Theorie der Singularitäten: Eine Lektüre von Giorgio Agambens Die kommende Gemeinschaft 3958322344, 9783958322349

Giorgio Agamben, einer der meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart, galt schon bald nach Erscheinen seiner ersten Bü

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Table of contents :
1. Erläuterung
1.1 Vorrede
1.2 Kontexte
1.3 Methode
2. Die kommende Gemeinschaft
2.1 Beliebiges
2.2 Vom Limbus
2.3 Beispiel
2.4 Statt-Finden
2.5 Principium individuationis
2.6 Agio oder das Nächstliegende
2.7 Maneries
2.8 Dämonisch
2.9 Bartleby
2.10 Irreparabel
2.11 Ethik
2.12 DIM Strumpfhosen
2.13 Aureolen
2.14 Pseudonym
2.15 Klassenlos
2.16 Au?en
2.17 Homonyme
2.18 Schechina
2.19 Tiananmen
3. Das Irreparable
3.1 I. Fragment
3.2 II. Fragment
3.3 III. Fragment
4. Tiqqun de la noche - Postille 2001
5. Schlusswort
6. Schema
Literaturverzeichnis
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Theorie der Singularitäten: Eine Lektüre von Giorgio Agambens Die kommende Gemeinschaft
 3958322344, 9783958322349

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Hendrik Kühn

Theorie der Singularitäten Eine Lektüre von Giorgio Agambens ›Die kommende Gemeinschaft‹

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Hendrik Kühn Theorie der Singularitäten

Hendrik Kühn

Theorie der Singularitäten Eine Lektüre von Giorgio Agambens ›Die kommende Gemeinschaft‹

VELBRÜCK WISSENSCHAFT

Erste Auflage 2020 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2020 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-234-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhaltsverzeichnis

1. Erläuterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.1 Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1.2 Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 1.3 Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2. Die kommende Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . 16 2.1 Beliebiges . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.2 Vom Limbus . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.3 Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.4 Statt-Finden . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.5 Principium individuationis . . . . . . . . . . . 33 2.6 Agio oder das Nächstliegende . . . . . . . . . . 37 2.7 Maneries . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 2.8 Dämonisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2.9 Bartleby . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2.10 Irreparabel . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.11 Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 2.12 DIM Strumpfhosen . . . . . . . . . . . . . . 51 2.13 Aureolen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.14 Pseudonym . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.15 Klassenlos . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 2.16 Außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2.17 Homonyme . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 2.18 Schechina . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 2.19 Tiananmen . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 3. Das Irreparable . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.1 I. Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3.2 II. Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 3.3 III. Fragment . . . . . . . . . . . . . . . . 85 4. Tiqqun de la noche – Postille 2001 . . . . . . . . . . 88 5. Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 6. Schema . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 99

Für jene, die aus dem eigentlichen Leben verbannt sind oder benachteiligt im uneigentlichen, weil sie nicht die Bedingungen falscher Zugehörigkeiten erfüllen.

1. Erläuterung 1.1 Vorrede Mit dem Erscheinen seines Buches Homo Sacer 1995 (auf Deutsch erst sieben Jahre später: Agamben 2002) wurde Giorgio Agamben zu einem der meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart. Sein Versuch, Michel Foucaults Konzept der Biopolitik – Machttechniken, die auf die Regulierung der gesamten Bevölkerung als biologische Körper mit Blick auf Geburten- und Sterblichkeitsrate, Alterskurve, Gesundheitszustand usw. zielen (vgl. Foucault 1977) – weiterzudenken, wurde nicht nur in philosophischen Diskursen aufgegriffen, sondern auch in den Feuilletons. Während dort Agambens streitbaren Thesen und Schlagwörter, wie der Ausnahmezustand, das nackte Leben und die archaische römische Rechtsfigur des homo sacer, die er in Häftlingen der Lager und Flüchtlingen in Abschiebegefängnissen verkörpert sieht, in das Zentrum der Diskussion rücken, bleibt sein umfangreiches Werk im Hintergrund. Hinzu kommt, dass sein Denken oft undurchsichtig erscheint, auch wenn es um die Ableitung einer systematischen Theorie und Praxis geht. Dies liegt weniger daran, dass eine stringente Argumentationsstruktur fehlt, sondern vielmehr an einer gewissen Verborgenheit seines ontologischen Forschungsgegenstands. Das Fundament seiner Philosophie hat Agamben allerdings vor genau dreißig Jahren, in einem 1990 erschienenen Buch (die erweiterte Fassung ist von 2001, auf Deutsch: Agamben 2003) zusammengeführt, ausgedeutet und zugleich mit einer ungewöhnlichen Darstellung demonstriert: Die kommende Gemeinschaft heißt der Schlüsseltext, der in seinem Gesamtwerk – insbesondere in Deutschland – unterbewertet ist. Sicherlich nicht grundlos, denn das Buch besteht aus kryptischen Essays und Fragmenten in einer ganz eigenen Idee der Prosa, die den Zugang erschwert. Der Text ist aber auch subtil und kraftvoll, eigen und grundlegend zugleich. Sein Kern wird erst sichtbar, wenn die Worte, die ihn beschreiben, weichen: Es ist eine Theorie der Singularitäten, bei der sich der Philosoph der Haltung des Wedernochs verschreibt und ein Denken jenseits aller gängigen Vorstellungen denkt. Unter den mir bekannten Ausgaben trägt einzig die französische einen Untertitel, und dieser leitet ebendiese Lesart an: Théorie de la singularité quelconque – Theorie der beliebigen Singularität. Ein anderer Untertitel könnte heißen: Ontologie des beliebigen Seins. Da das italienische Original auf einen Untertitel verzichtet, muss man den französischen als einen editorischen Kommentar verstehen. Im vorliegenden Buch nehme ich diese Perspektive ein und werde Die kommende Gemeinschaft mit Blick 9

auf die Theorie der beliebigen Singularität lesen. Dabei braucht meine Arbeit nicht in den Vordergrund zu rücken, sondern soll vielmehr wie eine ordnende Kraft den Text für den Gebrauch weiter öffnen. Ich will die Idee, diese Theorie und ihre Praxis, diese Art der Betrachtungs- und Argumentationsweise dokumentieren und gehe dabei chronologisch vor, nicht nur weil das gewöhnlich die Vorgehensweise einer Lektüre ist, sondern weil hier Form und Inhalt eine Einheit bilden, die sich nicht ohne Verlust brechen lässt. Die italienische Originalausgabe umfasst neunzehn Kapitel und darauf folgen, sowohl in der erweiterten italienischen Fassung von 2001 als auch in der deutschen Ausgabe, ein dreiteiliges Fragment und Agambens Nachwort. Die späte Hinzufügung widerspricht auf den ersten Blick der Idee, dass Form und Inhalt eine geschlossene Einheit sind, aber das Fragment kommt erst so zu seiner Vervollständigung. Und das Nachwort? Es beweist, weil es zugleich nahtlos an den Gesamttext anschließt, aber auch jedem Buch Agambens nachgestellt werden könnte, dass Die kommende Gemeinschaft nicht weniger ist als ein Schlüssel zu Giorgio Agambens komplexem Denken.

1.2 Kontexte Mir ist bewusst, dass Die kommende Gemeinschaft in einem Denken, einer Tradition und einem Kanon von Literatur zu Hause ist, die das Buch weitestgehend verschweigt. Für den, der denkerisch aus diesen Zirkeln kommt, ist die Anwesenheit des Kontextes sicherlich unübersehbar, aber in dem Buch hat Agamben – im Gegensatz zu den vorausgegangen Werken Der Mensch ohne Inhalt (Agamben 2012), Stanzen (Agamben 2005c), Kindheit und Geschichte (Agamben 2004) und Die Sprache und der Tod (Agamben 2007) – auf Literaturangaben wie auf Fußnoten verzichtet. Der Grund kann nur sein, dass der Text sich selbst genügen soll. Es steht alles drin. Dennoch will ich auf Kontexte hinweisen, die zum Teil bereits im Titel anklingen: Erstens hat Die kommende Gemeinschaft einen Platz im aktuelleren philosophischen Diskurs um die Idee der Gemeinschaft. Dieser begann 1983 mit Jean-Luc Nancys Artikel »Die entwerkte Gemeinschaft«, Maurice Blanchot schrieb noch im selben Jahr Die uneingestehbare Gemeinschaft, und Agambens Text folgte dann sieben Jahre später. In Deutschland ist die Diskussion stark verspätet angekommen und bis heute wenig wahrgenommen worden. Während Nancys Artikel »Die entwerkte Gemeinschaft« 1988 in seinem Buch Die undarstellbare Gemeinschaft (Nancy 1988) erschien, folgte Agambens Buch erst 2003 und Blanchots sogar weitere vier Jahre später (Blanchot 2007). 10

Zweitens knüpft die Idee des Kommenden an die Idee vom Ende der Geschichte, dem Messianismus, an. Dieser sollte dabei insbesondere mit Walter Benjamin – der Agamben wie kaum ein zweiter beeinflusst hat –, Jacob Taubes und Gershom Scholem gedacht werden. Elementare Texte dazu sind beispielsweise Benjamins Aufsätze Über das Programm der kommenden Philosophie, Theologisch-politisches Fragment (beide in: Benjamin 1991b) oder Über den Begriff der Geschichte (in: Benjamin 1991a), Taubes Vorträge über Die politische Theologie des Paulus (Taubes 2003) sowie Scholems Aufsatz Walter Benjamin und sein Engel (in: Scholem 1994). Drittens ist das Buch auch eine Antwort auf die politischen Theologien Carl Schmitts und Taubes, wenn ebenso nicht explizit. In seinem Text enthebt Agamben das universelle Prinzip der Macht, ist doch der Messianismus die Überwindung des Gesetzes und löst damit die geheime Nahtstelle zwischen Theologie und Politik auf, um mit Taubes Worten zu sprechen. Theologie und Politik der Gegenwart, die hier nur wie Konstruktionen von Zugehörigkeiten erscheinen, gerinnen schlicht zu einem Wie, in dem die Zugehörigkeiten selbst ortlos werden. Für die genannten Kontexte spielen indes Alexandre Kojèves Thesen vom Ende der Geschichte eine entscheidende Rolle, die er in zwei Texten bespricht: Mit einer Rezension von drei Romanen Raymond Queneaus (siehe Die Romane der Weisheit, in: Kojève 2007 und Queneau 1985, 1989, 2003), in der Kojève in den Romanfiguren, insbesondere im untätigen Strolch, dem voyou désœuvré, die Menschen vom Ende der Geschichte entdeckt, gab er Blanchot einen Anstoß, Die uneingestehbare Gemeinschaft zu schreiben. Die Idee des désœuvré, des untätigen bzw. des entwerkten Menschen, steht daher auch bei Nancys entwerkter Gemeinschaft (franz. communauté désœuvrée) im Mittelpunkt. Der zweite Text Kojèves ist genau genommen nur eine Fußnote in der zweiten englischen Ausgabe seiner Hegel-Lektüre, die Taubes als die Grundlegung des universellen Posthistoire zu erkennen meinte (siehe dazu: Kojève 1980 und Taubes Aufsatz Ästhetisierung der Wahrheit im Posthistoire, in: Kojève 2007). Agamben denkt das Messianische mit einem messianischen Thema und nicht mit einem bloßen des Posthistoires, denn er ist im Grunde ein Apokalyptiker, der die Geschichte als Erlösungsgeschichte schreibt. Das Messianische stellt sich hier als die zu erwartende Erlösung der Menschheit dar. Ihr Dasein und Zusammensein nennt der Titel Die kommende Gemeinschaft, aber deren Erlösung zeigt sich jenseits von Verdammnis und Heil. Das Ende der Geschichte meint zwar auch die strukturell vollständige Erfahrung des Wesens des Westens – der Tag, an dem in der Geschichte nichts Neues mehr passieren kann –, aber für den Jüngsten Tag legt Agamben in seinem Buch einen Denkansatz vor, der dem erlösten Menschen wie folgt entspricht: Statt das Jenseits von unserem Diesseits 11

in Verdammnis oder Heil aufzulösen, denkt er jenseits von Verdammnis und Heil, holt das Jenseits ins Diesseits und beendet damit diese unsere Geschichte. Das Resultat ist ein Schabbat der Menschen in einer Gemeinschaft, die in ihrem jenseitigen Diesseits von unauslöschlicher Freude erfüllt ist. So lässt sich die Idee der kommenden Gemeinschaft in aller Kürze zusammenfassen. Das Rekonstruieren aus Kontexten heraus ist eine gängige Herangehensweise, die das Dialogische der Autoren/innen und ihre Denkgeschichte betont. Bei Agamben müsste man an dieser Stelle noch Martin Heidegger, Hannah Arendt und Michel Foucault, ganz zentrale Figuren in seinem Denken, betrachten. Und dann sind zentrale Einflüsse wie Franz Kafka und Jacques Derrida noch nicht erwähnt. Ebenso nicht Guy Debord und seine Gesellschaft des Spektakels oder eine ganze Reihe von griechischen Philosophen der Antike sowie mittelalterlichen Scholastikern. Beim Lesen kann man all diese Kontexte mitdenken, immer wieder blitzen sie auf, gerissen aus ihren eigenen Kontexten und gefärbt in Agambens Denkton, denn im Mittelpunkt stehen nicht Autoren/innen, sondern Ideen. Natürlich könnte Agamben jedes Wort und jeden Satz von Die kommende Gemeinschaft auf Konferenzen oder in Interviews erklären, explizit auf vorangegangene Bücher hinweisen, in denen er sich zu gleichen Themen ausgesprochen hat, und Folgebücher schreiben, die die kryptischen Ideen entschlüsseln. Aber welche Bedeutung hätte das Buch, wenn es nur wie eine Klammer funktionierte, die das Gedankennetz an seinen Enden bündelte, aber keinen eigenständigen Gedanken in sich trüge? Ich unterziehe Agambens Buch einer Lektüre mit der Perspektive auf eine Theorie der Singularitäten, und werde dafür eng am Text bleiben und prüfen, was dieser – und zwar zuerst dieser – leistet. Auch zeigt sich viel Methodisches oder es lässt sich ableiten. Doch meine Arbeit ist nicht als grundsätzliche Einführung gedacht, sondern soll als eine Einführung im eigentlichen Sinne des Wortes dienen: Ich möchte Agambens Text dem allgemeinen Gebrauch öffnen helfen, ohne ihn interpretativ zu überformen und von seinem heimischen Gedankenort zu entfernen. Logischerweise stellt sich immer die Frage über den nächsten Schritt: Was bedeutet dieses Denken für …? Aber was bedeutet es überhaupt? Wenn man es nicht versteht, wenn es nicht dem allgemeinen Gebrauch geöffnet ist, kann man es nicht anwenden. Was eine große Aufgabe stellt, soll eigentlich bedeuten: Obwohl ich den Text von Anfang bis Ende neusortiere und kommentiere, verstehe ich meine Aufgabe als einen Schritt vor weiteren Schritten. Ich will, in anderen Worten, versuchen, die Schnittstellen für einen Gegenstand offenzulegen, der das am schwierigsten zu Denkende ist, wenn Agamben Recht behält.

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1.3 Methode Ich müsste folgende Anmerkung ebenfalls an das Ende der Lektüre stellen, da sie einerseits verstehen helfen will, andererseits einen Teil von Agambens Argumentationen vorwegnimmt. Darum nur so viel: Die verschiedenen Denkbewegungen, die sich unter den Sammelbegriffen Poststrukturalismus und Postmodernismus finden, haben ein kritisches Verhältnis zur Sprache und sprachlicher Praxis, weswegen sie Methoden zu ihrer Hintergehung entwickelt haben. Oft der Sprach- und Literaturwissenschaft sowie dem künstlerischen Umgang mit Texten nahe, enthüllten sie Wege, sich jenseits des Gesagten und Geschriebenen auszudrücken. So auch Agambens Methode, die ich mit einem Zitat des Jazzmusikers ­Miles Davis verdeutlichen will: »Don’t play what’s there. Play what’s not there.« (Carr 2016: 363) Das Spiel mit dem, was nicht ausgedrückt ist, ist nicht nur eine Anleitung zur Improvisation, sondern zeigt auch, dass der Verweis auf das Unausgedrückte möglich ist. Was die materiellen Träger der Sprache hergeben, sind vielleicht keine tiefen Erkenntnisse, aber das Unternehmen, das Unsagbare zu sagen, scheint die Erfüllung der großen Sehnsucht nach Wahrheit. Außerdem deutet der Begriff Spiel (play) nicht nur für die Musik auf eine mächtige Methode, es ist auch ein allgemeines, künstlerisches Prinzip. Der Kunst ist Sprachkritik immer implizit, denn sie sucht sich Ausdrucksformen, die die Sprache hintergehen können. Die Sprache verläuft der Wahrheit, über die sie sprechen will, im besten Falle parallel, und die Künste wollen aus ihr ausbrechen, um sich der Wahrheit zu nähern (wenn auch in manch moderner Kunst, wie der Kunst um der Kunst Willen, dieser Wunsch verloren gegangen ist). Anders die Wissenschaft, die sich im Vorrecht zur Wahrheit sieht, da sie sich nicht nur zur Wahrheit hinwendet, sondern sich einzig durch ihre Erforschung und ihre Reproduktion legitimiert. Der wissenschaftlichen Produktion ist Sprachkritik nicht implizit. Im Gegenteil: Häufig verlässt sie sich auf eine objektivierte und nur scheinbar unhintergehbare Wissenschaftssprache – womöglich im Glauben, dass das ursprüngliche Verhältnis zwischen Wissenschaft und Wahrheit eine natürliche Verbindung bedeute. Auch Agamben entwickelt in Die kommende Gemeinschaft – im Geiste der Postmoderne – eine fundamentale Sprachkritik als Teil seiner Philosophie, der ich durch eine besondere Art der Lektüre entgehen will, aber auch muss, um sein Denken getreu reflektieren zu können. Wie es mir in einem Text über solch ein Buch möglich sein kann, war eine meiner ersten Fragen, und ich habe mich entschieden, methodisch ungewöhnlich nahe am Text zu bleiben. Ich erwähne das, um Missverständnissen keinen Raum zu geben, denn diese Lektüre will in erster Linie kein Kommentar sein, sondern Agambens Denken durch thematisches Lesen 13

am Beispiel von Die kommende Gemeinschaft offenlegen. Dazu versuche ich mich an einer wortgetreuen Paraphrasierung, in der nicht meine eigenen Worte die Gedanken reproduzieren, sondern der Satzsinn bestmöglich ausgestellt werden soll – was aber nicht heißen darf, eine unkritische Perspektive einzunehmen. Ich spalte die Sätze sorgfältig in ihre Sinneinheiten auf, sortiere und kombiniere sie neu, rücke Zentrales ins Zentrum und stelle Beiläufiges zurück, um die Argumente in Reihe zu bringen und den Fokus auf die eigentliche Idee zu rücken, die immer wiederkehrt. Ich nehme meine Stimme willentlich aus der Illustration zurück und verschiebe meine Ergänzungen und Kommentare auf eigenständige Folgesätze, Absätze oder Fußnoten. So entsteht ein Buch, das die üblichen Prioritäten der Rezeption verhindert, wo die Textsouveränität des Originals gebrochen und nur zum Beleg des Kommentars wird. Es gibt kritische Lesarten, die beispielsweise Machtstrukturen und Ungleichgewichte in Bedeutung mit solch einer Rigorosität dekonstruieren, bis der Text von seinen verwendeten Signifikanten festgesetzt wird. Dabei hat Agamben Ideen entwickelt, die idealerweise nicht mehr zu dekonstruieren sind. Wo die Dekonstruktion endet, ist nur noch die Ergänzung oder die Paraphrase möglich – ein Gegenübertreten auf Augenhöhe. Auch ist die Paraphrase ein Stilmittel, das Ausdruck dessen ist, was Agamben sagen will. Er erklärt im Kapitel ›Beispiel‹ (hier Kapitel 2.3), wie das Beispiel dem Sprachdilemma, das er aufzeigt, entgeht. Dazu ist auch die Paraphrase im eigentlichen Wortsinn fähig, insbesondere wenn sie sich auf Beispiele bezieht: Während Beispiel auf Griechisch παράδειγμα [parádeigma] heißt, zu Deutsch daneben zeigen (wobei die Bedeutung sich auch im Deutschen zeigt: Bei-Spiel oder Vor-Bild), ist die Paraphrase (Griechisch παράφρασις [paráfrasis]) etwas, das daneben formuliert. Der Verweischarakter des Beispiels bleibt erhalten, die gewählten Worte werden nicht verdeckt. Es ist eine ähnliche Idee wie die Platonischen Dialoge, in denen Platon seine Philosophie indirekt durch ein fiktives Gespräch verschiedener Parteien differenziert darstellt. Nur gibt es einen kleinen – eher ästhetischen – Unterschied: Während Platon so tat, als ob die Worte und ihre Paraphrasen von anderen gesprochen wurden, alle aber seine eigenen waren, benutze ich Agambens Worte, um seine eigenen zu paraphrasieren. Das Resultat hingegen ist nicht so verschieden. Man könnte es auch thematisches Paraphrasieren nennen, das zusammenschreibt, was inhaltliche Nähe sucht. So kann die Konsistenz eines Textes aus sich heraus überprüft werden, ohne Gefahr zu laufen – wie bei einem Kommentar –, das zu Sagende zu verdecken und falsche Zugehörigkeiten zu erzeugen. Alles Weitere kann immer im nächsten Schritt angegangen werden. Zusammenfassend ließe sich sagen: Die Paraphrase folgt Agambens Logik der kommenden Gemeinschaft, da sie ihrer Praxis sowie der Aufgabe ihrer ersten Exemplare – den Trickstern, Tagedieben, Gehilfen und 14

Cartoons – entspricht. Denn wenn die Leser/innen das Gefühl haben, ich sage, was Agamben sagt – nur ein klein wenig anders –, aber seine Ideen am Ende besser verstehen, dann hat mein Text seine Aufgabe erfüllt.

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2. Die kommende Gemeinschaft1 Agamben stellt seinem Buch zwei Zitate voran, die im Laufe des Textes selbsterklärend werden. Das erste: »Dit buchelin heizit ein paradis der fornuftigen sele, paradisus animae intelligentis.« (7) Das ist der mittelhochdeutsche sowie lateinische Titel der Predigtsammlung des Theologen und Philosophen Meister Eckhart (Meister Eckhart 2003), und die Übersetzung des mittelhochdeutschen Teils lautet: Dieses Buch heißt ein Paradies der vernünftigen Seele. Nach dem Komma wiederholt sich Paradies der vernünftigen Seele noch einmal auf Lateinisch. Das zweite Zitat lautet: »Quodlibet est in quolibet et nihil est extra se.« (ebd.) Es lässt sich aus dem Lateinischen mit Alles in allem und nichts darüber hinaus übersetzen.

2.1 Beliebiges ›Beliebiges‹ heißt das einleitende Kapitel, in dem Agamben die Grundlagen erarbeitet und das Fundament des Gesamttextes legt, denn das »kommende Sein ist das beliebige Sein« (9). Mit diesem zentralen Satz beginnt der Text als Teil des ersten Absatzes, der per Definition einen Bogen zum Buchtitel spannt, aber vorerst gedanklicher Hintergrund bleibt, da Agamben das kommende Sein im Kapitelverlauf nicht mehr wörtlich nennt. Darauf folgt die scholastische Aufzählung der Transzendentalien »quodlibet ens est unum, verum, bonum seu perfectum, jedwedes Seiende ist eins, wahr, gut oder vollkommen« (ebd.)2, um die Aufmerksamkeit dann auf das Wort zu lenken, das nicht mitgedacht wird, aber die 1 Die Seitenzahlen der deutschen Ausgabe werden in bloßen Klammern geschrieben. Die italienische Originalausgabe vermerke ich in Klammern mit dem Kürzel ›I‹ und die englische Ausgabe mit ›E‹. In eckigen Klammern werden Agambens italienischen Formulierungen von mir ergänzt - in wenigen Fällen erwähnte sie auch der Übersetzer der deutschen Ausgabe selbst -, sofern sie aufgrund ihrer Länge nicht in Fußnoten verschoben werden. Will ich auf andere Sprachen – wie Lateinisch, Altgriechisch oder Französisch – hinweisen, so nenne ich diese ausdrücklich. Altgriechische Formulierungen schreibe ich zusätzlich als Transkription in lateinischen Buchstaben. 2 Dieses lateinische Zitat stammt aus Immanuel Kants Vorlesungen über die Metaphysik (Kant 1821 – siehe im 1. Kapitel, Abschnitt ›Von der Einheit, Wahrheit und Vollkommenheit‹). Dort findet sich auch die Behauptung, es sei eine scholastische Aufzählung: »eine alte scholastische Lehre« (ebd. 42), schreibt Kant. Auf welche Scholastiker er sich bezieht, ist allerdings unklar.

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Bedeutung all dieser bedingt: das Adjektiv quodlibet, an dessen Stelle in der deutschen Formulierung das Indefinitpronomen jedwedes [qualsivoglia] steht. Aus dem Lateinischen übersetzt heißt es nicht, wie gängig, »gleichgültig, egal welches« (ebd.) Seiende, sondern »das Seiende, das allgemein beliebt« (ebd.)3 und folglich allgemein geschätzt wird bzw. in jedem Fall zählt4, denn das Wort verweist schon immer auf ein Belieben [lat. libet, ital. desiderare]. Da die Worte quodlibet und libet [desiderare] semantisch verknüpft sind, sind es auch quodlibet und Begehren [desiderio]. Das Argument und der daraus resultierende Themenwechsel lassen sich am besten im Original verstehen: Das Beliebige und das beliebige Sein heißen im Italienischen Qualunque und essere qual-si-voglia. Voglia bedeutet auf Deutsch Lust oder auch Wille, und darum spricht Agamben von dem beliebigen Sein als ein Sein, das gewollt, ja begehrt ist und geliebt wird. Außerdem, und da schließt sich der Kreis zum einleitenden Gedanken, ist es ein Sein, das die Transzendentalien wahr, gut oder vollkommen bedingt. Schon mit der Feststellung »beliebiges Sein und Begehren stehen in einem ursprünglichen Verhältnis« (ebd.) führt Agamben im Folgeteil des Kapitels thematisch in die Liebe ein, erarbeitet aber zuerst Bestimmungen und definitorische Schärfe, beginnend mit dem unvermittelt eingeführten Begriff der Singularität. Da das Kapitel auffällig viele Sätze mit gleichem Argumentationsrhythmus hat, will ich diese schematisch darstellen: 3 Agamben deutet in dieser Formulierung auf die Wichtigkeit des beliebigen Seins entgegen dessen Gleichgültigkeit. Das entspricht dem genauen Gegensatz zur gängigen Übersetzung, die aber sicher nicht falsch ist, wie Agamben schließlich versichert. Michael Hardt, der Philosoph und Übersetzer der englischen Buchausgabe, bemerkt, dass das italienische qualunque (als Beliebiges in das Deutsche übersetzt) mit dem französische Wort quelconque korrespondiert, wie es in den Arbeiten anderer Philosophen der Gegenwart wie Gilles Deleuze oder Alain Badiou verwendet wird (E 106). Hier zeigt sich ein weiterer Kontext, der in der Diskussion der Theorie mitgedacht werden muss. 4 Die deutsche Übersetzung ist präzise, weil das Wort beliebig tatsächlich gleichgültig bedeutet und das verwandte Wort belieben das Gegenteil meint. Man kann daher das ursprüngliche Verhältnis vom beliebigen Sein und Begehren nachvollziehen. Allerdings sind diese Wörter im allgemeinen Sprachgebrauch seltener anzutreffen – was beliebt, wird geschätzt, und Belieben drückt eine Geneigtheit aus. Das Seiende, wie es auf Deutsch übersetzt ist, »das allgemein beliebt« (9), heißt im italienischen Original »l’essere tale che comunque importa« (I 9) und die englische Übersetzung von Michael Hardt ist in Hinsicht auf die Gebräuchlichkeit verständlicher: »being such that it always matters« (E 1).

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Das Beliebige, um das es im Text geht, führt Agamben fort, trifft sich mit der Singularität  nicht in ihrer Gleichgültigkeit [indifferenza]5 gegenüber

• gemeinsamer Eigenschaften [proprietà]6 • oder Begriffen (z.B. Roter-, Französisch-, Moslemisch-Sein),  sondern nur in ihrem Sein, wie es ist [tale qual é] (vgl. ebd.). Denn mit dieser Gemeinsamkeit können sie sich »jenes falschen Dilemmas [entledigen], das die Erkenntnis nötigt, zwischen der Unsagbarkeit [ineffabilità] des Individuums7 und der Intelligibilität des Allgemeinen zu wählen.« (ebd.) Das Ergebnis – dass die Intelligibilität des Allgemeinen nichts als der Name ist, der eine indifferente Menge von unsagbaren Individuen bedeuten soll – wird hier als vorläufig eingeführt, aber erst in einer späteren Argumentation untermauert (vgl. Kap. 2.3 ›Beispiel‹). Es lässt sich zusammenfassen: Eine auf die Singularität gerichtete Erkenntnis muss sich nicht mehr auf das Dilemma der Wahl zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen einlassen – weil sie weder Individuum noch Allgemeines ist –, sondern kann sich einzig auf das Sein, wie es ist, richten. Dazu führt Agamben als Beispiel Gersonides’ Definition des Intelligiblen (nicht die Intelligibilität des Allgemeinen, was nur eine leidliche Eigenschaft des Allgemeinen ist, sondern des Intelligiblen selbst, die Gesamtheit des einzig über den Verstand und nicht über die Sinneswahrnehmung Erfassbare) an: Das Intelligible ist  nicht

• ein Allgemeines 5 Gleichgültig auf Englisch ist indifferent, was wiederum die übliche Übersetzung für das französische quelconque ist. Siehe Kommentar oben. 6 Die Eigenschaften, von denen Agamben spricht, sind philosophische Kategorien. Es sind Attribute, die Klassen erzeugen und keine wesentlichen Eigenschaften. Sein Interesse gilt Letzteren, die im Potential jedes Seins liegen und nicht ausschließlich zugeschrieben und reproduziert werden. Entsprechend ihr Wie-Sein (das auf das So-Sein, also auf die Zugehörigkeit selbst Gerichtete) und nicht ihr Was-Sein (Roter-, Franzose oder MoslemSein). 7 Das ist die Andeutung auf eine traditionell philosophische These, die in der deutschen Übersetzung verloren geht: Individuum est ineffabile. Diese meint, dass unsere Begriffssprache das Einzelne nicht begreifen, nicht aussprechen kann, sondern ausschließlich das Allgemeine. In Agambens Theorie, so wird sich zeigen, muss aber weder das eine noch das andere, denn das beliebige Sein entzieht sich dieser Unterscheidung.

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• oder in einer Serie enthaltenes Individuum,  sondern die Singularität als beliebige Singularität (vgl. 9f).8

Daraus folgt: Das Wie-Sein [esser-quale] ist darum  entbunden

• diese oder jene Eigenschaft zu haben, • die seine Zugehörigkeit [appartenenza] zu dieser oder jener Menge, • dieser oder jener Klasse (die Roten, Franzosen, die Moslems) festlegt,  aber nicht • um es auf eine andere Klasse • oder Abwesenheit jedweder Zugehörigkeit auszurichten9,  sondern auf ein So-Sein, auf die Zugehörigkeit selbst (vgl. 10). Damit wendet er die Zugehörigkeit auf sich selbst, die so nicht mehr bedeutet, Teil von etwas Größerem zu sein, sondern zu einer Zu-sich-selbst-Zugehörigkeit wird. Sie wird dem Sein immanent. Er resümiert über das So-Sein [esser-tale] und dessen Erscheinen:  Da es

• unter der Bedingung der Zugehörigkeit ständig verborgen bleibt10 • und keineswegs ein reales Prädikat ist,  tritt es derart zu Tage: »Eine Singularität, die als solche ausgestellt wird, ist beliebig, d.h. liebenswert« [amabile] (vgl. ebd.). Gemeint ist, dass Prädikate ein Wie-Sein vortäuschen und hinter sich das reale Wie-Sein verbergen, das singuläre Wie-Sein, nämlich jenes, das keine Eigenschaft hat, die an die Zugehörigkeit zu einer Menge oder Klasse 8 Der von Agamben an dieser Stelle erwähnte Gersonides – bekannt ist der jüdische Philosoph auch unter dem Namen Levi ben Gerson / Gershon / Gerschom – spricht von einer Existenz, die weder Allgemeines noch Individuelles (in einer Reihe) ist und sich daher als Beispiel für die beliebige Singularität zeigt. Diese Art des Hinweisgebens auf das Beliebige wird zu Agambens Methode. Gersonides‹ Theorie findet sich in dessen Hauptwerk Kämpfe Gottes (Gerson 1914: 181). Dort zeigt er in einer Besprechung der Philosophen Averroes und Avicenna, »dass die Intelligibilia keine Universalia sind und nicht auf ausserseelischen Individuen beruhen« (ebd.). 9 Genau genommen wird die Zugehörigkeit aufgenommen [rispreso], allerdings durch ein Richten-auf, könnte man sagen. 10 Verborgen bleibt im Sinne von: »es ist ein x sofern es zu y gehört« (10).

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bindet. Damit kann sich das singuläre Wie-Sein auf sein So-Sein ausrichten, d.h. der Zugehörigkeit zu sich selbst. Oder anders formuliert: das Wie-Sein richtet sich auf sich selbst und nicht auf die Zugehörigkeit zu einer Menge oder Klasse. Wie man sehen kann, ist dieser Gedanke einerseits eine implizite Kritik an der Sprachgläubigkeit, denn die Sprache ist nicht, was die Sprache benennt. Man kann der Sprache kein volles Vertrauen schenken, da sie vieles, was existiert, nicht bezeichnen kann, und vieles bezeichnet, was nicht existiert. Das lässt sich auf die Theorie der Arbitrarität vom Bezeichnenden und Bezeichneten zurückführen. Aber die Kritik, die hier angeführt wird, meint, dass das Bezeichnende das Bezeichnete nicht nur benennt, sondern auch verdeckt. Anderseits ist man damit wieder bei dem ursprünglichen Verhältnis von dem beliebigen Sein und dem Begehren angekommen. Trotz des exkursartigen Absatzes ist Agamben hier thematisch bei der Liebe und schreibt wie in Antwort auf den Absatz zuvor, dass die beliebige Singularität »liebenswert« (ebd.) ist. Die Liebe nimmt in Agambens Theorie eine besondere Rolle ein, denn sie belegt, dass die Singularität kein analytisches Konstrukt ist, sondern etwas Ursprüngliches, das den Menschen schon immer nahesteht. In der Philosophie des beliebigen Seins ist die Singularität liebenswert und die Liebe singulär. Das zeigt sich auch darin, dass sie nicht in das falsche Dilemma der Wahl zwischen der Ineffabilität des Individuellen und der Intelligibilität des Allgemeinen gerät: Die Liebe richtet11 sich  niemals auf

• diese oder jene Eigenschaft des Geliebten (das Blond-, Klein-, Zart-, Lahm-Sein) • noch sieht sie im Namen einer faden Allgemeinheit (der universellen Liebe) davon ab,  sondern sie will die Sache mit all ihren Prädikaten, ihr Sein, so wie es ist (vgl. ebd.). So, wie es ist [essere tale quale è] ist einer der Schlüsselsätze im gesamten Text, und man kann ihn als die Singularitätsformel verstehen. Was so ist, wie es ist, schließt ausnahmslos alle Prädikate der Singularität ein, wobei aber gewiss reale Prädikate gemeint sind, in Abgrenzung zu nichtrealen, die die Singularitäten mit ihrer falschen Zugehörigkeit verdecken. Die Liebe fragt nicht, was etwas ist, sondern wie etwas ist, das so ist. »Sie begehrt das Wie nur insofern es so ist – das ist ihr besonderer 11 Hier richtet [dirige] die Liebe ihren Willen [volere] auf das Geliebte und nimmt es nicht auf [riprendere].

