher den Übeltätern zunächst erläuterte, wessen sie angeklagt waren: des gemeinschaftlichen Mordes an seinem Vasallen Abo des Moulins sowie des Mordanschlages auf den Medicus und der Entführung seiner Gefährtin, wozu im Falle des Templers noch zahlreiche weitere Vergehen kämen, die später im Einzelnen aufgezählt werden würden. Dabei sollten seine bereits von der Justiz des Tempels verurteilten früheren Verfehlungen wie der eigenmächtige Angriff auf die Sarazenen und das Verwenden des Banners als Waffe nicht mehr mit berücksichtigt werden. Balian erhob sich, wandte sich direkt an die Angeklagten und forderte sie zu einer Aussage auf. „Und nun sprecht, Beschuldigte, jeder für sich. Bekennt ihr euch schuldig?“ Victor, der die ganze Zeit unbewegt vor sich hingestarrt hatte, hob den Kopf und sagte mit lauter Stimme: „Ja, das tue ich!“ Die beiden Söldner sahen zunächst ihn, dann einander entsetzt an. „Nein, nein, wir sind unschuldig“, stammelte schließlich Hugo. „Wir haben mit der ganzen Sache nichts zu tun. Und zum Anschlag auf den Medicus hat dieser wahnsinnige Ritter uns gezwungen!“ „Ja, gezwungen“, echote Eirik mit heftigem Kopfnicken. „Das ist nicht wahr“, schrie Victor und wäre fast trotz seiner Ketten auf seine Mitangeklagten losgegangen, hätten ihn nicht die harten Hände einiger Templer daran gehindert. „Ich schwöre es, sie waren von Anfang an beteiligt, und den Mord an Abo haben sie mir vorgeschlagen, und nicht umgekehrt!“ Balian sah erst ihn, dann seine Mitverschwörer streng an. „Nun gut, das werden wir später genauer prüfen. Halten wir für den Moment fest, dass sich nur der Angeklagte Bruder Victor in allen Punkten für schuldig bekennt, nicht aber seine Mittäter Hugo und Eirik, die nur das freiwillig zugeben, was sowieso durch zahlreiche Augenzeugen bereits bewiesen ist.“ 230
Man einigte sich darauf, die Vergehen gemäß ihrem zeitlichen Ablauf zu behandeln, sodass der Prozess mit der Schilderung der Mission der Tempelritter Jean und Victor nach Tripolis beginnen sollte. Der Seneschall der Templer befahl seinem Mitbruder, mit knappen Worten seinen Ritt mit Bruder Jean nach Norden zu schildern, als dieser jedoch zum Überfall der Sarazenen kam, wurden seine Schilderungen immer wirrer und unzusammenhängender, sodass der Großmeister in schließlich ungeduldig unterbrach. „Und warum“, wollte Robert von Sablé wissen, „habt Ihr Euren Mitbruder nicht verteidigt, habt nicht versucht, zuallererst sein Leben zu retten?“ Victor wusste darauf keine Antwort. „Ich ... ich weiß es nicht zu sagen ... er war doch auch Ritter und hätte auf sich selbst aufpassen können ...“, stammelte er, „ich habe nicht bemerkt, dass er in Gefahr war ... ich konnte überhaupt nicht mehr denken.“ „Oder war es nicht vielmehr so, dass Ihr im Angesicht der Gegner wieder alles um Euch herum vergessen habt und nur blind auf sie zugestürmt seid, um möglichst viele von ihnen zu töten?“, warf der Seneschall der Templer ein. „Genauso, wie Ihr es damals bei dem verheerenden Angriff der Sarazenen getan habt, als Ihr die Schlachtreihe eigenmächtig aufgelöst und das Banner als Waffe verwendet habt?“ „Ja, das ist möglich – ich konnte wirklich nicht mehr denken“, erwiderte Victor kleinlaut und sah zu Boden. „Aber nur Augenblicke später, als alle außer Euch getötet waren, konntet Ihr immerhin schon wieder soweit denken, dass ihr Bruder Jeans Börse und vor allem seinen Habit an Euch genommen habt und damit geflohen fl seid?“, insistierte der Seneschall. „Ja, das war so.“ Robert von Sablé erhob nun erneut das Wort. „Bruder Victor, Ihr seid bekannt dafür, im Angesicht des Feindes die Kontrolle über Euch zu verlieren – wie vereinbart Ihr das mit Eurem Eid als Templer?“ „Aber ich tue doch in solchen Momenten genau das, was ich tun soll als Templer – meine Feinde niedermachen, koste es, was es wolle“, wandte Victor verunsichert ein. „Das hat schließlich schon der Heilige Bernhard in seinem ‚Lob der neuen Miliz‘ verlangt, und auch unser vormaliger Großmeister Gerhard von Ridefort hat bei Cresson genau nach dieser Maxime gehandelt!“ 231
„Das kann nur jemand sagen, der bei Cresson nicht zugegen war!“, empörte sich jetzt Erzbischof Joscius. „Ich aber war Zeuge dieser schrecklichen Ereignisse. Der Angriff, den Herr von Ridefort führte, war mehr als tollkühn und muss eher schon als selbstmörderisch bezeichnet werden. Fast alle seine Männer hat er geopfert für etwas, was ich noch immer für einen Akt der Selbstbestätigung des Großmeisters halte – immerhin hat er selbst fast als Einziger überlebt! Nein“, er schüttelte entschieden den Kopf, „nein, Bruder Victor, so hat Bernhard von Clairvaux das Kampfethos der Templer sicher nicht gemeint!“ „Ich glaube auch, dass Bruder Victor hier den Heiligen Bernhard bewusst oder unbewusst falsch interpretiert“, bestätigte der Seneschall, „dieser Mitbruder ist schon oft negativ aufgefallen, weil er sich nicht an unsere strikten Regeln halten wollte – obwohl er genau das bei seiner Aufnahme in den Orden feierlich geschworen hat. Hätten wir damals schon Anzeichen seiner Besessenheit bemerkt, wir hätten ihn sicherlich abgewiesen.“ „Bruder Victor, bei Eurer Ehre als Tempelritter – warum könnt Ihr Euch nicht an die Regeln halten und müsst immer wieder Euren eigenen Ehrenkodex über den des Ordens stellen?“, wollte nun der Großmeister wissen. „Ich frage mich, ob Ihr bereits mit den falschen Idealen und Vorstellungen bei uns eingetreten seid!“ „Nein, das ist nicht wahr, ich wollte mein Leben lang nichts anderes sein als ein guter Tempelritter im Geiste des Heiligen Bernhard“, erwiderte Victor verzweifelt. Der Seneschall erhob sich und kam mit kräftigen Schritten auf Victor zu. „Und warum habt Ihr dann Bruder Jeans Habit geraubt?“, erkundigte er sich mit klarer Stimme. „Wir glauben, dass Ihr es getan habt, weil Ihr nicht verwinden konntet, Euren eigenen Habit für ein Jahr und einen Tag verwirkt zu haben! Bruder Victor – das Jahr der Buße wäre fast vorüber gewesen, und Ihr stehlt kurz zuvor noch einen fremden Habit? War Euch nicht klar, dass Ihr damit niemals durchkommen würdet?“ „Nein, ich konnte nur daran denken, endlich wieder einen Habit zu besitzen – er war mein wertvollster Besitz, und den habt Ihr mir vor einem Jahr genommen!“ Robert von Sablé, hoch aufgerichtet in seinem Stuhl, warf vom Tisch her verständnislos ein: „Warum versteift Ihr Euch so auf Äußerlichkeiten? Der Habit macht schließlich nicht den wahren 232
Templer aus, sondern die innere Einstellung! Der Dienst an Gott und am Orden ist das Entscheidende, egal, welche Kleidung man dabei trägt. Wir Templer wenden uns bewusst gegen allen Kleiderluxus, und Ihr habt nichts Besseres zu tun, als den simplen Habit zu glorifizieren?“ fi „Aber – ich habe mir den Habit doch ehrlich verdient, dadurch dass ich im Auftrage des Ordens unzählige Sarazenen in den Tod geschickt habe!“, versuchte Victor sich zu rechtfertigen. „Seid Ihr sicher, dass das nicht in Eurem eigenen Auftrage geschehen ist?“, fragte der Großmeister zurück, und Victor wusste darauf keine Antwort zu geben, war für ihn doch beides dasselbe. Der Templerseneschall nahm wieder Platz und kam zum nächsten Punkt der langen Liste an Anklagen. „Doch nun zur Börse, die Bruder Jean für die Mission nach Tripolis mit sich führte – Ihr habt auch die an Euch genommen. Was ist damit geschehen?“ „Ich habe sie nicht mehr“, antwortete Victor kleinlaut. „Also habt Ihr das Geld ausgegeben! Und wofür?“ „Mein Pferd war mir entlaufen, und so habe ich diesem Söldner, Hugo, die Börse im Tausch gegen ein Pferd gegeben, denn sie hatten zu zweit vier Pferde“, sagte Victor leise. „Eurem Mitangeklagten, Hugo?“, warf Balian überrascht ein. „Das heißt, Ihr habt ihn schon kurz nach dem Tod Bruder Jeans in der Wüste getroffen und nicht erst hier in Akko?“ „Ja“, bestätigte der Angeklagte. „Die beiden rasteten an einer Quelle, an der auch ich unbedingt trinken musste. Ich sah, dass sie überzählige Pferde hatten und habe ihnen eines abgekauft.“ „Für 25 Dinar? Das muss aber ein wahres Wundertier gewesen sein!“, empörte sich Robert von Sablé. Victor geriet in arge Bedrängnis. „Ich ... ich, ja nun, ich wusste nicht, wie viel Geld in Jeans Beutel war und es hätte mir auch nichts genutzt, nachzusehen, denn ich kenne mich mit Münzen nicht aus. Also habe ich ihm den Beutel ungeöffnet gegeben.“ „Und Ihr, Herr Hugo, was habt Ihr getan?“, wandte sich Graf Balian nun direkt an den Söldner. „Ich denke doch, dass Ihr Euch im Gegensatz zu Bruder Victor bestens mit Münzen auskennt!“ „Nichts weiter“, war Hugos ausweichende Antwort. „Er hat gefragt, ob das reicht für ein Pferd, und ich habe zugestimmt. Das war alles.“ 233
„Also habt Ihr ihn nicht darauf hingewiesen, dass die von ihm bezahlte Summe ein Vielfaches des Werts des Tieres betrug?“ „Das muss mir entfallen sein, Hochwürden, äh, Eminenz, Herr Graf.“ „Woher hattet Ihr überhaupt die überzähligen Pferde?“, fragte Balian interessiert. „Die haben wir am Morgen eingefangen.“ „Und woher, meint Ihr, sind die Tiere so plötzlich in der Wüste hergekommen, aufgezäumt und gesattelt?“ „Des Herrn Wege sind unerklärlich ...“, sagte Hugo mit Engelsblick, und am Richtertisch erhob sich hörbares Gemurmel. „Haltet Ihr es für möglich, Bruder Victor, dass Ihr mit dem Geld des Ordens ein Pferd zurückgekauft habt, das sowieso schon dem Orden gehörte und das Euch durch eigenes Verschulden entlaufen war?“, brachte sich nun der Seneschall ein. „Ja“, gab er verlegen zu, „es war mein eigenes Pferd.“ „Und was habt ihr weiter damit gemacht?“ „Ich habe es verkauft, als ich von Casal Moulins nach Akko zurückkam. Ich musste von irgendetwas leben.“ „Und da seid Ihr nicht auf die Idee gekommen, zum Tempel zurückzukehren und euch zu stellen?“, fragte der Großmeister erbost. „Was Ihr übrigens schon bei Eurem ersten Aufenthalt in Akko hättet tun können – bevor Ihr den unglücklichen Ritt nach Ibelin unternommen habt!“ Victor schüttelte nur stumm den Kopf. „Nun gut, lassen wir das“, ergriff Balian das Wort. „Herr Hugo, was ist mit den 25 Dinar geschehen?“, „Wir haben sie ausgegeben!“, erwiderte der treuherzig. „Aha, und wäret Ihr vielleicht so freundlich, mir zu erklären, wie man im Feldlager von Akko innerhalb einer Woche 25 Dinar ausgeben kann?“ „Um unsere Auslagen zu decken, edler Herr, denn schließlich kostet es einiges, wenn man ...“, meldete sich da Eirik eifrig zu Wort, wurde jedoch rüde von seinem Kumpanen unterbrochen, der ihm seine Faust mit der darum geschlungenen Eisenkette heftig in die Seite rammte. Während Eirik sich unter Schmerzen und Protestgeheul wand, warfen die Richter sich amüsierte Blicke zu. „Wir verstehen sehr wohl, was Ihr uns sagen wollt, Herr Eirik“, sagte Balian und musste ein Lachen unterdrücken. „Genau damit 234
kommen wir doch gleich zu der Tat, die euch diese vielen Auslagen bereitet hat – den Mord an Abo des Moulins. Bruder Victor, schildert uns doch bitte, wie es dazu gekommen ist.“ Victor sah die Richter der Reihe nach an und holte tief Luft wie vor einem weiten Sprung. „Die beiden hier, diese Söldner, sagten, sie wollten eines Auftrages wegen nach Akko, und ob ich auch dahin wollte, da bin ich mit ihnen geritten. Als wir hier ankamen, sind sie gleich verschwunden, um den Auftraggeber, den Patriarchen Heraclius, zu treffen. Als sie wenig später wiederkamen, wollten sie von mir wissen, ob ich bei dem Mordauftrag mitmachen würde.“ „Das heißt, sie hielten Euch für Ihresgleichen und nicht für einen Tempelritter?“, fragte Robert von Sablé dazwischen. „Ich denke, Ihr trugt Bruder Jeans Habit?“ „Nein, den hatte ich in meinem Bündel versteckt, schon bevor ich auf die Oase zuging – ich wollte nicht, dass die beiden dumme Fragen stellen, etwa was ein Templer zu Fuß in der Wüste macht. Und in Akko konnte ich ihn sowieso nicht offen tragen, das wäre zu sehr aufgefallen“, sagte Victor und fügte nach einigem Überlegen nachdenklich hinzu: „Ja, offenbar hielten sie mich für einen der Ihren – und in dem Augenblick war ich es wohl auch, denn ich habe mich darauf eingelassen, mit ihnen nach Ibelin zu gehen.“ Der Großmeister und der Seneschall wandten einander die Köpfe zu und tuschelten über diese letzten Bemerkungen ihres in Ungnade gefallenen Mitbruders. „Und wusstet Ihr da schon, wer der Auftraggeber sein sollte?“, wollte der Erzbischof wissen. „Nein, das habe ich erst später erfahren – aber es hätte ja nichts geändert am Auftrag.“ „Ihr seid also mit den beiden hier anwesenden Söldnern nach Ibelin geritten und habt Abo des Moulins und seinen Vorarbeiter heimtückisch in der Dämmerung überfallen und niedergeschlagen, um sie töten?“, brachte sich nun Balian wieder ein. „Ja, das haben wir getan.“ Neben dem zerknirschten Templer erhob sich heftiger Protest, die beiden Söldner sprangen auf und gestikulierten wild zum Richtertisch hin. „Das ist nicht wahr!“, schrie Hugo, „das will er uns nur anhängen!“ 235
„Ja, will er!“, bestätigte Eirik. Doch wurden sie nur kommentarlos von den Wachen wieder auf ihren Platz zurückbefördert, während Victor sie nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen schien. Nun mischte sich Vikar Gregorius ein, der zwar als Begleiter des Erzbischofs Joscius am Prozess teilnahm, vor dessen Tod aber zum Stabe des Heraclius gehört hatte. „Edle Herren, ich kann bezeugen, dass diese beiden Angeklagten an einem Nachmittag vor etwa zwei Wochen den Patriarchen besucht und allein mit ihm geredet haben. Ich habe mich noch gewundert, was seine Eminenz mit Gesellen wie denen zu tun hat und warum er mich und die anderen Kaplane nach draußen schickt.“ „Und habt Ihr gehört, was besprochen wurde, Vikar Gregorius?“, fragte Balian höchst interessiert. „Nein, wir haben uns, wie es uns befohlen war, entfernt. Aber da Ihr den Namen Abo des Moulins genannt habt – ich weiß, dass der Patriarch nicht gut auf ihn und seinen verstorbenen Bruder Roger zu sprechen war. Ich glaube, das war eine alte Geschichte, die mit der Krönung unseres werten Königs Guy zu tun hatte.“ „Ja, da gab es einen heftigen Streit darum, wer die Nachfolge des unglücklichen kleinen Balduin antreten sollte“, erinnerte sich nun auch Amalrich von Lusignan, der ältere Bruder des Königs. „Dessen Mutter Sibylla konnte als Frau nicht allein regieren und schlug ihren zweiten Gatten, unseren heutigen König Guy vor, der erst kurz zuvor aus Frankreich im Orient angekommen war. Die Alteingesessenen aber waren für die Wahl eines Lateiners, der sein Leben im Königreich Jerusalem verbracht hatte – nämlich des hier anwesenden Herrn von Toron, den Gemahl der Prinzessin Isabella. Die Brüder des Moulins gehörten zu dieser Partei, während der verstorbene Patriarch der königlichen Fraktion angehörte. Der Streit eskalierte, als Roger des Moulins sich weigerte, den letzten noch fehlenden Schlüssel zum Thronschatz herauszugeben, denn ohne Krone kein neuer König!“ „Roger des Moulins, der Johannitergroßmeister, der bei Cresson gefallen ist?“, hakte Balian nach. „Ja, genau der“, stimmte Gregorius zu. „Allerdings hätte ich nie vermutet, dass der ehrenwerte verblichene Patriarch, Gott sei seiner Seele gnädig, so weit gehen würde.“ 236