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Fetischismus« (ebd.)12, führt Agamben weiter aus. Damit ist das Liebenswerte nicht nur eine beliebige Singularität, sondern es wird auch das Verhältnis von Intelligibilität (die Eigenschaft, einzig über den Verstand und nicht über die Sinneswahrnehmung erfassbar zu sein) und Intelligenz (die Fähigkeit genau dieses zu erfassen) neu bestimmt: So ist die beliebige Singularität bzw. das Liebenswerte  nicht mehr

• die Intelligenz von etwas, • die Intelligenz dieser oder jener Qualität • oder dieses oder jenen Wesens,  sondern die Intelligenz einer Intelligibilität (vgl. ebd.). Führt man die Gedanken zusammen, heißt es: Die Liebe begehrt das Wie nur insofern es so ist, darum ist das Liebenswerte die Intelligenz (als das So) einer Intelligibilität (als das Wie). Die Intelligibilität ist in diesem Sinne keine Eigenschaft, die eine individuelle oder allgemeine Zugehörigkeit festlegt, sondern sich durch die Intelligenz auf die Zugehörigkeit selbst richtet. Mit der Idee der beliebigen Singularität begreift Agamben ein Sein, das sich nicht direkt nennen lässt, da sich der sprachliche Ausdruck selbst davon immer distanziert. Wie man anhand seiner Argumentation sehen kann, schließt er im ersten Schritt alles aus, was er ausschließen muss, und regt dann in Form eines Einspruchs an, worum es ihm geht. Damit ist es ihm möglich, zu zeigen, dass das Denken in Zugehörigkeiten – ein Denken, das Identitäten und Differenzen immer schon einschließt – ursprüngliches Erleben und Denken verstellt. So versperrt der Glaube, man liebe jemanden ausschließlich aufgrund hübscher Augen, die Liebe selbst.13 Der letzte Satz ergänzt das Kapitel um das Beispiel der Anamnesis Platons, einer Erkenntnistheorie, die besagt, dass das Wissen der Menschen 12 Der Fetischismus meint die Verehrung des ausgestellten Seins – was der gegenständlichste, da umfassendste Ausdruck des beliebigen Seins ist. 13 Zu Agambens Vorstellung von Liebe, als immanentes Konzept des beliebigen Seins, finden sich Parallelen zu Roland Barthes Fragmente einer Sprache der Liebe: »Was ich über Liebe denke? – Kurzgesagt nichts. Ich möchte zwar wissen, was das ist, aber wenn ich darin befangen bin, nehme ich sie nur in ihrer Existenz, nicht in ihrer Essenz wahr. Was ich erkennen will (die Liebe), ist eben die Materie, die ich zum Sprechen benutze (der Diskurs der Liebenden).« (Barthes 1984: 71) Und: »Wenn ein Diskurs, durch seine eigene Kraft, derart in die Abdrift des Unzeitgemäßen gerät und über jede Herdengeselligkeit hinausgetrieben wird, bleibt ihm nichts anderes mehr, als der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein.« (ebd. 13) Dass die Liebe die Sache mit all ihren Prädikaten will, ihr Sein, so wie es ist, das ist die Bejahung, würde Agamben sagen.

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nur das Wiedererinnern des in der unsterblichen Seele immer schon vorhandenen Wissens ist: Die Bewegung, die Platon als erotische Anamnesis beschreibt, versetzt das Objekt  nicht

• in eine andere Sache • oder an einen anderen Ort,  sondern in sein eigenes Statt-Finden selbst14 – in seine Idee (vgl. ebd.)15. Eine Bewegung, die ihr Objekt in das eigene Statt-Finden setzt, macht nichts anderes, als sich auf die innewohnende Zugehörigkeit selbst zu richten. Auch sie ist eine beliebige Singularität, in der das Objekt und die Idee davon zusammenfallen – in eins –, zu dem, was sie immer waren: eine ursprüngliche Einheit. Wie die platonische Idee, die als das eigentlich Seiende ein Urbild alles Sinnlichen ist. Das Wie und das So sprechen von einer epistemologischen und einer ontologischen Deutung einer Bewegung, die immer schon singulär ist, so die Annahme. Die beliebigen Singularitäten versetzen das Objekt in ihr Statt-Finden, und wenn das Lieben gleichermaßen solch eine Bewegung ist, sollte diese Art von Sein den Menschen nicht fremd sein.16

14 In der deutschen Übersetzung wird für den gängigen Ausdruck für die Sache selbst (τὸ πρᾶγμα αὐτό [tò prãgma autó]) das Demonstrativpronomen selber verwendet. Ich vereinheitliche die Schreibweise und benutze im Folgenden nur selbst. 15 Der altgriechische Begriff ἀνάμνησις [anámnēsis] bedeutet Erinnerung. Die erotische Anamnesis meint Platons Vorstellung von Eros, der die Anamnesis an das Urbild des Schönen ist. Eros ist im Grunde auch ein Wedernoch, der in der Mitte zwischen dem Guten und dem Schlechten, dem Hässlichen und dem Schönen als auch zwischen Mensch und Gott steht. Er liebt bzw. begehrt, was ihm mangelt. Die Ideenlehre wird in Platons Dialog Symposion besprochen, die Anamnesis-Theorie in Menon, Phaidon und Phaidros. (Platon 2004a, 2004b) 16 Interessanterweise schließt Agamben das erste und zentralste Kapitel, den Referenzessay, mit einer Ontologie fern von der Idee der Gemeinschaft, die der Buchtitel verspricht. Es ist nicht verkehrt, sich an dieser Stelle zu fragen, was der Begriff der Gemeinschaft in einer Welt von Seiendem ohne Ausdruck von Zugehörigkeit bedeuten kann. Aber mehr dazu ab dem Kapitel 2.3 ›Beispiel‹.

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2.2 Vom Limbus Agamben geht der Frage nach: »Woher kommen die beliebigen Singularitäten, was ist ihr Reich?« (11) Das Kapitel handelt von Herkunft und Ort des Seins und somit von ontologischen Bestimmungen. Er schreibt, die »Fragen des Thomas zum Limbus enthalten Elemente für eine Antwort« (ebd.)17, was zumindest sprachlich Frage und Antwort (das Wie und das So) singulär darstellt. Genauer geht es hier um die göttliche Strafe für ungetaufte Kinder, »die – von der Erbsünde abgesehen – ohne jede Schuld gestorben sind« (ebd.). Es könne gerechterweise keine qualvolle Strafe wie die Hölle sein, sondern nur eine ausschließende, nämlich diese, »die in der Vorenthaltung der Anschauung Gottes besteht« (ebd.). Der Entzug bereitet den ungetauften Kindern, im Gegensatz zu den Verdammten, keinen Schmerz, denn es fehlt ohne Taufe die übernatürliche Erkenntnis. Da sie nur eine natürliche Erkenntnis haben, können die ungetauften Kinder gar nicht wissen, dass sie des höchsten Gutes beraubt sind. Auch wenn sie es wüssten, »könnten sie darüber nicht betrübter sein als ein vernünftiger Mensch über sein Unvermögen, zu fliegen« (ebd.), so Agambens Argument. Weiterhin sind ihre Körper wie die der Seligen ohne Empfindung, »doch nur soweit es sich um Maßnahmen des göttlichen Gerichts handelt; ansonsten erfreuen sie sich uneingeschränkt ihrer natürlichen Vollkommenheit« (ebd.). Die Elemente der Antwort betreffen hier nicht unser Leben nach dem Tod, sondern sie sind beispielhaft für das beliebige Sein. Das Leben und das Erleben der ungetauften Kinder im Limbus entsprechen dem Zustand des Beliebigen. Es ist ein Zustand jenseits von Schuld und Gerechtigkeit, jenseits der Verdammnis und des Heils, weder verzweifelt noch selig, ohne Schicksal geblieben, aber in unauslöschlicher Freude und natürlicher Vollkommenheit. Unauslöschlich ist die sinngemäße deutsche Übersetzung von Agambens Neologismus inesitabile, und gemeint ist 17 Er bezieht sich hier auf Thomas von Aquins Werk Summa Theologica (­Supplement, quaestio 69 – auf Deutsch gibt es noch immer keine vollständige Ausgabe; die bekannte deutsche Thomas-Ausgabe wird seit 1933 erarbeitet (Aquin 1933ff)). Agamben nennt nur willkürlich vollständige Namen, weist kaum Zitate aus und gibt keine genauen Quellen an. Wer die Hintergründe kennenlernen will, muss sie sich selbst rekonstruieren. Zwar ist seine verborgene Literaturliste oftmals Fächerkanon, allerdings bedient er sich vieler Fächer. Das erschwert den Einstieg in den Text, macht aber das Verstehen wiederum bewusster. Im vorliegenden Kapitel werden als Beispiele außerdem die für Agamben zentralen Schriftsteller Robert Walser und Franz Kafka (hier die Erzählung In der Strafkolonie) angeführt. Die »vorhöllische Natur ist das Geheimnis von Walsers Welt«, denn dessen Figuren und Kafkas Verurteilter haben »der Welt der Schuld und Gerechtigkeit den Rücken zugekehrt« (12f).

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vielmehr, dass die Freude unzustellbar [per sempre inesitabile] ist. Es ist ein hervorragendes Beispiel, das einen Blick auf seine Philosophie als Ganzes erlaubt, denn der Begriff bezieht sich auf den folgenden Satz: »Wie Briefe, die ohne Empfänger blieben, sind diese Auferstandenen ohne Schicksal geblieben.« (12) Im Italienischen ist die posta inesitata die unzustellbare Post. Die »unauslöschliche Freude« (ebd.) ist folglich die Freude, die nicht zugestellt werden kann und daher nicht endet. Sie ist eine reisende Freude ohne den endenden Empfang. Auf Agambens Theorie gedacht heißt das: Die Ausstellung des Seins hat einen Grund, aber kein Ziel (im Sinne von etwas, das in Zugehörigkeiten differenziert). Der Grund liegt in der Zugehörigkeit selbst, der Individuation, doch ein Ziel kann nur in Zugehörigkeiten ausgedrückt werden. Ein Brief, der für niemanden bestimmt ist, ist kein Ausdruck einer Zugehörigkeit, sondern die Zugehörigkeit selbst. Folglich ist das beliebige Sein wie ein Brief ohne Empfänger/in. Diese Jenseitigkeit und Aufhebung von Differenzen (in dem Beispiel: Schuld und Gerechtigkeit, Verdammnis und Heil, verzweifelt und selig) ist nicht nur Grundbedingung einer konsequenten Theorie der Singularitäten, sondern auch Kritik an einem Differenzdenken, das durch die unnatürliche Zugehörigkeit, den Prädikaten und der Differenz zwischen Individuum und dem Allgemeinen grundsätzlich in Dilemmata führt und aufgelöst bzw. dekonstruiert werden kann.18 Agambens genealogische Arbeit bricht aus der Sprache und ihrer permanenten Bedeutungsverschiebung aus, um zu einem ursprünglichen Sein (gleichursprünglich mit der Sprache) zu kommen, wo es nichts mehr zu dekonstruieren 18 Die Theorie der Singularitäten – die strenggenommen mehr als eine Theorie sein will – beginnt dort, wo Jacques Derridas Methode der Dekonstruktion – die mehr als eine Methode sein will – aufhört, also nicht mehr aussagefähig ist. Derridas Neologismus différance (das französische Wort für Unterschied différence mit einem a geschrieben) bedeutet Differenz und Aufschub zugleich und soll die unnennbare und nur als Spur wahrnehmbare Bedeutungsverschiebung symbolisieren, die er an die Stelle des von ihm kritisierten zweiseitigen Zeichens (Signifikat/Signifikant) setzt – und damit seine Grammatologie an die der Semiologie. Derrida untersucht die Gedankenherkunft in einem unendlichen und mehrdeutigen Text (der im Grunde alles ist, nicht nur das geschriebene Wort) und kritisiert das abendländische Präsenzdenken als Phonozentrismus, wo die gesprochene gegenüber der geschriebenen Sprache priviligiert wird, und die Präsenz als metaphysische Annahme. Dafür dekonstruiert er Gegensatzpaare, die unreflektiert hierarchisch unterschieden werden, wie eben Wort und Schrift oder Signifikat und Signifikant (vgl. insbesondere Derrida 1983, 2000, 2003). Die Ununterscheidbarkeit des singulären Zustands in Agambens Theorie führt hingegen zurück in die unmittelbare Präsenz, wo diese Hierarchien gar nicht erst erzeugt werden.

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gibt. Dabei entzieht sich die Philosophie auch der Subjekt-Objekt-Grenze – eine Konstruktion, die bereits Agambens große Vordenker Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger und Walter Benjamin kritisiert haben –, denn sie trennt das Objekt von seiner Idee. Oder wie sich zusammenfassend sagen ließe: Es gibt keinen stärkeren Ausdruck von Zugehörigkeit als die Differenz selbst. Der Ort der beliebigen Singularitäten ist fern aller Differenzen, Dilemmata und Strafen. So ist der singuläre Zustand, wie er ist: auf seine eigene Zugehörigkeit und sein eigenes Potential gerichtet, und die Freude ist und bleibt, ohne Schmerz und ohne übernatürliche Erkenntnis, unadressiert und somit unauslöschlich. Das beliebige Sein steht dem Heil neu­ tral gegenüber – »unrettbar ist nämlich nur das Leben, in dem es nichts zu retten gibt« (12). Und das ist der »radikalste Einwand, […] an dem die mächtige theologische Maschinerie christlicher oikonomia scheitert« (ebd.), ergänzt Agamben. Die Oeconomia christiana, die Hauslehre, hat keine Aufgaben in einem – durch die vorhöllische Unempfindlichkeit – unrettbaren Leben. Dort gibt es keine »heidnische hybris« zu bekehren oder die »kreatürliche Schüchternheit« auf den Weg Gottes zu führen, wie Agamben sie auf Walsers Figuren zurückführt (ebd.). Das So-Sein wird erst sichtbar, wenn man das Wie-Sein betrachtet, das nicht eine einzige Eigenschaft hat, die die Zugehörigkeit zu einer Menge oder Klasse festlegt. Auf dieselbe Weise lässt sich auch die Liebe und das I­ ntelligible verstehen. Letztlich bleibt nur das Unvermögen, zur übernatürlichen, göttlichen Erkenntnis zu kommen. Agamben kommt zu einem Schluss, der symbolischer nicht sein könnte, da die Theorie der Singularitäten auch ein Dilemma des christlichen Denkens überwindet, in dem Gegensätze eine so wichtige Rolle spielen: »Das Leben aber, das nach dem Jüngsten Tag die Erde erfüllt, ist schlicht das menschliche Leben.« (13) Hier lässt sich wieder der Buchtitel anknüpfen, der darauf verweist, dass die kommende Gemeinschaft zum beliebigen Sein (zurück)findet. Dann hätte auch das göttliche Gericht keine Folgen, zumindest nicht mehr, als das menschliche Leben zu offenbaren. Mit dem letzten Tag, dem novissima dies, enden die theologischen Unterscheidungen, es beginnt die Zeit nach dem Was, nach den Zugehörigkeiten und den falschen Dilemmata, und es deckt sich auf, was dahinterliegt: die beliebige Singularität. Das ist Agambens Messia­ nismus.

2.3 Beispiel Erst im Kapitel ›Beispiel‹ nimmt Agamben sich vor, das falsche Dilemma – die Wahl zwischen der Unsagbarkeit des Individuums und der 25

Intelligibilität des Allgemeinen – in Beispielen vorzudenken, konkretisiert seine Sprachkritik und zieht epistemologische Konsequenzen. Er nennt jene Wahl einen Widerspruch, die seinen Ursprung in der Sprache hat, und führt als Beispiel das Wort Baum an. Es kann tatsächlich »unterschiedslos alle Bäume bezeichnen, weil es die unsagbaren singulären Bäume durch deren gemeinsame Bedeutung ersetzt hat(terminus supponit significatum pro re)«19 (14). Es verwandelt »Singularitäten in Elemente einer Klasse, deren Sinn die gemeinsame Eigenschaft« festlegt (ebd.). Wie weiter oben erwähnt, ist die »Zusammenfassung von unterschiedenen Einzelobjekten m zu einem Ganzen M […] nichts anderes als der Name« (ebd.). Dieser Widerspruch zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen – genannt die »Klasse, die sich sowohl selbst enthält als auch nicht selbst enthält« (ebd.)20 – bezeichnet den Ort des sprachlichen Seins, so Agamben. Weiterhin: »[D]ie Klasse aller Klassen, die sich nicht selbst enthält, ist die Sprache. Das sprachliche Sein (das Benannt-Sein) ist zugleich eine Menge (der Baum) und Singularität (der Baum, ein Baum, dieser Baum) und die durch das Symbol c ausgedrückte vermittelnde Funktion der Bedeutung wird jene Kluft nicht schließen können, in der sich nur der Artikel ungezwungen zu bewegen mag.« (14f) Die verschiedenen Artikel vermögen die sprachliche Gleichzeitigkeit der beiden Zerklüfteten, der Individualität und dem Allgemeinen, nicht zu verhindern. Die gemeinsame Bedeutung, das heißt die sprachliche Zusammenstellung der Singularitäten, verstellt die Singularitäten selbst. Darum ist das Individuum unsagbar, das die Singularität meint, aber durch die gemeinsame Bedeutung ausgedrückt wird. Darum ist das Allgemeine intelligibel, da es nur ein Name ist. Auch darum ist die Wahl der Erkenntnis zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen ein Dilemma, und das Sein der Singularitäten ist im Gegensatz zum sprachlichen Sein beliebig. Ein Begriff entgeht letzterer Antinomie: das Beispiel. Es kann jeden Fall einer Gattung exemplarisch vertreten und ist zugleich in der Gesamtheit der Fälle enthalten, allerdings »behandelt man [einerseits] jedes Beispiel wie einen realen Einzelfall, andererseits geht man davon aus, dass es als Besonderes seine Gültigkeit verliert« (15). Folglich ist es weder besonders noch allgemein, sondern ein singulärer Gegenstand, so das 19 Der lateinische Satz sagt, dass ein Terminus für das steht, was er bezeichnet. Das Wort Baum steht für den bezeichneten Baum. 20 Das Problem gilt auch für die berühmten Paradoxien durch Selbstbeschreibungen in der Mengenlehre, die Bertrand Russell entdeckte und denen er mit seiner Typentheorie erfolglos zu entgehen versuchte. Wittgenstein nannte sie in einem Brief an Russell bestialisch (»beastly theory of types«, in: Wittgenstein 1997: 37). Diese zitiert Agamben (vgl. 14) als Hinweis, dass das beliebige Sein der Bestie entkommt.

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Argument. Man könnte sagen, das Beispiel ist die Inversion der sprachlichen Antinomie, und man erkennt darin Agambens Methode: Er löst Gegensätze, Unterscheidungen bzw. Differenzen aus ihrem antinomischen Korsett, indem er ihr Verhältnis invertiert und sie ausei­nanderdriften lässt. Dieses Zwischen Allgemeinem und Besonderem, das Wedernoch im leeren Raum, das ist die Singularität, die folglich weder deduktiv vom Allgemeinen auf das Besondere hergeleitet werden kann, noch induktiv vom Besonderen auf das Allgemeine. Die Kenntnis kann nur durch einen exemplarischen Schluss funktionieren – das ist die Konsequenz für die Epistemologie einer solchen Theorie. Der »eigentliche Ort des Beispiels ist immer neben ihm, im leeren Raum, in dem sich sein qualität[s]loses, unvergessliches Leben abspielt« (ebd.)21, so Agamben weiter. Qualitätslos und unvergesslich ist das exemplarische Sein aber nur in der Sprache, und er fügt hinzu: »Exemplarisch ist, was durch keine andere Eigenschaft bestimmt wird als durch diejenige, benannt zu sein. Nicht das Rot-Sein, sondern das Rot-genannt-Werden, nicht das Jakob-Sein, sondern das Jakob-genannt-Werden definiert das Beispiel.« (ebd.) Von hier an lenkt Agamben seine Argumente erstmals wörtlich auf die Gemeinschaft, denn er stellt fest, dass das Benannt-Sein – die Eigenschaft, die jegliche Zugehörigkeit begründet – nämlich auch alles radikal in Frage stellen und widerrufen kann. »Es ist das Allgemeinste, das jede wirkliche Gemeinschaft beschneidet.« (16) Ein bemerkenswerter Satz, der die wirkliche Gemeinschaft von der falschen abhebt. Denn eigentlich bezeichnet die Gemeinschaft doch unterschiedslos all ihre unsagbaren singulären Mitglieder mit einer gemeinsamen Bedeutung, verwandelt sie in Elemente einer Klasse, fasst sie (m) zu einem Ganzen (M) zusammen und ist vielleicht nicht mehr als nur ein Name. Eine wirkliche Gemeinschaft im Sinne der Theorie der Singularitäten kommt ohne das Allgemeinste aus, nicht aber in der Abwesenheit der Zugehörigkeit, sondern in ihrer Aneignung. Nur dann kann das beliebige Sein all die Singularitäten begreifen, die ausschließlich gemeinsam haben, dass sie so sind, wie sie sind.22 Das beliebige Sein hat, so weiter im Text, eine »ohnmächtige Allgemeingültigkeit […], die man weder mit Apathie noch Promiskuität oder 21 Er führt an, dass nun zu verstehen ist, warum das griechische Wort für Beispiel para-deigma (παράδειγμα [parádeigma]) heißt und was sich daneben zeigt bedeutet (vgl. 15). Aber auch im deutschen Wort Bei-spiel erkennt man diese Wurzeln. 22 Da der Begriff der Gemeinschaft hier das erste Mal im Text fällt und ausdrücklich von der wirklichen Gemeinschaft die Rede ist, will ich den etymologischen Auslegungen kurz folgen, was bekanntlich auch Agambens Ansatz ist: Das Wort Gemeinschaft (italienisch: comunità, lateinisch: communitas) geht auf das lateinische Adjektiv communis zurück und bedeutet gemeinsam

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Resignation verwechseln sollte« (16). Diese ohnmächtige Allgemeingültigkeit [impotente onnivalenza] ist genau genommen die impotente Omnivalenz. Zwei Anspielungen sind in der deutschen Übersetzung nämlich nicht nachvollziehbar: Valenz bzw. Omnivalenz sind Begriffe aus der Linguistik, die Agamben hier streift. Diese Allwertigkeit bzw. Alldeutigkeit beschreibt der Begriff Allgemeingültigkeit treffend. Und warum nicht Apathie, Promiskuität oder Resignation? Ohnmacht trifft es auch gut, aber Agamben benutzt im Verlauf des Textes die Begriffe Potenz und Impotenz. Das soll heißen, wie später (ab Kapitel 2.9. ›Bartle­ by‹) gezeigt wird, dass die reine Potenz des beliebigen Seins auch ihre Impotenz übergreift, ihr Unvermögen, und darum geht es in diesem Satz. Im Übrigen hintergeht Agamben an dieser Stelle ein weiteres Mal die Sprache, die uns glauben machen will, dass wir, nur weil wir nicht allein auf der Welt sind, uns in Zugehörigkeit ausdrücken müssen. Damit oder gemeinschaftlich. Schaut man sich die Komposition des Wortes an, heißt es vielmehr mitleistend oder mitverpflichtend, denn communitas setzt sich aus com- (ältere Form von cum), also mit-, und munus oder munia (Plural) zusammen. Das lateinische munus meint Amt, Aufgabe oder Geschenk. Der Plural munia hingegen Pflichten oder Leistungen. Der lateinische Gegenbegriff immunis bedeutet folglich frei von Leistungen oder Abgaben (abgaben-, steuerfrei), frei von Beiträgen, nichts beitragend, geschenklos, ohne Geschenke. Zum besseren Verständnis des Kontextes will ich an dieser Stelle auch die Diskursgeschichte abreißen: Nancy schrieb: »[I]n jedem einzelnen Augenblick teilen singuläre Seiende ihre Grenzen mit-einander, sie teilen sich auf ihren Grenzen mit. Zwischen ihnen bestehen nicht länger die Beziehungen der Gesellschaft (sie sind weder ›Mutter‹ und ›Sohn‹, noch ›Autor‹ und ›Leser‹, weder ›öffentliche Person‹ und ›Privatmensch‹, noch ›Produzent‹ und ›Konsument‹), vielmehr sind sie in der Gemeinschaft, sind entwerkt.« (Nancy 1988: 89) Die ontologische Gemeinschaft, die Nancy denkt, verwirklicht sich nicht selbst als Werk, sie fordert kein gemeinschaftliches Werk und ist darum nicht als Organisation von Mitgliedern zu denken. Ihre Kommunikation ist entwerkt und ihre Erfahrung ist die Mit-Teilung (also das Teilen). Maurice Blanchot sieht hingegen das Problem, das sich offenbar schon in der Etymologie anzeigt, dass es erst die Preisgabe braucht, um die Gemeinschaft zu stiften. Sie ist eine negative Gemeinschaft, aufgebaut auf Pflicht und Schuld, eine »Gemeinschaft derer, die keine Gemeinschaft haben« (Blanchot 2007: 47). In seinem Text Die herausgeforderte Gemeinschaft (Nancy 2007) (der auch das Vorwort der italienischen Ausgabe von Blanchots Buch ist) rückt Nancy vom Begriff der Gemeinschaft wieder ab, zugunsten des Mit-Seins, wie Heidegger schon. Und so ist auch Agambens Welt des Seienden ohne Ausdruck von Zugehörigkeit kein übliches Gemeinschaftkonzept. Es geht nicht um ein mitleistendes oder mitverpflichtendes Gemeinsames, sondern um eine Gemeinschaft ohne Zugehörigkeit, ohne Wesen und letztlich höchstens in der gemeinsamen Pflicht so zu sein, wie man ist.

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das Sein beliebig sein kann, muss es als die Zugehörigkeit selbst ausgedrückt werden. Denn die kommende Gemeinschaft ist eine Gemeinschaft von allen beliebigen Singularitäten, die alle Zugehörigkeiten in einen Prozess der Singularisierung transformieren, indem sie sich auf die Zugehörigkeit selbst richten und ihre Impotenz der Allgemeingültigkeit aneignen. Für Agamben ist die kommende Gemeinschaft kein bindender Name ihrer Mitglieder, sondern das vollkommene Ausstellen des beliebigen Seins. Es ist auch kein Zufall, dass Agambens erste wörtliche Erwähnung der Gemeinschaft verhältnismäßig spät kommt, denn hier in diesem Kapitel geht es auch um das Kommunizieren, und dabei hat das Beispiel eine Schlüsselrolle inne: »Einzig und allein im leeren Raum des Beispiels kommunizieren diese bloßen, von jedweder Gemeinsamkeit und Identität entbundenen Singularitäten.« (16) Denn das Beispiel entgeht der Antinomie der Sprache, um einen leeren Raum neben der Sprache zu öffnen, in dem die Zugehörigkeit selbst angezeigt und nicht durch das Benannt-Sein verdeckt wird. Und um dieses Versprechen einzulösen, bringt Agamben Beispiele: »In Trickstern und Tagedieben23, Gehilfen24 und Cartoons begegnen uns die ersten Exemplare der kommenden Gemeinschaft.« (ebd.) Sie alle sind das Danebenstehende, das Nebensprachliche, die unaussprechliche Wahrheit. Sie sind überflüssige Figuren im leeren Raum neben den Tätigen der Welt, wo sich das wirkliche, unvergessliche Leben abspielt. Sie sind die Mittler und die Bewegung des Beispiels, wenn sie kommunizieren, was die Zugehörigkeit selbst ist.

2.4 Statt-Finden Kapitel für Kapitel, die allesamt methodische Beispiele sind, reichert Agamben seine Theorie der Singularitäten an. Der folgende Text handelt vom Statt-Finden der Singularitäten (dem unwiederbringlichen Inder-Welt-Sein) und dem ethischen Handeln. Agamben schreibt, dass der Sinn der Ethik einem erst aufgeht, »wenn man versteht, dass das Gute weder eine gute Sache, noch eine Möglichkeit neben oder über einer jeden schlechten Sache oder Möglichkeit ist« (17). Sie haben keine verschiedenen Orte. Denn Ethik beginnt mit der Einsicht, dass das Gute die Erfassung des Bösen ist und dass das Authentische und Eigentliche das Unauthentische und Uneigentliche zum 23 Das ist eine Anspielung auf Kojèves voyou désœuvré, dem untätigen Strolch (vgl. Einleitung oben sowie Kojève 2007). 24 Die Gehilfen als messianische Mittelwesen sind Kafkas und Walsers Figuren entlehnt (vlg. Kafka 2006 und Walser 1985).

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Inhalt hat: »Die Wahrheit kann nur zu Tage treten, wenn sie das Falsche zu Tage treten lässt, und das nicht irgendwo, von sich geschieden und an einen anderen Ort verwiesen.« (ebd.)25 Agamben spricht an dieser Stelle noch nicht wortwörtlich von Ideen, denkt aber beim Authentischen und Eigentlichen Platons Ideenlehre mit.26 Weiterhin stellt er sich ein unendlich viel schöneres Leben vor, wie es gewesen sein könnte, als das Gute und das sogenannte Böse noch in abgetrennten Bereichen lagen. Allerdings konnte man sich durch solch eine Trennung das Uneigentliche nicht aneignen, da die Bestätigung des Authentischen das Uneigentliche an einen anderen Ort verschob, den die Moral ausgrenzte.27 »Uns jedoch, die wir weder über Eigentum noch Eigenschaften verfügen (oder, im besten Fall, einen verschwindend geringen Anteil am Guten haben), eröffnet sich vielleicht zum ersten Mal die Möglichkeit, uns die Uneigentlichkeit als solche anzueignen« (18).28 Wobei das Aneignen Einnehmen des Nicht-Könnens und des Fremden bedeutet, wie das 25 Agamben erinnert auch an den Ausspruch »veritas patefacit se ipsam et falsum« (17) – die Wahrheit offenbart sich selbst und das Falsche. Aber in seiner Philosophie geht es nicht darum, wie eine mögliche Übersetzung nahelegt, dem Falschen mit der Wahrheit einen Raum bzw. Ort zu öffnen, sondern das Falsche anzueignen. Das heißt das Uneigentliche und Fremde. 26 Wie bereits erwähnt, gehen diese Gedanken auf die Ideenlehre Platons zurück. Vor allem sind diese in den mittleren Dialogen des Corpus Platonicum zu finden, nämlich in Phaidon, Phaidros und Parmenides (Platon 2004b, 2004c). Für Platon waren das Gute, das Wahre und das Schöne die höchs­ ten Ideen – und damit die Wirklichkeit und die Archetypen des Seienden. Sichtbare Gegenstände sind hingegen nur Abbilder dieser höchsten Ideen. Nichts kann darüberstehen und selbst Gott ist die Manifestation des Guten, des Wahren, des Schönen. Das Böse hingegen ist keine Idee, sondern nur die Abwesenheit des Guten. 27 Noch ein biblisches Beispiel: »Jedes Ergreifen des Guten bedeutete so notwendigerweise einen Zuwachs auf Seiten des abgeschobenen Bösen; je mehr Sicherheit die Mauern des Paradieses boten, umso bodenloser wurde der Abgrund der Hölle.« (18) 28 Damit eröffnet sich uns vielleicht zum ersten Mal die Möglichkeit, so Agambens Idee, »die Gehenna restlos in uns aufzunehmen« (18). Gehinnom bzw. gräzisierte Form Gehenna, bedeutet die Schlucht des Sohnes von Hinnom, und war eine Nekropole im biblischen Juda, wo Kinder geopfert wurden. Hat des Weiteren verschiedene Bedeutungen und wurde in der Bibel als Hölle übersetzt, wo Jesus sie nennt, »das ewige Feuer, da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht« (NT, Luther 1912, Markus 9: 43–44). Im jüdischen Glauben entspricht Gehinnom der die Vernichtung der Seelen. Auf welche Bedeutung Agamben sich genau bezieht, ist dabei nicht wichtig. Das Böse (die sprichwörtliche Leiche) muss für ein ethisches Handeln offenbart und aufgenommen werden, und zwar ohne Rest.

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Einnehmen eines Platzes.29 Nichts anderes ist das Wahrnehmen der Potenz, die so zu einer reinen Potenz wird. Wie die Singularitäten sind und wie sie nicht sind, macht sie singulär und begrenzt sie als Sein, das stets in seiner Potenz stattfindet. Daraufhin interpretiert Agamben eine gnostische Lehrmeinung, in welcher der Vollkommene ohne Sünde ist. Es geht nicht darum, dass der Vollkommene Verbrechen begehen kann, ohne sich zu versündigen, sondern dass er sich jede Möglichkeit des Bösen aneignen kann. So bleibt nichts Schlechtes mehr übrig, das begangen werden kann. Das Gute, oder in Agambens Beispiel Gott, »ist in jedem Ding als der Platz, den es einnimmt, er ist mithin die Begrenzung und Örtlichkeit jedes Seienden« (19).30 Oder anders formuliert: Gott, das Wahre und das Gute, haben keinen Ort, sondern sie begrenzen das Seiende, das sie einnimmt. Wirklichkeit drückt sich nur im Statt-Finden aus, denn das Transzendente ist kein höchstes Wesen über den Dingen: »Schlechthin transzendent ist vielmehr das Statt-Finden eines jeden Dinges – seine absolute Immanenz.« (ebd.)31 Dieser Satz ist der gänzliche Ausdruck der Theorie der Singularitäten, bei der das in der Theologie und Philosophie traditionelle Begriffspaar Immanenz und Transzendenz zusammengedacht wird. Wie bereits oben gezeigt, fallen Diesseitiges und Jenseitiges bei Agamben zusammen, wie auch die Vorstellungen von Innen und Außen. Dadurch, dass sich jedes Ding in seinem Statt-Finden absolut ausstellt, wird es transzendent. Da aber das Seiende dadurch zugleich begrenzt wird, ist es die absolute Immanenz. Die reine Transzendenz ist die absolute Immanenz. Nichts anderes sagt der Satz, der dem Buch vorangestellt ist: Alles in allem und nichts darüber hinaus (quodlibet est in quolibet et nihil est extra se). Zusammengefasst: »Gott, oder das Gute, oder der Ort haben keinen Ort, sondern sind das Statt-Finden der Dinge, ihre intimste Äußerlichkeit.« (19) Diese intimste Äußerlichkeit, wie das »Wurm-Sein des 29 Die Doppeldeutigkeit ist in der englischen Übersetzung klarer, in der das Kapitel mit Taking Place betitelt ist. To take place bedeutet im Englischen einerseits stattfinden, andererseits auch den Platz einnehmen (vgl. E 13). 30 Amalrich von Bena legte den Bibelvers – »ein Gott, der da wirket alles in allem« (NT, Luther 1912, 1. Korinther 12: 6) – pantheistisch aus, das heißt im Sinne von Platons Lehre der Chora (wird auch als Raum übersetzt). Die Lehre ist im Dialog Timaios zu finden (Platon 1994). Amalrich von Bena sah Gott nicht jenseits der Welt (transzendent), sondern in den Dingen (immanent). Die Amalrikaner, seine Schüler, gingen dafür allerdings auf den Scheiterhaufen. Man könnte sagen, dass Agambens Philosophie eine späte Rettung ihrer Seelen ist. 31 »l’aver-luogo di ogni cosa è il trascendente puro – assoluta immanenza« (I 16) – Das Statt-Finden von allem ist rein transzendent – die vollkommene Immanenz.

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Wurms, das Stein-Sein des Steins« (ebd.), ist das ausgestellte Sein. Kein Ding ist einfach gut, wahr, authentisch oder eigentlich, sondern kann das Gute, Wahre, Authentische oder Eigentliche nur in seinem Statt-Finden ausdrücken. Wahr ist das Ausstellen als So, das Statt-Finden. Versucht man sich ein weiteres Mal vorzustellen, wie sich das So-Sein auf die Zugehörigkeit selbst richtet, ihr also immanent wird, sollte man keine Orte der Zugehörigkeit mehr sehen, sondern immer ein Statt-Finden. Das ist die intime Äußerlichkeit, das Ausstellen einer Idee: Sie gehört nicht zu, sondern ist die Zugehörigkeit selbst. Oder wie Agamben sagen würde: sie findet statt. »Dass die Welt ist, dass etwas erscheinen und ein Gesicht haben kann, dass es Äußerlichkeit und Unverborgenheit als Bestimmung und Grenze eines jeden Dinges gibt: das ist das Gute.« (ebd.)32 Aber das meint auch die Wahrheit oder die Idee, denn ausgestellt und transzendiert wird »alle irdische Existenz, weil sie unwiederbringlich in der Welt ist« (ebd.). Daran kann man wieder an Agambens Vorstellung von Ethik anknüpfen, denn das Gute wird ins Böse verkehrt – das an keinem anderen Ort ist –, wenn man das Statt-Finden der Dinge auf »eine Tatsache unter anderen« (ebd.) reduziert. Böses entsteht, »wenn in Vergessenheit gerät, das[s] die Transzendenz dem Statt-Finden der Dinge selb[st] innewohnt« (19f). Sieht man sich die deutsche Sprache genauer an, können man analog dazu sagen, dass man Schlechtes nur begehen33 kann, wenn es einen Ort des Schlechten gibt oder man dem Schlechten einen Ort gibt. Das klingt wie eine philosophische Ertüchtigung, aber es ist ebenso nachvollziehbar, dass man dem Bösen einen Raum gibt, wenn man vergisst, dass das Gute im Statt-Finden der Dinge ist. Das Gute ereignet sich nicht an einem anderen Ort als in den Dingen selbst, an dem Punkt, »an dem diese ihr eigenes Statt-Finden ergreifen, an dem sie mit ihrer eigenen, alles andere als transzendenten Materie in Berührung kommen« (20). Es ließe sich sagen, um diesen Gedanken anschlussfähiger zu machen: Die wirkliche Welt, die stattfindet, und das, was man als das Gute bezeichnet, sind dasselbe. Erst wenn die Welt 32 Das Wort Unverborgenheit ist die Übersetzung von Agambens Neologismus illatenza – der wahrscheinlich eine Analogie zum griechischen Begriff der ἀλήθεια [aletheia] darstellt, den Heidegger schon als Unverborgenheit übersetzte. Es ist die Verneinung von latenza, sprich die Verneinung von Verborgenheit bzw. Latenz. Auch ist Unvorborgenheit eine Analogie zu dem auf den ersten Blick widersinnigen Begriff der intimen Äußerlichkeit für die Ausstellung von etwas ansonsten Unausgestelltem. Hier zeigt sich wieder eine doppelte Verneinung, die den vagen Blick fokussieren kann. Allerdings ist im Deutschen, anders als im Italienischen, der Begriff des Unverborgenen üblich. 33 Der Begriff Begehen ist im Deutschen eine Handlung, die auf einen Ort Bezug nimmt. Im Gegensatz zum Italienischen fare il male oder im Englischen commit evil – das Böse, das begangen werden kann.

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und die Gemeinschaft von falschen Zugehörigkeiten zertrennt werden, entstehen Abfallprodukte, Reste und abgeschnittene Orte, die es ermöglichen, Schlechtes zu begehen. So kann man »die Erlösung als das Zusich-Kommen des Ortes« (ebd.) verstehen. In diesem Kapitel hat Agamben die Basis für das Verständnis von Wahrheit und die Möglichkeit der Erkenntnis gelegt sowie aufgezeigt, wie das Dingliche mit den Ideen zusammenspielt. Weiterhin konnte man sehen, dass Existenz einerseits immer stattfindet, aber durch das Statt-Finden andererseits auch Handlungsweisen (das Ausstellen) ableitbar sind – wie hier beispielhaft ethische. All das wird zur Grundlage nicht nur für eine kommende Gemeinschaft, sondern für eine umfassende Theorie, die sich durch eine ungewöhnliche Methode fast unbemerkt entfaltet.

2.5 Principium individuationis Wie sich das beliebige Sein als Singularität ausweist, behandelt Agamben an dieser Stelle. Im Zentrum stehen Fragen wie: Was macht einen Menschen zum Menschen? Was zeichnet jeden einzelnen Menschen aus? Wie kommt man ohne die Differenzierungen der Zugehörigkeiten aus und kann trotzdem mehr als nur indifferenten Nebel erkennen? Es muss möglich sein, wie Agamben am Beispiel der unverwechselbaren, einzigartigen Liebe gezeigt hat, die von der faden, universellen Liebe absehen kann (siehe Kapitel 2.1). Agamben beginnt mit der Feststellung: »Das Beliebige ist das Mathem der Singularität« (21). Der Begriff Mathem wurde von Jacques Lacan in die Philosophie eingeführt. Er ist eine Entlehnung aus dem Altgriechischen für das Wort Lektion. Matheme sind bei ihm Formeln, die seine philosophischen Ideen als ideale Vermittlung repräsentieren – als ein Zeigen. Alain Badiou sieht im mathematischen Erkenntnisweg das wissenschaftliche Ideal. Die Mathematik als Ideal zu denken hat Tradition, nicht nur bei Pythagoras, sondern auch bei Nikolaus von Kues, Immanuel Kant oder Edmund Husserl findet sich diese Idee. Agamben aber, der mit einem genealogischen Herangehen arbeitet, scheint auf den ursprünglichen Begriff zu verweisen und setzt ihn mit dem Individuationsprinzip gleich (principium individuationis).34 Denn nur durch das Beliebige kann die Individuation der Singularität gedacht werden. Der grundlegende Einwand ist: »Beliebigkeit darf nicht mit Indifferenz verwechselt werden« (22). Welche Beziehung es zwischen den 34 Im italienischen Original benutzt er das Wort matema, die buchstabengetreue Übertragung aus dem altgriechischen μάθημα [matema].

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beiden gibt, führt das Thema an. Agamben überblickt kurz die Scholastik35 dazu und stellt fest, »dass weder die Idee noch die allgemeine Natur das Wesen der Singularität ausmachen können«. Damit ist diese »vollkommen unwesentlich und ihr Unterscheidungskriterium anderswo zu suchen als im Wesen oder im Begriff« (ebd.). Spinoza stellte fest, dass sich zwar alle Körper darin übereinstimmen, dass sie Ausdehnung ausdrücken, das Gemeinsame aber keinesfalls das Wesen eines Einzeldings ausmacht. Agamben schließt daraus eine unwesentliche Gemeinschaft: »Das Statt-Finden, durch das sich die Singularitäten im Attribut der Ausdehnung miteinander mitteilen, vereinigt diese nicht im Wesen, sondern verteilt sie in der Existenz.« (23) An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Übersetzung des Verbs communicare in der deutschsprachigen Ausgabe von Die kommende Gemeinschaft – mitteilen – auf die Wurzeln von Agambens Denken bei Walter Benjamin verweist. Durch das Statt-Finden können sich die Singularitäten ausdehnen, in die Existenz verteilen und sich damit mitteilen. Das ist sicherlich ein Gedanke, der auch auf Jean-Luc Nancys entwerkte Gemeinschaft verweist, wo es heißt: »Diese singulären Seienden werden jedoch selbst durch die Mit-Teilung, die sie zu anderen macht, verteilt und im Raum platziert oder besser gesagt, im Raum verstreut« (Nancy 1988: 57). Auch Agamben denkt die Verteilung in die Existenz und die Mitteilung zusammen und kombiniert dabei Heidegger und Walter Benjamin. Denn Ersterer sprach in seinem Buch Sein und Zeit (vgl. Heidegger 2006, dort: §§27 und §§75) davon, dass das Dasein in das Man zerstreut ist – allerdings in der Form einer Verlorenheit, aus der es sich nachträglich zusammenholen muss. Einige Elemente der Sprachtheorie Benjamins - insbesondere in Über Sprache überhaupt 35 Im Mittelpunkt steht hier wieder einmal Thomas von Aquin. Dessen Vorstellung des Individuationsprinzips aus der bezeichneten Materie (materia signata) ist im 2. Kapitel seines Textes Das Seiende und das Wesen (Aquin 1997) zu finden. Die Duns-Scotus-Diskussion bezieht sich auf dessen Hauptwerk Ordinatio (Scotus 1968, dort: II Sent. dist. 3, pars 1, qu. 6). Auch Duns Scotus spricht gewiss nicht wörtlich von einer beliebigen singulären Einheit, sondern von der Individualeinheit (unitas individui), die nicht widersteht (repugnat) – Agambens Zitat ist nur sinngemäß zu verstehen. Die Behauptung Wihelm von Champeaux – nicht wesentlich, sondern indifferent (non essentialiter, sed indifferenter) – stammt aus der Überlieferung Peter Abelards, veröffentlicht in seinem Buch Historia Calamitatum (Abelard 2002, dort: Kapitel 2). Der erwähnte Étienne Gilson war ein französischer Philosoph und hatte als Neuthomist die Philosophie Aquins zum Ausgangspunkt. Zudem zieht Agamben Baruch Spinozas Ethik-Buch (Spinoza 1975, dort wie erwähnt: II, Lehrsatz 13, Hilfssatz 2 und Lehrsatz 37) zurate, um das Problem der Individuation nach diesem uneinigen Überblick nicht zum Pseudoproblem werden zu lassen.

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und über die Sprache des Menschen (in: Benjamin 1991b) – begründet Agamben ontologisch, nämlich in der Existenzverteilung des beliebigen Seins. Seine Sprachkritik meint nicht Benjamins Vorstellung, die jede Mitteilung von geistigen Inhalten als Sprache denkt. Das geistige Wesen wird nicht durch die Sprache mitgeteilt, sondern in der Sprache. Agamben würde sagen: nicht in Zugehörigkeiten, sondern als Zugehörigkeit selbst. Beide verstehen diese Mitteilung nicht einfach als Kommunika­ tion mit anderen. Benjamin meint, das geistige Wesen wird in der Sprache mitgeteilt (also unmittelbar), aber trotzdem hat der Mensch auch das sprachliche Wesen: die benennende Sprache. Das geistige Wesen ist nur als Mitteilbares ein sprachliches Wesen oder andersherum gesagt: das sprachliche Wesen kann nur das sein, was am geistigen Wesen mitteilbar ist. Die Sprache des Menschen ist ohne Inhalt, sie teilt nur die Mitteilbarkeit der Mitteilung mit. Und so sieht es Agamben auch, allerdings hat er gezeigt, dass das Beispiel neben diese Inhaltsleere verweist, also auf den Inhalt selbst. Das ist durch die Sprache möglich und man kann dieses Konzept auch als Kommunikation mit anderen verstehen. In der Sprache, das ist das Thema dieses Kapitels, ist es anders. Für Agamben ist die vollkommene Ausstellung des So-Seins die reine Potenz, die reine Sprache, die vollkommene Mitteilung, das absolute Außen des Intimsten. Erst die vollkomme Ausstellung macht die Mitteilung unmittelbar. Da die Mitteilung die Ausstellung ist (oder umgekehrt), vereinen sich die Singularitäten nicht im Wesen, sondern verteilen sich. Das führt zu einer unwesentlichen Gemeinschaft. Die reine Äußerlichkeit der Sprache entlehnt Agamben von Michel Foucault und dessen Text Das Denken des Außen (Foucault 2001), denkt sie aber in der Ontologie des beliebigen Seins. Doch zurück zum Text: Agamben dreht hier das Denken über die Gemeinschaft um, bei dem das Statt-Finden nicht mehr ein gemeinsamer Ausdruck (Übereinstimmung im Wesen) ist, sondern sich die Singularitäten in der Existenz einfach verteilen. Dabei ist nicht der individuelle sprachliche Akt, die Mitteil- und Verstehbarkeit (wie über Beispiele) gemeint, sondern das Sich-zur-Gemeinschaft-Kommunizieren. Eine Gemeinschaft ist das Statt-Finden der Singularitäten, die sich durch die Ausdehnung in der Existenz verteilen und miteinander mitteilen. Wer sich in die Existenz verteilt bzw. zerstreut, teilt sich mit. Wobei das Mitteilen durch Verteilung im Übrigen wieder ein unadressierter Akt ist, genau wie die Briefe ohne Empfänger/innen. Das heißt, das Beliebige wird nicht durch die Indifferenz von allgemeiner Natur gegenüber der Singularität hervorgebracht, denn letztere verteilt sich schlicht in der Existenz. Der einzelne Mensch verteilt sich in der Menschheit, er muss dafür nicht benannt sein. Es geht nicht um die Indifferenz der allgemeinen Natur durch ein gemeinsames Wesen, sondern das Beliebige wird »durch die Indifferenz von Allgemeinem und Eigenen, von Gattung und Art, von 35

Wesentlichem und Nebensächlichen« (ebd.) hervorgebracht. Agamben folgt daraufhin mit einer der klarsten Formulierungen im Buch: »Beliebig ist ein Ding mit allen seinen Eigenschaften, von denen jedoch keine eine Differenz erzeugt.« (ebd.) Was im Umkehrschluss bedeutet, dass das beliebige Sein durchaus Eigenschaften hat, die zwar keine Differenzen erzeugen bzw. die sich in Zugehörigkeiten ausdrücken, aber das beliebige Singuläre als beliebiges Singuläres auszeichnen. Das bedeutet, dass die Indifferenz gegenüber jeglicher Eigenschaft die Singularität individuiert und disseminiert36: sie als die Zugehörigkeit selbst in die Existenz verstreut. Zwei Beispiele führt Agamben an: Das eine ist das Wort eines Menschen, das andere sein Gesicht. Das Wort ist weder die Aneignung eines Gemeinguts wie der Sprache noch die Mitteilung des Eigenen. Gleichermaßen ist das Gesicht nicht die Individuation einer »Gattungsfacies« (ebd.), aber auch nicht eine Verallgemeinerung dieser einmaligen Gesichtszüge37. Beliebig »ist ein Gesicht dann, wenn in ihm zwischen Gattungsspezifischem und Einmaligem nicht unterschieden werden kann«(ebd.). Das meint analog natürlich auch die Ununterscheidbarkeit zwischen dem ineffablen Individuum und dem intelligiblen Allgemeinen. Dieses Zwischen, diese Individuation, ist kein punktuelles Faktum, kein abgeschlossenes Ereignis, sondern wird im Statt-Finden immer wieder hervorgebracht, eine zwischen »Anwachsen und Nachlassen, zwischen Aneignung und Uneigentlichkeit« (24) schwankende Linie der Beliebigkeit38: »Das Allgemeine und das Eigene, die Gattung und das Individuum sind gleichsam nichts anderes als Abhänge, die beiderseits des Höhenkamms der Beliebigkeit abfallen.« (ebd.) Die Beliebigkeit (die Eigenheit des Beliebigen39) ist die Ununterscheidbarkeit zwischen diesen 36 Die Singularität wird also verstreut und »[…]macht sie [somit] liebenswürdig (quodlibetal) « (23). 37 Die Fazies ist ein zumeist in der Geologie gebrauchter Begriff, der die Eigenschaften eines Gesteins aus einer Entstehungsgeschichte beschreibt. Der lateinische Begriff facies bedeutet Gesicht, auch der gleichbedeutende englische Begriff face stammt daher. Agamben meint folglich eine Art individuellen Ausdruck einer Gesichtsgattung (ital. facies generica) – im Gegensatz zur Verallgemeinerung individueller Gesichtszüge. 38 Diese Linie der Substanzentstehung (linea generationis substantiae) verläuft zwischen dem Universalen (universalis) und dem Individuum (singularis). Auch das ist ein Thema der Scholastik, z.B. bei Roger Bacon und Thomas von Aquin. 39 Agamben nennt die Eigenheit des Beliebigen Idiotismen bzw. Idiotie. Damit erinnert er an den Ursprung des Wortes Idiot und bekommt so eine Überleitung zu Fjodor Dostojewskijs Buch Der Idiot (Dostojewskij 1998). Das griechische ἰδιότης [idiotes] bedeutet Eigenart. Der Idiot ist ursprünglich eigen wie das beliebige Sein eigen ist.

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und der Weg ist der Übergang von der Potenz zum Akt, das gegenseitige Durchdringen beider. Zwischen einem der beiden Abhänge zu wählen, das ist das falsche Dilemma, und nur durch die Beliebigkeit kann die Singularität als individuiertes Sein gedacht werden. Agamben schließt das Kapitel mit folgendem Satz: »Das Sein, das auf dieser Linie entsteht, ist das beliebige Sein und die Weise, auf die es vom Gemeinsamen zum Eigenen und vom Eigenen zum Gemeinsamen übergeht, nennt man Gebrauch – oder auch ethos.« (25) Gebrauch ist die Übersetzung des italienischen uso, ein Wort, das auch im deutschen Usus anklingt, Brauch, Lebensgewohnheit. Es ist gleichbedeutend mit dem griechischen Wort ἔθος [ēthos], wo sich die Beziehung zur Ethik offenlegt. So spannt sich wieder der Bogen vom Handeln des beliebigen Seins zum ethischen Handeln. Denn nach Agamben ist es dasselbe.40

2.6 Agio oder das Nächstliegende Wenn man all die schon in Beziehung zueinander gesetzten Gedanken Agambens rückblickend betrachtet, ergibt sich nach wenigen Kapiteln ein kraftvolles Bild. Da im Folgenden Detailarbeit für die vorangegangenen Konzepte geleistet wird – insbesondere zur Bestimmung des Ortes der Singularitäten wurde schon einiges gesagt –, versuche ich die Argumente nicht zu wiederholen. Worum es hier geht, kann man der Thematik Topologie des beliebigen Seins zuordnen, aber auch als die Ausdeutung eines möglichen Handlungsraums. Im Mittelpunkt steht ein Beispiel aus dem Talmud, bei dem jedem Menschen nach dem Tod zwei Plätze zugeteilt werden, einen in Eden und einen im Gehinnom – wobei Eden der spirituelle Ort der gerechten Seelen ist und Gehinnom der Ort der Bestrafung aller Frevler. Wer in Eden einzieht, bekommt den zweiten Platz seines verdammten Nachbarn dazu, weil dieser seinen Eden-Platz im Gehinnom nicht braucht – der Verdammte hingegen bekommt dort den zweiten Platz des Gerechten, der freigeworden ist41. Agamben thematisiert allein den angrenzenden 40 So ließe sich auch Heraklits berühmter Satz Ἦθος, ἀνθρώπῳ δαίμων [Ēthos anthrōpō daimōn] (Heraklit 1995, dort B 119) verstehen: Das Ethos ist des Menschen Daimon (sprich: seine Lebensweise, Lebensweg oder Schicksal). Das trifft zu, wenn der Mensch ein beliebiges Sein ist. 41 Die dem Judentum ausgehende Annahme, wir leisten auf Erden mehr Gutes als Schlechtes, führt dazu, dass das Leiden und Reinigen des Verdammten nach seinem physischen Ableben höchstens zwölf Monate andauert. Danach (mit Ausnahme von Extremfällen) darf die Seele nach Eden, wo jene der Gerechten schon sind. Das hat zur Folge, dass uns ein Platz in Eden und

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Platz, der jedem Menschen unweigerlich zukommt. »Das Eigentlichste jedes Geschöpfes ist also seine Austauschbarkeit, seine Bestimmung, immer schon am Ort des anderen zu sein.« (26) Bekanntermaßen lädt das vorurteilslose Denken in der Gemeinschaft der Singularitäten, die nicht durch die Bedingungen der Zugehörigkeit vermittelt wird, jede beliebige Singularität in sein Statt-Finden ein und »eben darum ist das Statt-Finden jedes singulären Seins immer schon allgemein, der leere Raum, der sich der unteilbaren, unwiderruflichen Gastfreundschaft eröffnet.« (27) Die Gastfreundschaft [ospitalità] ist dabei ein Begriff, der eine solche Gemeinschaft ausdefinieren kann. Im Agio, wie sich zeigen wird, ist jedes beliebige Sein ein/e Gastfreund/in. Dass dies keine einseitige Handlung ist, dafür spricht die Etymologie, denn die ospitalità, die Gastfreundschaft, leitet sich vom lateinischen hospes ab, das Gast und Gastfreund zugleich bedeutet. Auch hier muss das Denken der beliebigen Singularitäten die Mauer, die Eden vom Gehinnom trennt, niederreißen, denn es wurde – beim Errichten dieser – vergessen, dass die Transzendenz dem Statt-Finden der Dinge selbst innewohnt und nicht auf eine Tatsache unter anderen reduzierbar ist: »Denn in dieser Gemeinschaft ist jeder Ort nur in Stellvertretung besetzt, und Garten Eden und Gehinnom sind nur unterschiedliche Namen für diese allgemeine Stellvertretung« (28). Agamben nennt die »Unersetzlichkeit des Einzelnen, die in unserer Kultur einzig dazu dient, dessen allgemeine Repräsentierbarkeit zu garantieren« (ebd.), eine pathetische Mär, und bezieht sich direkt auf das Kapitel ›Tiananmen‹ (hier Kapitel 2.19). Allgemeine Repräsentierbarkeit ist natürlich die Zugehörigkeit zu etwas. Die in der Theorie einzige Unersetzlichkeit des/der Einzelnen kann nur als Individuation und Dissemination des Singulären gedacht werden. Tatsächlich ist der unabweisbar zugeteilte Platz des Nachbarn »nichts anderes als das Zu-sich-Kommen einer jeden Singularität, ihr Beliebigsein – d.h. so zu sein, wie sie ist« (ebd.). Der Eigenname dieses Gehinnom zusteht (siehe Babylonischer Talmud, z.B. Rosch Haschanah 1 oder speziell Schabbat 33b). Auch erlaubt dies die mögliche Auslegung, dass der Platz des Nachbarn im Gegenort frei bleibt. Dazu stellt Agamben zwei Bibelzitate in Beziehung, in denen der Gerechte doppelt bekommt und der Ungerechte zweifach zerschlagen wird. In keiner mir bekannten Ausgabe von Die kommende Gemeinschaft (auch nicht im italienischen Original) wird hier im ersten Fall aus einer gängigen Bibelübersetzung zitiert. Vermutlich bezieht Agamben sich hier auf Jesaja: »Für eure Schmach soll Zwiefältiges kommen, und für die Schande sollen sie fröhlich sein auf ihren Äckern; denn sie sollen Zwiefältiges besitzen in ihrem Lande, sie sollen ewige Freude haben.« (AT, Luther 1912, Jesaja 61: 7). Das zweite Zitat stammt aus Jeremia (AT, Luther 1912, Jeremia 17: 18).

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undarstellbaren Raums ist Agio42, der der freie Raum ist, »den jeder benötigt um sich frei bewegen zu können und der in einem Bedeutungsspektrum steht, in der die räumliche Nähe an den günstigen Zeitpunkt […] und die Bequemlichkeit an das richtige Verhältnis grenzt« (ebd.). Es ist kein Raum im Sinne eines lokalen Ortes oder einer Zugehörigkeit, sondern das Statt-Finden eines Dings selbst. Damit auch nicht ein bloßer Ort der Liebe, sondern vielmehr der Ort der Liebe als Erfahrung des Statt-Findens einer beliebigen Singularität43. Auch an dieser Stelle ist das Beispiel nicht nur ein symbolischer Vergleich, sondern vielmehr ein für die Logik der beliebigen Singularitäten fundamentales Abhandeln des sozialen Raums. Würde Agamben das nicht tun, müsste man den Raum voraussetzen, denn das Agio ermöglicht erst das Zu-sich-Kommen der Singularität. Dieser ermöglicht erst ihre Beliebigkeit, die der Grund ihres Seins und ihrer Individuation ist. Das Agio ermöglicht außerdem die Möglichkeit des Sozialen, in dem die Dinge nicht nur stattfinden, sondern auch zur Begegnung einladen. Nur dadurch lässt sich verstehen, wie die in der Existenz verteilten Singularitäten sich berühren, wie sie sich als unwesentliche Gemeinschaft erkennen und Liebe erfahren. Das Resümee ist, dass das Statt-Finden, das die unwiderrufliche Gastfreundschaft eröffnet, den sozialmöglichen Handlungsraum öffnet. Auch die Kommunikation ermöglicht, denn wie das Nächstliegende ist der eigentliche Ort des kommunizierbaren Beispiels immer neben ihm und weist auf das Unsagbare. Agio ist der freie Gebrauch des Eigenen44.

42 Agio ist das »Nächstliegende (das für Behaglichkeit, Bequemlichkeit, Spielraum oder Gelegenheit steht)« (28.) Das ist keine Formulierung Agambens, sondern eine Anmerkung des deutschen Übersetzers, wie es sie nur in der deutschen Ausgabe gibt – und nicht als solche ausgewiesen ist. Das Wort agio stammt von »ad-jacens, adjacentia« (ebd.), so Agamben. Die etymologische Nähe klingt eher im italienischen Wort für angrenzend an, accanto, aber vollkommen erst im Englischen: adjacent. 43 Diese Idee taucht erstmals in den romanischen Sprachen bei den provenzalischen Dichtern auf (aizi), schreibt Agamben. Vermutlich bezieht er sich neben Jaufré Rudel auch auf die Lieder von Wilhelm IX. von Aquitanien (1071–1126). Der Gruß der Liebenden – »Mout mi semblatz de bel aizin« – findet sich in dem Gedicht Farai un vers, pos mi sonelh, wird eigentlich Wilhelm IX. von Aquitanien zugeschrieben (Wilhelm IX. 1969) und lässt sich wie folgt übersetzen: Sie scheinen tatsächlich von schöner Natur / hoher Herkunft / guter Familie zu sein. 44 Wie Hölderlin 1801 in einem Brief an Casimir Ulrich Boehlendorff schreibt (Hölderlin 1993), ist der freie Gebrauch des Eigenen das Schwerste, wie Agamben interpretiert. So muss es auch der freie Gebrauch der Idiotie sein oder der des Beliebigen.

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2.7 Maneries Für das Wort maneries, dessen genaue Herkunft und eigentliche Bedeutung die Sprachhistoriker bis heute nicht finden konnten, schreibt Agamben, legt eine Definition nahe, »dass das, was man ›Manier‹ nannte, weder ein Gattungswesen noch eine Besonderheit meinte, sondern etwas wie eine exemplarische Singularität oder ein singuläres Multipel« (30).45 Manier ist also ein Exemplar, bei dem ein Ding gezeigt wird, um ein anderes zu bedeuten – ein Konzept, das unter anderem am Beispiel illustriert wurde und abermals auf eine beliebige Seinsweise deutet. Agamben leitet maneries von dem Wort manare ab – was auf Deutsch fließen oder strömen bedeutet –, statt von manere (Deutsch: bleiben) oder manus (Deutsch: Hand), um das Sein auf seine Entstehung zurück zu beziehen. Damit kann er die Manier aus der grundlegenden Unterscheidung der abendländischen Ontologie von Essenz und Existenz herauslösen, denn dieses Sein ist ein Drittes, nämlich eine Entstehungsweise46: »kein Sein, das auf diese oder jene Weise existiert, sondern ein Sein, das seine Seinsweise ist. Deshalb ist es multipel und kann für alle stehen, obgleich es ganz und gar nicht indifferent ist, sondern seine Singularität bewahrt.« (31) Eine multiple Singularität, die ihre eigene Seinsweise ist – sprich die sogenannte Entstehungsweise bzw. der ursprüngliche Manierismus des Seins –, ermöglicht zweierlei: erstens das Entstehen und So-Sein jedes beliebigen Seins, und zweitens knüpft Agamben so eine Verbindung von der Ontologie zur Ethik, denn: »Um ohne Abstriche sein So zu sein, darf sich das Sein weder unterstellt bleiben, noch darf es sich selb[st] als sein verborgenes Wesen voraussetzen, das einzig Zufall und Schickung nötigen, 45 Diese Definition stammt von Uguccione da Pisa, aus seinem Buch Magnae derivationes (das bisher nicht ins Deutsche übersetzt wurde: Uguccione da Pisa 2004). Maneries ist ein Begriff aus der Logik des Mittelalters, der angeblich von Johannes Roscelin und seinen Schülern (wohl Petrus Abaelardus) stammt. Agamben zitiert Abaelardus‹ Schüler Johannes von Salisbury – Kapitel 17 aus seinem Werk Metalogicon (lateinische Ausgabe: Saresberiensis 1991). Ich weiß nicht bzw. mir ist nicht klar (incertum habeo), woher der Begriff kommt und was er bezeichnet, meint Salisbury. 46 Im italienischen Original spricht Agamben von der maniera sorgiva, einer aufsteigenden oder quellenden Manier. Ich darf darauf hinweisen, dass Agamben den Begriff maniera im Kapitel ›Principium individuationis‹ (hier Kapitel 2.5) bereits angedeutet und dort am Ende verwendet hat. Der Übergang von der Potenz zum Akt führt über die linea generationis substantiae. Darum schreibt er: »Das Sein, das auf dieser Linie entsteht, ist das beliebige Sein und die Weise [maniera], auf die es vom Gemeinsamen zum Eigenen und vom Eigenen zum Gemeinsamen übergeht, nennt man Gebrauch – oder auch ethos.« (25)

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sich der Einschreibung von Qualitäten zu unterziehen.« (ebd.) Das heißt, Ethik setzt dem Sein voraus, sich selbst hervorbringen zu können, sonst gäbe es keine Ethik. »Um sein So zu sein, muss es sich mit allen seinen Qualitäten ausstellen – dann ist es weder zufällig noch notwendig, sondern wird gleichsam unablässig von seiner eigenen Manier hervorgebracht.« (ebd.) Das beliebige Sein ist daher nicht so, wie es kommen musste, sondern es ist, wie es ist, zitiert Agamben Plotin sinngemäß47. Abermals lässt sich hier Methodisches ablesen, denn weniger geht es darum, dass sich Agambens Theorie stark mit der von Plotin identifiziert. Es ist auch nicht wirklich philosophischer Eklektizismus, den Agamben betreibt, sondern vielmehr ein detektivisches Aufspüren von Ähnlichkeiten in der Denkgeschichte, die exemplarisch aufeinander verweisen. Er benutzt nur eine Facette von Plotins Gedanken als Beispiel, um auf ein Sein daneben zu verweisen. Agamben spricht schließlich nicht nur von Geist, wie es Plotin tut, sondern von einem beliebigen Sein, bei dem das Innere und Äußere zusammenfallen und ununterscheidbar werden – in einem durch den Körper strahlenden Geist. Es ist Agambens Vorstellung, dass dieses singuläre Sein etwas Ursprüngliche ist, das sich nicht nur in den Gedankengebäuden alter Denker finden lässt, sondern erst herausgelöst vollkommen in Erscheinung tritt. Mehr noch: die ständige Wiederholung von Beispiel zu Beispiel schärft den Blick. Weiterhin, so Agamben, lässt sich der freie Gebrauch des Selbst (oder des Eigenen) nur verstehen, wenn man ihn als Habitus oder als ethos denkt: »Ethisch ist jene Manier, die uns weder zustößt noch begründet, sondern hervorbringt.« (32)48 Und das ist das einzige Glück, dessen sich die Menschen versichern können. Agamben spricht von der Entstehungsweise als Ort der beliebigen Singularität, als sein Individuationsprinzip, denn die Entstehungsweise ist der freie Gebrauch des Statt-Findens, das Flimmern der Linie. Die Manier ist aber keine Eigenschaft, die das »Wesen bestimmt und festlegt, sondern eine Uneigentlichkeit« (ebd.), die man exemplarisch als sein Wesen angeeignet hat. Die Manier ist ein exemplarisches Sein, so wie es das Beispiel ist: »Das Beispiel ist das einzige Sein, dessen Beispiel es ist: doch dieses Sein gehört ihm nicht an« (ebd.) Man kann sagen, der Habitus, das heißt die Manier, stößt dem beliebigen Sein weder zu noch begründet 47 Das Zitat stammt aus Plotins Text Enneaden, 8. Buch, Absatz 16. Dort heißt es genau: »Er [der Intellect/Geist/nous] ist also nicht, wie er zufällig wurde, sondern wie er selbst will, und auch sein Wille ist nicht von ungefähr oder so zufällig; denn der Wille des Besten ist in seinem Sein nicht aus Zufall.« (Plotin 1878/80: 430). 48 Man nennt diese Hervorbringung von der eigenen Seinsweise auch gemeinhin Gewohnheit, wie Agamben erinnert – »deshalb sprachen die Griechen auch von der zweiten Natur« (32). Im italienischen Begriff abitudine (Gewohnheit) klingt der Habitus schon an.