„Zudem meine ich mich zu erinnern, dass Abo einmal erzählt hat, sowohl seine Familie als auch die des Heraclius stammten aus der Auvergne in Frankreich“, überlegte Balian. „Da würde es mich nicht wundern, wenn wir hier die letzten Auswirkungen einer generationenalten Familienfehde vor uns hätten.“ Erzbischof Joscius seufzte. „Die Seelen der Menschen sind nun einmal nicht zu durchschauen – auch nicht die unserer Glaubensbrüder, geschweige denn die der Ungläubigen“, meinte er nicht eben glücklich. „Auch ich hätte Heraclius so etwas nie zugetraut, trotzdem bitte ich darum, seine Beteiligung an der Sache nicht weiter zu verfolgen. Schließlich wurde unser geistliches Oberhaupt vor Kurzem vollkommen unerwartet vor den göttlichen Richterstuhl einberufen.“ Die anderen Richter berieten leise über diese Bitte, stimmten dann aber zu, denn an einem Kirchenskandal war niemandem gelegen. Da erscholl plötzlich von der Angeklagtenbank die kindliche Stimme des Söldners Eirik. „Und was ist mit unserem Honorar?“ Die Richter und Zeugen lachten auf, und Balian gab spöttisch zurück: „Dort, wo ihr hinkommt, braucht ihr kein Geld mehr, so oder so – Kerker oder Tod. Doch jetzt wüsste ich gerne, was Euch überhaupt dazu getrieben hat, meinen Vasallen zu ermorden. War es allein die Aussicht auf das noch immer ausstehende Honorar?“ Hugo und Eirik sahen sich bloß unsicher an, waren sie mit ihren Gedanken doch noch mit der vorherigen Bemerkung beschäftigt. Victor jedoch fuhr auf. „Der Mann war ein Kollaborateur mit den Sarazenen, ein Verräter an der Sache Christi – er hatte den Tod verdient, so wie alle den Tod verdienen, die mit den Sarazenen paktieren!“ „Nun hört Euch das an“, meinte Graf Balian entrüstet. „Wenn Abo ein Kollaborateur und Verräter war, bin ich das auch – wollt Ihr deshalb auch mich umbringen?“ „Alle Helfer der Sarazenen müssen ausgelöscht werden, genau wie die Sarazenen selbst!“, bestätigte Victor ungerührt. Unter den Anwesenden kam Unruhe auf, so dass Balian aufstand und eine beschwichtigende Handbewegung machte. „Woher habt Ihr nur diese verqueren Ansichten?“, wollte er wissen. „Wohl wieder von Eurem Heiligen Bernhard? Das beweist, dass Ihr keine Vorstellung vom Alltag in Outremer habt, denn der bedingt naturge237
mäß einen regelmäßigen Kontakt mit den Muslimen und das andauernde Anstreben von Kompromissen. Das wird uns der werte Medicus Jonas Thorgilsson ebenfalls bestätigen, der wie einige von uns schon seit vielen Jahren hier tätig und nicht erst wie Ihr kürzlich aus dem Westen angekommen ist.“ Bevor Jonas jedoch dazu etwas Ausführlicheres sagen konnte, erhob sich der verhinderte Gegenkönig Humfrey von Toron von seinem Stuhl und wandte sich überheblich an Victor. „Alle Freunde der Muslime müssen ausgelöscht werden, sagt Ihr? Wollt Ihr nicht dann auch mich gleich hier und jetzt umbringen? Seht her, hier stehe ich!“, rief er mit einer provozierenden Handbewegung. Er war mit Mitte Zwanzig der jüngste Teilnehmer des Richtergremiums, gekleidet in überaus modische Seidengewänder und etwas affektiert in seinem Gehabe – die Personifi fizierung all dessen, was Victor am meisten auf der Welt hasste: verweichlichte Sarazenenfreunde, abscheulicher sogar als die Ungläubigen selbst. Er hatte schon von Humfrey gehört – selbst im Templerorden hatte ein Spottgedicht auf den jungen Herrn von Toron kursiert, das in folgenden Zeilen gipfelte: „Während die Natur noch zweifelte, ob sie einen Mann oder ein Mädchen schaffen wollte, wurdet Ihr geboren, oh Lieblicher, ein Junge, der fast schon einem Mädchen gleicht.“ Sein Anblick war Victor schon die ganze Zeit ein Dorn im Auge gewesen, doch dass er sich nun auch noch provozierend an ihn wandte, war zu viel. „Ja, allerdings!“, brüllte er, sprang von seinem Sitz auf und machte ungeachtet der ihn behindernden Ketten einige große Schritte auf Humfrey von Toron zu, der unwillkürlich einen Schritt zurückwich und beinahe seinen Stuhl umgeworfen hätte. Doch Victor kam nicht weit, denn sofort hatten ihn einige der Templer ergriffen und unter Schlägen äußerst brutal zurück zu seinem Platz geschleppt. Dort sackte er auf seinem Platz zusammen. Jonas versuchte daraufhin, Victors Zustand dem Gericht genauer zu erläutern. „Edle Herren, es hat wenig Sinn, diesen Kranken zu verprügeln, denn er kann – ähnlich einem Hund – den ihm zugefügten Schmerz 238
in seinem Bewusstsein nicht mit der Ursache Eurer Schläge verbinden!“ Balian von Ibelin entgegnete verwundert. „Ihr bittet um Gnade für den Angeklagten, werter Medicus, obwohl Bruder Victor auch am Mordversuch gegen Euch beteiligt war?“ „Ja, denn was er tut, entstammt zeitweise nicht seinem freien Willen, und somit ist er auch nicht voll verantwortlich zu machen für seine Taten – das zumindest ist meine Meinung als Mediziner. Ich hatte während meiner Ausbildung Gelegenheit, an verschiedenen Orten muslimische Irrenhäuser zu besuchen und mir deren Patienten genau anzusehen – daher weiß ich, was im Angeklagten vorgeht.“ Am Richtertisch erhob sich erneut heftiges Gemurmel, doch einige der Herren, allen voran Graf Balian, nickten zustimmend. „Nun gut, dann wollen wir Eurem Urteil vertrauen. Auch ich habe schon des Öfteren die Schimpfworte ‚Kollaborateur‘ oder ‚Verräter‘ unter der Hand gegen mich geäußert gehört – aber noch nie eine solch offene Feindschaft erlebt. Meiner Meinung nach ist die Haltung Bruder Victors eine Verkennung aller Realitäten in unserem gebeutelten Reich. Nun gut, werter Medicus, wäret Ihr nun so freundlich, uns darüber zu unterrichten, was Ihr bei Euren Ermittlungen in Ibelin am Tag nach dem Mord herausgefunden habt?“ Jonas trat, ein längliches Stoffbündel in der Hand, vor den Richtertisch. Dort erläuterte er detailgenau seine Untersuchungen der Leiche Abos sowie des Tatortes und erwähnte auch die entscheidende Beobachtung seines Lehrlings Said, der die Blutreste am Streitkolben des Templers entdeckt hatte, weil ungewöhnlich viele Fliegen darum herumgeschwirrt waren. Während seines Berichtes wickelte Jonas den fraglichen Streitkolben aus seiner Stoffumhüllung und legte ihn dem Gericht vor. „Ich bitte die anwesenden Ritter vom Tempel zu bestätigen, dass dieser Waffentyp tatsächlich der ist, der vom Orden verwendet wird.“ Die Templer sahen sich den Kolben genau an, begutachteten auch die Blutreste, dann erklärte der Seneschall: „Das ist sicher einer der Unseren, denn hier ist unsere typische Schlagmarke zu sehen, ein großes ‚T‘ in einem Kreis.“ „Des Weiteren konnte ich am Tatort Hufspuren von drei Pferden unterscheiden, die eindeutig von fränkischen Hufeisen stammten“, 239
fuhr Jonas fort. „Dabei war eines der Pferde erst kürzlich beschlagen worden, die anderen beiden aber trugen abgenutzte Hufeisen. Ich habe die Templer gebeten, eines der typischerweise vom Orden verwendeten Hufeisen zum Vergleich hier zur Verfügung zu stellen.“ Nun erhob sich Bruder Faber, der oberste Schmied des Templerordens, und legte ein nagelneues Hufeisen auf den Richtertisch. „Solcher Art sind alle von uns verwendeten Hufeisen, Edle Herren“, erläuterte er feierlich und versicherte außerdem, dass Bruder Victors Pferd erst kurz vor dem geplanten Ritt nach Tripolis beschlagen worden war, so dass dessen Eisen auch nach einem Ritt nach Ibelin noch relativ neu ausgesehen haben müssten. „Und wo sind eure Pferde abgeblieben, Ihr Herren Hugo und Eirik?“, wandte sich Graf Balian nun an die beiden Söldner. „Die haben wir verkauft.“, antwortete Hugo prompt. „Wieso verkauft, du hast doch gesagt, sie sind uns gestohlen worden?“, platzte Eirik heraus. Wieder musste Balian innerlich lächeln, stellte aber mit ernster Miene fest: „Mit anderen Worten – sie sind nicht mehr aufzufinden fi und daher auch Aussehen und Zustand ihrer Hufeisen nicht mehr zu überprüfen. Nun gut – wir wollen fortfahren. Ich danke Euch, Meister Thorgilsson, für Eure sehr aufschlussreichen Ausführungen!“, sagte er zu Jonas gewandt, der sich knapp verbeugte und zurück auf seinen Platz ging. „Des Weiteren wird Bruder Victor angeklagt, sich bei den Hinterbliebenen des Abo des Moulins als angeblicher Blutsverwandter ausgegeben und Anspruch auf sein Erbe erhoben zu haben“, kam Balian nun zum nächsten Anklagepunkt. „Trifft das zu, Bruder Victor?“ Der Templer, der seit seinem Ausfall gegen den Herrn von Toron und die darauffolgenden Prügel durch seine Bewacher zusammengesunken auf seiner Bank gesessen hatte, schrak auf. „Ja, Herr“, bestätigte er. Sein Gesicht war inzwischen angeschwollen und an mehreren Stellen zeigten sich blutige Schrammen. „Was wolltet Ihr denn damit erreichen?“, wunderte sich Balian. „Eine solche vorgegebene Verwandtschaft ist doch jederzeit leicht zu widerlegen, wenn man den Familienstammbaum zu Rate zieht und die Dokumente prüft. Wie konntet Ihr denken, dass Euer Anspruch ohne Widerstand hingenommen werden würde? Oder war es die reine Beutegier, die Euch dazu getrieben hat?“ 240
Victor hatte Mühe, sich auf das zu konzentrieren, was er nun sagen wollte. „Nein, sicher nicht. Ich dachte, wenn ich das Landgut in meinen Besitz bringen könnte und dem Orden spendete, würde der Tempel mich wieder aufnehmen und mir meinen Habit wiedergeben.“ „Das wäre nie geschehen, Bruder Victor – wir verbieten, wie Ihr wissen solltet, generell jeglichen Ämterkauf und erst Recht in so einem Fall“, erklärte der Großmeister kategorisch. „Nein, selbst wenn Ihr uns das Landgut auf einem Silbertablett präsentiert hättet, hätten wir dankend abgelehnt. Deswegen hätte Abo des Moulins ganz gewiss nicht sterben müssen!“ „Aber ich habe ihn nicht aus reiner Beutegier getötet, denn ich bin nicht wie diese Söldner neben mir! Ich bin ein ehrenwerter Ritter Christi! Ich bin im Heiligen Land, um als Streiter unserem Herrn Jesus zu dienen, indem ich möglichst viele seiner Feinde in die Hölle schicke!“ „Und trotzdem seid Ihr als nächstes angeklagt, die Enkelin des Mordopfers, Marjam des Moulins, entführt und vergewaltigt zu haben, so dass sie keinen anderen Ausweg mehr wusste, als vor Akko den Tod zu suchen!“, konterte Graf Balian augenblicklich. Victor sprang auf. „Ich habe sie nicht entführt, sie ist freiwillig mitgekommen, ich konnte es selbst nicht begreifen!“ „Aber Ihr habt sie in ihren Rachegefühlen gegen die Muslime unterstützt, obwohl Ihr selbst genau wusstet, dass diese Abo nicht ermordet hatten! Das hat ihr auch der Medicus Jonas mehrfach erklärt, aber sie hat ihm nicht geglaubt, weil Ihr ihr das Gegenteil plausibel machtet. Ihr habt also den verwirrten Geisteszustand, in dem sich besagte Marjam nach dem tragischen Tod ihres Großvaters befand, schamlos für Eure Zwecke ausgenutzt!“ „Ja, das habe ich wohl getan“, gestand Victor ein, der nun wieder in sich zusammensackte. „Ihr habt zugelassen, dass sie Euch in solchem Maße verfallen ist, dass wir alle nicht mehr dagegen ankamen“, ergänzte Jonas. „Edle Herren Richter, Marjam hatte sich schließlich sogar in den Kopf gesetzt, den Ritter Victor zu heilen – und das nur, weil ich ihr einmal gesagt hatte, dass er offenbar krank ist.“ „Und was ist mit der Vergewaltigung?“, hakte Balian nach. „Gebt Ihr auch die zu, Bruder Victor?“ „Ja, aber ich wollte es nicht! Ich ... ich bin von so etwas wie einem teufl flischen Dämonen besessen, der mir als reißender Löwe 241
erscheint und mir immer wieder solche abscheulichen Dinge zu tun befi fiehlt! Er hat es mir andauernd zugebrüllt, sie mir doch endlich zu nehmen, bis ich es schließlich getan habe!“ Die Richter reagierten mit höchster Unruhe auf diese Aussage des Ritters. „Edle Herren“, mischte sich nun Jonas wieder ein, „ich vermute, dass Bruder Victors Geist sich verwirrt hat, nachdem er mehrfach grausame Schlachten gegen die Muslime mitmachen musste und mit den apokalyptischen Bildern, die diese in seiner Seele zurückgelassen haben, nicht fertigwerden konnte. Da ist es ganz natürlich, dass sich Wahnvorstellungen wie die von einem reißenden Löwen einstellen. Ihr könnt einen solchen Moment durch Betrachtung seiner Augen erkennen – während sie normalerweise einen Betrachter so ansehen wie die Euren oder meine, trüben sie sich, sobald sich der Dämon wieder meldet – der Kranke ist dann nicht mehr in der Lage, Realität und Wahn zu unterscheiden und entsprechend zu handeln.“ Die Herren Richter berieten halblaut, doch dann entschied Graf Balian, das Verhör fortzusetzen und nicht näher auf das vom Medicus geschilderte Krankheitsbild einzugehen. Er wandte sich wieder Victor zu, der wieder auf seiner Bank zusammengesunken war. „Und als nächstes seid Ihr nach Akko zurückgekehrt, um den Medicus als Zeugen zu ermorden?“ „Nein, das ist nicht richtig“, wehrte Victor ab. „Ich wollte Marjam finden, die vor mir gefl flohen war.“ „Ihr wolltet zu Eurem Opfer?“, hakte der Erzbischof nach. „Was wolltet Ihr ihr denn noch von ihr, nachdem Ihr Euch an ihr vergangen hattet?“ „Das weiß ich nicht, Hochwürden. Mich entschuldigen, ihr alles erklären. Den Medicus auch umzubringen, haben mir Hugo und Eirik erst vorgeschlagen, als wir uns in Akko zufällig wiedertrafen – oder besser, sie haben es geplant und ich habe sie nicht davon abgehalten.“ „Nun, das ging ja dank unserer Templereinheit noch einmal glimpfl flich aus“, bemerkte der Seneschall der Templer, während Hugo sich beeilte zu sagen: „Nein, das stimmt nicht – er hat uns auch dazu gezwungen!“ „Und wie genau hat Bruder Victor Euch dazu gezwungen?“, wollte Balian mit hochgezogenen Augenbrauen wissen. „Zwei be242
waffnete, durchaus kampferprobte Männer und langjährige Söldner – wenn nicht Schlimmeres? Hat er Euch womöglich ebenfalls verhext, wie er offenbar Marjam des Moulins verhext hat?“, spottete er. Eirik sprang auf. „Ja, ja, genau das hat er getan – seht doch seine Augen, der Medicus hat es ja selbst gerade gesagt, seht seine Augen!“ Ein Templer beförderte ihn unsanft wieder zurück auf die Bank, während Graf Balian kommentarlos zum nächsten Anklagepunkt überging. „Und die Entführung der Dame Margret von Beverley? Haben die auch die beiden Söldner ausgeheckt und Ihr habt mitgemacht?“ „Ja, irgendwie schon“, antwortete Victor zögernd. „Diese Entführung hat sich spontan ergeben, weil der Medicus nicht da war, als wir nach ihm suchten. Aber ich habe ihr nichts getan und auch dafür gesorgt, dass die beiden anderen ihr nichts tun. Und ich habe sie schließlich gehen lassen.“ „Stimmt das so, Dame Margret?“, fragte Balian, doch plötzlich erhob Roger von Howden, der bisher dem Prozess mehr gelangweilt als mit Aufmerksamkeit gefolgt war, zum ersten Mal das Wort. „Ich bitte Euch, die Aussage einer Frau wird uns kaum weiterhelfen können, denn niemand kann mit Sicherheit sagen, ob ein Weib lügt oder nicht. Und gerade diese Dame – edle Herren, sie ist alles andere als eine ehrbare Frau, sie ist unverheiratet, sie ist reiselustig, sie ist streitsüchtig und verfügt zudem über eine äußerst scharfe Zunge. Und sie ist die Mätresse des Medicus. Bitte überlegt gut, ob Ihr sie tatsächlich anhören wollt!“ „Was soll das heißen?“, ereiferte sich Margret. „Keine ehrbare Frau? Ich bin mit dem Medicus verlobt, und wir werden sobald wie möglich heiraten. Ich denke vielmehr, Ihr seid noch immer wütend, weil ich vor Jahren von Euch und Euren Untergebenen in England die Erlaubnis zur Pilgerfahrt ins Heilige Land erbeten habe! Und wie könnt Ihr behaupten, dass ich lüge? Das habe ich noch nie getan, bei allen Heiligen!“ Jonas fasste sie an den Schultern, um sie zu beruhigen, und auch Balian versuchte, die Wellen der Empörung möglichst schnell zu besänftigen. „Nun, Herr Schreiber, ich habe den Eindruck, dass in Eurem Einwand Dinge eine Rolle spielen, die mit diesem Fall nicht das Geringste zu tun haben. Und wenn die Dame Margret in der 243
Lage ist, sich uns gegenüber gut verständlich zu machen, wird das Gericht dies sicher nicht ablehnen. Bitte, Dame Margret, tretet vor und beantwortet meine Frage.“ „Ich danke Euch, Graf Balian. Ja, was Bruder Victor gesagt hat, stimmt. Ich möchte – wenn Ihr es mir erlaubt – gerne noch etwas ergänzen. Während ich in seiner Gewalt war, hat er mir mehrfach gesagt, dass er alle seine Untaten bereut und nicht noch mehr Schuld auf sich laden will – deshalb hat er mich auch freigelassen. Edle Herren, Victor von Pontailler ist nicht mehr der, der er war, und er verdient eure Milde.“ Sie wollte sich wieder neben Jonas setzen, als Balian verwundert nachfragte: „Das sagt Ihr, obwohl er Schuld hat am Tod eurer Freundin Marjam?“ „Ja, denn auch Marjam war davon überzeugt, dass er ein kranker Mann ist und würde mir zustimmen, da bin ich mir sicher.“ „Aber bestraft muss er doch trotzdem werden?“, fragte Balian. „Ja, sicherlich, für alle seine Taten. Aber dennoch ist er kein Gewohnheitsverbrecher wie die beiden anderen Angeklagten – das dachte ich zu Anfang, aber jetzt weiß ich es besser, denn Victor von Pontailler bereut seine Untaten von Herzen – soweit ich das beurteilen kann, Ihr Herren Richter.“ „Ihr haltet die beiden Söldner also für kaltblütige Mörder und Vergewaltiger?“ „Ja, Graf Balian – jedenfalls haben sie sich mir gegenüber so verhalten, haben mich geschlagen und getreten und wollten mich ausziehen und noch Schlimmeres – ich verdanke es Bruder Victor, dass ich heute noch an Leib und Seele gesund bin.“ Erneut erhob sich am Richtertisch deutliches Gemurmel. „Ich denke, damit haben wir alles gehört, was es wert ist, gehört zu werden. Bringt die Angeklagten nach draußen, damit wir über das Urteil beraten können“, schloss Balian die Verhandlung, damit die Richter zu einem Urteil kommen konnten. Sofort wurden die drei Täter grob von den Templern ergriffen und aus dem Raum gebracht, während sich drinnen die Stimmen der Richter zu normaler Lautstärke erhoben. Graf Balian befragte reihum alle Mitglieder des Gerichtes zu ihrer Meinung, auch den Medicus Jonas ließ er noch einmal zu Wort kommen – die Dame Margret hatten ja alle gerade vernommen. 244
Alle waren sich einig darin, dass Victor in fast allen Anklagepunkten schuldig war – zumal er sich auch selbst dazu bekannt hatte. Daher sollte ihm seine aufrichtige Reue auf jeden Fall zugutegehalten werden. Den beiden Söldnern Hugo und Eirik aber glaubte niemand ein Wort, denn jeder hielt sie für verschlagene, ehrlose Charaktere, die immer nur das sagten, was ihnen im Augenblick gerade den Hals rettete. Trotzdem – oder gerade deshalb – stand nun Aussage gegen Aussage, wofür das Gesetz auch im Königreich Jerusalem zur Klärung des Sachverhaltes nur ein Gottesurteil vorsah. Angesichts des überaus verwickelten Falles sollte diesem das allgemein übliche Procedere jedoch angepasst werden. Alle einigten sich darauf, dass Bruder Victor bereits am darauffolgenden Tag nacheinander beiden seiner Kumpane in den Schranken gegenübertreten und so lange kämpfen sollte, bis eine Entscheidung herbeigeführt wäre. Die sonst übliche Frist von sechs Wochen Vorbereitungszeit wurde ausgesetzt, dies schien aufgrund der ungeklärten Verhältnisse in Akko ratsam zu sein – immerhin konnte jeden Tag ein neuer Befehl des englischen Königs oder ein Angriff Saladins alle Pläne über den Haufen werfen. Als Waffen wurden in diesem speziellen Fall Keulen bestimmt, die Waffe, mit der die Täter Abo des Moulins erschlagen und seinen Vormann schwer verletzt hatten. Allen Kämpfern sollte es erlaubt sein, sich, sollten sie es wünschen, mit einem ledernen Schild zu schützen. Sollte der Templer Bruder Victor in beiden Fällen obsiegen, würde aufgrund seiner Reumütigkeit von dem sonst im Königreich Jerusalem obligaten Todesurteil abgesehen werden, und er sollte stattdessen wieder in die Obhut seines Ordens kommen. Da dieser die Todesstrafe auch für ehemalige Mitglieder nicht vorsah, würde Bruder Victor nach einer offi fiziellen Ausschlusszeremonie den Rest seiner Tage im Kerker der Templer verbringen müssen. Damit wäre dann auch der Bitte der Dame Margret und des Medicus Jonas Genüge getan, die Milde für diesen Angeklagten erbaten. Niemand rechnete ernsthaft damit, dass die beiden Söldner siegreich sein könnten, denn niemand wollte sich vorstellen, dass sie dann nach den Regeln des Gottesurteils freizulassen wären. Nun wurden die drei Beklagten wieder hereingerufen, und Graf Balian verkündete ihnen das Urteil, nach dem sie am Morgen des folgenden Tages vor der Stadtmauer von Akko in die Schranken zu 245
treten hätten, um dort bis zum Tode gegeneinander zu kämpfen. Während Victor diesen Spruch der Richter ohne erkennbare Gemütsregung hinnahm, begannen die beiden Söldner gleichzeitig zu jammern, argumentieren und betteln, bis die Templer sie schließlich zum Schweigen brachten. Sie wurden alle drei abgeführt und vorsichtshalber in getrennte Zellen des Templerkerkers verbracht. Man wollte so einerseits verhindern, dass sie heimliche Absprachen zum Ablauf des Gottesurteils trafen, andererseits aber auch, dass sie sich gegenseitig noch in der Nacht an die Gurgel gingen. *** Nachdem die Templer ihn wieder in seine Zelle unter deren Hauptquartier eingeschlossen hatten, gelang Victor endlich, was er schon den ganzen Tag über vergeblich versucht hatte – seine überaus flüchtigen Gedanken einzufangen. Er verstand, dass die Richter nicht anders hatten urteilen können und fürchtete sich selbst keinen Augenblick vor den beiden zu erwartenden Duellen. Was er nicht verstehen konnte, war, dass Margret und Jonas für ihn um Milde gebeten hatten: Nach allem, was er ihnen und ihren Freunden angetan hatte, fanden sie noch wie selbstverständlich die Kraft, für ihn zu sprechen? Ihm waren noch nie Menschen wie diese beiden begegnet – in seiner Welt, die nur immer von Entbehrungen und Verzicht, Schuld und Strafe, Kampf und Tod sprach. Wie es wohl wäre, wenn der Medicus die Erlaubnis erhielte, ihn zu behandeln? Ob er auf diesem Wege tatsächlich den brüllenden Löwen würde besiegen können? Vor seinem geistigen Auge erschienen nun, da er etwas zur Ruhe gekommen war, wieder die Gestalten seiner Ankläger, die entweder ihre Fragen oder Anklagen wiederholten oder aber ihn nur stumm und vorwurfsvoll ansahen. Als erster kam ihm der Seneschall in den Sinn, der Mann, der ihm im Laufe des letzten Jahres immer und immer wieder die vorgeschriebene Anzahl an Hieben mit seinem eigenen Rittergürtel verabreicht hatte. Dieser Seneschall war auch derjenige gewesen, der ihn damals als euphorischen Postulanten nach genau festgeschriebenem Ritual in den Templerorden aufgenommen hatte. Diese Ritterwürde, die er sein Leben lang mit jeder Faser seines Körpers ersehnt und jetzt durch eigenes Verschulden verwirkt hatte! Was war aus seinen Idealen geworden – 246
hatten sie sich tatsächlich in falsche gewandelt, wie der Großmeister vermutete? Er dachte an den Tag seiner Aufnahme in den Orden, der damit begonnen hatte, dass mehrere altgediente Mitbrüder ihm alle Pfl flichten und Strapazen des Templerlebens genau dargelegt hatten. Das war in einem kleinen Raum neben dem Kapitelsaal der Templerpräzeptur in Arles gewesen, denn er war noch in Frankreich in den Orden eingetreten und erst später – wie auch der Seneschall – nach Outremer versetzt worden. Nach dieser Einweisung war er vor das versammelte Kapitel geführt und vom Seneschall genauestens befragt worden: Ob er ohne Einschränkung für Gott leiden wolle? Ob er wirklich der Sklave des Tempels werden wolle? Seinen eigenen, freien Willen ganz dafür aufgeben wolle? Alldem hatte Victor begeistert zugestimmt und schließlich seine ritterliche Abkunft beschwören müssen, denn niemand, der einfacher Abstammung oder gar der Sklave eines anderen war, durfte Tempelritter werden. Victor hatte von seinem Vater erzählt, der noch vor seiner Geburt das Kreuz genommen und im Verlauf des Kreuzzuges König Ludwigs VII. von Frankreich in Kleinasien verschollen war. Schließlich musste er beschwören, dass er keine Gattin oder Verlobte sein Eigen nannte, was er mit gutem Gewissen tun konnte, hatte er sich doch sein Leben lang von diesem verderblichen Geschlecht ferngehalten – bis zu dem Tag, an dem er Marjam des Moulins kennen- und begehren lernte. Auch hatte er bestätigen können, nie in einem anderen Orden ein Gelübde abgelegt zu haben, da sein Sinn immer einzig und allein danach gestanden hatte, Tempelritter zu werden. Die Frage nach einer ansteckenden Krankheit hatte er ebenfalls verneinen können, ebenso wie die nach Geld- oder Ehrenschulden. Als all diese Punkte besprochen und feierlich beschworen worden waren, hatte der Seneschall erneut die Tragweite des Entschlusses hervorgehoben, den Victor so bereitwillig zu treffen gedachte. Dann hatte er die anwesenden Mitbrüder gefragt, ob irgendeiner von ihnen einen Grund nennen könnte, warum dieser hier vor ihnen stehende Victor von Pontailler nicht in den Orden der Armen Ritter Christi aufgenommen werden sollte. Diese Frage hatte er noch zwei weitere Male wiederholt, und als sich auch dann niemand zu Wort gemeldet hatte, hatte der Seneschall endgültig den Aufnahmeritus vollzogen. Victor hatte sich vor ihm, der 247
gleichzeitig auch die Funktion des Rezeptors erfüllte, hinknien und formell um Aufnahme in den Orden ersuchen müssen. Er war darauf hingewiesen worden, dass er sich keinesfalls von Äußerlichkeiten wie dem eindrucksvollen Habit oder den kostbaren Pferden, die er als Ritter besitzen würde, von seiner wahren Bestimmung ablenken lassen dürfe. Der Seneschall hatte betont, dass allen hier bekannt sei, wie schwer dieser Entschluss für jemanden sei, der aus der weltlichen Hofgesellschaft komme und immer sein eigener Herr gewesen war. Ab jetzt jedoch habe er sich bereit erklärt, jedwedem Befehl zu gehorchen, gleichgültig, ob ihm selbst dieser nun widersinnig oder unnütz vorkam. Victor hatte auf die Bibel schwören müssen, dass er sich immer an diesen Eid halten würde – und just diesen Eid hatte er immer wieder gebrochen. Er konnte noch genau den schweren, wollenen Templermantel mit dem roten Tatzenkreuz auf seinen Schultern spüren, den der Rezeptor ihm am Ende der Zeremonie umgelegt und verschlossen hatte. Daraufhin hatten alle Anwesenden inklusive seiner selbst den Psalm, der mit dem Vers Ecce quam bonum beginnt, gesungen, und Victor hatte seine Tränen nicht mehr zurückhalten können. Es waren mehrere gemeinsame Gebete gefolgt, zuletzt das Paternoster, bis schließlich der Rezeptor Victor vom Boden erhoben und ihn mit einem Bruderkuss feierlich in den Orden aufgenommen hatte. Es war Victor, als könne er hier im kalten Kerker der Templer noch genau die Lippen und den Bart des Seneschalls auf seinen Wangen spüren. Später hatte man ihm nach dem vorgeschriebenen Ritus die Ordensregel vorgelesen, die er sich jedoch nicht wirklich hatte merken können und die er stattdessen nach und nach mit seinen eigenen Lehrsätzen verbunden hatte. Als nächster kam ihm der Großmeister in den Sinn, den er während seiner ganzen Zeit im Tempel nur einige Male zu Gesicht bekommen hatte, noch nie aber so nahe wie heute. Ein würdiger Mann war Robert von Sablé, der über genug natürliche Autorität verfügte, um immer und überall den Gehorsam seiner Untergebenen einzufordern. Was er über die Ideale der Templer gesagt hatte – Victor hatte gedacht, ihnen aufs Beste zu entsprechen, doch nach dem heutigen Prozess war er sich dessen nicht mehr so sicher. Auch seinen Hass auf alle Sarazenenfreunde sah er jetzt in anderem Licht, denn besonders Balian von Ibelin und der Medicus Jonas hatten sich heute als gerechte, menschliche Herren erwiesen. 248
Dem Herrn von Toron aber würde er nach wie vor an die Kehle gehen – könnte er nur nahe genug an ihn herankommen … und die Parfumwolke aushalten, die den schönen Humfrey beständig umschwebte. Doch er wischte diese Gedanken beiseite, schloss stattdessen endlich die Augen und versuchte, etwas Schlaf zu finden. fi *** Am nächsten Morgen wurden Victor und seine Mittäter bei Sonnenaufgang aus dem Kerker geholt und vor die Stadtmauer verbracht, wo man noch in der Nacht das cingulum, ein Geviert aus hölzernen Schranken, gezimmert hatte. In diesem würden die Kämpfe stattfi finden, und im Laufe des Vormittages fanden sich auch die meisten der Richter dort ein. Der Herr von Toron ließ sich allerdings entschuldigen, war er doch nicht erpicht darauf, den rasenden Templer noch einmal aus der Nähe sehen zu müssen. Auch der Medicus und seine Gefährtin verzichteten darauf, Zeugen des blutigen Schauspieles zu werden. Die Templer waren diesmal mit einer größeren Abordnung erschienen, denn sie sollten zugleich auch die Bewachung des Kampfplatzes und die Funktion der Kampfrichter übernehmen. Bischof Joscius und sein Vikar waren ebenfalls anwesend, und Letzterer forderte die Angeklagten immer wieder zur inneren Einkehr auf, betete zusammen mit ihnen und schilderte, was mit ihnen weiter geschehen würde. Als er Hugo und Eirik auf die Schrecken der Hölle einstimmen wollte, die sie mit Sicherheit zu erwarten hatten, war es nur der Fesselung der beiden Gefangenen zu verdanken, dass sie den Vikar nicht tätlich angriffen, wollten sie doch davon nichts hören. Daraufhin überließ er die beiden Söldner endgültig ihrem Schicksal und konzentrierte seine seelsorgerischen Bemühungen allein auf Victor von Pontailler. Schließlich traf auch Graf Balian von Ibelin ein, und das Gottesurteil konnte zur Stunde der Terz beginnen. Den drei Gefangenen wurden die Ketten abgenommen und sie wurden genauestens instruiert, was sie tun und lassen mussten. Mehrere Kampfrichter aus den Reihen der Templer würden die Kämpfe genau beobachten und immer dann eingreifen, wenn einer der Kämpfer die Regeln überschritt. Man hatte allen dreien einfache Leinengewänder gegeben, in denen sie wirkten wie rechtlose 249