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sie es, sondern bringt es hervor: sie lässt es ausstellen, ohne sich zu binden. Sie lässt es in das Agio ausdehnen, lässt es in die anderen auswandern und ermöglicht so erst die Liebe. »Die Uneigentlichkeit, die wir als unser eigenstes Sein zur Schau stellen, die Manier, die wir gebrauchen, bringt uns hervor; sie ist unsere zweite, glücklichere Natur.« (33) Die eigenste Uneigentlichkeit ist die intime Äußerlichkeit und auch die Überwindung von der Unterscheidung von eigentlich und uneigentlich, wie sie bei Martin Heidegger so entscheidend war. Denn das Uneigentliche ist das Fremde schlechthin. Auch ist die Aneignung des Uneigentlichen indessen die reine Potenz und ethisches Handeln. Die Manier ist das Individuationsprinzip, das Statt-Finden, Ausstellen in das Agio und gewiss auch die Kommunikation, die Möglichkeit der Liebe usw. Dies wird in der Theorie zum Muster, wie sich noch weiter zeigen lassen wird.

2.8 Dämonisch Im Kapitel ›Dämonisch‹ gibt Agamben die Antwort darauf, wie Menschen ihr Unvermögen kompensieren können. Als Detailbestimmung ist es für unser Verstehen von Agambens Theorie recht kurz zu behandeln, wie einige der Folgenden auch. Das ändert aber nichts daran, wie lesenswert auch diese als verschiedene Beispiele sind. Mehrfach wendet Agamben nun sein schon entwickeltes Konzept an, was an dieser Stelle erlaubt, bekannte Argumentationen zu überspringen. Das Dämonische ist das, »was traditionell als die höchste Form des Bösen gilt« (34), schreibt er und befindet sich gedanklich in den literarischen Welten von Kafka und Walser. Denn dort ist das Dämonische verschwunden und könnte nur existieren wie in Spinozas Gedankenspiel vom Teufel, der sich vorstellt, der Teufel sei das schwächste und gottfernste aller Geschöpfe »und als solches – d.h. insofern ihm Impotenz, Ohnmacht wesentlich ist – [kann es] nicht nur nichts Böses tun […], sondern […] [bedarf] unseres Beistands und unserer Gebete am nötigsten […]« (34f)49. Damit ist der Teufel die Impotenz Gottes oder die Potenz, nicht in Gott zu sein, die Agamben »die allen existierenden Wesen 49 Dieses Gedankenspiel stammt aus Baruch Spinozas Text Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück (Spinoza 1991, dort: Teil 2, Kapitel 25 ›Von den Teufeln‹). Er überlegt: Wenn der Teufel Gott entgegengesetzt ist, dann kommt er mit dem Nichts überein. Und wenn er nichts Gutes will, »so ist sicher ganz elend, und wenn die Gebete helfen könnten, so müßte man für ihn beten für seine Bekehrung« (ebd. 115) Im niederländischen Original heißt es: »zeker zo is hij wel ellendig, en zoo de gebeeden mochten helpen, zo was voor hem te bidden tot bekeringe« (Spinoza 2010). So ein Ding kann nicht existieren, folgert Spinoza.

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innewohnende Möglichkeit des Nichtseins« (35) nennt. Das einzig Böse ist unsere Reaktion auf das Dämonische, nämlich das davon Abwenden und Fliehen in die eigene Potenz, in das eigene Sein-Können. Man könnte auch sagen, bei Agamben wird das Abwenden vom Dämonischen ganz untraditionell zur höchsten Form des Bösen. Wieder steckt dahinter ein bekanntes Argument: Um dem Bösen zu entgehen, muss die Mauer zwischen Eden und Gehinnom eingerissen werden. Dieses dämonische Element ist, kurzgefasst, das Unvermögen eines jeden. »Indem wir vor unserem eigenen Unvermögen fliehen, besser, uns seiner als einer Waffe bedienen, erwerben wir die bösartige Fähigkeit, mit der wir jene unterdrücken, die uns ihre Schwäche zeigen […].« (ebd.) Umgekehrt verlieren der Mensch dadurch die eigene Möglichkeit nicht zu sein, die er für die Aneignung der Impotenz braucht und für das, was er nicht ist, um zu lieben bzw. die Liebenden im Agio zu empfangen. So kann Agamben Gottes Impotenz in Kontingenz verkehren, da Gott als das Gute schließlich nichts Böses tun kann. Seine Schöpfung, also die Existenz, entspringt seiner Ohnmacht gegenüber seiner eigenen Impotenz, nämlich aus dem Zulassen des Kontingenten, »da er vermag, nicht nicht zu sein« (ebd.). Die Impotenz bzw. die Potenz, nicht zu sein, kann man so als Wurzel des Bösen verstehen, aber wenn man zu ihr fähig ist – zur Potenz der Impotenz – entsteht Kontingenz. Die Kontingenz in der Welt des beliebigen Seins ist das Agio, die Erfahrung des Statt-Findens und der Liebe. Oder anders gesagt und damit gleichbedeutend: Die Wurzel des Bösen ist die Versuchung. Agamben meint, dass die Geschöpfe Kafkas und Walsers die Unschuld der Versuchung haben und treten darum »nicht in der Gestalt des Versuchers« (ebd.) – in der traditionellen Vorstellung des Teufels – auf, sondern sind Wesen, die für jede Versuchung empfänglich sind. So wie der bemitleidenswerte Teufel Spinozas. In unserer Zeit hingegen gibt es die Versuchung des Bösen – und diese rächt sich schnell50 –, aber in der Welt des beliebigen Seins kann die Versuchung nur zur Liebe führen. 50 Als Beispiel führt er Adolf Eichmann an, den er als absolut banalen [assoluta­ mente banale] Menschen bezeichnet. Dies ist offensichtlich eine Anspielung auf Hannah Arendts Idee der Banalität des Bösen, die diese in ihrem Buch Eichmann in Jerusalem (Arendt 1986) entwickelt hat. Wobei das Wort banal bei Arendt missverständlich war, benutzt Agamben es hier etymologisch richtig. Das Wort banal kommt vom französischen banalité, das wiederum von ban stammt und Verbannung meint. Agamben wird hier die Verbannung der Impotenz meinen. Was absolut banal ist, ist in dieser unüblichen Benutzung auch zugleich absolut böse. In der gegenwärtigen Bedeutung ist banal auch etwas mit minimalem Anspruch, und das wiederum bedeutet maximale Verführbarkeit. Allerdings handelt es sich hier vor allem um ein

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2.9 Bartleby In der Fortführung der Argumentation zur Potenz kommt Agamben von einer Auslegung des Begriffs der Möglichkeit bzw. Potenz bei Immanuel Kant51 über Aristoteles52 zu einem Ergebnis, das schon Ergebnis des vorherigen Kapitels war: »Im eigentlichen Sinne beliebig ist das Sein, das zum Nichtsein fähig ist, das die Potenz zur Impotenz hat, sein eigenes Unvermögen vermag.« (37) Er ergänzt, dass dies nicht bedeutet, jeglicher Potenz beraubt zu sein, »noch auch dass es unterschiedslos alles vermag, totipotent ist« (ebd.). Dafür ist die Weise (ital. modo), wie sich der Übergang von der Potenz (δύναμις [dýnamis]) zum Akt (ἐνέργεια [enérgeia]) vollzieht, relevant. Während die Potenz-zu-sein auf den Akt gerichtet ist, da sie es nicht vermag, nicht in den Akt überzugehen53, gilt für die Potenz-nicht-zu-sein: Sie hat ihre eigene Potenz zum Gegenstand und reflektiert dabei, dass der Akt nicht einfach ein Übergang von der Potenz in den Akt ist. Sie ist also eine Potenz der Potenz (lat. potentia potentiae), die nicht blind in den Akt übergeht (lat. potentia ad actum). Darum spricht Agamben von der höchsten Potenz, die gleichermaßen zu Potenz und Impotenz fähig ist. Wenn jede Potenz zu beidem fähig ist, kann nur die Potenz-nicht-zu-sein in den Akt überführen54, da die Potenz-zu-sein darüber nicht reflektieren kritisches Argument, denn in den »Gewalten des Rechts und des Gesetzes« (36) führt die Verführung zum Bösen. 51 Kant hat zu seinen Begriffen je ein zusammenfassendes, allgemeines und stellvertretendes Schema, das eine beispielhafte Definition ist – ähnlich wie das Mathem bei Lacan. Zu dem Begriff Möglichkeit ist das verkürzte Schema: »Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgend einer Zeit.« Das stammt aus seinem Hauptwerk Kritik der reinen Vernunft (Kant 1977: 192, dort: I., Zweiter Teil, Erste Abteilung, Zweites Buch, 1. Hauptstück). 52 Er bespricht hier zwei gleichbedeutende Begriffe aus Aristoteles‹ Buch Metaphysik (Aristoteles 1989): Unvermögen bzw. Impotenz (ἀδυναμία [adynamia]) (9. Buch, 1. – 1046a 29) und Agambens Zusammenschreibung Potenz, nicht zu sein (δύναμις μὴ εἶναι [dynamis mē einai]) (aus z.B. 9. Buch, 8. – 1050b 10). 53 Agamben nennt Friedrich Schellings Formulierung der blinden Potenz, für die Potenz, »die es nicht vermag, nicht in den Akt überzugehen« (38). Schelling sprach genau genommen oft von dem blind Seienden: »Das blind Seiende insbesondere ist das, dem keine Möglichkeit seiner selbst vorausgegangen ist.« (Schelling 1966: 36). Dabei geht es um Möglichkeiten vor der Handlung (dem Akt), die es bedarf, um nicht blind zu sein. 54 Das heißt: rettet (vgl. 38) was eine Referenz auf Aristoteles‹ Text De Anima (Aristoteles 2011, dort: II 5) ist. In 417b2 ist die Rede von dem Bewahren des Möglichen. Bewahren ist die Übersetzung des Altgriechischen σωτηρία [sōtēria], was genauer Rettung, Erlösung oder Befreiung

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kann. Um dies zu illustrieren, führt Agamben ein gegenwärtigeres Beispiel aus der Musik an: »Das bedeutet, dass, auch wenn zu jedem Pianisten notwendigerweise die Potenz, zu spielen, und die, nicht zu spielen, gehört, Glenn Gould gleichwohl der einzige ist, der es vermag, nicht nicht zu spielen, und, indem er seine Potenz nicht ausschließlich auf den Akt, sondern auch auf seine Impotenz richtet, gleichsam mit seiner Potenz, nicht zu spielen, spielt.« (38)55 Wendet man diese Theorie auf das Denken an, kommt man zur gleichen Konsequenz. Denn gäbe es nur die Potenz-dieses-oder-jenes-zudenken, wäre sie immer schon in den Akt übergegangen und ihrem Gegenstand unterworfen. Das Denken hat aber die Potenz, zu denken und nicht zu denken. Agamben bedient sich eines Beispiels von Aristoteles, der diesen möglichen Intellekt mit einer unbeschriebenen Schreibtafel vergleicht56. Mit der Potenz, nicht zu denken, kann das Denken sich auf sich selbst richten, auf das Denken des Denkens. »In diesem Fall denkt es also keinen Gegenstand, kein Im-Akt-Sein, sondern […] die Passivität selb[st], die reine Potenz« (39), und die Schreibtafel schreibt von selbst ihre eigene Passivität. So kommt man auch zum vollkommenen Schreibakt, der nicht aus dem Vermögen, zu schreiben, hervorgeht, »sondern bedeutet (ital. salvataggio). An dieser Stelle spricht Aristoteles auch von dem, was vom Akt in die Potenz führt – ἄγειν [ágein] –, was sich als geleiten, orientieren oder herausholen übersetzen lässt. Aus dem Kapitel stammt ebenso die Formulierung des wirkenden (oder poetischen) Intellekts (vgl. 40). 55 Zum besseren Verständnis habe ich zusätzliche Kommata in das Originalzitat eingefügt und denke, dass das Beispiel gut nachvollziehbar ist. Warum aber Gould der einzige Pianist war, der der es vermochte, nicht nicht zu spielen, kann ich nur vermuten. Ich erkläre es mir mit seinen untypischen Interpretationen, bei denen er Stilmittel wie das Non-legato-Spiel verwendete. Dabei werden zwischen den Tönen minimale Pausen eingelegt, um so den singulären Klang der Töne hervorzuheben. Es wird also die Potenz-nicht-zuspielen für die Potenz-zu-spielen benutzt. Trotz der eigenwilligen Interpretationen Goulds will ich noch einmal auf das eingangs erwähnte Zitat von Miles Davis hinweisen, das nichts anderes sagt: »Don’t play what’s there. Play what’s not there« (Carr 2016: 363) Ein weiteres Beispiel aus der Musik sind Edward Elgars 14 Enigma-Variationen: Dort verbindet alle Variationen ein Hauptthema, das nie gespielt wird und folglich keinen eigenen klanglichen Ausdruck als eine Variation hat. Was verbirgt das Rätsel anderes als die Wahrheit? 56 Auch dieses Bild stammt aus De Anima (Aristoteles 2011, dort: III 4, 429b 29–430a 2). Die Idee, statt tabula rasa (abgeschabte Schreibtafel) eher von rasum tabulae (Wachsschicht – Abschabbares der Schreibtafel) zu sprechen, entlehnt Agamben aus dem De-Anima-Kommentar des griechischen Philosophen Alexander von Aphrodisias‹ (Aphrodisias 1887: 84f).

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aus dem Unvermögen, das sich auf sich selbst richtet und so als ein reiner Akt zu sich kommt«57. Wie bei „Bartleby, also jenem Schreiber, der nicht einfach aufhört, zu schreiben, sondern ›lieber nicht‹ schreibt« (39f)58. Das Denken der beliebigen Singularität kommt ganz willkürlich zum Denken, wenn es sein Nichtdenken in den Akt überführt. Und auch die beliebige Singularität kommt gleichermaßen willkürlich zum Handeln, denn es ist nicht dem freien Raum neben ihm ergeben. Die beliebige Singularität hat die reine Potenz, potent zu sein und es nicht zu sein. Nur so ist sie nicht genötigt – braucht nicht blind in den Akt überzugehen –, die offenen Schwächen des Gegenübers als Waffe gegen ihn zu erheben, und eröffnet die Potenz, nicht böse zu sein.

57 Er führt das Beispiel von Al-Qalam, dem Schreibrohr, an – als Ort der unergründlichen Potenz. Allah befahl dem Schreibrohr, alles aufzuschreiben, auf der Tafel Al-Lauh-ul-Mahfoudh, was bestimmt ist, bis zum Jüngsten Tag und erst dann schuf er Himmel und Erde. Mehr dazu im Buch Sahīh von AlBuchārī (Rassoul 2008, dort: Kapitel 53. ›Vom Beginn der Schöpfung‹) und dem Koran (68. Sura vom Griffel). Mit der Brücke zu Herman Melville und zum »wirkenden oder poetischen Intellekt« (vgl. 40) Aristoteles‹ zeigt sich das Schreiben als wirksames Beispiel für das beliebige Sein und seine Ausstellung. 58 Agamben bezieht sich dabei auf die Erzählung Bartleby, der Schreiber von Herman Melville (Melville 2001). Bartleby lehnt die neue Aufgabe seines Chefs ab, da er es vorzieht, sie lieber nicht zu tun, aber an seiner alten Schreibarbeit schreibt er weiter. Er antwortet seinem Chef des Weiteren, dass er es für den Augenblick vorzieht, nicht zu antworten. Allein das Vorziehen, etwas nicht zu tun, ist der Ausdruck der Potenz der Impotenz. Ein anderes Beispiel, das man heranziehen könnte, ist Samuel Becketts Stück Warten auf Godot (Beckett 1988). Die Protagonisten Wladimir und Estragon warten, in einer Interpretation, auf Gott – namentlich auf Godot. Estragon vergisst Godot immer wieder und schlägt vor, dass sie losgehen sollen. Wladimir erinnert dann Estragon stets daran, dass sie nicht gehen können, da sie auf Godot warten. Wladimir schlägt irgendwann vor, dass sie sich am nächsten Morgen erhängen mögen, es sei denn, Godot käme, um sie zu retten. Ein letztes Mal fragt Estragon, ob sie gehen, und Wladimir stimmt ein. Gehen wir!, sagt Estragon, und sie bewegen sich nicht von der Stelle. Eine dramatische und existenzialistische Deutung könnte sein, sie gehen nicht, da Godot nicht da ist, und die sinnlosen Existenzen nehmen sich letztlich ihr Leben. Wenn aber Godots Ort und Nicht-Ort zusammenfallen, weil er immer da war oder zu Estragons Ausruf Gehen wir! kam, dann wird der Gehensakt des Nichtgehens zur Aneignung der Impotenz.

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2.10 Irreparabel Wie Agamben schon im Kapitel 2.2 ›Vom Limbus‹ ausgeführt hat, denkt er die kommende Gemeinschaft als die Welt nach dem Jüngsten Gericht59. Inspiration dafür findet er in Robert Walsers Gedanken über die gute, treue Erde, die der Autor während seiner berühmten Spaziergänge entwickelte und in Prosastücken niederschrieb.60 Agambens Schluss daraus lautet: »[A]lles wird so sein, wie es jetzt ist, durch nichts zu ersetzen – aber eben das macht seine Neuheit aus« (41)61. Durch nichts zu ersetzen, das ist das Irreparable62, denn es »bedeutet für die Dinge, unwiderruflich ihrem So-Sein überlassen zu werden, einzig und allein ihr So zu sein« (ebd.)63. Die Dinge sind ihrem So-Sein völlig überlassen und schutzlos ausgesetzt. Sie sind sich vollkommen überantwortet. Die beiden Orte der Geschöpfe – ante und post iudicium – werden ununterscheidbar. Das betrifft aber nicht nur das Wo-Sein, 59 Der Zustand der Welt nach dem (Jüngsten) Gericht ist der erwähnte Titel aus der Summa Theologica Aquins (dort: Supplement, quaestio 91 ›De qualitate mundi post iudicium‹). 60 Agamben nimmt Bezug auf Robert Walsers Texte Der Spaziergang sowie Frau Wilke (beide in: Walser 1973). Walser erkennt das Irreparable und sieht sich als Gefangener zwischen Himmel und Erde. Er schreibt in Der Spaziergang: »Erde, Luft und Himmel betrachtend, faßte mich der betrübliche, unwidersetzliche Gedanke an, der mich nötigte, mir zu sagen, daß ich zwischen Himmel und Erde ein armer Gefangener sei, daß wir alle auf solche Art kläglich eingesperrt seien, daß es für uns alle nirgends einen Weg in die andere Welt gebe, als den einen, der ins finstere Loch, in den Boden hinein, in das Grab hinabführt.« (ebd.: 70) In Frau Wilke ist das Zimmer von Frau Wilke auch nach ihrem Tod unverändert und erscheint irreparabel, was bei dem Protagonist einen Moment das Gefühl erweckt, er schwimme zwischen Leben und Tod: »Nach einer Weile stummen Stillstehens jedoch war ich befriedigt und beruhigt. Das Leben faßte mich bei der Schulter an und schaute mir mit wunderbarem Blick in die Augen. Die Welt war lebendig wie immer und schön wie in den schönsten Stunden. Leise entfernte ich mich und ging auf die Straße.« (ebd. 120f) 61 Das Irreparable wird von Agamben als Neuerung bezeichnet, aber genau genommen ist das Ausstellen als reine Potenz die Neuerung – das Irreparable ist ja die Grundlage für das Aneignen der Potenz und Nicht-Potenz. Das ist die Bejahung, wie Nietzsche sagen würde, aber dazu später mehr (siehe Kapitel 2.12). 62 Ich darf an das Gedicht Was es ist von Erich Fried erinnern, in dem die absolute Anerkennung des Zustandes von der Liebe ausgeht: »Es ist was es ist / sagt die Liebe« (Fried 1996). 63 Walser starb am ersten Weihnachtsfeiertag 1956 bei einem solchen Spaziergang. So ist Ort des Spaziergangs für Walser im Leben wie im Tod unverändert geblieben. Zudem ist der Tod sicherlich das Irreparable schlechthin.

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sondern auch das Was-Sein. Die Zugehörigkeiten des Was-Seins werden aufgehoben, nicht aber das Wie-Sein (und ihr So-Sein), denn das ist durch nichts zu ersetzen. Agamben schreibt, und das ist dem implizit, dass nach dem Jüngsten Gericht Notwendigkeit und Kontingenz aus der Welt verschwunden sind. Man kann nicht anders als so zu sein bedeutet darum, dass die Welt auf immer notwendig kontingent und kontingent notwendig ist. Daran knüpft ein Satz an, den man analog aufschlüsseln muss: Zwischen dem nicht Nicht-sein-Können [non poter non essere] – dem notwendig Kontingenten – und dem Nicht-sein-Können [poter non essere] – dem kontingent Notwendigen – »schiebt die endliche Welt eine Kontingenz zweiter Potenz, die absolut keine Freiheit begründet: sie kann nicht nicht sein. Sie ist zum Irreparablen fähig.« (42) Die Welt ist in ihrer Hervorbringung unwiderruflich. In der kommenden Gemeinschaft haben alle Elemente und Lebewesen ihre theologische Aufgabe erfüllt, in einer »unvergänglichen Vergänglichkeit« [caducità per cosi dire incorruttibile] und »über ihnen schwebt so etwas wie ein profaner Heiligenschein« (ebd.). Die letzte Formulierung ist das Bild für die irdische Glückseligkeit. Zwei Verse von Friedrich Hölderlin nennt Agamben die bündigste Formulierung dieser Bestimmung64: »Es zeiget sich mit einem goldnen Tage, Und die Vollkommenheit ist ohne Klage.« (Hölderlin 2000: 429)

Agambens Vorstellungen von Kontingenz, Notwendigkeit sowie dem Bösen haben ihre Parallelen zu Schellings Freiheitsschrift (Schelling 1907). Schelling unterscheidet Gott als Existierender (Prinzip des Verstandes) und als Grund seiner Existenz (Prinzip des Grundes). Das Prinzip des Grundes bildet in Gott etwas, das er selbst nicht ist: »die Natur – in Gott; ein von ihm zwar unabtrennliches, aber doch unterschiedenes Wesen.« (ebd.: 454) Mit Gott kommt das duale Prinzip des Grundes / Verstandes in die Natur und den Menschen: »Diejenige Einheit, die in Gott unzertrennlich ist, muß also im Menschen zertrennlich sein, – und dieses ist die Möglichkeit des Guten und des Bösen.« (ebd.: 460) Das Prinzip des Verstandes wird in der Kreatur zum Universalwillen, wird zum Guten als Geist der Liebe. Das Prinzip des Grundes hingegen 64 Die zwei Verse sind aus dem Gedicht Der Herbst, Nummer 10, im September 1837 geschrieben, aber nicht mit dem Pseudonym Scardanelli unterzeichnet. Ich habe mich entschieden, die Originalfassung – und nicht die Nachkorrektur Agambens – zu zitieren. Statt Es zeiget sich schrieb Agamben (Sie) zeiget sich [(Essa) si mostra], um den Vers auf die erwähnte Bestimmung zu lenken. Interessanterweise ist die Übersetzung in der englischen Ausgabe »(It) appears« (E 40) wieder richtig, nur eben »ein klein wenig anders« (51).

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wird zum Eigenwillen, zum Geist des Bösen. Das Licht und dessen ewig dunkler Grund. »Der reale und lebendige Begriff [der Freiheit] ist, daß sie ein Vermögen des Guten und des Bösen sei.« (ebd.: 448) Der Mensch kann als einziges Wesen die Wahl treffen und ist darum als einziges frei. Und an dieser Stelle trennt sich Agambens Argumentation von Schellings. Es klingt so, als stimmen beide darüber ein, dass das Gute und das Böse desselben Ursprungs sind. Auch dass das Böse durch den Eigenwillen, durch die eigene Potenz bzw. das eigene Sein-Können, getrennt vom Guten entsteht. Allerdings liegt dort ein Unterschied zugrunde, der das Weiterdenken erst möglich macht: Während bei Schelling das Prinzip des Grundes in Gott als Existierender die getrennte Welt (Natur) schafft, so meint Agamben, dass Gott als das Gute (als Potenz) nichts Böses (seine Impotenz) tun kann und ihm darum die Welt (Natur) passiv entspringt. Gott ist nicht der Grund (im Sinne der Potenz), sondern die Ohnmacht (im Sinne der Impotenz), welche die Kontingenz (Welt / Natur / Schöpfung / Existenz) zulässt – er vermag, nicht nicht zu sein. Mit Gottes nicht Nicht-sein-Können entstehen notwendigerweise kontingent die beliebigen Singularitäten. Sie haben ihr Sein-Können und Nicht-sein-Können, weil sie aber notwendig kontingent sind, sind sie nicht zum nicht Nicht-sein-Können (wie Gott) fähig. Also sind sie irreparabel (kontingent notwendig). Das duale Prinzip Schellings gibt es hier nicht. Notwendigkeit und Kontingenz sind nicht mehr getrennt zu denken, sondern verschwinden aus der Welt des beliebigen Seins in die Ununterscheidbarkeit. Das beliebige Sein ist frei darin, sich zu entfalten. Und das geht nur in einer reinen Potenz, die sich nicht nur die Potenz, sondern auch die Nicht-Potenz aneignet, für eine glückselige Welt und eine wirkliche Gemeinschaft. Offenbar wendet Agamben Nietzsches Idee der Bejahung auf Schellings Theorie von Gut und Böse an. Der späte Nietzsche entwickelt die vollkommene Lebensbejahung unter anderem im Buch Zur Genealogie der Moral: »lieber will noch der Mensch das Nichts wollen, als nicht wollen« (Nietzsche 1999a: 412). Die vollkommene Bejahung, der vollkommene Wille, die vollkommene Potenz machen Kontingenz und Notwendigkeit ununterscheidbar. So schreibt Nietzsche in Ecce homo: »Meine Formel für die Grösse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht.« (Nietzsche 1999b: 297) Nietzsche und Agamben denken beide eine Philosophie der Zukunft – in Nietzsches Denkweg Wie man wird, was man ist –, ist es die Liebe zum Schicksal, die jenseits von Gut und Böse führt. Bei Agamben geht es aber allein um das Prinzip der vollständigen Bejahung, nicht um den Willen zur Macht. Wenn überhaupt, müsste es ein ›Willen‹ zur Glückseligkeit oder der Liebe sein, denn er denkt nicht nur jenseits des Bösen, sondern sieht einen Weg, es aufzulösen. Darum auch seine Kritik an der Moral, welche die Potenz als Schuld betrachtet und ihren uneigentlichen 49

Teil an einen abgeschiedenen Ort ausgrenzt: raus aus dem moralischen Urteil für ein ethisches Handeln.65

2.11 Ethik Da in den vorangegangenen Kapiteln die wichtigsten Grundlagen zum Thema Ethik bereits erarbeitet wurden, soll dieses hier in aller Kürze behandelt werden: Eine ethische Erfahrung wäre nicht möglich, so Agamben, wenn der Mensch eine Bestimmung und somit Pflichten hätte. Diesen nachzukommen, hat mit ethischem Handeln nichts gemein. Trotzdem heißt das nicht, dass er »nicht irgendetwas ist oder sein sollte, dass er dem Nichts überantwortet wäre« (43). Das Neue an diesem Kapitel ist Agambens Anwendung der Potenz auf die Ethik, aus der sich folglich das herleitet, was die beliebige Singularität ist und sein sollte: »Es ist das schlichte Faktum seines Daseins als Möglichkeit oder Potenz.« (ebd.) Das eigenste Wesen des Menschen macht seine eigene Möglichkeit bzw. Potenz aus – was ihn schuldig macht und fühlen lässt66, allerdings nicht schuldig aufgrund einer strafbaren Handlung, wie Schuld von der Moral ausgesprochen wird: »der Mensch, der nichts anderes ist, nichts anderes sein soll als seine Möglichkeit oder Potenz, sich gewissermaßen selbst mangelt und sich diesen Mangel aneignen soll, als Potenz existieren soll.« (44) Ein Mangel, eine nicht begangene Tat, macht ihn schuldig67. Gemeint ist nicht eine Unterlassungssünde, da es ja keine Bestimmung gibt, sondern eine Unterlassungsschuld, von der man sich durch die eigene Potenz freispricht. Diese Idee erinnert sehr an Heideggers Vorstellung vom Ruf des Gewissens zum eigensten Seinkönnen.68 Schuldig macht sich sozusagen, wer seinem eigensten Seinkönnen und 65 Beide Denker haben weitere Parallelen in ihren Argumentationsprinzipien und Bildern: unzeitgemäß / messianisch, Morgenröte / kommende Welt, Zarathustra vom Berg / beliebiges Sein auf dem Bergkamm, Leid annehmen / Nicht-Potenz aneignen, Jenseits von Gut und Böse / Jenseits der Differenzen. 66 Agamben meint, auch das besagt die theologische Lehre der Erbsünde, dass wir immer schon in der Schuld für die Ursünde Adam und Evas stehen (vgl. 44). 67 Wie beispielsweise der Protagonist Perceval in Chrétien de Troyes‹ Roman Perceval oder die Erzählung vom Gral (Troyes 1990). Das gilt in vielerlei Hinsicht: z.B. Percevals Großwerden im Wald, ohne Einflüsse von außen (Mangel) oder seine nichtgestellte Frage nach dem Heiligen Gral (nicht begangene Tat). 68 Siehe dazu mehr in Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit, insbesondere §§ 54–62 (Heidegger 2006). Agamben, der 1966 und 1968 persönlich an Heideggers Heraklit-Seminar in Le Thor teilgenommen hat, zeigt in seinem gesamten Werk eine unübersehbare Prägung seines Lehrers, aber dieses Element ist sicherlich sehr heideggerisch.

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seinen Möglichkeiten nicht folgt. Allerdings würde Agamben das Uneigentliche vom Eigentlichen angeeignet sehen wollen, denn ist es abgetrennt, ließe sich Böses darin vermuten. Darum, schreibt Agamben, ist Reue in der Ethik falsch, aber das Verschulden darf man ebenso nicht unterdrücken, nicht von sich weisen. Die einzige ethische Erfahrung, die »weder eine Pflicht noch eine subjektive Entscheidung sein kann« (ebd.), ist die der eigenen Potenz, das heißt die Erfahrung Möglichkeit zu sein. Und das geht nur, wenn man mit der reinen Potenz sich auch auf die eigene Impotenz richtet, »d.h. in jeder Gestalt die eigene Gestaltlosigkeit und in jedem Akt die eigene Untätigkeit auszustellen« (ebd.). Bleibt man in der Schuld der Existenz – und Potenz ist der eigentlichste Modus der menschlichen Existenz (vgl. 45) –, verbannt man die Potenz-nicht-zu-sein der eigenen Existenz anstatt sie anzueignen. Auf diese Weise entsteht Böses. Und Moral, das ist ihr Schicksal, betrachtet die Potenz als eine zu unterdrückende bzw. zu verhindernde Schuld [colpa], so Agamben (ebd.). Also als ein Verschulden, wie die deutsche Übersetzung sagt. Damit hat Agamben nicht nur das ethische Handeln in einer bedingungslosen Gemeinschaft umrissen, sondern auch gezeigt, dass das Handeln in der kommenden Gemeinschaft immer das, was er ethisch nennt.

2.12 DIM Strumpfhosen In ›DIM Strumpfhosen‹ macht Agamben eine aufschlussreiche Analyse der Moderne, in Stil und Gegenstand an Walter Benjamins Ausführungen69 angelehnt. In Zentrum der Betrachtung stehen der Zustand der Welt und der Kairos. Letzteres ist bekanntlich eine Zäsur, ein Bruch oder eine Pause in der Geschichte, der das Kontinuum zu sprengen vermag. Friedrich Nietzsche und Walter Benjamin waren exzellente Lehrer des Kairos für Agamben. In seinem Aufsatz ›Über den Begriff der Geschichte‹ (insbesondere Kapitel XVI und XVII, in: Benjamin 1992 oder 1999) schrieb Benjamin von der »messianischen Stillstellung des Geschehens«, die es zu erkennen gilt, »einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit« (Kapitel XVII). Nietzsche sah zudem ein Problem des Wartenden: »Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten: aber die fünfhundert Hände, die es nöthig hat, um den καιρός [kairós], 69 Wichtig ist hier im Besonderen Benjamins Arbeit Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (in: Benjamin 1991a) – diese Verbindung deutet Agamben mit dem Verfall der Aura an (vgl. 47). Ebenso nennt er Siegfried Kracauer (ebd.), dessen Aufsatz Das Ornament der Masse (in: Kracauer 1977) Agamben wahrscheinlich das Beispiel der Tiller Girls (Agamben nennt sie nur girls) entlehnt.

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›die rechte Zeit‹ – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen!« (Nietzsche 1999a: 228) Auch Agamben hat für seine Philosophie die messianische Stillstellung des Geschehens entdeckt, die das beliebige Sein hervorbringen kann – nun fehlen ihm noch die fünfhundert Hände. Auch im Kapitel 2.4. ›Statt-Finden‹ kam er zu einer kairologischen Einsicht – da das ›Böse‹ in unsere Welt einzog –, als er zum ersten Mal die Möglichkeit sah, dass wir uns die Uneigentlichkeit als solche aneignen können. Für eine Ausdeutung der Theorie der Singularitäten ist Agambens Analyse des Beispiels der Tiller Girls weniger ergiebig als das Ergebnis, weshalb ich sie nur skizzieren werde: Er führt eine Strumpfhosen-Reklame als Eingangsbeispiel für die Säkularisierung des Körpers ein und meint vermutlich einen Werbespot der französischen Strumpfhosen-Marke DIM, der in den Pariser Kinos der 1970er ausgestrahlt wurde. Mit einem Schnitttrick erzeugen die Tänzerinnen im Spot – jede wurde einzeln aufgenommen und dann wurden alle nach Maßgabe der Tonspur zusammengesetzt – den Eindruck »merkwürdige[r] Gleichzeitigkeit von Synchronität und Dissonanz, Durcheinander und Vereinzelung, Mittelsamkeit und Fremdheit« (46) Durch die eisernen Gesetze der Massenproduktion und des Tauschwertes wird der menschliche Körper kommerzialisiert und befreit ihn scheinbar von seiner Unsagbarkeit, von seiner doppelten Last: von dem biologischen Schicksal (das Allgemeine) und der individuellen Biographie (das Individuelle) – analog zu den oben genannten Gegensätzen. Der Körper erscheint absolut mitteilbar, denn er hat sich vom unartikulierten Schrei des tragischen Körpers und der Stummheit des komischen Körpers verabschiedet70. Dies ist ein Säkularisierungsprozess, der den Körper von den theologischen Grundlagen löst. Und mit der Erfindung der Lithographie und Pornographie gibt es eine preiswerte und massenhafte Verbreitung von Körperdarstellungen: »[D]er Körper war nun nicht mehr generisch oder individuell, das Abbild einer Gottheit oder von tierischer Gestalt, er wurde im wahrsten Sinne des Wortes beliebig« (47). Agamben 70 Agamben benutzt hier das klassische Begriffspaar von Tragik und Komik. Seit Aristoteles‹ Poetik (Aristoteles 1994) wird das Verhältnis von Tragödie (ebd. Kapitel 6 bis 22) und Komödie (nicht überliefert) gedacht. Der absolut mitteilbare Körper hat sich dem unartikulierten Schrei des Tragischen und der Stummheit des Komischen entledigt. Was tragisch oder komisch ist, hat tragisch oder komisch geendet, da es ungehört blieb. Vermutlich gilt dies auch analog zu den genannten Gegensätzen und könnte wie folgt erklärt werden: In der Tragik wird das Erwartbare ungerecht abgelenkt und endet im Leid der Schuldlosen. Der/die Schuldlose fällt der Ungerechtigkeit der Anderen (dem Allgemeinen) zum Opfer. Hingegen wird in der Komik das Erwartbare unvermutet abgelenkt und endet im Dusel der Absichtslosen. Der/die Einzelne (das Individuelle) kommt mit einem heilen oder mit einem blauen Auge davon.

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sieht dort, wie Karl Marx71 schon, die geheime Solidarität der Ware mit Widersprüchen theologischer Natur. Die Kommerzialisierung befreit den menschlichen Körper vom theologischen Vorbild Gottes72, bewahrt jedoch seine Ähnlichkeit. Darauf folgt ein entscheidender Satz: »Das Beliebige ist eine Ähnlichkeit ohne Archetyp, d.h. eine Idee.« (48) Auch hier lässt Agamben zwei Gegensätze in der Beliebigkeit ununterscheidbar werden, ohne ihre Dimensionen zu nivellieren: Die magische und die mimetische Hervorbringung werden in der Ähnlichkeit ohne Archetyp als eine singuläre Bewegung gedacht. Vermutlich wurde Agamben hier von Aby Warburg und Walter Benjamin inspiriert, sie beide haben sich intensiv mit der Mimesis als einem zentralen Thema beschäftigt. Warburg weist seine Idee der Pathosformel als Ausdrucksgebärde von passiv (sozial-psychisch) Erlebtem als Ähnlichkeit in der Renaissancekunst nach. Berühmt ist sein Fragment gebliebener Bilderatlas Mnemosyne (Warburg 2008). Und Benjamin schrieb in seinem Aufsatz Über das mimetische Vermögen (in: Benjamin 1992) von der Idee: Was nie geschrieben wurde, lesen. Das ist ein Vers aus dem Drama Der Tor und der Tod von Hugo von Hofmannsthal (Hofmannsthal 1913). Benjamin war der Meinung: »Dergestalt wäre die Sprache die höchste Stufe des mimetischen Verhaltens und das vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit: ein Medium, in welches ohne Rest die früheren Kräfte mimetischer Hervorbringung und Auffassung hineingewandert sind, bis sie so weit gelangten, die der Magie zu liquidieren.« (ebd.: 94) Nichts anderes ist für Agamben die Ähnlichkeit ohne Archetyp – sie ist die Zugehörigkeit selbst, in der Sprache und Sein eins werden. Der fehlende Archetyp zeigt sich in der Verschiedenheit von der vollkommen austauschbaren »Schönheit des technisierten Körpers« und dem Unikum Helena73, dennoch durchzittern74 beide »so etwas wie 71 Gemeint ist wohl der Warenfetisch bei Marx: Der Begriff Fetischismus galt einst dem religiösen Glauben an die Zauberkraft selbstgefertigter Gegenstände. Marx lehnte seine Idee des Warenfetisch, eine Art kapitalistischer Glaube an das Eigenleben der Ware, daran an. Mehr dazu in Das Kapital (Marx 2008, dort: Band 1, I. 1.4 ›Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis‹). 72 Das galt einer widersprüchlichen immateriellen Ähnlichkeit mit einem unsichtbaren Archetyp, nämlich mit Gott: »Laßt uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei« (AT, Luther 1912, 1. Mose 1: 26). 73 Helena verwirrte die Herrscher Trojas am Skaianischen Tor. Agamben zitiert hier wortgetreu aus der italienischen Übersetzung von Homers Ilias, 3. Gesang, 158. In der deutschen Übersetzung heißt es: »Einer unsterblichen göttin fürwahr gleicht jene von ansehn!« (Homer 1806: 71). Darum gilt auch in Goethes Faust II (Goethe 2008) Helena (und ihr männliches Pendant Paris) als Symbol der antiken Schönheit. 74 Zwar mag die deutsche Übersetzung von dem Italienischen vibra als durchzittern befremdlich klingen (man könnte es auch als durchvibrieren und

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Ähnlichkeit«: der menschliche Körper gleicht nur noch »den Körpern der übrigen Menschen« (ebd.). Darin sieht Agamben außerdem den Grund für das Verschwinden der menschlichen Figur aus den Künsten und den Niedergang des Portraits. Hier folgt ein aufschlussreicher Satz: »[S]ollen Beliebigkeiten festgehalten werden, bedarf es eines Kameraobjektivs.« (48) Während das Portrait das Einzigartige jeder menschlichen Figur herausarbeitet, greift die Kamera die Figur mit all ihren Prädikaten, die ausgestellt sind – das beliebige Sein ist stets vollkommen ausgestellt. Das Motiv auf dem Foto selbst ist irreparabel, was bedeutet, dass die Ausstellung vollendet ist. Das bedingen allerdings vor allem die Grenzen des Fotos und nicht die der Menschen. Die Ähnlichkeit, in der der menschliche Körper nur noch den Körpern der übrigen Menschen gleicht, wurde nicht nur zum Bild eines Körpers, sondern zu einem zweiten Körper75 – der die organischen Schranken sprengt, »die es dem Menschen verwehren, seinen unbedingten Anspruch auf Glück [durch absolute Mitteilbarkeit] erfüllt zu sehen« (49). Das heißt, der Prozess der Technisierung betrifft nicht die Materialität des Körpers, sondern hat eine separate Sphäre errichtet: »was technisiert wurde, war nicht der Körper, sondern sein Bild.« (49) Die Folge, so Agamben: »Deshalb konnte der strahlende Körper der Werbung zur Maske werden, in der der hinfällige, schmächtige Körper des Menschen seine prekäre Existenz führt, und deshalb verdeckt der Glanz der geometrisch angeordneten girls die langen Reihen der anonymen, nackten Körper, die im Lager76 ihrem Tod entgegengehen und die abertausend verstümmelten Leichen der Schlachthausszenen, die auf den Autobahnen mittlerweile zum Alltag gehören.« (49f)

In der separierten Sphäre zeigt sich eine Parallele zu der aus der eigenen Existenz verbannten Potenz-nicht-zu-sein, was Agamben im vorherigen Kapitel das Böse nannte. Der Kapitalismus begrenzt die menschliche Natur auf das Spektakel77 und im Sinne der ethischen Erfahrung muss sich -schwingen übersetzen), aber im Folgekapitel 2.13. ›Aureolen‹ beschreibt Agamben die Ränder des Seins als ein Zittern [tremito]. In der englischen Ausgabe wird der Begriff des Durchzitterns ganz unterschlagen. 75 Das Beispiel des Bildhauers Pygmalion – der das Abbild einer Frau erschuf und sich darin verliebte – stammt aus Ovids Metamorphosen (Ovid 1994, dort: ›Pygmalion‹, 10. Buch). Der Wunsch nach einem zweiten Körper, der Pygmalions Glück erfüllen soll, rührt von seiner Abneigung gegen die unmoralischen Propoetiden (den Töchter des Propoetus) her. 76 Auch im italienischen Original auf Deutsch Lager (vgl. I 44). 77 Der Begriff Spektakel referiert auf Guy Debords Idee von der Gesellschaft des Spektakels (Debord 1994), die im Kapitel 2.18 Schechina weiter ausgeführt wird.

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der Mensch diese zu Eigen machen, »Bild und Körper in einem Raum« verbinden und »so einem beliebigen Körper Gestalt« geben, dessen »physis bloße Ähnlichkeit ist« (50). Also das Glücksversprechen einlösen, das die Tänzerinnen im Strumpfhosenwerbespot unbedacht gaben. Agambens Argumentation lässt sich wie folgt begründen: Die heutige Gemeinschaft ist keine wirkliche, sie ist vom Allgemeinsten beschnitten. Was meint, dass die abgetrennten Räume der Zugehörigkeiten die Wurzel für die Manipulation und Neuerfindung des weiblichen Körpers sind, der die nackten Körper in den Konzentrationslagern oder die Unfallopfer auf der Autobahn verdeckt. Die kommende Gemeinschaft prägt eine Beliebigkeit der Singularitäten in ihrem Wie. In der beschnittenen Gemeinschaft wurde hingegen eine Beliebigkeit des Was eingeführt, nämlich als Ununterscheidbarkeit der individuellen Körper, die sogenannte Kommerzialisierung dieser. Das ist zwar fatal für unsere Ethik, da die »verstümmelten Leichen der Schlachthausszenen« (ebd.) aus dem Bewusstsein verschwinden und zum Alltag werden. Allerdings werden die Werbung und die Pornographie, welche die Ware unwissend zu Grabe tragen, so Agamben, zu den »Geburtshelferinnen des neuen [beliebigen] Körpers der Menschheit« (ebd.) – in einer messianischen Stillstellung des Geschehens.

2.13 Aureolen Im Folgenden befasst Agamben sich ein weiteres Mal mit der Individuation, die er zu seiner Vorstellung von Glückseligkeit ausarbeitet. Er beginnt mit einem Gleichnis, das wie der Spaziergang Robert Walsers im Kapitel ›Irreparabel‹ (hier 2.10 ›Irreparabel‹) anmutet. Beide Texte fragen nach dem Zustand der Welt nach dem Jüngsten Gericht und ›Aureolen‹ stimmt der Analyse mit einer einzigen Ergänzung überein: In der kommenden Welt wird alles genauso sein wie hier, nur ein klein wenig anders. Das besagt ein Gleichnis, das Walter Benjamin, der es von Gershom Scholem kannte, Ernst Bloch erzählt hatte. »Es wird dort alles eingerichtet sein wie bei uns«, schreibt Benjamin, »[w]ie unsere Stube jetzt ist, so wird sie auch in der kommenden Welt sein […] Alles wird sein wie hier – nur ein klein wenig anders.« (Benjamin 1991c: 417) Bei Bloch heißt es, »um das Reich des Friedens herzustellen, werden nicht alle Dinge zu zerstören sein und eine ganze neue Welt fängt an; sondern […] alle Dinge sind nur ein wenig zu verrücken.« (Bloch 1985: 201f) 78 78 Wenn Agamben schreibt, dass diese These, radikalisiert, schon von indischen Logikern behauptet wurde, meint er vermutlich die Verse von Nāgārjuna. In seinem Text Die mittlere Lehre des Nāgārjuna heißt es: »nirvāṇa ist von

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Das Reich des Messias bzw. das Nirwana ist nur geringfügig verrückt. Das betrifft keine tatsächlichen Gegebenheiten79, denn nicht »der Zustand, sondern der Sinn und die Grenzen der Dinge werden geringfügig verrückt« (52). Aber nicht in den Dingen, sondern an ihrem Rand, »in jenem Spielraum [agio], der zwischen jedem Ding und ihm selb[st] liegt« (ebd.). Um diesem Geheimnis nachzukommen, führt Agamben Thomas von Aquins Abhandlung über die Aureole an80. Darin heißt es, die Glückseligkeit der Erwählten schließt »alle Vermögen ein, die notwendig sind, um den Verrichtungen des menschlichen Lebens auf vollkommene Weise nachkommen zu können« (ebd.). Es kann der Glückseligkeit also nichts Wesentliches hinzufügt werden, womit der Aureole (dem Supplement) nur eine Aufgabe zuteilwird und ihr eine so genannte akzidentielle Auszeichnung zukommt: »ein Erzittern dessen, was zu seiner Vollendung gekommen ist, nicht mehr als ein Schillern an seinen Rändern.« (53) Die Aureole ist kein Was (lat. quid), keine Eigenschaft, kein Wesen, sondern ein unwesentliches Supplement, das mit der Glückseligkeit zur Vollkommenheit gelangt. Sie ist eine akzidentielle Auszeichnung [superaddi] für den Status der Vollkommenheit [status perfectionis], was bekanntermaßen die Kombination aus Kontingenz und Notwendigkeit ist. Die Vollendung ein klein wenig anders ist damit eine Zwischenfigur wie das beliebige Sein.81 »Die Aureole ist folglich die Individuation der Glückseligkeit, das Singulär-Werden des Vollendeten.« (54) Im Gegensatz zu Thomas von Aquins Vorstellung von dieser vollständigen Bestimmung des Seins, sieht Duns Scotus darin einen Zustand äußerster Singularität82, ein Ausfransen oder Unbestimmtwerden der Seinsgrenzen: »eine paradoxe Individuation durch Unbestimmtheit.« (ebd.) Sie ist eine Zone, »in der Möglichkeit und Wirklichkeit, Potenz und Akt ununterscheidbar werden« (ebd.)83, die Agamben als unwahrnehmbares Zittern oder Ausfransen der Grenze bezeichnet. Wenn das Sein seine Möglichkeiten erschöpft hat, seinem Mangel durch das Ausstellen nachgekommen ist, wird es der saṃsāra nicht im geringsten unterschieden; saṃsāra ist von nirvāṇa auch nicht im geringsten unterschieden.« (Nāgārjuna 1912: 173) 79 Denn nicht die Nasenlänge der Seligen verkürzt sich, wie Agamben spaßt (vgl. 52). 80 In Thomas von Aquins Summa Theologica, Supplement, quaestio 96. 81 Agamben fügt hinzu, dass Thomas von Aquins Einführung eines unwesentlichen Supplements Duns Scotus half, das Problem der Individuation anzugehen. Gemeint ist die Lehre von der Haecceitas, die als Gegenidee zu den allgemeinen Eigenschaften Quidditas, Individuelles und Allgemeines zugleich ist. 82 Das ist ein Neologismus, der auf Italienisch ultimità singolare heißt. Gemeint ist ein äußerster Zustand im Sinne von komplett bzw. final. Eine vollkommen irreparable Singularität. 83 Diese Vermischung von Potenz und Akt bezeichnete Franciscus de Marchia als als actus confusionis – als konfusen Akt.

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»Gabe einer supplementären Möglichkeit zuteil« (ebd.). Dieses Zittern der Verrückung macht die Seinsgrenzen beliebig, und die reine Potenz entfaltet sich im Agio, wo sie nicht mehr in einer Form eingeschlossen ist. Die Glückseligkeit umgibt und erstrahlt jede Sache in der messianischen Welt. Im Mittelpunkt des Kapitels steht also eine aufschlussreiche Beobachtung, denn Glück und Glückseligkeit des Seins gehen über dessen eigene Möglichkeiten hinaus.

2.14 Pseudonym Hier thematisiert Agamben die Namen in der Sprache und diskutiert ihren Sinn, den sie in der kommenden Gemeinschaft noch haben können. Dafür steckt er als Erstes »den Bereich und die Geltung der menschlichen Sprache« ab – die Extreme, »die ihren Bezug zu den Dingen eingrenzen« (56), und zwar einerseits das Unsagbare: Es wird als Klage ausgedrückt (stets in Form von Sprache), immer dann, wenn sich die Natur von der Bedeutung verraten fühlt. Andererseits die absolute Sagbarkeit: Sie wird als Lob ausgedrückt (vor allem als Lob des Namens), immer dann, wenn der Name die Sache vollkommen ausspricht. Walsers Sprache entgeht beidem, denn seine Welt ist nach Agamben eine vorhöllische84. Sie hat ihre theologische Aufgabe überlebt, wenn die Sprache im Abendland als eine »Maschine zur Hervorbringung des Namens Gottes« diente, um in Gott »das Bezeichnungsvermögen selb[st] zu begründen« (ebd.). »Einer Natur, deren kreatürliche Bestimmung erschöpft ist, steht eine Sprache gegenüber, die jedem Anspruch darauf, die Dinge zu benennen, entsagt hat.« (ebd.)85 Das Ende der theologischen Aufgabe geht daher Hand in Hand mit dem Ende einer gewissen Sprachgläubigkeit, die Agamben kritisiert. Analog zur Idee des Beispiels spricht er Walsers Prosa den semantischen Status des Pseudonyms oder des Beinamens zu. Das heißt, es ist, »als ob jedem Wort ein unsichtbares ›so genannt‹, ›Pseudo-‹ oder ›angeblich‹ vorausgeht« (ebd.), so als wollten die Worte gegen ihr denominatives Vermögen86 Einspruch 84 Agamben nennt das Unsagbare und die absolute Sagbarkeit ontotheologisches Pathos. Die Ontotheologie geht auf Kant zurück und meint, Gott aus bloßen Begriffen und nicht aus Erfahrungen zu verstehen. Walsers Sprache entgeht der Unsagbarkeit mit keuscher Undeutlichkeit, die absolute Sagbarkeit wird bei ihm nur gekünstelt, mit stereotypem Manierismus. HölderlinScardanelli kündigt dies schon an, wie Agamben meint (vgl. 56). 85 Der Begriff ent-sagt ist im Übrigen auch eine Potenz-des-nicht-sagen-können. 86 In der deutschen Übersetzung heißt es an dieser Stelle Bezeichnungsvermögen – wie auch schon zuvor (vgl. 56). Allerdings benutzt Agamben die italienischen Begriffe potere referenziale und potere denominante. Bezeichnungsvermögen ist ein Begriff von Kant und der beschreibt ein Vermögen,

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erheben – ähnlich der Müdigkeit87. Agamben sieht erkennt einen erschöpften Zustand der Sprache, die eine Scham gegenüber dem Referenten hat, gegenüber dem, was sie bezeichnen soll, und sieht diesen im Supinum entsprochen. Das ist eine seltene infinite Verbform – selten im Lateinischen, im Deutschen gibt es sie gar nicht: »d.h. eines Wortes, das einer vollständigen ›Deklination‹, einer Beugung in Kasus und Modi unterzogen wurde, und nun ›rücklings‹ [supinus] darniederliegt, ausgestellt und neutral.« (ebd.) Im Fall und Sinn irreparabel weiß dieser Ausdruck schon, was passieren wird. Der Referent selbst hält sich dabei unangesprochen im Pseudonym bzw. Agio auf, »zwischen dem Namen und dem Beinamen«88, wie Agamben so schön formuliert (ebd.). Aus diesem Spielraum geht die Figur hervor: »der Begriff, der in den Briefen des Paulus dasjenige bezeichnet, das angesichts einer Natur, die nicht stirbt«, vergeht89 und der Name, den das durch die Erkenntnis des Gegenwärtigen das Vorhergesehene mit dem Vergangenen verknüpfen kann. Die Bezeichnung ist die Handlung, die diese Verknüpfung bewirkt (vgl. Kant 1986, dort: Erstes Buch, § 38, ›Von dem Bezeichnungsvermögen (Facultas signatrix)‹). Im Allgemeinen ist diese Übersetzung verständlich, dennoch verdeckt sie eine Absicht Agambens, wie ich meine: Die Macht oder Fähigkeit der Referentialität, das Auf-etwas-verweisen-können [potere referenziale], wollte man in Gott begründet sehen, denn die Sprache war stets die Hervorbringung des Namens Gottes. Hingegen meint denominativ: vom Namen her. Walsers Worte erheben so Einspruch, vom Namen Gottes etwas ableiten zu können. 87 Walser schrieb am 12. Februar 1927 wörtlich an Frieda Mermet: »Meine kleinen Prosastücke beliebt mir mit kleinen Tänzerinnen zu vergleichen, die so lange tanzen, bis man sie vollständig verbraucht sind und vor Müdigkeit hinsinken.« (Walser 1996: 292) 88 Das beliebige Sein, d.h. der Referent, findet sprachlichen Ausdruck im Pseudonym, welches die Figur – analog zu Himmel und Erde – zwischen dem Namen und dem Beinamen ist, zwischen der Bezeichnung Gottes und der Bezeichnung der irdischen Tat. Der Beiname [agnomen] brach vielleicht die römische Dreinamigkeit [tria nomina] auf, bestehend aus Vorname, Familienname und Beiname [praenomen, nomen gentile, cognomen]. Er wird eingeleitet mit: der auch … genannt wird [qui et vocatur …]. 89 Die deutsche Übersetzung sagt genau Gegenteiliges. Aber die Figur »überlebt« (58) nicht, wie es dort heißt, sondern vergeht. Sie ist das, was vergeht angesichts der Natur, die nicht stirbt [che trapassa di fronte alle natura che non muore]. Denn Agamben bezieht sich insbesondere auf einen Bibelvers, bei dem selbst einige der deutschen Übersetzungen die Interpretation der Figur unterschlagen. Da heißt es: »παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμου τούτου« (NT Graece NA27, 1. Korinther 7: 31). Bekannte Übersetzungen sind jene: »Denn das Wesen dieser Welt vergeht.« (NT, Luther 1984, 1. Korinther 7: 31); oder: »denn die Gestalt dieser Welt vergeht« (NT, Elberfelder/Einheitsübersetzung, 1. Korinther 7: 31). Das Wesen, die Gestalt

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Walser dem Leben gibt (57f). In einer Welt ohne Klage und Lob – z.B. mit keuscher Undeutlichkeit und stereotypem Manierismus –, rückt das zum Vorschein, wird das bezeichnet, das zuweilen hinreißt, es nicht auszusprechen90: das irreparable, vergängliche, mitteilbare, beliebige Sein in seinem Agio. Obwohl das Kapitel die Benennung zum Thema hat, widmet Agamben sich dem Verhältnis des beliebigen Seins zur Sprache und der Welt. Denn wenn das beliebige Sein und die Welt eins sind und das sprachliche Sein abgeschieden ist, kann die Sprache immer nur an der Welt vorbeinennen. Das Sprechen durch die menschliche Sprache, das Kommunizieren, ist mit dem Beispiel und dem Pseudonym möglich. Beide hintergehen die leere Sprache. Die erschöpfte Sprache (ohne theologische Aufgabe – das Pseudonym, das Sogenannte) hintergeht nämlich das Benennen, indem sie sich nicht mehr auf die Forderung nach direkter Referentialität und direkte Ableitbarkeit einlässt und indirekt auf den Referenten im Agio zeigt – exemplarisch.

2.15 Klassenlos Agamben hat, wie im Kapitel ›DIM Strumpfhosen‹ (hier 2.12), eine kairologische Möglichkeit in unserer Gegenwart ausgemacht, aus der sich die kommende Gemeinschaft herleiten ließe. Im Kapitel ›Klassenlos‹ widmet er sich ausschließlich der Offenlegung ebendieses Kairos‹: Er unternimmt den Versuch, die Menschheit noch einmal in Klassenbegriffen zu denken und stellt fest, dass es heute keine sozialen Klassen mehr gibt, denn sämtliche Klassen sind in einem planetarischen Kleinbürgertum oder die Figur (ital. figura, auf Griechisch σχῆμα [schēma]) werden hier synonym gebraucht. Das griechische Verb παράγω [paragó] (– im Text Präsens Indikativ Aktiv, 3. Person singular: παράγει [paragei]) bedeutet vergehen, fortgehen, vorübergehen. Die Figur meint das Äußere, das in die Welt Ausgestellte – und natürlich das Vergängliche. Darum kann Agamben die Parallele zum beliebigen Sein ziehen, das schließlich vollkommen ausgestellt und vollkommen mitteilbar, also vollkommen Figur ist. Auch heißt es, das beliebige Sein ist vergänglich. 90 Dieses Zitat stammt aus einem Brief von Walser an Max Rychner: Er schreibt über das Blödsein als ein Raffinement bzw. als eine Kunst des Dichters; der Kontext des Zitates sind die leuchtend-lebendig und lebenswarmen Frauengestalten der Shakespeare-Stücke: »Weil er’s versteht, d.h. verstanden hat, oder weil es ihm hinriß, Manches gar nicht auszusprechen« (›Walser 1996: 266). Möglicherweise ist das schriftstellerische Blödsein das Spiel um die Idiotie, also die Kunst um die Eigenart der Figuren.

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aufgegangen, das Agamben als die globalisierte Zwischenfigur versteht, die weder klein- noch großbürgerlich ist.91 Faschismus und Nazismus haben einerseits verstanden, dass das Kleinbürgertum »der Erbe der Welt [ist, in dessen Gestalt] die Menschheit den Nihilismus überlebt« (59) hat. Andererseits haben sie »den unwiderruflichen Untergang der überkommenen gesellschaftlichen Subjekte« (ebd.) erkannt.92 Während die Faschisten und Nazis als nationale Kleinbürger von »bürgerlicher Größe« träumten, hat das planetarische Kleinbürgertum diese Träume aufgegeben und »sich die proletarische Haltung zu eigen gemacht, sich jeder erkennbaren sozialen Identität zu verweigern« (ebd.). Es kennt nur noch das Uneigentliche und Unauthentische, die kulturellen Entwicklungen, Eigenheiten und Feinheiten haben an »Bedeutung, jeden Ausdrucks- und Mitteilungswert« verloren (60). Die Unterschiede, welche die »Tragikomödie der Weltgeschichte am Laufen hielten«, hat es versammelt und »stellt sie in phantasmagorischer Leere zur Schau« (ebd.) – in einer alltäglich gewordenen Zurschaustellung. Das planetarische Kleinbürgertum hat sich wie der Körper vom Tragischen und Komischen verabschiedet (vgl. Kapitel 2.12 ›DIM Strumpfhosen‹). Die Sinnlosigkeit der individuellen Existenz ist nun so sinnlos, »dass sie jegliches Pathos verloren hat«93 und das Leben der Menschen einem »Werbefilm, aus dem alle Spuren des beworbenen Produkts gelöscht wurden« (60) gleicht. Wie im ersten kairologischen Kapitel ist auch dieser Zustand eine Ähnlichkeit ohne Archetyp, ein Abbild ohne Original. Dennoch fühlt sich der planetarische Kleinbürger betrogen, da er das fehlende Produkt sucht. Einerseits will er sich eine ihm bedeutungslose Identität aneignen, verweigert hingegen jede soziale Identität. Er träumt einen leeren Traum. So bleiben ihm nur noch »die polaren Extreme all seiner emotionalen Stimmungen«: Scham und Anmaßung, Konformismus und Marginalität – also emotionale Verhältnisse zum Allgemeinen und Individuellen (ebd.). Es ist der Ausdruck der Sinnlosigkeit der individuellen Existenz, der nur noch eine Sinnlosigkeit zustoßen kann, nämlich der Tod, der die 91 Unter dem Begriff Kleinbürger verstehen Marx und Engels Arbeiter/innen im Besitz von Arbeitsmitteln, also kleine Selbständige, die als Zwischenfigur fungieren. Marx schreibt im Manifest der Kommunistischen Partei: »In den Ländern, wo sich die moderne Zivilisation entwickelt hat, hat sich eine neue Kleinbürgerschaft gebildet, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie [/Großbürgertum] schwebt […].« (Marx & Engels 2005: 86) 92 Das ist der unleugbare Ausweis ihrer Modernität, sagt Agamben und fügt hinzu: »Aus rein politischer Sicht sind Faschismus und Nazismus keine Zustände, die überwunden wären: noch immer steht unser Leben in ihrem Zeichen.« (59) 93 Genau wie Robert Walsers Sprache (vgl. 2.14 ›Pseudonym‹) drückt die Sinnlosigkeit der individuellen Existenz kein Pathos aus.

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letzte Enteignung des Kleinbürgers ist. Wenn der Tod die einzige Sinnlosigkeit ist, die ihm zustoßen kann, so ist dieses Leben das nackte Leben [nuda vita]. Und wenn der Tod einzig sinnlos ist, so sieht Agamben analog dazu ein Geheimnis im nicht mitteilbaren nackten Leben: dass es dem Kleinbürger »in Wahrheit uneigentlich und ganz und gar äußerlich ist, dass er auf Erden keine Zuflucht findet« (61). Im Zustand absoluter Sinnlosigkeit und Fremdheit zeigt sich aber »eine in der Geschichte der Menschheit bislang unerhörte Gelegenheit« (im Gegensatz zu ihrer Vernichtung), nämlich »erstmals in eine bedingungslose Gemeinschaft ohne Subjekte ein[zutreten], in eine Mitteilung, die nichts kennt, was nicht mitteilbar wäre« (ebd.).94 Das Gleiche gilt für den absolut mitteilbaren Körper (Kapitel 2.12 ›DIM Strumpfhosen‹). Mitteilbar heißt ausstellbar. Das beliebige Sein existiert weder im nicht mitteilbaren nackten Leben noch im Tod. »Beliebig ist ein Ding mit allen seinen Eigenschaften, von denen jedoch keine eine Differenz erzeugt.« (23) Darum kennt seine Mitteilung auch nichts, was nicht mitteilbar wäre. Dafür müssen die Menschen aufhören »in der längst uneigentlichen und sinnlos gewordenen Gestalt der Individualität« ihre Identität zu suchen (»aus dem eigenen So-Sein nicht eine individuelle Identität und Eigenschaft zu machen«) (ebd.). Aber dazu müssen sie diese Uneigentlichkeit als solche annehmen und aus dem eigenen So-Sein »eine identitätslose Singularität, eine gemeine, völlig ausgestellte Singularität« machen (ebd.). Statt »ihrem So-Sein nicht diese oder jene biographische Identität zu geben«, brauchen die Menschen in der bedingungslosen Gemeinschaft »einzig das So zu sein, ihre singuläre Äußerlichkeit und ihr Gesicht«(ebd.). Der politische Auftrag unserer Generation ist daher, so Agamben, die Merkmale der neuen planetarischen Menschheit auszuwählen, welche »die feine Scheidewand […] entfernen, die die schlechte mediale Öffentlichkeit von der vollkommenen Äußerlichkeit, die nur sich selbst mitteilt, trennt« (62). Die mediale Öffentlichkeit – die sinnlose Werbefilme ohne Produkt produziert – und die vollkomme Äußerlichkeit des Seins sind sich ähnliche Ausstellungen mit dem Unterschied, dass die mediale Öffentlichkeit mit Unmittelbarkeiten auch Sinnlosigkeit erzeugt. Mitteilbarkeit entgeht also den Sinnlosigkeiten, da es keine Enttäuschungen durch Identitäten gibt, die in Scham und Anmaßung, Konformismus und Marginalität treiben. Diese Theorie der Sinnlosigkeit deckt sich mit der Etymologie des Wortes Sinn. Es stammt vom Latinischen sensus und bedeutet Empfindung, 94 Man erinnert sich an den letzten Satz von Wittgensteins Tractatus: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« (Wittgenstein 1963: 115)

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Gefühl, Eindruck, Wahrnehmung. Was sinnvoll ist, ist dem Bewusstsein, der Wahrnehmung, dem Gefühl bzw. der Erkenntnis zugänglich – und was nicht, das ist sinnlos. Analog dazu ist das Sinnvolle mitteilbar und das Sinnlose unmitteilbar. Im planetarischen Kleinbürgertum »hat die Menschheit den Nihilismus überlebt« (59), doch ihre Sinnlosigkeit der individuellen Existenz« ist der »Erbteil aus dem Souterrain des Nihilismus« (60). Soll heißen, die Unmitteilbarkeit – das Nichts – konnte sie mit dem Traum von einer leeren (ebenfalls unmittelbaren) Identität verschleppen. Die letzte Sinnlosigkeit ist der Tod, der vollkommene Ausdruck des Unmittelbaren. Erst mit der Auflösung des Wunsches nach dem, was nur unmitteilbar ist, wird aus dem planetarischen Kleinbürgertum die planetarische Menschheit im beliebigen Sein in einer bedingungslosen Gemeinschaft [comunità senza presupposti]. Die Auswahl der Merkmale [caratteri], die das und damit ihr Überleben ermöglichen, das ist der Auftrag.

2.16 Außen Es ist bereits bekannt, dass die vollkommene Äußerlichkeit eine beliebige Singularität beschreibt. Zuvor wurde hergeleitet, dass diese Äußerlichkeit die Idee ist, die sich im Statt-Finden des Dinges ausdrückt, in seiner Ausstellung und Begrenzung. Im Kapitel ›Außen‹ behandelt Agamben diese Äußerlichkeit im Detail und beginnt mit dem Bekannten im neuen Gewand: »Das Beliebige ist die Figur der reinen Singularität«95, sie hat aber »weder eine Identität noch ist sie begrifflich bestimmt« (63). Dennoch ist sie nicht unbestimmt, erhält sie doch ihre einzige Bestimmung durch »ihr Verhältnis zu einer Idee, d.h. zur Gesamtheit ihrer Möglichkeiten« (ebd.). Die Ausstellung des Potentials in die Gesamtheit der Möglichkeiten zeigt das Bestimmbare des beliebigen Seins an. Wobei Agamben die Gesamtheit der Möglichkeiten auch Statt-Finden nennt; und bestimmbar meint hier nichts anderes als mitteilbar. Durch dieses Verhältnis zu der Gesamtheit ihrer Möglichkeiten »grenzt die Singularität […] an alles Mögliche«, und »ausschließlich durch dieses Angrenzen« erhält die Singularität ihre durchgängige Bestimmung (lat. omnimoda determinatio), aber nicht durch »die Partizipation an einem bestimmten Begriff oder einer tatsächlichen Eigenschaft (Roter, Italiener, Kommunist sein)« (ebd.). Ihre Zugehörigkeit 95 Wieder in gleicher italienischer Bezeichnung figura. Also das, was angesichts einer nicht sterbenden Natur, vergeht, mit Eigenschaften, von denen keine eine Differenz erzeugt, teilt sie sich vollkommen mit und kennt darum nichts, das nicht mitteilbar wäre.