Sklaven, was sie ja auch in gewissem Sinne waren. Sie erhielten lederne Dreiecksschilde und hölzerne Keulen in die Hände gedrückt, und dann schickte man Victor als ersten in die Schranken, wo er auf seine Gegner zu warten hatte. Zunächst sollte Eirik, der Schwächere und Feigere der beiden Söldner, ihm entgegentreten. Scheu betrat er die Schranken und versuchte – entgegen aller Regeln –, Victor in ein Gespräch zu verwickeln. Er, Eirik, der nur selten von sich aus etwas gesagt und sonst immer Hugo nach dem Mund geredet hatte, erwies sich im Angesicht des Todes als erstaunlich redefreudig – denn hier konnte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit nicht darauf verlassen, dass Hugo schon das Richtige sagen würde. Er versuchte Victor davon zu überzeugen, dass er selbst am wenigsten Schuld an all den Taten habe, denn entschieden hätten ja immer die anderen. „Und warum“, entgegnete Victor ungerührt, „habt ihr mich überredet, mitzumachen? Ohne euch wäre das alles nicht passiert, und Marjam und Abo würden noch leben!“ „Du wolltest doch selbst mitkommen, wir brauchten dich nicht zu überreden!“, rief Eirik, während er immer bemüht war, ausreichend Abstand zum Templer und seiner drohend geschwungenen Keule zu halten. „Aber ihr habt mich dazu verführt!“, gab Victor erbost zurück. „Du warst doch selbst gierig auf Beute“, erwiderte Eirik mit schriller Stimme, „nein, du hast uns dazu gezwungen, du Abgesandter des Teufels!“ Die Umstehenden bemerkten, dass Victor langsam in Kampflaune fl geriet, er machte einige Keulenhiebe in Richtung auf seinen Gegner – und warf seinen Schild als unnützes Anhängsel in eine Ecke des Kampfplatzes. „Hättet ihr mir alles nicht in leuchtendsten Farben geschildert – ich wäre nach Norden geritten und nichts von alledem wäre geschehen!“, rief Victor drohend und begann, seinen Gegner zu umkreisen und sich ihm langsam Schritt für Schritt zu nähern. Eirik aber zog sich immer wieder zurück, so dass die Templer schließlich eingreifen und ihn mit Stangen wieder auf seinen Gegner zustoßen wollten. Doch Balian hinderte sie mit einer Handbewegung daran, vertraute er doch darauf, dass ein solch geübter Jäger wie Victor seine Beute sicher nicht entkommen lassen würde. 250
„Du hast selbst Schuld, es war deine Entscheidung“, sagte Eirik nun mit wachsender Verzweifl flung. „Wenn wir Mörder sind, bist du es auch! Du Mörder!“, brüllte er ihn an, doch genau das war das falsche Stichwort. „Ich bin kein Mörder!“, donnerte Victor mit unmenschlicher Stimme, sprang auf Eirik zu und versetzte ihm einen gewaltigen, geraden Hieb auf den Kopf, dem dieser nicht mehr ausweichen konnte und der ihm die Stirn zerschmetterte. Er sackte wie ein Stein zu Boden und war tot, noch ehe er den Boden berührte. Helfer schleiften Eiriks Leichnam umgehend aus den Schranken, und die Templer befahlen nun Hugo, der dem Kampf seines Kumpanen zunächst voller Verachtung zugesehen hatte, dann aber angesichts des vorhersehbaren Ausgangs immer mehr in Panik ausgebrochen war, den Platz zu betreten. „Ich bin unschuldig, bei Gott“, begann er zu jammern. „Ich gebe euch edlen Herren mein Wort, ich beschwöre es auf die Heilige Schrift und auf alle heiligen Reliquien, die ihr mir bringt – nur bitte, schickt mich nicht zu diesem Monster in die Schranken!“ Doch Hugo wurde unbarmherzig mit einem kräftigen Stoß in die Mitte der Abgrenzung befördert und ihm seine Keule und sein Schild, die er vor dem Kampfplatz fallen gelassen hatte, nachgeworfen. Er zögerte, sie aufzuheben, richtete sich stattdessen noch einmal an die Umstehenden. „Habt Erbarmen, Ihr Herren, und werft nicht einen unschuldigen Pilger diesem Ungeheuer vor!“ Da jedoch niemand auf diesen letzten verzweifelten Versuch Hugos reagierte, musste er sich seinem Gegner stellen. Er hob widerstrebend seine Keule auf und blickte Victor voller Angst an. „Sagst du auch, dass ich ein Mörder bin?“, bellte der ihn an. Hugo antwortete nicht, hatte er doch selbst gesehen, was Eirik sein Argumentieren genutzt hatte. Er versuchte zaghaft, aus Victors Reichweite zu gelangen und wartete ab wie der Hase, der auf den Angriff des Löwen wartet. „Sag es! Bin ich auch für dich ein Mörder?“, schrie Victor. Hugo antwortete nicht, sondern versuchte, genügend Abstand zu Victors Keule zu halten. Er war schnell und gewandt in seinen Bewegungen, und so gelang es ihm anfangs ziemlich gut, Victors Schlägen auszuweichen. Ab und zu setzte er sogar selbst einmal wahllos einen Hieb, der sein Ziel jedoch in der Regel weit verfehlte. Victor aber jagte ihn von einer Ecke der Schranken in die andere 251
und erwischte ihn mehrmals knapp an Körper und Extremitäten, sodass Hugo langsam müde wurde und seine Konzentration nachließ. Einmal stolperte er im Rückwärtsgehen über seinen nach wie vor am Boden liegenden Schild, fiel fi hin und Victor wollte sofort auf ihn einknüppeln. Doch es galt als unehrenhaft, einen am Boden liegenden, wehrlosen Gegner zu töten, so dass die Kampfrichter sofort dazwischengingen und die Kontrahenten trennten. Hugo aber befahlen sie, sich wieder zu erheben. Das tat der nur äußerst widerstrebend, war doch inzwischen auch ihm vollkommen klar, wie dieses ungleiche Duell ausgehen würde. „Bin ich auch für dich ein Mörder?“, wollte Victor zum wiederholten Male wissen. Als Hugo wieder nicht antworten wollte, machte Victor einen riesigen Ausfallschritt nach vorne und holte zugleich weit mit seiner Keule aus. Die stumpfe Waffe traf Hugo an der linken Schläfenseite und zertrümmerte diese ebenso problemlos wie zuvor die Stirn Eiriks. Allen Zuschauern würde noch lange das Geräusch der unter den Keulenhieben platzenden Schädel in Erinnerung bleiben, und Victor selbst würde es wohl nie wieder aus dem Kopf bekommen, solange er lebte. Es klang erstaunlich anders als bei dem bereits skelettierten Schädel, den er in Hattin von sich geworfen hatte und der scheppernd über den Boden gerollt war, und auch anders als alles, was er in den unzähligen Schlachten vernommen hatte. Damit, dass Victor seine beiden ehemaligen Kumpane getötet hatte, war es vor Gott erwiesen, dass sie tatsächlich des Mordes an Abo des Moulins schuldig waren. Zugleich hatte er sich selbst gerichtet, indem er seine eigene Schuld ohne zu zögern eingestanden und angenommen hatte. Drei Templer betraten den Kampfplatz und gingen auf Victor zu, während andere den Leichnam Hugos davonschleppten. Einer der Ritter nahm Victor die Keule ab, was der ohne eine Reaktion geschehen ließ, während die beiden anderen ihn wieder an den Armen fassten, um ihn zurück in den Kerker zu führen. Dort würde er bis zu seinem letzten Tag in Eisen gelegt verbringen.
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XI
Königin von England
Nach Ablauf der Monatsfrist, die dem Sultan Saladin zur Auslösung der muslimischen Gefangenen aus der Hand der Sieger von Akko gewährt worden war, kurz vor der Mitte des August, scheiterte wider Erwarten die erste von drei vorgesehenen Übergaben von christlichen Gefangenen, als der Geiselaustausch vom englischen König Richard Löwenherz mit Worten, die sich nicht dazu eigneten, in Chroniken verzeichnet zu werden, abgebrochen wurde. Er hatte darauf bestanden, dass vordringlich eine bestimmte Anzahl namentlich genannter Frankenfürsten unter den von den Muslimen Freigelassenen zu sein hätten – dies war aus Gründen, welche Richard nicht einsehen wollte, nicht zu erfüllen gewesen, und er verlor einmal mehr die Geduld mit seinem Gegner. Die Bedingungen wurden daraufhin ein weiteres Mal verschärft, etwa um die Forderung einer immensen Summe Lösegeldes, und als neuer – und unwiderrufl flich letzter – Termin für die Übergabe der 20. Tag im Monat August festgesetzt. Dieser 20. August lag nur wenige Tage nach Ablauf des ersten Ultimatums, und es war fast unmöglich, diese Frist einhalten zu können. Diese Nachricht sprach sich schnell im ganzen Königreich herum. Noch am selben Tag suchte Jonas Saladin auf, der ihm Einzelheiten über die Bedingungen berichtete, unter anderem, dass die von Löwenherz geforderte Anzahl an christlichen Gefangenen viel zu hoch war. Nicht alle waren nach den Jahren der Gefangenschaft noch am Leben und von manchen fehlte gar jede Spur – viele waren in den Kerkern vergessen worden und zu Staub vergangen, so dass niemand mehr einen Hinweis auf sie finden konnte. Und dann bestand natürlich noch das Problem, das durch die geforderte Rückgabe des Wahren Kreuzes entstanden war, sowie die Tatsache, dass die riesige Geldsumme, die Löwenherz als Lösegeld forderte, selbst für den Sultan, der bekannt dafür war, auch seine Privatschatulle nicht zu schonen, in der kurzen Zeit einfach nicht aufzubringen war. Erneut bot der Medicus sich als Vermittler an und drängte den Sultan noch einmal zu einem persönlichen Treffen mit 253
Löwenherz – schließlich standen die Leben der Verteidiger von Akko, allesamt hervorragende, altgediente Soldaten, und ihrer Frauen und Kinder auf dem Spiel. Erst nach langem Überlegen erlaubte Saladin Jonas, noch einen letzten Versuch zu unternehmen. Der Medicus machte sich also zur Burg von Akko auf, um dort Richard Löwenherz zu sprechen. Margret begleitete ihn, hatte sie doch nach wie vor ihr ganz persönliches Hühnchen mit Roger von Howden zu rupfen. Die Burg von Akko war ein hoher, annähernd quadratischer Turm mit meterdicken Mauern und verschiedenen Anbauten, der sich direkt neben dem Viertel der Johanniter befand. Im Süden lagen die drei italienischen Viertel der Venezianer, Pisaner und Genuesen und ganz an der südlichsten Spitze des Mauerringes das Viertel der Templer, deren Kirchturm in Zukunft die Funktion eines Leuchtturmes für im Hafen von Akko ankommende Schiffe erfüllen sollte. Durch diverse Tore und Vorhöfe gelangten Jonas und Margret schließlich in den viereckigen Innenhof der Burg, in dem es, bedingt durch die Dicke und Höhe der Mauern, gegenüber den überhitzten Straßen der Küstenstadt wohltuend kühl und schattig war. Sie stiegen über viele Treppen in eines der oberen Stockwerke hinauf, in dem der König Hof zu halten pfl flegte und auch seine Kanzlei unter Roger von Howden arbeitete. Der sprang geschäftig auf, als er die Besucher nahen hörte, blieb aber beim Anblick Margrets wie angewurzelt stehen. „Habt keine Angst vor mir, Herr Schreiber“, sagte Margret spöttisch, „ich habe nicht den bösen Blick, was immer Ihr auch glauben mögt – oder dem Grafen Balian vor Gericht vermitteln wolltet.“ Jonas tat so, als ginge ihn der Zwist der beiden nichts an und ersuchte Roger um eine sofortige Audienz beim König, da er eine dringende Botschaft von Sultan Saladin für ihn habe. Der Schreiber verbeugte sich, versprach zu sehen, was er tun konnte, und verschwand sofort im Thronsaal, wo Richard sich mit seinen Beratern aufhielt, um ihm den Wunsch des Medicus auszurichten. Dieser reagierte äußerst gereizt, als er die Nachricht hörte, und wies Roger an, dem Herrn Thorgilsson auszurichten, dass er sich noch eine Weile gedulden würde müssen – wenn er überhaupt heute noch Zeit für ihn hätte. Roger verbeugte sich vor dem König und verschwand ohne ein Wort wieder nach draußen, wo er Jonas 254
und seine Begleiterin um ein wenig Geduld bat und ihnen riet, es sich in dem kargen Vorraum gemütlich zu machen. Das war leicht gesagt in einem Raum, in dem es abgesehen von den Tischen und Stühlen der Schreiber und einigen Regalen für die Akten nur einige kümmerliche Holzhocker für etwaige Bittsteller gab. Einige wenige andere Ratsuchende standen an den Fenstern herum, um sich die Wartezeit etwas zu vertreiben, doch allein die Tatsache, dass man sie an den Fingern einer Hand abzählen konnte, machte deutlich, dass wohl selbst längeres Warten nicht von der Aussicht auf Erfolg gekrönt sein würde. Margret wanderte eine Zeitlang unruhig wie eine Katze im Käfi fig vor der Fensterfront auf und ab und schien heftig mit sich zu ringen, ging dann jedoch energisch auf Rogers Tisch zu, wo sie ihre Fäuste auf dessen Tisch stemmte und grimmig auf ihn herabsah. „Werter Schreiber“, setzte sie an, „was ich Euch fragen wollte, seitdem ich Euch zum ersten Mal hier in Akko erspähte – was ist eigentlich genau geschehen in York, damals, im März des Jahres 1190?“ Roger zuckte zusammen, zog den Kopf wie eine alte Schildkröte ein und sah Margret verunsichert an. „Im März 1190? Das ist schon so lange her, daran erinnere ich mich nicht. Was soll da denn besonderes passiert sein?“ „Oh, nichts weiter, es wurden nur fast alle Juden der Stadt York im Burgturm zusammengetrieben und schließlich bis auf wenige Personen niedergemacht – das kann man schon vergessen in eineinhalb Jahren!“, schleuderte Margret ihm jetzt entgegen. „Es wundert mich nicht, dass Ihr Euch an eine solche Nebensächlichkeit nicht erinnern könnt – oder wollt.“ „Ja, jetzt fällt mir die Sache wieder ein“, gab er bedächtig zurück und sah sich verstohlen nach den anderen Wartenden um, „aber ich fürchte, ich kann Euch nicht weiterhelfen, denn ich war zur fraglichen Zeit überhaupt nicht vor Ort.“ „Ach nein?“, gab sie spöttisch zurück. „Da habe ich aber anderes gehört. Und selbst wenn es tatsächlich so war – ich bin mir sicher, Euer damaliger Dienstherr, der Bischof von Durham, wird Euch schon über die Ereignisse informiert haben, nach Eurer Rückkehr von wo auch immer.“ Roger wand sich sichtlich auf seinem Stuhl. „Wie kommt es, dass Ihr selbst in dieser Sache so gut unterrichtet seid, denn soweit ich 255
mich erinnere, wart auch Ihr zum Zeitpunkt des Geschehens nicht mehr in England, sondern schon auf, äh, Wanderschaft?“ „Das ist richtig, ich hatte den ersten Teil meiner Pilgerfahrt ins Heilige Land bereits hinter mir – aber dennoch verfüge ich über Augenzeugenberichte des Pogroms, denn eine meiner Jugendfreundinnen gehörte zu den wenigen Überlebenden. Sie ist mit ihren Leuten nach Kairo gefl flohen und hat bei uns in Tyrus Station gemacht. Ich seht also, werter Schreiber, ich weiß sehr wohl, wovon ich spreche – und ich weiß mich durchaus auszudrücken!“ Roger zuckte innerlich zusammen – diese Frau war wirklich eine Landplage. „Was in York geschehen ist, war einzig und allein eine Erfüllung der Vorsehung Gottes“, bemerkte er schließlich. „Wie könnt Ihr so etwas sagen, Herr Schreiber, schließlich ging es dabei um Menschenleben!“, empörte sich Margret. „Die Leben von Juden, sicherlich, aber das darf für einen Christenmenschen keinen Unterschied machen. Mord ist Mord, und von der Kirche beauftragter oder geduldeter Mord ist nicht weniger schlimm. Wie können böse Menschen wie diese dahergelaufenen Landadeligen überhaupt Gottes Vorsehung erfüllen? Nein, Herr Schreiber, das war kein Akt der Vorsehung, sondern der gemeinen Habsucht und somit ein Verbrechen und eine Sünde. Und das bleibt es, auch wenn einige der Schuldigen mit der Kirche in Verbindung standen.“ „Die wirklichen Schuldigen wurden ja zur Rechenschaft gezogen!“, versuchte Roger sie zu beschwichtigen. „Ja, das habe ich auch gehört“, blaffte Margret ihn an. „Allerdings nicht alle, und insbesondere nicht so, wie sie es verdient hätten. Ich warte nur auf den Moment, wo einer der Mörder von York in Tyrus in unserem Spital auftaucht und um Hilfe bittet – einige wurden nämlich zur Strafe ins Heilige Land geschickt!“ „Ihr meint, sie wurden aufgefordert, das Kreuz zu nehmen“, verbesserte Roger sie. „Wenn Ihr es so nennen wollt, nur zu!“, konterte Margret. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie sich hier nicht viel anders verhalten werden als die beiden Söldner, die erst kürzlich vor dem Haute Cour verurteilt wurden. Haltet Ihr das wirklich für eine passable Lösung? Oder ist es nicht vielmehr so, dass missliebige Zeitgenossen einfach auf einen anderen Kontinent verschifft werden, in der Hoffnung, dass sich dann andere um deren Untaten kümmern 256
müssen?“ Roger starrte sie nur grimmig an, und so fuhr Margret fort. „Ich freue mich jedenfalls schon darauf, den Herrn Richard von Malebisse oder einen seiner Freunde im Spital wiederzusehen, höchstwahrscheinlich verletzt nach einem Raufhändel oder einem missglückten Mordanschlag“, sie stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Dann werde ich ihnen meine Meinung zu alledem schon vortragen!“ Brüsk wandte sie sich ab und stürmte wieder zu den Fenstern, so als könnten ihr etwas Licht und Luft dabei helfen, ihren Ärger zu ersticken. Roger aber seufzte tief und ließ seinen Blick mehrmals zwischen Margret und Jonas hin- und herwandern. Was für seltsame Kreaturen Gottes Schöpfung doch hervorbrachte – streitbare Weibsbilder, die sich für Juden und Mörder stark machten, und einen nordischen Medicus, der der beste Freund des Sultans Saladin zu sein schien und sich hervorragend in muslimischen Irrenhäusern auskannte. Nun erhob sich Jonas von seinem Hocker und ging hinüber zu Margret ans Fenster. „Du hast ihn ganz schön in Bedrängnis gebracht!“, sagte er nicht ohne Schadenfreude. „Wenn du wütend bist, kannst du ganz schön herrisch sein – wie eine wahre Königin von England. Das gefällt mir an dir!“ „Ich ertrage einfach seine Bigotterie nicht!“, gab die soeben Gekrönte verbissen zurück. Sie dachte an all die Augenblicke, in denen sie als Kind das jüdische Leben bei Hannahs Familie hatte erforschen dürfen. Hannah – sie hoffte, dass es ihr gut ging in Kairo und dass sie und ihr Volk dort endlich ohne Anfeindungen und Bedrohungen leben durften. Nicht sie und ihre Glaubensgenossen, sondern Roger von Howden und Konsorten verdienten die Hölle. Jonas wandte sich nun wieder an Roger, um sich beim König wieder in Erinnerung bringen zu lassen, dabei erläuterte er dem Schreiber auch die Einzelheiten seines Anliegens, damit dieser den König von der Dringlichkeit eines Gesprächs überzeugen konnte. Widerwillig stand der auf, versprach Jonas sein Möglichstes zu versuchen und ging ein zweites Mal in den Thronsaal. Als er eintrat und ruhig in der Tür darauf wartete, dass der König auf ihn aufmerksam wurde, waren dieser und seine Berater gerade in ein heftiges Streitgespräch über den weiteren Verlauf der Kriegshandlungen verstrickt. Während einige gemäßigte Stimmen dafür wa257
ren, mit den Muslimen endlich Frieden zu schließen und die Gefangenen ohne Bedingungen freizulassen, schlugen andere Berater ihm vor, die Gefangenen einfach umzubringen, um freie Hand für die geplante Fortsetzung ihres Feldzuges nach Süden zu haben. Diese überaus drastische Lösung schien dem König durchaus nicht zu widerstreben: Er wollte ein schnelles Ende in Akko, um sich seinem eigentlichen Ziel – der Rückeroberung Jerusalems – zuwenden zu können. Nun entdeckte Richard seinen Schreiber, der alles still mit angehört hatte. „Nun, beginnt der werte Medicus etwa, sich zu langweilen?“, bemerkte er spöttisch. „Das nicht, Edler König, er ist bemerkenswert geduldig. Aber er bittet Euch inständig zu bedenken, ob Ihr nicht doch als nächsten Schritt ein persönliches Treffen mit dem Sultan in Erwägung zu ziehen gedenkt. Er ist sich sicher, dass das einige der Streitpunkte aus der Welt schaffen und den Weg für einen dauerhaften Frieden freimachen würde.“ „Wie ich schon damals im Feldlager sagte – dieser Medicus ist ein Träumer!“, winkte Richard ab. „Ich kann mir nicht vorstellen, was ein Treffen bringen sollte, und weiß nicht, ob ich überhaupt noch Lust verspüre, den Sultan zu treffen. Wimmelt diesen Medicus ab, Roger, unsere Politik hat sich um wichtigere Dinge zu kümmern!“ „Was kann wichtiger sein als der Frieden?“, platzte Roger heraus, bereute aber sofort, seinen Mund nicht gehalten zu haben. Der König sprang auf und blickte ihn mit flammenden Augen an. „Die Rückeroberung Jerusalems! Das ist wichtiger als ein seidenweicher Friedensschluss und auch als alle sarazenischen und christlichen Gefangenen zusammen!“, herrschte er ihn an. „Wir wollen Jerusalem endgültig für die Christenheit zurückerobern und nicht mit dem Sultan Händchen halten! Ihr seht also, mein verehrter Herr Chronist, es wäre das Beste für Euch, Ihr würdet Euch ausschließlich um Eure Akten kümmern und das Kämpfen und Verhandeln uns überlassen. Bei Gott, bemüht Euch darum, Euch aus dem Ganzen herauszuhalten! Und schickt mir diesen Medicus zum Teufel!“ Roger verbeugte sich ergeben und trat langsam den Rückzug an, er musste erst überlegen, was er Jonas sagen wollte. Irgendetwas in ihm weigerte sich, das Ganze einfach auf sich beruhen lassen. Was 258
wäre, wenn er den König baldmöglichst allein aufsuchte, ohne Beisein all dieser parteiischen Berater, die ihm beständig ihre eigene Meinung als die seine einredeten? Dann würde es ihm sicher möglich sein, den König von der Ungeheuerlichkeit des geplanten Gefangenenmordes zu überzeugen – und ihn doch zu dem Treffen mit Saladin überreden zu können. Schließlich war Richard nicht nur ein unerbittlicher Kriegsherr, sondern ebenso für sein hohes politisches Geschick bekannt. Und dieses ihm angeborene Talent würde ein Massaker an der Garnison von Akko bei nochmaligem Nachdenken sicher nicht zulassen. Roger hatte seinen Entschluss gefasst, verließ den Thronsaal und versprach Jonas im Namen des Königs, sich um die Angelegenheit zu kümmern und ihm in Kürze Ort und Zeit des vorgesehenen Treffens mitzuteilen. Den Gedanken, dass er mit seinem Vorhaben scheitern könnte, schob er dagegen weit von sich. Jonas bedankte sich für seine Mühe und verließ mit Margret die Burg. Draußen auf der Straße aber sagte er zu ihr: „Ich weiß nicht, irgendwas gefällt mir an der Geschichte nicht. Ich kann einfach nicht glauben, dass der König Saladin wirklich treffen will.“ „Warte erst einmal ab, ob sie dir tatsächlich Ort und Zeit des Treffens mitteilen werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie danach noch einen Rückzieher machen.“ „Ich hoffe bei Gott, dass du recht hast! Aber ich hatte das Gefühl, er sagt nicht die Wahrheit“, meinte Jonas nachdenklich. *** Am nächsten Tag machte sich Jonas auf zum Templerquartier, um zu hören, wie das Gottesurteil zwischen Abos Mördern ausgegangen war. Da der Großmeister gerade nicht anwesend war, wurde er zum Seneschall geführt, der ihn höfl flich, aber distanziert empfi fing. Wie zu erwarten war, hatte Victor die beiden Söldner ohne Probleme umgebracht und saß nun angekettet im tiefsten Kerker des Ordens. „Was wollt Ihr sonst noch, Meister Thorgilsson?“, fragte der Seneschall. „Ich wollte Euch fragen“, begann Jonas, „ob Ihr es mir gestattet würdet, den Gefangenen Victor zu sehen.“ 259
„Ihr wollt ihn sehen? Wozu denn?“, wollte der Seneschall verständnislos wissen. „Es ist doch jetzt alles geklärt, und er ist da, wo er für den Rest seiner irdischen Tage bleiben wird. Was sollte ein Besuch im Kerker bringen?“ „Nun, Herr Seneschall, wenn Ihr Euch erinnert, hatte ich während des Prozesses erwähnt, dass Marjam des Moulins, die Victor vergewaltigt hat und die vor Akko in den Tod gegangen ist, es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu heilen. Meine Gefährtin Margret und ich haben lange darüber gesprochen, ob das überhaupt möglich sein könnte. Doch ich denke, dass Victor seinen Verstand noch nicht völlig verloren hat; also sollte es möglich sein, die Dämonen aus seinem Hirn zu vertreiben und ihm seinen Seelenfrieden wiederzugeben – soweit das in dieser Situation, in die er sich gebracht hat, überhaupt möglich ist. Es wäre jedenfalls Marjams Wunsch gewesen.“ „Ich weiß nicht, ob wir überhaupt wollen, dass er geheilt wird – schließlich ist er ein mehrfacher Mörder und hat sich unzähliger anderer Vergehen schuldig gemacht“, wandte der Templer ein. „Nein, Herr Medicus, ich glaube nicht, dass wir Euch diese Erlaubnis geben können. Auf jeden Fall müssen wir nach der Rückkehr des Großmeisters erst im Kapitel darüber diskutieren.“ „Und doch ist Euer Orden bekannt dafür, dass er seinen vom Weg abgekommenen Mitgliedern immer wieder mit Gnade begegnet, und auch Victor von Pontailler habt Ihr in Euren Reihen behalten, anstatt ihn aus dem Orden auszustoßen und dem Urteil eines weltlichen Gerichtes zu überantworten.“ „Herr Medicus. Ihr solltet doch durchaus wissen, dass wir eigene oder ehemalige Mitglieder wie Victor gerade deshalb nicht zum Tode verurteilen, damit sie im Kerker ausreichend Zeit und Muße haben, über die Schrecklichkeit ihrer Taten nachzudenken und durch wahre Reue doch noch den Weg zu Gottes Vergebung zu finden. Dafür sind seine Dämonen überaus hilfreich, denke ich, und ich möchte deren Unterstützung bei der Rettung der Seele des Victor von Pontailler nur ungern missen!“ „Er hat schon vor Gericht wahre Reue gezeigt!“, gab Jonas zu bedenken. „Was Ihr vorhabt, ist dagegen seelische Folter. Wenn das im Sinne des Ordens ist, kann ich natürlich nichts weiter ausrichten. Und doch bitte ich darum, die Angelegenheit noch einmal zu bedenken und in Eurem Kapitel zu besprechen. Wenn Ihr mich aber 260
vorab schon einmal zu Victor lassen würdet, könnte ich feststellen, ob eine Behandlung überhaupt sinnvoll wäre.“ „Und ihm damit unnötige und falsche Hoffnungen machen? Nein, Herr Medicus, das kommt überhaupt nicht in Frage. Zumindest nicht, bevor ich Euer Ersuchen dem Kapitel vorgetragen habe. Der Großmeister wird am morgigen Tag zurückerwartet, und dann werde ich sehen, was ich tun kann.“ Jonas bedankte und verabschiedete sich. Als er den Templerbezirk verließ, dachte er daran, dass Roger von Howden genau die gleichen Worte verwendet hatte – ich werde sehen, was ich tun kann. Ihm hatte Jonas ebenso wenig geglaubt. Er ärgerte sich über die Haltung des Seneschalls, der die Rettung von Victors Seele für das Jenseits für wichtiger hielt, als ihm seine restliche diesseitige Existenz etwas zu erleichtern. Sicherlich, als er nach Marjams schrecklichem Tod bei Saladin ihren Bogen zurückerbeten hatte, war er selbst dafür gewesen, Victor nicht einfach zu töten und ihm stattdessen viel Zeit zu geben, über seine Taten nachzudenken. Doch inzwischen war er sich dessen nicht mehr so sicher, wusste er doch aus eigener Erfahrung nur zu gut, wie es sich anfühlte, im dunklen Bauch des Wales gefangen zu sein und nur die eigenen Selbstvorwürfe als Gefährten zu haben. *** In diesen heißen Augusttagen sehnten alle den Einbruch der Nacht herbei, die wenigstens etwas Kühlung versprach. Die Freunde versammelten sich auf der Dachterrasse des kleinen Hofhauses, um dort etwas Ruhe zu finden oder sich auszutauschen. Roque saß in einer Ecke, den Kopf zwischen den auf die Knie gestützten Armen verborgen. Adam leistete ihm ruhig Gesellschaft, auch wenn er es schon lange aufgegeben hatte, den Trauernden mit Worten trösten zu wollen, wusste er doch, dass sein Lehrling froh darüber war, in seinem Schmerz nicht völlig allein zu sein. Jonas stand reglos an der südlichen Mauer der Terrasse und blickte zum nur wenige Häuserblocks entfernten Königspalast hinüber, der sich als riesiger schwarzer Klotz über den unzähligen kleineren Gebäuden erhob. Eine Flucht von drei schmalen Fenstern im Obergeschoss war erleuchtet, und Jonas wusste, dass sich dort die Gemächer König Richards befanden. Angestrengt sah er hinü261
ber, so als hoffte er, von dort irgendein Zeichen oder eine Nachricht vernehmen zu können. Schließlich trat Margret neben ihn. „Einen Penny für deine Gedanken!“ Jonas drehte sich zu ihr und entgegnete sorgenvoll mit einer Handbewegung in Richtung Palast: „Nicht für meine, für seine! Wenn ich nur wüsste, was Richard und seine Berater dort gerade planen – irgendwie habe ich eine üble Vorahnung, dass er sich nicht für den einzig richtigen Weg entscheiden wird.“ „Du hast alles getan, was dir möglich war“, antwortete Margret. „Alles Weitere liegt in Gottes Hand“ „Und in der von König Richard. Er ist ja bekannt als hervorragender Diplomat, aber manchmal siegt seine Heißblütigkeit über alle Vernunft. Wenn doch nur endlich Nachricht von Roger von Howden käme, damit ich wieder etwas tun kann!“, sagte Jonas ungeduldig. „Jeder Tag, an dem Richard länger überlegt, führt meiner Meinung nach nicht zu einem guten Ergebnis.“ Wider Erwarten kam bereits am nächsten Morgen die ersehnte Nachricht, dass die beiden Herrscher sich am übernächsten Tag treffen sollten. Wie meist bei solchen Gesprächen wollte man sich in einem eigens errichteten Zelt in der Ebene zwischen Akko und dem muslimischen Lager zusammensetzen und nicht im Hauptquartier eines der Beteiligten. Es wurde umgehend ein prächtiges Zelt errichtet, mit Bannern behängt und eilig alle weiteren Vorbereitungen getroffen. Die muslimische Delegation traf zur vereinbarten Zeit ein und ließ sich im Zelt nieder. Saladin wartete mit seinen Beratern, unter denen sich an prominenter Stelle auch Jonas befand, auf die Ankunft des englischen Königs. Als sie jedoch immer wieder vertröstet wurden, wurde Saladin zunehmend unruhig, und auch Jonas hatte kein gutes Gefühl dabei. Die vor dem Zelt postierten Wachen wurden aufgefordert, genauestens auf Anzeichen eines möglichen Hinterhaltes zu achten. Schließlich kündigte ein in Rot und Gold, den Farben König Richards, gekleideter Herold das baldige Eintreffen des Herrschers an. Im Zelt wandte sich der Sultan an Jonas. „Ich weiß, dass der König der Engländer ein sehr mutiger Kämpfer sein soll“, begann 262
er, „doch offenbar ist er nicht auch ein ebensolcher Diplomat. Ich traue ihm jedenfalls immer weniger.“ „Ja, ich denke, man kann den König, ohne ihm ein Unrecht zu tun, ein wenig unbeherrscht und wankelmütig in seinen Entscheidungen nennen. Aber ein hervorragender, wortgewandter Diplomat und tapferer Kämpfer ist er schon – wenn er denn will.“ Er hielt kurz inne. „Schließlich ist Richard dafür berühmt, dass er immer in vorderster Reihe und ohne Rücksicht auf sein Leben oder seine Gesundheit kämpft – dafür hat man ihm schon in jugendlichem Alter seinen Beinamen ‚Löwenherz‘ verliehen“, ergänzte Jonas. „Ein wirklicher Löwe ist tapfer, aber niemals tollkühn und unbeherrscht – das wäre zu riskant, und es wird auch dem König irgendwann noch einmal gefährlich werden. Übergroßer Mut hilft weder seinem Königreich noch seinen Untertanen – wenn er sich grundlos in Gefahr begibt und dabei vielleicht zu Schaden kommt. Meine Leute hätten ihn mehrmals beinahe ergriffen!“ „Ja“, schmunzelte Jonas, „aber eben nur beinahe!“ Auf einmal tat sich etwas vor dem Zelt, Unruhe kam auf – doch als der Vorhang am Zelteingang zurückgezogen wurde, dauerte es nur einen Augenblick, bis anstelle des Königs mitsamt seinem Gefolge ein einzelner unterwürfi figer, etwas verzweifelter Kleriker hereinkam – Roger von Howden. Er verbeugte sich ehrerbietig vor dem Sultan, grüßte Jonas mit einem knappen Kopfnicken und begann dann wort- und gestenreich dienernd zu erklären, warum der König doch nicht erschienen war. So entschuldigte sich Roger mehrfach dafür, dass der König leider im Moment nicht gewillt sei, sein Wort zu halten. Was er allerdings wohlweißlich verschwieg, war, dass nur er, Roger, überhaupt sein Wort gegeben hatte, nie aber König Richard selbst. Immer wieder hatte er Löwenherz bedrängt, bis dieser sogar damit gedroht hatte, ihn aus seinen Diensten zu entfernen und auf der Stelle nach England zurückzuschicken – was Roger durchaus recht gewesen wäre. Er wagte es auch nicht, dem Sultan mitzuteilen, dass Richard dem Plan, die Geiseln zu ermorden, durchaus mit Wohlwollen gegenüberstand, auch wenn er sich noch nicht endgültig entschieden hatte. Würde Roger das aussprechen, wäre er endgültig nur noch ein Verräter und hätte sein Leben verwirkt. Der Sultan dankte seinerseits Roger von Howden in wohlgewählten Worten für seine Mühe und trug ihm auf, dem König auszu263