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wird schließlich nicht durch reale Bedingungen repräsentiert. Denn die Zugehörigkeit der Singularität zum Ganzen ist ihr So-Sein96 selbst, das im »Verhältnis zu einer leeren und unbestimmten Totalität« an Möglichkeiten aufgeht (ebd.). Das ist eine Reformulierung von Kants Ideen. Da Agamben allerdings im italienischen Original an dieser Stelle kein Zitat ausweist, Kants Satz mit seinen eigenen Begriffen durchsetzt und die Rückübersetzung ins Deutsche zudem noch zu Spekulationen reizt, sind die beiden Autoren nahezu ununterscheidbar – was Agamben sicherlich beabsichtigt, denn in seinem Buch entwirft er ja nicht nur eine Theorie, sondern demonstriert die Praxis dieser Theorie ebenso damit, wie das Buch geschrieben ist. Vermutlich verwendet er Kants Ausführungen zu der durchgängigen Bestimmung (omnimoda determinatio – ein Begriff von Christian Wolf) aus dessen Buch Kritik der reinen Vernunft (Kant 1979, dort insbesondere: I. Transzendentale Elementarlehre, 2. Teil, 2. Abteilung, 2. Buch, 3. Hauptstück, 1. Und 2. Abschnitt). Allerdings klingt durch die Zugehörigkeit zum Ganzen auch der späte Kant an (die Textfragmente sind als Opus postumum veröffentlicht: Kant 1995), der mit seiner traditionellen Philosophie bricht, um sich dem wichtigen Problem vom Übergang von Metaphysik zur Physik bzw. dem Denken zum Sein zu widmen. In diesem Kapitel hier löst Agamben genau jene Problematik. Die Singularität grenzt an einer Grenze – und nicht an einer (jeder Äußerlichkeit fremden) Schranke97 –, ihr Berührungspunkt ist der »mit einem auf immer leeren äußeren Raum« (ebd.). Damit meint er unmissverständlich, was er bereits mit dem Agio und der Aureole des Beliebigen beschrieben hat: Die Singularität ist eine um einen leeren Raum (Agio) bereicherte und begrifflich unbestimmte (durch das Ausfransen der Aureole) finite Singularität98 – eine bloße Äußerlichkeit bzw. die Ausstellung als solche. »Insofern ist das Beliebige ein Außen, das sich ereignet.« (64) Er nennt die »ungegenständliche Erfahrung einer reinen Äußerlichkeit« 96 In der deutschen Übersetzung wird das So-Sein (esser-tale) an dieser Stelle mit »Derart-Sein« (vgl. 63) übersetzt. Ich sehe keine Veranlassung dafür und bleibe bei dem Terminus So-Sein für den Ausdruck des Wie. 97 Hier bezieht sich Agamben auf Kants Unterscheidung zwischen Grenze und Schranke, die im italienischen Original auch auf Deutsch in Klammern genannt werden. Schranken enthalten bloße Negationen, sie grenzen an Räume, von denen man nichts weiß, aber in allen Grenzen ist auch etwas Positives (vgl. Kant 1977b› dort: ›Prolegomena‹, §57). 98 Bekannt durch das Beispiel der Aureole (Kapitel 2.13). Das Beliebige ist die Vollendung der Singularität. Allerdings mit einem Schillern der Ränder – die durchgängige Bestimmung (omnimoda determinatio) ist also keine »vollständige Bestimmung des Seins«, sondern ein »Ausfransen oder Unbestimmtwerden seiner Grenzen« (54).

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des architranszendentalen Beliebigen (quodlibet) das am schwierigsten zu Denkende (ebd.). Das Adjektiv architranszendental macht dabei noch einmal den Gegenstand seines Ansatzes deutlich: Archi- bedeutet Anfang (griechisch ἀρχή [archē], lateinisch archi-, italienisch arci-) und transzendental überschreiten (lateinisch transcendere – im Deutschen oft als Vorsilbe erz- zu finden). Wenn das Beliebige architranszendental ist, dann weil es im Gegensatz zu den scholastischen Transzendentalien (Eigenschaften die allem Seienden zukommen) keine Prädikation ist, sondern das unsagbare Prädikat-Sein selbst, das erst die Möglichkeit der Prädikation bedingt: das Statt-Finden, die absolute Immanenz, die reine Existenz.99 Dem Verständnis hilfreich ist ebenfalls Agambens Hinweis, dass die Bedeutung von ›Außen‹ »in zahlreichen europäischen Sprachen durch ein Wort ausgedrückt wird, das eigentlich ›in der Tür‹ bedeutet« (ebd.).100 Das Außen darf man sich nicht als einen Raum jenseits des gegebenen Raumes vorstellen, sondern als einen Durchgang, als eine »Äußerlichkeit, die ihm Zugang verschafft« (ebd.), Mitteilbarkeit erzeugt, wofür Agamben bereits das treffende Beispiel des Gesichtes angeführt hat (siehe insbesondere Kapitel 2.5 ›Principium individuationis‹). Den Durchgang rekapituliert er auch hier »mit einem Wort: sein Gesicht«, und ergänzt gleichbedeutend das griechische εἶδος [eîdos] – das Aussehen bzw. die Gestalt. Da bei Platon das Eidos die Idee ist, kommt er zum bekannten Ergebnis, nämlich zu einem beliebigen Sein. Die reine Äußerlichkeit ist das Gesicht des Seins und darum sind die Grenze und die Schranke hier folglich dasselbe. Denn die Grenze ist die Erfahrung einer Schranke, »die Erfahrung, im Innern eines Außen zu sein« (ebd.). Das Verbindungsproblem von Metaphysik und Physik, Denken und Sein, Epistemologie und Ontologie wäre also auch in der 99 Diese Gedanken finden sich so auch bei Heidegger. Beispielsweise schreibt er über den Vers ›Kein ding sei wo das wort gebricht‹ aus Stefan Georges Gedicht Das Wort: »Das Walten des Wortes blitzt auf als die Bedingnis des Dinges zum Ding. Das Wort hebt an zu leuchten als die Versammlung, die Anwesendes erst in sein Anwesen bringt.« (Heidegger 1985: 224). Auch Derridas Konzept der Différance funktioniert als die unnennbare Bedeutungsverschiebung auf architranszendentaler Ebene. 100 Im Deutschen ist diese Herkunft nicht offenkundig. Außen auf Italienisch heißt hingegen fuori und die lateinische Herkunft ist naheliegend: »fores bezeichnet im Lateinischen die Haustür, das griechische thyrathen [θυραθεν] bedeutet wortwörtlich ›auf der Grenze‹« (64). Mir ist kein deutsches Wort bekannt, das sich vom Lateinischen fores ableitet, aber das altgriechische Wort für Tür, θύρα [thyra], klingt im deutschen Wort an. Das Adverb θυραθεν [thyrathen] lässt sich als von außen übersetzen. Aber außerhalb der Tür scheint mir wortgetreuer zu sein. Wenn das Beliebige der Singularität eine Grenze hinzufügt, bedeutet das Außerhalb der Tür allerdings auf der Grenze.

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Theorie der Singularitäten gelöst. Die vollkommene Ausstellung des Inneren in das Äußere, sie ist die Ausstellung des Seins in das Seiende. Die absolute Transzendenz als Immanenz lässt das Subjekt und Objekt eine Figur werden. Mit dieser absoluten Mitteilbarkeit treten das Sein und die Erkenntnis erstmals in direkt Verbindung. Dasselbe beschreibt Agamben zuletzt noch mit dem Begriff ek-stasis, die Gabe, welche »die Singularität aus den leeren Händen der Menschheit empfängt« (ebd.). Und damit bekommt die Heidegger’sche Ek-stase eine neue Bedeutung: Das beliebige Sein ist immer ein Außer-sich-Sein.

2.17 Homonyme Agamben nimmt sich vor, die Autorität der Sprache aufzulösen, um zu zeigen, dass das Beliebige das In-der-Sprache-Sein des Nichtsprachlichen ist, d.h. die reine Potenz. Er beginnt mit einem Problem der Logik, auf das Gottlob Frege durch den jungen Bertrand Russell aufmerksam gemacht wurde101. Russell entdeckte das Paradox der Klasse aller Klassen, die kein Element ihrer selbst ist. Dazu führt das selbstverständliche Voraussetzen von der Unterscheidbarkeit zwischen Gegenständen mit einer Eigenschaft und der Eigenschaft selbst (als Gegenstand) einerseits, andererseits die Unterscheidbarkeit von der Klasse der Gegenstände mit der Eigenschaft und ihren Elementen (die Gegenstände mit der Eigenschaft). 102 Den »Paradoxa der Mengenlehre [liegt] tatsächlich dasselbe Problem zugrunde, das Kant bereits […] als die Frage formuliert hatte« (66): »auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?«103 Oder wie Agamben 101 In einem berühmt gewordenen Brief (in: Frege 1980) machte Bertrand Russell auf einen Widerspruch in Gottlob Freges System des Logizismus (schon in dessen Buch Grundlagen der Arithmetik skizziert: Frege 1988) aufmerksam. Dieser Widerspruch wurde als die Russell’sche Antinomie bekannt: Die Menge aller Mengen enthält sich selbst nicht als Element – müsste sie aber, was daher paradox ist. Was Agamben nur in David Hilberts Mahnungen andeutet, ist, dass an dieser Stelle Kurt Gödels Unvollständigskeitssätze ansetzten und »die Logiker für immer aus ihrem Paradies« (66) vertrieben. Wie in einem Déjà-vu trug der junge Gödel das Problem und trug später der junge George Spencer-Brown eine Lösung (Paradoxien in Zeit aufzulösen) an Russell heran. 102 Die Argumentation von Russell (vgl. 65) zitiert Agamben aus dem Text Mathematical Logic as Based on the Theory of Types (in: Russell 1908). 103 Diese Frage stammt aus einem Brief an Marcus Herz, 21. Februar 1772 (Kant 1969). Das Zitat in der deutschen Ausgabe (66) ist vom Übersetzer unbedeutend in der Satzstellung verändert worden. Hier wurde Kants Original herangezogen.

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farbig formuliert: »Was bedeutet es zu sagen, dass der Begriff ›rot‹ rote Gegenstände bezeichnet?« (ebd.) In der Mengenlehre war es immer Voraussetzung, vom Begriff auf seine Extension zu schließen. Doch ist es nun wahr, »dass jeder Begriff eine Klasse bestimmt, die seine Extension bildet? Und wie ist es möglich, von einem Begriff zu sprechen, ohne auf seine Extension Bezug zu nehmen?« (ebd.) Russell entdeckte also, was Agambens Theorie des beliebigen Seins zu denken versucht: Die Existenz von Eigenschaften oder Begriffen, die keine Klasse bestimmen. Genauer die Eigenschaften oder Begriffe (die nicht-prädikativen Definitionen samt ihrer ableitbaren Pseudoklassen), die keine Klassen bestimmen können, ohne Widersprüche zu erzeugen. Diese identifiziert Russell mit Klassen, die durch Begriffe wie alle, jeder oder irgendein gebildet werden und so illegitime Gesamtheiten darstellen. Die entsprechenden englischen Begriffe all, every und any übersetzt Agamben allerdings mit tutti, ogni und qualunque (beliebig) auf Italie­nisch (I 58). Das ist nicht falsch, aber absichtsvoll, denn es bedeutet, dass der logische Begriff beliebig im Widerspruch zu Klassen steht. Selbes zeigt er seit dem ersten Kapitel des Buches: die Zugehörigkeit zu einer Klasse hat das beliebige Sein als solche angeeignet. Daher gab es den Versuch der Logiker, durch Verbote der illegitimen Gesamtheiten den Paradoxa zu entgehen. Agamben zieht davon beispielhaft drei heran: 1) »Was immer alle Elemente einer Menge einschließt, kann kein Element dieser Menge sein.« 2) »Alles, was sich irgendwie auf ein beliebiges Element oder alle Elemente einer Klasse bezieht, kann kein Element dieser Klasse sein.« 3) »Was immer eine abhängige Variable enthält, kann kein möglicher Wert dieser Variablen sein.« (67) Allerdings gibt es viele nicht-prädikative Ausdrücke, und außerdem können alle Wörter als Klassen dargestellt werden, die »Elemente ihrer selbst sind und gleichzeitig nicht sind«, weil »sich jede Benennung per definitionem auf alle Elemente ihrer Extension und jedes beliebige von ihnen bezieht« (67). Es geht nicht um »das Wort ›Schuh‹104 in seiner akustischen oder graphischen Gegebenheit« 105, sondern um »das Wort ›Schuh‹ in seinem Bezeichnen des Schuhs« bzw. »der Schuh in seinem Bezeichnet-Sein durch die Benennung ›Schuh‹« (67f)106. Denn wir können einen Schuh von der 104 An dieser Stelle darf man sich auch das Wort Pferd vorstellen, denn dieses Beispiel folgt. 105 Agamben nennt hierzu den lateinischen Ausdruck aus der scholastischen Suppositionstheorie: die materiale Supposition [suppositio materialis] (vgl. 67). 106 Das sind jeweils die gleichen Beschreibungen für das Schuh-Genannt-Werden, nur ist die zweite aus der Perspektive der Benennung ›Schuh‹ formuliert – also auf Seiten des Objekts.

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Benennung ›Schuh‹ unterscheiden, aber es fällt uns schwerer, einen Schuh von seinem (Schuh-)Genannt-Werden (=In-der-Sprache-Sein) zu unterscheiden. Denn Letzteres ist die nicht-prädikative Eigenschaft schlechthin, weil sie »jedem Element einer Klasse zukommt und gleichzeitig seine Zugehörigkeit zu ihr widersprüchlich werden lässt« (68). Gottlob Frege formuliert diese Paradoxie in einem bekannten Satz: »der Begriff PFERD ist kein Begriff« (Frege 1892). Gleiches sagte Jean-Claude Milner: »Die sprachliche Benennung hat keine Eigennamen« (68 oder im Original vgl. Milner 1990: 332). Das Folgeargument: »[W]enn wir versuchen, einen Begriff als solchen zu begreifen, verwandelt er sich unweigerlich in einen Gegenstand, was zur Folge hat, dass wir ihn nicht mehr von der vorgestellten Sache unterscheiden können.« (68) Wird der Begriff beim Intendieren zum intentum bzw. zum Gegenstand (der Intention), spricht Agamben von einer Aporie der Intentionalität: »Wenn das Wort, durch das eine Sache ausgedrückt wird, etwas anderes wäre als die Sache selbst oder mit dieser identisch wäre, könnte es die Sache nicht ausdrücken.« (69)107 Nicht Russells Lösung, sondern einzig eine Theorie der Ideen kann das Denken aus der Aporie des sprachlichen Seins befreien, meint Agamben und führt dafür einen trefflich beispielhaften Satz Aristoteles’ an: »Gemäß der Teilhabe, ist die Vielheit der Synonyme in [B]ezug 107 Das ist die Zusammenfassung eines Gedankens von Meister Eckhart. Das in Anführungsstrichen ausgewiesene Zitat (vgl. 68f) ist wahrscheinlich eine sinngemäße Übersetzung aus dem Lateinischen. Die deutsche Übersetzung zeigt nicht, dass Agamben das Zitat in zwei Teile zwischen »ohne jeden Nutzen« und »Wenn die Gestalt« trennt (69). Meister Eckhart hat das Erkennen in seinen Quaestiones Parisienses (genauer in Quaestiones 1 und 2, in: Meister Eckhart 2006) abgehandelt. Dort heißt es (was dem zweiten Teil des Zitates entspricht): »Ähnlich verhält es sich, wie ich anderwärts gesagt habe [qu. 2, 6], mit dem Erkenntnisbild, das in der Seele ist: hätte es die Wesensbestimmtheit eines Seienden, so könnte der Gegenstand, dessen Bild es ist, nicht erkannt werden; denn wenn es die Wesensbestimmtheit eines Seienden hätte, würde es als solches zur Erkenntnis seiner selbst hinlenken und von dem Gegenstand ablenken, dessen Erkenntnisbild es ist.« (lat: »Similiter, sicut alias dixi, si species quae est in anima, haberet rationem entis, per ipsam non cognosceretur res cuius est species; quia si haberet rationem entis, in quantum huiusmodi duceret in cognitionem sui et abduceret a cognitione rei cuius est species.«) (ebd.: 44) Der erste Teil ist vermutlich eine Hinzufügung Agambens, und wie er schon erwähnt, ist Intentionalität ein bedeutendes Thema der Scholastik. Allerdings verleitet die deutsche Übersetzung dazu, eine scholastische Diskussion um das Paradox des kognitiven Seins zu erwarten (vgl. 68). Wahrscheinlich bezieht sich Agamben eher auf esse intentionale bzw. esse intelligibile, das Thomas von Aquin vom esse naturale unterscheidet.

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auf die Ideen homonym.« (ebd.)108 Der lässt sich wie folgt aufschlüsseln: Synonyme sind bei Aristoteles »Wesenheiten, die denselben Namen und dieselbe Definition haben«, und – wenn »sie durch Teilhabe an einem gemeinsamen Begriff zu einer Menge gehören« – Elemente einer zusammenhängenden Klasse (69f). Aber betrachtet man dieselben »Phänomene, die miteinander im Verhältnis der Synonymie stehen […] hinsichtlich der Idee« (70), werden sie zu Homonymen. Diese sind »Gegenstände, die denselben Namen, aber unterschiedliche Definitionen haben« (ebd.). Agamben nennt mit dem Begriff Pferd ein weiteres Beispiel. Hinsichtlich dieses Begriffes »sind die einzelnen Pferde also Synonyme, aber hinsichtlich der Idee des Pferdes jedoch Homonyme« (ebd.)109. Betrachtet man zwei Wesen, die hinsichtlich des Begriffs denselben Namen und dieselbe Definition haben (also synonym sind), wird sich zeigen – wenn man sie hinsichtlich ihrer Idee betrachtet –, dass sie, obgleich sie einen Namen teilen, doch unterschiedliche Definitionen haben (also homonym sind). Hier zeigt sich wieder das Phänomen der beliebigen Singularität, denn ein und derselbe Gegenstand gehört zugleich zu einer Klasse und auch nicht, um es als Analogie zum Russell‹schen Paradox formulieren. In der schwer zugänglichen Argumentation will Agamben sagen, was er schon in vorangegangenen Kapiteln resümierte: Dass die Idee »weder Gegenstand noch Begriff, sondern sein eigenes Namen-Haben, seine Zugehörigkeit selb[st]« ist, »also sein In-der-Sprache-Sein« (ebd.). Was »weder benannt noch gezeigt, sondern nur durch eine anaphorische Bewegung erfasst werden« kann – weshalb »die Idee keinen Eigennamen hat« (wie Jean-Claude Milner sagte), sondern sich »durch die Anapher autò ausdrückt« (70). Wie es Platon schon tat, indem er den Begriffen ein αὐτὸ [autò] beistellte, z.B. ein ›das … selbst‹ (τὸ … αὐτό [tò autó]) oder ›an sich‹ (καθ‘ αυτό [kath‹ autó]). Agamben meint daher nicht das Stilmittel der Wiederholung, sondern die Anapher in ihrem etymologischen Ursprung. Denn das griechische ἀναφορά [anaphorá] bedeutet zu Deutsch Wiederaufnahme. Das heißt: als Selbstreferenz auf das In-der-Sprache-Sein, als Ausdruck der Zugehörigkeit selbst. 108 Das ist die vollständige »Lesart des glaubwürdigsten Manuskripts« der Metaphysik (69) von Satz 987b 10, so Agamben. Aristoteles rezipiert an dieser Stelle das Denken Platons und auch in populären deutschen Übersetzungen (z.B. von Adolf Lasson oder Hermann Bonitz) fehlt der Verweis auf die Syno­nyme. Agambens Originalübersetzung lautet: »Secondo la partecipazione, la pluralità dei sinonimi è omonima rispetto alle idee.« (I 60) Also der Satzstellung getreu: Gemäß der Teilhabe, die Vielheit der Synonyme ist homonym in Bezug auf die Ideen. 109 Diese Definitionen stammen aus Aristoteles’ Kategorienschrift (Aristoteles 1998).

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Die Idee einer Sache ist die Sache selbst110, sie hat keinen Eigennamen, denn sie ist eine anonyme Homonymie. Das Homonym ist beliebig, was zu einer Zuspitzung der Theorie der Singularitäten führt: »Beliebig ist eine Singularität, insofern sie nicht (nur) in einem Verhältnis mit dem Begriff, sondern (auch) mit der Idee steht.« (71) Denn, zur Erinnerung, nur durch die Beliebigkeit erhält sie ihre einzige Bestimmung (vgl. 63) als Ähnlichkeit ohne Archetyp (vgl. 48) – ohne Synonymie, als anonyme Homonymie –, da keine ihrer Eigenschaften eine Differenz erzeugt (vgl. 23). Es wird keine neue Klasse begründet, denn die Singularität wird in allen Klassen von ihrer Synonymie (sprich der Zugehörigkeit zu einer Klasse) getrennt, »um sie einer reinen, anonymen Homonymie anheim zu stellen« (dem Namen selbst) (71). »Während das Netz der Begriffe uns unablässig in synonyme Verhältnisse verstrickt, schreitet die Idee immer wieder ein, um diesen Verhältnissen ihren Absolutheitsanspruch zu bestreiten, indem sie ihnen ihre Gehaltlosigkeit zeigt.« (ebd.) Da die Idee einer Sache die Zugehörigkeit selbst ist (das eigene Namen-Haben, das In-der-Sprache-Sein – als eine anonyme Homonymie), ist sie die Sache selbst. Bekanntermaßen wird die ausgestellte Sache vollkommen mitteilbar, darum ist die Sache selbst der Name selbst – nicht als gehaltloser Begriff einer Sprache, sondern als ein In-der-Sprache-Sein bzw. als ein beliebiges Sein. »Beliebig bedeutet […] das, was sich in einer einfachen Homonymie befindet, im bloßen Benannt-Sein […]: das In-der-Sprache-Sein des Nichtsprachlichen.«(ebd.) Es ist nicht einfach der Autorität der Sprache entzogen111, sondern am Ort ihrer Bedingung. Das In-der-Sprache-Sein eignet sich dadurch seine eigene Impotenz an, nämlich das Nichtsprachliche, und wird die reine Potenz, wird beliebig. »Namenlos bleibt mithin das benannte Sein, der Name selb[st] (nomen innominabile)« (ebd.). Abschließend zitiert Agamben noch eine kryptische Tautologie Platons aus dem Kratylos-Dialog (Platon 2004, dort: Sokrates’ Antwort, 435d/e), deren vermutliche Bedeutung schon weiter oben vorweggenommen wurde: »der Name ist, insofern er eine Sache 110 Die Sache selbst bzw. das Ding selbst heißt auf Italienisch »cosa stessa« (I 61) und, wie zuvor erwähnt, auf Altgriechisch τὸ πρᾶγμα αὐτό [tò prãgma autó]. 111 »Beliebig bedeutet deshalb nicht einfach – mit den Worten Badious zu sprechen – ›der Autorität der Sprache entzogen, unbenennbar, ununterscheidbar‹« (71), schreibt Agamben. Bei Badiou heißt es nämlich: »Tout le point est que ce multiple sera soustrait à l’autorité de la langue. Il sera indiscernable, ou plutôt: il aura été indiscernable.« (Badiou 1989: 86) Zu Deutsch: Der springende Punkt ist, dass das Multiple [was Agamben als das Beliebige identifiziert] der Autorität der Sprache entzogen wird. Es wird ununterscheidbar, oder vielmehr: es wurde ununterscheidbar.

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benennt, nichts anderes als die Sache, insofern sie vom Namen benannt wird.« (71)112

2.18 Schechina In ›Schechina‹, benannt nach der zehnten Sefira im kabbalistischen Lebensbaum, vollzieht Agamben eine weitere Zustandsanalyse der Gegenwartsgesellschaften, die einen Kairos der bedingungslosen Gemeinschaft aufdeckt. Er beginnt mit der Wertschätzung und dem kairologischen Hinweis zugleich, dass Guy Debords Diagnose von 1967 in Die Gesellschaft des Spektakels (Debord 1994)113 – der »Umwandlung der Politik und des gesamten gesellschaftlichen Lebens in eine spektakuläre Phantasmagorie« (72) – noch nicht die Formen von heute angenommen hat. Die »äußerste Form des Kapitalismus […] stellt sich als eine immense Akkumulation der Bilder dar, in der alles, was unmittelbar erlebt wurde, in eine Repräsentation verschoben wird« (ebd.).114 Das Spektakel fällt jedoch nicht einfach nur in eine Sphäre mit den Bildern bzw. Medien zusammen, sondern akkumuliert das Kapital, bis es zum Bild wird. Somit ist es die »Trennung in ihrer reinsten Form« (ebd.) und passt nahtlos in Agambens Theorie des Singulären und dessen unethische Verhinderung. »Es ist ›ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen‹, die Enteignung und Entfremdung menschlicher Geselligkeit selb[st]«, das heißt, »die praktische Potenz des Menschen löst sich von sich selbst ab und erscheint als eine Welt für sich« (72f).115 In »Gestalt dieser abgetrennten und von den Medien geordneten Welt« (ebd.) durchdringen sich die Form des Staates und die der Ökonomie, hin zu einer das gesamte gesellschaftliche Leben dominierenden und der Verantwortung entbundenen Souveränität der Markwirtschaft. Die kollektive Wahrnehmung wird durch das Spektakel soweit manipuliert, bis es sich dem »kollektiven Gedächtnis und der gesellschaftlichen 112 Auch der Begriff Tautologie leitet sich von der zuvor erwähnten Anapher autò ab, griechisch τὸ αὐτό [tò autò], das gleiche auf Deutsch. 113 Was für Agamben sicherlich auch der Grund ist, den Text des situationistischen Strategen Debords den Leser/innen in Erinnerung zu rufen, denn auch die Lesart bestimmt das Verfallsdatum eines Textes. Das gilt für 1990, aber auch dreißig Jahre später, da Agambens profanes Messianisches noch nicht eingelöst ist – oder immer schon war. Außerdem kann man die gegenwartsanalytischen Kapitel von Die kommende Gemeinschaft immer studieren, um den Blick für den Kairos zu schärfen. 114 Das ist Debords Radikalisierung von Marx’ Analyse des Fetischcharakters. 115 Die Zitate (72f) stammen aus Guy Debords Die Gesellschaft des Spektakels (Debord 1994, dort: in der Reihenfolge die Absätze 4, 34 und 12).

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Kommunikation« bemächtigt, »um sie in einen einzigen spektakulären Markt zu verwandeln«116 und es zwischen Spektakel und Sprache keinen Unterschied mehr gibt. Damit ist der theorierelevante Punkt erreicht, denn das Spektakel ist »zur Mittelbarkeit, zum sprachlichen Sein des Menschen selb[st] geworden« (73). Nicht nur die Arbeitskräfte werden ausgebeutet, wie es Marx schon beschrieb, sondern die sprachliche und mitteilbare Natur des Menschen – unser Gemeinsames – wird vollkommen entfremdet. Denn der Kapitalismus zielt auch auf die Entfremdung der Sprache selbst – »der sprachlichen und mitteilbaren Natur des Menschen« (ebd.). Die natürliche Mitteilbarkeit des Seins erkennt Agamben in Heraklits zen­ tralen Begriff des Logos (λόγου [lógos]), der als Gemeinsames allen Menschen zukommt, objektiv als eine alles regelnde Weltvernunft, subjektiv als Wort, das vermittelt und von jedem verstanden werden kann.117 Es ist ein In-der-Sprache-Sein. »Im Spektakel, also der Politik, unter der wir leben118, findet diese Enteignung des Gemeinsamen ihre äußerste Ausprägung.« (74) Entfremdung der eigenen sprachlichen Natur heißt, dass diese uns »verkehrt entgegentritt« (ebd.). Ihr Entgegentreten, ihre Gewalt »ist deshalb so zerstörerisch, weil die Möglichkeit enteignet zu werden Grundbedingung eines jeden Gemeinguts ist« (ebd.). Und das ist der Kern für eine Philosophie des beliebigen Seins: Die Gewalt des Spektakels kann nur zerstörerisch sein, weil die Möglichkeit besteht, das Gemeingut zu enteignen und abzutrennen. In einer bedingungslosen Gemeinschaft ist diese Form der Gewalt unmöglich, da sie kein Gemeingut voraussetzt. Aber wie schon in den Kapiteln 2.12 ›DIM Strumpfhosen‹ und 2.15 ›Klassenlos‹ ersichtlich geworden ist, zeigt sich in dem fatalen Zustand der Kairos, d.h. die Möglichkeit zu einer (positiven) Wendung: »[A]us demselben Grund enthält das Spektakel jedoch noch so etwas wie eine positive Möglichkeit, die gegen es gewendet werden kann.« (ebd.) Ähnliche Bedingungen sieht Agamben in der kabbalistischen Sünde der Absonderung der Sefira Schechina, eine der zehn göttlichen Emana­tionen, vom Lebensbaum. Gemäß einer Aggada des Talmuds119 stiegt Aher mit drei anderen Rabbis ins Pardes – kam also zur »höchsten Erkenntnis« (74) – und schnitt Zweiglein vom Baum des Lebens ab120, ähnlich der 116 Im Sinne von (Debord 1994, dort: Absatz 12): »Was erscheint ist gut, was gut ist, das erscheint.« (73) 117 Vgl. Heraklit 1995, dort insbesondere: B 1 und B 2. 118 Agamben setzt das Spektakel beiläufig mit der Politik (unter der wir leben) gleich. 119 Die Pardes-Erzählung findet sich im Traktat Chagiga des Babylonischen Talmuds.  120 Agamben zitiert hier eine Aggada aus dem Babylonischen Talmud, Hagiga 14b: »Vier Rabbis traten in das Paradies ein […] und zwar Ben Azaj, Ben

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Erbsünde Adams, die verbotene Paradiesfrucht vom Baum der Erkenntnis zu entfernen. Adam und Aher stehen dabei für die Menschheit, die das Wissen zu ihrer »Bestimmung und dem ihm eigentlichen Vermögen« (75) erklärt hat. Aher trennte die Schechina ab, »die letzte der zehn Sefiroth oder Attribute der Gottheit, und zwar diejenige, die der göttlichen Gegenwart selb[st] Ausdruck verleiht; sie ist seine Manifestation, seine Wohnung auf der Erde: sein ›Wort‹« (74). Dieser Akt ist gleichbedeutend mit der Trennung von Erkenntnis und Wort, die »nichts anderes sind als die vollkommenste Form, in der sich Gott manifestiert (die Schechina)« (75). Daraus folgt Bekanntes: »Das Wort – also die Unverborgenheit und Offenbarung von irgend etwas – droht sich von dem abzulösen, was es offenbart, und unabhängig von diesem zu bestehen.« (ebd.) Wenn sich das Wort (ein geoffenbartes und manifestes, gemeinsames und teilbares Sein) von der geoffenbarten Sache trennt, tritt es zwischen diese und die Menschen. »In der Abgeschiedenheit dieses Exils«, so das Argument erwartungsgemäß, »verliert die Schechina ihre positive Wirkung und wird bösartig« (ebd.). Wie das Bild des Körpers, der ein zweiter Körper wird, wird das Wort der Sache zu einer leeren Hülle, welche den Zugang zur Sache selbst versperrt. Agamben fügt ein kabbalistisches Bild hinzu: Die Schechina »saugt die Milch des Bösen« [succhia il latte del male] (75). Die Verbindungen der Sefiroth im kabbalistischen Baum des Lebens werden manchmal als Milch symbolisiert. Z.B. werden Milch, Öl und Blut über den Pfad ‫( א‬Aleph), zwischen der 1. und 2. Sefira Kether und Chochmah, geführt (vgl. Crowley 1944: 109) oder so wird die 2. Sefira Binah als Große Mutter gedacht, die ihren Kindern die Milch gibt (vgl. Benedikt 2004: 273). Auch, oder genau deshalb, erinnert Agambens Bemerkung an Paul Celans Gedicht Todesfuge, das die Shoah der europäischen Juden thematisiert. Dort heißt es, sie trinken und trinken die schwarze Milch der Frühe (vgl. Celan 1968: 35). In der Gesellschaft des Spektakels – dem »Zeitalter der Absonderung der Schechina« – wird der Mitteilbarkeit selbst (bzw. dem Gattungswesen oder die Sprache) ein abgeschiedener Bereich zugewiesen.121 So ist es die »Mitteilbarkeit selb[st], die die Mitteilung verhindert; die Menschen werden durch das getrennt, was sie vereint« (75) und die »Journalisten und Mediokraten sind die neuen Priester dieser Entfremdung der sprachlichen Natur des Menschen.« (75f) Zoma, Aher und Rabbi Akiba […] Ben Azaj warf einen Blick darauf und starb […] Ben Zoma schaute und wurde verrückt […] Aher schnitt die Zweiglein ab. Rabbi Akiba kam unbeschadet davon.« (74) 121 Gemeint ist das Gemeinsame und nicht das »Allgemeine« (75), wie es in der deutschen Übersetzung heißt. Die Zusammenhänge werden bei der Begriffswahl etwas verwischt.

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Diese Sprache offenbart nichts mehr oder offenbart »das Nichts aller Dinge«, weder Gott noch die Welt sind in der Sprache anwesend. Die sprachliche Natur des Menschen bleibt allerdings verborgen und »hat so ein letztes Mal die Möglichkeit, sich – unausgesprochen – in eine Zeit und einen Staat zu schicken« (76). Es folgt die politische Zuspitzung: »Deshalb gerät heute weltweit jede Herrschaft, die feste Fundamente voraussetzt, ins Wanken, und eine Weltmacht nach der anderen fällt der spektakulär-demokratischen Herrschaft zu, in der sich die Form des Staates vollendet.« (ebd.)122 Der Mensch – in der Schicksalsgemeinschaft der aus dem sprachlichen Lebensraum Entwurzelten – tritt erstmals in die Möglichkeit, »die Erfahrung seines sprachlichen Wesens selb[st] zu machen«. Dabei geht es bekanntlich nicht um einen bestimmten sprachlich vermittelten Inhalt oder um wahre Aussagen, sondern um die Sprache selbst, »des Umstands, dass gesprochen wird« (76f). Agamben nennt die Politik unserer Tage das verheerende experimentum linguae (Spracherfahrung), das »Überlieferungen und Glaubensbekenntnisse, Ideologien und Religionen, Identitäten und Gemeinschaften auseinandernimmt und entleert« (77). Und jene, die sich das »Offenbarende im Nichts, das es offenbart«, aneignen – also »die Sprache selb[st] zu Sprache bringen« –, werden die ersten Bürger/innen eines »Gemeinwesens ohne Voraussetzungen und Staat« (ebd.) sein: der kommenden Gemeinschaft. Das Erfahrungmachen ist bei Agamben durchgehend ein Thema, das an dieser Stelle seine Zuspitzung findet: So sprach er zuvor von der Liebe als die Erfahrung des Statt-Findens einer beliebigen Singularität (vgl. 29), von der Erfahrung, die eigene Potenz und Möglichkeit zu sein, und er sprach von der ethischen Erfahrung (vgl. 44) oder der ungegenständlichen Erfahrung, reine Äußerlichkeit zu sein (vgl. 64). Wie Benjamin schon in seinem Programm der kommenden Philosophie beschreibt, versucht Agamben »die Sphäre der Erkenntnis jenseits der Subjekt-Objekt-Terminologie autonom zu begründen« (Über das Programm der kommenden Philosophie, in: Benjamin 1991: 167). Ein Gegenstand (im Sinne einer objektivierenden Erfahrung) kann vom Subjekt nicht angeeignet werden, eine transzendentale Erfahrung ist daher nicht möglich. Während Kant die transzendentale Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung fragte, ist die transzendentale Erfahrung 122 Man muss sich vor Augen führen, wie ein Philosoph des spektakulär-demokratischen Italiens (zu der Zeit auch regelmäßig in Paris), die politische Welt 1989/1990 erlebte. Beim Verfassen von Die kommende Gemeinschaft fiel die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland und die gesamte Sowjetunion war im Begriff unterzugehen. Das heißt, während das politische Großprojekt Kommunismus scheiterte, schloss Agamben das Gemeinsame, auf das sich eine Gemeinschaft gründen will, vollkommen aus seiner Philosophie aus.