richten, dass er Löwenherz noch zahllose göttliche Eingebungen wünsche, die sein weiteres Vorgehen im Heiligen Land bestimmen mögen. Anschließend bedeutete er Roger, dass er nun gehen dürfe. Der trat eilig den Rückzug an, allerdings ohne dem Sultan und seinem Gefolge den Rücken zuzuwenden, was dazu führte, dass er kurz vor dem Ausgang des Zeltes beinahe im Rückwärtsgehen über einen Teppich gestolpert wäre. Lange schwiegen nun der Sultan und seine Berater, und schließlich zitierte Jonas wieder eine Schrift aus seiner Heimat, die gut zu dieser Situation und der Person des Roger von Howden passte: „‚Ein unkluger Mann kann oft doch sagen Schlimmere Dinge als er weiß.‘ Wenn ich nur wüsste, was er vor uns verborgen hat – ich bin mir ziemlich sicher, dass im Thronsaal des Richard Löwenherz gerade etwas ganz anderes besprochen wird“, überlegte Jonas, und Saladin ergänzte: „Ja, ich hatte auch das Gefühl, dieser Schreiber spielt uns eine Komödie vor – eine Komödie mit ihm als Autor und einzigem Darsteller. Und ich fürchte, die Entscheidung des Richard Löwenherz wird uns nicht zusagen.“ Kurz darauf machte sich auch die muslimische Abordnung wieder auf in ihr eigenes Lager. Jonas, dem schon bei ihrem letzten Treffen aufgefallen war, dass sich die Gesundheit des Sultans weiter verschlechtert hatte, bot diesem an, ihn einmal genauer zu untersuchen – und diesmal stimmte Saladin ohne ein Widerwort zu. Schon seit einiger Zeit empfand er sich, der gerade erst das fünfzigste Lebensjahr vollendet hatte, als alter Mann. Weltmüde sei er, gestand er dem Medicus, und beinahe alles, was ihm früher Freude bereitet habe, rufe jetzt kaum mehr eine Regung in ihm hervor. Er befürchtete, schon bald sterben zu müssen – hatten doch die ständigen Entbehrungen der Feldzüge, gepaart mit einer außergewöhnlichen Mitleidlosigkeit des Herrschers gegen sich selbst, deutliche Spuren an seiner Gesundheit hinterlassen. Jonas riet ihm daher, sich selbst gegenüber um Einiges nachsichtiger zu sein – schließlich seien die Kreuzritter seine Feinde und nicht er selbst. Er bat Saladin außerdem, nach seinem Lehrling 264
schicken zu dürfen, der ihm seinen Medizinkoffer mit Medikamenten bringen würde. Der Sultan erlaubte es und ruhte nun, halb sitzend, halb liegend, erschöpft auf seinem Lager. Als Said wenig später hereintrat und sich ehrfürchtig vor dem Herrscher verneigte, glaubte der, seinen Augen nicht trauen zu können, und starrte den Jungen erstaunt an. „Wer ist dieser junge Mann?“, wollte der Sultan schließlich wissen, als er bemerkte, dass dem Jungen seine Aufmerksamkeit unangenehm wurde. „Das ist Said, mein Lehrling. Ich habe ihn vor vielen Jahren vor einer Bande Wegelagerer gerettet, die wahllos auf ihn einprügelten, weil er angeblich nicht gehorchte. Dabei kann er weder hören noch sprechen. Ich weiß nicht, ob das schon immer so war oder erst durch eine furchtbare Erfahrung so weit gekommen ist. Jedenfalls habe ich ihn bei mir aufgenommen, und jetzt wüsste ich nicht, was ich ohne ihn tun sollte“, berichtete Jonas und fügte neugierig hinzu: „Warum interessiert Ihr Euch so für meinen Assistenten, edler Sultan?“ „Ich ... ich glaube, er ist jemand, der schon seit sehr vielen Jahren verschollen ist – der Thronfolger eines Reiches, das nicht mehr existiert. Sein Vater wurde von einem meiner Gegner gestürzt, und die gesamte Familie umgebracht, nur die Leiche des ältesten Sohnes hat man in den Trümmern des Palastes nicht gefunden. Ich habe die Mörder bestraft, und sein Klientelreich ist jetzt ein Teil des meinen. Bittet den jungen Mann darum, sein Hemd auszuziehen und sich herumzudrehen, damit wir Gewissheit bekommen!“ Jonas erklärte Said den Wunsch des Sultans, und der tat, wie ihm geheißen. In der Mitte zwischen seinen beiden Schulterblättern war eine Tätowierung zu sehen, ein kleiner Halbmond. „Er ist es!“, rief Saladin nun aufgeregt und erhob sich fast von seinem Lager. „Das Zeichen des Mondes trugen alle Herrscher dieser Familie, und wann immer ein Kronprinz geboren wurde, tätowierte man es auch ihm ein“, erklärte Saladin, und Jonas bedeutete dem Jungen, sich wieder anzuziehen. „Wenn er es wünscht, werde ich ihm selbstverständlich das Reich seines Vaters zurückgeben, denn es ist nach Gottes und der Menschen Gesetz sein Erbe. Sagt ihm das, Yunus, ich bitte darum.“ Jonas wiederholte für Said des Sultans Worte. Dieser bekam riesige, erschrockene Augen und fasste seinen Herrn spontan an den Händen, verneigte sich vor ihm und bedeutete, dass er ihn nicht verlassen wollte: Der Sultan könne gerne auch weiterhin über die265
ses Reich, von dem er noch nie gehört hatte und nichts wisse, verfügen, wenn er nur bei Jonas im Spital bleiben dürfe. Saladin lächelte, als Jonas ihm dies übersetzte, zutiefst ergriffen von der Treue, die der junge Mann dem Medicus entgegenbrachte. „Wenn er es wünscht, soll es so sein“, sagte er dann. „Er hat sein Leben seinem Retter und eurer gemeinsamen Aufgabe verschrieben, und ich bin sicher der Letzte, der dagegen etwas hat.“ Müde legte er den Kopf auf die Kissen zurück, und Jonas empfahl ihm, jetzt eine Weile zu ruhen. Er reichte ihm das Medizinfläschchen für später und zog sich zusammen mit Said zurück, nicht ohne dem Sultan vorher einzuschärfen, bei der kleinsten Verschlechterung seines Zustandes sofort nach ihm schicken zu lassen. Dann entfernten sich beide leise aus dem Zelt. Noch am selben Abend erschien ein Bote bei Jonas, der eine kurze schriftliche Notiz von Robert von Sablé persönlich brachte. Darin wurde dem Medicus mitgeteilt, dass man seinem Ersuchen, den Gefangenen Victor von Pontailler zu behandeln, auf keinen Fall stattgeben könnte. Eine solche Behandlung würde vielmehr dem Ziel der Kerkerhaft, nämlich der Errettung der Seele des Gefangenen, entgegenstehen und wäre daher strikt abzulehnen. Jonas las das Papier mehrfach und wurde darüber so wütend, dass er es zusammenknüllte und in die hinterste Ecke des Zimmers warf. Dann stand er wortlos auf und stürmte aus dem Raum. Margret aber hob die Nachricht vom Boden auf und las sie selbst. Wie immer, wenn etwas nicht wie geplant verlief oder er bei einer Heilung scheiterte, war Jonas so aufgewühlt und wütend, dass er ziellos durch die Stadt streifte, ohne irgendetwas zur Kenntnis zu nehmen. Dabei hatte er doch mit nichts anderem gerechnet, weder im Falle der Templer noch in dem der Friedensverhandlungen. Schließlich setzte er sich, vom Laufen müde, unten am Hafen auf die Mole und beobachtete geistesabwesend den Sonnenuntergang. Es war schon dunkle Nacht, als er sich schließlich auf den Rückweg nach Hause zu Margret machte. Diese hatte sich inzwischen überlegt, was sie tun konnte, um ihn bei seiner Rückkehr ein wenig von der hohen Politik abzulenken. Da es schon spät war, entließ sie Said für die Nacht und zog sich 266
gedankenverloren aus. Es war auch jetzt noch unerträglich warm in der Unterkunft und sich nur im dünnen Leinenhemd aufs Bett zu legen, war überaus wohltuend. Gerne wäre sie aufs Dach gegangen, doch sie wollte in ihrem Zimmer auf Jonas’ Rückkehr warten. Als er endlich kam, begrüßte er sie nur knapp, ohne sie anzusehen, und ließ sich auf einen Hocker fallen. Er stützte den Kopf in die Hände und seufzte. Margret erhob sich und ging zu ihm, küsste sanft seinen verspannten Nacken und seine Stirn. Erst jetzt sah Jonas seine Gefährtin an – seine Augen wirkten unendlich erschöpft und traurig. „Du musst schlafen, mein Leben – aber noch nicht gleich!“, flüsfl terte sie und zog ihn in Richtung Bettstatt. Sie streifte ihm sein Gewand ab und streichelte ihn, bot ihm an, nun ihr das Hemd auszuziehen. Als er nicht reagierte, löste sie selbst dessen Verschluss und ließ das dünne Leinen zu Boden gleiten. Erst jetzt wurde auch Jonas aktiv und hob Margret über den niedrigen Stoffwall, den das Hemd um ihre Füße bildete, und legte sie aufs Bett. Als er sich nun auf sie legen wollte, rollte sie in gespielter Abwehr zur Seite und zog ihn aufs Laken neben sich. „Victor mag im Kerker sein und die Könige in ihren Gemächern, aber ich, ich bin hier, hier bei dir. Bitte vergiss für diese Nacht, was passiert ist, denn was morgen sein wird, weiß nur Gott allein!“ Sie küsste ihn leidenschaftlich und kletterte langsam auf ihn. „Ja, die Rolle der Königin von England passt gut zu dir!“, wisperte er atemlos. „Die solltest du öfter spielen!“ Margret hob den Kopf von seinem Hals und fragte: „Was hat es mit dieser Königin von England auf sich? Wer ist gemeint? Richards Mutter Eleonore? “ Jonas lachte und sagte: „Die Worte stammen aus einem Lied, dass ich vor Kurzem von einem deutschen Kreuzfahrer gehört habe – warte, wenn du mich Luft holen lässt, versuche ich, mich an die ganze Strophe zu erinnern ... ‚Wäre die Welt ganz mein vom Meer bis an den Rhein, auf alles wollte ich verzichten, wenn nur die Königin von England in meinen Armen läge! ‘“
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Nun lachten sie beide und rollten mit voll entfachter Leidenschaft über das Bett, bis keiner von beiden mehr an die unübersichtliche Lage in und um Akko dachte. Einmal mehr hatte sie ein Kokon des Vergessens in sich eingeschlossen, und sie nahmen für den Verlauf der Nacht nur einander wahr. *** An einem der folgenden Abende, als alle auf der Dachterrasse waren, erscholl plötzlich ein panisches Klopfen an der Vordertür. Einer der Diener öffnete und dachte schon, einen Bettler vor sich zu haben. Vor ihm stand eine in einen unförmigen, übergroßen Mantel gewickelte Gestalt, die für ihn unverständliche Laute brabbelte. Als der Fremde auch noch versuchte, sich am Diener vorbei ins Haus zu drängen, wurde dieser handgreiflich. fl Inzwischen war Jonas auf den Tumult aufmerksam geworden und wollte wissen, was geschehen war. „Ich muss Euch dringend sprechen, Herr Medicus, doch bitte lasst mich erst ins Haus!“, gab die vermummte Gestalt zurück. „Nehmt erst einmal Eure Kapuze ab, damit ich Euer Gesicht sehen kann – wer seid Ihr überhaupt?“ Der Mann sah sich voller Unruhe um und hob dann seine Kapuze ein klein wenig an. Zu sehen waren nun der tonsurierte Kopf eines Klerikers und ein Auge, das unzweifelhaft Roger von Howden gehörte. „Bitte, lasst mich ein!“, drängte dieser erneut, und Jonas bedeutete dem Diener, ihm den Weg freizugeben. Roger flitzte fl in den Innenhof und warf erleichtert den schweren, warmen Umhang ab. „Herr Medicus“, jammerte er, „ich habe schlechte Nachrichten!“ „Was ist passiert?“, erkundigte sich Jonas alarmiert. „König Richard hat mich aus seinen Diensten entlassen und schickt mich nach England zurück!“ „Und was hat das mit mir zu tun?“, fragte Jonas irritiert. „Nichts, nichts, da habt Ihr Recht, aber – ich muss Euch ebenfalls sagen, dass der König sich heute endgültig dazu entschieden hat, die Geiseln umbringen zu lassen. Bislang hat er immer nur überlegt, da dachte ich, die Gefahr wäre noch nicht so groß, aber heute ...“ „Und warum um alles in der Welt sagt Ihr das erst jetzt?“ 268
Roger wand sich, fand aber keine einleuchtende Erklärung. Stattdessen bemühte er sich, sich zu rechtfertigen „Eine solche Tat kann ich als Mann Gottes natürlich nicht gutheißen, vor allem wegen der Frauen und Kinder ...“ „Lasst mich raten“, begann Jonas, inzwischen bedeutend wütender, „wenn Euch der König nicht vor die Tür gesetzt hätte, hättet Ihr es noch immer nicht für nötig befunden, mir das zu berichten – Gewissenskonfl flikt hin oder her. Nicht wahr?“ Roger gab keine Antwort, bat aber unterwürfi fig, im Hause des Medicus für einige Zeit Unterschlupf zu bekommen, denn sicher waren die Wachen des Königs schon auf seinen Fersen. „Wenn das stimmt, was Ihr sagt, werden wir sicher nicht mehr lange hier sein – überlegt lieber, wie ich am schnellsten aus der Stadt komme!“, knurrte Jonas. „Ich bin mir sicher, die Tore werden jetzt dreifach bewacht und ich werde nicht einfach so hinausreiten können.“ „Hinausreiten?“, fragte Roger entgeistert. „Wollt Ihr Saladin etwa warnen?“ „Selbstverständlich will ich ihn warnen, was erwartet Ihr denn?“, gab Jonas erbost zurück. „Ich habe keine Minute zu verlieren, nun, da ich das weiß! Sagt mir, ob es noch eine andere Möglichkeit gibt, aus der Stadt zu kommen als durch die bewachten Tore!“ „Aber Herr Medicus, woher soll ich als Mann Gottes denn so etwas wissen?“ „Ihr standet genügend lange in direkten Diensten des Königs – sagt schon, ist da nie die Möglichkeit einer heimlichen Flucht aus der Stadt angesprochen worden? Strengt Euren Kopf an, ich bitte Euch!“ Roger bemühte sich, seine Fassung wiederzufinden. fi „Doch, Ihr habt Recht, jetzt fällt es mir ein“, meinte er schließlich nicht ohne Stolz. „Es gibt einen Geheimgang, der an der Stelle unter der Mauer hindurchführt, an der wir versucht haben, sie bei der Belagerung zum Einsturz zu bringen. Allerdings ist er sehr schmal, es passt kaum ein Mann hindurch.“ „Also ganz sicher kein Reiter?“ „Nein, sicher nicht.“ „Dann gibt es nur eine Möglichkeit!“, rief Jonas und rannte wieder auf die Dachterrasse hinauf. Roger aber blieb allein im unteren Hof stehen, genauestens beäugt von dem Diener, der ihm die Tür geöffnet hatte. 269
Nur wenig später ritt Meister Adam gemächlich auf seinem Schimmel zu einem der Stadttore und erklärte den verblüfften Wachen, dass er sich soeben entschlossen hätte, einen nächtlichen Wüstenritt zu unternehmen. Sie sollten nicht auf ihn warten, denn er würde erst im Laufe des kommenden Tages wieder zurückkehren. Da keine der Wachen Adam kannte oder mit dem Medicus Jonas Thorgilsson in Verbindung brachte, ließen sie ihn schließlich kopfschüttelnd durch. Jonas aber eilte zusammen mit Roger von Howden zu dem Geheimgang und zwang ihn, mit ihm zusammen hindurchzukriechen. Die beiden Männer warteten auf der anderen Seite der Mauer auf Adam, der in weitem Bogen um die Stadt herumgeritten kam, um nicht den Argwohn der Wachen zu erregen. Jonas ritt ebenfalls in großer Entfernung zur muslimischen Stellung auf den etwa vier Meilen entfernten Hügeln östlich vor Akko, und Meister Adam machte sich mit Roger auf den Rückweg durch den Gang. Der Schreiber würde heimlich zum Königspalast zurückkehren, dort seine Sachen packen und bis zum Auslaufen des nächsten Schiffes in der Stadt untertauchen. Adam hingegen würde mit den anderen gemeinsam ihre Abreise vorbereiten. *** Doch es war zu spät – Jonas erreichte das muslimische Lager erst nach Sonnenaufgang. Zu dieser Zeit wurden die muslimischen Gefangenen – Männer, Frauen und Kinder – in langen Reihen gefesselt aus der Stadt geführt und genau in der Mitte der Ebene zwischen Akko und den umgebenden Hügeln, auf denen noch immer die Reste von Saladins Lager standen, zusammengetrieben. Eine Vielzahl von Kreuzrittern erschien, angeführt von Richard Löwenherz persönlich, der an seiner Haltung und seinen Bannern deutlich kenntlich war und sich mit gezogenem Schwert dem Sultan präsentierte. Als die Muslime erfahren hatten, was der König vorhatte, hatte sich ein wütendes Geheul erhoben und eilig wurde eine Eingreiftruppe zusammengestellt – doch Löwenherz war schneller. Durch ein einziges Handzeichen gab er den Befehl, mit der Exekution zu beginnen, und seine Ritter machten sich ohne Umschweife mit Schwertern und Lanzen an ihr grausiges Werk. Kein Laut war aus den Kehlen der Unglücklichen zu hören, auch Frauen und Kin270