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die Erfahrung der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung (=architranszendental). Es geht nicht um die Erfahrung durch die Sprache, sondern um die Erfahrung als Sprache, also darum, die Erfahrung des sprachlichen Wesens selbst zu machen. Agamben nennt es die reine Spracherfahrung, das experimentum linguae, und das beliebige Sein ist als ausgestelltes Sein bekanntermaßen die Sprache selbst.

2.19 Tiananmen ›Tiananmen‹ ist das letzte Kapitel im Korpus des Haupttextes und zugleich Agambens letzte Zustandsanalyse der Gegenwartsgesellschaften, es folgen nur noch ein dreiteiliger Anhang und ein Nachwort. Alle Kapitel sind wie archäologische Rekonstruktionen beliebiger Singularitäten an ihren verschiedenen Orten der Denkgeschichte, doch in ihrer Ansammlung werden sie wie Teile eines größeren Puzzles zu einer umfassenden Theorie und Praxis. Beginnend mit ihrer theoretischen Grundlegung, folgt ihre Auslegung in Liebe, Ethik und Glückseligkeit, wandelt mit ihrer Suche durch Gegenwartsreflexionen und mündet in einer Kritik an Politik. Im ersten gegenwartskritischen Kapitel (2.12 ›DIM Strumpfhosen‹) wurde das Spektakel problematisiert und im vorangegangenen Kapitel (2.18 ›Schechina‹) mit der heutigen Politik gleichgesetzt. Das Kapitel ›Tiananmen‹ hat folgerichtig die Politik der kommenden Gemeinschaft zum Thema, die Politik der bedingungslosen Gemeinschaft in der Theorie der Singularitäten. Agamben fragt, wie man sich »die Politik der beliebigen Singularität vorstellen« muss, deren »Gemeinschaft weder durch Bedingungen der Zugehörigkeit (Roter, Italiener, Kommunist sein), noch durch die bloße Abwesenheit von Bedingungen der Zugehörigkeit […], sondern durch die Zugehörigkeit selb[st definiert wird].« (78) Er erinnert an die Abwesenheit der Bedingungen in Blanchots negativer Gemeinschaft (vgl. Blanchot 2007) und betont die Distanz zu dieser Vorstellung immer wieder, da ja das Aneignen der Zugehörigkeit selbst zum beliebigen Sein führt. Hinweise für die Antwort auf die genannte Frage liefert das Beispiel der gewaltsamen Niederschlagung einer Besetzung des Platzes des himmlischen Friedens in Peking durch chinesische Studierende am 3. und 4. Juni 1989123. Agamben meint, der Mangel an Forderungen – denn jene nach Demokratie und Freiheit sind »zu vage und unbestimmt, um einen wirklichen Streitgegenstand abgegeben zu können, und die einzige konkrete Forderung, die Rehabilitation [des nach den Studierendendemons­trationen abgesetzten Generalsekretärs] Hu 123 Auch dieses Ereignis war beim Verfassen von Die kommende Gemeinschaft hochaktuell.

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Yao-Bangs, wurde umgehend erfüllt« (ebd.) – scheint die Unerbittlichkeit der Reaktion des Staates unerklärlicher zu machen. Zumindest vordergründig, denn Agamben sieht darin den Ausdruck der kommenden Politik, die er wie folgt zusammenfasst: »[D]ie kommende Politik ist nicht mehr der Kampf um die Eroberung oder Kontrolle des Staates, sondern der Kampf [lotta] zwischen dem Staat und dem Nicht-Staat (der Menschheit); sie ist die unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation.« (79) Das heißt, sie ist ein Kampf um die Eroberung der beliebigen Singularitäten des Nicht-Staates, die er in den forderungslosen Demonstranten sieht – ein Einholen in den Staat. Darum verraten »die Maßnahmen der chinesischen Führung mehr Scharfblick« als »westliche Beobachter« ihr zugestehen, denn diese würden sich ausschließlich mit dem kaum noch »glaubhaften Widerspruch von Demokratie und Kommunismus« beschäftigen, so Agamben (78). Die kommende Politik verliert im Kampf zwischen Staat und Nicht-Staat fast all ihre staatlichen Sanktionsmittel, doch die Panzer rollen in den Nicht-Staat. Die »Einforderung des Sozialen gegenüber dem Staat« (79), wie einst in Protestbewegungen, ist allerdings durch die unüberwindbare Teilung obsolet, da beliebige Singularitäten »keine societas bilden, weil sie keine Identität haben, der sie Ausdruck verleihen könnten, und über kein soziales Band verfügen, dessen Anerkennung erstritten werden müsste« (79).124 Die beliebige Identität, die das »Beliebige selb[st ist], ohne auf eine Identität festgelegt zu werden«, führt dazu, »dass Singularitäten eine Gemeinschaft bilden, ohne eine Identität einzufordern, dass Menschen mit-angehören ohne eine darstellbare Bedingung der Zugehörigkeit« (79f). Doch das kann der Staat keinesfalls dulden, denn dabei handelt es sich um »eine Bedrohung, mit der der Staat nicht zu leben vermag« (80). Agamben verweist auf Alain Badiou, der meint, dass »sich der Staat nicht auf das soziale Band [gründet], dessen Ausdruck er wäre, sondern auf dessen Auflösung, die er verbietet« (79).125 Darum ist der Staat bereit, jede Forderung nach einer Identität anzuerkennen; »die Geschichte der Verbindungen zwischen Staat und Terrorismus unserer Zeit legt dafür ein beredt Zeugnis ab« (ebd.). Ein Sein ohne repräsentierbare Identität ist für den Staat absolut bedeutungslos, das wird allerdings vom »heuchlerischen Dogma der der Heiligkeit des nackten Lebens« und den »leeren Erklärungen zu den Menschenrechten« (ebd.) verdeckt. Agamben spricht hier von der der 124 Der lateinische Ausdruck societas meint hier eine Gemeinschaft, die Identitäten durch ein soziales Band verbindet. 125 Das Originalzitat aus Badious Werk L’Etre et l’Evènement lautet: »l’État ne se fonde pas sur le lien social, qu’il exprimerait, mais sur la dé-liaison, qu’il interdit.« (Badiou 1988: 125).

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Bedeutung des Wortes heilig im römischen Recht: »heilig (sacer) ist derjenige, der aus der Welt der Menschen ausgeschlossen ist und den man, obgleich er nicht geopfert werden darf, töten kann, ohne einen Mord zu begehen« (80).126 Das nackte Leben, das im römischen Recht heilig genannt wurde, ist nichts anderes als das beliebige Sein im Konflikt mit dem Staat. Es ist ein Beispiel, hier aus dem Recht, diesem ineffablen, beliebigen Sein einen Namen zu geben (als Zugehörigkeit zu einer rechtlichen Klasse) – das es letztlich verdeckt. Ein weiteres Beispiel sieht Agamben darin, dass »die Vernichtung der Juden weder von den Schlächtern noch ihren Richtern als Mord bewertet wurde, sondern, von letzteren, als Verbrechen gegen die Menschheit« (ebd.). Diese Identitätslosigkeit versuchten die Siegermächte »durch das Zugeständnis einer staatlichen Identität zu kompensier[en]« – was »neue Massaker zur Folge hatte« (ebd.). Aus der Nicht-Staatlichkeit findet das beliebige Sein des römischen Rechts keinen Ort in einer staatlichen, juridischen Ordnung, die das Lebensrecht einräumt. In dessen Unschuld wird es gegenüber dem Abgeschiedenen ein Opfer der Versuchung127. Die beliebige Singularität, die durch die Aneignung der Zugehörigkeit als solche und das In-der-Sprache-Sein auf die staatliche Zugehörigkeit verzichtet, ist der gefährlichste Feind des Staates: »Wo auch immer diese Singularitäten ihr gemeinsames Sein friedlich kundtun, wird ein Tiananmen sein und das Anrücken der Panzer nur eine Frage der Zeit.« (ebd.) Die kommende Gemeinschaft und das Spektakel der Gegenwartspolitik sind daher unvereinbar.

126 Das ist eine Übersetzung aus dem Buch De verborum significatu quae supersunt von Sextus Pompeius Festus. Dort heißt es auf Lateinisch: »At homo sacer is est, quem populus iudicavit ob maleficium; neque fas est eum immolari, sed, qui occidit, parricidi non damnatur […]« (Festus 1997: 424). 127 Sie sind für jede Versuchung empfängliche Wesen (vgl. Kap. 2.8 ›Dämonisch‹) und in einer Welt voller Versuchung und Versucher stoßen ihnen unentwegt Sinnlosigkeiten zu, deren letzte der Tod ist (vgl. Kap. 2.15 ›Klassenlos‹). Wie die Menschen sind, fällt dem Was zum Opfer.

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3. Das Irreparable Agamben ergänzt mit ›Das Irreparable‹ den Gesamttext um drei Fragmente, die einen Kommentar zu Paragraph 9 von Martin Heideggers Buch Sein und Zeit (Heidegger 2006) und dem Satz 6.44 in Ludwig Wittgensteins Buch Tractatus Logico-Philosophicus (Wittgenstein 1963) darstellen (vgl. 82). In Sein und Zeit ist Paragraph 9 das wahrscheinlich grundlegendste Kapitel, in dem Heidegger sein Denken der Existenz als Lebensvollzug und nicht einfach als Vorhandenheit absteckt. Da für Heidegger Existenz die möglichen Weisen zu sein meint, liegt das Wesen des Daseins in seiner Existenz. Im Tractatus Logico-Philosophicus geht es genau genommen nicht nur um Satz 6.44 (»Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.«), sondern auch um 6.432 (»Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.«) (Wittgenstein 1963: 114). Wie sich schon vermuten lässt, deutet Agamben das so um: »dass die Welt Gott nicht offenbart, ist das eigentlich Göttliche.« (84) Das Fragment ›Das Irreparable‹ handelt von der Beziehung zwischen Wesen (was etwas ist [lat. quid est]) und Dasein (dass etwas ist [lat. quod est]), einem alten Problem der Metaphysik. In der Darstellung des Textes als Fragment ist es Agamben zwar möglich, sich einer Stringenz zu entziehen und folglich Fragen zu ›beantworten‹, indem er sie offenlässt, doch er reflektiert diese Lückenhaftigkeit, um den Leser/innen die Aufgabe zu übertragen, die Fragmente in den Kontext seiner eigenen Theorie zu stellen. Es handelt sich bei den Fragmenten um ein Sammelsurium verschiedener Ideen, die schon Kapitel für Kapitel behandelt wurden, aber sie enthalten auch wichtige Detailbestimmungen. Es sind Reihen mehrerer Absätze, wobei jeder einigermaßen in sich geschlossen ist. Der Zugang zu den ohnehin schon schwer zugänglichen Gedanken ist durch das Fragmentarische verstellt, aber ich versuche, die Punkte möglichst so zusammenzufassen und zu sortieren, dass sie die Ontologie des beliebigen Seins hilfreich ausdeuten und in einen größeren Verständniszusammenhang bringen.

3.1 I. Fragment Das Irreparable ist »weder eine Essenz noch Existenz, weder eine Sub­ stanz noch eine Qualität, weder etwas Notwendiges noch etwas Zufälliges«, schreibt Agamben, es ist gar keine Modalität des Seins, es ist nicht so, »sondern sein So« (85). Der Zustand der Dinge, ob traurig oder froh, grausam oder selig, er ist unabänderlich: »Wie du bist, wie die Welt ist – das ist das Irreparable.« (83) 77

Zuversicht und Verzweiflung, den beiden Formen des Irreparablen, ist identisch und wesentlich, »dass jegliche Ursache des Zweifelns geschwunden ist, dass die Dinge mit absoluter Sicherheit endgültig so sind wie sie sind, gleich ob dies Anlass zu Lust oder Unlust gibt« (84).1 Sie sind unabänderlich, und analog dazu führt Agamben zwei weitere Beispiele an: Im Grad der höchsten Reinheit von der Freude und dem Leiden gibt es jeweils kein Zweifeln und kein Hoffen – wieder in der irreparablen Anerkennung: so sei es –, daher sind ihr Gegenstand weder positiv noch negativ attribuiert, »sondern das reine So-Sein ohne jedes Attribut« (ebd.). Das heißt, wie schon bekannt, die »Welt des Glücklichen und die des Unglücklichen, die Welt des Guten und die des Bösen enthalten dieselben Zustände der Dinge«, sie sind, »was ihr So betrifft, völlig identisch« (85). Nur ihre Grenzen ändern sich. Der »Zustand der Dinge« ist im Paradies und in der Hölle »vollkommen gleichwertig, nur mit umgekehrten Vorzeichen« (84)2. So sind auch der Erlöste und der Verdammte sowie der Körper der Seligen und der sterbliche Körper derselbe – was »sich verändert, sind nicht die Dinge, sondern ihre Grenzen« (85)3. Der Zustand der Dinge selbst, ihr So-Sein, das ist unabänderlich. Dabei wird nichts abgesondert, es wird nichts verschoben, nichts verloren, kein Zweifeln und kein Hoffen, keine Klage und kein Lob: Das ist die Erlösung der Welt, die erst zustande kommt, wenn die Offenbarung »die Welt der Profanierung und der Verdinglichung« (83) ausliefert4. Es ist die reine Potenz, die sich durch die Offenbarung ermöglicht. Die Welt wird insofern erlöst, »als sie profan« wird, und profan heißt ihre unwiderrufliche »Offenbarung (der Sprache)« (ebd.)5. Die Sprache offenbart den »unabänderlich profanen Charakter« (ebd.) der Welt. 1 Agamben bezieht sich hier auf Spinozas Definitionen von Zuversicht [lat. securitas] und Verzweiflung [lat. desperatio] aus dessen Ethik: »Zuversicht ist Lust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem die Ursache des Zweifelns geschwunden ist.« Und: »Verzweiflung ist Unlust, entsprungen aus der Idee eines zukünftigen oder vergangenen Dinges, bei welchem die Ursache des Zweifelns geschwunden ist.« (Spinoza 1975: 237). 2 Darauf folgt eine schöne Bemerkung Agambens: »Wären wir fähig in der Verzweiflung zuversichtlich zu bleiben und in der Zuversicht zu verzweifeln, könnten wir im Zustand der Dinge einen Rand, einen Limbus wahrnehmen, der nicht in ihm enthalten sein kann.« (84) Die theoretische Grundlage dafür wurde in den vorhergehenden Kapiteln entwickelt (vgl. insbesondere dazu 2.4 ›Statt-Finden‹, 2.6 ›Agio‹ und 2.13 ›Aureolen‹). 3 Es ist, »als ob über ihnen etwas wie eine Aureole, ein Glorienschein schwebte« (85). 4 Denn »Offenbarung bedeutet nicht Offenbarung der Heiligkeit der Welt« (83). 5 Diese Anmerkung richtet Agamben an die evangelische Theologie, die darin Recht hat, schreibt er, dass »die Welt von der Offenbarung […]

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Die Welt ist das Offenbarte, das So-Sein, aber auch: »Die Welt – das absolut und unabänderlich Profane – ist Gott.« (ebd.) Darum ist der Satz 6.432 in Wittgensteins Tractatus nicht der bitterste, denn er lässt sich wie folgt ausdrücken: »[D]ass die Welt Gott nicht offenbart, ist das eigentlich Göttliche.« (84)6 Was auf diese Einsicht folgt, auf die Befreiung der Welt von Schuld und Gerechtigkeit, ist aus dem zweiten Kapitel von Die kommende Gemeinschaft bekannt: »Über ihr Antlitz ergießt sich – unwiederbringlich – das Licht der Morgendämmerung, die auf den novissima dies des Gerichts folgt.« (13)

3.2 II. Fragment Teil 1: »So [cosi].« (87) Während das Beliebige das am schwierigsten zu Denkende ist (vgl. 64), so ist nichts »schwieriger als die Bedeutung dieses Wörtchens zu erfassen.« (87)7 Agamben fährt fort mit der Feststellung, dass das So-Sein kein Wesen ist, das das Dasein bestimmt, sondern vielmehr »findet es sein Wesen in seinem So-Sein, also darin, seine eigene Bestimmung zu sein« (87). Man kann sagen, so bedeutet nicht anders8. Also »weder dies noch jenes, weder so noch so, sondern so, wie es ist, mit allen seinen Prädikaten (mit allen seinen Prädikaten ist kein Prädikat)« (88)9. Der Satz, der ein beliebiges Sein (bloßes Dasein, ein Sein ohne Eigenschaften) beschreibt, lässt sich besser in der Aufschlüsselung verstehen: Auf der Ebene des Wesens (der Bedeutung) wird »kein einziges Prädikat als Eigenschaft akzeptiert«, aber

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unwiderruflich dem Bereich des Profanen ausgeliefert wurde« (83). Unrecht hat sie, »weil sie nur insofern erlöst, als sie profan« ist (ebd.). Das meint nichts anderes, als die Abtrennung der Schechina das Profane offenbart, das allerdings ihre Erlösung (ihr Königreich) ist. Bei Wittgenstein heißt es: »Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.« (Wittgenstein 1963: 114) Ist das Bitterste, dass Gott sich nicht in der Welt offenbart oder seine Gleichgültigkeit gegenüber der Welt? Er merkt an, dass in der Welt der Tiere »kein So zum Tragen kommt, dass sie sich für das Tier nicht so darstellt: nicht irreparabel ist« (87). Gemeint ist, dass Tiere zwar wahrnehmen, aber nicht erkennen, dass die Welt irreparabel ist. Doch wenn es stimmt, dass sich einige Katzen zu ihrem Lebensende unter einen Baum einrollen und den Tod erwarten, erkennen sie die Irreparabilität des Todes, das vielleicht Irreparable schlechthin. Agambens Beispiel: »Dieses Blatt ist grün, folglich ist es weder rot noch gelb.« (87) Das Denken des So-Seins, das jede Möglichkeit und jedes Prädikat negiert, bezeichnet Agamben als korrekten Weg, die negative Theologie zu verstehen. (vgl. 88)

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es werden auf der existentiellen Ebene (der Bezeichnung) »alle Prädikate als Un-Eigentlichkeiten, als Eigenschaftslosigkeit angenommen« (ebd.). Um die weiteren Erörterungen zu verstehen, sollte man die grammatiktheoretische Unterscheidung der verschiedenen Verweisrichtungen von Anapher und Deixis (im Text auch Ostension genannt, gestische Osten­ sion) kennen: Das Bezugselement der Anapher findet sich nämlich im Text selbst, ist also innersprachlich (das In-der-Sprache-Sein). Die dritte Person der Personalpronomen (er, sie, es) ist anaphorisch, da sie eine bestehende Orientierung im Text auf eine Person oder ein Ding weiterführt. Hingegen findet sich bei einer Deixis das Bezugselement außerhalb der Sprache (das Nicht-Sprachliche). Die erste und zweite Person (ich, du, wir, ihr) sind deiktisch, da sie auf den/die Sprecher/in oder die Sprecher/innen bzw. dessen/deren Adressat/in oder deren Adressat/innen verweisen. Agamben meint vor allem das gestische Zeigen und stellt fest, dass sich das Wort ›so‹ als Anapher auf ein vorausgegangenes Wort bezieht und nur »im Rückbezug auf dieses vorausgegangene Wort kann es (selb[st] bedeutungslos) seinen Referenten bezeichnen« (ebd.). Das ist jedoch nicht das So, von dem die Rede ist, denn: »Man muss eine Anapher denken, die sich nicht auf eine vorausgegangene Bedeutung oder einen bereits genannten Referenten bezieht, also an ein absolutes, voraussetzungsloses, gänzlich ausgestelltes So.« (ebd.) Damit das möglich wird, fordert er, die beiden Eigenschaften Ostension (Deixis) und Anapher – »die nach Meinung der Grammatiker die Bedeutung des Fürwortes ausmachen« – zu überdenken, da sie schon immer die Theorie des Seins bestimmen (ebd.). In beiden Eigenschaften wurde das bloße Sein stillschweigend vorausgesetzt bzw. unterstellt. In der (gestischen) Ostension »wird das unmittelbare Da-Sein eines Nicht-Sprachlichen unterstellt, das die Sprache nicht sagen, sondern nur zeigen kann« (89). In der (rückbezüglichen) Anapher wird das Sein »als Subjekt der Sprache vorausgesetzt, auf das sich das Gesagte bezieht« (ebd.). Die Ostension ist daher das Modell des Daseins und der Bezeichnung, die Anapher hingegen des Wesens und der Bedeutung10. Agamben stellt die Ostension und die Anapher in Beziehung und erkennt: »Das Fürwort setzt vermittels der Deixis das bezuglose Sein voraus, und macht es vermittels der Anapher zum ›Subjekt‹ der Rede.« (ebd.) Damit setzt die Anapher die Ostension voraus, und die Ostension verweist auf die Anapher. Sie implizieren sich folglich gegenseitig. Das Fürwort bekommt eine Doppelbedeutung11, nämlich die des einzelnen, unsagbaren Individuums 10 Oder analog dazu Aristoteles’ Unterscheidung aus der Metaphysik (Aristoteles 1989) von Etwas und Wesenswas, von τόδε τι [tóde ti] und τί ἦν εἶναι [tí ên eînai]. 11 Darin sieht er den Ursprung von Aristoteles’ Οὐσία [ousia]: »einerseits bedeutet es das einzelne unsagbare Individuum, andererseits die Substanz, die den Prädikaten unterstellt wird« (89).

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und die der Substanz, die den Prädikaten unterstellt wird. Das fasst das folgende Zitat gut zusammen, das sich als Kommentar zu einem alten Problem der Metaphysik versteht: »In der Doppelbedeutung des Fürworts kommt die ursprüngliche Gebrochenheit des Seins in Wesen und Dasein, Bedeutung und Bezeichnung zum Ausdruck, ohne dass deren Beziehung überhaupt zu Tage tritt. Was hier zu denken gilt, ist genau diese Beziehung, die weder eine der Bezeichnung oder Bedeutung, noch eine der Ostension oder der Anapher ist, sondern deren wechselseitige Implikation.« (ebd.) Agambens Resümee ist nach all den Wiederholungen leicht nachzuvollziehen: Nicht nur das Nicht-Sprachliche (die Ostension) oder das In-der-Sprache-Sein (die Anapher), sondern das In-der-Sprache-sein-desNicht-Sprachlichen (die Ostension-Anapher-Beziehung) [l’essere-nel-linguaggio-del-non-linguistico] muss gedacht werden. Also die Sache selbst. Das Sein wird dabei nicht unterstellt, sondern ausgestellt, und die Ausstellungsbeziehung ist damit keine Beziehung der Identität, sondern der Ipseität. Es geht (der Philosophie) nicht um dieselbe Sache (lat. idem), also um Identität, sondern um die Sache selbst (lat. ipsum). »Sie ist nicht eine andere Sache, in die die Sache versetzt wird, noch ist sie einfach dieselbe Sache. Die Sache wird in sich selbst versetzt, in ihr Sein, so wie es ist.« (90) Und damit wird der Verweis auf Platons Anamnesis aus dem ersten Kapitel noch verständlicher: »Die Bewegung […] versetzt das Objekt nicht in eine andere Sache oder an einen anderen Ort, sondern in sein eigenes Statt-Finden selb[st] – in seine Idee.« (10) Im Statt-Finden ist das Sein so, wie es ist. Das Statt-Finden ist das So. Teil 2: »So wie [tale quale].« (90) Bei dem Ausdruck so wie verweist die Anapher so [tale] nicht auf ein vorausgegangenes Wort, und wie [quale] identifiziert auch keinen Referenten, »der dem so seine Bedeutung gibt« (ebd.). Wie Agamben bereits im ersten Kapitel zum Thema Liebe angedeutet hat: »Das Wie hat kein anderes Dasein als in Gestalt des So und das So kein anderes Wesen als in Gestalt des Wie«, denn sie »gehen aufeinander ein, stellen sich aus« (ebd.). Sie setzen sich aber nicht voraus. Das So ist das Statt-Finden des Wie (die Essenz liegt in der Existenz), und das Wie ist die Ausstellung bzw. reine Äußerlichkeit des So (das Wesen enthält das Dasein). Das So-Sein [l’esser-tale] ist das, was existiert, »eine absolute Qualität des So [una tal-qualità assoluta], die auf keine Voraussetzung verweist« (ebd.)12. Auf keine Voraussetzungen zu verweisen, heißt auch 12 Schon mehrfach ist dieses voraussetzungslose Prinzip besprochen worden (bei Platon und Aristoteles das ἀρχὴν ἀνυπόθετον [archê anypothetos]). Zur Erinnerung: Die beliebigen Singularitäten sind selbst architranszendental (vgl. 64), eine Ähnlichkeit ohne Archetyp (vgl. 48), die eine bedingungslose Gemeinschaft bilden.

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keine Qualitäten oder Eigenschaften im So-Sein zu haben, »wie Tugend oder Laster, Reichtum oder Armut« (91), die eine Substanz bzw. Subjekt auszeichnen13, vermeintlich hinter ihnen liegend und die sie nur vermeintlich in Wahrheit wären. So sagt Agamben, er ist nicht »dieser oder jener, sondern immer ein solcher, so. Eccum sic14: absolut. Nicht Besitz, sondern Grenze; nicht Unterstellung, sondern Ausstellung.« (ebd.) Die realen Prädikate bringen »innersprachliche Beziehungen« zum Ausdruck, die Ausstellung aber – also das Sein als solches [l’essere ­tale-quale] – »die reine Beziehung zur Sprache selb[st], zu ihrem Statt-Finden« (ebd.). Nur so kann der Mensch die Erfahrung seines sprachlichen Wesens selbst machen. Das betrifft das Statt-Finden jeder Sache insofern, da es auf Grund seines Benannt-Seins mit der Sprache in Beziehung steht. Agamben führt ein Beispiel solch einer Beziehung an: Eine Sache ist ausgestellt, wenn sie beispielsweise rot genannt wird und sich auf sich als solches bezieht. Die entscheidende Quintessenz ist jene: »Das Dasein als Ausstellung ist das So-Sein eines Wie.« (ebd.)15 Es folgt ein kurzer Einschub im Text, den man nur als Zwischenresümee verstehen sollte, um den Faden nicht zu verlieren: Das So-Sein ist das, was existiert, und existieren bedeutet sich auszuzeichnen [Esistere significa: qualificarsi], »sich der Qual des So-Seins zu unterwerfen«, da­rum ist die Qualität, das So-Sein jeder Sache, »seine Qual und seine Quelle – seine Grenze« und jedes Sein »seine Seinsweise, seine Entstehungsweise« (92). Die Seins- und Entstehungsweise wurde schon ausführlich diskutiert. Aber an dieser Stelle findet sich ein Wortspiel, das im italienischen Original eigentlich über den Verweis auf Jakob Böhmes deutschen Begriff inqualieren stattfindet (vgl. Böhme 1992). Das Inqualieren ist eine Bewegung der Qualität, ein gegenseitiges Durchdringen. Böhme setzte es aus den Worten Qualität, Qual und Quellen (darum auch mit Doppel-L geschrieben) zusammen. Das italienische Wort tormento, auf Deutsch Qual, hat Agamben wahrscheinlich wegen des deutschen Wortes gewählt und dabei auf das Wortspiel verzichtet. Es lässt sich wie folgt weiterdenken: Die Sprache spricht etwas als ›etwas‹ aus, das ist ihre Formel: »den Baum als ›Baum‹, das Haus als ›Haus‹« (ebd.) Agamben schließt dort das Denken an, das sich nämlich entweder auf das erste Etwas oder auf das zweite Etwas richtet. Beim ersten auf das Dasein, also darauf, das etwas ist: auf die Identität. Beim 13 Denn beliebig ist ein Sein »mit allen seinen Eigenschaften, von denen jedoch keine eine Differenz erzeugt« (23). 14 Eccum sic, Lateinisch für: das ist so. 15 Agamben merkt an, dass die »Kategorie der So-heit [talità] grundlegend« ist, »sogleich sie in keiner Qualität gedacht wird« (91). Es bedeutet nichts anderes als das Beliebige in der scholastischen Aufzählung der Transzendentalien (vgl. 9).

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zweiten auf das Wesen, also darauf, was dieses Etwas ist: auf die Differenz. Allerdings bleibt in etwas als etwas das Wort als ungedacht - die Beziehung der Ausstellung (dessen reine Äußerlichkeit), die es zu denken gilt. Denn: »Dieses ursprüngliche als ist der Gegenstand der Philosophie, die Sache des Denkens.« (92) Die Struktur des Wortes als kennzeichnet das apophantische Urteil16, das auf einer zirkulären Struktur des Verstehens gründet. »Wenn das Verstehen etwas versteht oder entdeckt, dann immer von etwas anderem aus und als etwas anderes, sie [die Struktur] geht gleichsam auf etwas zurück, bei dem sie schon war.« (92f) Das heißt, im »Urteil nimmt diese Struktur des ›etwas als etwas‹ eine Form an, die von der Subjekt-Prädikat-Beziehung bekannt ist« (93). Beispielsweise lässt das »Urteil ›Die Kreide ist weiß‹ die Kreide insofern zur Sprache kommen, als sie weiß ist« (ebd.). Dabei macht man nur eine Aussage über die Kreide, insofern sie weiß ist, und durch dieses Insofern-eine-Sache (Insofern-die-Kreideweiß-ist) versteht man den Satz erst – allerdings verschwindet darin das In-Bezug-auf-was. Oder anders gesagt das In-Bezug-auf-etwas, nämlich auf die Kreide als ›Kreide‹. Doch weiter: Indem man »etwas als ›etwas‹ sagt«, verwindet nicht nur das erste etwas (das In-Bezug-auf-Was), »sondern vor allem das als selb[st]« (ebd.). Will das Denken also zur reinen Äußerlichkeit bzw. Unverborgenheit kommen, das heißt das Sein als Sein erfassen, muss es »das Sein vermittels seines als in seinem So-Sein verstehen« (ebd.). So sagt dieses Denken »nicht mehr etwas als ›etwas‹, sondern bringt das als selb[st] zu Sprache« (ebd.). Agamben kommt zu dem Schluss, dass der Zeichencharakter der Sprache nicht allein mit den zwei Elementen ›Bezeichnung‹ und ›Bedeutung‹ ausgedrückt ist. Es fehlt das Dritte, nämlich »die Sache selbst, das Sein als solches, das weder Bezeichnung noch Bedeutung ist« (ebd.).17 Dieses Dritte – denn darauf »zielt die platonische Theorie der Ideen« (ebd.) – ist nichts anderes als das Agio der kommenden Gemeinschaft, die Gesamtheit der Möglichkeiten der beliebigen Singularität, ihr Stattfinden. Analog zu der obigen Ausführung: »Weder das absolut ungesetzte, bezuglose 16 Das bezieht sich auf eine Unterscheidung, die Heidegger unternimmt: Neben dem apophantischen Als (das eine Aussage ist, die aufzeigt, dabei die Welt aber ausklammert), gibt es noch das hermeneutische Als (das eine Auslegung ist, die folglich auslegt, dabei die Welt aber thematisiert) (vgl. Heidegger 2006, dort: §§33). 17 Das ließe sich an dieser Stelle noch einmal gut an einem Beispiel wie der Hund als ›Hund’ nachzeichnen: Der Hund ist die Bedeutung, also das Dasein. Der Ausdruck ›Hund’ ist die Bezeichnung, also sein Wesen. Und das Dritte ist die Beziehung der Ausstellung, also der Hund selbst. Dabei wird der Hund in sich selbst versetzt, in sein Sein, so wie er ist. Sein In-der-Sprache-Sein des Nichtsprachlichen meint das Hund-genannt-werden in der Unsagbarkeit-des-Hundes.

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Sein (athesis), noch das gesetzte, in Bezüge gestellte, faktische Sein, sondern eine ewige Ausstellung und Faktizität: aisthesis, eine ewige Empfindung.« (93f)18 An dieser Stelle wird das zuvor eingeschobene Zwischenresümee aussagekräftiger, denn die Idee ist ein Sein, »das nicht es selbst ist, sondern einzig das, was existiert; das nicht existent ist, sondern das Existierende ist, ganz und ohne jede Ausflucht«, es ist das Ausgestellt-Sein der Existenz, das sie weder »bestimmt, noch begründet oder nichtet« (94). In dreifach bekannter Formulierung ist es »sein Ausgestellt-Sein, sein Nimbus, seine Grenze« (ebd.). Das Existierende wird völlig ausgestellt, wenn es mitten ins Sein versetzt wird. Damit ist die Idee19 das So-Sein jeder Sache, die »neben der Sache weilt, so dicht, dass sie sich quasi mit ihr vermischt«, als beispielhafte Existenz: »das Sich-Zeigen jeder Sache neben sich selbst (para-deigma)«– in einer »Paraexistenz oder einer Paratranszendenz« (94f). Ihre Seinsweise ist »weder die einer Existenz noch die einer Transzendenz« (94). Die Ausstellung in den Raum neben sich ist das Stattfinden. »Als ob die Gestalt, die Erkennbarkeit, die Züge eines jeden Seienden sich nicht als eine andere Sache ablösten, sondern wie eine intentio [Intention], ein Engel, ein Bild.« (ebd.) Die Intention ist ein Richten-auf, ein Ausstellen, in einer vollkommenen Mitteilbarkeit. Ein Sein, das nicht existent ist, sondern das Existierende ist (also auch Sprache ist), ist die absolute Transzendenz und die absolute Immanenz. Eine intime Äußerlichkeit, die irreparabel ist, ist einem Bild gleich (auch in seiner Mitteilbarkeit). Beispiele für diese gnostische Lesart der platonischen Idee sind, so Agamben, die Engels-Intelligenzen Avicennas, die Dichter der Liebe, das eidos des Origenes und das Licht- bzw. Strahlenkleid im Lied von der Perle (vgl. 95). Die Beispiele beschreiben (ontologische) Zwischenzustände, wie sie das ganze Buch durchziehen, in denen Agamben einen Verweis auf das beliebige Sein sieht. Die konsequente gnostische Lesart 18 Das Griechische αἴσθησις [aísthēsis] bedeutet sinnliche Wahrnehmung (auch das Wort Ästhetik leitet sich davon ab). Und das Wort athesis, im Sinne von a-thesis, meint das Un-Postulierte, das Un-Positionierte – eben das ungesetzte und bezuglose Sein. 19 Agamben zitiert Attikos (die deutsche Übersetzung nennt ihn Atticus, vgl. 94), den griechischen Philosophen – ein Platoniker. Der Satzausschnitt definiert die Idee (aus der Praeparatio Evangelica von Eusebius von Caesarea: Eusebius 1688, dort: Buch 15, Kapitel 13): παραίτια […] τοῦ εἶναι τοιαῦτα ἕκαστα, οἷά περ ἐστί [paraitia tou einai toiauta ekasta, oia per esti] (Agambens Zitat weicht davon etwas ab: paraitia tou einai toiauta ecasth‘ oiaper esti). Die Ideen sind Mitursache [παραίτια] von jedem Seienden. Oder wie Agamben sagt: »Demzufolge ist sie nicht Ursache, sondern Mit- oder Nebenursache jeder Sache und bezieht sich nicht einfach auf das Sein, sondern ein Sein-wie-es-ist.« (94)

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der platonischen Idee zu einer umfassenden Ontologie führt aber erst Agamben selbst vor. Es ist das Unbestimmt-Werden einer Grenze, das er als Spielraum agio vorgestellt hat, aber auch als Aureole, nämlich das Ausfransen, das Supplement der Vollkommenheit, die Gabe einer supplementären Möglichkeit: die Glückseligkeit. »Eine ewige Qualität des So: das ist die Idee.« (ebd.)