der blieben stumm. Niemand klagte oder flehte fl um Gnade. Waren zunächst noch Kampfschreie der Kreuzritter zu hören gewesen, so lag das gesamte Tal bald in gespenstischer Stille, die erst wieder aufgebrochen wurde, als eine Kompanie muslimischer Reiter von den Hügeln herab auf die Mörder zustürmte. Viele Kreuzritter wurden getötet, aber von den Gefangenen konnte kein Einziger gerettet werden. Es war der 27. Rajab 587, der 20. August 1191 – der Festtag des Heiligen Bernhard von Clairvaux. Jonas, Saladin und seine Berater hatten stumm und voll Entsetzen dem Morden zusehen müssen. „Ich habe von den Franken nichts anderes erwartet“, erklärte der Sultan zornig. „Löwenherz spricht, wie alle anderen auch, mit gespaltener Zunge, und genau das ist der Grund, warum ich es ursprünglich abgelehnt habe, mich mit ihm zu treffen. Nun hat er meine besten Soldaten, die über so lange Zeit tapfer Akko verteidigt haben, zusammen mit ihren Familien niedermachen lassen.“ Er schwieg eine Weile, um dann mit erhobener Stimme fortzufahren. „Bei Allah, dem Großen und Allmächtigen, von jetzt ab werden wir keinen einzigen Kreuzfahrer, egal welcher Herkunft, mehr am Leben lassen. Löwenherz soll bezahlen für die vielen Leben, die er so leichtfertig geopfert hat. Blut schläft nicht, Yunus, niemals, und das Blut, das der König heute vergossen hat, wird ihn bis in sein eigenes Grab verfolgen. Die ganze Welt wird die Folgen dieser unbeschreiblichen Untat sehen können.“ Jonas hatte Mühe, angesichts dessen, was er hatte mit ansehen müssen, die passenden Worte zu finden, fi und so warf er sich vor Saladin auf die Knie und bat ihn im Namen seiner redlichen Glaubensbrüder um Vergebung. „Ich habe Euch nichts zu vergeben, Yunus, denn Ihr seid für mich wie der Bruder, der kein Falsch kennt. Löwenherz aber und seine Anhänger dürfen nicht mehr auf Milde hoffen. Zwar bin ich sonst dagegen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, doch diese Tat hat weder Vorbild noch Beispiel. Meinen Soldaten wird es von jetzt an eine Freude sein, jedem Franken, den sie antreffen, den Kopf abzuschlagen. Euch aber, werter Yunus, rate ich mit den Euren das Kampfgebiet umgehend zu verlassen, denn ich kann nicht garantieren, dass jetzt noch ein jeder meiner Männer Euch erkennen wird. Gehabt Euch wohl in Tyrus, und möge Allah es Euch noch 271
lange gestatten, Euer barmherziges Werk weiterzuführen. Zum Dank für Eure Bemühungen schenke ich Euch und Eurer Gefährtin ein Anwesen in Banias. Es liegt auf halbem Weg zwischen Akko und Damaskus, und sobald wieder halbwegs Frieden eingekehrt ist, werden wir dafür Sorge tragen, dass Ihr und die Euren dort immer ungehinderten Zugang habt. Nehmt nun Eure Gefährtin und Euren Lehrling und vertraut Euch meiner Leibeskorte an, damit Ihr Tyrus erreicht, bevor die Schrecken der Hölle alle Franken verschlingen werden!“ Jonas verbeugte sich ehrerbietig vor Saladin und folgte einem der Offi fiziere, der sie mit seiner Truppe sicher nach Tyrus geleiten würde. Er würde vor der Stadt auf die anderen treffen, die das Hofhaus in Akko in der Zwischenzeit geräumt hatten. Im Schutz der muslimischen Truppen machten sie vor ihrem endgültigen Aufbruch nach Tyrus noch einen Halt an der Stelle, an der Marjam des Moulins begraben worden war. Zwar wäre die 40-tägige Trauerzeit erst am folgenden Tag zu Ende gegangen, aber angesichts der neuen Lage wollte niemand diesen einen Tag noch in Akko abwarten. Aufgewühlt zogen die Freunde anschließend gen Norden. Saladin aber würde dem Heer des Richard Löwenherz folgen, der sich binnen Tagesfrist auf der Küstenstraße in Richtung Jerusalem auf den Weg machte, und keinen der folgenden Tage ohne ununterbrochene Angriffe auf den König und sein Heer vergehen lassen. *** In Tyrus angekommen, waren alle noch wie betäubt nach den schrecklichen Ereignissen, die sie nicht hatten verhindern können. Besonders Margret war erregt, denn Richard Löwenherz, der sich an jenem Tag ohne Skrupel zum Schlächter gewandelt hatte, war schließlich der König ihres Volkes. „Richard ist tatsächlich der Sohn einer Dämonenkönigin, wie er so oft im Scherz behauptet hat!“, ereiferte sie sich unter Tränen. „Was kann Gutes an einem Menschen sein, der sich einer solchen Herkunft brüstet? Er und alle seine Verwandten stammen vom Teufel ab, und der Teufel wird sie irgendwann zu sich heimholen! Mögen die Dämonen schon jetzt ihre Messer wetzen, denn lange brauchen sie auf Löwenherz nicht mehr zu warten! Ich schäme mich für Richard und für ganz England. Sie haben der christlichen Welt 272
Schande gemacht, und ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist, diese Tat je wieder gutzumachen. Doch ich selbst bin Engländerin und damit mitschuldig, denn ich habe nichts getan, den Mord zu verhindern – ebenso wenig wie den Mord an meinen Freunden, den Juden von York. Jonas, ich muss nach England zurückkehren und versuchen, dort etwas zu verändern! Ich kann keinen Tag mehr hier in diesem verfl fluchten Land, das alle das Heilige nennen, bleiben!“ Mit zitternden Händen riss sie das Pilgerkreuz von der Schulter ihres Mantels, um es auf der Rückseite anzubringen, dann fiel fi ihr ein, dass sie zum Wiederanheften Nadel und Faden brauchen würde. Sie wandte sich ab, um hinauf in ihr Zimmer zu gehen. „Du bist außer dir vor Zorn, Margret, so wie ich es auch bin“, rief Jonas ihr hinterher. „Bitte lasse dir noch etwas Zeit, um alles genau zu überdenken. Was willst du denn erreichen, in Britannien, in einem Land, in dem eine Frau nicht einmal dann über Macht verfügt, wenn sie Königin ist? Denke doch an Richards Mutter Eleonore, die sicher keine schwache Frau ist – wie viele Jahre hat sie eingesperrt auf einer Burg verbracht, ohne Kontakt und Nachrichten von außen? Nicht einmal ihre Kinder hatten zeitweise Zutritt zu ihren Gemächern. Der Titel ist nicht nur im Lied ein Scherz!“, insistierte er. „Was willst du denn tun? Du rennst in dein Verderben, zu einer Zeit, wo du hier in Tyrus, bei mir im Spital, eine wirkliche Aufgabe hättest. Margret, sei vernünftig!“ Er folgte ihr, wollte sie an den Schultern fassen, ihre Augen fangen, doch sie stieß ihn heftig von sich und rannte nach oben. Jonas ließ sie nur ungern allein, und als er wenig später zu einem medizinischen Notfall gerufen wurde, befahl er den Torhütern, die Dame Margret unter keinen Umständen aus dem Spital zu lassen, egal, was sie ihnen erzählte – und ihn unverzüglich davon zu unterrichten, sollte sie es versuchen. Als er viel später wieder nach ihr sehen wollte, war sie dennoch verschwunden, und es half nichts, auch den letzten Winkel des Spitals nach ihr abzusuchen. Schließlich entdeckte Said ganz hinten an der Mauer des Kräutergartens eine merkwürdige Konstruktion aus Kisten und Hockern, die zuvor nicht dort gewesen war … Jonas war wie betäubt, als ihm klar wurde, dass Margret tatsächlich ihn und das Spital verlassen hatte. Ein eiligst zum Hafen geschickter Suchtrupp versicherte, dass dort im Augenblick kein Pil273
gerschiff lag und erst am folgenden Tag wieder ein Schiff aus Akko erwartet wurde. Von Margret war jedoch keine Spur zu finden gewesen. Wo sonst konnte sie hingegangen sein? Jonas zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, weinte, verfluchte fl Richard Löwenherz und England, überlegte verzweifelt, was er tun sollte. Said brachte ihm Wein, und nach einigen Bechern war Jonas fast so weit, alles hinzuwerfen. Margret wollte nicht bleiben oder ihm im Spital helfen, obwohl er sie mehrfach darum gebeten hatte? Gut, dann eben nicht! Dann sollte sie auch mit seinem Segen das Schiff besteigen und Königin von England werden, wenn sie nichts anderes mehr sehnlicher wünschte. Sein Kopf begann, sich zu drehen, und voller Wut und Hass auf sich selbst schleuderte Jonas den leeren Becher gegen die Wand, bevor er wie ohnmächtig auf seinem Lager zusammensank. Als er wieder erwachte und halbwegs seine flüchtigen Gedanken einfangen konnte, so gut es sein schmerzender Schädel zuließ, war tiefste Nacht. Jetzt würde er Margret sicher nicht finden, fi so sehr er es auch wünschte oder nur versuchte. Er zwang sich zur Ruhe und wartete auf die ersten Sonnenstrahlen, in deren Licht er sich zum Hafen aufmachen wollte. Nein, dieses Mal würde er nicht so einfach aufgeben, und wenn er Margret fest in ihren Mantel wickeln und entführen müsste, so wie es Victor in Akko getan hatte. Noch vor dem Morgengrauen verließ er das Spital. *** Nachdem Jonas sie alleingelassen hatte, hatte Margret schließlich das Kreuz hastig wieder an ihrem Mantel befestigt und ihr Bündel geschnürt – so wie sie es damals getan hatte, als sie voll Verzweiflung zur Heiligen Margarethe nach Antiochia flüchten fl wollte. Da ihr klar gewesen war, dass Jonas sie nicht so einfach gehen lassen würde, hatte sie einige Zeit gegrübelt, wie sie das Spital verlassen könnte, und endlich die rettende Idee mit der Mauer des Kräutergartens gehabt. So hatte sie sich ihre Behelfstreppe gebaut und sich unverzüglich auf den Weg zum Hafen gemacht. Noch immer schwirrte ihr Kopf voll wüster Gedanken, von denen der, das nächstbeste Schiff zu besteigen und Jórsalaland auf Nimmerwiedersehen zu verlassen, noch der harmloseste war. Mehr als einmal musste sie sich zwingen, nicht an Jonas zu denken, den zu verlas274
sen ihr noch vor wenigen Tagen wie eine Höllenstrafe vorgekommen wäre. Nein, ihre Aufgabe musste sein, England vor Menschen wie Richard Löwenherz, Roger von Howden oder Richard von Malebisse zu bewahren. Hatte nicht Jonas selbst davon gesprochen, dass sie nach ihrer Wiedergeburt aus sarazenischer Gefangenschaft ihre wahre Aufgabe erkennen müsste? Ihre Arbeit in Kräutergarten und Spital kam ihr nun im Vergleich dazu wie Spielerei vor, wie ein hübscher Zeitvertreib eines adeligen Mädchens. Sicher hatte sie keine Ahnung, wie sie ihr Ziel verwirklichen sollte, doch das würde sich sicherlich weisen, sobald sie einmal wieder englischen Boden unter den Füßen spürte. Am Hafen herrschte wie immer viel Betrieb und Geschäftigkeit, doch ein Schiff, geschweige denn eines, das nach Europa in See stechen sollte, war dort nirgends zu entdecken. So setzte sie sich direkt am Kai in eine halbwegs geschützte Ecke und versuchte, wie sie es sonst so gern tat, das Treiben der Menschen zu beobachten. Doch sie konnte sich auf nichts konzentrieren, und immer wieder ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken in weite Ferne abschweiften. Es wurde dunkel, einige weitere verhinderte Reisende suchten sich um sie herum Schlafplätze und irgendwann lehnte Margret müde ihren Kopf an die Bretterwand hinter ihr, und ehe sie sich dessen bewusst war, war sie eingeschlafen. Auf einmal erschien Margret der Hafen in anderes Licht getaucht, sie hörte seltsame Geräusche, die sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Ein großes Schiff lag plötzlich an der Mole und sein Name war – wie ein böses Omen – „Löwenherz“. Sie erhob sich wie in Trance, um hinauf an Bord zu gehen, doch bevor sie den ersten Schritt auf die Planke machen konnte, wich das Schiff auf wundersame Weise zurück und das Brett löste sich auf. Verwirrt machte sie sich nun auf die Suche nach einem der Matrosen und vergewisserte sich, dass dies tatsächlich das Schiff war, auf dem sie ihre Heimreise nach Britannien gebucht hatte. Der Seemann sah sie erstaunt an und bestätigte ihr, was sie wissen wollte, doch auch der nächste Versuch, das Schiff zu besteigen, endete wie der erste. Das Schiff wich zurück, diesmal weiter als vorher, und es war ihr, als hörte sie es leise lachen. Sie drehte eine weitere Runde auf dem Kai, immer das Schiff, das sich offensichtlich zur Abfahrt bereit machte, im Augenwinkel. Passagiere gingen jetzt reihenweise an Bord, und das plötzlich aufkommende Gerenne und Geschiebe machten ihr deut275
lich, dass es nun höchste Zeit wurde. Ein drittes Mal wollte sie die Planke betreten, um an Bord zu gehen, doch diese verschwand erneut und das Schiff schlingerte so sehr durch die plötzliche Rückwärtsbewegung, dass eine vorwitzige Welle Margrets Kleid durchnässte. Voller Angst überlegte sie, was sie jetzt noch tun könnte – und erwachte mit einem stummen Schrei aus ihrem Traum. Wieder einmal Traumgestrüpp, dachte sie müde, und während sie noch versuchte, ihre Erinnerungen zu sortieren, schlief sie wieder ein. Endlich war es Morgen geworden, doch ein Schiff mit Namen „Löwenherz“ war nirgends zu entdecken. Schon bald darauf näherte sich jedoch von Süden her, wie angekündigt, tatsächlich ein Schiff, das am Abend zuvor in Akko in See gestochen war. Margret beobachtete, wie es immer näher kam, unter dem gemauerten Bogen, der die Hafeneinfahrt begrenzte, hindurchsegelte und schließlich an der Mole festmachte. Nun galt es – gehen oder bleiben! Auf einmal war sie sich nicht mehr ganz so sicher. Wollte sie wirklich zurück nach England, und wo war eigentlich Jonas? Sie ertappte sich dabei, wie sie sich verstohlen umsah, und schalt sich im nächsten Moment selbst eine Närrin für ihre Dummheit. Sie blickte wieder auf das Schiff, doch da stand nun eine Person an der Reling, die ihre Augen augenblicklich auf sich zog. Roger von Howden! Es stimmte also, Richard hatte ihn aus seinen Diensten entlassen und zurück nach England geschickt. Roger von Howden war an Bord und wollte allen Ernstes auf diesem Schiff reisen? Wie sollte sie es schaffen, diesen Mann, der sie schon bei ihren wenigen bisherigen – kurzen! – Begegnungen zur Weißglut gebracht hatte, über Monate auszuhalten? Ihr Magen krampfte sich zusammen, und sie glaubte, sich übergeben zu müssen, erinnerte sich dann jedoch daran, dass sie seit Langem nichts mehr zu sich genommen hatte. Sicher hätte es mit dem Ablegen des Schiffes noch so lange Zeit, bis sie sich irgendwo etwas zu essen gekauft hatte – und sich darüber klar geworden war, ob sie tatsächlich jeden und jeden Tag Rogers gespielt unterwürfi figes Klerikergehabe vor sich sehen und hören wollte. Als sie sich umwendete und zu einer der Buden am Hafeneingang gehen wollte, blickte sie jedoch in ein anderes Gesicht, das ihr Herz dazu brachte, Purzelbäume zu schlagen. Jonas hatte sie endlich gefunden! Endlich, und, ja, sie war jetzt bereit, sich einzugestehen, dass sie nur darauf gewartet hatte. 276
„Komm, Königin von England“, sagte er und nahm ihre Hand. „Gehen wir nach Hause. Es gibt viel Arbeit im Spital.“ Margret wäre nie auf die Idee gekommen, ihm zu widersprechen. Doch Jonas hielt nach wenigen Schritten inne. „Augenblick, ich habe etwas vergessen“, sagte er und drehte sie mit dem Rücken zu sich. Mit einer schnellen Handbewegung riss er das Pilgerkreuz von ihrem Mantel und warf es ins Meer. „Das brauchst du jetzt nicht mehr“, sagte er und küsste sie zärtlich. „Lass uns endlich heimgehen, meine Perle.“ Sehnlich Verlangen hatt’ ich nach deiner Liebe und du nach meiner Minne. Nun ist gewiss, wir beide werden miteinander ewig leben.
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Epilog
Margret kehrte nie wieder in ihre alte Heimat zurück, hatte sie doch im Orient endgültig ihr Glück gefunden. Zusammen mit Jonas blieb sie in Tyrus und leitete mit ihm das Spital. Im Jahr nach den Ereignissen von Akko schenkte sie Jonas endlich den ersehnten Sohn, denn erst dann hatte ihr zerrissenes Herz endgültig Zeit, zu heilen. Nur selten ergingen sie sich später in Sehnsüchten nach ihrer nordeuropäischen Heimat. Ein nochmaliger Besuch in England oder auf Island war zwar immer wieder Gesprächsthema, wurde aber nie in Angriff genommen. Und eines Tages fanden beide, dass sie für ein solches Abenteuer nun wahrlich zu alt seien – so blieben sie, wo sie waren. Roger von Howden reiste tatsächlich nach England, genau wie Margret vermutet hatte. Dort verfasste er eine Chronik des Kreuzzugs ins Heilige Land. Über viele Vorkommnisse berichtete er wahrheitsgetreu, nur bei einigen wenigen ließen ihn die äußeren Umstände oder seine innere Einstellung die Realität ein wenig „korrigeren“. Richard Löwenherz zog am 22. August 1191 Richtung Süden, nachdem er erst nach einigen Schwierigkeiten seine Truppen mobilisieren konnte, wollten die doch nicht so schnell die gerade erst gewonnenen Annehmlichkeiten Akkos wieder aufgeben. Anfang September des Jahres 1191 gewann Richard gegen Saladin in der Schlacht bei Arsur, unternahm daraufhin aber entgegen aller Erwartungen doch keinen Angriff auf Jerusalem. Saladin jedoch starb schon zwei Jahre nach den Ereignissen vor Akko, denn die langjährigen Feldzüge hatten seine Gesundheit vor der Zeit aufgezehrt. Er, der viel lieber ein Dichter als ein Feldherr geworden wäre, starb in einer Nacht, in der einer seiner Untergebenen seinen Tod träumte. Am nächsten Morgen berichtete der voller Trauer: „Heute Nacht hat Yusuf seinen Kerker verlassen.“ 278
Nachwort
Von Wahrheit und Erfi findung (oder: die dichterische Freiheit) Vor vielen Jahren las ich zufällig im Werk von Baha ad-Din folgende Zeilen (239): „Ein weiterer aufmerksamer Soldat, der an diesem Tag die Gräben durchschritten hatte, erzählte mir, dass sich auf der anderen Seite der Brustwehr eine Frau, bekleidet mit einem grünen Mantel, befand, die auf uns mit einem hölzernen Bogen schoss und viele Muslime verwundete, bevor sie überwältigt und getötet werden konnte. Ihr Bogen wurde genommen und zum Sultan gebracht, der ganz eindeutig zutiefst von dieser Geschichte beeindruckt war.“ Seither hat mich das Motiv dieser „Frau im grünen Mantel“ nicht mehr losgelassen und ich überlegte, wer sie wohl gewesen sein könnte. Eine einheimische Christin? Eine Kreuzfahrerin aus dem Westen? So entspann sich nach und nach die hier geschilderte Geschichte, auch wenn nochmals deutlich zu betonen ist, dass nicht mehr über „Marjam“ überliefert ist als jene Zeilen. Ihre Familie ist frei erfunden, wozu ich dem bei Cresson gefallenen Johannitergroßmeister Roger des Moulins einen Bruder und eine andere Herkunftsregion angedichtet habe. Im Laufe meiner Recherche stellte ich fest, dass die bekannte englische Pilgerin Margret von Beverley, deren Vita von ihrem Bruder Thomas festgehalten wurde und überliefert ist, sich zum Zeitpunkt der Belagerung Akkos 1191 vor Ort befand. Das konnte ich natürlich nicht übergehen, und so passte ich ihre Lebensgeschichte den Erfordernissen eines Romans an und ließ sie mit Marjam schon in Jerusalem zusammentreffen. In der Realität kehrte Margret jedoch nach Europa zurück und trat für den Rest ihres Lebens in ein Kloster ein, einen Jonas hat es in ihrem Leben nie gegeben. Jonas Thorgilsson ist selbst nicht historisch belegbar, sondern aus vielen überlieferten Personen zusammengesetzt. Für das 12. Jahrhundert sind sowohl isländische Jerusalempilger als auch westliche Ärzte und Arabisch sprechende Vermittler zwischen Kreuzfahrern und Sarazenen belegt – im speziellen Falle der Belagerung 279
von Akko hatten Balian von Ibelin und Humfrey von Toron diese Rolle inne. Auch Victor von Pontailler hat nie existiert, sein großes Vorbild Bernhard von Clairvaux dagegen schon. Victor steht für all jene fanatischen Kreuzfahrer, die wider besseres Wissen in den Orient reisten, um zu morden und zu vergewaltigen – von ihnen hat es viel zu viele gegeben. Saladin und Richard Löwenherz sind dagegen weitgehend und teils wortwörtlich so in den Quellen überliefert – bewusst wurden auch einige wörtliche Zitate in den Roman eingebaut, wenn auch gegebenenfalls in verändertem Kontext. Ihre Charakterisierung dürfte daher der Wahrheit recht nahekommen. Der Pogrom in York 1190 hat genau so stattgefunden, wie ich es geschildert habe, doch ob Margret je mit Mitgliedern dieser Judengemeinde befreundet war, lässt sich nicht belegen. Roger von Howden und der Jerusalemer Patriarch Heraclius sind beides historische Personen, auch wenn viele der hier geschilderten Ereignisse, bei denen sie eine Rolle spielen, erfunden sind (Mordkomplott – es ist nicht bekannt, wer die Gerüchte um Heraclius und Agnes von Courtenay in Umlauf brachte). Sie beide ersuche ich genauso wie Balian und Humfrey um Nachsicht, sie zum Opfer meiner dichterischen Freiheit gemacht zu haben.
280
Träume sind Weissagungen ähnlich, und die, die sie beobachten, sind bekannt dafür, Weissagung zu betreiben. Deshalb kann man Glauben nicht in Träumen gewinnen, wie wahr sie auch scheinen mögen. Wer immer seine Hoffnungen in Träume oder Weissagungen legt, hat kein vollkommenes Vertrauen in Gott, und so ein Mensch ist wie einer, der dem Wind hinterherrennt oder versucht, einen Schatten zu fangen. Falsche Weissagungen und betrügerische Träume sind beide sinnlos. Wir sollten nicht an Träume glauben, damit wir nicht doch zufällig von ihnen betrogen werden. Möge unsere Hoffnung immer fest in Gott sein, und mögen wir uns überhaupt nicht um Träume kümmern. Es ist mehr als angebracht, dass wir unsere Hoffnung in Gott setzen und in Träume kein Vertrauen haben. Ich ermahne dich dahingehend, liebste Schwester: Lass deinen Geist sich nicht mit Träumen oder Weissagungen beschäftigen, sondern nur treu mit dem allmächtigen Gott. Ehrlich, solltest Du Träumen oder Weissagungen folgen, wirst du schnell getäuscht werden. Verabscheue Weissagungen und Träume dein ganzes Leben lang, und richte alle deine Hoffnung voll und ganz auf die Vorsehung Gottes aus, dann werden dir sowohl in diesem als auch im zukünftigen Leben günstige Dinge geschehen. Thomas von Froidmont/von Beverley (zugeschrieben), Liber de odo bene vivendi, ad sororem, PL 184, col. 1301
281
Personenverzeichnis (* historisch belegte Personen)
* Margret von Beverley
englische Jerusalem-Pilgerin, neugierig und weitgereist
Marjam des Moulins
Tochter eines Lateiners und einer Muslima, Bogenschützin
Jonas Thorgilsson
aus Island stammender Bürger von Tyrus, Händler und Medicus, aber auch Mordermittler und Diplomat
Victor von Pontailler
Templer mit einigen dunklen Flecken in seiner Biografie. fi Fanatischer Anhänger des Bernhard von Clairvaux und Muslimenhasser
Abo des Moulins
Marjams Großvater, Vasall und Freund der Familie von Ibelin, aber auch Saladins.
* Saladin
Sultan von Ägypten und Syrien
* Richard Löwenherz
König von England
* Roger von Howden
Sekretär Richards, Chronist, Kleriker
Hugo und Eirik
zwei Söldner und gedungene Mörder
Hamza des Moulins
Marjams Mutter, Muslima
Meister Adam
oberster Steinmetz an der Grabeskirche
Roque
sein Lehrling und Marjams Verlobter
282
Said
taubstummer Lehrling des Medicus Jonas
Ida
Weberin aus Köln, Freundin Margrets
Fiamma
Schankmädchen aus Genua, Freundin Margrets
Hannah
Jüdin aus York, Überlebende des Pogroms vom März 1190
Gautier
Vorarbeiter der Familie des Moulins
Henry
Sohn eines Gutsherrn, Schulfreund Margrets
* Sibylla von Beverley
Margrets Mutter
* Balian von Ibelin
Verteidiger Jerusalems, Grundherr und Freund der Familie des Moulins, Gerichtsvorsitzender
* Robert von Sablé
Großmeister vom Tempel
* [Name nicht überliefert]
Seneschall vom Tempel
* Heraclius
Patriarch von Jerusalem, Auftraggeber des Mordes an Abo des Moulins
* Humfrey von Toron
verhinderter Gegenkönig und Gerichtsherr
* Joscius
Erzbischof von Tyrus, Gerichtsherr
Magister Gregorius
Vikar des Joscius, Gerichtsherr
Buraq
Araberstute, Geschenk Saladins an den Tabib Yunus, benannt nach dem mythischen Reittier des Propheten Mohammed 283
Glossar
Althing
im mittelalterlichen Island Zusammenkunft der Sippen, Gerichtstag
Amir
hoher arabischer Offi fizier
Aquädukt
antike Wasserleitung
Basilisk
gekröntes Fabeltier, zusammengesetzt aus Hahn und Schlange
Bruche
mittelalterliche Unterhose
cingulum
lat.: Gürtel, hier schrankenförmige Umzäunung des Kampfplatzes beim Gottesurteil (daher: „in die Schranken treten“)
Dispens
offi fizielle Freisprechung von einem Gelübde, etwa durch den Papst
Dinar
arab. Währung
Djellaba
weites arab. Obergewand
Gambeson
wattierte Jacke, zum Schutz unter dem Kettenhemd getragen
Habit
Ordensgewand
Haute Cour oberster Gerichtshof im Königreich Jerusalem Kapitel
Versammlung von Ordensmitgliedern
Kapitell
verzierte Bekrönung einer Säule
284
Konvent
Kloster- oder Ordensgemeinschaft
Magister
Studierter, Lehrer
Mandragora Alraunwurzel marelles
Mühlespiel
Motte
Burgturm
Naft
„Griechisches Feuer“, selbstentzündliche Brandbombe
Outremer
wörtl. „jenseits des Meeres“, frz. Bezeichnung für die Kreuzfahrerstaaten im Orient
Paternoster
(lat.) Vaterunser (Gebet)
Patriarch
Kirchenoberhaupt mit Rechtsgewalt
Pogrom
Massenausschreitung gegen Minderheiten jeder Art
poulain/-ee
im Orient geborene Nachfahren westlicher Kreuzfahrer
Präzeptur
klösterliche Niederlassung
Samit
urspr. sechsfädiges Seidengewebe, nicht zu verwechseln mit Samt, einem Florstoff mit aufgeschnittenen Schlaufen, der frühestens im 13. Jh. aufkam
scacchis
Schachspiel
Seneschall
eigentlich hoher Hofbeamter, hier Stellvertreter des Templergroßmeisters
Sererland
China
Surcot
ärmelloses Oberkleid 285
Tabib
arab. für Arzt, Medicus
Tatzenkreuz gleichseitiges Kreuz mit geschweiften Enden Tempel
1. der jüdische Tempel in Jerusalem; 2. Hauptquartier des Templerordens
Tesserae
Mosaiksteine
Thebais
Landschaft in Ägypten
Wadi
zeitweise ausgetrocknetes Flusstal
Wergeld
festgesetzte Summe, die als Entschädigung bei Totschlag bezahlt werden musste
Zisterne
Sammelbecken für Regenwasser
286
Zeittafel
ca. 1130
Bernhard von Clairvaux verfasst „Das Lob der neuen Miliz“
1138
Saladin wird in Tikrit geboren, im heutigen Irak
1139
Bulle Omne datum optimum bestätigt Ordensprivilegien der Templer
ca. 1140
Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, lässt erste Koranübersetzung anfertigen
1146–1174
Herrschaft Nureddins; Saladin, zu der Zeit Statthalter in Ägypten, wird sein Nachfolger
28. 10. 1174
Saladin übernimmt die Macht in Damaskus
1. 3. 1146
Papstbulle Quantum Praedecessores: Aufruf zum II. Kreuzzug, verspricht Ablass für alle Sünden
1146–1147
Kreuzzugspredigten Bernhards von Clairvaux
8. 9. 1157
Geburt Richards Löwenherz in Oxford
1161–1185
Balduin IV. von Jerusalem
10. 9. 1172
Saladin hebt das Fatimidenkalifat auf
287
1174
Tod Nureddins und Amalrichs I. von Jerusalem, Herrschaftsantritt sowohl von Saladin als auch von Balduin IV.
Nov. 1177
Sieg Balduins IV. über Saladin am Mont Gisard/Ramla
1179
Sieg Saladins über Balduin IV. bei Mardj Uyun
1185–1189
Gerhard von Ridefort aus Flandern Templergroßmeister
Karwoche 16. 3. 1185
Tod Balduins IV.
1186
Tod Balduins V., Nachfolger auf dem Thron werden seine Mutter Sibylla und ihr Gatte Guy von Lusignan
1. 5. 1187
Schlacht von Cresson
Ende Juni 1187
Heerschau Saladins südöstlich des Sees Genezareth, 30 000 Mann; gleichzeitig sammelt sich ein Kreuzfahrerheer von 20 000 Mann nordwestlich des Sees
1187
Angriff Saladins auf Tiberias
3. 7. 1187
Marsch des Kreuzfahrerheers auf Tiberias, muss bei Hattin übernachten
4. 7. 1187
Schlacht von Hattin
8. 7. (10.?) 1187
Akko kapituliert und liefert sich Saladin aus
6. 8. 1187
Fall von Jaffa und Beirut
2. 10. 1187
Fall Jerusalems
288
Herbst 1187
Richard Löwenherz nimmt das Kreuz
28. 8. 1189
Beginn der Belagerung Akkos
1189–1199
6.7. Heinrich II. stirbt in Chinon, Richard Löwenherz König von England
3. 9. 1189
Krönung von Richard Löwenherz in Westminster, antijüdische Ausschreitungen
11. 12. 1189
Einschiffung Richards zum Kreuzzug
Feb. 1190
antijüdische Unruhen in York
4. Juli 1190
Richard Löwenherz und Philipp von Frankreich brechen gemeinsam von Vezelay aus zum III. Kreuzzug auf
Winter 1190
Winterlager beider Heere auf Sizilien
Mai/Juni 1191
Richard erobert Zypern, 12.5. Heirat Richards mit Berengaria
1. 6. 1191
Gefangennahme von Isaak Komnenos
5.6. 1191
Richard verlässt Zypern
8.6. 1191
Ankunft Richards in Akko bei den fränkischen Belagerern, Philipp war wenige Wochen zuvor eingetroffen
15.–23.6. 1191
Erkrankung Richards
5. 7. 1191
Richards Männer schlagen Bresche in Mauern von Akko
6. 7. 1191
ergebnisloser Angriff der Franken
12. 7. 1191
Rückeroberung Akkos durch die Franken 289
20. 8. 1191
Ermordung von 2700 sarazenischen Geiseln
22. 8. 1191
Franken brechen Richtung Haifa auf
(5.?) 7. 9. 1191
Sieg Richards über Saladin bei Arsuf
Herbst 1191
Richard zieht nach Jerusalem, bleibt aber einen Tagesmarsch vorher stehen
Anfang 1192
Richard beschließt Rückzug an die Küste
4. 7. 1192
Kreuzfahrer verzichten endgültig darauf, Jerusalem anzugreifen
2. 9. 1192
Vertrag von Jaffa – Waffenstillstand zwischen Saladin und Richard für drei Jahre und drei Monate, Sicherheitsgarantie für Pilgerwege
Okt. 1192
Richard verlässt Palästina, schifft sich am 9.10. in Zypern ein, wird am 21.12. nahe Wien von Leopold von Österreich gefangengenommen und an Heinrich VI. auf die Burg Trifels überstellt
28. 2. 1193
Tod Saladins in Damaskus
6. 4. 1199
Tod Richards nach Pfeilschuss in Aquitanien
290
Ausgewählte Literatur
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293
Mein Dank gilt: Sandra Fortner, die mich vor zehn Jahren an den See Genezareth und nach Jerusalem holte; André Schulze für die technische Beratung in Punkto Schwertkampf und Schach; Dave Sadler, Yorkshire nativee und Computer-Notdienst.
294
295 Seiten
Umschlagabbildung: Reenactment, polnische Kriegerin, 13.–15. Jh.; Foto © gettyimages/Aaron Ansarov
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