3.3 III. Fragment Die Erlösung ist der »unwiederbringliche Verlust des Verlorenen, die endgültige Profanierung des Profanen« (97). Agamben meint, wir »können nur auf das unsere Hoffnungen gründen, für das es keine Abhilfe gibt«, und das gilt für den Zustand der Welt, in der die Dinge zwar »so oder so liegen«, aber »für dieses So« (ebd.) gibt es keine Abhilfe. Das ist die Erlösung, »der einzige Ausweg aus der Welt« (ebd.)20. Das So-Sein (das Die-eigene-Seinsweise-Sein) darf man aber nicht als Sache auffassen, sondern als Entleerung der Dinglichkeit. »Der Mensch ist das Sein, das einzig und allein dadurch, dass es unter die Dinge gerät, für Undingliches offen ist«, und »derjenige, der für Undingliches offen ist«, ist »einzig und allein deshalb den Dingen unwiderruflich ausgeliefert« (98). Unter die Dinge geraten und für die Undinglichkeit offen werden, das meint die absolute Immanenz als absolute Transzendenz. Die Ausstellung in das Dingliche entleert diese. Nichts anderes meint die Rede von der Erfahrung der Sprache selbst – ein Ausgestellt-Sein, ein Mitteilung-Sein, ein Potenz-Sein (im Vollzug).21 Agamben nennt die Undinglichkeit auch Spiritualität, bei der man sich in die Dinge mit dem Ziel verliert, »sich nichts mehr anderes vorstellen zu können als Dinge« (ebd.). Das ist die endgültige Profanierung des Profanen, »die Erfahrung der unabänderlichen Dinglichkeit der Welt« (ebd.), bei der man an eine Grenze stößt und die Dinge berührt. Folglich findet das Statt-Finden der Dinge nicht in der Welt statt, aber es grenzt an sie. 20 »Das eigenste Merkmal der Erlösung ist, dass sie uns erst in dem Moment zuteil wird, in dem wir uns nicht mehr wünschen, erlöst zu werden. In diesem Moment gibt es Erlösung – jedoch nicht für uns.« (97) Sondern für die Welt. 21 Er verweist dabei wieder auf die indischen Logiker (vgl. Kapitel 2.13 ›Aureolen‹), die behaupten, dass »zwischen Nirwana und Welt nicht der geringste Unterschied besteht« (97). An der Stelle noch einmal der Hinweis auf Nāgārjuna: Die Sicceitas [sicceità] der Dinge meint die Soheit bzw. Tathata (Sanskrit tathatā तथाता) in der buddhistischen Lehre, die die wahre Wirklichkeit alles Seiende beschreibt. (vgl. Nāgārjuna 1912)

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Eine interessante Feststellung ist diese: »›So sei es‹ bedeutet: Es sei so. D. h.: Ja.« (ebd.)22 Das So ist ewig, das So-Sein jeder Sache ist unvergänglich23. Nach Dante Alighieri ist das Ja »der Name der Sprache«24 und es »drückt ihre Bedeutung aus: das In-der-Sprache-sein-des-Nicht-Sprachlichen« (99). Das Ja, »das man der Welt sagt, damit sie über dem Nichts der Sprache« schwebt, ist hingegen das »Dasein der Sprache« (ebd.). Die nächsten Gedanken stehen etwas lose in dem Fragment, betreffen jedoch – wie Agamben eingangs hingewiesen hat (vgl. 82) – Wittgensteins Satz 6.44 (»Nicht wie die Welt ist, ist das Mystische, sondern daß sie ist.« (Wittgenstein 1963: 114)). Es geht folglich um das Elementarste schlechthin, um den Satz vom Grund, der besagt: »[E]s gibt einen Grund, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts« (99)25. Agamben merkt an, das Wesentliche ist nicht, dass etwas ist (Sein [l’essere]) oder etwas nicht ist (das Nichts [il nulla]), sondern dass etwas ist und nicht vielmehr nichts. Es geht nicht um die Gegenüberstellung zweier Termini, denn es gibt noch einen Dritten: das vielmehr (lat. potius) [piuttosto]26. Und das ist »das Vermögen, nicht nicht zu sein« (ebd.). Ist der Grund die Sprache, dann sagt der Satz: »Die Sprache (der Grund) ist das, durch das etwas existiert vielmehr […] nichts.« (ebd.) Damit kommt Agamben zu einem plausiblen Ergebnis, denn die Sprache eröffnet zwar die »Möglichkeit des Nicht-Seins, doch zugleich mit dieser auch eine Möglichkeit, die wahrscheinlicher ist: die der Existenz, der Möglichkeit, dass etwas ist« (ebd.). Auch hier ist es wieder die Argumentation der reinen Potenz, der Potenz der Impotenz.27 Der Satz vom Grund sagt daher, »dass das Dasein kein inertes Faktum ist, sondern ihm ein potius, eine Potenz inheriert« (ebd.). Die restlichen fragmentarischen Gedanken sind bereits bekannt. Es geht darum, dass das So-Sein notwendig kontingent und kontingent 22 So müsse man, wie oben schon erwähnt, auch das Ja Friedrich Nietzsches verstehen, das keinem bestimmten Zustand der Dinge gilt, sondern ihrem So-Sein. »Nur deshalb kann es ewig wiederkehren. Das So ist ewig.« (98) Das Ja meint Nietzsches vollkommene Lebensbejahung. 23 »Die Lehre des Origines, derzufolge nicht die körperliche Substanz, sondern das eidos aufersteht, besagt nichts anderes.« (98) (vgl. Origenes 1993) Im Kapitel zuvor schon als Beispiel genannt. 24 Vgl. Dante Alighieris Text De vulgari eloquentia – Über die Beredtsamkeit in den Volkssprachen (Alighieri 2007). 25 Dieser Satz geht in der Form des zureichenden Grundes auf Gottfried Wilhelm Leibniz (vgl. Leibniz 1996, dort: §31) zurück. Es folgten wichtige Bearbeitungen/Weiterführungen seiner Theorie durch Schelling, Schopenhauer und Heidegger. 26 Diese Herangehensweise Agambens ist schon seit Beginn der Lektüre bekannt, also seit seiner Entdeckung des Beliebigen in der scholastischen Aufzählung der Transzendentalien. 27 Genau diesen Gedanken hat Agamben im Kapitel 2.9 ›Bartleby‹ entwickelt.

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notwendig ist28, dass die Welt in dem Moment transzendent wird, wenn man sie als irreparabel wahrnimmt und um den zentralen Satz: »Wie die Welt ist, ist der Welt äußerlich.« (100) Die drei Fragmente zeigen sich eher als Detailantworten, ohne die bekannten Termini zu verwenden. Als wären die Fragmente nicht im Denken von Die kommende Gemeinschaft geschrieben, bindet Agamben sie auch nicht in die Argumentation des Haupttextes ein. Tatsächlich geht es hier um die Ontologie des So-Seins, die aber nicht politisch-kritisch reflektiert wird. Um die Ideen zu verstehen, reicht es nicht, sie in den Kontext der Ontologie zu stellen, sie müssen im Theoriegebäude der Singularitäten gedacht werden. Wie es sich hoffentlich gezeigt hat, gelingt das in einer konsequenten Lektüre des Buches.

28 Daher »vermag es das Vielmehr […] nicht nicht zu sein« (99f). Agamben zitiert dazu Spinozas Ethik (Spinoza 1975, dort: V, Lehrsatz 5, Beweis).

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4. Tiqqun de la noche – Postille 20011 Agamben hat diesen abschließenden Text dem Buch 2001 als Nachwort beigefügt, und man kann ihm das Nachträgliche ablesen, da er das messianische Thema neu vertieft. Stilistisch besonders ist, dass das Nachwort die Idee des Vor- und des Nachworts reflektiert und dabei diese selbst ersetzt, denn: Während ein kluges oder befreiendes »Vorwort von nichts handeln darf, sich gleichsam darauf beschränken muss, eine Bewegung vorzutäuschen« ist eine gelungene Postille (bzw. Nachwort)2 jene, »die deutlich machen kann, dass der Autor seinem Buch absolut nichts hinzuzufügen hat«, so Agamben (103). Und man denke an die Konsequenz für dieses Schlüsselbuch, dem vielleicht fragmentarischsten und vielleicht elementarsten seiner Bücher, dem nichts (innerhalb der Buchdeckel) hinzuzufügen ist: die ultimative Aufforderung, es genauer zu lesen. Er nennt die Postille das »Paradigma der Endzeit«, bei der dem Getanen nichts mehr hinzugefügt werden könnte – doch nichts ist schwieriger als die »Kunst zu sprechen, ohne etwas zu sagen, zu handeln, ohne etwas zu tun« (ebd.). Es sei daran erinnert, dass dem Ursprung des Wortes nach, das Paradigma (παράδειγμα [parádeigma]) neben sich verweist und es damit selbst ein Beispiel ist – hier für die Endzeit. Das Paradigma erlaubt einen methodischen Ausbruch aus unserem Alltagsverständnis von Sprache – vom Sprechen in Sprache zum Sprechen als Sprache. Darum ist das Beispiel 1 Der Titel Tiqqun de la noche ist eine interessante Verbindung von Wörtern aus zwei Sprachen: Tiqqun bzw. Tikkun ist ein hebräischer Begriff der lurianischen Kabbala und bedeutet Verbesserung, Wiederherstellung, Reparatur, Errettung oder Erlösung: Tiqqun Olam ist die Erlösung der Welt. Im Zusammenspiel mit dem spanischen de la noche (der Nacht), könnte man den Titel im Rahmen von Agambens philosophischer Weltanschauung als Wiederherstellung der Nacht übersetzen – Wiederherstellung im Sinne von Aneignung. Der Titel klingt auch im jüdischen Brauch Tikkun Leil Shavuot an (Leil ist hebräisch für Nacht) und bezieht sich darin auf eine nächtliche Thora-Lesung während des Feiertags Schawuot (nächtliche Thora-Lesungen gibt es auch während anderer jüdischer Feiertage). Zweifelsfrei ist der Titel außerdem ein Hinweis auf das französische Autorenkollektiv Tiqqun, das 1999 und 2001 eine gleichnamige Zeitschrift veröffentlichte, auf die Agamben in dem Nachwort Bezug nimmt (und aus der mehrere Bücher hervorgingen). 2 Während italienisch postilla auf Deutsch Anmerkung oder auch Anhang bedeutet, hat die Postille im Deutschen viele weitere Bedeutungen. Am ehestens noch sind Postillen nachfolgende Erklärungen der Texte der Bibel, vom Lateinischen post illa verba, zu Deutsch nach jenen Worten.

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auch als sprachlicher Ausdruck immer schon ein Verweis hinaus aus der benennenden Sprache (dem sprachlichen Wesen: in der Sprache) und ermöglicht erst das Wahrnehmen und Denken von So und Wie (dem geistigen Wesen: als Sprache). Das sprachliche Beispiel und das Paradigma haben als solche eine Ähnlichkeit ohne Archetyp, nur ist das sprachliche Beispiel ein sprachliches Sein und das Paradigma die Ausstellung (das So) eines Wie. Dabei ist nicht wichtig, ob Agamben die Postille als oder in der Sprache darstellt, sie verweist auf die Endzeit entweder durch ihre Ausstellung oder in ihrer Ähnlichkeit ohne Archetyp. Je nachdem, ob man hier ein Denken nachvollzieht oder einen Text liest. Agamben sieht sich als Überlebender einer Zeit, in der man das geschichtliche Dasein eines Volkes noch erschüttern konnte, wobei er erkennt, dass die Idee der Berufung, des Volkes oder der geschichtlichen Aufgabe3 völlig neu überdacht werden muss. Als Überlebender – »des Schriftstellers ohne Empfänger oder des Dichters ohne Volk«4 – »erscheint ihm die Gegenwart, als die Zeit, die nach dem Jüngsten Tag kommt« (104) – in der nichts Neues mehr passieren und der nichts mehr hinzugefügt werden kann. Das ist die Definition vom Ende der Geschichte, und Agamben nennt sie »das einzig wahre pleroma der Zeit« (ebd.)5 Das Besondere unserer Zeit ist folglich, dass sich alle Menschen in der Position des Restes6 wiederfinden und damit die »Abwesenheit des 3 Die Berufung [chiamata], das Volk [popolo] und die geschichtliche Aufgabe [compito storico assegnabile] meint auch die Berufung und das Volk und ihre geschichtliche Aufgabe. Agamben nennt das altgriechische Wort κλῆσις [klēsis] und den Begriff Klasse [ital. classe] – das sind jeweils Referenzen auf Paulus und Marx. Er stellt beide Worte nebeneinander, womöglich um ihre gleiche etymologische Herkunft anzudeuten. Denn Klasse stammt vom lateinischen Wort classis, das wiederum vielleicht vom altgriechischen κλῆσις [klēsis] stammt. Dann würden beide Berufung oder Herbeirufung bedeuten. Es geht gewiss vorrangig um die Aufgaben unserer Generation und die Aufgaben der kommenden Gemeinschaft – sofern man hier von geschichtlichen Aufgaben sprechen kann. 4 Ich erinnere an die Idee der Briefe ohne Empfänger/in im Kapitel 2.2 ›Vom Limbus‹. 5 Das altgriechische Wort πλήρωμα [pléróma] bedeutet Fülle. Paulus beispielsweise meinte, in Jesus wohnt die Fülle [πλήρωμα] [pléróma] der Gottheit (vgl. NT, Kolosser 2: 9). Das Pleroma ist hier als Ort des Göttlichen und des Guten zu verstehen. 6 Rest [resto] als das, was übrig bleibt und nicht das Abgeschiedene. Als Agamben zuvor von der Aneignung des Abgeschiedenen ohne Rest [alcun residuo] sprach, meinte er also etwas anderes. An dieser Stelle ist der Rest als etwas Bloßes, Reines und Nacktes gemeint, der – kairologisch gesprochen – zu einer bedingungslosen Gemeinschaft fähig ist. Anzumerken sei hier auch, dass

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Werkes7, die beliebige Singularität, der bloom«8 Wirklichkeit geworden sind: »eine bislang beispiellose Verallgemeinerung der messianischen Situation« (ebd.). Messianisch ist die Situation im Sinne eines kairologischen Moments, und das Besondere der Zeit ist, dass sie ihr Ende ankündigt. Darum verfehlt Agambens Buch seine Absicht nicht und hat auch nichts von seiner Unzeitgemäßheit verloren, da es sich nämlich an ein Publikum richtet, das nicht als Empfänger in Frage kommt, »an jenes Nicht-Subjekt, jenes ›formlose Leben‹ und jenen Schabbat des Menschen9« (ebd.). Damit kommt Agamben letztlich zu der Idee, die nur geahnt wurde und somit dem Denken auf die Beine hilft, denn bis dato ist das Handeln nur als Ausstellung, Kommunikation und Liebe besprochen worden und die kommende Politik nur als Kampf zwischen Staat und Nicht-Staat. Denn genau genommen beschreibt die kommende Politik einzig das Bild des Sabbats, an dem man sich der produktiven Arbeit (he­bräisch melakhà)10 enthalten muss. »Diese Muße, diese Untätigkeit ist für den Menschen eine Art zusätzliche Seele […] seine wahre Seele« (ebd.), schreibt Agamben. Eine nicht-produktive Aktivität bleibt am Sabbat aber nicht verboten und ein »Akt reiner Zerstörung, eine Aktivität der Rest ein typisches Thema der Philosophie ist, beispielsweise bei Benjamin, Adorno und Derrida, im Sinne einer übrigen, undialektischen Positivität. 7 Die Abwesenheit des Werkes spielt auf die Debatten zwischen Georges Bataille, Alexandre Kojève, Jean-Luc Nancy und Maurice Blanchots an. 8 Bloom, das meint die Figur des Tiqqun-Textes Theorie von Bloom (Tiqqun 2003). Auf Agambens Denken aufbauend, ist er ein beliebiges Sein: kein Subjekt, sondern der Name der Namenlosigkeit, der Homo Sacer ohne Rechtsraum. Oder um es ontologisch zu formulieren: »Der Bloom ist das endgültige Hervortreten des Ursprünglichen.« (ebd. 18) Der Name Bloom wurde von James Joyce’ Roman Ulysses (Joyce 1996) und seinem Helden Leopold Bloom entlehnt. Ein kurzes Gespräch zwischen ihm und seiner Katze steht Theorie von Bloom voran mit der Einschätzung: »Die sollen nun dumm sein. Dabei verstehen sie besser, was wir sagen, als wir sie verstehen.« (Tiqqun 2003: 11) 9 Die Idee des Schabbat/Sabbat [shabbath] des Menschen, des Sonntags des Lebens nach dem Ende der Geschichte, stammt von Raymond Queneau (vgl. Queneau 2003) und Kojève nimmt sie in seinem Aufsatz Die Romane der Weisheit (in: Kojève 2007) wieder auf. Da beide ihre Vorstellung der Posthistoire an Hegel entwickelten (Queneau nur indirekt, er war aber ein Schüler und Freund Kojèves), überrascht es nicht, dass die Formulierung Sonntag des Lebens von Hegel stammt (vgl. Hegel 1838: 123, dort: 1. Kapitel). 10 Obwohl der Sabbat sowie die Sabbatruhe in mehreren Religionen eine Rolle spielen, bezieht Agamben sich hier auf die jüdische Tradition. Auf Deutsch heißen shabbath Ende, melakhà Arbeit und menuchà Ruhe. In der deutschen Übersetzung wurde die Sabbatruhe fälschlich Malakha genannt.

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von vollkommenen destruktiven oder entschöpfenden Charakter« (104f) entspräche der Sabbatruhe (hebräisch menuchà). Das Paradigma der kommenden Politik – wobei »kommend nicht mit zukünftig verwechselt werden darf« (105), sondern das ist, was erwartet wird als immer schon Anwesendes, nur zumeist beschnitten, entfremdet oder dem Bösen zugewandt, jedoch im Kairos wiedereröffnet – ist also nicht die Arbeit, wenn sie die Potenz ihrer Impotenz aneignen will, sondern Untätigkeit und Entschöpfung. Dabei geht es nicht um Trägheit oder darum, einfach nichts zu tun, sondern um eine Tätigkeit, »in der das Wie das Was vollkommen ersetzt hat, in der das formlose Leben und die unbelebte Form in einer Lebensform zusammenfallen«11: der katárgēsis (105). Agamben hat nämlich entdeckt, dass das altgriechische Substantiv κατάργησις [katárgēsis] bzw. das Verb καταργεíν [katargeín], wie in der Verwendung Paulus’, die Doppelbedeutung von vernichten und bewahren hat (z.B. NT Graece NA27, Brief an die Römer 3: 31: καταργοῦμεν [katargoumen] – unwirksam machen) und von Luther mit dieser Kenntnis als Aufhebung bzw. aufheben übersetzt worden ist (NT Luther 1545, Brief an die Römer 3: 31: aufheben). Des Weiteren baute Hegel darauf sein Dialektik-Konzept auf, in dem die unteren Entwicklungsstufen in den höheren aufgehoben werden. Auch darf ich an Hegels Begriff der Arbeit erinnern, der als Bildungsprozess des Geistes zu verstehen ist. In seinem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel anhand der Dialektik von Herr und Knecht die Arbeit des Knechtes als Entfremdung und Verwirklichung zugleich: das Selbstbewusstsein wird in die Welt entäußert (vgl. Hegel 1970: 146ff). Der Geist entfaltet sich in den Weltgeist, der immer schon anwesend ist. Diese Form der Arbeit gibt es im absolut ausgestellten, beliebigen Sein nicht mehr, auch ist es das Ende der Dialektik. Die Begriffe der Entschöpfung, der untätigen Tätigkeit und der jetzige Zustand der Welt am Ende der Zeit sind gleichbedeutend. Die Aufhebung ist folglich die Aneignung. Deshalb ist die entscheidende Frage in Die kommende Gemeinschaft nicht »›was tun?‹, sondern ›wie tun?‹ und das Sein weniger wichtig als das So« (ebd.). Damit geht die kommende Politik in die kommende Gemeinschaft über, ohne sie zu beschneiden. Und so kann Agamben in seinem Buch die Erste Philosophie und die Politik zugleich zum Thema haben – weil sie beide die gleiche Frage stellen. Auch der eigentümliche Stil des Buches ist geklärt, da er die »Arbeit des Buches […] in der 11 Die Lebensform [forma di vita] ist nichts anderes als das beliebige Sein, in der das formlose Leben [vita senza forma] (das Sein, die Transzendenz) in die unbelebte Form [forme senza vita] (das Seiende, die Immanenz) vollkommen ausgestellt wird.

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Ausstellung« der Untätigkeit sieht – denn es ist wie tiqqun »kein Werk, sondern eine besondere Art der Sabbatruhe« (ebd.). In Antwort darauf löst Agamben seine Vorstellung vom gelungenen Nachwort ein: »Dem entspricht diese Postille vollkommen.« (ebd.)

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5. Schlusswort Während ich im Laufe meiner Lektüre von Die kommende Gemeinschaft weitgehend darauf verzichtet habe, auf Agambens andere Bücher zu verweisen, will ich an dieser Stelle noch eine Verortung des besprochenen Buches innerhalb von Agambens Gesamtwerk versuchen. Das Vorwort – ›Experimentum linguae‹ – von Agambens Buch Kindheit und Geschichte (Agamben 2004) wurde wie die Postille von Die kommende Gemeinschaft 2001 nachgereicht und erlaubt gleichermaßen einen neuen, geschärften Blick auf das Werk: »Wenn es für jeden Autor eine Fragestellung gibt, die das motivum seines Denkens definiert, so fällt das Feld, das diese Fragen umreißen, restlos mit dem zusammen, auf das sich meine ganze Arbeit zubewegt. In meinen geschriebenen und ungeschriebenen Büchern habe ich immer wieder nur eines denken wollen: Was bedeutet: ›Es gibt Sprache‹, was bedeutet ›Ich spreche‹? Denn es ist klar, daß weder das SprecherSein noch das Gesprochen-Sein, das jenem a parte objeti entspricht, reale Prädikate sind, die mit dieser oder jener Eigenschaft identifiziert werden könnten […]. Sie stellen vielmehr transcendentia im Wortsinne der mittelalterlichen Logik dar, d.h. Prädikate, die jede Kategorie trans­ zendieren, obwohl sie in jeder enthalten sind. Sie müssen genauer als Archi-Transzendentalien oder als Transzendentalien der zweiten Potenz gedacht werden, die in der Aufzählung der von Kant wiederaufgenommenen scholastischen Sentenz […] die Transzendentalien selbst trans­ zendieren und gleichsam in sie eingefaltet sind.« (Agamben 2004a: 11)

Wenn das Bücherschreiben eine melakhà, eine produktive Arbeit ist, dann ist Die kommende Gemeinschaft Agambens einzig veröffentlichtes Buch, das ungeschrieben blieb. Zeitlich fällt es etwa in die Mitte seines Œuvres, nur ist es kein Teil des Œuvres, sondern vielmehr ein D ­ esœuvre. Gedanklich und stilistisch steht es am Anfang und am Ende des Werkes. Beim genauen Lesen kann man das experimentum linguae machen, bei dem womöglich einzigen Philosophiebuch, das man auch am Sonntag mit gutem Gewissen lesen darf. Wie Die kommende Gemeinschaft geschrieben ist, ist ihr äußerlich. Es ist ein Fragment, dem nichts mehr hinzugefügt werden braucht – daher ist es schon symbolisch eine Ausstellung, dessen eigentlicher Ort das Agio ist. Unter allen Büchern Agambens ist es vielleicht das unzugänglichste. Beim erstmaligen Lesen wird man Eindruck haben, dass man die darin versammelten Ideen eher intuitiv versteht als argumentativ nachvollzieht. Die Argumentation ist verschlungen, der Inhalt steht nicht in den Sätzen, sondern vorzugsweise neben ihnen, und die Ideen wirken – trotz vieler Verweise auf andere Autoren – herkunftslos. Der Gedankenapparat setzt sich schließlich 93

aus Ähnlichkeiten ohne Archetyp zusammen, was im Kern das Beliebige ist, das Agamben am Ende der Geschichte erwartet. Dadurch dreht er außerdem die Textwirkung um: Es wird nicht aus Zitaten geschlossen, sondern sie bedeuten und begründen eine neue Lesart, z.B. von Platon, Kant oder Heidegger. Schon bald nach Erscheinen seiner ersten Bücher galt Giorgio Agamben als Geheimtipp in der Philosophie, aber erst mit der Publikation von Homo Sacer erlangte er große Bekanntheit als politischer Philosoph auch außerhalb des Fachs. Dass ausgerechnet sein vielleicht unzugänglichstes Buch nicht nur einen gewissen political turn, sondern auch die Nahtstelle für Früh- und Spätwerk markiert, erzeugt den Eindruck einer Spaltung, die so nicht existiert. Es ist vielmehr eine Flussschlinge des Werksverlauf, die vielleicht Agambens politische Gedanken, ohne die Gänze des philosophischen Fundaments, kontroverser klingen lassen, als sie sind. Das gilt grundsätzlich auch in die entgegengesetzte Richtung und eine Radikalisierung früherer Gedanken aus vermeintlicher Politikferne sind immer möglich. Man verbildliche sich die Fiktion solch einer Spaltung mit Blick auf Martin Heidegger. Philosophie ist nicht per se politisch, aber wie kann man ein Sein ohne Politik verstehen, wenn es so hochgradig politisiert ist? Man könnte mit dem bloßen Titel des Buches Die kommende Gemeinschaft ganz Verschiedenes assoziieren, wie den Versuch einer neuen sozial-politischen Praxis, eine Ausdeutung der kommunistischen oder anarchistischen Gemeinschaftsidee oder gar eine philosophische Utopie. Und ein Erstdruck nach dem Lesen könnte sein, dass nur die Idee eines der Essays titelgebend war und ansonsten ein Buch vorliegt, das vielmehr ein loser Sammelband verschiedener Essays ist. Die Aufgabe meiner Lektüre sollte sein, diese Assoziationen oder solch Eindruck hinter sich zu lassen. Es mag stimmen, dass die kommende Gemeinschaft planetarisch gedacht, in seiner vollkommenen Erscheinung, wie ein Wunsch klingt, selbst wenn sie das »endgültige Hervortreten des Ursprünglichen« (Tiqqun 2003: 18) ist, um noch einmal das Tiqqun-Zitat zu bemühen. Aber das eigentlich Messianische ist das Ausstellungsverhältnis, das Potenz und Akt ununterscheidbar macht, und nichts anderes besagt, als dass die kommende Gemeinschaft immer schon in den Zwischenräumen existiert, jenseits der politischen Räume. Überall, zu jeder Zeit, als Gelegenheit eines jeden Menschen, die sich täglich von neuem bietet – sofern ihm nicht das Radikalste wiederfährt: die Verbannung aus dem eigentlichen Leben –, in der Liebe, in der Freundschaft, in der Fremde. Darum ist Die kommende Gemeinschaft letztlich kein Buch über eine kommende Gemeinschaft, sondern, und in gewisser Weise dahinter vorborgen, Agambens Grundlegung eines sprachlichen Seins: eine Theorie der beliebigen Singularitäten, welche die zentralen Disziplinen der Philosophie – Ontologie, Epistemologie und Ethik – behandelt und neu denkt. Das philosophische Denken, die ethische Erfahrung, die Erlösung der Welt oder die 94

bedingungslose Gemeinschaft sind verschiedene Seiten von ein und derselben Idee, bei der das Wie das Was vollkommen ersetzt, unter Nietzsches Motto Wie man wird, was man ist, und das Sein zu seinem eigentlichen Selbstseinkönnen findet, wie in Heideggers Fundamentalontologie. Oder um an den Buchtitel anzuschließen, ließe sich sagen: Die Ausdeutung von Agambens Philosophie stößt in jedem Punkt an das, was er die kommende Gemeinschaft nennt. Das Gleiche gilt für sein motivum – was bedeutet: ›Es gibt Sprache‹, was bedeutet ›Ich spreche?‹ –, das nur scheinbar eine andere Richtung vorsieht. Stellt man die Sätze Es gibt Sprache und Ich spreche nebeneinander und kontempliert darüber, sieht man einen Zusammenhang von Sprache und Sein, den die Theorie der beliebigen Singularitäten begründet. Denn wenn die Potenz der eigentlichste menschliche Modus ist, ist ihr Ausdruck schließlich das, was Agamben Sprache nennt. Ausstellen heißt Ausdrücken. Das Sein spricht durch seine Existenz und durch sein Handeln, ohne sich an Empfänger/innen zu richten, sondern allein, indem es sich in den leeren Raum neben sich ausstellt – so, wie es ist. Sein heißt Sprechen. Das beliebige Sein ist in dieser Vielfältigkeit eine in Agambens gesamten Werk immer wieder auftauchende Argumentationsstruktur, mal offensichtlicher, mal verborgener: So hat auch die populäre Homo-­SacerReihe ihren Ursprung in Die kommende Gemeinschaft, das letzte Kapitel ›Tiananmen‹ zeichnet deren Titelgedanken bereits vor. Man versteht sofort, was Agamben meint, wenn er in Homo Sacer (Agamben 2002) schreibt, dass das Konzentrationslager nicht der Staat ist, man die nackte Existenz Lebensform nennen kann oder man die Ontologie und Politik jenseits aller Figuren der Beziehung denken muss. Auch ist klar, warum Agamben die politische Aufgabe der kommenden Generation in seinem Buch Profanierung (Agamben 2005a) in der Profanierung des Nicht-Profanierbaren sieht und warum der vollkommene Gehilfe Pinocchio auf jede Versuchung hereinfällt. In seinem Buch Die Zeit, die bleibt (Agamben 2006) heißt es, dass die Fragen des Paulus die unseren sein müssen, sind wir doch gemäß der Theorie der Singularitäten in einer messianischen Situation. Paulus widerruft, wie auch Agamben, jede Identität und Berufung. Die messianische Formel Als-ob-nicht folgt dem Prinzip der reinen Potenz, das Bartlebys Prinzip des Vorziehen-etwas-nicht-zu-tun ist. Auch überrascht die Quintessenz aus Agambens Buch Das Offene (Agamben 2003) nicht, die da lautet, dass der Mensch, um menschlich zu sein, letztlich gezwungen ist, sich seinen Nichtmenschen anzueignen. Im Buch Nymphae (Agamben 2005b) ist es die Pathosformel, die jenseits von Original und Kopie steht und auf die beliebige Singularität deutet. Und die Bücher Kindheit und Geschichte (Agamben 2004) und Die Sprache und der Tod (Agamben 2007) schließlich stehen ganz unter der Aufgabe des experimentum linguae. 95

Dabei ist die Theorie der Singularitäten bzw. des beliebigen Seins nicht nur ein zentraler Schlüssel zum Verständnis von Agambens Gesamtwerk, sondern auch eine Theorie, die noch keinen Platz in der Philosophiegeschichte hat (oder schon immer ihren Platz hat, wie Agamben wohl einwenden würde). Er bewegt sich frei durch die Geschichte der Philosophie, zwischen transzendental-, sprachphilosophischen und ontologischen Ansätzen, und besetzt die Räume zwischen ihnen, um sich auf das Verbindende ihrer Extrempositionen zu konzentrieren. Was bedeutet denn, eine reine Transzendenz als absolute Immanenz zu denken? Wenn das Wie das Was ursprünglich als auch in bedingungslosen Momenten vollkommen ersetzt, dann wird eine Intelligibilität ontologisch bestimmbar, dann wird eine Idee wahrnehmbar wie ein Gegenstand. Das allerdings ist ein Zustand, der weder im Allgemeinen noch im Besonderen aufgeht, und folglich weder eine deduktive Erkenntnis erlaubt, die vom Allgemeinen auf das Besondere schließen lässt, noch eine induktive vom Besonderen auf das Allgemeine. Der epistemologische Zugang gelingt allein exemplarisch (paradigmatisch), d.h. nicht das Allgemeine verweist auf das Besondere oder umgekehrt, sondern durch eine Subtraktion von allen Eigenschaften, die eine Differenz erzeugen, treffen sich ihre Verweise im leeren Raum zwischen ihnen als Ähnlichkeit ohne Archetyp. Diese nennt Agamben die Zugehörigkeit selbst (was nichts anderes ist als eine reine Existenz), eine beliebige Singularität, die sich in ihrem ursprünglichen und bedingungslosen Verhältnis zu anderen Singularitäten zeigt. Agamben entzieht sich darum einer klaren Zuordnung zu anderen philosophischen Positionen, selbst unter dem Sammelbegriff der Postmoderne ist er nicht gut aufgehoben. Ihn als einen postmodernen Philosophen zu bezeichnen, weil er das Spektakel der Moderne oder den Gebrauch der Sprache kritisiert, ist nicht genug. Zweifellos finden sich in seinem Denken postmoderne Elemente und Themen, aber er sieht stets die kairologische Möglichkeit hinter der Kritik. Außerdem überwindet er das postmoderne Differenzdenken und dessen methodische Position der Reaktion auf diese Differenz, hin zu einer umfassenden Theorie, die weitergeht als die Erzählungen – und somit vielmehr das ist, was bleibt, wenn die Erzählungen enden. Ich glaube, in Agambens Denken klingt Bekanntes und Fremdes in einer Mischung an, die es in gewisser Weise schon einmal gegeben hat. Darum will ich meine Lektüre mit einem Zitat aus Jacob Burckhardts Hauptwerk Die Kultur der Renaissance in Italien schließen. Man könnte meinen, Burckhardts Worte seien von heute und er denke dabei auch an Agambens Philosophie: »Hier berühren sich Anklänge der mittelalterlichen Mystik mit platonischen Lehren und mit einem eigentümlichen modernen Geiste. Vielleicht reifte hier eine höchste Frucht jener Erkenntnis der Welt und des Menschen […].« (Burckhardt 1955: 385) 96

6. Schema Im folgenden Schema sind die Theorie der Singularitäten und ihre zentralen Begriffe noch einmal bildlich dargestellt, soweit es als das am schwierigsten zu Denkende – nämlich in ihrem Ausstellungsverhältnis – möglich ist.

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